Mill-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung 3476059294, 9783476059291

John Stuart Mill (1806–1873) gehört im angelsächsischen Raum seit jeher zu den Klassikern der Ideengeschichte. Aber auch

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Mill-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung
 3476059294, 9783476059291

Table of contents :
Vorwort
Zitierweise
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Teil I Leben
1 Biographie (1806–1873)
Einleitung
Erziehung und junge Jahre
Beziehungsstatus: It’s complicated
Gemeinsame Jahre
Veröffentlichung der bekanntesten Werke, Mill als Parlamentarier, Tod
Literatur
Teil II Einflüsse
2 Jeremy Bentham (1748–1832)
Zwischen Kritik und Affirmation
Das größte Glück, nur anders
Glück und Freiheit
Demokratie und Fortschritt
Literatur
3 Samuel Taylor Coleridge (1772–1834)
Literatur
4 Auguste Comte (1798–1857)
Literatur
5 Wilhelm von Humboldt (1767–1835)
Humboldts Ideen und Mills Wahrnehmung der Schrift
Methode und theoretischer Rahmen
Individualität
Rolle des Staates
Literatur
6 Harriet Taylor (1807–1858)
Leben
Werk
Konformität, Exzentrizität und die Reproduktion von Machtstrukturen
Wirkung
Literatur
7 Alexis de Tocqueville (1805–1859)
Mill und Tocqueville − Eine wechselvolle Beziehung
Der gemeinsame Gegenstand: Die moderne Demokratie
Zwei ,aristokratische‘ Liberale
Literatur
8 Antike Denker
Literatur
9 Moralischer Intuitionismus
Ausgangslage für die Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus
Die Entwicklung der Auseinandersetzung
Mills Verständnis des (moralischen) Intuitionismus
Mills Kritik am (moralischen) Intuitionismus
Wirkung: Mills (minimaler) Intuitionismus
Nachwirkungen
Literatur
10 Klassische Nationalökonomie
Der Beginn der Klassischen Nationalökonomie
Der Beginn der systematisch betriebenen ökonomischen Wissenschaft
Adam Smith und der Reichtum der Nationen
Thomas Robert Malthus und das eherne Bevölkerungsgesetz
David Ricardo: Ökonomie als deduktive Wissenschaft
John Stuart Mill und das Ende der ökonomischen Klassik
Literatur
Teil III Schriften
11 Autobiography (1873)
Kontext und Konzepte
Erziehung und Entwicklung
Krise und neue Ausrichtung
Vollendung: Reform in Wort und Tat
Der Wert der Autobiographie im Rahmen von Mills Werk
Literatur
12 Utilitarianism (1861)
Einführung
Kapitel 1: Allgemeine Bemerkungen
Kapitel 2: Was heißt Utilitarismus?
Kapitel 3: Von der fundamentalen Sanktion des Nützlichkeitsprinzips
Kapitel 4: Welcherart Beweis sich für das Nützlichkeitsprinzip führen lässt
Kapitel 5: Über den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nützlichkeit
Literatur
13 On Liberty (1859)
Das Problem: Die Gewalt der Gesellschaft
Die Hauptthese: Ein sehr einfacher Grundsatz
Eine Analyse: Der Begriff ‚Schädigung‘
Die Freiheit des Denkens und der Diskussion
Das Argument: Die Entfaltung der Individualität
Zusammenfassung und Würdigung
Literatur
14 Considerations on Representative Government (1861)
Die relative Autonomie politischer Institutionen
Grundprobleme demokratischen Regierens I: Partizipation und Kompetenz
Grundprobleme demokratischen Regierens II: Wahlen und politische Gleichheit
Formen und Grenzen politischer Einheit
Mills liberaler Republikanismus
Literatur
15 Principles of Political Economy (1848)
Zur Entstehung der Principles
Mill und das Erbe der Ricardianischen Ökonomie
Die Frage nach dem Gegenstand der Politischen Ökonomie
Aufbau und Inhalt der Principles
Zur Bedeutung der Principles
Literatur
16 The Subjection of Women (1869)
Zum Kontext der Subjection of Women
Aufbau und Ziel der Abhandlung
Mills argumentative Ausgangslage
Das Akzeptanzargument
Vermeintliche Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Natur
Freiheit und Selbstunterwerfung?
Was für ein Feminismus ist Mills Feminismus?
Literatur
17 A System of Logic (1843)
Entstehung
Inhaltsübersicht und Ziele
Vorwort und Einleitung
Buch I: Von Namen und Propositionen
Buch II: Vom deduktiven Denken (reasoning)
Buch III: Von der Induktion
Buch IV: Von untergeordneten Aspekten der Induktion
Buch V: Von Fehlschlüssen
Buch VI: Von der Logik der moralischen Wissenschaften
Rezeption und Wirkung
Literatur
Teil IV Kleinere Schriften
18 Chapters on Socialism (1879, posthum)
Ziel des Buches
Inhalt des Buches
Rezeption
Literatur
19 „The Spirit of the Age“ (1831)
Der Geist einer Übergangszeit
Der doppelte Zerfall gesellschaftlicher Autorität
Deutungen und Kontroversen
Literatur
20 Three Essays on Religion (1874, posthum)
„Nature“
„Utility of Religion“
„Theism“
Literatur
21 Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy (1844)
Essay 1: „Of the Laws of Interchange Between Nations“
Essay 2: „On the Influence of Consumption on Production“
Essay 3: „On the Word Productive and Unproductive“
Essay 4: „On Profits, and Interest“
Essay 5: „On the Definition of Political Economy“
Literatur
22 „Civilization“ (1836)
Sozio-historische, persönliche und intellektuelle Einflüsse
Kritische Reflexion der entstehenden Massengesellschaft
Interpretationsansätze, Wirkung und Rezeption
Literatur
Teil V Zentrale Konzepte
23 Arbeit
Literatur
24 Bildung/Erziehung
Literatur
25 Eigentum
Literatur
26 Fortschritt/Entwicklung
Literatur
27 Freiheit
Literatur
28 Gerechtigkeit
Die Notwendigkeit einer utilitaristischen Theorie des Pflichtgefühls
Die Notwendigkeit einer utilitaristischen Theorie speziell des Gerechtigkeitsgefühls
Die Erklärung der anschaulichen Schule und Benthams „grandioses Übersehen“
Die spezifische Differenz zwischen moralischen Urteilen und bloßen Nützlichkeitsurteilen
Die konstitutive Rolle der „Wesenselemente menschlichen Wohls“
Moralische Rechte als konstitutive Elemente der Gerechtigkeit
Literatur
29 Hedonismus
Hermeneutische Herausforderungen
Hedonismen bei Mill
Mills ‚qualitativer Hedonismus‘ in der Diskussion
Systematische Rolle hedonistischer Elemente in Mills Gesamtwerk
Literatur
30 Individualität
Der Begriff der Individualität
Originalität versus soziale Konventionen
Formung von Individualität
Lebensexperimente und die ständige Gefahr sozialer Kontrolle
Literatur
31 Kolonialismus/Imperialismus
Kolonialismus und Zivilisation
Herrschaft über Siedlerkolonien
Despotische Herrschaft über ‚Wilde‘
Patriarchalische Herrschaft über ‚Barbaren‘
Einordnung
Literatur
32 Lebenskunst
Formulierungen der „Art of Life“ in Mills Werk
Das Handwerk des Lebens als der Moral übergeordnetes Prinzip
Intermediäre oder sekundäre Prinzipien und die übergeordnete Lebenskunst
Literatur
33 Meinungsfreiheit
Literatur
34 Moralische Pflicht
Kann der Utilitarismus irreduzible moralische Pflichten anerkennen?
Benthams „grandioses Übersehen“
Moralische Urteile sind phänomenal sui generis und irreduzibel
Mills Rettung des Phänomens der Pflicht: Zurück zu Hartley
Der Pflichtbegriff und die zentrale Assoziation mit Strafwürdigkeit
Literatur
35 Nutzen/Glück
Einleitung
Nutzen und Glück im Mill’schen Utilitarismus
Nutzen und Glück in Utilitarismus und Ökonomie
Nutzen und Glück in weiteren Kontexten
Literatur
36 Parlamentarismus
Die Parlamentsfunktionen
Reformvorschläge
Rezeption
Literatur
37 Partizipation
Literatur
38 Religion
Literatur
39 Steuer
Literatur
40 ‚Sympathy‘
Der Begriff der ‚sympathy‘
Kritik an Bentham
‚Sympathy‘ und individuelles Gewissen
Die Motivation zur Befolgung des utilitaristischen Moralprinzips
Die Ausbildung eines moralischen Charakters
Literatur
41 Wahlrecht
Grundanliegen
Wahlreformvorschläge
Proportionale Repräsentation
Pluralstimmrecht
Öffentliche und geheime Stimmabgabe
Rezeption
Literatur
Teil VI Wirkung
42 Wissenschaftstheoretischer Diskurs
Mills Methoden des experimentellen Schließens
Mills Debatte mit William Whewell
Whewell über Induktion und Hypothesen
Mills Kritik und das Problem der unbedachten Alternativhypothesen
Heutige Relevanz für den wissenschaftlichen Realismus
Mill und die Wissenschaftsgeschichte
Kritik an der Praktikabilität der „Method of Difference“
Unbeobachtete oder unbeobachtbare Ursachen
Abschluss
Literatur
43 Moralphilosophischer Diskurs
Wechselnde Konjunkturen
Perennierende Fragen der Interpretation: Die Ausgangslage
Schwerpunkte der exegetischen Debatte: Mills Eudämonismus und der Status von Sekundärprinzipien
Vermeintliche und reale Widersprüche in Mills Moralphilosophie
Einschätzungen von Mills Moralphilosophie aus utilitaristischer Sicht
Schluss
Literatur
44 Diskurs des politischen Liberalismus
Mill im sozial(-moralisch)en Liberalismus
Mill im sozial(-ökonomisch)en Liberalismus
Mill im klassisch(-moralisch)en Liberalismus
Mill im klassisch(-ökonomisch)en Liberalismus
Anfang oder Ende des wahren Liberalismus
Literatur
45 Feministischer Diskurs
Ausgerechnet Phillips gegen den Liberalismus
Die feministische Rezeption Mills im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: die Alte(n) Frauenbewegung(en) und ihr Kampf ums Frauenstimmrecht
Die feministische Rezeption Mills in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: kollektive Erschöpfung und isolierte Erneuerung
Die Mill-Rezeption im Feminismus des second wave: der Liberalismus Einzelner
Die (Nicht-)Rezeption Mills im Feminismus seit den 1990er Jahren: der Anti-Liberalismus des linguistic turn und der Identitätspolitik
Person versus Werk: Die zwei Aufmerksamkeiten für Mill in der Ideengeschichte des Feminismus und ein Plädoyer für ‚mehr Mill‘
Literatur
46 Ökonomischer Diskurs
Das prägende Umfeld
Ausweg für die „dismal science“
War Mill ein „evolutionärer Sozialist“?
War Mill noch ein Utilitarist?
Was bleibt von John Stuart Mill?
Literatur
Personenregister

Citation preview

Frauke Höntzsch (Hg.)

Mill Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Mill-Handbuch

Frauke Höntzsch (Hrsg.)

Mill-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Hrsg. Frauke Höntzsch Lehrstuhl für Politikwissenschaft/ Politische Theorie Universität Augsburg Augsburg, Bayern, Deutschland

ISBN 978-3-476-05929-1 ISBN 978-3-476-05930-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Coverabbildung: © akg-images/Album/sfgp Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

John Stuart Mill ist einer der einflussreichsten, wenn nicht der einflussreichste, Denker Großbritanniens im 19. Jahrhundert. Mit A System of Logic (1843), Principles of Political Economy (1848), On Liberty (1859), Considerations on Representative Government (1861), Utilitarianism (1861) und The Subjection of Women (1869) hat er bis heute vielbeachtete Beiträge zur Wissenschaftstheorie, Ökonomie, zum politischen Liberalismus, zur Moralphilosophie und zur Gleichberechtigung der Frau verfasst; darüber hinaus zahlreiche kleinere Schriften zu verschiedensten Themen, wie zum Sozialismus, zur Religion oder zur Zivilisationstheorie. Zugleich politisch aktiv, war er ein wichtiger Vertreter der Philosophical Radicals und zeitweise auch Mitglied des britischen Unterhauses. Mills Denken zeichnet sich nicht nur durch disziplinäre und thematische Vielfalt mit stets auch praktischem, reformerischem Anspruch aus, sondern zugleich durch eine große Offenheit gegenüber verschiedensten Einflüssen. Von seinem Vater James Mill und dessen Freund Jeremy Bentham zu einem treuen Anhänger der utilitaristischen Lehre erzogen, öffnet sich Mill nach einer tiefen Lebenskrise – deren Beginn 1826 und Verlauf wie Mills gesamte geistige Entwicklung in der Autobiography (1873) dokumentiert ist – neuen Einflüssen wie der englischen Romantik, dem französischen Frühsozialismus oder dem deutschen Idealismus. Sein Denken ist Ausdruck eines gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Umbruchs und bildet in seiner Vielschichtigkeit einen Kristallisationspunkt für Argumentationen und Fragestellungen, die bis heute diskutiert werden. Mills Denken hat in den unterschiedlichen von ihm bearbeiteten Feldern unterschiedliche Konjunkturen erlebt. Während A System of Logic und die Principles of Political Economy bereits nach kurzer Zeit zu Standardwerken avancierten und noch zu Mills Lebzeiten weitere sieben bzw. sechs Auflagen erlebten, wurden Mills wissenschaftstheoretische Überlegungen im Anschluss lange Zeit als rein philosophiegeschichtlich interessierende, vielfach kritisierte Positionen abgetan und gelten seine Principles in toto heute als Abschluss der klassischen Ökonomie. Letztere enthalten gleichwohl

V

VI

Vorwort

zahlreiche Anknüpfungspunkte, die mit Mills progressiven gesellschaftspolitischen Überlegungen korrespondieren, die bei seinen Zeitgenossen weit weniger Beachtung und Zustimmung fanden, aber aus heutiger Sicht nichts an Aktualität eingebüßt haben. Die Grundlage für seine gesellschaftspolitischen Überlegungen in Utilitarianism ist zwar seit jeher umstritten, nicht zuletzt aufgrund der Modifikationen, die Mill an der klassischen Lehre vornimmt, ist die Auseinandersetzung mit dieser spezifischen moralphilosophischen Position aber nie abgerissen. Mills bleibende Attraktivität beruht jedoch vor allem auf seinen gesellschaftspolitischen Schriften – vor allem auf On Liberty, aber auch auf den Considerations on Representative Government sowie The Subjection of Women –, mit denen er, unter substantieller Beteiligung seiner großen Liebe und späteren Frau, Harriet Taylor, einen neuen, sozialen Liberalismus begründet. Das vorliegende Handbuch behandelt Mills Leben (I), seine wichtigsten Einflüsse (II) und die zentralen Schriften (III). Daneben einige kleinere Schriften (IV), die für das Gesamtwerk und/oder für die Rezeption seines Werkes eine wichtige Rolle spielen. Hinsichtlich der zentralen Konzepte (V) liegt der Schwerpunkt auf Mills gesellschaftspolitischem Denken. Die Darstellung schließt mit Mills Wirkung in den für seine wichtigsten Schriften zentralen Diskursen (VI). Das Handbuch soll, was die thematisierten Inhalte, aber auch was die unvermeidbaren Lücken betrifft, einen Einstieg bieten zu einer vertieften Beschäftigung mit einem in vielerlei Hinsicht inspirierenden, erfrischend undogmatischen Denker, der am Beginn einer Epoche steht, deren Umwälzungen unser Zusammenleben bis heute prägen. Augsburg im Mai 2023

Frauke Höntzsch

Zitierweise

Um die Zugänglichkeit zu erleichtern, werden Mills Werke durchgängig im englischen Original nach den Collected Works (CW, 33 Bde) zitiert, die online auf den Seiten der „Online Library of Liberty“ abrufbar sind. Teilweise werden die Verweise ergänzt durch die entsprechenden Stellen aus den Ausgewählten Werken in fünf Bänden (AW), die auf den Seiten des Wachtholz Verlags ebenfalls online verfügbar sind bzw. durch andere, neuere deutsche Ausgaben, deren bibliographischen Angaben in diesem Fall im Literaturverzeichnis des jeweiligen Beitrags aufgeführt sind. Im Folgenden sind die in diesem Handbuch erwähnten Titel mit Erscheinungsjahr, Angabe von Band und Seitenangaben der CW und (außer bei den zentralen Schriften) unter Angabe der jeweiligen Kapitel, in denen die Titel Erwähnung finden, aufgeführt. Auguste Comte and Positivism, 1865

CW X, 261–368

Kap. II.4, V.38

Austin’s Lectures on Jurisprudence, 1832

CW XXI, 51–60

Kap. II.8

Austin on Jurisprudence, 1863

CW XXI, 165–205

Kap. II.8

Autobiography, 1873

CW I, 1–290

Bentham, 1838

CW X, 75–116

Kap. II.2, II.3, II.9, III.13, V.32, V.38

Centralisation, 1862

CW XIX, 579–613

Kap. III.13

Chapters on Socialism, 1879 (posthum)

CW V, 703–753

Kap. I.1, II.6, III.14, IV.18, V.23, V.25, V.37, VI.46

Civilization, 1836

CW XVIII, 117–147

Kap. IV.19, IV.22, V.32, V.36

Claims of Labour, The, 1845

CW IV, 363–387

Kap. III.15 VII

VIII

Zitierweise

Coleridge, 1840

CW X, 117–163

Considerations on Representative Government, 1861

CW XIX, 371–577

Kap. II.2, II.3, II.9, V.38

CW IV, 299–339 Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, 1844

Kap. II.10, III.15, IV.21

Examination of Sir William Ha- CW IX milton’s Philosophy, An, 1865

Kap. II.9, III.17, V.29

Few Words on Non-Intervention, CW XXI, 109–124 A, 1859

Kap. IV.22

Fonblanque’s England, 1837

CW VI, 349–380

Kap. II.2

Grote’s Aristotle, 1873

CW XI, 473–510

Kap. II.8

Grote’s History of Greece I/II, 1846/1853

CW XI, 271– 304/307–336

Kap. II.8

Grote’s Plato, 1866

CW XI, 375–440

Kap. II.6, II.8

Inaugural Address, 1867

CW XXI, 215–257

Kap. I.1, II.8

James Mill’s „Analysis of the Phenomena of the Human Mind“, 1869

CW XXXI, 93–253

Kap. II.9, V.28, V.29

Law of Libel and Liberty of the CW XXI, 1–34 Press, 1825

Kap. V.33

Newman’s Political Economy, 1851

Kap. III.15

CW V, 439–457

Notes on Some of the More Po- CW XI, 37–238 pular Dialogues of Plato, 1834– 1835

Kap. II.8

On Genius, 1832

CW I, 327–339

Kap. III.11

On Liberty, 1859

CW XVIII, 213–310

Perfectibility, 1828

CW XXVI, 428–433

Kap. V.23

Principles of Political Economy CW II/III I/II, 1848 Quincey’s Logic of Political Economy, De, 1845

CW IV, 391–404

Kap. III.15

Rationale of Representation, 1835

CW XVIII, 15–46

Kap. V.36

Remarks on Bentham’s Philoso- CW X, 3–18 phy, 1833

Kap. II.2, II.9, V.34, V.40

Sedgwick’s Discourse, 1835

Kap. II.9

CW X, 31–74

Zitierweise

IX

Spirit of the Age, The, 1831

CW XXII, 227–234, 238–245, 252–258, 278–282, 289–295, 304–307, 312–316

Kap. II.2, IV.19, IV.20

Subjection of Women, The, 1869 CW XXI, 259–340 System of Logic, A, 1843

CW VII/VIII

Thornton on Labour and Its Claims, 1869

CW V, 631–668

Kap. III.15

Thoughts on Parliamentary Re- CW XIX, 311–340 form, 1859

Kap. V.36, V.41

Three Essays on Religion, 1874 CW X, 369–489 (posthum)

Kap. II.4, II.6, IV.20, V.38

Tocqueville on Democracy in America I, De, 1835

CW XVIII, 47–90

Kap. II.7, V.36

Tocqueville on Democracy in America II, De, 1840

CW XVIII, 153–204

Kap. II.7, V.36

Utilitarianism, 1861

CW X, 203–259

Whewell on Moral Philosophy, CW X, 165–201 1852

Kap. II.9

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Leben 1

Biographie (1806–1873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Christoph Schmidt-Petri

Teil II  Einflüsse 2

Jeremy Bentham (1748–1832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Frauke Höntzsch

3

Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Hans-Werner Breunig

4

Auguste Comte (1798–1857) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Hans Jörg Schmidt

5

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Thomas Schramme

6

Harriet Taylor (1807–1858) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Ringo Narewski

7

Alexis de Tocqueville (1805–1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Oliver Hidalgo

8

Antike Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Maximilian Forschner

9

Moralischer Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Christian Seidel

10 Klassische Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Michael S. Aßländer Teil III  Schriften 11 Autobiography (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Michael Meyer XI

XII

12 Utilitarianism (1861) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Christoph Schmidt-Petri 13 On Liberty (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Peter Rinderle 14 Considerations on Representative Government (1861) . . . . . . . . 127 Sandra Seubert 15 Principles of Political Economy (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Michael S. Aßländer 16 The Subjection of Women (1869) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Simon Derpmann 17 A System of Logic (1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Dominique Kuenzle Teil IV  Kleinere Schriften 18 Chapters on Socialism (1879, posthum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Hubertus Buchstein 19 „The Spirit of the Age“ (1831) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Theo Jung 20 Three Essays on Religion (1874, posthum) . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Hans Jörg Schmidt 21 Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy (1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Niklas Dummer und Christian Neuhäuser 22 „Civilization“ (1836) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Oliver Eberl und Annika D’Avis Teil V  Zentrale Konzepte 23 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Christoph Henning 24 Bildung/Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Michael Geiss 25 Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Michael Schefczyk 26 Fortschritt/Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Christoph Henning 27 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Michael Schefczyk 28 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Markus Stepanians

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

XIII

29 Hedonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Christian Seidel 30 Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Thomas Schramme 31 Kolonialismus/Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Oliver Eberl 32 Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Simon Derpmann 33 Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Peter Niesen 34 Moralische Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Markus Stepanians 35 Nutzen/Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Christoph Schmidt-Petri 36 Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Hubertus Buchstein 37 Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Sandra Seubert 38 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Peter Schröder 39 Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sebastian Huhnholz 40 ‚Sympathy‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Thomas Schramme 41 Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Hubertus Buchstein Teil VI  Wirkung 42 Wissenschaftstheoretischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Raphael Scholl 43 Moralphilosophischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Dieter Birnbacher 44 Diskurs des politischen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Frauke Höntzsch 45 Feministischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Barbara Holland-Cunz 46 Ökonomischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Joachim Starbatty Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Michael S. Aßländer apl. Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Dresden (10. Klassische National­ ökonomie; 15. Principles of Political Economy) Dieter Birnbacher Professor em. für Praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (43. Moralphilosophischer Diskurs) Hans-Werner Breunig Professor i. R. an der Otto-von-Gueri­ cke-Universität Magdeburg (3. Samuel Taylor Coleridge) Hubertus Buchstein Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald (18. Chapters on Socialism; 36. Parlamentarismus; 41. Wahlrecht) Annika D’Avis M.A., Promovendin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt (22. „Civilization“, zus. mit Oliver Eberl) Simon Derpmann Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (16. The Subjection of Women; 32. Lebenskunst) Niklas Dummer M.A.,Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund (21. Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, zus. mit Christian Neuhäuser) Oliver Eberl PD Dr., Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen (22. „Civilization“, zus. mit Annika DʼAvis; 31. Kolonialismus/ Imperialismus) XV

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Maximilian Forschner Professor em. für Praktische Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (8. Antike Denker) Michael Geiss Professor für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Zürich (24. Bildung) Christoph Henning Professor für Philosophie und Humanismus an der University of Humanistic Studies Utrecht (23. Arbeit; 26. Fortschritt) Oliver Hidalgo Professor für Politikwissenschaft/Politische Theorie an der Universität Passau (7. Alexis de Tocqueville) Barbara Holland-Cunz Professorin für Politikwissenschaft i.R. an der Justus-Liebig-Universität Gießen (45. Feministischer Diskurs) Frauke Höntzsch PD Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie der Universität Augsburg (2. Jeremy Bentham; 44. Diskurs des politischen Liberalismus) Sebastian Huhnholz PD Dr., Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (39. Steuer) Theo Jung Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (19. „The Spirit of the Age“) Dominique Kuenzle PD Dr., Dozent am Philosophischen Seminar der Universität Zürich (17. A System of Logic) Michael Meyer Professor für Anglistik an der Universität Koblenz (11. Autobiography) Ringo Narewski Dr., Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin (6. Harriet Taylor) Christian Neuhäuser Professor für Praktische Philosophie an der Technischen Universität Dortmund (21. Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, zus. mit Niklas Dummer) Peter Niesen Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg (33. Meinungsfreiheit)

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Peter Rinderle PD Dr., Philosoph, freier Publizist und Dozent in Berlin (13. On Liberty) Michael Schefczyk Professor für Praktische Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (25. Eigentum; 27. Freiheit) Hans Jörg Schmidt Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden (4. Auguste Comte; 20. Three Essays on Religion) Christoph Schmidt-Petri Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Praktische Philosophie des Karlsruher Instituts für Technologie (1. Biographie; 12. Utilitarianism; 35. Nutzen/Glück) Raphael Scholl Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Philosophie der Universität Genf (42. Wissenschafts­ theoretischer Diskurs) Thomas Schramme Professor für Philosophie an der University of Liverpool (5. Wilhelm von Humboldt; 30. Individualität; 40. ‚Sympathy‘) Peter Schröder Professor für Politische Ideengeschichte am University College London (38. Religion) Christian Seidel Professor für Philosophische Anthropologie am Karlsruher Institut für Technologie (9. Moralischer Intuitionis­ mus; 29. Hedonismus) Sandra Seubert Professorin für Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. (14. Considerations on Representative Government; 37. Partizipation) Joachim Starbatty Professor em. für Volkswirtschaftslehre an der Eberhard Karls Universität Tübingen (46. Ökonomischer Diskurs) Markus Stepanians apl. Professor für Philosophie (Schwerpunkt politische Philosophie) an der Universität Bern (28. Gerech­ tigkeit; 34. Moralische Pflicht)

Teil I

Leben

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Biographie (1806–1873) Christoph Schmidt-Petri

Einleitung John Stuart Mill hatte ein außergewöhnliches Leben. Einige biographische Besonderheiten sind weithin bekannt: Seine Erziehung durch den strengen Vater ist legendär, seine komplizierte Beziehung zu seiner späteren Ehefrau Harriet Taylor schon immer Anlass lebhafter Spekulationen. Etwas überraschend mag bei der ersten Beschäftigung mit Mills Leben sein, dass er weder studiert hat noch einer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgegangen ist, zumindest nicht als Brotberuf; sein Lebenswerk erschuf er im Privatleben. Bekannt ist auch Mills Autobiography (s. Kap. III.11), die 1873 nach seinem Tod veröffentlicht wurde, die er aber bereits ab 1853 zusammen mit seiner Ehefrau Harriet Taylor Mill verfasste. Die Autobiographie ist zwar sicherlich nicht, wie viele Autobiographien, durch Eitelkeit geprägt, die Mill laut eigenen Angaben völlig fremd war (CW I, 143), aber sie ist dennoch programmatisch: Mill und seine Ehefrau wollten nicht nur ihre eigene Beziehung endlich im rechten Licht erscheinen lassen, sondern der Nachwelt auch ein Doku-

C. Schmidt-Petri (*)  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Praktische Philosophie, Karlsruher Instituts für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

ment über die geistige Entwicklung eines eindeutig wichtigen Denkers hinterlassen (Ball 2010). Dementsprechend umfangreich wird dort über seine eigene intellektuelle Entwicklung berichtet, die ihm zufolge jedoch mit Anfang 30 abgeschlossen war. Viele biographisch interessante Ereignisse seines späteren Lebens werden dort daher etwas kurz abgehandelt. Diese Biographie zeichnet Mills Leben aus einer externen Perspektive nach und verbindet sie mit den wichtigsten wissenschaftlichen Werken, die unter seinem Namen bekannt wurden.

Erziehung und junge Jahre John Stuart Mill wurde am 20.05.1806 in London geboren und starb am 07.05.1873 in Avignon. In Avignon gehörte ihm seit fünfzehn Jahren ein Häuschen mit Blick auf einen Friedhof. Auf diesem lag seine Frau Harriet begraben, seine große Liebe, die ebenfalls in Avignon am 03.11.1858 jung verstorben war (geboren 08.07.1807 als Harriet Hardy). Kennengelernt hatten sich die beiden 1830, einige Jahre der Partnerschaft und intellektuellen Kooperation verbracht, und, nachdem Harriets erster Ehemann John Taylor (1796–1849) gestorben war, 1851 auch geheiratet und gemeinsam gelebt. Anhand dieser Daten lässt sich das Leben von John Stuart Mill in vier Phasen einteilen: 1806– 1830, 1831–1851, 1852–1858 und 1859–1873.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_1

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Die erste Lebensphase war geprägt von einer strengen Erziehung durch den Vater, eifrigem politischem Aktivismus und dem Eintritt in das Berufsleben, einer kurzen Zeit völliger Erschöpfung und einer anschließenden Neuorientierung, die mit der Bekanntschaft mit Harriet eine weitere interessante Wendung nahm. Die Erziehung durch seinen Vater beschreibt Mill in seiner Autobiographie umfassend. James Mill, ein Schotte (geboren 1773 als James Milne, verstorben 1836), war seit 1808 ein enger Freund des Begründers des Utilitarismus, des bereits berühmten Philosophen Jeremy Bentham (1747–1832). Bentham war offenbar ein Wunderkind und lernte schon mit drei Jahren Latein, ging später auf die prestigeträchtige Westminster School und begann mit zwölf Jahren ein Studium in Oxford. John Stuart Mill hingegen begann zwar ebenfalls mit drei Jahren Latein zu lernen, blieb jedoch bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Als Privatschüler seines Vaters (der vor seiner Übersiedlung nach London schon in Schottland als Privatlehrer tätig war) durchlief er eine völlig ablenkungsbefreite Erziehung, die sein Vater für ihn gemeinsam mit dem kinderlosen Jeremy Bentham geplant hatte und die weitaus intensiver war als jede, die selbst die besten öffentlichen oder privaten Einrichtungen hätten bieten können. Darüber hinaus war sie systematisch auf ein sehr genau definiertes Ziel ausgerichtet: aus John Stuart Mill den perfekten Utilitaristen zu machen. Mill sollte eine noch herausragendere Persönlichkeit als seine Lehrer werden, die das allgemeine Wohlergehen befördernde Reformen in Politik, Recht und Moral planen, antreiben und umsetzen konnte. Diese Rolle erforderte den Lehrmeistern zufolge zwar viel Wissen über das Funktionieren von Gesellschaften aus Gegenwart und Vergangenheit, aber kaum Bildung im Humboldt’schen Sinne (s. Kap. II.5), wie Mill später schmerzlich erfahren sollte. In den ersten vierzehn Jahren seines Lebens lernte Mill nebst Latein noch Griechisch – jeweils auch durch Lektüre der entsprechenden klassischen Texte (s. Kap. II.8) – und durchlief

C. Schmidt-Petri

ein Studium der Philosophie (inklusive Wissenschaftstheorie und Logik) und Volkswirtschaftslehre (sein Vater ist neben David Ricardo, 1772– 1823, mit dem er befreundet war, und natürlich Adam Smith, 1723–1790 als einer der wichtigsten klassischen Volkswirtschaftler anerkannt; s. Kap. II.10). Auch Mills Fähigkeiten als Didaktiker wurden früh und heftig gefordert: Nicht nur musste er seinem Vater regelmäßig Zusammenfassungen der gelesenen Texte vortragen, auch wurde er schon mit acht Jahren zum Hilfslehrer seines Vaters, der John Stuart für den Lernerfolg seiner jüngeren Schwestern Wilhelmina (1808– 1861) und Clara (1810–1886) zur Rechenschaft zog. 1820/21 gab es eine Unterbrechung im strengen Regime, da James Mill in die East India Company eintrat und als Hauslehrer nicht mehr zur Verfügung stand. John Stuart Mill verbrachte deswegen einige Monate unter der Obhut des Bruders von Jeremy Bentham, Samuel Benth­am (1757–1831), der sich in der Nähe von Toulouse zur Ruhe gesetzt hatte. Dort wurde Mills Erziehung u. a. an der Universität Montpellier in den Naturwissenschaften ergänzt (vor allem in Chemie, Zoologie und Mathematik) und in Volkswirtschaft perfektioniert, zusätzlich lernte er Französisch. Nicht zuletzt betätigte Mill sich auch sportlich, lernte zu reiten und ging regelmäßig schwimmen. Für die Botanik begeisterte ihn ein Sohn Samuels, George Bentham (1800– 1884), der ebenfalls zu Hause erzogen wurde und später, wieder in London, ein einflussreicher Botaniker werden sollte. In Frankreich erlebte Mill also ohne direkte Aufsicht durch seinen Vater und mit Kontakt zu Gleichaltrigen ein völlig anderes, freieres, Leben, was ihn nachhaltig geprägt haben dürfte. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich studiert Mill weiter, u. a. Recht bei dem, wie Benth­am, in direkter Nachbarschaft am St. James’s Park wohnenden John Austin (1790–1859), der später an der auch durch Benthams Hilfe als säkuläre Alternative zu den Universitäten Oxford und Cambridge begründeten London University Professor werden sollte. Seine Frau Sarah Austin (1793–1867), die als Übersetzerin deutschsprachiger Literatur sehr bekannt wurde, unter-

1  Biographie (1806–1873)

richte Mill derweilen in Deutsch (die Austins hatten zwei Jahre in Bonn gelebt). Es beginnt für Mill aber auch das Arbeitsleben im engeren Sinne: Er lektoriert die umfangreichen Schriften Benthams, der von überschäumender Kreativität war (die Gesamtausgabe seiner Schriften ist auch heute noch lange nicht abgeschlossen), und tritt 1823 als eine Art Sachbearbeiter (‚Junior Clerk‘) in die East India Company ein. Seit einigen Jahren dort tätig, aber damals noch nicht ‚Head Examiner‘, war wie erwähnt sein Vater, nun auch sein beruflicher Vorgesetzter. Mit seiner dreibändigen History of British India von 1818 (begonnen 1806 und ebenfalls von John Stuart redigiert) hatte er ein Standardwerk vorgelegt, das ihn als kenntnisreichen Historiker etablierte, obwohl er weder eine der in Indien verbreiteten Sprache sprach, noch das Land je besucht hatte (was ihm zufolge der Objektivität seines Urteils aber zuträglich war). Beworben hatte Mill sich bei der East India Company nicht, sein Vater hatte ihm die Stelle verschafft: „In May 1823, my professional occupation and status for the next thirty-five years of my life, were decided by my father’s obtaining for me an appointment from the East India Company“ (CW I, 83). Mill war also nicht direkt enthusiasmiert, aber andere Berufswünsche oder gar Beschwerden über seine Tätigkeit sind nicht bekannt. Die East India Company war ein Aktienunternehmen, das im Auftrag der englischen Krone die gesamte Herrschaft über den indischen Subkontinent ausübte und dazu u. a. über eine schlagkräftige eigene Armee verfügte (s. Kap. V.31). Sie war damals eine der mächtigsten Institutionen im Welthandel, neben vergleichbaren Einrichtungen anderer europäischer Länder, und verfolgte das Ziel der – wohlgemerkt für England – vorteilhaften wirtschaftlichen Nutzung der Bodenschätze und landwirtschaftlichen Produkte (z. B. Baumwolle, Seide, Gewürze, Salpeter, Tee, Opium). 1858 wurde die East India Company nach der gegen ihre Herrschaft gerichteten Indischen Revolution aufgelöst und die Verwaltung der Kolonie in staatliche Hände gelegt. Während dieser noch jugendlichen Jahre war Mill nicht nur stets bemüht, er erfüllte die ihm

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von Bentham und seinem Vater zugedachten Aufgaben auch aufs Beste. Durch Lektüre von u. a. Benthams Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789) hatte er inzwischen auch selbst die dort propagierte Lehre verinnerlicht. Mill engagiert sich voll für die utilitaristische Sache, gründet die „Utilitarian Society“ und begründet damit auch den Utilitarismus als solchen (Bentham hatte diesen Begriff noch nicht gebraucht, obgleich er das ‚principle of utility‘ als grundlegendes moralisches Prinzip explizierte), publiziert in politischen Zeitschriften, vor allem in der im Umkreis der sogenannten Philosophical Radicals neugegründeten Westminster Review, gibt weiterhin Benthams Schriften heraus, und nimmt an intellektuellen Gesprächskreisen und öffentlichen Debatten teil. Im Herbst 1826 – also mit 20 Jahren – fällt Mill jedoch in eine schwere depressive Krise. Ausgelöst dürfte sie durch schlichte Überlastung gewesen sein, aber sie hat tiefergehende Ursprünge und verändert Mills Ansichten zum menschlichen Lebensglück daher zutiefst. Er versteht, dass die von ihm verfolgten Ziele nicht wirklich seine eigenen oder seine persönlichen Ziele waren, ihr Erreichen also zumindest ihn selbst nicht glücklich machen würde. Hätte Mill sich selbst nur als ein Instrument der utilitaristischen Sozialreform betrachten können, wäre dies unter Umständen hinnehmbar gewesen, da immerhin viele andere Menschen durch sie glücklich gemacht worden wären. Diese Perspektive hat Mill sich selbst aber nie wirklich zu eigen gemacht, wie er nun feststellt, auch wenn sein Vater und Bentham Mills Leben eindeutig so hatten ausrichten wollen. Insofern hatten sie ihr Erziehungsziel mit Mill nicht erreicht, was er auch so erkannte. Was genau war mit Mill geschehen? Die Grundlage der Mill’schen Erziehung war der sogenannte Assoziationismus (Hartley 1749): die Idee, dass das Verknüpfen von freudigen Empfindungen (z. B. durch Lob, Belohnungen, Auszeichnungen o. ä.) mit bestimmten Idealen oder Aktivitäten einen Wunsch im Schüler herbeiführt, die jeweiligen Ideale zu verfolgen oder die entsprechenden Aktivitäten auszuüben. Durch

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die Erfüllung dieser Wünsche würde der Schüler dann, später auch ohne externes Lob, sein eigenes Glück erreichen, sodass letztlich jegliche Ziele ‚implantiert‘ werden und auch Erfüllung liefern könnten. Dieser Ansatz hatte bei Mill selbst wider Erwarten jedoch nicht gegriffen. Das allgemeine Wohlergehen der Menschheit, als abstrakte Größe, war für ihn selbst einfach nicht hinreichend emotional wichtig geworden: „All those to whom I looked up, were of opinion that the pleasure of sympathy with human beings, and the feelings which made the good of others, and especially of mankind on a large scale, the object of existence, were the greatest and surest sources of happiness. Of the truth of this I was convinced, but to know that a feeling would make me happy if I had it, did not give me the feeling. My education, I thought, had failed to create these feelings in sufficient strength to resist the dissolving influence of analysis, while the whole course of my intellectual cultivation had made precocious and premature anal­ ysis the inveterate habit of my mind. I was thus, as I said to myself, left stranded at the commencement of my voyage, with a well-equipped ship and a rudder, but no sail; without any real desire for the ends which I had been so carefully fitted out to work for: no delight in virtue, or the general good, but also just as little in anything else“ (CW I, 143). Mill erlebte also, dass eine nur anerzogene mentale Verknüpfung durch Nachdenken über ihre Entstehung („analysis“, hier durchaus der Idee der Psychoanalyse ähnlich) auch wieder gelöst werden konnte – und zum ständigen hinterfragenden Nachdenken war Mill natürlich ganz besonders erzogen worden. Wie weit die Abwendung vom eigenen Vater und der utilitaristischen Theorie Benthams als Ergebnis dieser „mental crisis“ ging, ist im Detail umstritten. Klar ist aber, dass Mill sich viel stärker einem romantischen Bildungsideal zuwendet und den eigenen, vielleicht auch idiosynkratischen Gefühlen mehr Bedeutung zugesteht. Seine emotionale Entwicklung wird von ihm von nun an als wichtig angesehen und daher auch explizit verfolgt, z. B. durch die Lektüre von Texten der Romantiker wie Coleridge, Wordsworth (der später zum Freund wird), und

C. Schmidt-Petri

Goethe. Ein Gefühlsausbruch bei Lektüre der Memoiren von Jean-Francois Marmontel zeigt ihm erst auf, dass er emotional nicht schon völlig abgestumpft ist, sondern überhaupt noch zu Empfindungen fähig. Dies ist ein wichtiger Schritt aus der Krise: „I was moved to tears. From this moment my burden grew lighter. The oppression of the thought that all feeling was dead within me, was gone. I was no longer hopeless: I was not a stock or a stone. I had still, it seemed, some of the material out of which all worth of character, and all capacity for happiness, are made. Relieved from my ever present sense of irremediable wretchedness, I gradually found that the ordinary incidents of life could again give me some pleasure; that I could again find enjoyment, not intense, but sufficient for cheerfulness, in sunshine and sky, in books, in conversation, in public affairs; and that there was, once more, excitement, though of a moderate kind, in exerting myself for my opinions, and for the public good. Thus the cloud gradually drew off, and I again enjoyed life: and though I had several relapses, some of which lasted many months, I never again was as miserable as I had been“ (CW I, 145). Umstritten ist, welche Bedeutung der Tatsache zugemessen werden sollte, dass es sich bei der den Tränenausbruch auslösenden Passage um die Beschreibung des Todes von Marmontels Vater handelt (Levi 1951).

Beziehungsstatus: It’s complicated Die zweite Phase von Mills Leben beginnt mit der Bekanntschaft mit Harriet Taylor und endet mit der Eheschließung der beiden. Harriet Hardy entstammte einer Familie der Mittelschicht und hatte sechs Geschwister. Eine Schulpflicht gab es damals nicht, sodass die jugendliche Bildungslaufplan stets von den Eltern entschieden wurde. Wie also gerade für Frauen üblich, wurde auch Harriet zu Hause erzogen, sie erlernte mehrere Fremdsprachen. Über ihre Jugend ist aber ansonsten recht wenig bekannt (Narewski 2008, 42). Im Alter von 18 Jahren heiratete sie den 29-jährigen John Taylor,

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einen gesellschaftlich engagierten und beruflich erfolgreichen Großhändler für Pharmazeutika, der, wie die Familie Hardy, dem unitaristischen Christentum anhing. Obwohl die Ehe zurückschauend sicherlich als unglücklich gelten muss, war Harriet anfänglich durchaus verliebt in ihren Mann (McCabe 2023, 2). Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Das dritte Kind, Tochter Helen (1831–1907), setzte später die Arbeit ihrer Mutter fort, sie wurde selbst eine bedeutende Frauenrechtlerin und Mills Vertraute. John Stuart Mill und Harriet Taylor lernten sich 1830 bei einem Abendessen im Hause der Taylors kennen. Schon bald intensivierten sie ihre Kontakte und trafen sich regelmäßig zu Gesprächen über Politik und Philosophie. Harriet hatte sich, wohl inzwischen mit ihrem eigenen monotonen Leben als Mutter und Hausfrau hadernd, schon mit Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter auseinandergesetzt und zu ihnen auch kürzere Texte verfasst (s. Kap. II.6). Mills Interesse an diesen Problemen ging offenkundig weit über das ihres Ehemannes hinaus. John Taylor wiederum hatte in den ersten Jahren keine Einwände gegen die Treffen seiner Frau mit Mill, selbst in ihrem eigenen Haus am Regent’s Park, und hielt sich solange diplomatisch im liberalen Reform Club auf. 1833 hatte sich die Beziehung jedoch so weit intensiviert – wobei sie offenbar platonisch blieb –, dass John Taylor es als ratsam ansah, dass Harriet etwas Zeit alleine in Paris verbringen möge, um über die Männer in ihrem zukünftigen Leben zu Klarheit zu gelangen. Überraschenderweise reiste ihr John Stuart Mill jedoch nach, und so verbrachten die beiden einige Wochen ohne jeden gesellschaftlichen Druck oder Beobachtung zusammen. Dass das Leben mit John Taylor nicht mehr weitergehen konnte wie bisher, war nach Paris beschlossene Sache. Die Ausgestaltung des neuen Lebens gestaltete sich praktisch jedoch als schwierig, waren doch diverse Zwänge zu berücksichtigen. Eine Ehescheidung auf Wunsch Harriets wäre damals sogar de jure unmöglich gewesen, auf Wunsch ihres Mannes hin immerhin nur de facto; alle Ehescheidungen mussten individuell vom Parlament genehmigt werden. Allem Anschein nach fühlte sich Harriet aber

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auch vielfältig moralisch verpflichtet, sodass sie eine Scheidung zum Wohle der drei Kinder – und auch der gesellschaftlichen Reputation ihrer gesamten Familie – nicht gewollt hätte. Die wenig später vollzogene einvernehmliche Trennung, die Harriet einen eigenen Wohnsitz außerhalb Londons bescherte (wo sie mit Helen lebte, während die Söhne auf Internate.kamen), wurde vor dem Rest der Familie Taylor deswegen auch so gut wie möglich verheimlicht. Wie eine Ehe idealerweise ausgestaltet werden sollte, war für Harriet und John Stuart schon vor der Reise nach Paris ein Thema, das, von ihrer speziellen Konstellation abgelöst, allgemeingültig und abstrakt zu betrachten war. Sowohl von John Stuart Mill (CW XXI, 35–49) wie auch von Harriet Taylor (CW XXI, Appendix A, 375–377) existieren dazu füreinander verfasste Texte aus den frühen 1830ern, die sich mit Ehe und Scheidung auseinandersetzen (Rossi 1970). Über das Zusammenleben in den ersten Jahren der Beziehung liegen wenige Zeugnisse vor. Die äußeren Umstände – Mills Berufstätigkeit in der City, sein Wohnsitz in Westminster, ihr Wohnsitz in Keston Heath, später Walton-onThames, beide für damalige Verhältnisse weit außerhalb Londons, die überlieferten Briefe – zeigen jedoch, dass sie sich nicht täglich trafen oder gar einen gemeinsamen Haushalt führten. Für heutige Verhältnisse muss man die Beziehung also eher als eine sehr enge Freundschaft bezeichnen. Allerdings traten sie regelmäßig gemeinsam in der Öffentlichkeit auf, was bereits als hinreichend skandalös wahrgenommen wurde, da Harriet bekanntlich mit einem anderen Mann verheiratet war. Wann die Familie Taylor von der Beziehung erfuhr, ist unbekannt, aber auch für die Familie Mill ging sie viel zu weit. Viele Freunde, die die Art der Beziehung schwer einschätzen konnten, waren der Meinung, dass Mill sich lächerlich mache, was sich in interessanten Briefen zeigt (Hayek 1951, Kap. IV). Nachdem einige Freundschaften zerbrachen, erwähnenswert die mit John Arthur Roebuck (1802–1879) zogen sich die beiden immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Im Jahr 1836 stirbt James Mill, was bei seinem Sohn eine längere Phase der Trauer auslöst,

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die ihn auch physisch stark mitnimmt. Für mehrere Monate ist er krankgeschrieben. Er nutzt die Zeit, um mit seinen jungen Brüdern Henry (1820–1840) und George (1825–1853), Harriet und ihren Kindern (wobei alle Kinder sie nur zeitweise begleiteten) eine lange Genesungsreise durch Frankreich, die Schweiz und Italien zu unternehmen. Die gemeinsamen Reisen mit Harriet, die 1839 wieder für sechs Monate nach Italien führen (auch Deutschland durchreisten sie mehrmals), waren für die beiden eine unbeschwertere Zeit als das Leben im Londoner Establishment. Dass sie gemeinsam verreisten, versuchten sie aber häufiger durch Angabe unterschiedlicher Reiseziele zu vertuschen. Nach dem Tod von Mills Vaters setzt eine neue Phase reger wissenschaftlicher Aktivität ein. Mill gibt die Leitung der London and Westminster Review auf, die ihn einige Jahre viel Zeit und Geld gekostet hat und schreibt sein erstes wichtiges Buch, A System of Logic (s. Kap. III.17). Mit dem Erscheinen 1843 etabliert es ihn als Intellektuellen, es wird ein echter Bestseller. Die dort entwickelten Methoden der Wissenschaftstheorie, vor allem der Methodologie der Sozialwissenschaften, und einige sprachphilosophische Überlegungen sind bahnbrechend und auch heute noch nicht nur von philosophiehistorischem Interesse (s. Kap. VI.42). Es folgen schon 1848 die nicht minder umfangreichen Principles of Political Econ­ omy (s. Kap. III.15), ein Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre, das überaus erfolgreich ist und für viele Jahrzehnte an den Universitäten das Standardwerk der Volkswirtschaft schlechthin bleibt. Auch hier leistet Mill Beiträge zur Forschung, insbesondere zur Theorie des internationalen Handels, verknüpft seine Erkenntnisse aber vor allem mit der meisterhaften Synthese der Theorien seiner Vorgänger. Die Principles sind der erste unter Mills Namen publizierte wichtige Text, auf den nachweislich Harriet Taylor bedeutenden Einfluss ausgeübt hat (s. Kap. II.6). Redaktionelle Überarbeitungen sind ebenso gut dokumentiert wie gemeinsame Planungen über Inhalt und Struktur. Vor allem das Kapitel zur Zukunft der Arbeiterschaft (Buch IV, Kap. VII; CW III, 758–796)

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war mindestens ein gemeinsames Werk, Harriets Biographin Jo Ellen Jacobs schreibt es sogar vollständig Harriet zu (Jacobs/Payne 1998). Tendenziell gegen Harriets Ko-Autorschaft spricht jedoch, dass ihr das Buch ursprünglich hätte gewidmet werden sollen. John Taylor war über die Idee der Widmung an seine Frau, die dann nur in einigen Exemplaren handschriftlich umgesetzt wurde, jedoch ‚not amused‘, woraufhin sie schnell fallen gelassen wurde. Wie bei vielen anderen Texten ist die Quellenlage zu den Details der Kooperation zwischen Mill und Harriet Taylor eher schwierig. Gerade, wenn die beiden sich häufig trafen und nicht über Briefe kommunizierten (welche auch nur zum Teil erhalten sind), also eine besonders enge Kooperation zu erwarten ist, gibt es naturgemäß wenig Material zu etwaigen Gesprächen und Planungen. Mills Äußerungen in seiner Autobiographie sowie die Zuordnung der Schriften in dem zum Ende des Lebens von ihm verfassten Schriftenverzeichnis (MacMinn/ Hainds/McCrimmon 1945), in dem häufig von ‚joint work with my wife‘ berichtet wird, können vielleicht noch eher für bare Münze genommen werden als die Namen auf den Titelblättern – schließlich hätten weibliche Intellektuelle damals kaum Gehör gefunden. Hätte Mills ‚Hausfreundin‘ Harriet Taylor sogar als seine Ko-Autorin firmiert, wären vermutlich auch alle Beiträge von Mill in Alleinautorschaft beschädigt worden. Es wäre also in vielerlei Hinsicht ungeschickt gewesen, sie als Ko-Autorin zu nennen. Andererseits wurden Harriets Leistungen auch häufig heruntergespielt, wenn sie nicht sogar persönlich angefeindet wurde, sodass Mill guten Grund gehabt hätte, ihre Beiträge zumindest nicht unter den Teppich zu kehren. Über Harriets längstem unter ihrem eigenen Namen veröffentlichten Text, „The Enfranchisement of Women“ (CW XXI, Appendix C, 393– 415), 1851 in der Westminster Review publiziert, wurde entsprechend ausgiebig diskutiert, ob nicht Mill ihn geschrieben habe (Hayek 1951, 167 f.). Zu einigen unter Mills Namen veröffentlichten Texten finden sich umfangreiche handschriftliche Notizen oder Briefe (z. B. zu der

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mehrfach überarbeiteten Autobiographie, in der auch von Helen Taylor geschriebene Passagen zu finden sind (Stillinger 1983), bei anderen eindeutige Aussagen zu Textarbeiten in Briefen (z. B. bei den Principles (Hayek 1951; Jacobs/Payne 1998); bei anderen zeigt sich belastbare Evidenz, wenn man die Schreibstile der beiden stilometrisch analysiert (z. B. bei On Liberty, Schmidt-Petri/Schefczyk/Osburg 2022). Dass Harriet Taylors Schriften, häufig bruchstückhaft, noch nicht sämtlich publiziert sind (auch Jacobs/Payne 1998 ist eigenen Aussagen zufolge nicht vollständig), ist daher äußerst bedauerlich. Es bleibt zu hoffen, dass ihre wissenschaftlichen Leistungen, als Ko-Autorin wie als eigenständige Denkerin, zukünftig eine bessere Würdigung erhalten. Es kann bei nüchterner Betrachtung nämlich kaum bestritten werden, dass viele der Themen, die in den unter Mills Namen veröffentlichten Texten auftauchen, früher in Notizen von Harriet Taylor zu finden sind (McCabe 2023; Jacobs/Payne 1998) und Mill sicherlich inspiriert haben. Mill sagt eben dies, in dem Teil der Autobiographie, der nach Harriets Tod entstand: „Over and above the general influence which her mind had over mine, the most valuable ideas and features in these joint productions – those which have been most fruitful of important results, and have contributed most to the success and reputation of the works themselves – originated with her, were emanations from her mind, my part in them being no greater than in any of the thoughts which I found in previous writers, and made my own only by incorporating them with my own system of thought. During the greater part of my literary life I have performed the office in relation to her, which from a rather early period I had considered as the most useful part that I was qualified to take in the domain of thought, that of an interpreter of original thinkers, and mediator between them and the public; for I had always a humble opinion of my own powers as an original thinker, except in abstract science“ (CW I, 251). Dass ein großer Teil der Denkarbeit gemeinsam geschehen ist, muss ebenfalls als völlig unstrittig angesehen werden, praktisch die gesamte vorhandene Korrespondenz der beiden

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dreht sich um wissenschaftliche Projekte. Heutzutage dürfte eine solch enge Kooperation für die Zuschreibung von Ko-Autorschaft sicherlich als ausreichend gelten – insofern sie von beiden Kooperationspartnern gewünscht wird. Gemeinsam haben die beiden auch ihre gesundheitliche Anfälligkeit, und es bricht für beide eine schwere Phase an. Schon seit dem Tod seines Vaters litt Mill unter nervösen Augenzuckungen. 1841 ist das Paar mit der Kutsche in einen Unfall verwickelt, der bei Harriet zu wiederkehrenden Lähmungen führt. Mill, der mit Spekulationen in den USA fast ein Jahreseinkommen verloren hat, leidet unter unklaren Schmerzen in der Brust. 1848 stolpert er im Hyde Park, die Behandlung der Hüfte verläuft unbefriedigend. 1849 sterben darüber hinaus Harriets Vater Thomas Hardy (1775–1849) und ihr Ehemann John Taylor, den Harriet in den letzten Wochen seines Lebens mit viel Zuneigung gepflegt hatte. Knapp zwei Jahre später, am 21.4.1851, heiraten John Stuart und Harriet in Melcombe Regis, ein Stadtteil von Weymouth, eine Kleinstadt westlich von Bournemouth. Mehr als 200 Kilometer von London entfernt findet die Hochzeit also statt, ganz ohne Gäste oder Feier. Auch die Eheschließung führte nicht zur erhofften Akzeptanz der Beziehung, ganz im Gegenteil, sie verschlimmerte die Stimmung zumindest im Umfeld der Mills weiter. Mills Mutter Harriet (geborene Burrow, 1782–1854), seine Schwestern Clara und Harriet Isabella (1812–1897) hatten Mills zukünftige Ehefrau noch gar nicht persönlich kennengelernt, machten ihr nach der Ankündigung der Hochzeitsabsichten aber auch nicht umgehend die Aufwartung, was Mill zutiefst verärgerte. Auch sein Bruder George, der zur Gesundung auf Madeira weilte, traf in seinem nachträglichen Glückwunschschreiben an Mills Ehefrau offenbar nicht den richtigen Ton. So glücklich und erfüllend die Beziehung für die beiden selbst gewesen sein mag, so wenig müssen sie sich wohl von ihrer Umgebung angenommen gefühlt haben, sei es nun vor oder nach der Hochzeit. Kontrovers diskutiert wird seit jeher, warum das Paar überhaupt heiraten wollte. Sie hatten

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sich ja schon zwanzig Jahre früher darüber ausgetauscht, wie sehr die rechtliche Lage der Ehefrauen vom Ideal abwich, also welche grotesken rechtlichen Nachteile Frauen durch die Heirat in Kauf nehmen mussten. Offenbar war diese ihm als Ehemann gewährte Macht über seine Ehefrau auch für Mill schwer zu ertragen. Er verfasste daher ein Dokument, in dem er seine Ablehnung der bestehenden Regelung kundtat: „I declare it to be my will and intention, and the condition of the engagement between us, that she retains in all respects whatever the same absolute freedom of action, and freedom of disposal of herself and of all that does or may at any time belong to her, as if no such marriage had taken place; and I absolutely disclaim & repudiate all pretension to have acquired any rights whatever by virtue of such marriage“ (CW XXI, 99; Herv. i. O.).

Gemeinsame Jahre Als Ehepaar lebten die Mills komfortabel im grünen Blackheath, einem südlichen Vorort Londons, zusammen mit Helen, Harriets Sohn Algernon (genannt ‚Haji‘, 1830–1903) und einer Katze (Gaulke 1996, 90). Mill arbeitete weiterhin bei der East India Company, Harriet kümmerte sich um Haushalt und die Beaufsichtigung des Personals. Das Glück als Patchworkfamilie währte nicht lange. 1853 wird Mill schwer krank und die Möglichkeit eines baldigen Todes wird ein dominantes Thema. Wie sich 1854 herausstellt, hatte Mill sich offenbar noch bei seinem Vater mit Tuberkulose infiziert, an welcher auch sein Bruder George inzwischen verstorben war. Mill hatte dann seinerseits wohl auch Harriet angesteckt, und auch in ihrer Familie waren mehrere Todesfälle zu beklagen. Eine einfache Heilung gab es nicht, aber Reisen in angenehmeres Klima konnten die Krankheit eindämmen. Den Herbst 1853 verbringen die beiden daher zur Genesung in Südfrankreich, aber Mill muss ohne Harriet an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, da sie zum Rückreisetermin zu geschwächt ist. Über den späten Winter 1854 und

C. Schmidt-Petri

das Frühjahr 1855 reist Mill für ein halbes Jahr durch das italienische Festland, Sizilien und Griechenland, wiederum allein. Um ein Haar hätte er auf der Reise eine Stelle als Verwalter einer der Ionischen Inseln angenommen, die damals noch unter britischem Protektorat standen. Wetter und Arbeitsbelastung hätten seinen Wünschen entsprochen, wie er Harriet berichtet, die Gründe der Ablehnung des spontanen Angebots sind unbekannt. Über den intensiven Austausch von postlagernden Briefen entwirft das Ehepaar ein gemeinsames Arbeitsprogramm, um die ihnen verbliebene Zeit bestmöglich zu nutzen. Nach Mills Rückkehr beginnen 1855 die gemeinsamen Arbeiten an On Liberty (s. Kap. III.13), an Utilitarianism (s. Kap. III.12) und The Subjection of Women (s. Kap. III.16). 1856 steigt Mill bei der East India Company zum ‚Head Examiner‘ auf, was durch den zunehmenden indischen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft ein immer unerfreulicherer Job wird. 1858 wird die East India Company aufgelöst, ihre Aufgaben gehen in staatliche Hände über, und Mill lieber mit einer auskömmlichen Rente in den Ruhestand als in Konflikte mit der neuen Leitung, die aus zweitund drittklassigen Politikern besteht (CW I, 249). Die sich direkt anschließende Reise, die 1858 über Frankreich wieder für ein halbes oder gar ganzes Jahr nach Italien führen sollte, überlebt Harriet nicht. Sie stirbt im Hotel de l’Europe in Avignon überraschend plötzlich an Tuberkulose. Der Arzt, der sie bei der letzten Reise noch hatte retten können, erreicht Avignon zu spät. Mill ist untröstlich. Er erwirbt das gesamte Mobiliar ihres Sterbezimmers (Rinderle 2000, 30) und richtet damit ein Zimmer seines Hauses in Avignon ein, das er bald nach Harriets Tod erwirbt. Er schreibt an William Thornton: „It is doubtful if I shall ever be fit for anything, public or private, again. The spring of my life is broken. But I shall best fulfil her wishes by not giving up the attempt to do something useful“ (CW XV, 574). Wie bei der Beschreibung seiner depressiven Krise, in der es um das ‚Segel‘ geht, spielt hier die Metapher der ‚Feder‘ eine Rolle. In beiden Fällen scheint Mill also der innere Antrieb zumindest temporär verloren gegangen zu sein.

1  Biographie (1806–1873)

Veröffentlichung der bekanntesten Werke, Mill als Parlamentarier, Tod Die für Mills Ruhm als Philosophen bedeutendsten Schriften werden in den folgenden Jahren fertiggestellt und veröffentlicht: On Liberty 1859, Utilitariansm 1861 als Artikelfolge und 1863 dann als separates Buch, 1861 auch die Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14). 1865 kommen günstige Ausgaben ausgewählter Schriften Mills auf den Markt. Mill verzichtete dazu nicht nur auf die Einnahmen, die die vorhandenen Ausgaben noch hätten erwirtschaften können, sondern auch auf jeglichen Profit aus den neuen Ausgaben. Sie verkaufen sich blendend. 1865 kandidiert Mill für die Liberalen als Kandidat für den Wahlkreis Westminster und zieht für eine Legislaturperiode ins Unterhaus ein. Zur Kandidatur musste er aber überredet werden, und in die Niederungen der politischen Kampagnenarbeit oder Parteipolitik wollte sich Mill schon gar nicht begeben: Als Bedingung für seine Bereitschaft musste ihm zugesagt werden, dass er seine eigenen Meinungen vertreten durfte, nicht die der Partei, und auch nicht die Partikularinteressen seines Wahlkreises. Sein Wahlkampf kommt auch bei den Arbeitern gut an, da er ihnen seine Ehrlichkeit dadurch demonstriert, auf Nachfrage freimütig zu bestätigen, dass er sie in einer früheren Schrift als gewohnheitsmäßige Lügner bezeichnet hat. Als Parlamentarier engagierte Mill sich vielfältig. Historisch bedeutsam ist aber vor allem sein Engagement für eine Reform des Wahlrechts (s. Kap. V.41), das immer noch nur wenigen Männern, nämlich denen mit erheblichem Wohlstand, vorbehalten war. 1867 bringt Mill einen Antrag in das rein männliche Parlament ein, dass auch Frauen das Wahlrecht zugestanden werden sollte, nach Henry Hunts (1773–1835) Versuch im Jahr 1833 das zweite Mal. Am Rande erwähnenswert ist, dass Mill im Gesetzestext nur das Wort ‚man‘ durch das Wort ‚person‘ ersetzt sehen wollte, ein Begriff, der also schon weit vor Peter Singers Practical Ethics (1979) ein utilitaristischer Kampfbegriff war. Der Antrag scheitert (erst 1928 hatte

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ein ähnlicher Antrag Erfolg), erregt aber erhebliches Aufsehen. Mills Stieftochter Helen begründet 1867 die „National Society for Women’s Suffrage“ in London, die sich zu einem Hauptmotor der Bewegung der Suffragetten entwickeln sollte. Mills Engagement für die Gleichberechtigung der Frau führte 1869 auch zur Veröffentlichung einer seiner eindrucksvollsten Schriften, The Subjection of Women. Auch dieses Buch, ein feministisches Meisterwerk (s. Kap. VI.45), lässt sich als Gemeinschaftswerk mit seiner Frau ansehen (Birnbacher 2020), wenngleich Mill selbst betont, dass er schon vor seiner Bekanntschaft mit ihr für die vollständige Gleichheit der Geschlechter war (CW I, 253) und das Buch auf Veranlassung seiner Stieftochter Helen hin 1861 verfasste, von der auch einige Passagen stammen (CW I, 265). Eindeutig ist es aber zutiefst durch die eigenen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Erwartungen an eine ‚gute Ehefrau und Mutter‘ geprägt. Harriet war sicherlich für beide das beste Beispiel einer Frau, die in anderen politischen und gesellschaftlichen Umständen von völlig anderen Lebenschancen hätte profitieren können. Statt nur als Ehefrau und Mutter existieren zu dürfen, wäre sie selbst wohl in einem anderen Lebensentwurf besser aufgehoben gewesen, und die ihr zustehende Anerkennung als Denkerin hätte sie dann nicht nur von den wenigen Menschen bekommen können, die sie zufälligerweise persönlich gut kannten. Als Empirist argumentiert Mill nüchtern, dass jeglicher Bezug auf die ‚Natur‘ der Frauen, die sie vermeintlich für bestimmte soziale Rollen prädestiniert, als spekulativ gelten muss, solange Frauen in Lebensentwürfe gezwängt werden und die für Männer üblichen Möglichkeiten der Selbstentfaltung nicht haben. Von 1865 bis 1868 hatte Mill auch die Position des Rektors der University of St. Andrews inne, allerdings eine rein repräsentative Position ohne tägliche Verpflichtungen. In seiner Inaugural Address (CW XXI, 215–257) entwirft er eine ideale universitäre Erziehung. Dieses Ideal ist auch biographisch interessant, da es in bestimmten Bereichen von dem Erziehungsideal abweicht, das sein eigenes Leben so tief geprägt

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hat. Sie wäre in drei Bereiche gegliedert, die intellektuelle, die moralische und die Erziehung der Gefühle. Da viele menschliche Tätigkeiten nach neuen Wahrheiten streben, sollte die Universitätserziehung im intellektuellen Bereich vor allem die Universalkompetenz schulen, Wahrheit von Falschheit zu unterscheiden. Exemplarisch sollten daher alle Methoden des Erkenntnisgewinns, von denen sich mehrere etabliert haben, abgedeckt werden. Im Bereich von Moral und Politik ist die Situation etwas anders, da in ihnen keine gesicherten Wahrheiten vorliegen. Das Beste, was eine Universität hier erreichen kann, ist das Wecken von echtem Interesse und die exemplarische Kenntnis klassischer Positionen, durch welche die moralische Erziehung vorangetrieben werden kann, die jeder Mensch aber sein Leben lang selbst betreiben muss. Das Überwinden egoistischer Selbstsucht sollte das Ziel der Erziehung der Gefühle sein. Erhebendere Gefühle kann man, etwas Sensibilität vorausgesetzt, durch das Betrachten großer Kunstwerke erreichen (mit denen der europäische Kontinent allerdings besser ausgestattet ist als Großbritannien). Auch das Erfahren von unberührter Natur oder jegliche exzellent ausgeführte Tätigkeit kann einem künstlerische Schönheit aufzeigen, die die Wertschätzung der Menschheit befördert. Diese dritte Komponente fehlte offenkundig in Mills eigener Erziehung, in der die schönen Künste als überflüssig galten. Seine späten Jahre verbringt Mill meist zusammen mit Helen, die ihm auch bei der Korrespondenz hilft und später seinen Nachlass verwalten sollte. Er wohnt nicht mehr in Blackheath, sondern in einer Wohnung in Westminster und in seinem Haus in Avignon. Seine wissenschaftliche Tätigkeit setzt er bis zu seinem Tod fort. Die Arbeit an einem Buch über den Sozialismus, der schon in der ersten Auflage der

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Principles mit den neuesten Theorien erörtert worden war, kann er jedoch nicht mehr abschließen. Die vorhandenen Teile werden einige Jahre nach seinem Tod als die Chapters on Socialism (s. Kap. IV.18) veröffentlicht. Am 07.05.1873 stirbt Mill in Avignon. Er wird im Grab seiner Frau beerdigt.

Literatur Ball, Terence: Competing Theories of Character Formation: James vs. John Stuart Mill. In: John Stuart Mill. Thought and Influence. Hg. von Georgios Varouxakis, Paul Kelly. London 2010. Birnbacher, Dieter: Nachwort. In: John Stuart Mill/Harriet Taylor Mill: Die Unterwerfung der Frauen. Ditzingen 2020, 191–214. Gaulke, Jürgen: John Stuart Mill. Reinbek bei Hamburg 1996. Hartley, David: Observations on Men. London 1749. Hayek, Friedrich August von: John Stuart Mill and Harriet Taylor: Their Friendship and Subsequent Marriage. London 1951. Jacobs, Jo Ellen/Payne, Paula Harms: The Complete Works of Harriet Taylor Mill. Bloomington 1998. Levi, Albert William: The Writing of Mill’s Autobiography. In: International Journal of Ethics 61/4 (1951), 284–296. McCabe, Helen: Harriet Taylor Mill. Cambridge, UK 2023. MacMinn, Ney/Hainds, J. R./McCrimmon, James McNab: Bibliography of the Published Writings of John Stuart Mill: Edited from His Manuscript with Corrections and Notes. Evanston, Ill. 1945. Narewski, Ringo: John Stuart Mill und Harriet Taylor Mill: Leben und Werk. Wiesbaden 2008. Rinderle, Peter: John Stuart Mill. München 2000. Rossi, Alice (Hg): John Stuart Mill and Harriet Taylor Mill: Essays on Sex Equality. Chicago 1970. Schmidt-Petri, Christoph/Schefczyk, Michael/Osburg, Lilly: Who Authored On Liberty? Stylometric Evidence on Harriet Taylor Mill’s Contribution. In: Utilitas 34/2 (2022), 120–138. Singer, Peter: Practical Ethics. Oxford 1979. Stillinger, Jack: Who Wrote J. S. Mill’s Autobiography? In: Victorian Studies 27/1 (1983), 7–23.

Teil II

Einflüsse

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Jeremy Bentham (1748–1832) Frauke Höntzsch

Der Einfluss Jeremy Benthams auf Mills Denken ist kaum zu überschätzen. Mills Auseinandersetzung mit und Emanzipation von Bentham ist in Mills Werk allgegenwärtig, durch die Autobiography (s. Kap. III.11) gut belegt und auch Gegenstand zweier kleinerer Schriften – „Remarks on Bentham’s Philosophy“ (1833; CW X, 3–18) und „Bentham“ (1838; CW X, 75–116) –, in denen er seinen Lehrer teils scharf kritisiert. Benthams Einfluss besteht auch mit Blick auf Mills gesellschaftspolitisches Denken, vor allem aber mit Blick auf die utilitaristische Ethik als Fundament seiner Sozialphilosophie. Benthams Lehren sind der Ausgangspunkt von Mills Überlegungen, die er seiner eigenen Aussage nach nie völlig verwirft, sondern nur korrigiert (CW I, 163/165). Entsprechend versteht Mill seine Ausführungen in Utilitarianism (s. Kap. III.12) als Weiterentwicklung der Ideen seiner Vorgänger. Gemeinsam mit John Stuart Mills Vater, James Mill, unterzieht Jeremy Bentham den jungen Mill einem Erziehungsexperiment. Seine Erziehung beschreibt Mill als „in a great measure, a course of Benthamism. The Benthamic

F. Höntzsch (*)  Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

standard of ‚the greatest happiness‘ was that which I had always been taught to apply“ (CW I, 64). Eine tiefe Lebenskrise, deren Beginn Mill in der Autobiography auf das Jahr 1826 datiert (CW I, 137), führt zum Überdenken der angelernten Überzeugungen. Die rationalistische Erziehung, die dem jungen Mill kaum Raum für kindliche Unbeschwertheit ließ, verfehlt nach Mills Darstellung ihr Ziel. Die am eigenen Leib schmerzvoll erfahrenen Folgen einer das Gefühl leugnenden Erziehung verändert Mills Vorstellung vom Leben und seinen bestimmenden Komponenten von Grund auf. Mills Krise, die er als „A Crisis in My Mental History“ (CW I, 127) bezeichnet, war „exactly that: a crisis rooted in doubts concerning Benthamite moral and social philosophy […]. Benthamism could not provide an abiding and durable link between the happiness of the individual and the happiness of others“ (Green 1989, 260/261). Entgegen der Intention seines Vaters und dessen Freundes, Bentham, die ihn zu einem treuen Anhänger ihrer Lehren erziehen wollten, verändert Mill die Theorie seiner Vorgänger in der Folge radikal, unter anderem durch romantische, konservative und idealistische Einflüsse. Zwar bildet die utilitaristische Ethik nach wie vor die Grundlage für Mills politisches Denken und Reformbemühungen und zwar behält er die Kernidee des Utilitarismus, die Begründung der Moral in der Nützlichkeit (s. Kap. V.35), bei, doch ändert sich sein Verständnis dessen, was

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_2

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unter Glück zu verstehen ist und damit auch die Rolle, die dieses im Handeln des Einzelnen spielen soll (Brink 2013): Mill versteht das Glück, anders als die orthodoxen Utilitaristen, als indirektes Ziel (s. Kap. V.32), das durch die Kultivierung jedes Einzelnen zu erreichen ist, und erweitert die hedonistische Wertebasis durch einen nicht mehr nur quantitative, sondern nun auch qualitative Dimension (s. Kap. V.29). Die von Mill an den Lehren seiner Vorgänger vorgenommenen Modifikationen sind auch für Mills politisches Denken und Handeln von Bedeutung.

Zwischen Kritik und Affirmation Erst nach Benthams Tod verfasst Mill zwei Essays, in denen er sich kritisch mit dessen Denken auseinandersetzt. Während Mill die „Remarks on Bentham’s Philosophy“ von 1833 anonym verfasst, übt er in seinem Essay „Benth­am“ von 1838 – zu einem Zeitpunkt als er auch auf seinen mittlerweile verstorbenen Vater keine Rücksicht mehr nehmen muss – offen Kritik, weshalb dieser spätere Text für die Modifikationen, die Mill an der Lehre seines Vorgängers vornimmt, noch aufschlussreicher ist. Einleitend bezeichnet Mill hier Bentham und Coleridge (s. Kap. II.3), über den er 1840 ebenfalls ein Essay („Coleridge“; CW X, 117–163) verfasst, als „the two great seminal minds of England in their age“ – beide Texte ergänzen sich, wie das Denken der Behandelten: Während der progressive Bentham in der Lage gewesen sei, „to discern more particularly those truths with which existing doctrines and institutions were at variance“, so der konservative Coleridge „[to discern] the neglected truths which lay in them“ (CW X, 77; Herv. i. O.). Wenn der Ton mit Blick auf Bentham wesentlich schärfer ist, dann ist damit keineswegs eine generelle Abkehr von dessen Denken, sondern vielmehr eine Korrektur verbunden und ist der schärfere Ton dem Umstand geschuldet, dass Mill sich von Bentham, nicht aber von Co­le­ ridge, zu emanzipieren versucht. Mill selbst reflektiert mit Blick auf den Text von Co­leridge

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die unterschiedliche Wertung – „if the effect only of this one paper were to be considered, I might be thought to have erred by giving undue prominence to the favourable side, as I had done in the case of Bentham to the unfavourable“ – und relativiert sie rückblickend: „In both cases, the impetus with which I had detached myself from what was untenable in the doctrines of Bentham and of the eighteenth century, may have carried me, though in appearance rather than in reality, too far on the contrary side“. Aber, so Mill weiter, „as far as relates to the article on Coleridge, my defence is, that I was writing for Radicals and Liberals, and it was my business to dwell most on that in writers of a different school, from the knowledge of which they might derive most improvement“ (CW I, 153). Hier zeigt sich Mills ambivalenter Umgang mit Benthams Lehren, die er einerseits scharf kritisiert, aber andererseits nie völlig verwirft. In der Autobiography beschreibt er sein Vorgehen wie folgt: „I found the fabric of my old and taught opinions giving way in many fresh places, and I never allowed it to fall to pieces, but was incessantly occupied in weaving it anew. […] When I had taken in any new idea, I could not rest till I had adjusted its relation to my old opinions, and ascertained exactly how far its effect ought to extend in modifying or superseding them“ (CW I, 163/165). Dabei versteht Mill die in seiner Interpretation einander ergänzenden Lehren Ben­ thams und Coleridges, wie sein eigenes Denken auch, als Beleg für sein Verständnis der Geschichte als ‚Geschichte der Ideen‘ einzelner Individuen, wobei er eine Wechselseitigkeit zwischen Selbstreform und sozialer Reform unterstellt (Eisenach 1989, 255/256). Auch wenn Mills Ziel die intellektuelle und moralische Entwicklung Aller ist, ist und bleibt der Fortschritt das Werk einiger weniger herausragender Individuen: „[T]here must have been individuals better than the rest, who wet the customs going“ (CW X, 394). Entsprechend ordnet Mill auch die Unstimmigkeiten zwischen den Ideen seiner Vorgänger und den eigenen Ansichten in den Lauf der Geschichte ein und stellt sich als Weiterentwickler ihrer Lehren vermittels neuer Einflüsse

2  Jeremy Bentham (1748–1832)

dar. Dieses Vorgehen spiegelt sich auch in Utilitarianism, wo Mill ein Credo des orthodoxen Utilitarismus – meist fast wörtlich – wiederholt, um es im Verlauf der Verteidigung nahezu komplett umzudeuten: „Der Buchstabe steht noch, aber der Geist ist entschwunden“ (Berlin 2006, 266). Indem Mill den Dissens historisch einordnet und als Fortschritt deutet, kann er die Verdienste seiner Vorgänger ehren und ihre Lehren zugleich kritisieren.

Das größte Glück, nur anders Mills Auseinandersetzung mit Bentham in „Remarks on Bentham’s Philosophy“ und „Benth­am“ zeigt, dass seine Kritik am orthodoxen Utilitarismus nicht primär auf dessen verkürztes Verständnis des Glücks zielt; dies ist für Mill nur Folge von Benthams beschränkter Auffassung der menschlichen Natur (CW X, 94 ff.): „Man, that most complex being, is a very simple one in his eyes“ (CW X, 96). So kritisiert er Bentham für sein fixes Menschenbild, das in der Tat durch größtmögliche Einfachheit geprägt ist: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do“ (Bentham, Works I, 1). Mill negiert Benthams Ansichten nicht völlig, doch er hält sie für unvollständig, weil Bentham dem Menschen nur einfache und zudem fixe Regungen zuschreibe (CW X, 95). Mill macht die egoistische Nutzenmaximierung nicht wie Bentham zur Grundlage der Moral. Das bedeutet nicht, dass er egoistische Regungen als solche leugnen würde, aber er nimmt ihnen die Ausschließlichkeit: Sie sind und sollen in moralischen Fragen nicht das leitende Handlungsmotiv sein. Und noch wichtiger: Sie führen auf lange Sicht nicht zum Glück. Der Mensch ist für Mill nicht nur ein kalkulierendes, er besitzt zugleich eine Anlage zum sozialen Wesen („social being“): „The social state is at once so natural, so necessary, and so habitual to man, that […] he never conceives himself otherwise than as a member of a

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body“, der Mensch ist geleitet von „the desire to be in unity with [his] fellow creatures“ (CW X, 231). Ausgangspunkt der sozialen Regungen ist das natürliche Mitfühlen („sympathy“; s. Kap. V.40), ein natürliches, spontanes Gefühl des Mitfreuens bzw. -leidens mit unserem Gegenüber als einem derselben Gattung angehörenden Wesen (CW X, 60). Bentham erkennt Zu- bzw. Abneigung gegenüber anderen Lebewesen zwar als Handlungsmotiv an, doch diese Gefühle sind in seinen Augen weder stark genug noch entwicklungsfähig, um eigenständige Relevanz für das moralische Handeln zu gewinnen. Bentham so Mill „was a believer in the predominance of the selfish principle in human nature“ (CW X, 14). Mill weist Benthams Reduktion menschlicher Motive durch die Gleichsetzung von Interesse mit Eigeninteresse als falsch zurück (CW X, 14). Er unterscheidet zwei Arten des Interesses: „self-regarding“ und „social“. Das soziale Interesse lässt sich nicht auf ein quantitatives Verständnis, auf die Summe individueller Interessen, reduzieren, wie bei Bentham: „The interest of the community then is, what? – the sum of the interests of the several members who compose it“ (Bentham, Works I, 3). Der Mensch hat als soziales Wesen – jenseits des individuellen Nutzens – ein Interesse am Zusammenleben als solchen. Mill glaubt an die Entwicklungsfähigkeit der „sympathy“, sprich an das menschliche Potenzial zu sozialen Gefühlen, das es zu fördern gilt. Die Ausbildung der sozialen Gefühle, das Leben im Einklang mit dem Wohl Aller ist die höchste Stufe der Entwicklung und dient gleichermaßen dem Glück des Einzelnen wie dem Wohl Aller. In der Folge geht Mill davon aus, dass sich die Anhänger Benthams, zu denen er sich selbst lange zählte, vor allem hinsichtlich der Wahl der Mittel zum Glück getäuscht hätten: „While fully recognizing the superior excellence of unselfish benevolence and love of justice, we did not expect the regeneration of mankind from any direct action on those sentiments, but from the effect of educated intellect, enlightening the selfish feelings“ (CW I, 113). Infolge seiner Lebenskrise gelangt Mill zu der Überzeugung, dass erst das Gefühl der (richtigen) Moral zur

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Durchsetzung verhilft: „I, for the first time, gave its proper place, among the prime necessities of human well-being, to the internal culture of the individual. […] The cultivation of the feelings became one of the cardinal points in my ethical and philosophical creed“ (CW I, 147). Die Lösung liegt für Mill in der Stärkung der sozialen Gefühle anstelle des einseitigen Trainings der Vernunft, das alleine nicht ausreicht, um den Menschen zu sozialem Verhalten zu bewegen. Nur wenn das Gefühl der Verstandeseinsicht entspricht – das glaubt Mill aus eigener Erfahrung zu wissen –, wird der Mensch danach handeln. Bentham, so Mills Vorwurf, berücksichtige nur die äußere Handlungsweise, während er den zweiten Teil der Moral, die Selbsterziehung, völlig ignoriere (CW X, 98). Der Wert einer Handlung und damit das Ziel aller Politik bemisst sich laut Bentham am ‚größten Glück der größten Zahl‘ (Bentham, Works I, 227), zu dessen Durchsetzung er zunächst auf das Eigeninteresse der Individuen vertraut. Wo dieses nicht trägt, setzt er infolge des egoistischen, statisch-mechanistischen Menschenbilds auf äußere Sanktionen. Um den Einzelnen dazu zu bringen, sein Verhalten entsprechend dem größten Glück der größten Zahl zu gestalten, „there is nothing by which a man can ultimately be made to do it, but either pain or pleasure“; Bentham unterscheidet vier Quellen aus denen Freuden und Leiden entspringen – physische, politische, moralische und religiöse: „[I]nasmuch as the pleasures and pains belonging to each of them are capable of giving a binding force to any law or rule of conduct, they may all of them be termed sanctions“; wobei die drei Letzteren auf Ersterer gründen und nicht ohne sie wirksam sein können (Bentham, Works I, 14/15). Bentham baut folglich auf die künstliche Herstellung des größten Glücks, die auf dem Nutzenkalkül basiert und den Egoismus privilegiert. Für Bentham ist die Verbesserung der Gesellschaft primär durch Gesetzgebung zu erreichen. Mill dagegen setzt nicht allein auf äußere Sanktionen, sondern auf die natürliche Übereinstimmung der Interessen mittels der Bindung des individuellen Nutzens an das Wohl Aller mithilfe einer inneren Sanktion, sprich er

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relativiert die egoistische Motivationsstruktur und damit zugleich den Widerspruch zur altruistischen Norm. Mill reduziert soziales Verhalten nicht auf das rationale Interessenkalkül, sondern bindet es an die Übereinstimmung mit den sozialen Gefühlen und unterstellt ein natürliches Bedürfnis zur Förderung des Wohles Aller, „since few but those whose mind is a moral blank, could bear to lay out their course of life on the plan of paying no regard to others except so far as their own private interest compels“ (CW X, 233). Das gerät nicht in Widerspruch zum Utilitarismus als konsequentialistischer Ethik, da sich die gewünschte Folge, das Glück, in Mills Augen alleine durch die Internalisierung, sprich die gewohnheitsmäßige Anwendung der richtigen Moral, einstellt (s. Kap. V.24, V.40).

Glück und Freiheit Die Umdeutung dessen, was unter Glück zu verstehen und wie es zu realisieren ist, auf Grundlage einer geänderten Vorstellung der menschlichen Natur, hat Auswirkungen auch auf Mills gesellschaftspolitische Vorstellungen. Bei Mill fungiert die Nützlichkeit ‚nur‘ als übergeordnetes Prinzip, Moral und Nützlichkeit sind für Mill nicht deckungsgleich. Die Abweichung ist nicht zuletzt dem unterschiedlichen Kontext geschuldet, in dem beide das Nützlichkeitsprinzip formulieren. Bentham dient es zur einleitenden psychologischen Fundierung seiner Theorie der Gesetzgebung: „In his hands utility was, first and foremost, a principle of social and political reconstruction. Human improvement would be achieved through the rational control of and orderly changing of manmade institutions“ (Anderson 1983, 342). Während es dem Sozialreformer um die Aufstellung eines Kriteriums für Richtig und Falsch geht, formuliert Mill ein Wertaxiom: „Mill set out to rescue the principle of utility from its role as an impersonal and mechanistic principle for reforming human institutions and to put it to work as the first principle in the assessment of all human conduct“ (Anderson 1983, 344; Herv. i. O.).

2  Jeremy Bentham (1748–1832)

Entsprechend bezeichnet Mill zwar auch in On Liberty (s. Kap. III.13) das Glück als letzten Maßstab des Handelns, doch spricht er hier von „utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224). Damit ändert sich auch das Verhältnis von Glück (s. Kap. V.35) und Freiheit (s. Kap. V.27). Anders als für Bentham, der in erster Linie Utilitarist ist und das Ausmaß der Freiheit am Nutzen orientiert („Call them soldiers, call them monks, call them machines, so long as they be happy ones, I shall not care“, Bentham, Works IV, 64), wenn er auch möglichst wenig Freiheitsbeschränkungen dem größten Glück der größten Zahl für besonders förderlich hält, ist Freiheit für Mill nicht ein Mittel unter vielen, sondern notwendiger Bestandteil des Glücks. Das Ziel hat sich geändert: Nicht die Summe individuellen Glücks ist entscheidend, nicht die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung, sondern das individuelle Wohl Aller, das sich langfristig durch die Entwicklung der höheren Fähigkeiten realisiert. Während die negative Freiheit für Bentham nur ein (wenn auch zentrales) Mittel unter anderen zum Zweck (zur Maximierung des Glücks) und folglich relativierbar ist, begründet Mill die negative Freiheit, unter Einfluss der Ideen Wilhelm von Humboldts (s. Kap. II.5), mit der Ermöglichung der menschlichen Entwicklung. Wenn aber das Wohl Aller und die Vervollkommnung des Einzelnen untrennbar miteinander verbunden sind und Letztere umfassend nur durch die absolute Geltung der Freiheit zu verwirklichen ist, dann ist die Freiheit nicht relativierbar. Für Mill kann ein (zivilisierter) Mensch, der nicht frei ist, nicht glücklich sein. Mill rechtfertigt die Freiheit mit der progressiven Natur des Menschen, ihre inhaltliche Konzeption gründet in der Dualität der menschlichen Natur: Um dem Menschen die Entwicklung zu ermöglichen, konzipiert Mill die negative Freiheit so, dass die individuelle wie die soziale Seite der menschlichen Natur vor Schädigung geschützt wird (Höntzsch 2010). Man schadet dem Menschen als einem sich entwickelnden Wesen nicht nur durch die Einschränkung des individuellen Aktionsraums, sondern auch durch

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die Einschränkung der sozialen Interaktion. Dadurch erfährt die individuelle Freiheit mehr Einschränkungen als im klassischen Liberalismus und auch mehr als bei Bentham; dies führt jedoch nicht zu einem Widerspruch zwischen Freiheit und Glück, weil die Einschränkungen der individuellen Freiheit in Mills Konzeption keine Einschränkungen darstellen, sondern die Freiheit erst umfänglich garantieren, sodass die Geltung der Freiheit dadurch nicht relativiert wird.

Demokratie und Fortschritt Mill war nicht nur politischer Philosoph, er war auch journalistisch und politisch aktiv. In der Nachfolge Benthams versteht Mill sich als Vertreter einer Gruppe von Philosophical Radicals, einer Gruppe utilitaristischer Autoren, die für politische Reform und eine Ausweitung der Demokratie eintraten. In Abgrenzung zu anderen Radikalen kennzeichnet Mill ‚philosophische Radikale‘ 1837 in einer Buchbesprechung („Fonblanque’s England“; CW VI, 349–380). als „those who in politics observe the common practice of philosophers – that is, who, when they are discussing means, begin by considering the end, and when they desire to produce effects, think of causes“. Sie wurden zu Radikalen, „because they saw immense practical evils existing in the government and social condition of this country“ und als philosophische Radikale sahen sie zugleich den Grund dieser Übel: „the aristocratic principle in our government – the subjection of the many to the control of a comparatively few, who had an interest, or who fancied they had an interest, in perpetuating those evils“ (CW VI, 353). Der Antagonismus zwischen Aristokratie und Volk, die „enmity to the Aristocratical principle“ (CW VI, 353), bildet, wie für Bentham und James Mill, den Ausgangspunkt auch von John Stuarts Eintreten für Demokratie und Reform (Niesen 2017; Hamburger 1982). Aber auch wenn Mill Bentham in seinem Nachruf als „the first name among the philosophic radicals“ (CW X, 497) bezeichnet, so möchte er den philosophischen Radikalismus

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doch zugleich vom Vorwurf des „sectarian Ben­ thamism“ befreien (CW I, 221). Denn Mills Neuorientierung nach seiner tiefen Krise schlägt sich auch in seinen politischen Ansichten nieder. Mill folgt zwar den Radicals hinsichtlich vieler praktischer Forderungen weiterhin und verwirft ihre Ideen auch theoretisch nie ganz, doch haben die konservativen Einflüssen, die sich in seinen Schriften seit den 30er Jahren – beginnend mit der Artikelserie „The Spirit of the Age“ (1831; s. Kap. IV.19) – bemerkbar machen, Auswirkungen auch auf sein Verständnis repräsentativer Demokratie: „I ceased to consider representative democracy as an absolute principle, and regarded it as a question of time, place, and circumstance; though I now looked upon the choice of political institutions as a moral and educational question more than one of material interests, thinking that it ought to be decided mainly by the consideration, what great improvement in life and culture stands next in order for the people concerned, as the condition of their further progress, and what institutions are most likely to promote that“ (CW I, 177). Diese Einflüsse zeigen sich auch in den Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14) – in einer Verschiebung des politischen Ideals „from pure democracy, as commonly understood by its partisans, to the modified form of it“ (CW I, 199; Herv. d. Verf.). Die Abweichung zu Bentham liegt dabei nicht im Eintreten für „the numerical majority every­ where unjustly depressed, everywhere trampled upon, or at the best overlooked“ (CW X, 107), sondern in der Einschätzung der Kompetenzen der Mehrheit und damit im Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten (Vitali 2021). Mill will den neuen und alten Radikalismus versöhnen (CW I, 209; Rosen 2011). Das Hauptorgan dieses Programms bildet die 1834 von William Molesworth gegründete London Review, die nach der Fusion mit der (1823 von Bentham gegründeten) Westminster Review 1836 in der London and Westminster Review aufging (CW I, 209) (um nach 1840 wieder unter Westminster Review zu erscheinen). War die Zeitschrift zu Beginn, aus Sicht Mills, der informell als Herausgeber fungierte, von philo-

F. Höntzsch

sophischen Radikalen dominiert, „with most of whom I was now at issue on many essential points, and among whom I could not even claim to be the most important individual“, womit er nicht zuletzt auf seinen Vater anspielt (CW I, 209), so wird die Review erst nach dem Tod von James Mill das Organ eines philosophischen Radikalismus, wie er Mill vorschwebte: „I desired […] to give a wider basis and a more free and genial character to Radical speculations: to shew that there was a Radical philosophy, better and more complete than Bentham’s, while recognizing and incorporating all of Bentham’s which is permanently valuable“ (CW I, 221). Entsprechend öffnet Mill die Zeitschrift nun für Autoren „who were in sympathy with Progress as I understood it, even though I should lose by it the support of my former associates“ (CW I, 214). Mills gewandelte Vorstellung von Fortschritt (s. Kap. V.26) kommt mit Blick auf sein Verständnis der Demokratie vor allem in der von Denkern wie Coleridge (s. Kap. II.3) oder Comte (s. Kap. II.4) übernommenen sozialen Funktion einer gebildeten Klasse – und damit ausgerechnet einem (bildungs-)aristokratischen Element – zum Ausdruck, deren entscheidende Rolle er, in Anlehnung an Tocqueville (s. Kap. II.7), im Schutz gegen die Tyrannei der Mehrheit sieht (CW I, 199/201). Eine paternalistische Politik aber weist Mill strikt zurück – denn auch Autoren wie Coleridge oder Comte vertreten in Mills Augen nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte liegt bei Bentham und den (alten) Philosophical Radicals, die der Partizipation das Wort reden. So ist die Herrschaft der Gebildeten allein für Mill keine Lösung, sie bedarf der Kontrolle durch das Volk, da jede herrschende Klasse zum Machtmissbrauch neigt: „Partly by intention, and partly unconsciously, it is ever striving to make all other things bend to itself; and is not content while there is anything which makes permanent head against it, any influence not in agreement with its spirit“ (CW XIX, 458). Benth­ am wiederum ist in Mills Augen „onesid­ed“, sofern er nicht sieht, dass die Macht der Mehrheit „is salutary so far as it is used defensively, not offensively – as its exertion is ­tempered

2  Jeremy Bentham (1748–1832)

by respect for the personality of the individual, and deference to superiority of cultivated intelligence“ (CW X, 108/109). Nur in Kombination führen Kompetenz und Partizipation (s. Kap. V.37) zum Ziel. Mills Modifikation hinsichtlich seines Verständnisses von Demokratie änderte nichts an seinem praktischen politischen Radikalismus: „[N]evertheless this change in the premises of my political philosophy did not alter my practical political creed as to the requirements of my own time and country. I was as much as ever a radical and democrat, for Europe, and especially for England“; doch hoffte er auf diesem Wege, langfristig auch den neu in sein politisches Denken integrierten Ansichten zum Erfolg zu verhelfen: „but if the democracy obtained a large, and perhaps the principal, share in the governing power, it would become the interest of the opulent classes to promote their education, in order to ward off really mischievous errors“ (CW I, 179). Wie mit Blick auf die utilitaristische Moralphilosophie so zeigt sich folglich auch hinsichtlich Mills politischen Überzeugungen der für Benthams Einfluss auf Mill so typische Gleichklang zwischen Kritik und Affirmation, den er als Modifikation kennzeichnet und in einer historischen Perspektive als Fortschritt legitimiert.

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Literatur Anderson, Brian A.: Mill on Bentham: From Ideology to Humanised Utilitarianism. In: History of Political Thought 4/2 (1983), 341–356. Bentham, Jeremy: The Works of Jeremy Bentham, 11 Bde. Hg. v. John Bowring. Edinburgh 1838–1843. Berlin, Isaiah: John Stuart Mill und die Ziele des Lebens [1959]. In: Ders.: Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt a. M. 2006, 257–293. Brink, David O.: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. Eisenach, Eldon J.: Self-Reform as Political Reform in the Writings of John Stuart Mill. In: Utilitas 1/2 (1989), 242–258. Green, Michele: Sympathy and Self-Interest: The Crisis in Mill’s Mental History. In: Utilitas 1/2 (1989), 259– 277. Hamburger, Joseph: Introduction. In: John Stuart Mill: Collected Works VI: Essays England, Ireland and the Empire. Toronto 1982, vii–liii. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Niesen, Peter: The Roots of Mill’s Radicalism. In: Christopher Macleod/Dale E. Miller (Hg.): A Companion to Mill. Chichester 2017, 79–94. Rosen, Frederick: From Jeremy Bentham’s Radical Philosophy to J. S. Mill’s Philosophic Radicalism. In: Gareth Stedman Jones/Gregory Claeys (Hg.): The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought. Cambridge 2011, 257–294. Vitali, James: Representative, Deputy, or Delegate? Jeremy Bentham’s Theory of Representative Democracy. In: History of European Ideas 47/8 (2021), 1315–1330.

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Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) Hans-Werner Breunig

John Stuart Mill sagt von sich, dass nur wenige Personen ihn mehr beeinflusst hätten als Samuel Taylor Coleridge (CW XII, 220–223), den er bei weitem für den geistreichsten aller zeitgenössischen Schriftsteller hält (CW XII, 221). Im selben Brief bezeichnet Mill den Dichter Coleridge, der doch das Fragment oft hochstilisierte, als „den systematischsten Denker unserer Zeit“. Das scheint freilich im Widerspruch zu seinem Essay „Coleridge“ von 1840 (CW X, 117–163) zu stehen, in dem er sagt, Cole­ridge habe kein systematisches Werk produziert und Mill beabsichtige auch nicht, aus seinen Fragmenten ein solches zusammenzusetzen (CW X, 141). Darin läuft er Coleridges Selbsteinschätzung nicht zuwider, wenngleich Coleridge sein „System“, soweit es in seiner Biographia Literaria unter wörtlichen Anleihen bei den Deutschen Idealisten entwickelt und unter fadenscheinigen Entschuldigungen nur abgekürzt wiedergegeben war (Coleridge 1983, 302), später (Coleridge 1990, 293) für unreif hielt. Mill sieht in seinem Aufsatz von 1840 Coleridge als Gegenpol zu Bentham (s. Kap. II.2), welchem er zwei Jahre zuvor ebenfalls einen Aufsatz gewidmet hatte („Bentham“; CW X,

H.-W. Breunig (*)  Professor i.R., Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

75–116), womit diese beiden Denker für ihn eine Sonderstellung in der Philosophie einnehmen. Beide polarisierten ihre Auffassungen, indem sie Aspekte aus dem Denken des 18. Jahrhunderts wegließen, und dadurch sieht Mill sich, wie er in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) schreibt, als Vermittler zwischen den beiden und zugleich als Bewahrer von Aspekten des Gedankenguts des 18. Jahrhunderts gegen die Halbwahrheiten (ein Terminus, den er von Coleridge übernimmt) des 19. Jahrhunderts (CW I, 169–170). Begründet hat Mill seine Einschätzung nicht mit seiner persönlichen Bekanntschaft mit Cole­ ridge (er hat Coleridge gelegentlich in den 1820er Jahren besucht; vgl. Holmes 1998, 549), sondern allein mit der Kenntnis seiner Schriften, von denen er auch einige unveröffentlicht in Manuskriptform gesehen hat (CW XII, 221). Es ist nicht unmöglich, dass darunter auch Co­le­ ridges posthum unter dem Titel Logic veröffentlichte und teilweise auf Kants Prolegomena gestützte Ausführungen zu Teilen von Kants Kritik der reinen Vernunft waren; so hat Coleridge im Jahr 1823 seine Logik vorab James Taylor Cole­ ridge zu lesen gegeben. Aber selbst, wenn Mill die Überlegungen zu Kants ‚transzendentaler Einheit der Apperzeption‘ in Coleridges Logic (Coleridge 1981, 72–78) nicht bekannt waren, so hätte doch die Kurzfassung in Biographia Literaria für einen Einfluss auf seine Erkenntnistheorie genügen können. Die gemeinhin übliche

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Einschätzung von Coleridge und seiner Wirkung auf Mill hingegen läuft darauf hinaus, dass Coleridge zwar nicht eigentlich Philosoph gewesen sei, gleichwohl aber Ideen von Kant und den Kantianern in die englische Literatur eingeführt habe und für Mill damit die Möglichkeit eröffnete, sich gegen den vorherrschenden Benthamismus aufzulehnen; Coleridges Lehre aber sei eher prophetisch als szientifisch (Sorley 1949, 8). Mill allerdings betont den szientifischen Charakter von Coleridges (wie auch Benthams) Lehre; wer hingegen die Theorie verachte, sei ein Scharlatan, und dies ist Coleridge für ihn keineswegs (CW X, 121). Nun ist es aber kurios, dass Bentham, gegen den sich Mill nach eigenem Bekenntnis auflehnt, selbst schon ein weitaus umfassenderes Feld für die Logik angibt, als es nach seiner Meinung Aristoteles tat, nämlich „das gesamte Feld menschlichen Denkens und Handelns“, und zwar sogar im nichtwissenschaftlichen Diskurs wie auch mit fiktiven Inhalten (Bentham 1843, 219–220). Mills Hinwendung zu Coleridge wird unter der Annahme verständlich, Bentham habe sich nicht genügend auf die nichtkognitiven Gebiete der Logik eingelassen, obwohl er die Voraussetzungen dafür vielleicht schaffen wollte. Bentham will die Logik nämlich nur dort anwenden, wo geistige Anstrengung nötig oder nützlich ist (Bentham 1843, 222), also nicht auf alle Lebenslagen. Coleridge, mit Kants „transzendentaler Logik“ vertraut, eröffnete nun Mill die Gelegenheit, eine über den kognitiven Bereich hinausgehende Logik zu begründen. Mills A System of Logic (s. Kap. III.17) verbleibt zwar nicht im Bereich des Formalismus (es endet mit der „Logik der Moralwissenschaften“ (Buch VI; CW VIII, 931–952), denen es um das Gemeinwohl geht), aber die Anerkennung einer Welt, die von der Einbildungskraft gestaltet ist und deren Existenz nicht gesondert prädiziert werden muss (was doch Coleridge (1983, 295–306) in seiner Biographia Literaria gerade gezeigt hatte), ist ihm doch nicht zufriedenstellend gelungen. Erst kurz vor seinem Tod gesteht Mill in seiner Korrespondenz mit Franz Brentano, und als Resultat derselben (CW XVII, 1934–1935), die Existenz des Vorgestellten als Vorstellung

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ein. Während Coleridges Philosophie (wie seine Dichtung) stets auch verkündenden Charakter hat (Breunig 2001, 175), gelang es Mill unter ihrem Bann nicht, über eine Bewunderungshaltung gegenüber Coleridges Schriften hinauszugelangen und über sie hinauszudenken, sofern er sogar die Vernunft innerhalb seines System of Logic vom Verstand her angeben will. Während der einstmals unitarische Prediger Coleridge mit Kant in der Hochschätzung des physiko-theologischen Gottesbeweises übereinkommt (die Schönheit der Natur als göttliche Offenbarung), verfährt Mill in Setzungen des Verstandes, welche gleichwohl (wie schon bei Bentham) das Glück der Menschheit meinen, aber doch schwerlich als Ausdruck einer über dem Verstand stehenden Geisteshaltung begriffen werden können. Fest steht nach Mills eigenem Bekunden, dass er Coleridge, wie insbesondere auch Wordsworth, in einer Lebenskrise (ab 1826) (s. Kap. I.1; Kap. III.11) zu schätzen lernte; eine Krise, die Halliday als revolutionär für das Denken Mills bezeichnet (Halliday 1976, 13). Bei diesem außergewöhnlichen Mann war die emotionale Krise, die ihn in tiefe Melancholie versetzte, gar nicht von einer intellektuellen Krise zu trennen. Seine kultivierte Revolte gegen den nicht gerade gefühlvollen Vater (CW I, 51), dem er seine ganze philosophische Ausbildung von frühester Kindheit an verdankte, richtete sich gegen Auffassungen, wie sie James Mill und auch Bentham vertraten. Und was Coleridge selbst betrifft, so war bei ihm, um es mit Ernst Cassirer (1977 [1944], 156) auszudrücken, die Poesie philosophisch und die Philosophie poetisch, wie auch schon Hazlitt (1998, 97) bemerkt hatte. Eben dies stellt Halliday sogar für Mill selbst fest (Halliday 1976, 15), wenn auch Mill von sich selbst gesagt hatte, dass er ganz und gar kein Dichter sei (CW XII, 163) und Logik als Antithese zu Dichtung und Kunst verstehe (CW XII, 173; Robson 1968, 265). Wenn für Mill die Logik die Antithese zur Poetik ist, dann bedeutet dies, dass in beiden ein Anliegen des Menschen formuliert wird, das weder die eine noch die andere für sich allein beanspruchen kann. Für beide Pole kann Coleridge stehen und Mill kann

3  Samuel Taylor Coleridge (1772–1834)

es nun nicht mehr, wie so vielen Coleridge Rezipienten, darum gehen, ob Coleridge nun Dichter oder aber Philosoph sei; beide treten ihm in Cole­ ridge entgegen und nötigen ihm Bewunderung ab. Für Halliday kann der Eklektiker Mill mit einem poetischen Torytum einen intensiven Romantizismus vereinen und dabei noch immer Utilitarist bleiben (Halliday 1976, 50). Mill habe unter dem Einfluss von Wordsworth und Coleridge eine neue utilitaristische Ethik der Selbstvervollkommnung geschaffen (Halliday 1976, 122). Wie Alan Ryan meint, musste der Utilitarismus für Mill erweitert werden, damit er auch die Aspekte des menschlichen Lebens umfasste, die Bentham nicht sah (Ryan 1974, 56). Was also hat Mill in der Philosophie Co­le­ ridges gesehen? Äußerlich war ein abgeschlos­ senes System bei Coleridge nicht erkennbar; Mill aber war einerseits an einem System interessiert und entdeckte es bei Coleridge, andererseits aber leugnete er dies. In seinem Essay „Coleridge“ bemerkt er, dass die beiden einflussreichsten Denker seiner Zeit Bentham und Coleridge seien, wobei Bentham der Kritiker von außen, Coleridge aber der anerkennende traditionsbewusste Kritiker von innen sei (CW X, 119– 120). Doch gebe es in England noch nicht die Denker, die Coleridge zu beurteilen verstünden, die Zeit sei noch zu früh für Coleridge (CW X, 123). Dennoch lehnt Mill paradoxerweise die systematischen ‚Lehren Coleridges und der Deutschen‘ (worunter er die Nachfolger Kants meinen dürfte, denn diese revoltierten gemäß Mill gegen das Denken des 18. Jahrhunderts (CW X, 125), in welches Kant gehört) ebenso ab wie ihren Sprachgebrauch (CW X, 129). Locke andererseits habe nur den Anfang eines Systems geliefert (CW X, 129–130) (und in der Tat ist keiner der Britischen Empiristen durch ein philosophisches System hervorgetreten). Für Mill aber ist das System genau der faszinierende Punkt und er sieht sogar auch bei Locke ein solches (CW X, 130); so hat Mill seine später verfasste Logik A System of Logic Ratiocinative and Inductive genannt und sagt von ihr, sie solle lediglich eine Logik der Erfahrung sein, ohne auf Wahrheiten einzugehen, die nicht aus der Erfahrung stammen oder sich nicht auf diese beziehen. Mit die-

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ser Bescheidenheit entzieht er sich der Moralphilosophie des Sollens, oder wie er diese auch nennt: der Logik des Imperativs (CW XII, 412), und vielleicht auch der Metaphysik. Der Gedanke des Systems verhaftet der Sphäre des Verstandes und gehört in die Logik, über die sich der Dichter erheben darf. Für Mill ist Lockes System (und dem Kants unterstellt er Ähnliches) allein auf den Verstand gerichtet, und dies ist selbst für ihn, der als Schutzheiliger des Rationalismus bezeichnet worden ist (Annan 1968, 30), ein Mangel. Dabei erkennt er allerdings durchaus einen metaphysischen Teil der Lehre Lockes (CW X, 130). Und dies ist genau der Aspekt, der ihn an einem System interessiert: Es muss theoretisch beginnen und die resultierende Metaphysik darf nicht in den Wolken schweben (Locke 1975, 118). Aber der Verstand müsste in einer transzendentalen Reflexion sich und die Begrenztheit seiner Gegenstände zurücklassen zugunsten einer gestärkten Einbildungskraft. Ist Mill dazu bereit, wie dies in Ansätzen zu erkennen ist (Anschutz 1968, 53)? War er durch Coleridge auf dem Weg, sich zum deutschen Metaphysiker zu entwickeln, wie Francis Place einst schrieb (Anschutz 1968, 56), oder ist Mill tatsächlich enttäuschend einfallslos im Vergleich zu den Deutschen Idealisten, Marxisten oder Sozialisten, wie Annan meint (Annan 1968, 34)? Wie hat Mill das Problem in seiner eigenen Logic gelöst? Kann die Metaphysik Teil des Systems der Logik sein? In Coleridge jedenfalls sieht er den Metaphysiker, der zugleich mit dem theoretischen Denken Lockes durch Hartley, der dieses zu seiner Vervollkommnung geführt habe, vertraut ist (CW XII, 130). Mill bezieht gegen Cole­ridge und Kant Position, während er Locke und Bentham recht gibt, dass all unser Wissen aus der Erfahrung stamme. Mill schätzt sich als „Experientalist“ und nicht als „Empirist“ ein, wie Anschutz betont (Anschutz 1968, 60). In seiner Darstellung wird er Kants und Co­leridges Auffassung gerecht, dass nämlich anlässlich der sinnlichen Wahrnehmung auch ein Wissen stattfinde, das über die Sinnlichkeit hinausgeht (CW X, 128). Und eben dies erkennt er auch bei Locke.

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Die heilsamste Wirkung auf Mill hatte nach eigenem Bekenntnis Wordsworth (nicht etwa Coleridge, dessen akute Beschreibung seiner eigenen Krise er erst im Nachhinein entdeckte); Wordsworths Poetik trägt eindeutig Kant’sche und Rousseau’sche Züge, was Epistemologie und Moralphilosophie betrifft. Man mag aber mit Ryan fragen, warum Mill sich im Falle Cole­ ridges mit dessen Kenntnissen von Hegel, Herder oder Fichte zufriedengegeben hat, ohne sich diesen Quellen jemals selbst zuzuwenden und sich somit mit Wissen aus zweiter Hand begnügt hat (Ryan 1974, 214). Mill gibt zu, dass er von den deutschen Philosophen vielleicht viel lernen könnte, wenn er die Zeit hätte, sie zu lesen (CW XII, 412). Und an Comte schreibt er im Erscheinungsjahr seines A System of Logic freiweg, dass er weder Kant noch Hegel gelesen habe (CW XII, 574). Mill und Coleridge vereint gerade auch das politische Interesse, keine allgemeinverbindliche Dogmatik zuzulassen. Mill konnte in diesem Anliegen, wie er es nicht deutlicher in seinem Essay On Liberty (s. Kap. III.13) mit individualistischen und gar exzentrischen Grundsätzen hätte ausdrücken können, in Co­ leridge einen Verbündeten sehen, der sich in diesem Zusammenhang über die sogenannten Kleriker („the Cleresy“) dahingehend geäußert hat, dass sie weder eine Klasse sind, die alle dieselbe Lehre vertreten, noch aber auch, dass sie auf dieselbe Weise voneinander abweichende Lehren vertreten. Für Mill sind unter Coleridges ‚Kleriker‘ alle diejenigen zu fassen, „who are capable of producing a beneficial effect on their age & country“, und dafür müssen sie nicht unbedingt Christen sein (CW XII, 76). Für den liberalen Mill, der bitter enttäuscht über die erste Ablehnung der Reform Bill war, kann Coleridge auch in seinen späteren vorsichtigen politischen Äußerungen bei einer konservativen Leserschaft nur die Wirkung hervorrufen, dass sie weniger bigott sondern bessere Philosophen werden (CW X, 162). Mill ordnet Coleridge unter die reaktionären Denker ein, meint allerdings, Coleridge habe bisweilen Positionen vertreten, die einem Tory die Haare zu Berge stehen

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ließen (CW X, 155; vgl. auch Bosserhoff 2016, 25), und er hält ihn für einen liberaleren Liberalen als alle, die unter den sogenannten Liberalen zu finden seien, und in manchen Positionen für einen besseren Tory als es zu seiner Zeit die Tories sind (CW X, 162–163). Mill verteidigt diese Reaktionäre damit, dass sie genau das geleistet hätten, was den Philosophen des 18. Jahrhunderts normalerweise nicht geleistet zu haben vorgeworfen wird (CW X, 138), nämlich eine Philosophie der Geschichte, eine Kulturphilosophie entwickelt zu haben, in der die Gesellschaft durch alle Wirrungen hindurch als beständiger Fortschritt erkannt wird, und nicht etwa nur ein Parteiprogramm entworfen zu haben. Sie hätten sich auf Prinzipien konzentriert und nicht auf Einzelfälle (CW X, 139–140). So konnte er Coleridge auch in politischer Hinsicht für systematisch halten („his views on politics are, I have reason to believe, systematic“, CW XII, 221). Was also fand Mill an Coleridge? Mill sieht in Coleridge einen Verfechter uneingeschränkter Gedankenfreiheit, wie sie die Voraussetzung aller Philosophie sei (CW X, 160) und wie Mill sie eindringlich in seiner Schrift On Liberty verteidigt hat. Auch wenn er politisch zu ihm auf Distanz geht, so hat Co­le­ ridge doch nicht zuletzt dadurch, dass er in seinem Gedicht „Work without Hope“ Mills psychischer Krise den einzigen von ihm als angemessen empfundenen sprachlichen Ausdruck gegeben hat, die Rolle eines verständnisvollen Vaters angenommen, während Mill nach eigenem Bekenntnis in jener Zeit auf seinen Vater, dem er soviel verdankte, nicht rechnen konnte (CW I, 138). Zugleich bot ihm Coleridge die Gelegenheit, sich von seinem Vater zu emanzipieren. Die theoretische Wertschätzung, die Mill dabei Coleridge angedeihen ließ, setzte sich im Viktorianischen Zeitalter durchaus noch fort, als Coleridge gelegentlich sogar in einem Atemzug mit Aristoteles erwähnt wurde (Jackson 2015, Introduction); der Fortgang der Zeit hat diese Einschätzung ebenso wieder zurückgenommen wie Mill seine überschwängliche Bewunderung Coleridges.

3  Samuel Taylor Coleridge (1772–1834)

Literatur Annan, Noel: John Stuart Mill. In: J. B. Schneewind (Hg.): Mill. A Collection of Critical Essays. London/ Melbourne 1968, 22–45. Anschutz, R. P.: The Logic of J. S. Mill. In: J. B. Schneewind (Hg.): Mill. A Collection of Critical Essays. London/Melbourne 1968, 46–83. Bentham, Jeremy: The Works of Jeremy Bentham, Bd. 8. Hg. von John Bowring. Edinburgh 1843. Bosserhoff, Björn: Radical Contra-Diction: Coleridge, Revolution, Apostasy. Cambridge 2016. Breunig, Hans Werner: Verstand und Einbildungskraft in der englischen Romantik. S. T. Coleridge als Kulminationspunkt seiner Zeit. Münster/Hamburg/ London 2001. Cassirer, Ernst: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [1944]. Yale 1977. Coleridge, Samuel Taylor: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Bd. 13: Logic. Hg. von James Robert de Jager Jackson. Princeton 1981. Coleridge, Samuel Taylor: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Bd. 7: Biographia Literaria (Two volume set). Hg. von James Engell, W. Jackson Bate. Princeton 1983.

27 Coleridge, Samuel Taylor: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Bd. 14, 2: Table Talk. Hg. von Carl Woodring. Princeton 1990. Halliday, R. J.: John Stuart Mill. London 1976. Hazlitt, William: The Selected Writings of William Hazlitt, Bd. 9. Hg. von Duncan Wu, Tom Paulin, David Bromwich, Stanley Jones, Roy Park. London/New York 1998. Holmes, Richard: Coleridge. Darker Reflections, 1804– 1834. London 1998. Jackson, J. R. de J. (Hg.): Samuel Taylor Coleridge. The Critical Heritage, Bd. 2, 1834–1900. London/New York 2015. Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter Nidditch. Oxford 1975. Robson, John M.: J. S. Mill’s Theory of Poetry. In: J. B. Schneewind (Hg.): Mill. A Collection of Critical Essays. London/Melbourne 1968, 251–279. Ryan, Allan: John Stuart Mill. London/Boston 1974. Sorley, W. R.: Philosophers. In: Sir A. W. Ward/A. R. Waller (Hg.): The Cambridge History of English Literature, Bd. XIV: The Nineteenth Century III. Cambridge 1949, 1–49.

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Auguste Comte (1798–1857) Hans Jörg Schmidt

Für die intellektuelle Entwicklung und die Schärfung von John Stuart Mills Denken war die Lektüre der Schriften Auguste Comtes überaus bedeutsam (Filipiuk 1991, 103). In seiner Autobiography (s. Kap. III.11) bezeichnet Mill seinen Zeitgenossen „as one of the conspicuous figures in the thought of the age“ (CW I, 271; AW II, 204). Später, etwa in den revisionierten Auflagen seiner Logic (s. Kap. III.17), hat er das überschwängliche Lob Comtes relativiert und zwischen dessen frühen und späteren Schriften differenziert (Bain 1882, 72 f.). Um diese Differenzierung publik zu machen, hat Mill in der April- und Juliausgabe der Westminster Review des Jahres 1865 sich resümierend mit Comtes Werk auseinandergesetzt, „sifting what is good from what is bad“ (CW I, 271; AW II, 205). Beide Texte wurden auch unter dem Titel Auguste Comte and Positivism (CW X, 261–368) zusammengeführt. Comtes frühes Hauptwerk Cours de philosophie positive (6 Bde., 1830–1842) würdigt Mill als Quelle der Inspiration und bleibendes Werk der Philosophiegeschichte. Ausgehend von einem prinzipiell deduktiven Anspruch der Sozialwissenschaften pflichtet Mill Comte etwa

H. J. Schmidt (*)  Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected]

darin bei, diese logische Erkenntnisform durch historisch-induktive Beobachtung und Verallgemeinerung zu ergänzen (Kuenzle/Schefczyk 2009, 119). Comtes Système de politique positive (4 Bde., 1851–1854) dahingegen, das er in das Zentrum der zweiten Abhandlung stellt, kritisiert er infolge eines religiös überzeichneten System- und Formalismusbestrebens als zu den von ihm zeitlebens geschätzten Werten Freiheit (s. Kap. V.27) und Individualismus (s. Kap. V.30) konträr. Erstmalig hatte Gustave d’Eichthal (1804– 1886) Mill mit Auguste Comte, der späterhin als Gründervater des Positivismus und Namensgeber der Soziologie tradiert werden sollte, bekannt gemacht. Ende 1837 las Mill ausführlich Comtes Schriften, die er 1822 kennengelernt hatte, und kam dadurch mit der Stadientheorie in Berührung, was eine etwa zehn Jahre dauernde, intensive Auseinandersetzung mit Comte in Gang setzte (Bain 1882, 62–76; Comte 1877). Die von Comte beschriebene Abfolge von religiösem, metaphysischem und positivem Stadium beeindruckte Mill, hatte er in seiner 1836 publizierten Zivilisationstheorie (s. Kap. IV.22) doch ebenfalls drei Stufen der Zivilisation (Wildheit, Barbarentum und Zivilisation) unterschieden (CW VIII, 177–147; AW II, 394–429). Auch Comtes Ausführungen zur Philosophie der Wissenschaften konnte Mill einiges abgewinnen. So beurteilte er Comtes Cours de philosophie positive als eines der

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p­rofundesten Werke zu diesem Thema. Es inspirierte ihn bei seinem geplanten Buch über die Induktion, welches er später zum umfangreichen A System of Logic weiterentwickelte. Auch trafen sich beide in ihrem Interesse an der Rationalisierung des europäischen Transformationsprozesses vom Feudalismus zur Industriellen Revolution bzw. von der adeligen zur liberalen Kultur. Comtes Werk bot Mill eine interessante Kombination von Sozialwissenschaft und Geschichtsphilosophie (s. Kap. IV.19), auch insofern es ebenfalls mit der Idee eines sozialen bzw. zivilisatorischen Fortschrittes argumentiert (s. Kap. V.26). Des Weiteren gibt es Berührungspunkte zwischen Comte und Mill in der Idee einer Charakterbildungslehre, die letztgenannter unter dem Namen „Ethologie“ ausarbeiten und in eine allgemeinere Arbeit über die Soziologie integrieren wollte (Bain 1882, 79; Capaldi 1973), welche aber wohl auch infolge der Auseinandersetzung mit Comte nicht über den Entwurfsstatus im VI. Buch der Logic hinauskam (Robbins 2011). Auch bildet die Idee eines Wechselspiels zwischen sozialer Statik (Ordnung) und Dynamik (Fortschritt), wie sie etwa die ökonomischen Schriften Mills (s. Kap. III.15; Kap. IV.21) prägt, eine gewisse Ähnlichkeit zu Comtes Denken, aber verweist darüber hinaus auch auf den Einfluss der Frühsozialisten um Henri de Saint-Simon (1760–1825), dessen Schriften Mill bereits vor der Lektüre Comtes, insbesondere über Vermittlung von Comtes zeitweiligem Sekretär d’Eichthal, entdeckt und sich bei seinen Frankreichaufenthalten auch im persönlichen Kontakt erschlossen hatte. Wegen der vielzähligen Anknüpfungspunkte in ihren geschichts- und entwicklungsphilosophischen Ansichten nahm Mill schon bald eine Korrespondenz mit Comte auf (CW XIII). Sie währte von 1841 bis 1847 und weist zunächst einen für Mill ungewöhnlich vertrauten Ton mit seinem französischen Kompagnon auf. Auch erlaubt das Korpus von insgesamt 89 gewechselten Briefen einen tiefen Einblick in Mills philosophische Zielsetzung im Umfeld der Entstehung seiner Logic und seiner wissenschaftlichen Vorhaben zur Grundlegung der Sozialphilosophie (Saenger 1901, 46).

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Im Rahmen des Briefwechsels erwogen beide sogar, eine gemeinsame Philosophie auszuarbeiten. Comte hatte aufgrund seiner isolierten Situation wohl die Hoffnung, einen neuen Schüler und Bewunderer zu finden (Pickering 2009, 98). Die Briefe des Jahres 1842 und 1843 sind aufgrund des wechselseitigen Bedürfnisses nach intellektuellem Austausch überschwänglich im Ton, was vor allem an Comtes kolloquialer Art liegt. Die Texte über soziologische Fragestellungen geben ungewöhnliche Einblicke in Mills körperliches und seelisches Befinden, welche ansonsten nur aus dem Briefwechsel mit Harriet Taylor (s. Kap. II.6) hervorgehen. Doch deuteten sich zwischen den Zeilen schon erste Differenzen an. Ein direktes Angebot Mills auf finanzielle Unterstützung infolge der stets prekären Beschäftigungsverhältnisse von Comte in Paris lehnte dieser entschieden ab. Als es dann im Sommer des Jahres 1843 zu einem ausführlichen Schriftwechsel über die ‚Frauenfrage‘ (s. Kap. III.16) kommt und Mill in einem Schreiben die gesellschaftliche Herabsetzung der Frauen mit einem Vergleich zur Sklaverei brandmarkt, erklärt Comte die Debatte schnell für beendet. Mill insistiert nicht weiter, um den Kontakt zu Comte aufrechtzuerhalten und auch um eine Rückmeldung zu seiner Anfang 1843 erschienenen Logic zu erhalten. Mills Begleitschreiben zur Übersendung vom 13.03.1843 (CW XIII, 574– 577) trägt Züge einer Entschuldigung gegenüber Comte und atmet seine Hochachtung vor dem Franzosen. Tatsächlich unterbricht Comte nach Erhalt der Schrift sogar eine Phase der ‚Cerebralen Hygiene‘ (CW X, 330), in der er jeweils zur geistigen Purifizierung vollständig auf das Lesen fremder Texte verzichtete, um Mills Werk zu studieren. Mill betont, sehr um Comtes Wohlgesonnenheit bemüht, dass er bereits zu zwei Dritteln mit seinem Werk fertig gewesen sei, bevor er Kenntnis von Comtes Philosophie erlangt habe, sich trotzdem eine positive Beurteilung erhoffe. Anlässlich der Re-Lektüre des Briefwechsels erwähnte John Stuart Mill gegenüber Alexander Bain resümierend, dass er damals zu entgegenkommend gewesen sei und schon früher den Kontakt zum stets kauziger werdenden Comte hätte abbrechen sollen.

4  Auguste Comte (1798–1857)

Als Auguste Comte dann im Juli 1844 sein bescheidenes jährliches Einkommen von 6000 Franc als Dozent an der Pariser Ecolè Polytechnique endgültig verlor, war es John Stuart Mill, an den er sich verklausuliert wegen erneuter finanzieller Hilfe wandte. Nachdem John Austin (1790–1859) auf Anregung Mills beim französischen Premier François Guizot einen negativen Bescheid wegen einer Förderung Comtes erhalten hatte, fragte er bei seinen Freunden George Grote und William Molesworth um finanzielle Unterstützung für Comte an. Diese schätzten zwar Comtes soziologischen Theorien, doch stellten sie wegen der gewandelten Ansichten Comtes bezüglich der Rolle des Individuums anders als zuvor nur noch einen überbrückenden Teilbetrag in Aussicht. Comte schrieb daraufhin einen enttäuschten Brief, in dem er sich als einen der wenigen Intellektuellen stilisierte, mit dessen Hilfe die besitzende Elite vor der Vermassung bewahrt werden könne. Im Rahmen des Schreibens machte Comte auch kritische Ausführungen über das Verhältnis von reichen Männern zu Philosophen, womit er sich bei seinen potenziellen Förderern zusätzlich diskreditierte. Merklich kühlte der Kontakt zwischen Mill und dem Begründer der Soziologie ab, als Comte seine Ansichten zur ‚Frauenfrage‘ vehementer äußerte, die diametral zu denjenigen Mills waren (Guillin 2009). So vertrat Comte die phrenologisch motivierte Überzeugung, dass Frauen infolge eines geringeren Gehirnumfangs nicht so intelligent sein könnten wie Männer. Als Mill die diesbezügliche Korrespondenz Harriet Taylor zeigte, war sie vom apologetischen Ton Mills gegenüber Comte irritiert und riet ihm zu überzeugterem Entgegentreten. Mill beherzigte diesen Rat, was Comte allerdings nicht goutierte. In dem damit signalisierten Konfliktfeld von Biologismus vs. Environmentalismus, Vorherbestimmung vs. Bildung, Soziotechnik zu Gunsten des Allgemeinwohls vs. menschliche Freiheit zu Gunsten des Individualwohls liegt mithin auch die Hauptursache für die zunehmende Entfremdung Mills von Comte (Capaldi 2004, 172). Der zentrale Unterschied, der sich insbesondere in den spä-

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teren Schriften Comtes bis in ein Zerrbild gesteigert zeigt, ist die unterschiedliche Stellung beider Denker zur Autonomie des Individuums. Mill anerkannte keine Vorstellung eines Kollektivwohls, welches über der Summe der Individualwohle stehen könne. Auch teilen beide Philosophen zwar die Idee von der Existenz einer Elite, jedoch nicht deren Rolle. Zum Schluss der von stets mehr Missverständnissen und Comtes negativer psychischer Entwicklung geprägten Beziehung steht Mills in Textform gegossene Kritik an einem durch und durch autoritären System. Nach Comtes seelischer Krise infolge des Todes seiner Muse Clotilde de Vaux 1846 kam der Schriftwechsel zwischen Mill und ihm dann 1847 mit einem Schreiben Mills, das auf den 17. Mai 1847 datiert, gänzlich zum Erliegen (CW XIII, 716–719). Schon Anfang 1846 hatte Comte in einer Nachricht von Zwietracht geschrieben. Und Mill hatte Comte während eines Aufenthalts in Paris nicht besucht (Pickering 2009, 96 f.). Aus Perspektive der vergleichenden Forschung fehlt eine ausführliche philologische Studie, die das Verhältnis von Mill und Comte beziehungs- und ideengeschichtlich sowie anhand der daran anschließenden Rezeption untersucht. Durch einen dezidierten Blick auf Mills und Comtes für die jeweilige Werkgenese entscheidenden wechselseitigen Einflüsse sollte die Forschung deren ‚biographisches Doppelgängertum‘ thematisieren, um die Interferenzen Mills und Comtes neben den vielfältigen Werkbezügen und den augenfälligen inhaltlichen Unterschieden tiefgehender zu erforschen und in einer umfassenderen ideengeschichtlichen Perspektive zu verorten. Vor allem kritisch zu reflektieren und aus zeitgenössischen Debatten zu rekonstruieren wäre anhand dieser und vergleichbarer Konstellationen das nicht nur die Mill- und Comte-Forschung hartnäckig durchziehende Deutungsmuster des ‚Philosophers under female influence‘. Am deutlichsten zeigt sich Mills polyvalente Abwendung von Comte in dessen Text über den späten Comte (CW X, 328–368). Dies gründet einerseits in der dort vertretenen, vehementen Autoritätskritik Mills, andererseits darin, dass

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Comtes frühes Denken in die Logic und weitere Schriften zum Themenkomplex Individuum, Moral und Gesellschaft eingeflossen ist. Fernerhin trifft sich die Ablehnung des späten Comte durch Mill in der Ablehnung des simplifizierenden sozialwissenschaftlichen Ansatzes der Utilitaristen Jeremy Bentham (s. Kap. II.2) und James Mill sowie in Mills zeitlebens vorgenommener Verteidigung der individuellen Freiheit gegenüber dem Determinismus (Capaldi 2004, 180). Insbesondere die Schrift über „The Later Speculations of M. Comte“, die in der Mill-Forschung – wenn überhaupt – überwiegend illustrierend und unter anekdotischen Gesichtspunkten herangezogen wird, zeigt Mill als unerbittlichen Kritiker eines deduktiven System- und Einheitsdenkens und setzt sich ungeachtet seiner großen Bewunderung für Comtes Frühwerk hellsichtig mit den Konsequenzen des Positivismus und Comtes dystopischen Zukunftsvorstellungen auseinander. Der Text führt in den Kern von Mills gesellschaftspolitischen, sozial- und geschichtsphilosophischen Überzeugungen. Den Hauptnutzen, den Mill aus dem Denken Comtes und der Saint-Simonisten entnahm, bestand seinen Angaben in der Autobiography zufolge darin, dass er „obtained a much clearer conception than before of the peculiarities of an age of transition in opinion, and ceased to mistake the moral and intellectual characteristics of such an age, for the normal attributes of humanity“ (CW I, 173; AW II, 133). Die späteren Schriften Comtes betrachtete Mill „with varying feelings“ (CW I, 217; AW II, 161). Der Text über die späteren Schriften Auguste Comtes verweist in der Argumentation deutlich auf Mills religions- und totalitätskritische Werke. In der Autobiography schreibt er, dass Comtes späte Schrift über das Systeme de politique positive „the completest system of spiritual and temporal despotism“ entwickele, „which ever yet emanated from a human brain, unless possibly that of Ignatius Loyola: a system by which the yoke of general opinion, wielded by an organized body of spiritual teachers and rulers, would be made supreme over every action, and as far as is in human possibility, every thought, of every member of the community, as

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well in the things which regard only himself, as in those which concern the interests of others“ (CW I, 221; AW II, 163). Dass Mill einem solchen System, das allem zuwiderläuft, was er gemeinsam mit Harriet Taylor beispielsweise in On Liberty (s. Kap. III.13) formuliert hatte, nichts abgewinnen konnte, ist evident. Umso erstaunlicher ist seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Comtes späteren Schriften und der frühen Comte-Rezeption, die sich in ihrer Redlichkeit kaum überbieten lassen. Teilweise muten Mills Bemühungen um argumentative Entkräftung Comtes ein wenig satirisch an. Das Gesamturteil Mills in seiner Autobiography über dessen Spätwerk ist daher auch an Deutlichkeit kaum zu übertreffen: „The book stands a monumental warning to thinkers on society and politics, of what happens when once men lose sight, in their speculations, of the value of Liberty and of Individuality“ (CW I, 221; AW II, 163). Ausgangsanliegen Mills ist es, „the characteristic difference between his second career and his first“ zu verstehen (CW X, 329; AW V, 260). Kritik übt er insbesondere an der von Auguste Comte zelebrierten „geistigen Hygiene“ (CW X, 330; AW V, 261), aufgrund der jener sich – dem Bücherwurm Mill unverständlich – jeglicher Lektüre enthielt. Dieser Spleen diente Mill als Anlass dazu, Comtes Wahrheitsverständnis und dessen Eigendünkel zu kritisieren und auf zahlreiche intellektuelle und moralische Schattenseiten des positivistischen Denkens hinzuweisen. Interessant vor dem Hintergrund von Mills eigener Biographie sind Comtes Aussagen über die engelsgleichen Einflüsse („angélique influence“; CW X, 331; AW V, 262) von Comtes Muse Clotilde de Vaux. Sie befremden Mill, erinnern aber auch in gewisser Weise an einige seiner posthumen Äußerungen über Harriet Taylor. Jedoch haben erstgenannte eine wesentlich drastischere Auswirkung auf Comtes Denken erlangt, „which from having been only a philsophy, now aspired to become a religion“ (CW X, 331; AW V, 262). Vor diesem Erfahrungshintergrund betrachtet Mill das „system of religion, politics, and morals, which in his later writings M. Comte constructed“ (CW

4  Auguste Comte (1798–1857)

X, 331; AW V, 263). Daraus erklärt sich auch Mills Beschäftigung mit Comte im Sinne einer Religionskritik (s. Kap. V.38), die in ihrer Argumentation verwandt ist mit den Three Essays on Religion (s. Kap. IV.20). So fragt Mill etwa in Auseinandersetzung mit Comte nach den notwendigen Bedingungen für eine Religion. In gewisser Weise könnte die Kritik Mills an Comte als eine zeitgenössisch opportune Möglichkeit gedeutet werden, sich über den Umweg der Kritik an Comtes positiver Religion öffentlich kritisch gegenüber Religion insgesamt zu äußern. Denn das Christentum, insbesondere das Pflichtethos des Calvinismus und die Morallehre und Ritualstrenge des Katholizismus, sowie die Frage des Theismus werden im Rahmen des Essays von Mill ebenso angesprochen wie die Comte’sche „idea of the gerneral interest of the human race“ (CW X, 333; AW V, 266). Was Mill trotz aller Kritik auch im Detail an Comtes System am ehesten noch gelten lässt, ist die aus dessen Idee des ‚Großen Seins‘ abgeleitete Vorstellung der Verbundenheit des Menschen mit seinen Mitgeschöpfen, was den Katzenliebhaber sowie Pflanzen-, Tier- und Landschaftsschützer Mill Comtes diesbezügliche Aussagen zu „the very finest traits of his character“ zählen lässt (CW X, 334; AW V, 267). In der Absage an das Individuum und die verabsolutierte Einheits- und Systematisierungsidee aber erkennt Mill Comtes Kernproblem. Er schreibt dazu: „The fons errorum in M. Comte’s later speculations is this inordinate demand for ‚unity‘ and ‚systematization‘“ (CW X, 336; AW V, 270; Herv. i. O.). Ausdrücklich spricht Mill sich dagegen aus, „to postpone […] personal interests and inclinations to the requirements of the general good“ (CW X, 336; AW V, 270). Gemäß der im Schadensprinzip festgelegten Maxime (CW XVIII, 223–224; AW III.1, 317–319) plädiert Mill dahingegen dafür, den Einzelnen den gebührenden Spielraum offenzulassen, um eine Handlungsweise zu ermöglichen, „which chiefly consists in not doing them harm, and not impeding them in anything which without harming others does good to themselves“ (CW X, 338; AW V, 272). Daraus leiten sich ganz praktische Umsetzungsempfehlungen ab, etwa eine Ver-

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pflichtung zur eigenständigen Gesundheitssorge. Auch betrachtet Mill im Rahmen der Auseinandersetzung mit Comte den Marktwettbewerb nicht als ein sittliches Ideal, sondern als einen zivilisatorischen Faktor in jeweils zeitgenössischer Situation. In der anschließenden akribischen Auseinandersetzung mit den Regeln Comtes für den öffentlichen Kultus des Positivismus besticht Mill einmal mehr in einer wissenschaftlich-redlichen, in Teilen gar amüsanten Auseinandersetzung mit Abstrusem. Mill wendet sich aber, stets um positive Ansatzpunkte bemüht, rasch Comtes ökonomischem Denken und der von ihm vertretenen Auffassung einer Aufspaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche zu und spricht sich gegen „Regulierungswut“ („mania of regulation“) und Paternalismus in der Tradition des Platonischen Wächterstaates aus (CW X, 343; AW V, 279). Abschließend beklagt Mill die übertriebene Ernsthaftigkeit bzw. den mangelnden Humor Comtes und die insgesamt anhand seiner späteren Schriften nachzuvollziehende Entwicklung eines hervorragenden Denkers hin zum Anhänger eines „elaborate system for the total suppression of all independent thought“ (CW X, 351; AW V, 291). In diesem Kontext übt Mill auch Kritik an Comtes Fetischismus und dessen Sympathien für „the Oriental theocracies“ (CW X, 361; AW V, 305). Außerdem kann er dessen Antipathien gegen die Griechen und die Bevorzugung der tatkräftigen Römer sowie die Verehrung Napoléons genauso wenig nachvollziehen wie Comtes manische Zahlenmystik. In seiner Kritik an einem solchen Anmaßungsregime und an dem von Comte vorgeschlagenen, rigiden, auf reiner Autoritätsvermittlung basierenden Bildungsplan ist Mill unerbittlich. Comtes Idee eines hundert Bücher umfassenden Kanons und die Verbrennung aller anderen Bücher lehnt Mill ebenso ab wie die von Comte postulierte Ausrottung unnatürlicher Tier- und Pflanzenarten aus Gründen des Naturund Gattungsschutzes. Mills Kritik an Comtes Spätwerk und dessen Neigung zu totalitärem Denken gipfelt in dem Satz: „It is the most warning example we know, into what frightful aberrations a powerful and comprehensive mind may

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be led by the exclusive following out of a single idea“ (CW X, 351; AW V, 290).

Literatur Bain, Alexander: John Stuart Mill. A Criticism: With Personal Recollections. London 1882. Capaldi, Nicholas: Mill’s Forgotten Science of Ethology. In: Social Theory and Practice 2 (1973), 409–420. Capaldi, Nicholas: John Stuart Mill. A Biography. Cambridge 2004, v. a. 164–185. Comte, Auguste: Cours de philosophie positive, 6 Bde. Paris 1830–1842. Comte, Auguste: Système de politique positive, ou traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, 4 Bde. Paris 1851–1854.

H. J. Schmidt Comte, Auguste: Lettres à John Stuart Mill, 1841–1846. Paris 1877. Filipiuk, Marion: John Stuart Mill and France. In: Michael Laine (Hg.): Essays on J. S. Mill Presented to John M. Robson. Toronto 1991, 80–120. Guillin, Vincent: Auguste Comte and John Stuart Mill on Sexual Equality. Historical, Methodical and Philosophical Issues. Leiden 2009. Kuenzle, Dominique/Schefczyk, Michael: John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg 2009. Pickering, Mary: Auguste Comte. An Intellectual Biography, Bd. 2. Cambridge 2009. Robbins, Derek: John Stuart Mill and Auguste Comte. A Trans-Cultural Comparative Epistemology of the Social Sciences. In: Journal of Classical Sociology 11/1 (2011), 51–74. Saenger, Samuel: John Stuart Mill. Sein Leben und Lebenswerk. Stuttgart 1901.

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Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Thomas Schramme

Wilhelm von Humboldt war ein berühmter preußischer Gelehrter und Bildungsreformer. Sein posthum veröffentlichtes Werk Ideen zu einem Entwurf, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu beschränken wird in Mills Schrift On Liberty (s. Kap. III.13) und in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) mehrfach zustimmend erwähnt und zitiert (CW XVIII, 261 f., 274, 300, 304; CW I, 261). Selbst das Epigraph, welches Mill als Motto seiner Freiheitsschrift voranstellt, stammt von Humboldt: „The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity“ (CW XVIII, 215). In der Tat sind die Ähnlichkeiten der Gedankengänge beider Denker bisweilen so groß, dass man einen erheblichen Einfluss Humboldts auf Mill vermuten könnte. Entsprechend wird in der Literatur von einem Widerschein des Humboldt’schen Geistes (Brady 1977, lvi), einer Neuformulierung (Capaldi 2004, 269) oder einem inneren Verweisungszusammenhang (Petersen 2005, 203) gesprochen. Gleichwohl sind wesentliche Unterschiede in der Vorgehensweise

T. Schramme (*)  Professor für Philosophie, University of Liverpool, Liverpool, Großbritannien E-Mail: [email protected]

und im Detail mancher Argumentation zu verzeichnen, die wiederum eine Unabhängigkeit des Mill’schen Denkens von Humboldt nahelegen. Vielleicht kommt man der Wahrheit am nächsten, wenn man bedenkt, dass jedes philosophische Denken von Ideen anderer befruchtet ist. So gesehen überzeugt die Metapher des Katalysators (Roberts 2009, 93), den Humboldt für Mill darstellte. Die auffälligsten Ähnlichkeiten zwischen den Theoretikern ergeben sich aus ihrem gemeinsamen Interesse am größtmöglichen Schutz individueller Freiheit (s. Kap. V.27) mit dem Ziel, die Entwicklung von Individualität (s. Kap. V.30) zu ermöglichen. Humboldt hatte dabei insbesondere die Begrenzung staatlichen Handelns im Auge, Mill gesellschaftliche und zwischenmenschliche Verhältnisse. Mill und Humboldt teilen sogar wesentliche Metaphern, wie etwa den Vergleich individueller Entwicklung mit dem Wachsen eines Baums. Beide sind außerdem der Meinung, dass kein Konflikt zwischen Individualität und Sozialität besteht, im Gegenteil vertreten sie die Auffassung, dass Menschen andere Menschen benötigen, um wirklich sie selbst werden zu können. Wichtige Unterschiede bestehen allerdings im Verständnis des wesentlichen Ziels: Individualität. Humboldt vertritt eine Auffassung von Individualität, die auf das ästhetische Ideal der harmonischen Einheit von vorhandenen persönlichen Eigenschaften h­inausläuft, wohingegen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_5

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Mill ein ethisch geprägtes Modell von Individualität aufzeigt, welches persönliche Perfektionierung anstrebt. Wilhelm von Humboldts Ideen nahm Mill bereits kurz nach der Veröffentlichung wahr. Auch wenn er viele Grundgedanken der Schrift teilt, sind die Methoden und philosophischen Bezugssysteme der beiden Denker doch unterschiedlich. Das zeigt sich auch anhand des zentralen Begriffs der Individualität und der damit verbundenen Aspekte. Aus diesen Varianten ergeben sich wichtige sozialphilosophische Unterschiede zwischen Mill und Humboldt.

Humboldts Ideen und Mills Wahrnehmung der Schrift Humboldts Ideen wurden kurz nach der Französischen Revolution verfasst, in den Jahren 1791 und 1792. Die Revolution und ihre Folgen beschäftigte natürlich viele Intellektuelle der damaligen Zeit. Ein weiterer, wenn auch nicht unmittelbarer Anlass war die Diskussion in politisch liberalen Kreisen um das sogenannte Religionsedikt von 1788, mit dessen Hilfe in Preußen Kirchen und Glaubensgemeinschaften staatlich kontrolliert werden sollten und dafür weitgehende staatliche Eingriffe in etablierte Freiheiten vorgesehen waren (Spitta 2004, 28– 33). Erst nach seinem Tod, im Jahr 1851, wurden die Ideen Humboldts in vollständiger Form veröffentlicht. Schon kurz danach, im Jahr 1854, wurde eine englischsprachige Fassung unter dem Titel The Sphere and Duties of Government publiziert. Möglicherweise hatte zu dieser schnellen Übersetzung eine positive Besprechung der deutschen Edition im einflussreichen Westminster Review beigetragen (Anonymous 1851). Die enge Bindung Mills an diese Zeitschrift (er war Autor, zeitweise Herausgeber und lange Zeit Mäzen) lässt vermuten, dass er die Rezension der Schrift Humboldts zur Kenntnis genommen hatte und daher von dessen Gedankengang und zentralen Begriffen wusste.

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Auch die englische Ausgabe der Ideen wurde in der Westminster Review ausführlich besprochen (Chapman 1854). Diese Rezension – fast eher ein eigenständiger Beitrag, ausgehend von der Darstellung der Überlegungen Humboldts – ist insofern bemerkenswert, als sich in ihr ein direkter Bezug auf Mill findet. Spätestens dann, so könnte man denken, sollte Mill aufmerksam geworden sein. Die englische Ausgabe ist in Mills digital archivierter Bibliothek zu finden. Dort finden sich keine nennenswerten Annotationen, nicht einmal die von Mill wörtlich zitierten Stellen sind in seinem Leseexemplar gekennzeichnet. Allerdings war Mill des Deutschen mächtig und insofern wohl nicht auf die englischsprachige Publikation angewiesen.

Methode und theoretischer Rahmen Humboldt zeigt in seinem Werk kein systematisches Vorgehen. Er bedient sich verschiedener philosophischer Quellen, die er für seine eigenen theoretischen Zwecke benutzt. Dieser Eklektizismus Humboldts hat ihm mitunter den Vorwurf eingebracht, widersprüchliche Grundlagen zusammenzuführen (Sorkin 1983; Burrow 1969, ix); ein Vorwurf, der auch Mill immer wieder getroffen hat (z. B. Stephen 1967 [1873]). Humboldt beginnt seine Untersuchung in der Tradition von Aristoteles, indem er nach den „höchsten Endzwecken“ des Daseins von Menschen fragt. Letztlich führt ihn dies zu einer anthropologischen Begründung der Aufgaben des Staats (Spitta 2004, 75). Indem Humboldt weitgehend von den realen Gegebenheiten des menschlichen Lebens abstrahiert und gewissermaßen den Menschen an sich thematisiert – sein „eigentümliches Wesen“ bzw. „inneres Dasein“ (Humboldt 1903, 103) –, lehnt er sich wiederum eng an Kants rationalistische Methodologie an, wonach Wissen aus vernünftigen Überlegungen unabhängig von Erfahrung erreicht werden kann. Interessanterweise zitiert Mill (CW XVIII, 261) Humboldt zustimmend in seiner eige-

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nen Schrift mit einem anscheinend deutlichen Bekenntnis zu dieser, von Mill eigentlich abgelehnten Methodologie: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt 1903, 106). In der Tat ähnelt Mills Denken in der Freiheitsschrift Humboldts Darstellungen in den Ideen, obwohl sie von unterschiedlichen philosophischen Traditionen ausgehen. Die empiristische Ausrichtung Mills, wonach Wissen – inklusive der Kenntnis über das Gute für den Menschen – ausschließlich aus Erfahrungen gewonnen werden kann, lässt ihn letztlich zu einem anderen Verständnis der Selbstentwicklung als Humboldt gelangen. Eine weitere wichtige Quelle für Humboldts Denken ist die romantische Philosophie, die unter anderem von dem ihm nahestehenden Schiller vertreten wurde. In diesem Zusammenhang ist die Abkehr von der aufklärerischen Engführung auf die Vernunft und die Betonung des Gefühls als Erkenntnisquelle zu nennen. Für Humboldt ist das Gefühl nicht der Gegenspieler der Vernunft; vielmehr muss die Einheit der beiden erreicht werden, um ein wirklich menschliches Leben zu führen. Diese romantischen Elemente finden sich auch in Mills Denken; er hatte die deutsche Version des Romantizismus, seinen eigenen Ausführungen nach, durch das Studium Goethes und „anderer deutscher Autoren“ (CW I, 161) kennengelernt. Ein vordergründig deutlicher methodologischer Unterschied zwischen beiden Denkern besteht in der Tatsache, dass Humboldt ein rein utopisches, idealisiertes Modell vorstellt, Mill hingegen ein realisierbares Gesellschaftsmodell. Jedenfalls lesen sich Teile von On Liberty wie ein politisches Manifest zur Reformierung des Viktorianischen Englands, und Mill streut regelmäßig soziologische und historische Beobachtungen in seine Untersuchung ein. Humboldt hingegen entwickelt ein abstraktes und ahistorisches Gedankengebäude (Valls 1999, 273). Tatsächlich bezeichnet Humboldt selber seine Untersuchung als „reine Theorie“ (Hum-

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boldt 1903, 235). Allerdings zeigt er sich diesbezüglich unzufrieden und man darf aufgrund seiner überlieferten Korrespondenz davon ausgehen, dass er durchaus praktische Zwecke mit der geplanten Veröffentlichung beabsichtigte. Insofern wäre eine schroffe Gegenüberstellung von Mill als einem realistischen Gesellschaftskritiker und Humboldt als einem utopistischen Theoretiker nicht haltbar (Spitta 2004, 297).

Individualität Individualität wird sowohl von Humboldt als auch Mill im Sinne von Originalität verstanden. Individualität ist das Ergebnis einer Entwicklung zu einem je eigenen Selbst (s. Kap. V.30). Während Mill eine voluntaristische und gleichzeitig ethisch eingehegte Konzeption vorschwebt, ist Humboldts Vorstellung von Individualität deterministisch sowie deutlich ästhetisch geprägt. Humboldt verwendet den schillernden Ausdruck ‚Bildung‘ zur Beschreibung eines Aspekts seines Ideals der Individualität. Der Begriff der Bildung meint nicht nur die Erziehung, sondern auch die Realisierung von Potenzialen, also die Entwicklung eines Selbst. Dieser Begriff erlaubt, Selbstentwicklung nicht rein intellektualistisch, als Entwicklung der Vernunft zu sehen, sondern Elemente der Empfindsamkeit und des Charakters zu integrieren. Bildung ist nicht die Ausrichtung an einem äußeren Standard, sondern die authentische Formierung einer je eigenen Person in all ihren Facetten. Für Humboldt war Bildung tatsächlich ein organischer Prozess, der zu einer Art Kunstwerk führt (Burrow 1969, xx). Mill verwendet ebenfalls die Metapher vom menschlichen Leben als Werk (CW XVIII, 263), aber er vertritt kein ästhetisches Ideal der Individualität. In den Ideen und zeitnahen Schriften benutzt Humboldt zudem den doppeldeutigen Begriff der Kraft, um sowohl Quelle als auch einen weiteren Aspekt (zusätzlich zur Bildung) der Individualität zu beschreiben. Kraft ist ein Impuls, sie zeigt sich beispielsweise in Richtung und Intensität einer Tätigkeit. Humboldt spricht

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dabei auch von „innerer Kraft“ (Humboldt 1903, 238) und „Energie“ (Humboldt 1903, 106). Dieser Aspekt findet sich nicht in Mills Konzeption der Individualität (Kauffmann o. J., 41). Zwar wünscht dieser sich auch tätige Menschen, doch es fehlt die bei Humboldt angelegte Idee eines innerlich bereits angelegten Wachstums – im Sinne der Metapher vom Baum, der aus einem Samenkorn heraus sich entwickelt. Eine Kraft kann auch eine Fähigkeit sein, das wird besonders deutlich, wenn der Plural – Kräfte – benutzt wird. Hier treffen sich Humboldt und Mill wieder, denn beide verstehen Individualität in erster Linie als eine je spezifische Art Fähigkeiten zu entwickeln. Dies erlaubt es beiden Denkern, einen wesentlichen Wert in der Mannigfaltigkeit von Optionen und ermöglichten Lebensweisen zu sehen (CW XVIII, 261). Wenn jeder Mensch mehr oder weniger einzigartig in der Ausformung seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten ist, dann kann sich Individualität nur in einer freien und vielfältigen Umgebung zeigen. In seinen jungen Jahren – in den Publikationen, die einen möglichen Einfluss auf Mill hatten – vertritt Humboldt ein spezifisches Ideal der Selbstentwicklung, das man mit dem Slogan der Einheit in Mannigfaltigkeit beschreiben könnte (Burrow 1969, xiii). Zwar unterscheiden sich Menschen auch Humboldt zufolge, es existieren also viele Ausformungen, doch das Ideal bleibt formal gesehen für alle das gleiche. Humboldt zufolge ist zudem die spezifische ‚Eigentümlichkeit‘ jeweils eine gegebene, unverfügbare Zusammenstellung von persönlichen Charakteristika. Mills Idee der Selbstentwicklung hingegen hat keine bestimmte, überindividuell festgelegte Form. Seine Konzeption ist offener, wenn er auch wie Humboldt durchaus ein perfektionistisches Ideal hegt. Die ästhetische Idee der Harmonie von vielfältigen Eigenschaften fehlt in seiner Konzeption der Individualität. Mill lässt zudem individuell beschlossene Ausformungen zu; seine Idee der Selbstentwicklung ist voluntaristisch. In einem Satz gesprochen: Laut Humboldt entdecken wir uns selbst, laut Mill formen wir uns selbst.

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Es sollte betont werden, dass Individualität sowohl für Humboldt als auch für Mill eine relationale Idee darstellt. Bildung und Selbstentwicklung vollziehen sich immer nur in der Interaktion mit anderen Menschen (Filip 2016). Diese Angewiesenheit auf andere in der Verfolgung des Ziels der Individualität zeigt sich allerdings erneut in verschiedener Weise. Für Humboldt sind andere Menschen gewissermaßen der Zündstoff, der die individuelle Entwicklung startet und befeuert (Seigel 2005, 346). Indirekte Einflüsse sieht Humboldt dabei durchaus, wenn er ein „freies Spiel der Kräfte“ postuliert (Humboldt 1903, 113), das Menschen dazu veranlassen kann, Aspekte der Eigentümlichkeit, die mit der Entwicklung der Eigentümlichkeit anderer Menschen unvereinbar ist – speziell also unmoralische Charakteristika – zu modifizieren bzw. zu unterdrücken (Humboldt 1903, 122–123). Für Mill hingegen stellen andere Menschen durchaus aktive Elemente in der Formierung einer Person dar, was sowohl positiv als auch negative Konsequenzen zeitigen kann, insofern andere Menschen bei der Selbstentwicklung direkt helfen oder behindern können. Negative Freiheit, die Abwesenheit von Zwang und Hürden, ist bei Mill wie bei Humboldt die Voraussetzung von Individualität. Daraus ergibt sich der instrumentelle Wert der Freiheit, hier verstanden als Verfügbarkeit von Optionen. Für Mill ist Individualität außerdem der Ausdruck menschlicher Freiheit, insofern sich ein Mensch selbst bestimmt. Freiheit ist hier verstanden im Sinne der individuellen Autonomie (Capaldi 2004, 268). Dabei sind nicht alle denkbaren Tätigkeiten des Menschen Ausdruck einer gelungenen Selbstentwicklung (Garforth 1980, 82). Mills Theorie der höheren Freuden aus seiner Schrift Utilitarianism (s. Kap. III.12) verbindet sich mit seinen Überlegungen zur Selbstentwicklung (Schramme 2015). Er bestimmt zentrale Elemente des menschlichen Lebens, höhere Freuden, die eine jede gelungene Ausformung der Individualität enthalten sollte, nämlich Freuden des Intellekts, der Empfindung, der Vorstellungskraft und des sittlichen Gefühls (CW X, 211). Mills bedingt perfektionistische Konzeption erlaubt weiterhin Pluralismus

5  Wilhelm von Humboldt (1767–1835)

von gelingenden Formen der Individualität und bleibt erreichbares Ziel eines jeden Menschen. Es ist insgesamt eine überzeugende Annahme, dass ein wesentlicher Einfluss Humboldts in dem Anstoß besteht, den er Mills Denken gab in Bezug auf den intrinsischen Wert von Individualität (CW XVIII, 261; Roberts 2009, 102). Diese Idee scheint auf den ersten Blick dem utilitaristischen Grundgedanken zu widersprechen, wonach Glück bzw. Wohlergehen das einzige intrinsische Gut für den Menschen darstellt (s. Kap. V.35). Individualität als Bestandteil des Wohls zu konzipieren, erlaubte Mill von utilitaristischer Warte aus Humboldt darin beizupflichten, dass Selbstentwicklung in sich wertvoll ist und negative Freiheit gewährleistet sein muss. Mill sah auch, dass die Idee der Selbstentwicklung gewissermaßen normativ eingehegt werden muss, um plausibel zu bleiben – ein Gedanke, den Humboldt mit seiner Fokussierung auf die bloß durch das ästhetische Ideal der Harmonie qualifizierte Eigentümlichkeit abging (Kumar 2006, 120). In Rahmen der Mill’schen Theorie hingegen wurden notwendige Anpassungen im Rahmen der Idee von höheren Freuden getätigt; seinem sogenannten qualitativen Hedonismus (s. Kap. V.29). Der Einfluss des jungen Humboldts ist demnach zentral zu verorten in der Werttheorie Mills, bleibt aber auch dort weitgehend auf Bestätigungen und Anstöße beschränkt.

Rolle des Staates Aus heutiger Sicht fällt insbesondere Humboldts radikale Beschränkung der staatlichen Aufgaben auf die Sicherung negativer Freiheit auf; also der Beseitigung von Schranken individueller Selbstentwicklung. Dass Menschen gemeinschaftliche Ressourcen benötigen könnten, um wirklich frei zu sein, scheint in seiner Theorie ausgeblendet. Mill hingegen ist sich der Angewiesenheit von Menschen auf wohlfahrtsstaatliche Unterstützung in Situationen der Not bewusst. Man sollte hier den zeitlichen Abstand bei der Entstehung der relevanten Schrif-

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ten beachten. Mill hatte die Entwicklung des industriell entwickelten Kapitalismus erlebt; eine Erfahrung, die Humboldt zur Zeit der Anfertigung seiner Schrift zwangsläufig fehlte (Roberts 2009, 33). Letztlich stimmen beide Denker überein, dass staatliche Institutionen die Bedingungen der Selbstentwicklung – also die Voraussetzungen individueller Freiheit – garantieren sollen. Sie haben allerdings unterschiedliche Einsichten, welche Mittel dazu benötigt sind; bloße Abwesenheit von Zwang oder auch aktive Hilfe (Valls 1999, 258–261). Zu dieser Differenz gehört auch die unterschiedliche Konzeption des grundlegenden Ziels des Staats. Humboldt trennt strikt zwischen dem Ziel der Ermöglichung von Bildung – also Selbstentwicklung – durch Sicherheit und dem Bemühen um positive Wohlfahrt. Nur das erste Ziel ist legitim; wohlfahrtsstaatliche Institutionen hingegen nicht gerechtfertigt. Mill dagegen sieht Individualität als Bestandteil des Wohls von Menschen, wie er auch in der Überschrift des dritten Kapitels seiner Freiheitsschrift ausdrücklich sagt. Insofern können Selbstentwicklung und positives Wohl als Ziele staatlichen Handelns nicht getrennt werden (Beiser 2013, 131). Um die Sicherheit aller zu gewährleisten sind staatliche Eingriffe in individuelle Handlungen Humboldt zufolge notwendig, wenn sie Rechte anderer Menschen verletzen (Humboldt 1903, 187). Darüber hinaus sind Einschränkungen der Freiheit im Falle von „Handlungen, welche sich allein auf den Handlenden [sic] beziehen“ illegitim (Humboldt 1903, 207). Bis in die Formulierungen hinein ergeben sich hier Überschneidungen mit Mills zentralem Schadensprinzip und der Idee von selbstbezogenen Handlungen. Ob Mill allerdings tatsächlich die Formulierungen Humboldts übernommen hat oder sie vielmehr in seinem Werk bereits angelegt waren, wird sich vermutlich nicht verbindlich klären lassen (Petersen 2005, 169–173; Kauffmann o. J., 15). Humboldts Gegenstand in den Ideen ist in erster Linie der individuelle Mensch; der Privatbürger. Staatliche Institutionen werden von ihm als Instrumente zur Herstellung von S ­icherheit

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für Bürger gesehen, wobei der Begriff der Sicherheit weit verstanden wird und insgesamt die Bildung von Menschen betrifft. Der Staat ist für Humboldt also rein funktional im Hinblick auf die Ermöglichung individueller Freiheit verstanden. Insofern bleibt seine Theorie weitgehend privatistisch orientiert (Rosenblum 1987, 132). Gleichwohl existieren auch Ansätze einer bürgerlichen Konzeption von Selbstentwicklung (Sorkin 1983, 68), die sich einer eher antiken Vorstellung vom politischen Leben als Teil des guten menschlichen Lebens anzunähern scheinen. Nichtsdestotrotz versteht Humboldt die gemeinschaftliche Tätigkeit selbst nicht als Form der Freiheitsausübung; sie ist eine Folge erfolgreicher Bildung. Für Mill ist dieser republikanische Aspekt, wie man ihn nennen könnte, an vielen Stellen deutlicher sichtbar (Biagini 2009), unter anderem weil für ihn tätige Individualität selbst eine Ausübung der menschlichen Selbstbestimmung darstellt; politische Selbstbestimmung ist demnach Freiheitsgebrauch. Trotz der Unterschiede bleibt festzuhalten, dass in beiden Ansätzen, sowohl Humboldts als auch Mills, die Konzeption von Individualität eine gemeinschaftliche Orientierung enthält (Höntzsch 2015, 147).

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Harriet Taylor (1807–1858) Ringo Narewski

Über die Frage, welchen Einfluss die Philosophin, Frauenrechtlerin und Ökonomin Harriet Taylor Mill auf das Denken und das Werk ihres Mannes John Stuart Mill nahm, besteht in der Gemeinschaft der Mill-Expert:innen bislang nur punktuelle Einigkeit (Miller 2019; McCabe 2017). Während der Diskurs zu dieser Frage über Jahrzehnte durch eine Abwertung und Diskriminierung der Person und des Denkens von Taylor Mill dominiert war (z. B. Rose 1987; Pappé 1960), lässt sich seit den Arbeiten von Jo Ellen Jacobs (1994; 2000; 2002) und der von ihr herausgegebenen Sammlung von Schriften Taylor Mills (1998) eine allmähliche Öffnung für den Gedanken feststellen, dass Taylor Mill nicht einfach nur die Ehefrau des berühmten Philosophen war, sondern eigenständig wie gemeinsam mit Mill Ideen erarbeitet hat, welche sich im Zentrum des Werkes von John Stuart Mill wiederfinden lassen (Ackermann 2021). Noch ist es nicht so weit, dass Schriften wie die Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) und On Liberty (s. Kap. III.13) unter dem Namen beider Autor:innen erscheinen

R. Narewski (*)  Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek, Freien Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

(Bodkin 1999). Aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem Klassiker des Liberalen Denkens On Liberty ist von einem gemeinsamen Werk zu sprechen (Schefczyk/Schmidt-Petri 2021). Gut siebzig Jahre nachdem Friedrich August Hayek (1951) auf die intensive Zusammenarbeit von Taylor Mill und Mill verwiesen hat, findet zumindest dieser Fakt zunehmend Anerkennung. Einige erste Publikationen versuchen inzwischen diese Zusammenarbeit durch inhaltliche und stilistische Vergleiche der Schriften beider greifbarer zu machen, um deren Ausmaß besser bestimmen zu können (Schmidt-Petri/ Schefczyk/Osburg 2022; Narewski 2008; Budde 2004).

Leben Harriet Taylor Mill war die Tochter von Harriet Hardy (1788–1869) und dem Chirurgen und Geburtshelfer Thomas Hardy (1775–1849). Geboren wurde sie am 8. Oktober 1807 in London als drittes von insgesamt acht Kindern der Familie Hardy. Ihre Familie gehörte zur Londoner Mittelschicht, wodurch Taylor Mill eine Erziehung genoss, wie sie für Mädchen aus bürgerlichen Verhältnissen üblich war, aber formal besuchte sie wohl nie eine Schule. Durch ein vielfältiges Selbststudium soll sie die ihr durch das Elternhaus vermittelte Bildung erweitert haben. Am 14. März 1826 heiratete sie

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den Pharmagroßhändler, Unitarier und Liberalen John Taylor (1796–1849). Gemeinsam hatten sie drei Kinder, von denen eines die Frauenrechtlerin Helen Taylor (1828–1907) war. Angeregt durch die gesellschaftlichen Kreise, in denen Taylor Mill sich mit ihrem Mann bewegte, insbesondere durch den Einfluss des unitarischen Predigers, Publizisten und Politiker William Johnson Fox (1786–1864) entstanden zwischen 1826 und 1828 erste schriftstellerische Fragmente über die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung von Erziehung (Pötzsch 2022; Taylor Mill 1998, 5–13). Seit 1831 schrieb sie für die von Fox herausgegebene unitarische Zeitschrift Monthly Repository. Im Jahr 1832 entstand ihr Essay „On Marriage“ (1998, 21–24; CW XXI, Appendix A, 375–377) sowie das Essayfragment „Sources of Conformity“ (1998, 137–142; AW 1, 319–325), gleichzeitig veröffentlicht sie Gedichte, Rezensionen und Essays. 1830 lernte sie John Stuart Mill kennen. 1833 trennte sie sich von ihrem Ehemann und lebte von da an mit Mill zusammen. Taylor Mill und Taylor blieben jedoch bis zu dessen Tod 1849 verheiratet. 1851 heiraten Taylor Mill und Mill schließlich. Ab 1840 arbeiteten beide zunehmend enger zusammen. Sie schrieben gemeinsam Artikel für die Zeitschrift The Morning Chronicle über Frauenrechte, Gewalt gegen Kinder und Frauen, Ungleichheit vor dem Gesetz usw. (1998, 77– 126). 1848 erschienen als erstes gemeinsames Werk die Principles of Political Economy (CW I, 253 ff.; AW II, 183 ff.). Dieses wurde zu einem der Standardwerke der Wirtschaftswissenschaft seiner Zeit und erreichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts allein in Großbritannien 32 Auflagen. 1851 veröffentlicht Taylor Mill ihren Essay „Enfranchisement of Women“ (1998, 51–71; CW XXI, Appendix C, 393–415; AW 1, 356–383) anonym in der von Jeremy Benth­am begründeten Zeitschrift Westminster Review. Der Essay wurde danach lange Zeit Mill zugeschrieben. Harriet Taylor Mill starb am 3. November 1858 in Avignon, Frankreich. Posthum erschien 1859 ihr mit Mill gemeinsam verfasster Essay On Liberty, welcher heute als Klassiker des liberalen Freiheitsdenkens gilt.

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Werk Harriet Taylor Mills Werk ist in weiten Teilen fragmentarisch geblieben. Sie schrieb über Kunst und Kultur, Religion, Ethik, Frauenrechte, Erziehung und Bildung, immer wieder über familiäre Gewalt und Gewalt gegen Frauen, über individuelle und gesellschaftliche Freiheit. Erhalten sind von Taylor Mill Gedichte, Rezensionen, Zeitschriftenartikel, Essays und die mit Mill gemeinsam verfassten Schriften. Während die aus ihrer Zusammenarbeit mit Mill erwachsenen Werke teils noch heute bekannt und beachtet sind, ist ihr alleiniges Werk weitestgehend unbekannt und wird oftmals nur im Rahmen der Rezeption des Schaffens John Stuart Mills thematisiert. Alles, der unvollendete Charakter vieler ihrer Gedanken, die Verbreitung ihrer eigenen Ideen unter Mills Namen und die Veröffentlichungspraxis, die vorsah, dass gemeinsame Werke von Taylor Mill und Mill unter den Autorennamen „John Stuart Mill“ veröffentlicht wurden, erschweren bis heute eine Abgrenzung des gemeinsamen Schaffens Taylor Mills und Mills sowie des jeweils eigenen. Am Ende bleibt bislang jeder Versuch, Taylor Mills Werk einzugrenzen, selbst fragmentarisch. Umgekehrt lässt sich der Einfluss Taylor Mills auf Mills Gedankenwelt sehr gut nachweisen.

Konformität, Exzentrizität und die Reproduktion von Machtstrukturen Harriet Taylor Mills Werk, das alleinige wie das gemeinsame mit John Stuart Mill, ist geprägt durch Fragen nach der Gleichberechtigung der Geschlechter, dem Konflikt zwischen individueller Freiheit und sozialen Normen in modernen Massengesellschaften, der Bedeutung von Bildung und Erziehung für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft für eine gleichmäßige Verteilung von Wohlstand in einer Gesellschaft. Ein zentrales und immer wiederkehrendes Argument ist hierbei, dass gesellschaftliche Zustände erzeugt, stabilisiert oder

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durchbrochen werden können durch die Art und Weise, wie die Sozialisation der einzelnen Individuen erfolgt. Ungleichheiten zwischen Individuen, z. B. Frauen und Männern, sind für Taylor Mill gesellschaftlicher Natur und nicht auf die Biologie oder das natürliche Wesen eines Menschen zurückzuführen. Entsprechend sah Taylor Mill etwa in der Erziehung von Kindern die Chance einen nachhaltigen gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Zentral für ihr Denken ist die bereits 1832 in ihrem Essayfragment „Sources of Conformity“ formulierte Unterscheidung zwischen Gesellschaften, welche von einem Geist der Konformität und solchen, welche von einem Geist der Toleranz geprägt seien. Nach ihrer Vorstellung beschränken starke gesellschaftliche Normen die Chance jedes Individuums auf Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit. Der soziale Anpassungsdruck, welchem jeder Mensch dabei ausgesetzt werde, fördere Intoleranz und Unterdrückung. Anders sei es in liberalen Gesellschaften, welche Wert auf den Schutz und Erhalt der persönlichen Freiheiten jedes Mitglieds legten. Taylor Mill sieht dabei Exzentrizität als Ausdruck einer größtmöglichen Entfaltung des Individuums. Die von Taylor Mill in „On Marriage“ und „Enfranchisement of Women“ dargelegten Ansichten über Erziehung sowie über die Entrechtung von Frauen und Arbeiter:innen in den entstehenden Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts beruhen letztlich auf diesem Gedanken eines Anspruchs auf Persönlichkeitsentfaltung, welcher gleiche Rechte und Freiheiten für alle Gesellschaftsmitglieder voraussetzt. Am Beispiel der Rolle von Frauen im 19.  Jahrhundert arbeitet sie die Mechanismen heraus, durch welche in modernen Gesellschaften Unterdrückung praktiziert und manifestiert wird. Immer wieder spricht sie von einem Entzug der zivilen Existenz für Frauen in patriarchalen Gesellschaften und zeigt die dadurch entstehenden gesamtgesellschaftlichen Nachteile systematisch auf. Jede Form von Freiheitsberaubung verhindert nach Taylor Mill nicht nur den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern stellt einen realen gemeinschaftlichen Verlust an Viel-

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falt, Intelligenz und Arbeitskraft sowie individuell einen Verlust an persönlicher Freiheit für die Unterdrückenden selbst dar. Wichtig ist es für Taylor Mill zu zeigen, dass es in patriarchalen Gesellschaften das Wechselverhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten ist, welches Zwang und Anpassung fortlaufend reproduzieren. Dabei sind die benachteiligten Gesellschaftsgruppen stetig in die Erhaltung der eigenen Unterdrückung aktiv eingebunden. Hierfür analysiert sie beispielsweise wie Frauen durch die ihnen zugewiesene Rollen als Ehefrauen und Mütter über die in der Kindererziehung vermittelten gesellschaftlichen Werte und sozialen Verhaltensweisen beständig selbst helfen, dass sie unterdrückende Patriarchat zu erhalten. Dieser Zustand könne nur durch Aufklärung, der Schaffung eines freien und gleichen Zugangs zu Bildung für alle, durch koedukative Pädagogik und die Möglichkeit des gleichberechtigten Zugangs zum Arbeitsmarkt für alle Gesellschaftsmitglieder überwunden werden. Ziel ist es für Taylor Mill hierdurch einen nachhaltigen Wandel hin zu einer demokratischen und liberalen Gesellschaft anzustoßen. Ihre Analysen der Entstehung und Manifestierung von Machtstrukturen zur Unterdrückung von Frauen zeigen, wie sich gesellschaftliche Zwangssysteme dadurch stabilisieren, dass sie die Beherrschten und deren Handeln zum Teil der Herrschaftsmechanismen und damit zu Kompliz:innen der eigenen Unterdrückung machen. So entwickelt Taylor Mill in ihren Schriften ein Modell zur Analyse von komplexen Machstrukturen und deren Wirkmechanismen. Zusammen mit Mill fordert Taylor Mill eine Demokratisierung von Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung, um so dem Individuum eine möglichst breite Teilhabe an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. In ihrer gemeinsamen Schrift Principles of Political Economy fordern sie u. a. eine Begrenzung des wirtschaftlichen Wachstums um eine Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen zu verhindern. Dabei analysiert insbesondere Taylor Mill, wie Genossenschaften als Gegenmodel zum entfesselten Kapitalismus der Industrialisierung, sich für die Bekämpfung

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von Armut eignen, indem sie die Menschen zu Eigentümer:innen ihrer Arbeitsmittel und den Produkten ihrer Arbeit machen, wodurch sie nicht nur die Risken des Wirtschaftens tragen, sondern unmittelbar an den gemeinsam erarbeiteten Gewinnen partizipieren (CW III, 758– 795; AW 2, 183 ff.). Ein demokratisch verfasster Staat und eine demokratisierte Wirtschaft sehen sie als Garanten eines allgemeinen und gleichmäßiger verteilten gesellschaftlichen Wohlstandes.

Wirkung Wird versucht die Wirkung der Ideen und Schriften von Taylor Mill gerade auch auf Mill zu verstehen, ist zuerst auf den Umstand zu verweisen, dass nur wenige ihrer Schriften zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurden. Zudem erschienen sowohl eigene Schriften als auch die gemeinsam mit Mill geschriebenen unter dem Autorennamen „John Stuart Mill“ oder wurden ihm lange allein zugerechnet. Schließlich sind auch die von ihr allein verfassten, zu ihren Lebzeiten nie veröffentlichten Werke erst ab 1951 allmählich publiziert worden. Hierzu gehört auch das Fragment „Sources of Conformity“. Die bislang einzige Werksausgabe der Schriften Taylor Mills ist 1998 erschienen. Insgesamt erschließt sich so der Einfluss, welchen Taylor Mills Ideen auf die Entwicklung des Liberalismus und der Frauenrechtsbewegung hat, nicht sofort und bis in die Gegenwart ist eine abschließende Bewertung ihres Wirkens durch die genannte Publikationspraxis schwer möglich. Dennoch lässt sich ihr Wirken auf drei Ebenen beschreiben. Die erste ist sicherlich ihre Bedeutung für die Frauenrechtsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im englischsprachigen Raum. Hier geht es um ihr eigenes Werk und dessen Wirkung. Herausragend ist ihr Essay „Enfranchisement of Women“, gilt er doch mit seiner Beschreibung der Etablierung und Erhaltung von Herrschafts- und Zwangssystemen wie dem Patriarchat und der Einbindung von Frauen in die eigene Unterdrückung sowie seinen Forderungen nach einer

R. Narewski

Emanzipation von Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, als Literaturklassiker der Frauenrechtsbewegung und verbreitete sich nach seinem Erscheinen insbesondere in den USA sehr rasch. Die Wirkung ihres eigenen Werkes, außerhalb der gemeinsamen Autor:innenschaft mit John Stuart Mill, ist zugleich auf diesen zentralen Beitrag zur Frauenrechtsbewegung zentriert, da außer diesem nur wenige, kleinere Schriften von ihr im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Mill selbst erklärt sein eigenes Engagement für die Gleichberechtigung der Geschlechter sowohl auf der theoretischen als auch der praktischen Ebene maßgeblich durch den Einfluss, den Taylor Mill und deren eigenem Interesse an dem Thema auf ihn nahm. Mill beschrieb seinen mit Helen Taylor gemeinsam verfasste Essay The Subjection of Women (s. Kap. III.16) als Produkt seiner Auseinandersetzung mit Taylor Mills Gedanken zur Emanzipation der Frauen (CW I, 265). Die zweite, schwerer zu beschreibende Ebene ergibt sich aus ihrem Zusammenwirken mit John Stuart Mill und der Bedeutung der gemeinsamen Werke für die Ideengeschichte des Liberalismus. Es geht hierbei weniger um den Wert, welche gemeinsame Arbeiten wie Principles of Political Economy oder On Liberty haben, sondern um die fortlaufende Diskussion, welcher Teil von Mills Werk als Gemeinschaftswerk und welcher als allein seiniges anzusehen ist. Unabhängig davon, was hierzu zukünftig noch zu sagen sein wird, zeigen schon die beiden genannten Gemeinschaftswerke, wie nachhaltig die Ideen und Konzepte Taylor Mills auf die Entwicklung des modernen Liberalismus Einfluss genommen haben, ohne dass dies bislang umfassend anerkannt und gewürdigt wird. Beispielhaft hierfür steht der Essay On Liberty, in dessen Zentrum die Konzeption einer freiheitlich-liberalen Gesellschaft steht, in welcher Individuen die Möglichkeit haben, ihre Persönlichkeit umfassend zu entwickeln und zu entfalten. Der Essay stellt die Frage nach der richtigen Balance des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. Um diese beantworten zu können, entwerfen Taylor Mill und Mill eine Elitentheorie, welche auf dem

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Dualismus von Exzentrizität und Konformität beruht. Dieser Theorie folgend streben Gesellschaften zum Konformismus, welcher durch soziale und gesetzliche Zwänge die Gleichförmigkeit aller Individuen verlangt. Gesellschaften, in welchen Konformität das bestimmende Element des Denkens und Handelns von Individuen ist, nennen sie tyrannisch. Diesen gegenüber stehen Gesellschaften, welche die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Mitglieder fördern und schützen. Wie groß der Grad an Freiheit in einer Gesellschaft sei, lässt sich daran ablesen, wie viele Exentriker:innen sich unter den Gesellschaftsmitgliedern finden lassen. Diese sind für Taylor Mill und Mill darum Gradmesser vorhandener individueller Freiheiten, weil Exentriker:innen zugleich diejenigen seien, welche den Fortschritt einer Gesellschaft maßgeblich bestimmten. Exentriker:innen stellen die geistige Sperrspitze freiheitlicher, demokratischer Gesellschaften dar. Dieses zentrale Konzept des Essays On Liberty über die Bedeutung des Individualismus (s. Kap. V.30) und die Freiheit des Individuums (s. Kap. V.27) für die Entwicklung moderner Gesellschaften, lässt sich in seinen Grundzügen in einem 1832 entstandenen Textfragment über „Sources of Conformity“ von Taylor Mill finden (AW 1, 319 ff.). Taylor Mills Analysen der Wirkung und Selbsterhaltung von gesellschaftlichen Machstrukturen auf Frauen wird von Taylor Mill und Mill in gemeinsamen Publikationen auf andere Themenbereiche, etwa der Gewalt gegen Kinder, die soziale Frage und der Beurteilung der Sklaverei übertragen. Schließlich bleibt als dritte Ebene der Wirkung des Schaffens Taylor Mills der Einfluss, welchen ihr intellektueller Austausch auf John Stuart Mill selbst hatte. Mill hat in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) posthum versucht diesen Einfluss selbst zu beschreiben (CW I, 195–201; AW 2, 145–149). Dieser war weitreichend und zeigte sich nicht nur in den vielen gemeinsam diskutierten Themen, sondern auch symbolhaft in einer am 7. Februar 1854 in einem Brief von Mill an Taylor Mill erwähnten Liste zusammen noch zu bearbeitender Themen (CW XIV, 152–153), welche Mill auch

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nach Taylor Mills Tod als Vorlage für viele von ihm bis an sein Lebensende bearbeitete Themen nutzte. Die Liste nennt u. a. Freiheit (On Liberty, 1859), Grundlagen der Moral (Utilitarianism [s. Kap. III.12]), Platon („Grote’s Platon“ [s. Kap. II.8]), Religion (Three Essays on Religion [s. Kap. IV.20]) Sozialismus (Chapters on Socialism [s. Kap. IV.18]) als Themen von Interesse für Taylor Mill und Mill (Hayek 2021, 239).

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Alexis de Tocqueville (1805–1859) Oliver Hidalgo

Mill und Tocqueville zählen nicht nur zu den größten liberalen Autoren des 19. Jahrhunderts, sie zeichnen sich zudem durch ein sehr ähnliches Verständnis aus, in welcher oftmals verborgenen Weise die Freiheit in der modernen Massengesellschaft bedroht wird. Jene geteilte Sensibilität für die Gefahren, die der Individualität (s. Kap. V.30) und Pluralität gerade durch ein zu unkritisches Vertrauen in die Demokratie erwachsen, ist in diesem Kontext umso bemerkenswerter, als weder Mill noch Tocqueville eine legitime Alternative zur repräsentativen, mit direkten Partizipationselementen (s. Kap. V.37) angereicherten Volksherrschaft erkennen konnten (s. Kap. III.14). Ihre kritische Distanz führte sie indes nicht wie andere Liberale der Epoche dazu, die Demokratie als möglichen Katalysator einer sozialistischen Revolution abzulehnen. Stattdessen waren sie als Theoretiker wie praktische Politiker darum bemüht, aus den demokratischen Rahmenbedingungen das Beste für ihr gemeinsames Ideal der Freiheit (s. Kap. V.27) zu machen.

O. Hidalgo (*)  Professor für Politikwissenschaft/Politische Theorie, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected]

Mill und Tocqueville − Eine wechselvolle Beziehung Als Mill den französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville 1835 in London kennenlernte, entspann sich zwischen ihnen kurzfristig ein reger Gedankenaustausch. Nach Erscheinen des ersten Bandes De la démocratie en Amérique im Januar des gleichen Jahres verbrachte der über Nacht in Europa bekannt gewordene Tocqueville mehrere Wochen in England und erhielt dort durch Vermittlung des Althistorikers und Mitglieds des House of Commons George Grote die Möglichkeit, im britischen Parlament über die aktuellen politischen Zustände in Frankreich und den USA zu referieren. Dadurch kam es im Anschluss zu mehreren Begegnungen zwischen Mill (der mit Grote eng befreundet war) und Tocqueville. Bei diesen Gelegenheiten bemerkten die beiden fast gleichaltrigen Zeitgenossen große Parallelen in ihren theoretischen wie politischen Ansichten. Wie weit die persönlichen Sympathien wirklich gingen, ist zwar unklar (Buchstein/Hummel 2016, 225 f.), zumindest ihre intellektuelle Beziehung trug jedoch bald Früchte. So rezensierte Mill den ersten Band Über die Demokratie in Amerika sehr positiv in der London Review („De Tocqueville on Democracy in America I“; CW XVIII, 47– 90) und erhielt von Tocqueville im Gegenzug die Zusage, regelmäßig zu Themen seiner Wahl in der von Mill herausgegebenen London and

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_7

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Westminster Review zu publizieren (Tocqueville 1954, 297 f.). Ein knappes Jahr später führte dies zur Veröffentlichung von Tocquevilles Aufsatz „L’état social et politique de la France avant et depuis 1789“ (1836), in dem er bereits einige zentrale Thesen seiner Historiografie der Französischen Revolution entfaltete. Auch danach war der Briefwechsel (CW XII; XIII; XV) zwischen Mill und Tocqueville geprägt von Äußerungen, in denen sich beide ihre Wertschätzung und Sympathie versicherten. Allerdings fiel die Korrespondenz nach dem fulminanten Beginn ihrer Beziehung doch sporadischer aus, als es zu erwarten gewesen wäre. Vor allem Tocqueville ließ den Kontakt ein wenig ruhen, nachdem ihm der erwähnte Aufsatz große Mühen verursacht hatte und er sich außerstande sah, die zugesagten weiteren Artikel für Mill fristgerecht zu fabrizieren. An Fahrt nahm der Austausch zwischen Mill und Tocqueville erst wieder auf, als letzterer 1840 den zweiten Band seines Amerikabuchs publizierte, der − anders als der gefeierte erste Teil − aufgrund seiner Abstraktheit vom europäischen Publikum wie auch von der Mehrzahl der Kritiker eher zurückhaltend aufgenommen wurde. Im Gegensatz dazu durchschaute Mill als einer der wenigen Rezensenten sofort die demokratietheoretisch gesehen weitaus größere Bedeutung der Fortsetzung von Tocquevilles Amerikastudie und tat dies in seiner Besprechung des Buchs in der Edinburgh Review auch kund („De Tocqueville on Democracy in America II“; CW XVIII, 153– 204). Seinem französischen Briefpartner schrieb er zugleich in unverhohlener Bewunderung, dass es ihm mit dem Werk gelungen sei, „the face of political philosophy“ zu ändern, um im Anschluss das denkwürdige Lob auszusprechen: „[Y]ou have carried on the discussions respecting the tendencies of modern society […] into a region both of height & of depth, which no one before you had entered“ (CW XIII, 434; To­ cqueville 1954, 328). Der von Selbstzweifeln geplagte Tocqueville, der am Misserfolg des zweiten Bandes der Démocratie sehr gelitten hatte, zeigte sich von Mills Rezension und seinen anerkennenden Worten zutiefst erfreut: „Von allen Artikeln, die über mein Buch geschrieben

O. Hidalgo

wurden, ist ihre Stimme die einzige, bei der es der Rezensent in perfekter Weise verstand, mein gedankliches Anliegen vollständig zu erfassen und diesem auch den entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Endlich fühlte ich mich von einem sehr hochstehenden Geist beurteilt, der versucht hatte, meine Gedanken zu begreifen und sie gründlichst zu analysieren“ (Tocqueville 1954, 329 f.). Im Briefwechsel zwischen Mill und Tocqueville dominierten in der Folge vor allem außenpolitische Themen. Diese reflektierten nicht zuletzt die wachsende geopolitische Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich. Spekulationen zufolge färbte diese Konkurrenz auf das Verhältnis zwischen den beiden Freunden ab, die die divergenten Interessen ihrer Heimatländer persönlich repräsentierten – Mill viele Jahre lang in verantwortlicher Position bei der Britischen Ostindien-Kompanie, Tocqueville als Außenpolitiker der französischen Julimonarchie, der in der Zweiten Republik 1849 sogar kurzfristig zum Außenminister avancierte. Dabei erwies sich Tocqueville als ebenso entschiedener wie überzeugten Verfechter einer französischen Imperial- und Seemachtpolitik und irritierte Mill überdies mit seiner bisweilen martialisch anmutenden, das moderne Wohlfahrtsstreben scharf kritisierenden Variante des Liberalismus, die sich nicht zuletzt gegen Mills Sozialpolitik richtete (Bluhm 2019). In Wahrheit waren aber vielleicht weniger politische oder theoretische, sondern ganz private Gründe dafür ausschlaggebend, dass die Freundschaft zwischen Mill und Tocqueville am Ende keinen Bestand hatte, sodass nicht nur ihr Briefverkehr nach 1842 zum Erliegen kam, sondern auch keine weiteren persönlichen Treffen mehr stattfanden, und das obwohl sich Mill sehr regelmäßig in Frankreich aufhielt. So scheinen sich insbesondere Harriet Taylor und Tocqueville nicht sehr gut verstanden zu haben (Suh 2016), was wohl unter anderem daran lag, dass Tocqueville im Hinblick auf Frauenrechte eine sehr konventionelle oder sogar konservative Position vertrat. Wie wichtig das Vorbild Tocquevilles für Mill war, ist nicht zuletzt angesichts ihrer ­lediglich

7  Alexis de Tocqueville (1805–1859)

zeitweilig bestehenden Freundschaft umstritten. Von einem allenfalls „kurzes Strohfeuer“, das bei keinem von ihnen für nachhaltige Wirkungen gesorgt habe, sprechen z. B. Buchstein/ Hummel (2016, 226). Damit geben sie der These von Helmut O. Pappé (1964) neue Nahrung, dass sich die wechselseitigen direkten Einflüsse zwischen Mill und Tocqueville in engen Grenzen hielten. Tatsächlich wäre es übertrieben, Mill als „Schüler Tocquevilles“ zu bezeichnen (Qualter 1960), der die Gedankenwelt des französischen Aristokraten nicht nur adäquat erfasst, sondern in seinen eigenen politischen Werken fortgesetzt hat. Davon abgesehen dürfen die Gemeinsamkeiten zwischen zwei Schwergewichten der Politischen Ideengeschichte wie Mill und Tocqueville allgemein nicht überschätzt werden, da beide nicht nur selbstredend für ein unabhängiges, eigenständiges Werk stehen, sondern auch allgemeine Unterschiede zwischen dem republikanischen Liberalismus in Frankreich und dem eher wirtschaftlich ausgerichteten Liberalismus in England gerade im Fall von Mill nicht nivelliert werden dürfen (Urbinati 2002, 5, 200). Hinzu kommt, dass trotz vorhandener inhaltlicher Parallelen beide Autoren in methodischer, sozialwissenschaftlicher Hinsicht doch erheblich voneinander abweichen (Buchstein/Hummel 2016). Nichtsdestotrotz sind die Analogien zwischen Tocquevilles und Mills politischem Denken unter dem Strich so auffällig, dass sie schwerlich kleinzureden sind. Einiges spricht dafür, in beiden am Ende nicht weniger als zwei „Brüder im Geiste“ (Hidalgo 2011, 145) zu erkennen, die gedanklich mehr miteinander gemeinsam hatten, als es ihre direkte private Beziehung dokumentiert.

Der gemeinsame Gegenstand: Die moderne Demokratie In einem Brief an Mill bezeichnete es Tocqueville einmal als seine Aufgabe als politischer Theoretiker und Autor, es durch die Lektüre seiner Schriften möglichst vielen Bürgern zu gestatten, sich ein eigenes Urteil über die Demokratie zu bilden (Tocqueville 1954, 294). In die-

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ser Hinsicht glaubte er sich nicht nur einig mit seinem englischen Briefpartner, sondern ebenso mit den Anführern der auf der britischen Insel angesiedelten Demokratiebewegung, über die Mill ihn zuvor ausführlich informiert hatte. Deren [richtiges] Ziel sei es, „die Mehrheit der Bürger in die Lage zu versetzen zu regieren und ihnen auch die Fähigkeit dazu zu vermitteln“. Ohne dafür ihre Prinzipien aufzugeben, „erheben sie nicht den Anspruch, das Volk auf die ihnen geeignet erscheinende Weise zu seinem Glück zu zwingen, sondern sie wollen den Bürgern das Urteilsvermögen geben, den angemessenen Weg selbst zu erkennen und entsprechend zu handeln“. Im Anschluss an diese Feststellung bekennt Tocqueville, selbst „Demokrat“ in diesem strikt antipaternalistischen, der individuellen Freiheit verpflichteten Sinne zu sein und lässt in der Folge seiner weiteren Formulierungen keinen Zweifel daran, dass er davon ausgeht, mit Mill die Stoßrichtung jenes Projekts vorbehaltlos zu teilen (Tocqueville 1954, 293 f.). Dass er mit dieser Einschätzung durchaus richtig lag, wird von der Tatsache erhärtet, dass Mill in seinem eigenen Werk an vielen Stellen inhaltlich an die Diagnosen Tocquevilles anknüpft (Múgica 1999 und 2010). Allerdings bleibt in diesem Zusammenhang relativ unklar, was Mill von der Perspektive Tocquevilles konkret übernimmt und worin sich ihre Auffassungen einfach nur verblüffend ähneln. Hinzu kommt, dass Mill die gemeinsame Grunddiagnose − den bereits besiegelten Untergang der Aristokratie sowie den unaufhaltsamen Siegeszug der modernen bürgerlichen Gesellschaft − unter dem Strich deutlich optimistischer bewertet als sein französischer Kompagnon, der deshalb immer wieder von nostalgischen Gefühlen erfasst wird. Dasselbe ist im Hinblick auf die von Tocqueville innovativ vorgeschlagene Verlagerung des Demokratiebegriffs von einer ehedem spezifischen Staats- und Regierungsform hin zur Kennzeichnung der allgemeinen Charakteristik der modernen egalitären Gesellschaft zu konstatieren. Diese geht Mill zum einen mit, sie bleibt ihm jedoch zum anderen auch etwas suspekt. In seiner oben erwähnten

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Rezension des zweiten Bandes der Démocratie en Amérique ist Mill deswegen nicht nur voll des Lobes dafür, dass Tocquevilles soziologische Demokratietheorie einen viel weiter gefassten Blick auf den Gegenstand eröffnet, als ihn die Wissenschaft zuvor besessen hatte (CW XVIII, 156 f., 158 f.). Er hält ihm im Gegenzug auch vor, wenigstens partiell die Wirkungen der Demokratie mit denjenigen der modernen Zivilisation zu verwechseln. Sehr uneins können sie sich diesbezüglich allerdings wiederum gar nicht gewesen sein, sonst hätte sich Tocqueville von Mills Rezension nicht dermaßen gut verstanden gefühlt (Tocqueville 1954, 329), wie er es offensichtlich tat. Wenn Mill in seiner Autobiographie deshalb einräumt, durch die Lektüre des Amerikabuchs seines Freundes im Hinblick auf die Demokratie in eine neue Richtung gelenkt worden zu sein, da er erst dadurch den Fokus weg „from pure democracy“ „to the modified [representative] form of it“ (CW I, 199) legte, ist dies nicht allein damit zu erklären, dass er Tocqueville posthum etwas schmeicheln wollte, nachdem er kurz zuvor von dessen Tod erfuhr und sie sich in den Jahren zuvor entfremdet hatten (Buchstein/ Hummel 2016, 226). Denn selbst, wenn nicht bezweifelt wird, dass Mills eigene Untersuchung der modernen Demokratie das Ergebnis eines autochthonen, jahrelangen, auf vielen Impulsen basierenden intellektuellen Prozesses war, ist das Zitat unbedingt ernst zu nehmen. Schließlich wird es von der Rezension des zweiten Bandes der Démokratie rückbestätigt, in der Mill unumwunden deutlich macht, für wie innovativ und relevant er Tocquevilles Theoretisierung des Begriffs der modernen Volksherrschaft hält (CW XVIII, 155 ff.). Positiv äußerte sich Mill insbesondere über Tocquevilles Ansatz, die Vielfalt der Aspekte der Demokratie anhand einer Kombination aus Induktion und Deduktion zu erforschen, weiterhin über die Verknüpfung von Makro- und Mikroebene sowie über die Distinktion der allgemeinen Ursachen des demokratischen Transformationsprozesses in Europa bzw. den USA und hiervon losgelösten Einzelfragen und -problemen. Als Schlüsselsatz aber kann in diesem Zusammenhang folgende Aus-

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sage Mills gelten: „The value of his [Tocqueville’s] work is less in the conclusions, than in the mode of arriving at them“ (CW XVIII, 156). Mag Tocqueville dabei womöglich übertrieben haben, welche Eigenschaften er der Demokratie respektive der egalitären Gesellschaft zuschreibt, so ist es dennoch die „fächerübergreifende Perspektive“ aus Politikwissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Rechts- und Kulturwissenschaft, die Mill bei Tocquevilles registrierte und bewunderte (Craiutu 2016, 38). Was Mill Tocqueville damit hauptsächlich verdankt und auf seine eigene und wenigstens zum Teil konträre Weise weiterführte, war die Einsicht, dass die Demokratie nicht nur ein traditionelles Herrschaftssystem, sondern ein äußerst vielschichtiger Gegenstand war, der in seinen zahlreichen und nicht zuletzt widersprüchlichen Komponenten analysiert werden musste. Mills eigenes Verständnis der modernen Demokratie bestätigte in der Folge zahlreiche Einsichten Tocquevilles, etwa, dass die Volksherrschaft der Zukunft nicht in erster Linie von Anarchie oder Revolutionen bedroht sei, sondern weit eher von sozialer Kristallisation und Lähmung des Fortschritts, indem Innovationen und individuelle Denkweisen an die herrschenden Normen angepasst werden und von der Mehrheitsmeinung ein massiver Konformitätsdruck ausgeht. Vor allem Mills diesbezügliche Argumente in On Liberty (s. Kap. III.13), wo er die sozialpsychologischen Auswirkungen der modernen Massengesellschaft analysiert, lassen neben dem Einfluss von Harriet Taylor (s. Kap. II.6) auch manche inhaltliche Reminiszenz an Tocqueville erkennen (Hidalgo 2011, 147 ff.). Wenn Mill darin schreibt, dass der modernen Demokratie zu vorschnell attestiert werde, die Interessen von Herrschern und Beherrschten quasi automatisch in Übereinstimmung zu bringen, dann zitiert er letztlich Tocqueville, der seinerseits mit dem Vorurteil aufräumen wollte, die Freiheit in der Demokratie sei bereits dadurch gesichert, dass sich die Bürger dort ihre Beherrscher (oder besser: „Vormünder“) auswählen (CW XVIII, 217). Die Volkssouveränität drohe der unumschränkten Machtbefugnis der Sozialgewalt vielmehr als Alibi zu die-

7  Alexis de Tocqueville (1805–1859)

nen (Tocqueville 1987b, 465). Deshalb warnt Mill eindringlich vor dem Irrglauben, die Beschränkung der Volksherrschaft sei nachrangig, da hier „the ruling power emanate from the periodical choice of the ruled“ und die Nation „did not need to be protected against its own will“ (CW XVIII, 218). Die Rede von „self-government“ bzw. „the power of the people over themselves“ kaschiere diesbezüglich das Problem, dass Volkssouveränität mitnichten „the government of each by himself“ meine, „but of each by all the rest“ (CW XVIII, 219). Im Ergebnis fürchtete Mill die gleiche Unterdrückung des Individuums durch die Ansichten der Majorität, die bereits Tocqueville vehement angeprangert hatte. Beide haben dabei nicht nur den Transmissionsriemen der Herrschaftsinstitutionen im Visier, sondern vielmehr die soziale Kontrolle, die allein vom Mainstream der gesellschaftlichen Normierungen und Meinungen ausgehe und auf dem Denken und Handeln der Einzelnen laste (Tocqueville 1987b, 18 ff.; CW XVIII, 219 ff.). Wie ähnlich sich die einschlägigen Analysen tatsächlich sind, mögen zwei Zitate verdeutlichen: „The demand that all other people shall resemble ourselves, grows by what it feeds on. If resistance waits till life is reduced nearly to one uniform type, all deviations from that type will come to be considered impious, immoral, even monstrous and contrary to nature. Mankind speedily become unable to conceive diversity, when they have been for some time unaccustomed to see it“ (CW XVIII, 275). „Je ähnlicher sich die Menschen werden, umso schwächer fühlt sich ein jeder […] allen gegenüber. Da er nichts gewahrt, was ihn hoch über sie erhebt und von ihnen unterscheidet, wird er unsicher, sobald sie ihn bekämpfen; er zweifelt nicht nur an seinen Kräften, sondern er beginnt an seinem Recht zu zweifeln, er gibt seinen Irrtum schon fast zu, sobald die Mehrheit ihn bejaht. Die Mehrheit braucht ihn nicht zu nötigen, sie überzeugt ihn“ (Tocqueville 1987b, 383 f.). Das Perfide, das Mill und Tocqueville hier in auffallender Einigkeit feststellen, besteht vor allem darin, dass der von ihnen beschriebene Verlust der Freiheit in der demokratischen Gesellschaft nicht aus faktischem Zwang oder

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Unterdrückung resultiert, sondern die Bürger vielmehr Gefahr laufen, freiwillig auf ihre formal garantierten Grundrechte zu verzichten. Wie vor allem ihre Korrespondenz belegt, räumten deshalb beide der Frage nach einer demokratischen Elite, die sich gegen den Trend des Zeitalters zur sozialen Konformität stemmt, hohe Priorität ein (Tocqueville 1954, 294– 304). Was die Demokratie neben der monierten institutionellen und mentalen Beschränkung der Volkssouveränität am dringendsten brauche, seien möglichst viele „urteilsfähigen Bürger“, nicht zuletzt, um der Tendenz des demokratischen Wahlmechanismus, allenfalls mittelmäßige Politiker in verantwortungsvolle Staatsämter zu hieven, entgegenzuwirken (Tocqueville 1987a, 294 ff.). Um hier Abhilfe zu schaffen, schlägt Tocquevilles Amerikabuch ein an den USA orientiertes zweistufiges Wahlverfahren für Demokratien vor, um einem unmittelbaren Druck der Bevölkerungsmassen auf die gewählten Repräsentanten vorzubeugen (Tocqueville 1987b, 299 f.). Mills Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14), die inhaltlich ansonsten ebenfalls an viele Überlegungen Tocquevilles anknüpfen (Hidalgo 2011), halten das hiervon bezweckte Auffangen der Emotionen und Leidenschaften im Volk hingegen für weitgehend überflüssig (CW XIX, Kap. 9). Nicht nur, dass Mill (CW XIX, 511) Edmund Burkes Idee des freien Mandats mehr Zuversicht schenkte als Tocqueville (1987a, 162, 225, 369 f.), war er auch davon überzeugt, dass die von Thomas Hare vorgeschlagene „electoral reform“ in Richtung einer personalisierten Verhältniswahl eine gute Gewähr für die „intellectual qualifications desirable in the representatives“ versprach (CW XIX, 455). Als elitäres Momentum in demokratischen Prozeduren schwebte Mill (CW XIX, Kap. 8) stattdessen ein ‚Mehrfachwahlrecht‘ für die gebildeten Schichten vor (s. Kap. V.41). Von solchen Details abgesehen aber stimmten Mill und Tocqueville völlig darin überein, die sich im 19. Jahrhundert sukzessiv etablierende Massen- und Mehrheitsdemokratie nicht einfach sich selbst überlassen zu können, wenn eine Klassendiktatur der armen und ungebildeten Be-

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völkerungsschicht verhindert werden sollte. Mit ihren Vorschlägen ging es beiden darum, ein Bollwerk gegen die beiden aus ihrer Sicht größten Schwächen und Gefahren der modernen repräsentativen Demokratie – die mangelnde Urteilsfähigkeit der gewählten Körperschaft bzw. des Volkes sowie die potenzielle Tyrannei der Mehrheit (CW XIX, 436, 448; Tocqueville 1987a, 225) zu schaffen. Die Souveränität des Volkes sei folgerichtig auf die Wahl und Kontrolle der Abgeordneten zu begrenzen (CW XIX, 422; Tocqueville 1987a, 86 f.). Neben der Pressefreiheit, die für beide liberale Autoren eine besondere Bedeutung hatte, setzte Mill dazu zwar stärker als Tocqueville auf öffentliche Debatten im Parlament (s. Kap. V.36) sowie die Tätigkeitsberichte der Administration (CW XIX, 432 ff.); entlang ihrer jeweiligen Vorkehrungen aber zeigten sich beide davon überzeugt, dass die Integration aller sozialen Klassen in die politische Sphäre gelingen kann, ohne eine innere (Selbst-)Zerstörung der Demokratie voranzutreiben.

Zwei ,aristokratische‘ Liberale Neben den signifikanten Parallelen, die sich in Mills und Tocquevilles Demokratieverständnis belegen lassen, sind auch einige gravierendere Unterschiede zwischen ihnen auszumachen, die an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden können. Gemeint ist erstens die Behandlung der Frauenfrage (s. Kap. III.16), zweitens die Sozialpolitik (Hidalgo 2011, Abschn. 4 und 5) sowie drittens die Stellung zur Religion (s. Kap. IV.20, Kap. V.38). In letzterer wollte Tocqueville ein „heilsames Joch“ erkennen, das die Unabhängigkeit des homme moderne nicht zu groß werden ließ (Tocqueville 1987b, 36). Für Mill war eine solche religiöse Ergänzung der Demokratie hingegen nicht nur weitgehend unnötig, sondern er diagnostizierte die Religion selbst als Ressource, die der Freiheit gefährlich werden konnte. In seiner Schrift On Liberty schimmert diese Skepsis angesichts der moralischen Prüderie und Sittenstrenge im viktorianischen England an zahlreichen Stellen

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durch. Hinter allen drei Diskrepanzen steckt als gemeinsamer Nenner, dass Mills Ausführungen einen deutlich stärkeren Fokus auf private Selbstentfaltung legen, während Tocqueville primär die Bedingungen der politischen Partizipation im Visier hatte. Diese wollte er qua Entlastung der Männer durch die häusliche Rolle der Frauen, eine Eindämmung des bürokratischen Wohlfahrtsstaates sowie das von der Religion vermittelte Sozialkapital unterstützen. Überdies sah Tocqueville allem Anschein nach nicht nur die Spannungsfelder zwischen privater und öffentlicher Sphäre, sondern ging dezidierter als Mill von der Verwobenheit zwischen beiden Bereichen aus. Hätte Tocqueville die Publikation von On Liberty noch erlebt, wäre ihm Mill wohl sogar als Exponent eines Individualismus vorgekommen, den er selbst als übertrieben eingeschätzt hätte. In Mills Werk gibt es demgegenüber keine mit Tocqueville vergleichbare Emphase für die Selbstregierung zu entdecken, sodass bei Mill eher von einer Regierung für das Volk als durch das Volk zu sprechen ist (Höntzsch 2010, 192). Im Vergleich zwischen Mill und Tocqueville überwiegen am Ende dennoch die Gemeinsamkeiten. Insbesondere in ihrem Elitismus, der Erfahrungen aus der praktischen Politik für unerlässlich hält und deswegen mit deliberativen Ideen durchzogen ist, in ihrer Idee einer freien und sozialen Marktwirtschaft, die sich gleichermaßen gegen ein ökonomisches Laisser-faire wie einen Paternalismus richtet oder in der versuchten Vermittlung zwischen politischen und privaten Freiheitsaspekten, in der sich liberale, soziale und konservative Elemente bis zu einem bestimmten Grad amalgamieren, sind weitere Aspekte auszumachen, in denen sich Mill und Tocqueville ziemlich ähnlich waren und die hier aus Platzgründen hintanstehen müssen. Im Ganzen erweisen sich beide somit als Vertreter eines „aristokratischen Liberalismus“ (Kahan 1992), die nicht nur die Distanz zur staatlichen Zentralmacht wahrten, sondern auch gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ihrer Zeit zum Teil starke Kritik übten. Als gemeinsames Credo kann es dabei gelten, dass beide „der Sozialgewalt weitgezogene, aber sichtbare und unveränderliche Grenzen“ set-

7  Alexis de Tocqueville (1805–1859)

zen, „den Privaten bestimmte Rechte“ gewähren und dem Einzelnen „Unabhängigkeit, Stärke und Eigenart“ erhalten wollten, ein Satz, den Tocqueville (1987b, 479) am Ende des zweiten Bandes der Démocratie en Amerique formulierte, der jedoch ebenso von Mill stammen könnte. Auf die Herausforderung der modernen liberalen Demokratie durch die sozialistischen Revolutionäre bzw. einen sich demokratisch gebärdenden Despotismus glaubten beide damit die passende Antwort gefunden zu haben.

Literatur Buchstein, Hubertus/Hummel, Siri: Demokratietheorie und Methode. Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill. In: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.): Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie. Paderborn 2016, 225–259. Bluhm, Harald: Neubestimmungen von Liberalismus bei Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und Karl Marx. In: Karsten Fischer/Sebastian Huhnholz (Hg.): Liberalismus: Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen. Baden-Baden 2019, 21–46. Craiutu, Aurelian: Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdeckt: Einige Lektionen für zeitgenössische Sozialwissenschaftler. In: Harald Bluhm/ Skadi Krause (Hg.): Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie. Paderborn 2016, 33–51.

53 Hidalgo, Oliver: Politische Kultur bei Mill und Tocqueville. Die Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit in der modernen Demokratie. In: Frauke Höntzsch (Hg.): John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart 2011, 145–172. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Kahan, Alan S.: Aristocratic Liberalism. The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville. New York 1992. Múgica, Fernando: John Stuart Mill, lector de Tocqueville. Liberalismo y democracia. 2 Bde. Pamplona 1999 und 2010. Pappé, Helmut O.: Mill and Tocqueville. In: Journal of the History of Ideas 25 (1964), 217–234. Qualter, Terence: John Stuart Mill. Disciple of de Tocqueville. In: Western Political Quarterly 13 (1960), 880–889. Suh, Byung-Hoon: Mill and Tocqueville: A Friendship Bruised. In: History of European Ideas 42 (2016), 55–72. Tocqueville, Alexis de: Correspondance anglaise. Correspondance d’Alexis de Tocqueville avec Henry Reeve et John Stuart Mill. Œuvres complètes, Bd. VI, 1. Paris 1954. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1. Zürich 1987a. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 2. Zürich 1987b. Urbinati, Nadia: Mill on Democracy. From the Athenian Polis to Representative Government. Chicago 2002.

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Antike Denker Maximilian Forschner

1. Der Utilitarismus gilt als Ethiktheorie der Moderne. Seine klassischen Autoren sind politische Radicals, die Traditionen und Konventionen infrage stellen, und, am Beginn industrieller Umsetzung von Wissenschaft und Technik, für den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit streiten. Dies trifft auf Jeremy Bentham ebenso wie auf James und John Stuart Mill zu. Doch im Unterschied zu Bentham wissen sich die Mills auch dem Gedankengut der Antike verpflichtet. „The study of the ancient writers has been of unspeakable benefit to the moderns“ schreibt John Stuart 1835 in einer Rezension, die den Utilitarismus Benthams und seines Vaters gegen den Angriff von Adam Sedgwick verteidigt (CW X, 43). Bereits Jahre zuvor befasste der junge Mill sich intensiv mit dem Werk Platons und veröffentlicht 1834–1835 die Notes on Some of the More Popular Dialogues of Plato (CW XI, 37–238), Übersetzungen mit kleineren Auslassungen und Kommentaren von neun seiner „eingängigeren“ Dialoge. In der Einleitung zum ersten Dialog, dem Protagoras, beruft er sich auf ein Platon-Verständnis, das ihm

M. Forschner (*)  Professor em. für Praktische Philosophie, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected]

Schleiermachers Essay Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen (in der Übersetzung von Connop Thirlwall 1833) vorgibt: Der Dienst, den Sokrates und Platon für die Philosophie geleistet hätten, bestehe nicht in den Wahrheiten, die sie tatsächlich erreicht, sondern in den verbesserten Ansichten bezüglich der Methode, die sie initiiert haben, wie Wahrheit zu suchen ist (CW XI, 41). In seiner Inaugural Address (CW XXVI, 215–257), die Mill 1867 als gewählter Rektor der Universität von St. Andrews präsentiert, erneuert und begründet er sein Bekenntnis zum geistigen Erbe der alten Welt: Es sei nicht nur das Instrumentarium der antiken Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das von unschätzbarem Wert sei, wobei das Werk des Aristoteles den Weg methodischer Theorie, und jenes Platons den der entsprechenden sprachlichen Praxis weise. Es sei auch der Inhalt antiken Schrifttums, das einen unübertroffenen Schatz an Lebensweisheit biete. „The speeches in Thucydides; the Rhetoric, Ethics, and Politics of Aristotle, the Dialogues of Plato; the Orations of Demosthenes; the Satires, and especially the Epistles of Horace, all the writings of Tacitus; the great work of Quintilian […] and, in a less formal manner, all that is left to us of the ancient historians, orators, philosophers, and even dramatists, are replete with remarks and maxims of singular good sense and penetration, applicable both to political and to private life, and the actual truths we find in them are even surpassed in

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_8

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value by the encouragement and help they give us in the pursuit of truth“ (CW XXI, 229). 2. J.  St. Mills ungebrochene Verbindung zur Antike gründet nicht zuletzt in seiner frühen programmatischen Erziehung durch seinen Vater. Unter dessen Anleitung beginnt er als 3-Jähriger Griechisch, als 8-Jähriger Latein zu lernen. Bis zum 12. Lebensjahr liest er im Original antike Texte verschiedener literarischer Form in beachtlicher sprachlicher Vielfalt und inhaltlicher Komplexität (CW I, 8–15). Ab dem 12. Lebensjahr, so seine autobiographische Auskunft, übt er sich in eigenem Denken. Diese Einübung bezieht sich vornehmlich auf die Gebiete der Rhetorik, der Dialektik und der (politischen) Ethik. Die erste wissenschaftliche Abhandlung, die er intensiv studiert, ist Aristoteles’ Rhetorik, begleitet von einer auf Form und Inhalt gerichteten Analyse der Reden des Demosthenes (CW I, 22). Es folgt das Studium der „wichtigsten Dialoge Platons“, namentlich des Gorgias, des Protagoras und der Politeia (CW I, 24). Sie vermitteln ihm die unverrückbaren Ausgangspunkte seiner philosophischen Orientierung: das erzieherische Interesse an Logik und Dialektik, die methodische Ausrichtung an der sokratischen, kreuzverhörartigen Kunst von Frage und Antwort (dem Elenchos), die unablässige Suche nach Werden und Wesen von Tugend und Glück, die Sorge um das Wohl der politischen Gemeinschaft, die Achtung vor der charakterlichen Größe und Unbestechlichkeit der Figur des Sokrates. Von diesem schreibt er in einer Rezension aus dem Jahr 1853: „a man, unique in history, of a kind at all times needful, and seldom more needed than now“ (CW XI, 309). In der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie zu leben sei, dürfte, unter dem Einfluss des Vaters, die sokratische Maxime der Apologie (38a), sich täglich über die Tugend Gedanken zu machen und das Leben zu reflektieren, die dreigliedrige Bestimmung des Zielhaften (des Gerechten, des Guten und Schönen) im Gorgias (459d; vgl. CW VIII, 949–950), die offene Diskussion des Hedonismus im Protagoras, und der Herrschaftsanspruch des Geistes über die „niederen“ Interessen des Menschen in der Politeia von besonderem Gewicht gewesen sein.

M. Forschner

Für James Mill war Platon der größte aller Philosophen, allerdings kein „dogmatischer“, sondern ein metaphysisch eher skeptischer Platon. Für den Sohn wird „[t]he close, searching elenchus by which the man of vague generalities, is constrained either to express his meaning to himself in definite terms, or to confess that he does not know what he is talking about“ als Erziehung für prägnantes Denken zum „part of my own mind“, im Unterschied zur üblichen Aneignung „of certain dogmatical conclusions, drawn mostly from the least intelligible of his works, and which the character of his mind and writings makes it uncertain whether he himself regarded as anything more than poetic fancies, or philosophic conjectures“ (CW I, 25); ja, ihm erscheint „the dogmatic Plato […] a different person from the elenctic Plato“ (CW XI, 413). Platonische Metaphysik (die dualistische Ontologie, die Ideenlehre, die Eschatologie etc.) blieb ihm zeitlebens fremd; er verbindet sie mit dem fragwürdigen, weil dunklen „Transzendentalismus“ deutscher philosophischer Romantik (CW X, 125; CW IX, 68). Er schätzt Aristoteles’ Bindung aller Erkenntnis an die Sinne; mit dessen Art grundbegrifflicher Natur- und metaphysischer Prinzipienforschung weiß er indessen nichts anzufangen. Er ist ganz und gar der Tradition des Nominalismus und dem Programm der empiristischen, am positiven Erkenntnisfortschritt orientierten „Erfahrungsphilosophie“ nach Francis Bacons (inzwischen verfeinertem) Wissenschaftskonzept verpflichtet (CW XI, 490/491, 495/496, 502– 504; CW VIII, 834–835, 870–872). Und das Verhältnis zur Religion war im Hause Mill von der epikureischen Tradition (insbesondere von Lukrez) bestimmt; ja Religion selbst wurde als moralisches Übel betrachtet (CW I, 42). Der Vater hielt in seiner Erziehung den Sohn von allem Religiösen fern; der Sohn selbst wurde schon früh über der Lektüre von Herodot mit der relativierenden Verschiedenheit von Sitten und Religionen der Völker vertraut (CW I, 44). Mit Platons ‚Philosophie fürs Leben‘ verband James Mill die Tugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit, der Wahrheitsliebe, der Beharrlichkeit, des Eifers für das Gemeinwohl. Zudem

8  Antike Denker

integrierte er in seine Lebensanschauung in der Sicht des Sohnes neben den platonischen auch stoische, epikureische und kynische Züge (CW I, 48). John Stuart wird ihm nicht nur im hohen moralisch-politischen Anspruch, sondern auch in der synkretistischen Tendenz seines moralphilosophischen Denkens folgen. Von besonderer Bedeutung wird für den Sohn der Umgang mit zwei Freunden und engen philosophisch-politischen Gefolgsleuten des Vaters, mit dem Juristen und Rechtsphilosophen John Austin und dem Politiker, Banker, Gräzisten und Althistoriker George Grote. John Austin lässt ihn an seinen Studien des Römischen Rechts und der Digesten teilhaben (CW I, 66). Mill hat Austins für die Tradition analytischer Rechtsphilosophie bahnbrechendes Werk denn auch ausführlich rezensiert („Austin’s Lectures on Jurisprudence“ 1832, CW XXI, 51–60; „Austin on Jurisprudence“ 1863, CW XXI, 165–205). Mit George Grote verbinden ihn wesentliche Überzeugungen in seiner Sicht der griechischen Welt, insbesondere der für sie vorbildhaften perikleischen Zeit und der „recht verstandenen“ Philosophie Platons (CW I, 25; CW XI, 41). Grote war der wohl bedeutendste Althistoriker und Gräzist der viktorianischen Ära. Er verfasste ein monumentales Werk zur griechischen Geschichte (A History of Greece: from the Earliest Period to the Close of the Generation Contemporary with Alexander the Great, 12 Bde., 1846–1856), und eingehende Studien zu Platon (Plato and the other Companions of Sokrates, 3 Bde., 1865) und, unvollendet und posthum erschienen, zu Aristoteles (Aristotle, hg. von A. Bain and E. C. Robertson, 1872). Mill hat Grote’s Werke genau studiert und, nach Maßgabe und im Sinn seiner eigenen Vorlieben, über die Jahre hinweg ausführlich rezensiert (die Rezensionen in CW XI: „Grote’s History of Greece [I]“, 1846, 271–304; „Grote’s History of Greece [II]“, 1853, 307–336; „Grote’s Plato“, 1866, 375–440; „Grote’s Aristotle“, 1873, 473–510). Grote’s monumentales Oeuvre, das bis heute in der angelsächsischen Platonforschung nachwirkt, steht im Dienst des politischen Programms der Radicals. Der kulturelle Geist der Zeit bezog sich interessengeleitet auf das Vor-

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bild der Antike. Die konservative Seite sah in den gesellschaftlichen Turbulenzen und politischen Fehlschlägen des radikaldemokratischen Athen ihre antidemokratischen Vorannahmen bestätigt. Der progressiven Seite bot die Ära des Perikles mit ihren durch Kleisthenes und Perikles reformierten demokratischen Institutionen, ihrem politischen Erfolg, ihrem kulturellen Glanz, ihrer geistigen Freiheit und ihrem aktiven, weltoffenen Bürgerpatriotismus einen vermeintlich sicheren Wegweiser zivilisatorischen Fortschritts. Den konservativen Tories galten die Führer der liberalen Radicals als machtgierige Demagogen und traditionslose Sophisten antiken Zuschnitts; sie fanden in William Mitfords Werk The History of Greece (1784–1810, 5 Bde.), das auch der junge Mill kontinuierlich liest (CW I, 15), die gelehrte Stütze ihrer Ansichten. Grotes Werk verfolgt denn auch explizit das Ziel, Mitfords Oeuvre in seiner mangelhaften wissenschaftlichen Fundierung und fragwürdigen ideologischen Ausrichtung zu korrigieren und als aktuelles vertrauenswürdiges Referenzwerk klassischer Bildung zu ersetzen. In der Verteidigung der demokratischen Institutionen Athens, in der Würdigung der Stellung politischer Rhetorik und freier Debattenkultur, im revisionistischen Lob der Verdienste der antiken Sophistik für Erziehung, Politik und Moral sind Grote und Mill weitgehend einig (CW XI, 377, 391–393): Unter Perikles sei, wie die Reden bei Thukydides eindrucksvoll belegen, die Synthese der Prinzipien demokratischer Gleichheit, persönlicher Freiheit und engagierter Teilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten gelungen (Riley 2007; Kuenzle/Schefczyk 2009, 167–168; Demetriou 2013). Mill sieht sehr wohl auch Defekte der athenischen Demokratie (allem voran die politisch-rechtliche Exklusion der Theten, der Sklaven und Frauen). Doch ihre positiven Seiten stellen für ihn, im Blick auf seine, die viktorianische politische Gesellschaft, in On Liberty (s. Kap. III.13) und den Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14) so etwas wie eine republikanisch-demokratische Blaupause dar (Demetriou 2013, 190). Ähnliches gilt für das grundsätzliche Verständnis der Philo-

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sophie Platons: Die epistemischen und metaphysischen „Dogmen“ seiner mittleren und späten Werke seien Ausdruck poetischen Unernstes oder eines senilen Obskurantismus, die strenge negative Dialektik der frühen Werke mit ihrer Präferenz der Methode über den Inhalt zeugten von intellektueller Unabhängigkeit, ergebnisoffener Wissbegierde und hohem moralischem Sinn. Überhaupt stütze ein missverständlich „dogmatisch“ interpretierter Platon mit seinem Apriorismus die politische Reaktion, während der Dialektiker Platon in Verbindung mit einer konsequenten „Erfahrungsphilosophie“ modernen Zuschnitts dem politischen und gesellschaftlichen Fortschritt diene (vgl. dazu v. a. die oben genannten Grote-Rezensionen). 3. Mill betreibt Erfahrungsphilosophie. Er entwickelt in seinem monumentalen Werk A System of Logic Ratiocinative and Inductive (s. Kap. III.17) ihre ihm einzig passend erscheinende wissenschaftliche Methodologie. Nur als Logiker, Methodologe und Prinzipienforscher hält Mill selbst sich für originell (CW I, 251–253). Das Buch VI des System of Logic ist den Wissenschaften eines speziellen Bereichs und „Laufs der Natur“, nämlich „der menschlichen Natur und Gesellschaft“ gewidmet. Das Objekt dieser Wissenschaften, der „moral sciences“, unterscheide sich von den übrigen nicht der Art, sondern nur der Komplexität nach (Logic B. VI, Kap. 1–11). Den veritablen Unterschied zu den Wissenschaften setzen die Künste („arts“). Sie sprechen bevorzugt in Regeln, Empfehlungen und Geboten, in Soll-Sätzen, haben es mit Zwecken und Zielen zu tun, während die Wissenschaften sich in Ist-Sätzen äußern und auf Tatsachen und ihre Zusammenhänge beschränken. Sein und Sollen sind freilich aufeinander verwiesen, insofern realisierbare Zwecke an der Kontrolle gegebener Mittel hängen. Das letzte Kapitel des System of Logic befasst sich mit der „Logic of Practice, or Art; including Morality and Policy“ (Logic B VI, Kap. 12). Es gipfelt in dem Projekt einer „Lebenskunst“ („Art of Life“; s. Kap. V.32), die die generellen Prämissen zusammen mit den prinzipiellen Konklusionen praktischer Argumentation enthalten soll, eine

M. Forschner

Lehre von den (im Rahmen der Natur realisierbaren) Zielen aller Ziele, den Endzwecken des Lebens bzw. den Prinzipien praktischer Vernunft; sie umfasst die drei Bereiche des Rechten, des Nützlichen bzw. Guten und des Schönen und Noblen (CW VIII, 949–950). Den Begriff der Lebenskunst entnimmt Mill der hellenistischen Tradition. Insbesondere die Schule der Stoa hat in ihrem Konzept der Weisheit die Möglichkeit einer auf Erkenntnis der Natur beruhenden Lebenskunst (τέχνη περὶ τὸν βίον) gegen die Herausforderung der Skepsis verteidigt (Forschner 2018, 217–224, 257–259). Wie die Stoa wird auch Mill von der Frage bedrängt (CW I, 177; CW VIII, 836), ob und wie im Rahmen einer Natur, die durchgehend vom „Gesetz der Kausalität“ bestimmt ist, noch sinnvoll menschliche Freiheit zu denken sei. Und Mills kompatibilistische Beantwortung der Frage gleicht weitgehend jener, die bereits der Stoiker Chrysipp in seiner Zurückweisung eines untätigen Fatalismus gegeben hat (CW IX, 439; Forschner 2018, 122–136): Die grundsätzliche Möglichkeit einer (vollständigen) kausalen Erklärung bzw. sicheren Prognose unseres Handelns widerspreche keineswegs unserem Gefühl, in unserem Wollen und Handeln frei zu sein. Wir unterscheiden zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Antezedentien unseres Handelns, zwischen dem, was wir von uns aus oder was wir ungewollt bzw. gezwungenermaßen tun. Wir seien nicht bestimmten unserer Motive ausgeliefert; wir könnten unseren Charakter, unseren Informationsstand und zum Teil auch unsere Lebensumstände ändern, wenn wir es denn wollen. Der Wunsch, seinen Horizont zu erweitern, einem Motiv zu widerstehen bzw. seinen Charakter zu modifizieren, sei seinerseits kausal bedingt, durch Erziehung und Erfahrung, durch schmerzhafte Konsequenzen bisherigen Handelns oder durch ein starkes Gefühl der Bewunderung, das das Beispiel anderer gelegentlich in uns erregt. Ist der Wunsch zu schwach, um einem missbilligten, doch handlungsleitenden Motiv zu widerstehen, seien wir dahingehend nicht frei. So gesehen sei es richtig (sc. mit der Stoa) zu sagen, dass nur „a person of confirmed virtue is completely free“ (CW

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VIII, 841 [VI, Kap. 2, § 3]). Die kausale Beziehung zwischen unserem Wollen und seinen Antezedentien unterscheide sich nicht von den Kausalverhältnissen, die in der übrigen Natur vorherrschen. Wesentlich sei indes, in der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung lediglich eine „constancy of succession“ zu sehen, und nicht „mysterious constraint exercised by the antecedent over the consequent“ (CW VIII, 837–838 [VI, Kap. 2, § 2]). Für das Projekt der Lebenskunst ist ihm, neben der Klarstellung der Möglichkeit zur Selbstbildung, eine Klarstellung bezüglich der Art der „natürlichen“ Determination des Wollens durch Motive wichtig. Mill versteht sich als ethischer Hedonist in der Tradition des antiken Atomismus (s. Kap. V.29); doch er folgt ihrem Naturalismus nicht in blinder Manier. Die Gefühle von Lust und Schmerz stehen für ihn am Ursprung der Ziele unseres bewussten Wollens. Doch über Prozesse der Assoziation und Gewöhnung löse sich die enge Bindung von Wille, Handlung und dem Gewinn von Lust bzw. der Vermeidung von Schmerz. Der Vollzug von Handlungen könne so selbst zum Ziel werden, ohne durch sie auf Vergnügen oder dem Vermeiden von Leid aus zu sein. Ja, es wäre möglich, über entsprechende Gewöhnung einen festen Charakter zu entwickeln, der in seinen Handlungen im erhebenden Gefühl und Bewusstsein, das Rechte zu tun, von den „passive susceptibilities of pleasure and pain“ weitgehend unabhängig ist (CW VIII, 842–843 [VI, Kap. 2, § 4]). 4. Mill stellt seine Ethik in eine Traditionslinie „von Epikur bis Bentham“ (CW X, 209); dies freilich auf eine Weise, die auch platonische, aristotelische, stoische, ja selbst christliche Theorieelemente integriert sehen möchte. Für den Epikureismus ist die Lust objektiv das einzige selbstwerthafte Ziel des Lebens. Auch für Mills Utilitarismus ist das Glück, interpretiert in Begriffen der Lust, das Ziel aller Ziele (CW X, 210; s. Kap. V.35). Doch Mill glaubt sich dabei einig mit dem Sokrates der Memorabilien Xenophons (CW XI, 418) und dem jungen Sokrates des Dialogs Protagoras, der „listened to the old Protagoras, and asserted […] the theory

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of utilitarianism against the popular morality of the so-called sophist“ (CW VIII, 205; vgl. CW XI, 391). Er sieht in Sokrates, in Jesus von Nazareth und in Mark Aurel die tugendhaftesten und vorbildlichsten Menschen (CW XVIII, 235– 236), findet in Sokrates die Quelle sowohl „of the lofty inspiration of Plato“ als auch des „judicious utilitarianism of Aristotle“, und in beiden „the two headsprings of ethical as of all other philosophy“ (CW XVIII, 235). Mill möchte also nicht nur Sokrates, sondern auch Aristoteles als Utilitaristen in seinem Sinne verstanden wissen. Er kennt das gesamte Werk Platons; in den Rezensionen zu Grote kommen so gut wie alle platonischen Dialoge zur Sprache. An Aristoteles schätzt er neben den Schriften des Organon vor allem dessen Anthropologie. Zu Aristoteles’Rhetorik, Ethik und Politik bemerkt er in „Grote’s Aristotle“: „We may say […] of the Rhetoric, that besides its special worth in regard to its particular subject, which is even now considerable, it is one of the richest repositories of incidental remarks on human nature and human affairs that the ancients have bequeathed to us. In this consists also, in our judgment, the principal value of the Ethics and Politics, which, as treatises on those special subjects, have for their most marked characteristics that dread of extremes and love of the via media which were deeply rooted in Aristotle’s mind“ (CW XI, 504– 505). Direkte Verweise in Mills systematischem Oeuvre auf Aristoteles’ Traktate zur praktischen Philosophie sind spärlich. Er betont zwar in „Grote’s Plato“, im Unterschied zu Plato, der Gerechtigkeit als innerseelische bzw. innerstaatliche Ordnung bestimmte, habe Aristoteles vollständig erfasst, „that the essential part of the virtue of justice is the recognition and observance of the rights of other people“ (CW XI, 419). Doch erschien ihm der Stagirite in politischgesellschaftlicher Hinsicht, insbesondere was seine Aussagen zur Stellung von Sklaven und Frauen betrifft, als zu konservativ; seine Politik sei in der Hauptsache „a philosophic consecration of existing facts“ (CW XI, 505). Gleichwohl zeugen die methodologischen und inhaltlich-systematischen Parallelen im Rahmen der „Theory of Life“ der Utilitarismusschrift von

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einem substantiellen aristotelischen Einfluss (Irwin 1998). 5. Doch Mill ist auch von stoischen Gedanken geprägt (Forschner 2008). An vier systematisch wichtigen Stellen des Kap. 2 von Utilitarianism (s. Kap. III.12) verweist er ausdrücklich auf die Stoiker. Die erste Stelle betont, dass „in drawing out their scheme of consequences from the utilitarian principle“ den Epikureern eventuell Fehler unterlaufen, dass hier jedenfalls viele stoische ebenso wie christliche Elemente einzubeziehen wären (CW X, 211). Die zweite Stelle findet sich im Kontext der Erklärung der Wahl einer höheren gegenüber einer niederen Lebensweise (auch wenn die höhere mit Einbußen an „persönlichem Lebensgenuss“ verbunden ist), die Mill bei jenen Menschen unterstellt, die mit den Vergnügen beider Lebensweisen vertraut und zu unverzerrtem Urteil befähigt sind. Hier erwähnt Mill explizit die Stoiker (und namentlich nur sie) bei der Auflistung möglicher Motive, die uns die Option einer niederen (und ‚zufriedenen‘) Daseinsweise zurückweisen lassen (CW X, 212). Die dritte Stelle macht „manche Stoiker in den schlimmsten Zeiten des Römischen Reiches“ zu Kronzeugen einer bewundernswerten „Moralität der Selbsthingabe“ („self-devotion“), die in Zeiten recht unvollkommener politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse für sie selbst und für andere das größtmögliche Glück zu bereiten vermag (CW X, 218). Die vierte Stelle tadelt die Stoiker für ihren „paradoxen Missbrauch der Sprache“ und votiert, was die richtige Zielvorstellung betrifft, in der Sache für eine im Grunde aristotelische Verhältnisbestimmung von Tugend und Glück. Sie richtet sich gegen die Kernthese der stoischen Güterlehre, nach der nur das sittlich Gute (τὸ καλόν/honestum) als im veritablen Sinn etwas Gutes (ἀγαθόν/bonum) zu gelten hat und der sittlich Gute und nur er vollendet glücklich ist (CW X, 221). An allen relevanten Stellen wird klar, dass Mill auf Motive und Argumente der stoischen Ethik im positiven Sinn nur dann zurückgreift, wenn diese bei Platon oder Aristoteles vorgeprägt sind oder deren für sein Konzept des Utilitarismus brauchbare Theorieelemente merklich ergänzen. Welche Texte zur

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stoischen Philosophie Mill genauer gekannt hat, wissen wir nicht. Sein Gedanke des unverzichtbaren Wertes personaler Individualität in On Liberty (Kap. 3) ist nicht in platonischen oder aristotelischen Texten, wohl aber in der stoischen Kategorie der Einzigartigkeit (ἰδία ποιότης) jedes Dinges (Forschner 2018, 100–104) und der (wohl von Panaitios stammenden) Theorie „der vier personae“ vorgezeichnet; er könnte ihm bei Cicero (De officiis I, 107–121) begegnet sein. Das größte Verdienst der Stoa benennt Mill explizit in „Grote’s Plato“: Die Grundlage für Idee und Gefühl der Tugend nicht nur und primär in selbstbezogenen, sondern in sozialen, auf die gesamte Menschheit gerichteten Gefühlen zu sehen, „a truth first fully accepted by the Stoics, who have the glory of being the earliest thinkers who grounded the obligation of morals on the brotherhood, the συγγένεια, of the whole human race“ (CW XI, 419). Der in der Utilitarismusschrift namhaft gemachte universalistische Gedanke eines „sense of unity“ (CW X, 231), die natürliche Tendenz des Menschen, sich in einer verwandtschaftlichen Verbindung mit allen Menschen zu fühlen und zu wissen, geht eindeutig auf die Stoa zurück. 6. Mills Ethik hat deutlich synkretistische Züge. Er ordnet mitunter epikureischer Tradition zu, was nicht in ihr, sondern bei Platon, Aristoteles oder der Stoa beheimatet ist, wenn er etwa beteuert, man kenne „no known Epicurean theory of life which does not assign to the pleasures of the intellect, of the feelings and imagination, and of the moral sentiments, a much higher value as pleasures than to those of mere sensation“ (CW X, 211). Sein Begriff des Vergnügens umfasst alle Formen des Angenehmen, Lustvollen, Erfreulichen, Gefälligen und als schön Anmutenden, mit eindeutiger Privilegierung derjenigen Vergnügen, in denen Geist und Einbildungskraft im Spiel sind. Mill möchte die Position von Glaukon in Platons Politeia (v. a. 357b–358a), und die ähnliche von Polos im Dialog Gorgias, die zwischen moralisch gut und außermoralisch gut unterscheidet, das Angenehme, Vergnügliche und Freudvolle als selbstwerthaft und das Moralisch-Rechtliche funktional seiner Folgen wegen geschätzt wissen

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möchte, keineswegs eindeutig negativ bewertet wissen (CW XI, 395; Irwin 1998, 450–251): „This is a different doctrine from the common one of modern moralists, but not an immoral doctrine“ (CW XI, 396). Er selbst überwindet diese Position (Benthams und James Mills), die ausschließlich unter egozentrischer Prämisse positiver Folgen für eine allgemeine Kultur der Rechtlichkeit argumentiert, mit dem Gedanken des unmittelbar beglückenden Aspekts moralischer, großzügiger und selbstloser Handlungen (CW X, 213–214). Er appelliert nicht nur an „the feeling of unity with our fellow creatures“ (CW X, 227), sondern auch an einen „sense of dignity“ (CW X, 212). Wenn er davon spricht, dass Menschen, die ihrer höheren Fähigkeiten innewerden, nur noch glücklich sein können in einem Leben, das die erfüllende Betätigung dieser Fähigkeiten einschließt, dann ist dies ein Gedanke, dem in der Antike gerade der stoische Gegner des Epikureismus in seiner Oikeiosislehre adäquaten Ausdruck und eine solide Begründung gegeben hat (Forschner 2018, 163– 177). Mill setzt auf den Fortschritt (s. Kap. V.26). Er glaubt, dass sich die Übel der Welt durch Aufklärung, durch Wissenschaft und Technik, durch Erziehung und Bildung (s. Kap. V.24), durch die Veränderung politisch-gesellschaftlicher Institutionen beheben lassen. Er setzt auf das „edle Vergnügen“ des Kampfes gegen Armut, Krankheit, Bosheit und Unrecht. Doch er weiß auch um die epikureische, stoische und skeptische Einsicht, dass sich das Glück im Vollsinn nur demjenigen erschließt, der sich von seinem Lebenstrieb und den diesem ent-

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sprechenden Gütern zu distanzieren vermag. „I will add, that in this condition of the world, paradoxical as the assertion may be, the conscious ability to do without happiness gives the best prospect of realizing such happiness as is attainable. For nothing except that consciousness can raise a person above the chances of life, by making him feel that, let fate and fortune do their worst, they have not power to subdue him: which, once felt, frees him from excess of anxiety concerning the evils of life, and enables him, like many a Stoic in the worst times of the Roman Empire, to cultivate in tranquillity the sources of satisfaction accessible to him, without concerning himself about the uncertainty of their duration, any more than about their inevitable end“ (CW X, 217–218).

Literatur Demetriou, Kyriakos N.: The Spirit of Athens: George Grote and John Stuart Mill on Classical Republicanism. In: Kyriakos N. Demetriou/Antis Loizides (Hg.): John Stuart Mill. A British Socrates. Houndmills/Basingstoke 2013, 176–206. Forschner, Maximilian: Stoisches in John Stuart Mills „Utilitarianism“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 62/1 (2008), 1–30. Forschner, Maximilian: Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik. Darmstadt 2018. Irwin, Terence, H.: Mill and the Classical World. In: John Skorupski (Hg.): The Companion to Mill. Cambridge 1998, 423–463. Kuenzle, Dominique/Schefczyk, Michael: John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg 2009. Riley, Jonathan: Mill’s Neo-Athenian Model of Liberal Democracy. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought: A Bicentennial Reassessment. Cambridge 2007, 221–249.

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Moralischer Intuitionismus Christian Seidel

Es ist ein Gemeinplatz, dass die Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus ein Leitmotiv in Mills Werk ist und ihm persönlich viel bedeutete. So ist z. B. der Autobiography (s. Kap. III.11) zu entnehmen, dass Mill im Intuitionismus seiner Zeit eine Hauptwurzel für gesellschaftliche Übel, schlechte Institutionen und vorurteilsbeladene Praktiken, kurzum ein großes Fortschrittshindernis sah, dem er mit seinem Werk (v. a. auch den theoretischeren Schriften A System of Logic [s. Kap. III.17] und An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy, CW IX) den Nährboden entziehen wollte (CW I, 233–235, 269–270; CW XIV, 238–239). Demnach hatte Mill es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die (aus seiner Sicht schädlichen) praktischen Auswirkungen des Intuitionismus einzudämmen, indem er dessen philosophisches Fundament attackierte. Diese Sicht vom Intuitionismus als negativer Kontrastfolie hat ihre Berechtigung, kann allerdings dazu verleiten, die Funktion der Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus für Mills Werk zu einseitig zu beschreiben. Zwar grenzte sich Mill tatsächlich in mehreren

C. Seidel (*)  Professor für Philosophische Anthropologie, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

Hinsichten deutlich von intuitionistischen Positionen ab und wollte – was den moralischen Gehalt wie die psychologischen und epistemischen Grundlagen seiner Moraltheorie angeht – einen genuinen Gegenentwurf präsentieren. Der aufgeheizt-polemische Ton der Auseinandersetzung kann aber darüber hinwegtäuschen, dass mehrere Gemeinsamkeiten zwischen Mill und seinen Gegnern bestanden und Mill im Zuge der Auseinandersetzung Einsichten des Intuitionismus integrierte sowie Zugeständnisse machte, aus denen fruchtbare Impulse für die Entwicklung seines eigenen Utilitarismus (s. Kap. III.12) hervorgingen. Das wird erst sichtbar, wenn man die verschiedenen Linien in Mills Kritik des Intuitionismus differenzierter betrachtet und dabei die ideengeschichtliche Einbettung der Auseinandersetzung berücksichtigt.

Ausgangslage für die Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus Nachdem sich intuitionistische und utilitaristische Vertreter anfangs zu einer „freundlichen Allianz“ gegen Hobbes’ Egoismus verbündet hatten (Sidgwick 1981 [1907], 86), entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine zunehmende Opposition zwischen beiden Strömungen, deren Streit dann die britische Moralphilosophie im 19. Jahrhundert dominieren sollte (Schneewind

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_9

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1965). Insbesondere Bentham trug zur Zuspitzung auf ein Duell zwischen zwei (Klassen von) ethischen Theorien bei, indem er erstens – einer bei William Paley (1785, Kap. v) angelegten Linie folgend – alle nicht-utilitaristischen Positionen grobschlächtig unter ein Dach zusammenfasste (Bentham 1996 [1789], Kap. I–II, insb. 25–26 mit Anm. d) und zweitens alle Ansätze, die sich nicht wie der Utilitarismus auf einen „externen“, sondern auf einen „internen“ Standard (z. B. den moral sense oder common sense) beriefen, als verhohlenen Dogmatismus zur Bewahrung des Status quo kritisierte. Damit waren die Weichen für ein unversöhnliches Lagerdenken gestellt, dem die britische Moralphilosophie (mit unterschiedlichen Akzentuierungen) für etwa hundert Jahre folgte. Es ist eben jene Passage von Bentham, die Mill als eine ihn nachhaltig prägende Offenbarung beschrieb (CW I, 67) und die er in einer zentralen Auseinandersetzung mit William Whewell, einem seiner intuitionistischen Hauptgegner, zitierte (CW X, 177 f.). Immer wieder nahm Mill auf eine fundamentale Dichotomie Bezug, die als (eher erkenntnistheoretisch-psychologisch verstandene) „Doktrin der zwei Schulen“ (Anschutz 1953, Kap. IV) zu einem Fixpunkt in seinem Werk wurde. Whewell seinerseits setzte Ben­ th­ams Zweiteilung (u. a.) unter dem Namen „dependent vs. independent morality“ fort (Whewell 1852, ix; für weitere Bezeichnungen vgl. Whewell 1864, 1) und fügte ihr mit „independent morality vs. morality of consequences“ (Whewell 1852, 86) sowie „morality of principles vs. morality of consequences“ (Whewell 1852, 78) im Vorgriff auf die zeitgenössische Unterscheidung zwischen Deontologie und Konsequentialismus eine inhaltliche Dimension hinzu. Bentham hatte mit dem Dogmatismus-Vorwurf zudem eine Kritiklinie am nicht-utilitaristischen Lager vorgegeben, welche die Aufmerksamkeit auf die (sozialreformerischen oder reaktionären) politischen Implikationen beider Ansätze lenkte. In einer Zeit zahlreicher Transformationsprozesse, die etablierte gesellschaftliche Machtgefüge zu verändern drohten, stand die moralphilosophische Debatte fortan immer im Zeichen des Ringens um öffentliche Vorherr-

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schaft und um Einfluss auf die Gestaltung dieser Umbrüche. Mill machte das in den eingangs genannten Bemerkungen oder auch mit der Rahmung „progressive vs. konservative Intellektuelle“ seines Essaypaars „Bentham“ (1838; CW X, 75–116) und „Coleridge“ (1840; CW X, 117–163) unverblümt deutlich. Whewell seinerseits sah nicht nur in Bentham und den Radicals (Schneewind 1977, 105), sondern auch im theologisch fundierten Utilitarismus Paleys (dessen Buch Pflichtlektüre an Whewells Universität Cambridge war) eine Gefahr für den christlichen Glauben, der er mit seinen eigenen – explizit als Ersatz für Paley konzipierten – Schriften entgegentreten wollte. Wie Mill verfolgte also auch Whewell sozialpolitische Interessen (freilich unter anderen Vorzeichen) und wollte der intuitionistischen Position (auch – aber nicht nur – in der Universitätspolitik) Einfluss und Vorherrschaft sichern (Williams 1991). Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus muss vor dem Hintergrund dieser sozialpolitisch motivierten Polarisierung eingeordnet werden. Das Lagerdenken machte nämlich ein unzweideutiges Bekenntnis zu einer Seite erforderlich, weil jedes Bemühen um Ausgewogenheit, Differenzierung oder gar interne Kritik Gefahr lief, innerhalb der eigenen Gruppierung wie in der öffentlichen Wahrnehmung als Fahnenflucht (miss-)verstanden zu werden und so der Gegenseite zu Erfolg zu verhelfen. Das ist eine schwierige Ausgangslage für jemanden, der sich sowohl ‚nach außen‘ vom Intuitionismus als auch ‚nach innen‘ vom Benthamismus abgrenzen und einen Utilitarismus eigener Prägung entwickeln wollte (vgl. CW XII, 207: „I am still, & am likely to remain, a utilitarian; though […] in quite another sense from what perhaps any one except myself understands by the word“).

Die Entwicklung der Auseinandersetzung Die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus durchzieht Mills gesamtes Werk. Besonders zentral sind die kritischen Rezensionen der Arbeiten

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von Adam Sedgwick („Sedgwick’s Discourse“, 1835, CW X, 31–74), William Whewell (in „Whewell on Moral Philosophy“, 1852, CW X, 165–201, sowie in Teilen von A System of Logic, 1843, 31851) und William Hamilton (An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy, 1865). Die Diskussion fand dabei sowohl auf moralphilosophischer wie auf erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Ebene statt. Diese Mehrgleisigkeit erklärt sich zum einen daraus, dass der moralische Intuitionismus in erster Linie epistemisch – durch den Rückgriff auf Intuitionen als Quelle moralischer Erkenntnis – charakterisiert wurde. Für Mill war der Bezug auf Intuitionen im spezifischen Bereich der Moral untrennbar verquickt mit einer „aprioristischen“ Auffassung von Struktur und Quelle unseres Wissens im Allgemeinen (CW X, 171). Diese Auffassung wollte er mit seiner Konzeption von Schlussfolgerung und Induktion korrigieren – so wie umgekehrt Whewell sie mit seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gerade stärken wollte (Williams 1991, 135–137). Zum anderen ist die Mehrgleisigkeit der Debatte darauf zurückzuführen, dass die Wissenschaftlichkeit moralphilosophischer Positionen für beide Lager eine zentrale Bewertungskategorie war. Mill sah den Utilitarismus hier klar im Vorteil (CW X, 173), während Whewell diesen Vorteil mit einer intuitionistischen Deutung von Erkenntnis und Fortschritt in der Wissenschaft gerade egalisieren wollte (Snyder 2006, 245). Im Laufe der Diskussion verlagerte sich der Schwerpunkt von Mills Kritik am Intuitionismus tendenziell auf die theoretische Ebene. Diese erste Hauptentwicklungslinie mündete 1865 in An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy, wo Mill die aus der Logic ausgelagerte anti-intuitionistische Grundlagenarbeit in Metaphysik und Philosophie des Geistes leistete (CW VII, 6–9, 54; CW VIII, 746–747, 963–964) und den Intuitionismus – passenderweise kurz vor seiner erfolgreichen Parlamentskandidatur – auf dieser Ebene in ein öffentliches Handgemenge („hand-to-hand fight“, CW I, 270) verwickelte (Robson 1979, lxxiv).

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Die Debatte erreichte ihren Höhepunkt um 1850 herum mit der auf beiden Ebenen geführten Auseinandersetzung zwischen Mill und Whewell (s. Kap. VI.42): Nachdem Mill seine anti-intuitionistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in A System of Logic 1843 erst dank Whewells Vorarbeiten History of the Inductive Sciences (1837a) und The Philosophy of the Inductive Sciences (1840) fertigstellen konnte (CW I, 215–217, 231), tat Whewell ihm – wohlkalkuliert (Anschutz 1953, 163) – nicht eher als 1849 den Gefallen jener öffentlichen Erwiderung, auf die Mill von Beginn an spekuliert hatte, um die Rezeption der Logic zu befeuern (CW I, 215–217, 231). Mill antwortete 1851 mit zahlreichen Veränderungen in der dritten Auflage der Logic. Zeitnah nahm die Debatte auch in der Moralphilosophie an Fahrt auf: Noch im Jahr des Erscheinens von Whewells Lectures on the History of Moral Philosophy in England (1852) publizierte Mill seine Rezension, die auch Whewells 1845 (21848) erschienene Schrift The Elements of Morality einbezieht. Sie gilt als die wohl barscheste und verständnisloseste Rezension, die Mill je verfasste (Schneewind 1968, 109n3). Zwei Jahre später antwortete Whewell im Anhang zur dritten Auflage der Elements ausführlich auf Mills Vorwürfe (ohne diesen namentlich zu nennen). Es ist wichtig zu sehen, dass die Auseinandersetzung – mit dem Intuitionismus im Allgemeinen wie mit Whewell im Besonderen – jedoch schon deutlich vor 1850 einsetzte: Bereits 1836 diskutierte Whewell Bentham kritisch im Rahmen eines Vorworts zu einer Neuausgabe von Mackintoshs Dissertation und machte dabei eine Tendenz unter utilitaristischen Autoren aus, eher beschwichtigend zu vereinigen statt zu schockieren (Whewell 1836, 32). Damit hatte er wohl zwei (aus Rücksicht auf James Mill anonym veröffentlichte) Aufsätze John Stuart Mills im Blick: In „Remarks on Bentham’s Philosophy“ (1833; CW X, 3–18) hatte Mill nämlich Bentham (u. a.) für dessen verkürzte Konzeption von Konsequenzen kritisiert, die dispositionsbildende Auswirkungen auf den Charakter nicht berücksichtige (CW X, 7–9). Denselben Punkt brachte Mill 1835 in seiner Rezension

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von Adam Sedgwicks A Discourse on the Studies of the University (1833) auch gegen Paley vor (CW X, 55–56). Als Freund Sedgwicks war Whewell diese Rezension ganz sicher bekannt; so betrachtete er genau diesen Punkt – Mill teils wörtlich zitierend – als wichtiges Zugeständnis an das anti-utilitaristische Lager (Whewell 1836, 26–27, 32–33). Whewell kannte zudem Mills „Bentham“ von 1838: In einem Brief stimmte er der darin enthaltenen Kritik an Bentham (die u. a. den oben genannten Punkt enthielt, vgl. CW X, 111–113) inhaltlich zwar zu, missbilligte aber den Versuch, zunächst Benthams Gegner zu schmähen und dann mit Zugeständnissen auf deren Seite zu wechseln, ohne dies zu thematisieren (Todhunter 1876, 270). Whewell durchschaute damit ein strategisches Muster in Mills frühen Arbeiten (Priestley 1969, vii–xxxiv): Mill verteidigte das utilitaristische Programm zwar wortstark gegen externe Kritik aus dem antiutilitaristischen Lager (so auch in „Sedgwick’s Discourse“, wo er Paley und Locke gegen die universitätspolitisch motivierte Kritik von Sedg­ wick in Schutz nahm); er zeigte sich dabei aber immer auch als interner Kritiker an den damaligen Koryphäen des Utilitarismus. Diese Vorgeschichte im Blick zu behalten, ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen begriff Mill die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus von Beginn an – bereits als er 1830 die Arbeit an der Logic mit den methodischen Grundlagen der Sozialwissenschaften (später Buch VI) begann – als ein integratives Bemühen um Vielseitigkeit („many-sidedness“) bei der Zusammenführung „of the reaction of the nineteenth century against the eighteenth“ (CW I, 167–171, auch 269–270; vgl. CW X, 125; CW I, 227). Die Kritik am Utilitarismus Benthams und Paleys ist vor diesem Hintergrund zu verstehen als Bemühen um utilitarismusinterne Abgrenzung mit dem Ziel, halbe Wahrheiten („half truths“, CW I, 171) zu vereinigen (CW X, 122). Zum anderen sah Mill sich angesichts der oben beschriebenen schwierigen Ausgangslage zum Zeitpunkt der Publikation von „Whewell on Moral Philosophy“ zu einem Strategiewechsel genötigt (CW X, 494; CW I, 225–227): Er musste einsehen, dass seine frühere interne Kri-

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tik den Gegnern des Utilitarismus in die Hände gespielt hatte. Den angerichteten Schaden sollte „Whewell on Moral Philosophy“ korrigieren. Um 1850 wollte Mill also rhetorisch deutlicher Farbe bekennen, um einer gegnerischen Instrumentalisierung seiner eigentlich um integrative Vielseitigkeit bemühten Ansichten zuvorzukommen. Wenn man Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus auf den Höhepunkt der Debatte mit Whewell um 1850 verkürzt, übersieht man diese zweite Hauptentwicklungslinie: wie Mill in dem Balanceakt, sich durch ein Bekenntnis zum Utilitarismus vom Intuitionismus abzugrenzen und zugleich den Utilitarismus durch interne Kritik weiterzuentwickeln, den Schwerpunkt aus strategischen Gründen verschob. Das verleitet zu einer entsprechenden Überbetonung der externen Abgrenzung (d. h. der Kritik am Intuitionismus) und zu einer Vernachlässigung der im Zuge der internen Abgrenzung gemachten Zugeständnisse an den Intuitionismus.

Mills Verständnis des (moralischen) Intuitionismus Die Rede von ‚dem‘ moralischen Intuitionismus verdeckt, dass es sich dabei nicht um eine homogene Position handelt, sondern um eine Klasse von Positionen, die eine Gemeinsamkeit aufweisen. Diese Gemeinsamkeit wird heute oft – aber nicht einheitlich – in einer Theorie moralischer Rechtfertigung gesehen, derzufolge die Rechtfertigung moralischer Urteile auf nicht-inferenziell erzeugte moralische Überzeugungen oder selbstevidente Propositionen zurückgreifen muss. Mill ein solches Verständnis zu unterstellen, hieße jedoch, einem anachronistischen Missverständnis aufzusitzen: Weder war der Terminus ‚Intuitionismus‘ (im Unterschied zu ‚Utilitarismus‘) um 1850 herum bereits etabliert, noch war die Position inhaltlich im heutigen Sinne moralepistemologisch ausdifferenziert. Vielmehr wirkten Mill und Whewell an Formung und Etablierung jener Begriffe mit, mit denen wir die Diskussion heute beschreiben. Terminologisch sprach Mill manchmal von „intuitive school“ (CW I, 233; CW X, 179; CW

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IX, 228; mit Zusatz „of morals“ bzw. „of ethics“: CW X, 193 bzw. 206; mit Zusatz „of metaphysicians“: CW IX, 250), manchmal von „the intuition doctrine“ (CW X, 172), „doctrine of intuitive morality“ (CW X, 300), „ethics of intuition“ (CW X, 172) oder von „theory of intuitive principles of morality“ (CW X, 51) – aber (entgegen Heydt 2012) nie von „intuitionism“. Entsprechend seinem Zugeständnis, dass es für diese Position vielerlei Namen gebe (CW X, 50– 51), bezeichnete er sie – unter anderem – auch als „a priori school“ (CW I, 233; CW X, 125– 126, 170–171, 300; CW XI, 341) und stellte sie der „induktiven Schule“ gegenüber – was Sidg­ wick später als „gedankliche Verwirrung“ und „irreführenden Gegensatz“ (Sidgwick 1981 [1907], 97–98) bezeichnete. Mill charakterisierte die unter diesen Bezeichnungen geführte Position ‚des‘ Intuitionismus inhaltlich eher diffus als eine Theorie moralischer Urteile (CW X, 50–51), die mehrere nicht klar unterschiedene Thesen umfasste über (A) die Genese (d. h. den Ursprung und Prozess des Bildens und Erkennens) von wahren moralischen Überzeugungen, (B) ihre Begründung (d. h. die rationale Grundlage und Struktur ihrer Rechtfertigung) und (C) ihren Gehalt. Die Bereiche (B) und (C) ergeben zusammen eine ethische Theorie darüber, was tatsächlich moralisch richtig ist, während (A) und (B) zusammen eine Auffassung darüber liefern, wie wir herausfinden (können), was moralisch richtig ist. Mill schrieb dem Intuitionismus in Bezug auf (A) die Auffassungen zu, dass Menschen über ein angeborenes Vermögen (ein Gewissen, einen moralischen Sinn oder Instinkt) verfügen, moralisch Richtiges und Falsches als solches zu erkennen; dieses eigenständige Vermögen sei den Verstandesfähigkeiten – nicht den sinnlichen Fähigkeiten – zuzurechnen und richte sich nicht auf konkrete Einzelfälle, sondern auf allgemeinere moralische Grundsätze (CW X, 51, 52, 61, 126, 206, 208, 230). Dabei unterstellte er, dass Ausübungen dieses Vermögens zu einhelligen und unabänderlichen moralischen Überzeugungen führten (CW X, 51, 179, 194, 251). Mill setzte diesem „Innatismus“ seinen Assoziationismus entgegen, demzufolge das Vermögen

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zur moralischen Erkenntnis erworben und in weitreichender Weise form- und kultivierbar sei (CW X, 62, 179, 194, 230). Alles, was aus der Ausübung des so verstandenen Vermögens der Intuition hervorgeht, bezeichnete Mill adjektivisch und adverbial als „intuitiv“ (z. B. „intuitives Wissen“, CW IX, 34, 36, „intuitiv glauben“, CW IX, 125) bzw. substantivisch als „Intuition“ (im Sinne des Zustands, der aus der Ausübung des Vermögens der Intuition resultiert; z. B. CW IX, 113). Er verwendete die Ausdrücke dabei im Sinne von „unmittelbar“ und von „nicht-inferenziell“ (z. B. CW VII, 6–9, 53–54, 209, 216, 283; CW VIII, 963–964; CW IX, 113–114, 125, 156) – und zwar in zweifacher Hinsicht: in Bezug auf (A) genetisch, d. h. als deskriptive Charakterisierung von Zuständen, die unmittelbar bzw. nicht-inferenziell zustande gekommen sind; und in Bezug auf (B) epistemisch, d. h. als normative Charakterisierung von Zuständen, die unmittelbar bzw. nicht-inferenziell gerechtfertigt sind. Wie lässt sich feststellen, ob eine Erkenntnis intuitiv ist? Bei Mill spielen zwei Kriterien bzw. Indikatoren eine Rolle (Macleod 2013, 52– 55; Miller 2010, 16–24). Wie Whewell und Hamilton betonten, verleihen Unmittelbarkeit und Nicht-Inferenzialität den Intuitionen erstens eine besondere phänomenale Qualität: Etwas erscheint uns unausweichlich, unwiderstehlich, notwendig, zwingend oder nicht anders vorstellbar (CW VII, 245, 263; CW IX, 142–143). In vielen Fällen, so Mill, lasse sich dieser Eindruck aber auch auf einen automatisch und unbewusst ablaufenden, qua Assoziation verinnerlichten inferenziellen Prozess zurückführen (CW VII, 7–8, 238–239, 243; CW IX, 67, 140, 177– 178, 188). Nur wenn es zweitens nicht möglich ist, diese phänomenale Qualität psychologischassoziationistisch zu erklären und somit auf erworbene Erfahrungen zurückzuführen, handle es sich wirklich um intuitives Wissen; das sei bei Wissen aus der Erinnerung der Fall (CW IX, 165n). Unmittelbarkeit und Nicht-Inferenzialität führen im Bereich (B) zum intuitionistischen Bild von der (aprioristischen) Grundlage und (fundamentalistischen) Struktur der Recht-

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fertigung moralischer (wie auch nicht-moralischer, vgl. CW X, 171, 126) Überzeugungen: Demnach seien moralische Überzeugungen über konkrete Einzelfälle inferenziell gerechtfertigt durch grundlegende moralische Prinzipien, den „Intuitionen“, die ihrerseits unmittelbar und nicht-inferenziell gerechtfertigt seien. Charakteristisch sei dabei die Evidenzgrundlage, auf der dieser Status der fundamentalen Grundsätze (unmittelbar und nicht-inferenziell gerechtfertigt zu sein) dem Intuitionismus zufolge beruht (CW X, 206, 169–171, 125; CW I, 233;): Ihre Wahrheit könne a priori, ohne äußere Evidenz, d. h. unabhängig von Beobachtung und Erfahrung, allein kraft innerer Vergewisserung oder introspektiver Eingebung eingesehen werden; insofern seien sie selbstevident. Mill setzte dieser Auffassung von der Rechtfertigungsgrundlage von (moralischen) Überzeugungen einen erfahrungsbasierten Induktivismus entgegen. Die oben genannten Aspekte (A) und (B) dominieren Mills Darstellung des Intuitionismus. An einigen Stellen jedoch charakterisierte Mill den Streit auch (C) als eine inhaltliche Auseinandersetzung um den Gehalt der fundamentalen moralischen Überzeugungen, d. h. um die normative Frage erster Stufe, was richtig und falsch ist (CW X, 51–52, 172, 176–177). Dabei ging es Mill – wie wohl auch Whewell (Whewell 1836, 16; 1852, xx, 210) – nicht (nur) um die Frage der Extension, welche Handlungen in die Kategorie der richtigen Handlungen fallen, sondern um die Frage der Intension, was Handlungen moralisch richtig oder falsch macht: Sind es ihre Konsequenzen (insb. die Auswirkungen auf das menschliche Glück) oder – unabhängig von den Konsequenzen – ihre inhärenten Eigenschaften (CW IX, 454; CW X, 170, 176, 180)? Mill zufolge ist der Intuitionismus nicht nur anti-konsequentialistisch – eine Charakterisie­ rung, die Whewell (1852, 78, 87) teilte und Sidg­wick (1981 [1907], 96–97) später differenzierter aufgriff –, sondern auch pluralistisch, da er mehrere grundlegende Moralprinzipien anerkenne (CW VIII, 951; CW X, 206–207, 230). Zwar hat Mill an einigen Stellen durchaus gesehen, dass intuitionistische Thesen in den Bereichen (A) und (B) mit einer utilitaristischen

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Position im Bereich (C) grundsätzlich vereinbar – und die epistemische und moralische Ebene insofern voneinander trennbar – sind (CW X, 230; auch 5–6). Es überwiegt jedoch der Eindruck, dass Mill – wenn auch nur kontingent – mit dem Intuitionismus charakteristischerweise über (A) und (B) hinaus auch (C) eine substantielle moralische Position verband, nämlich einen anti-konsequentialistischen Prinzipienpluralismus. Mill setzte diesem mit seinem Utilitarismus eine monistische, konsequentialistische Position entgegen. Im zeitgenössischen (primär metaethischen) Verständnis wird der Intuitionismus zum Teil über die metaphysische These charakterisiert, dass es nicht-natürliche moralische Eigenschaften oder Tatsachen sui generis gebe. An einer Stelle kam Mill einer solchen Charakterisierung nahe (CW X, 51): Dem Intuitionismus zufolge sei der Unterschied zwischen richtig und falsch grundlegend und unexplizierbar („an ultimate and inexplicable fact“), eine unergründliche Eigenschaft eigener Art („a peculiar and inscrutable property“). Der Utilitarismus hingegen führe diesen Unterschied – d. h. die falsch oder richtig machende Eigenschaft von Handlungen („what constitutes them moral or immoral“) – auf gewöhnliche Eigenschaften („ordinary properties“) zurück, nämlich auf Auswirkungen für menschliches Glück. Im Vergleich zu (A), (B) und (C) spielte dieser metaphysische Aspekt für Mill jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Primär scheint Mill unter ‚dem‘ Intuitionismus also einen Schmelztiegel aus einer erkenntnistheoretischen Auffassung (Fundamentalismus und Apriorismus auf Grundlage eines psychologischen Innatismus) und einer moraltheoretischen Position (anti-konsequentialistischer Pluralismus) verstanden zu haben. Damit verquickte er in seiner Charakterisierung des Intuitionismus deskriptive, epistemische, moraltheoretisch-strukturelle sowie moralisch-normative Aspekte miteinander. Dies erklärt, warum Mill epistemischen Erwägungen überhaupt so eine gewichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus einräumte: Er glaubte, dass eine falsche Auffassung

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von den psychologischen und rationalen Grundlagen unserer Erkenntnis letzten Endes über die moraltheoretische Ebene zu moralisch problematischen inhaltlichen Positionen führen würde. Die Kritik am epistemischen Fundament war für ihn also ein Hebel, mit dem das ganze intuitionistische Gebäude zum Einsturz gebracht werden sollte. Zugleich erleichterte die Verquickung verschiedener Aspekte Mill diese Aufgabe, weil sie mehrere Angriffspunkte auf verschiedenen Ebenen lieferte. Entsprechend vielschichtig ist Mills Kritik am Intuitionismus. Eine analytische Unterscheidung der verquickten Aspekte ermöglicht es, verschiedene Linien in dieser Kritik zu identifizieren und differenziert zu behandeln sowie die durch eine Vermischung übertünchten Gemeinsamkeiten zwischen Mill und Whewell offenzulegen.

Mills Kritik am (moralischen) Intuitionismus Mills kritische Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus lässt sich schriftenübergreifend in einen defensiven und einen offensiven Teil gliedern. Im defensiven Teil (insbesondere in Teilen von „Sedgwick’s Discourse“ und „Whewell on Moral Philosophy“) verteidigte Mill Bentham gegen einige Einwände aus dem intuitionistischen Lager. Die Verteidigung wirkt insgesamt zwar rhetorisch vehement, fällt stellenweise aber auch etwas halbherzig aus und macht zum Teil Zugeständnisse. Das liegt daran, dass Mill einige der Einwände in Bezug auf den Benthamismus als durchaus berechtigt ansah und in verwandter Form zuvor bereits selbst vorgebracht hatte (Priestley 1969, xv–xvii, xxxvi–xxxviii): etwa dass die bewusst deliberative Berechnung hedonistischer Konsequenzen vom Handeln abhalte (CW X, 66, 12); dass das utilitaristische Prinzip in entwürdigender Weise Trübsinn oder Selbstsucht kultivieren könne (CW X, 66, 16); dass die Konsequenzen einer Handlung sowie die menschliche Natur und Charakterbildung zu eng und verkürzt verstanden würden (CW X, 55–56, 7–8, 12, 16–17); oder dass die Wechsel-

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wirkungen zwischen Charakterbildung und sozio-historischen Umständen sowie der Beitrag von Gesetzen zur moralischen Erziehung zu wenig Berücksichtigung fänden (CW X, 195– 196, 9, 95, 98–99). An genau diesen Stellen entwickelte Mill seine Variante des Utilitarismus weiter und emanzipierte sich vom Bentham’schen Erbe. Insofern hatte die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus an dieser Stelle für Mill eine konstruktive Funktion und diente nicht nur als Kontrastfolie zur Abgrenzung. Diese konstruktive Funktion wird auch bei der Verteidigung gegen andere Einwände deutlich, die Mill nicht als valide ansah. Instruktiv ist hier die Replik auf Whewells ersten Haupteinwand (CW X, 180–183): Whewell hatte eingewendet, dass sich die aus einer Handlung resultierenden Vergnügen und Schmerzen angesichts der erheblichen Unsicherheiten nicht in der zur Festlegung des moralischen Status notwendigen Weise berechnen ließen (Whewell 1852, 210–215). Mill entgegnete, dass wir sehr wohl einige Konsequenzen unseres Handelns in ausreichendem Maße abschätzen könnten – nicht indem wir die einzelne Handlung betrachteten, sondern indem wir die Konsequenzen einer Vielzahl von Handlungen dieses Typs unter der Annahme abschätzten, dass dieser Handlungstyp durch eine etablierte Regel als zulässig gelten würde. Die Balance der positiven wie negativen Konsequenzen dieser Situation sei epistemisch leichter zu erfassen, weniger unsicher und könne als Indikator für die Balance der Konsequenzen der einzelnen Handlung dienen. Ohne sich damit auf eine regelutilitaristische Position bzgl. der falsch bzw. richtig machenden Eigenschaften festzulegen, führte Mill damit eine regelbasierte Heuristik zur Abschätzung der Konsequenzen einer einzelnen Handlung in der praktischen Deliberation (d. h. für epistemische Zwecke) ein. Bei einigen der Einwände, die Mill auch als relevant für seine eigene Variante des Utilitarismus ansah und darum tatsächlich abwehren wollte, ist er der philosophischen Tiefe dieser Einwände jedoch nicht immer gerecht geworden. Beispielsweise kann Whewells zweiter Haupteinwand verstanden werden als Kritik an

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der utilitaristischen Erklärungsrichtung (CW X, 183–185): Etwas sei nicht moralisch erstrebenswert oder tugendhaft, weil es Vergnügen bereite, sondern es bereite umgekehrt Vergnügen, weil es moralisch erstrebenswert oder tugendhaft sei (Whewell 1852, 215). Mill verkannte diese Pointe in seiner Replik und unterstellte Whewell stattdessen, Utilitarismus und (normativen) Egoismus verwechselt zu haben. Der offensive Teil von Mills schriftenübergreifender Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus lässt sich in drei Kritiklinien gliedern. Sie greifen unterschiedliche Aspekte des von Mill vielschichtig verstandenen Intuitionismus an und sind damit auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. 1. In der auf den moralischen Gehalt zielenden moralischen Kritiklinie warf Mill dem Intuitionismus in erster Linie Fortschrittsfeindlichkeit vor. Dieser habe unhaltbar rückschrittliche moralische Implikationen, weil er Politikmaßnahmen rechtfertige, die einen ungerechten Status quo erhalten würden oder gar reaktionär seien – insbesondere in Bezug auf die Sklaverei, die Ehe, das Wohl von Tieren und religiöse Toleranz (CW X, 168–169, 179, 186–188, 197–200; CW I, 233–235, 269–270). Offen ist, wie eng dieser Zusammenhang zwischen Intuitionismus und Fortschrittsfeindlichkeit in Mills Augen war. An einigen Stellen machte er den stärkeren Vorwurf, dass moralischer Fortschritt im Intuitionismus gänzlich unmöglich sei (CW X, 73–74): Weil die intuitiv erkannten moralischen Prinzipien als ewig und unveränderbar gälten, würden sie gewöhnliche Vorurteile in Stein meißeln (CW X, 179). An anderen Stellen schränkte Mill den Vorwurf der Fortschrittsfeindlichkeit zeitlich ein: Der Intuitionismus habe „in these times“ (CW I, 269) bzw. „in an age of progress“ (CW I, 269) unhaltbar rückschrittliche Implikationen. Auch die in diesem Kontext öfter anzutreffende vorsichtige Formulierung, dass es eine „Tendenz“ („tendency“) zu solchen Implikationen gebe (CW X, 168, 179; CW I, 270), spricht dafür, dass Mill keinen allgemeinen notwendigen, sondern nur einen zeitlich beschränkten, kontingenten Zusammenhang von Intuitionismus und Konservatismus sah (Skorupski 1989, 31).

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2. Die moraltheoretische Kritiklinie thematisiert grundsätzliche Grenzen und Schwächen der intuitionistischen Auffassung von der Struktur moralischer Rechtfertigung. Diese Kritiklinie ist recht heterogen, lässt sich aber systematisieren als Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Insbesondere Whewell nahm diesen Vorwurf sehr ernst, weil er von dem Anliegen getrieben war, seinen inhaltlich eher religiös geprägten Moralvorstellungen eine mit der neuen wissenschaftlichen Weltsicht kompatible Grundlage zu geben (Schneewind 1977, 104–106). Unwissenschaftlichkeit manifestierte sich für Mill gleich in mehreren Hinsichten: Die intuitionistischen Prinzipien seien weder evidenziell gestützt, da es das unterstellte einhellige Votum der Menschheit dazu faktisch nicht gebe (CW X, 179, 194) und die Berufung auf die Intuition einfach nicht ausreiche, um die einschlägigen Prinzipien eindeutig zu identifizieren (CW V, 650–651). Noch seien die Prinzipien argumentativ gestützt, da die Voraussetzungen für ihre Ableitung inhaltlich leer und nichtssagend seien (CW X, 190–191). Die Prinzipien würden häufig nicht einmal explizit kodifiziert (CW X, 64) und schon gar nicht systematisiert (CW X, 206–207). Sie seien entsprechend unbestimmt: Oft sei gar nicht klar, was ein Prinzip überhaupt impliziere (CW X, 64–65; CW V, 652), und aus demselben Prinzip ließen sich gegenläufige Schlussfolgerungen ableiten (CW V, 654–655). Der Prinzipienpluralismus verfestige diese Schwierigkeiten, den Standards der Wissenschaftlichkeit zu genügen (CW VIII, 951; CW X, 206–207): Selbst wenn die Implikationen verschiedener Prinzipien hinreichend klar seien, so könnten diese Implikationen doch konfligieren. Der Konflikt könne nur mittels eines allgemeineren Prinzips beigelegt werden – und zwar in Form einer konsequentialistischen Abwägung der Auswirkungen auf das Gemeinwohl bzw. menschliche Glück (CW V, 650; CW X, 111). Nach Mill greife der Intuitionismus nicht nur bei der Vermittlung verschiedener Prinzipien, sondern auch bei der (selten überhaupt versuchten) Begründung seiner Annahmen auf utilitaristische Überlegungen zurück (CW X, 192–193). Somit seien die intuitionisti-

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schen Prinzipien lediglich Korollare des utilitaristischen Prinzips (CW V, 651). Dass der Intuitionismus sozusagen unbewusst utilitaristische Züge und insofern einen „hybriden Charakter“ aufweise (eine Argumentationslinie, die Sidg­ wick dann fortsetzte; Sidgwick 1981 [1907], 86), mache ihn letztlich inkonsistent (CW X, 193). Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit stand auch im Raum, wenn Mill Whewell zirkuläre Terminologie (CW X, 187–190) und hermeneutische Unfairness (CW X, 172–174), Hamilton die missbräuchliche Verwendung von Sprache (CW IX, 46) und Sedgwick (sowie Benthams Gegnern im Allgemeinen) den strategischen Einsatz von Geschrei und hohlen Phrasen zur Kaschierung argumentativer Lücken attestierte (CW X, 74, 84). Am schwersten wog für Mill aber, dass es dem Intuitionismus in Folge aller moraltheoretischen Unzulänglichkeiten an kritischem Potenzial fehle: Eine wissenschaftlich fundierte Moraltheorie solle den Geltungsanspruch bestehender moralischer Urteile eigentlich prüfen und erst erweisen. Der Intuitionismus jedoch erhebe weit verbreitete, anerzogene Auffassungen einfach ohne fundierte Begründung oder Evidenz zu Axiomen und Dogmen (CW V, 651; CW X, 111, 179, 207). Er könne darum keine kritisch-korrigierende Distanz zu den vorherrschenden Vorstellungen einnehmen, sondern transformiere stattdessen bestehende Moralvorstellungen in „sich selbst stützende Gründe“ („reasons for themselves“, CW X, 169; vgl. CW XVIII, 220). Insofern gründet die moralische Kritiklinie auf der moraltheoretischen: Die Fortschrittsfeindlichkeit des Intuitionismus ist letztlich eine Folge seines fehlenden kritischen Potenzials, welches sich aus den moraltheoretischen Unzulänglichkeiten ergibt. 3. Mill zufolge wurzeln die moraltheoretischen Unzulänglichkeiten ihrerseits in einem fehlerhaften wissenschaftstheoretischen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fundament (dazu CW I, 232, 270). Er greift dieses Fundament in der epistemisch-metaphysischen Kritiklinie an, für die vor allem A System of Logic und An Examination of Sir William Hamilton’s Phi-

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losophy (in Verbindung mit „James Mill’s Anal­ ysis of the Phenomena of the Human Mind“, CW XXXI, 93–253) einschlägig sind. Mill glaubte als Anhänger der „school of experience“ nämlich, dass der Intuitionismus mit seinem Rückgriff auf Intuitionen, apriorisches Wissen und „angeborenen“ Wahrheiten ein grundsätzlich verfehltes Bild davon hat, wie wissenschaftliche Rechtfertigung funktioniert, was für gerechtfertigte Erkenntnis nötig ist und worüber wir überhaupt etwas wissen können. In Wahrheit gebe es kein apriorisches Wissen, alle Erkenntnis – auch der Mathematik, Logik und Geometrie – beruhe vielmehr allein auf (systematisierter) Erfahrung und Beobachtung (CW I, 232). Der moralische Intuitionismus stehe damit ohne geeignetes Fundament da, weil seine grundlegenden Prinzipien eben nicht durch Erfahrung und Beobachtung gestützt seien, sondern vielmehr als evident a priori angesehen würden (CW X, 206). Die intuitionistische Rechtfertigungsgrundlage werde damit (insbesondere bei Whewell) selbstbezüglich, weil sie auf eine Einstellung der Akzeptanz verweise, wenn sie Gründe für die Akzeptanz eines Urteils anführen soll (CW X, 178). Eng verflochten mit Mills „Empirismus“ (eine Bezeichnung, die Mill selbst dezidiert ablehnte und abwertend verwendete; CW I, 165; CW VIII, 930; CW IX, 485n; Anschutz 1953, 73–77) war sein Assoziationismus. Mithilfe der These, dass alle mentalen Phänomene letztlich auf – gewissen Gesetzmäßigkeiten folgenden – Verknüpfungen („associations“) von Wahrnehmungseindrücken basierten, wollte Mill selbst den abstraktesten Begriffen eine empirische Grundlage geben (CW IX, 9) und die Phänomenologie apriorischen Wissens bzw. den Eindruck von Notwendigkeit „wegerklären“ (CW VII, 238–239; CW IX, 82; CW XXXI, 161): Viele Überzeugungen, Einstellungen oder Prinzipien der Deliberation, die für angeboren gehalten werden, seien in Wahrheit erworben; insbesondere lasse sich auch die für den Anspruch auf Apriorität charakteristische Überzeugung – der Eindruck von Unvorstellbarkeit, d. h. dass etwas nur so und nicht anders sein könne – durch besonders enge, erfahrungsbasierte Verknüpfungen assoziationistisch er-

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klären. Die Pointe ist, dass der im intuitionistischen Fundament zentrale Schritt von der Unvorstellbarkeit der Negation einer Proposition zur Akzeptanz ihrer Wahrheit damit grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig wird (Skorupski 1989, 7, 29). Denn selbst eine angeborene Neigung, bestimmte Propositionen für wahr zu halten, kann andere Ursachen als deren Wahrheit haben (CW VII, 276). Das gilt natürlich auch im Bereich der Moral: Auch hier müsse man zeigen, dass die Unvorstellbarkeit des Gegenteils der Überzeugung zuverlässig auf die Wahrheit der Überzeugung zurückzuführen ist und nicht auf Erziehung und Akkulturation (CW X, 178– 179). In Mills Augen konnte eine solche Rechtfertigung nur aposteriorisch sein. Da der moralische Intuitionismus in Bezug auf seine grundlegenden intuitiven Prinzipien aber auf eine solche erfahrungsbasierte Rechtfertigung verzichte, könne er den durch assoziationistische Alternativerklärungen erzeugten Rechtfertigungsbedarf nicht einlösen. An einigen Stellen machte Mill deutlich, dass diesen grundlegenden Differenzen ein noch fundamentalerer Dissens bezüglich einer Frage zugrunde liegt, die er dem „höheren oder transzendentalen Bereich der Metaphysik“ bzw. der „Wissenschaft von den Fundamentalgesetzen des menschlichen Geistes“ zurechnete (CW VII, 54; CW VIII, 746–747, 784): Was können wir überhaupt ohne weiteren Beweis – unmittelbar und nicht-inferenziell, d. h. intuitiv – wissen? Für Mill haben wir solches Wissen letztlich nur von unseren Sinneseindrücken („sensations“), da wir über die Ursachen unserer Sinneseindrücke nichts wissen können (eine Sichtweise, die ihn in der Auseinandersetzung mit Hamilton zu seiner phänomenalistischen Analyse von Materie als „fortwährender Möglichkeit zur sinnlichen Wahrnehmung“ führte; CW IX, 183; auch CW VII, 58). Viele vermeintlich intuitive Erkenntnisse beruhten hingegen auf einer (habituellen) Verwechselung der Wahrnehmung mit dem Schluss, der aus der Wahrnehmung gezogen wird (CW VIII, 783–784). Anders als manche Intuitionisten glaubte Mill dementsprechend nicht, dass wir über ein angeborenes, spezifisch moralisches Erkenntnisvermögen – einen mo-

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ralischen Sinn oder Instinkt – verfügen (CW X, 230). Vielmehr erwerben wir die Fähigkeit, den moralischen Status einer Handlung mittelbar zu erkennen – und zwar vermittels derselben Vermögen, mit denen wir die anderen Eigenschaften einer Handlung erkennen: durch Intellekt und unsere Sinne (CW X, 61). Im Unterschied zum defensiven Teil wirkt Mills harsche Kritik am Intuitionismus im offensiven Teil auf den ersten Blick scharfsinnig und überzeugend. Was Hamilton angeht, so basierte Mills Kritik, die sogar Rückendeckung von Whewell (1865) erhielt und – wie von Mill mit Skrupeln vorausgesehen (CW I, 270–271; CW XV, 901–902) – für Hamiltons weitere Rezeption verheerend war, auch tatsächlich auf einem gründlichen Studium von dessen Schriften (CW I, 268–271; Robson 1979, lxxv–lxxvi) und war inhaltlich größtenteils angemessen. Seinem anderen Widersacher Whewell hingegen ist Mill in mehreren Hinsichten nicht gerecht geworden (dazu Schneewind 1968; Snyder 2006, Kap. 4). Anders als Mill nahelegte, verstand Whewell intuitive moralische Erkenntnis beispielsweise nicht als arationalen Prozess (etwa Whewell 1852, xix–xx; 1864, 2–3, 12– 13, 579), sondern glaubte daran, dass moralische Dispute rational zu klären seien (Whewell 1864, 43). Auch gestand Whewell zu, dass unsere moralischen Urteile durchaus fehlbar seien (Whewell 1845, 239; 1852, xix–xx; 1864, 43) und dass man Selbstevidenz nicht einfach an der tatsächlich vorherrschenden Meinung festmachen könne (Whewell 1846, 34–35). Intuitionen bildeten (wie später bei Sidgwick) erst als aufgeklärte, geläuterte Urteile den Ausgangspunkt für die moralische Theoriebildung (Whewell 1846, 121). Entsprechend hielt Whewell moralischen Fortschritt – nach dem Muster von Fortschritt in den Wissenschaften – explizit für möglich (Whewell 1860, 344, 388) und begrüßte Bemühungen zur Reform der vorherrschenden Moralvorstellungen (Todhunter 1876, 270). Die Moral hatte in seinen Augen durchaus das Potenzial zur Kritik der im positiven Recht institutionalisierten Praktiken (Whewell 1845, 49–51; 1852, xv–xvii). All dies sah oder würdigte Mill nicht. So übergeht seine Bezichtigung, Whewells Intui-

9  Moralischer Intuitionismus

tionismus habe reaktionäre Implikationen in Bezug auf die Sklaverei, Whewells ausdrückliche Beteuerung, dass alle Menschen den gleichen moralischen Status haben, die Sklaverei ein moralisches Unrecht ist und jeder zu ihrer Abschaffung beitragen muss (Whewell 1845, 349– 350; 1864, 591, 594). Stattdessen zitierte Mill (CW X, 200) verkürzt Whewells Äußerung, dass man sich den Gesetzen selbst dann fügen müsse, wenn sie die Sklaverei in Kraft setzen (Whewell 1845, 351; 1864, 590) – was, wie Whewell unmissverständlich klar machte, ein Bekenntnis zum Primat des gesetzmäßigen Wandels ungerechter Praktiken war. Mit einiger Berechtigung warf Whewell Mill (wie gewohnt ohne diesen namentlich zu nennen, aber dennoch unverblümt) im Anhang zur dritten Auflage der Elements (1854) vor, nicht genau genug gelesen zu haben (Whewell 1864, 584–585). Mills offensive Kritik an Whewells „Intuitionismus“ erweist sich somit als unsorgfältig und fast schon ideologisch überformt. Dass Mill mit philosophischen Differenzen auch anders umgehen konnte, beweist sein ausgewogener und kenntnisreicher Umgang mit Coleridge (Turk 1988; s. Kap. II.3). Doch Whewell verkörperte als Master von Trinity, Knightbridge Professor of Moral Theology and Casuistical Divinity, Mitglied zahlreicher Wissenschaftsorganisationen und bekennender „constitutional conservative“ offenbar so viel Establishment, dass die in Mill reflexhaft geweckte Voreingenommenheit einer fairen Auseinandersetzung im Weg gestanden hat (Anschutz 1953, 161– 162). Bezeichnenderweise lehnte Mill ein Angebot seines Freundes (und Whewells Schwager) James Garth Marshall, die beiden einander bekannt zu machen, ab (Snyder 2006, 203n195). So sind Mill und Whewell einander nie persönlich begegnet. Auch die direkte Korrespondenz beschränkt sich auf einen kurzen Briefwechsel von 1865, in dem Mill seine große Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass Whewell sich im Amerikanischen Bürgerkrieg zur richtigen Seite (des Nordens) bekannt hatte. Mill erkannte damit spät noch das an, wovon Whewell ihn trotz aller Beteuerungen zuvor nicht überzeugen

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konnte. Zu einer öffentlichen Korrektur konnte Mill sich allerdings nicht durchringen.

Wirkung: Mills (minimaler) Intuitionismus Die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus war zweifelsohne ein prägendes Leitmotiv in Mills Denken. Wie genau aber lassen sich die Impulse charakterisieren, die von dieser Auseinandersetzung ausgingen? Einer ersten Deutung zufolge lieferte der Intuitionismus Mill lediglich eine negativ-kon­ struktive Kontrastfolie zur inkrementellen Weiterentwicklung des Utilitarismus (s. Kap. III.12). Demnach ging es Mill darum, den theoretischen Kern des Utilitarismus im Lichte der Schwächen des Intuitionismus (vor allem hinsichtlich Systematizität) zu stärken und gegen die Einwände aus dem intuitionistischen Lager minimalinvasiv zu immunisieren, ohne dabei aber Thesen oder Theorieelemente des Intuitionismus aufzunehmen. Die erörterte konstruktive Funktion des defensiven Teils von Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus (die der Emanzipation vom Bentham’schen Erbe diente) sowie die durchgängig scharfe Rhetorik im offensiven Teil stützen eine solche Deutung (die bei Priestley 1969 und Brink 2014, 669–671 angelegt ist). Allerdings läuft diese Deutung Gefahr, das Ausmaß der inhaltlichen Schnittmengen und Befruchtungen zwischen Mill und seinen intuitionistischen Gegenspielern zu unterschätzen (dazu Snyder 2006, Kap.  4). Sowohl Whewell als auch Mill lehnten die simple hedonistische Werttheorie des Benthamismus ab und betonten demgegenüber die Bedeutung der Selbstperfektionierung zu moralisch exzellenten Akteuren, die im tugendhaften Handeln glücklich würden (Whewell 1836, 26–27, 32–33; CW X, 7–8, 55–56, 95–96, 111–113). Zu diesem Zweck hielten beide eine geeignete Erziehung für unerlässlich und sahen daher die Ausweitung von Bildung als wesentliches Element gesellschaftlichen Fortschritts an (s. Kap. V.24).

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Und viel früher schon als Mill machte Whewell auf qualitative Unterschiede in der Wertigkeit verschiedener Arten von Vergnügen aufmerksam (Whewell 1837b, xx, 59–62; 1836, 30–31), sodass es nicht verwundert, dass Mills ‚qualitativer Hedonismus‘ (s. Kap. V.29) und der damit verbundene Rückgriff auf das Urteil eines kultivierten Geistes (CW X, 211–214; CW XXII, 244) von einigen Zeitgenossen als Konzession an den Intuitionismus angesehen wurde (Stephen 1902, 306; Albee 1902, xvi). Auch auf moraltheoretischer Ebene waren sich beide einig darüber, dass die Moralphilosophie auf eine wissenschaftliche (oder wissenschaftsaffine) Grundlage gestellt werden müsse, dass eine Moraltheorie hohe Systematizität aufweisen müsse und dass es darin nur ein einziges oberstes Moralprinzip geben könne (wobei Whewell 1846, 80–81, 89 dabei im Wesentlichen den Argumenten Ben­ thams folgte; Schneewind 1977, 108–109). Mill scheinen die Gemeinsamkeiten später selbst klarer geworden zu sein (CW X, 206, 230). Natürlich ist im Einzelfall strittig, ob eine Gemeinsamkeit zwischen Mill und seinen Gegnern kausal auf die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus zurückzuführen ist und in welche Richtung die Beeinflussung dann jeweils verlief. Da aber ein gewisses Maß an Einigkeit und explizit hervorgehobener Kompatibilität besteht, sollte man die Diskrepanz und Opposition zwischen Mill und dem moralischen Intuitionismus nicht überbetonen. Man könnte angesichts der Schnittmengen die Entwicklung von Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus sogar als Versuch einer nahezu gleichrangigen Vereinigung zweier Schulen beschreiben. Skorupski (1989, 17) etwa scheint dieser zweiten Deutung zu folgen, wenn er Mills übergreifendes Projekt charakterisiert als den Versuch, den utilitaristisch geprägten philosophischen Radikalismus um die – im weitesten Sinne dem Intuitionismus zuzurechnenden – Einsichten der „Germano-­ Coleridge’schen Schule“ (CW X, 125) zu öffnen. Diese zweite Deutung kann sich auf einige Stellen stützen, an denen Mill – entweder als allgemeines Ideal oder mit Bezug auf sein eigenes Werk – vom Bemühen um Ausgewogenheit und Vielseitigkeit oder über die Vereinigung von hal-

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ben Wahrheiten spricht (CW I, 167–171, 227, 253; CW X, 121–122, 124–125, 494). Allerdings lassen diese Textstellen offen, ob es sich in Mills Augen wirklich um eine gleichrangige Vereinigung zweier Schulen handelt oder vielmehr um eine partielle Integration des Intuitionismus in ein im Kern utilitaristisches Gedankengebäude. Gegen ersteres spricht, dass die beiden Schulen nach Mills Verständnis in mehreren Hinsichten konträre oder kontradiktorische Thesen vertraten und er gegen einige der intuitionistischen Thesen gravierende Einwände erhob, die er selbst für triftig hielt; Mill beschrieb die Auseinandersetzung entsprechend als Angriff auf die Wurzeln des Intuitionismus als einer dem Utilitarismus entgegengesetzten Doktrin (CW I, 233, 270). Es ist daher nicht leicht zu sehen, wie eine gleichrangige Vereinigung ohne Elimination oder Modifikation von zentralen, der utilitaristischen ‚Schule‘ zugerechneten Thesen zu einer konsistenten Position führen kann. Am angemessensten scheint eine dritte Deutung, derzufolge Mill einige intuitionistische Elemente als Zugeständnisse in einen utilitaristischen Theoriekern integrierte: Er blieb der grundlegenden utilitaristischen Idee treu, alle normativen (und insbesondere moralischen) Fragen durch Rückgriff auf die Maximierung von Glück (‚happiness‘) zu beantworten (s. Kap. V.35). Wie die erste Deutung richtig betont, entwickelte er diese Idee im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus in einigen Hinsichten konstruktiv weiter und emanzipierte sich dabei vom Bentham’schen Erbe. Diese Weiterentwicklung führte, wie die zweite Deutung richtig betont, aber auch zu inhaltlichen und teils moraltheoretischen Schnittmengen mit dem Intuitionismus (in Whewells elaborierter Variante). Auf der epistemischen Ebene machte Mill dabei aber ein methodologisches Zugeständnis: Er übernahm die intuitionistische Grundidee, dass man zur Rechtfertigung von Überzeugungen an irgendeiner Stelle auf eine „intuitive Basis“ – im genetischen Sinne von Überzeugungen, die unmittelbar bzw. nicht-inferenziell zustande gekommen sind – zurückgreifen müsse. Das wird insbesondere dort klar, wo Mill „intuitiv“ und „inferenziell“ als Gegenbegriffe verwendet: Intuitiv erkennbare

9  Moralischer Intuitionismus

Wahrheiten müsse es geben, damit wir auf ihrer Grundlage überhaupt erst Wissen durch Schlussfolgerungen erlangen können (CW VII, 6–9; dazu auch CW VIII, 963–964 und per Implikatur auch CW VII, 20, 283). Mills Position könnte im Sinne eines solchen minimalen methodologischen Intuitionismus (Burkard 2012, 17–18) also durchaus als intuitionistisch gelten. In der Anerkennung dessen als Zugeständnis hält Mill sich aber aus den oben erläuterten strategischen Gründen sehr bedeckt. Obwohl er bereits 1833 in einem Brief an Carlyle grundsätzlich eingeräumt hatte, dass die meisten höheren Wahrheiten intuitiv seien (CW XII, 163), erkannte er erst in der Spätphase der Debatte lediglich im Fall von Wissen aus der Erinnerung explizit an, dass es sich um intuitives Wissen handle (CW IX, 165n). Der Dissens zwischen Mill und seinen intuitionistischen Gegnern betrifft also nicht die Frage, ob wir überhaupt etwas intuitiv (i.S.v. nicht-inferenziell) wissen, sondern die Frage, was (und wie viel) wir wirklich intuitiv (i.S.v. nicht-inferenziell) wissen. Mills Auffassung zufolge waren die meisten der als „intuitives Wissen“ geltenden Propositionen in Wahrheit automatisierte Schlüsse, sodass sich der Anschein von Intuitivität assoziationistisch wegerklären lasse. Insbesondere war strittig, ob (und welche) Propositionen mit moralischem Gehalt intuitive Wahrheiten im erläuterten Sinne sind. Während die Intuitionisten diesen Status mehreren antikonsequentialistischen Grundsätzen zusprachen, galt für Mill lediglich das axiologische Grundprinzip des Utilitarismus (dass ‚happiness‘ das einzig intrinsisch Gute sei) als Intuition in diesem Sinne: eine moralische Überzeugung, die nicht aus anderen Überzeugungen inferenziell abgeleitet ist, aber nötig ist, um gerechtfertigt zu anderen moralischen Überzeugungen zu kommen. Insoweit hatte Thornton (1873, 40–41, 49) Recht, als er in Mills Utilitarismus einen Rückgriff auf den Intuitionismus erkannte. Aber auch nur insoweit. Denn ein tieferer Dissens betraf die Art der Evidenz für moralische Intuitionen, d. h. die Frage, wodurch diese nicht-inferenziell zustande gekommenen Überzeugungen, die andere Überzeugungen rechtfertigen können, ihrerseits validiert wer-

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den konnten. Intuitionisten verwiesen (damals wie heute) typischerweise auf einen der Wahrnehmung(serfahrung) ähnlichen, nicht-doxastischen Zustand wie die Eingebung des uns unmittelbar wahr Scheinenden („intellectual seeming“) oder den Akt des unmittelbaren Begreifens: Dass uns p unmittelbar wahr oder evident scheint, sei (nicht-inferenzielle, aber doch auf eigene Art stützende) Evidenz für p. Es ist diese Vorstellung, die Mill vehement ablehnte und als Wurzel allen Übels bekämpfte. Seiner Auffassung nach müsse man zur nicht-inferenziellen Rechtfertigung der nicht-inferenziellen moralischen Überzeugungen vielmehr auf öffentlich überprüfbare, geteilt zugängliche – und insofern in Mills Sinne wahrlich „empirische“ statt introspektive – Evidenzen zurückgreifen: Nicht der nicht-doxastische Zustand des jemandem unmittelbar als wahr Scheinens validiert die Überzeugung, dass p – sondern die empirisch überprüfbare Tatsache, dass wir die empirische Tatsache, dass viele Menschen p für wahr halten, nicht anders besser (insbesondere nicht assoziationistisch) erklären können als durch die Wahrheit von p. Was hier begründende Kraft hat, ist nicht die Eingebung („seeming“), sondern die durch nichts anderes als die Wahrheit der Überzeugung besser erklärbare empirische Evidenz für die Verbreitung der Überzeugung. Insofern Mill eine Einsicht des Intuitionismus – dass die Struktur der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen den Rückgriff auf Intuitionen im Sinne nicht-inferenziell zustande gekommener und nicht-inferenziell gerechtfertigter Überzeugungen erfordert – als Zugeständnis in sein Gedankengebäude integrierte, wies er die grundsätzliche systematische Vereinbarkeit von utilitaristischer Moraltheorie und einigen Elementen einer intuitionistischen Erkenntnistheorie nach. Dissens bestand allerdings weiterhin hinsichtlich der Gehalte sowie der Rechtfertigungsgrundlage dieser Intuitionen (d. h. bezüglich der Fragen, welche Überzeugungen diesen Status von Intuitionen haben und was als nicht-inferenzielle Evidenz für sie zählt). Und in diesen beiden Hinsichten blieb Mill den zentralen Verpflichtungen der utilitaris-

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tischen Schule und seines ‚empiristischen‘ Programms treu.

Nachwirkungen Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus wirkte ideengeschichtlich in bedeutender Weise nach: Erstens stieß sie eine Säkularisierung des Utilitarismus an. Nachdem Whewell von seinem Freund Richard Hare auf Mills Aufsatz „Bentham“ hingewiesen worden war (Todhunter 1876, 271), begann Whewell im selben Jahr, Bentham in Cambridge in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie zu behandeln. Die Publikation der Lectures on the History of Moral Philosophy in England (1852) trug dann zusammen mit Mills Rezension derselben maßgeblich dazu bei, Bentham – der bis dahin (z. B. von Mackintosh oder Macaulay) zuvorderst als Reformer der Jurisprudenz betrachtet wurde – als ernstzunehmenden Moralphilosophen zu etablieren (Schneewind 1977, 130; auch CW X, 195). Fortan löst Benthams Variante des Utilitarismus die bis dahin dominierende theologisch fundierte Variante Paleys als Referenzpunkt der Diskussion ab. Zweitens setzte die Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus die bei Bentham bereits angelegte Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Moralphilosophie fort (Halévy 1901–1904, 3–4). Mills moraltheoretische Kritiklinie und Whewells differenzierte Repliken waren wegbereitend dafür, dass sich Wissenschaftlichkeit und Systematizität als zentrale Bewertungstopoi in der Ethik etablierten. Es war Henry Sidg­ wick, der (im Gegensatz zu Mill) Whewells wahre Zielsetzung, eine Systematisierung des common sense als Ausgangspunkt der moralphilosophischen Theoriebildung zu entwickeln, erkannte und in seinen Methods of Ethics umsetzte. Sidgwick entwickelte dabei zugleich Mills moraltheoretische Kritiklinie auf höherem Niveau weiter und brachte den Intuitionismus damit erst nachhaltig in Misskredit. Klarer als Mill erkannte (oder eher: benannte) Sidgwick dabei die Notwendigkeit, dass auch der Utilitarismus in epistemischer Hinsicht auf be-

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stimmte „intuitionistische“ Elemente angewiesen ist (was vor allem auch im der sechsten Auflage als Vorwort vorangestellten autobiographischen Text deutlich wird, Sidgwick 1981 [1907], xviii– xix, xxi–xxii) – eine Einsicht, die in seine Differenzierung zwischen „dogmatischem Intuitionismus“ (den er zurückwies) und „philosophischem Intuitionismus“ (den er sich zu eigen machte) mündete und auf Sidgwicks Unterscheidung zwischen zwei Verständnissen von Intuitionen beruht (Sidgwick 1981 [1907], 97–98, 102n1). Wie dargelegt ist die Grundlage für eine derartige Unterscheidung sowie für die Trennung zwischen epistemischer und moralischer Ebene aber bereits bei Mill angelegt. Insofern sich nach Sidgwick zusehends ein engeres (bis heute aber nicht einheitliches) Verständnis des ethischen Intuitionismus als einer moralepistemologischen Position etablierte, kann Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus drittens auch als Beginn einer konzeptionellen Ausdifferenzierung hin zum zeitgenössischen Verständnis des moralischen Intuitionismus verstanden werden. Viertens schließlich regte der moraltheoretische Fokus von Mills Auseinandersetzung mit dem Intuitionismus eine methodische Deutung des ursprünglich praktisch verstandenen Gegensatzes ‚reformerisch vs. konservativ‘ als ‚revidierend vs. akkommodierend‘ an: Während es bei der Diskussion von ‚Intuitionen‘ zuvor vor allem um Erhalt oder Reform des Status quo in Form bestehender sozialer Praktiken ging, rückte danach zunehmend die Frage in den Vordergrund, inwiefern es in der Moraltheorie darum geht, dem Status quo in Form des – aus ‚Intuitionen‘ bestehenden – moralischen common sense gerecht zu werden oder diesen stattdessen vielmehr zu korrigieren. Diese methodische Frage beschäftigt die Moralphilosophie bis heute (s. Kap. VI.43).

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9  Moralischer Intuitionismus Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation [1789]. Hg. von J. H. Burns, H. L. A. Hart. Mit einer Einl. von F. Rosen. In: The Collected Works of Jeremy Bentham. Oxford 1996. Brink, David O.: Principles and Intuitions in Ethics: Historical and Contemporary Perspectives. In: Ethics 124/4 (2014), 665–694. Burkard, Anne: Intuitionen in der Ethik. Münster 2012. Halévy, Élie: La Formation du Radicalisme philosophique, 3 Bde. Paris 1901–1904. Heydt, Colin: John Stuart Mill. In: The Internet Encyclopedia of Philosophy. Hg. von James Fieser, Bradley Dowden. University of Tennessee 2012. Macleod, Christopher: Mill, Intuitions and Normativity. In: Utilitas 25/1 (2013), 46–65. Miller, Dale E.: J. S. Mill. Moral, Social and Political Thought. Cambridge/Malden, MA 2010. Paley, William: The Principles of Moral and Political Philosophy. London 1785. Priestley, F. E. L.: Introduction. In: John Stuart Mill: Collected Works of John Stuart Mill, Bd. X. Hg. von John M. Robson. Toronto/London 1969, vii–lxii. Robson, John M.: Textual Introduction. In: John Stuart Mill: Collected Works of John Stuart Mill, Bd. IX. Hg. von John M. Robson. Toronto/London 1979, lxix–cii. Schneewind, J. B.: Moral Problems and Moral Philosophy in the Victorian Period. In: Victorian Studies 9. suppl. (1965), 29–46. Schneewind, J. B.: Whewell’s Ethics. In: Studies in Moral Philosophy. Hg. von Nicholas Rescher. Oxford 1968, 108–141. Schneewind, J. B.: Sidgwick’s Ethics and Victorian Moral Philosophy. Oxford/New York 1977. Sidgwick, Henry: The Methods of Ethics [1907]. Hg. von John Rawls. 7. Aufl. Indianapolis/Cambridge 1981. Skorupski, John: John Stuart Mill. London/New York 1989. Snyder, Laura J.: Reforming Philosophy. A Victorian Debate on Science and Society. Chicago/London 2006.

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Klassische Nationalökonomie

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Michael S. Aßländer

Der Beginn der Klassischen Nationalökonomie Obwohl Karl Marx den Beginn der „klassischen politischen Ökonomie“ auf das 17. Jahrhundert datiert und hierunter „alle Ökonomie seit W. Petty“ (MEW 23, 95 FN 32) versteht, gilt den meisten Ökonomen Adam Smith „as the real founder of the modern system of Political Economy“ (M’Culloch 1825, 56). Aus heutiger Sicht reicht die Zeit der klassischen Nationalökonomie von Mitte des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts; sie nimmt ihren Anfang mit Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) und endet mit John Stuart Mills Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy (1848; s. Kap. III.15). Dominiert wird die klassische Nationalökonomie, mit wenigen Ausnahmen, vor allem von britischen Autoren. Zu den bekanntesten Vertretern zählen: Adam Smith, Thomas Robert Malthus, David Ricardo und John Stuart Mill. Allerdings bezeichnet der Begriff ‚klassische Nationalökonomie‘ eher einen Zeitabschnitt und weniger eine Schule mit einheitlichen Theorieansätzen.

M. S. Aßländer (*)  apl. Professor für Sozialwissenschaften, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected]

Gemeinsames Ziel der klassischen Ökonomen ist es, wirtschaftliches Handeln wissenschaftlich zu erforschen. Dabei baut die klassische Nationalökonomie auf den Arbeiten früherer Autoren, namentlich der Physiokraten (u. a. Richard Cantillon, François Quesnay, Anne Robert Turgot) und der frühen liberalen Theoretiker (u. a. William Petty, John Locke, David Hume) auf. Ziel der klassischen Nationalökonomen ist es, Wirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu analysieren. Zentrale Gegenstände dieser Analyse sind die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten von Produktion und Verteilung, die Möglichkeiten zur Mehrung des nationalen Wohlstands, die Voraussetzungen des Binnen- und Außenhandels oder Betrachtungen zum Geldwert und zur Geldwertstabilität. Auffällig ist dabei, dass die wirtschaftlichen Analysen der klassischen politischen Ökonomen nicht zuletzt auch durch das politische Interesse an wirtschaftlichen Fragen bestimmt sind (s. Kap. VI.46). Für sie geht die Verbesserung der ökonomischen Entwicklung stets auch mit einer Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Einrichtungen einher. So waren es zunächst ‚politische Philosophen‘, die sich neben politischen Fragen, wie Toleranz oder Gewährung von Bürgerrechten nun auch mit ökonomischen Fragen wie Gewerbefreiheit und Handelsbeschränkungen beschäftigen und, wie Turgot es ausdrückt, als Gründer der modernen Wissenschaft der politischen Öko-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_10

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nomie gelten dürfen (Turgot 1808, 309). In dieser Traditionslinie entfaltet sich auch die „schottische Aufklärung, in die Adam Smith einzurechnen ist, […] als eine Sozialphilosophie“ (Priddat 2011, 35). Sichtbar wird diese starke politische und soziale Ausrichtung der klassischen Nationalökonomie nicht zuletzt daran, dass es das Anliegen der politischen Ökonomen ist, zentrale politische Forderungen, wie Freizügigkeit, Selbstbestimmung und Vernunft als Maßstab richtigen Handelns, auf politischem Wege innerhalb des Wirtschaftslebens durchzusetzen. So spiegeln sich in den Forderungen der politischen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts die zentralen Ideale der Aufklärung wider: Bürgerliche Freiheit, rationale Nutzenabwägung und Streben nach Autonomie. Wie kaum ein anderer Vertreter der klassischen Nationalökonomie steht John Stuart Mill für eine Verflechtung dieser politischen Ideale mit einem ökonomischen Konzept, das die freie wirtschaftliche Betätigung des Einzelnen konsequent zum Grundstein der Wirtschaftsordnung erhebt. Während Adam Smith in der Idee der ‚natürlichen Freiheit‘ vor allem ein Instrument zur Beseitigung sozialer Ungleichheit sah, da dieses System es dem Einzelnen ermögliche, soziale und wirtschaftliche Chancen bestmöglich zu nutzen, wird die Garantie größtmöglicher Freiheit für John Stuart Mill zur grundsätzlichen Forderung, an der sich eine staatliche Wirtschaftspolitik zu orientieren habe (s. Kap. V.27). „‚Laisser-faire‘“, so John Stuart Mill, „should be the general practice: every departure from it, unless required by some great good, is a certain evil“ (CW III, 945). Dabei ist Mill kein grundsätzlicher Gegner einer staatlichen Regulierung ökonomischer Belange, wie etwa sein Eintreten für eine staatlich regulierte Wasserversorgung Londons exemplarisch erhellt (CW V). Auch „im Bereich der Bildung oder der Arbeitsgesetzgebung“ befürwortet Mill ein Eingreifen des Staates, „weil er glaubte, ohne sie würden die Schwächsten versklavt und erdrückt werden“ (Berlin 1995 [1969], 264 f.). Allerdings ist es auch hier für Mill vor allem die Nützlichkeit derartiger Eingriffe, die eine staatliche Regulierung als legitim erscheinen lässt.

M. S. Aßländer

Der Beginn der systematisch betriebenen ökonomischen Wissenschaft Ihren Ausgangspunkt nimmt die systematische Betrachtung wirtschaftlicher Zusammenhänge mit den Physiokraten. Ihre zentrale Frage gilt der ökonomischen Wertschöpfung als Grundlage des Wirtschaftswachstums. Zentral sind daher die Fragen nach dem geschaffenen Warenwert und den Möglichkeiten und Grenzen der Produktion. So bestimmt sich der Wert einer Ware für Richard Cantillon einerseits aus der zu ihrer Herstellung benötigten Arbeit und andererseits aus der zur Gewinnung der Rohstoffe benötigten landwirtschaftlichen Fläche (Cantillon 1959, 27 ff.). Dabei besitzen unterschiedliche Arten von Arbeit einen je unterschiedlichen Wert, der sich aus dem Aufwand und den Kosten ergibt, die zum Erlernen eines Handwerks erforderlich sind (Cantillon 1959, 19). Als einer der ersten Ökonomen analysiert er die Bedeutung des Geldumlaufs und legt damit die Grundlagen für die Beschreibung eines Wirtschaftskreislaufs. Hierauf aufbauend entwickeln die französischen Physiokraten mit dem Tableau Économique (Quesnay 1965) eine erste schematische Darstellung eines Wirtschaftskreislaufs als Basis für die systematische Betrachtung wirtschaftlicher Austauschbeziehungen (Oncken 1902, 276 f.). Hatte bereits Cantillon in seinem Werk auf die zentrale Bedeutung der landwirtschaftlichen Nutzfläche für die Produktionsleistung eines Landes verwiesen, ist es nun die landwirtschaftliche Produktion, die allein „die jährlichen Reichtümer der Nation“ (Quesnay 1888, 306) hervorbringt. Wichtige Voraussetzungen für die nationale Wohlfahrt sind in den Augen der Physiokraten vor allem eine freie Warenzirkulation sowie Gewerbe- und Handelsfreiheit. So betont Abbé Étienne Bonnot de Condillac, dass, gerade weil die für eine Volkswirtschaft nützlichen Dinge an unterschiedlichen Orten hervorgebracht würden, es des freien Handels bedarf, um sie zu verteilen. Für ihn ist der Handel der „Kanal“, durch den der Warenüberschuss fließt (Condillac 1821, 45). Konsequent tritt er für freien Warenverkehr ein, da er der

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Überzeugung ist, dass die Weisheit des Staatsmannes nicht ausreiche, um alle Belange seiner Bürger zu regeln. Es sei daher klüger, sich darauf zu beschränken, Missständen vorzubeugen, und ansonsten den Dingen ihren Lauf zu lassen (Condillac 1822, 554). Die zentrale Quelle des Volkswohlstandes sieht Condillac in der Landwirtschaft, da es der Boden alleine sei, der alle Dinge hervorbringt. Er ist folglich die einzige Quelle für die gesamten Reichtümer einer Nation (Condillac 1821, 40). Auch in Großbritannien sind es vor allem ‚politische Philosophen‘, die als erste damit beginnen, sich mit Wirtschaftsfragen auseinanderzusetzen. Erste Arbeiten stammen von William Petty, der am Beispiel der Taschenuhrenproduktion die produktivitätssteigernde Wirkung der Arbeitsteilung ausführt und konstatiert, dass in Folge der arbeitsteiligen Produktion „the watch will be better and cheaper, than if the whole work be put upon any one man“ (Petty 1899a, 473). Im Gegensatz zu den Physiokraten, die in der Natur alleine die Quelle des nationalen Reichtums sehen, räumt Petty dem Faktor menschliche Arbeit eine zumindest gleich große Bedeutung ein: Arbeit und Boden sind Vater und Mutter des Reichtums (Petty 1899b, 68). Zudem beginnt Petty damit, systematisch die Wirtschaftsdaten Irlands mit Hilfe statistischer Verfahren auszuwerten und gilt damit als Begründer der „politischen Arithmetik“ (Petty 1899c). Philosophisch bedeutsam für die ökonomische Theoriebildung wird John Locke, der Eigentum als durch Arbeit gerechtfertigte Aneignung legitimiert, denn was immer der Mensch bearbeitet, „hat er mit seiner Arbeit gemischt und hat ihm etwas hinzugefügt, was sein eigen ist – es folglich zu seinem Eigentum gemacht“ (Locke 1999, 22). Damit schafft Locke ein Verständnis von Eigentum als etwas, das durch eigene Anstrengung erlangt werden kann. Diese neue Sichtweise wird für Smith zur Grundlage seiner Forderung nach Gewerbefreiheit, denn, so Smith: „Das Eigentum, das jeder

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Mensch an seiner Arbeit besitzt, ist in höchstem Maße heilig und unverletzlich, weil es im Ursprung alles andere Eigentum begründet“ (Smith 2005, 106). Zudem legt Locke erste Überlegungen zur Geldtheorie und insbesondere zum Zusammenhang von Zinssatz und Investitionen vor (Locke 1824a; 1824b). Systematischer als Locke widmet sich David Hume ökonomischen Themen. Allerdings legt auch er kein geschlossenes Werk vor, sondern behandelt ökonomische Detailfragen in zahlreichen Essays, in denen er sich mit Handel, Arbeitsteilung, Geldpolitik, Zinsen, Steuern oder Staatskrediten auseinandersetzt. Für David Hume erweist sich das natürliche Nutzenstreben des Menschen als die wesentliche Triebfeder für ökonomisches Handeln. Für ihn ist „Habsucht der Ansporn zu Fleiß“ (Hume 1988a, 100), und die Aussicht darauf, sich „Luxusgüter“ leisten zu können, motiviert die Menschen zur Arbeit und fördert Erfindungsgeist und Gewerbe (Hume 1988b, 184 ff.) – eine Ansicht, die sich letztlich auch in John Stuart Mills Definition des „economic man“ wiederfindet (CW IV, 321). Grundsätzlich tritt Hume für Handelsfreiheit ein, da er glaubt, dass die Aussicht auf importierte Luxuswaren den Fleiß der heimischen Industrie befördere, denn „in einem Königreich mit umfangreiche[m] Import und Export herrscht größerer Fleiß, der auf Annehmlichkeiten und Luxus verwandt wird“ (Hume 1988b, 185). Dabei ergäbe sich zunächst ein Vorsprung für industriell fortgeschrittene Regionen, dieser werde jedoch durch die geringeren Lohnkosten in wenig industrialisierten Regionen wieder ausgeglichen. Hierdurch würde die ökonomische Entwicklung in diesen Regionen vorangetrieben, was einen allgemeinen Anstieg der Produktivität und des Preisniveaus zur Folge hätte. Auf Dauer ermöglichten es Gewerbefreiheit und Handel so also auch den ärmeren Ländern, mit den reicheren Ländern zu konkurrieren (Hume 1988c, 206 f.). Zudem legt Hume theoretische Grundlagen zur Inflationstheorie, zur Zinstheorie und zur Steuerlehre.

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Adam Smith und der Reichtum der Nationen Insbesondere Humes Vorstellungen von Freihandel und dem Streben nach materiellem Wohlstand als Motor wirtschaftlicher Betätigung bilden wichtige Grundlagen der Smith’schen Nationalökonomie. Bereits in seinen Vorlesungen in Glasgow greift Smith diese Ideen auf und erläutert, dass Arbeitsteilung und Warentausch dem Menschen ein besseres Leben ermöglichen (Smith 1996, 185 f.). In seinem 1776 erschienen Hauptwerk, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, sieht Smith die Fähigkeit des Menschen zum Tauschhandel als conditio humana schlechthin und schreibt: „[N]iemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte“ (Smith 2005, 16). Über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren und diese Überschussprodukte zu tauschen, sind für Smith nicht nur die Schlüssel zu einer ökonomisch zivilisierten Gesellschaft; sie unterscheiden auch den Menschen vom Tier. Obwohl sich Smith in seinen ökonomischen Anschauungen von den Physiokraten unterscheidet folgt er ihrer Idee einer natürlichen Ordnung, die er zur Grundlage seines Systems der „natural liberty“ macht. Er glaubt: „Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der Einzelne nicht die Gesetze verletzt, lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann“ (Smith 2005, 582). Für Smith sind es vor allem drei Säulen, auf denen die Wohlfahrt einer Nation ruht: arbeitsteilige Produktion, Freihandel und Gewerbefreiheit sowie die Deregulierung staatlicher Beschränkungen. Ausgangspunkt für Smiths Überlegungen bildet dabei das Prinzip der Arbeitsteilung, deren produktivitätssteigernde Wirkung er gleich zu Beginn seines Werkes am Beispiel der Stecknadelproduktion erläutert (Smith 2005, 9 f.). Dabei ist die Beschreibung der Stecknadelproduktion nicht neu, diese wurde

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ausführlich in der Encyclopédie dargestellt (Deleyre 1755, V, 804 ff.). Ebenso wurden die Vorzüge der Arbeitsteilung bereits von William Petty benannt. Neu an der Sichtweise Smiths ist, dass er Arbeitsteilung oder besser Produktivität als Quelle des nationalen Wohlstandes identifiziert und ins Zentrum seiner Überlegungen stellt: Denn „sobald ein Volk kultiviert ist und Arbeitsteilung besteht, wird ihnen eine reichlichere Versorgung zuteil, und aus diesem Grund hat ein Tagelöhner in Großbritannien mehr Wohlstand in seiner Lebensweise als ein indianischer Häuptling“ (Smith 1996, 179). Grundlegend für Smiths liberales Wirtschaftsverständnis ist die Annahme einer ‚prästabilierten Harmonie‘, die die nur am eigenen Vorteil ausgerichteten wirtschaftlichen Handlungsweisen aller Einzelnen zum Wohle der Gemeinschaft wirken lässt. Smith kleidet diese Vorstellung in die berühmt gewordene Metapher der „invisible hand“ (Smith 2005, 371). Da „keine Weisheit oder Kenntnis jemals ausreichen könnte“, „um den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind“ (Smith 2005, 582), empfiehlt Smith der Regierung, den Gewerbefleiß der Bürger zu fördern und eine dem Handel förderliche Infrastruktur bereitzustellen. Darüber hinaus sollte sich der Staat steuernder Eingriffe in das Wirtschaftsleben enthalten (Smith 2005, 582). Wie Adam Smith bereits 1755 in einem Vortrag ausführt, müsse eine Regierung, um einen Staat aus dem Zustand tiefster Barbarei zu Wohlstand und Reichtum zu führen, nichts weiter tun, als den Frieden zu wahren, Gerechtigkeit zu garantieren und die Abgaben- und Steuerlasten auf ein erträgliches Maß zu reduzieren (Stewart 1982, 321 ff.). Mit seinem Wealth of Nations legt Smith den Grundstein eines Ökonomieverständnisses, in dem Arbeitsteilung, freier Handel, Freizügigkeit und weitgehende Zurückhaltung des Staates in wirtschaftlichen Fragen zu Eckpfeilern des ökonomischen Denkens und damit prägend für das Wirtschaftsverständnis der gesamten ökonomischen Klassik werden. Zu Recht gilt Adam Smith daher als „der erste Klassi-

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ker“ der Nationalökonomie (Damaschke 1919, I, 341). Und wenngleich John Stuart Mill, als letzter großer Vertreter dieser Theorietradition, sich in seinen ökonomischen Schriften vor allem an den Ideen Thomas Robert Malthus’ und David Ricardos orientieren wird, so sind es doch die Idee einer natürlichen Freiheit und die daraus resultierende Forderung nach weitgehender Zurückhaltung des Staates in wirtschaftlichen Belangen, die auch für Mill zu zentralen Eckpfeilern seines Ökonomieverständnisses werden.

Thomas Robert Malthus und das eherne Bevölkerungsgesetz Während Adam Smith ein weitgehend positives Bild wirtschaftlicher Entwicklung zeichnet und von einer stetigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft ausgeht, obwohl er zugesteht, dass der Reichtum sich nicht gerecht auf alle Schichten der Bevölkerung verteile (Smith 1996, 180), ist Thomas Robert Malthus Pessimist. Ausgangspunkt seiner ökonomischen Überlegungen bildet die düstere Prognose, dass langfristig die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion nicht mit der Bevölkerungsvermehrung Schritt halten könne. Ohne empirische Grundlage behauptet Malthus, dass sich die Bevölkerung in geometrischer Reihe vermehre, während die Produktion der zu ihrem Unterhalt nötigen Nahrungsmitteln nur in arithmetischer Reihe gesteigert werden könne (Malthus 1999, 12 f.). Bei zu großem Bevölkerungswachstum sorge die Natur durch einen Anstieg der Sterberate von selbst dafür, dass sich die Reproduktionsrate der Bevölkerung an die Produktionsrate von Nahrung anpassen würde. Dem könne menschliche Einsicht durch eine Verringerung der Geburtenrate entgegenwirken (Malthus 1999, 31–35; 1924, I, 23–27). Da insbesondere die unteren Klassen derartigen Argumenten der Vernunft jedoch nicht zugänglich seien, hält Malthus die Verelendung der Arbeiterklassen für unvermeidlich. Bedingt durch die Vermehrungsgewohnheiten der Arbeiterklasse würde jede Lohnerhöhung nicht zu einer Verbesserung der

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Lebensbedingungen der Arbeiterschaft führen, sondern lediglich zu einer weiteren Vermehrung der Arbeiterklasse beitragen (Malthus 1986a, 181 ff.). Malthus widerspricht der Annahme, dass die durch das Bevölkerungswachstum erzeugte Nachfragesteigerung durch die neu ins Leben gerufenen zusätzlichen Arbeitskräfte gedeckt werden könne, da ab einer bestimmten Bevölkerungsdichte die vorhandenen Ressourcen zur Ernährung der Bevölkerung schlicht nicht mehr ausreichten (Malthus 1986b, 250 ff.). Mit seinem ehernen Bevölkerungsgesetz wird Malthus zum Wegbereiter eines neuen Wissenschaftsverständnisses der Ökonomie, die nun, ausgehend von scheinbar unausweichlichen ökonomischen Gesetzen auf die reale wirtschaftliche Entwicklung schließt. Diese deduktive Vorgehensweise wird prägend für das ökonomische Wissenschaftsverständnis John Stuart Mills. Wenngleich Mill, auch in seinen ökonomischen Schriften, stets darum bemüht ist, den Eindruck eines hartherzigen Malthusianismus zu vermeiden, wird für ihn das Malthus’sche ‚eherne Bevölkerungsgesetz‘ zum zentralen Dogma seiner Lohntheorie (s. Kap. III.15; IV.21). Nur wenn es gelänge, so Mill, die Vermehrungsrate der Bevölkerung dauerhaft zu begrenzen, könne ein gleichbleibend hohes Lohnniveau zum Erhalt der Arbeiterklasse gewährleistet werden (CW II, 351). Zugleich bildet für Mill die Anerkennung des Malthus’schen Bevölkerungsgesetzes die Voraussetzung für die Einleitung sozialer Reformbemühungen, die stets auf Basis wissenschaftlicher Gesetze entworfen werden müssen, wenn sie hinreichende Aussicht auf Erfolg haben sollen.

David Ricardo: Ökonomie als deduktive Wissenschaft Ausgehend von den Überlegungen Thomas Robert Malthus’ formuliert David Ricardo das ‚eherne Lohngesetz‘. Er geht davon aus, dass sich die Arbeiterklasse bei hohen Löhnen solange vermehrt, bis die Konkurrenz um Arbeitsplätze die Löhne wieder auf ein Minimum herunterdrückt (Ricardo 1994, 79 f.). Zwar ge-

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steht er zu, dass steigende Bevölkerungszahlen und damit steigender Güterbedarf auch zu einer zusätzlichen Nachfrage nach Arbeitskräften und einem Lohnanstieg führe. Allerdings argumentiert er, dass dieser Effekt durch steigende Lebensmittelpreise zunichtegemacht würde (Ricardo 1994, 87–90). Bei gleichbleibender Vermehrungsrate würden die Löhne daher aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten stets auf das Existenzminimum zurückgedrückt. Auch Armenkassen zur Unterstützung der unteren Bevölkerungsschichten seien kein geeignetes Mittel, da sie nur zu einer weiteren Vermehrung der Arbeiter führen und so „anstatt die Armen reich zu machen“ darauf abzielen, „die Reichen arm zu machen“ (Ricardo 1994, 91). Den Anstieg der Lebensmittelpreise bei wachsender Bevölkerung begründet Ricardo mit der Notwendigkeit, zusätzliche Böden von minderer Qualität bebauen zu müssen. Um hierauf den gleichen Ernteertrag zu erzielen, müsste ein höherer Arbeitsaufwand betrieben werden. Dies versetzt die Besitzer der Böden besserer Qualität in die Lage, eine Bodenrente zu erzielen, deren Höhe den auf diesen Böden eingesparten Arbeitskosten entspricht (Ricardo 1994, 57– 61). Mithin sei der Anstieg der Lebensmittelpreise eine Folge des höheren Arbeitsbedarfs auf schlechteren Böden und nicht der Bodenrente. Auch Ricardo befürwortet den freien Handel und den Abbau von Handelsbeschränkungen, da die „Verfolgung des individuellen Vorteils […] bewundernswert mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen verbunden“ sei (Ricardo 1994, 114; s. Kap. IV.21). Zudem belegt er die Vorzugswürdigkeit des Freihandels mit seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile. Während Adam Smith (2005, 19–22) oder Jean-Baptiste Say (1830, 134–139) vor allem mit dem Argument größerer Absatzmärkte für den freien Handel warben, zeigt Ricardo, dass wirtschaftliche Austauschbeziehungen stets dann vorteilhaft sind, wenn die zu exportierende Ware im Inland vergleichsweise kostengünstiger hergestellt werden kann als die zu importierende und umgekehrt. Wird von beiden Ländern die vergleichsweise kostengünstiger produzierte Ware exportiert und die vergleichsweise teurer produzierte Ware importiert, ergeben

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sich für beide Länder Kostenvorteile durch den Warentausch (Ricardo 1994, 112 f.). Obwohl Mill die Theorie der komparativen Kostenvorteile als zentrales Argument für freien Handel und den Abbau von Handelsbeschränkungen von David Ricardo übernimmt, bleibt für ihn die Frage, wie sich die aus diesen komparativen Kostenvorteilen resultierenden Ersparnisse auf die am Freihandel beteiligten Länder letztlich verteilen. Im ersten Essay „Of the Law of Interchange Between Nations“ seiner fünf Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy (s. Kap. IV.21) greift er diese zentrale Frage auf, kommt jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis. Letztlich sei dies keine rein ökonomische, sondern auch eine politische Frage, da hier die jeweiligen politischen Machtverhältnisse der am Handel beteiligten Nationen eine ausschlaggebende Rolle spielten. – Aus Sicht des Engländers, so lässt sich anmerken, also ein klarer Vorteil und ein guter Grund, sich für den Freihandelt auch politisch stark zu machen.

John Stuart Mill und das Ende der ökonomischen Klassik Für John Stuart Mill bilden das ‚ehernen Lohngesetz‘, die Theorie der Bodenrente und die Theorie der komparativen Kostenvorteile die Grundlage der ‚modernen‘ Wirtschaftstheorie. Er ist davon überzeugt, dass die Methode wissenschaftlicher Hypothesenbildung, „is […] the only method by which truth can possibly be attained in any department of the social science“ (CW IV, 326). Wie auch David Ricardo sieht er die moderne Ökonomie als abstrakte Wissenschaft, die notwendig von Hypothesen ausgeht und so auf die ökonomischen Verhaltensweisen in der Wirklichkeit schließt. Obwohl er in seinen Principles darum bemüht ist, seine ökonomischen Theorien in der anschaulichen Art Adam Smiths darzustellen, bleibt er in diesem Punkt der Ricardianischen Vorgehensweise treu und legt so den Grundstein für unser heutiges, an mathematischen Modellen orientiertes Theorieverständnis.

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Betrachtet man den Stand der ökonomischen Wissenschaft in England Ende des 18. Jahrhunderts, so präsentiert sich ein recht uneinheitliches Bild. Einerseits genießt die Debatte ökonomischer Fragen seit dem Erscheinen des Wealth of Nations einen hohen Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit. Jedoch hat sich die Ökonomie noch nicht zu einer Wissenschaft mit eigenem Gegenstandsbereich und eigener wissenschaftlicher Methodik entwickelt. Es ist das Verdienst der ökonomischen Klassik, wirtschaftliches Handeln Schritt für Schritt analysiert und als Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung definiert und so die Emanzipation der Ökonomie als eigenständiger Wissenschaft vorangetrieben zu haben. Wesentlichen Anteil hieran hat nicht zuletzt John Stuart Mill.

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85 Locke, John: Über die Regierung (The Second Treatise of Government). Stuttgart 1999. Malthus, Thomas, Robert: Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 2 Bde. Hg. von Heinrich Waentig (= Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister 6–7). Jena 1924. Malthus, Thomas Robert: Principles of Political Econ­ omy – Part I. In: The Works of Robert Malthus, 8 Bde., Bd. 5. Hg. von E. A. Wrigley, David Souden. London 1986a. Malthus; Thomas Robert: Principles of Political Econ­ omy – Part II In: The Works of Robert Malthus, 8 Bde., Bd. 6. Hg. von E. A. Wrigley, David Souden. London 1986b. Malthus, Thomas Robert: An Essay on the Principle of Population [1798]. Oxford 1999. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. MEW 23. Berlin 1974. M’Culloch, John Ramsay: Principles of Political Econ­ omy: With a Sketch on the Rise and Progress of the Science. London 1825. Oncken, August: Geschichte der Nationalökonomie in zwei Teilen. Leipzig 1902. Petty, William: Of the Growth of the City of London and of the Measures, Periods, Causes, and Consequences there­of. In: Ders.: Economic Writings, 2 Bde., Bd. 2. Hg. von Charles Henry Hull. Cambridge 1899a, 457– 476. Petty, William: Treatise of Taxes and Contributions. In: Ders.: Economic Writings, 2 Bde., Bd.1. Hg. von Charles Henry Hull. Cambridge 1899b, 1–97. Petty, William: Political Arithmetick. In: Ders.: Econom­ic Writings, 2 Bde., Bd.1. Hg. von Charles Henry Hull. Cambridge 1899c, 233–313. Priddat, Birger P.: Der Beginn der ökonomischen Wissenschaft. In: Michael S. Aßländer (Hg.): Handbuch Wirtschaftsethik. Stuttgart 2011, 35–43. Quesnay, François: Analyse du Tableau Économique. In: Ders.: Œuvres Économiques et Philosophiques. Hg. von August Oncken. Paris 1888. Quesnay, François: Tableau Économique. Hg. von Marguerite Kuczynski. Berlin 1965. Ricardo, David: Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung. Hg. von Heinz D. Kurz. Marburg 1994. Say, Jean Baptiste: Ausführliche Darstellung der Nationalökonomie oder der Staatswirtschaft, 3 Bde. Hg. von Carl Eduard Morstadt. Heidelberg 1830. Smith, Adam: Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften. Hg. von Daniel Brühlmeier. St. Augustin 1996. Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. München 2005. Stewart, Dugald: Account of the Life and Writings of Adam Smith. In: Adam Smith: Essays on Philosophical Subjects. The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. 3. Hg. von William P. D. Wightman, J. C. Bryce. Nachdruck, Indianapolis 1982. Turgot, Anne-Robert-Jacques: Sur les Économistes. In: Œuvres de M. Turgot, 9 Bde., Bd. 3. Paris 1808, 309–320.

Teil III

Schriften

Autobiography (1873)

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Michael Meyer

Kontext und Konzepte Mill schrieb seine Lebensgeschichte 1853–1854 nieder, als er seinen nahen Tod durch Tuberkulose befürchtete. Die Autobiographie sollte an der Spitze einer Essaysammlung als John Stuart und Harriet Taylor Mills geistiges Vermächtnis stehen (CW XIV, 168). Er überarbeitete sie in Zusammenarbeit mit seiner Frau und ergänzte sie zweimal nach ihrem Tod (1861, 1869– 1870; Robson/Stillinger 1981, xviii–xxviii). Sie wurde letztendlich von Harriets Tochter Helen Taylor posthum 1873 publiziert. Die aktuelle Standardausgabe bildet den ersten Band der Collected Works von Robson und Stillinger und druckt die erste und letzte Version parallel ab. Mit dieser Position im Gesamtwerk erfüllen die Herausgeber die Intentionen der Verfasser: Die Autobiographie dient als Einführung wie Begründung seiner Schriften, denn sie entwirft Mills Entwicklung als Ideengeschichte von Einflüssen und deren Verarbeitung. Umgekehrt strukturieren Mills zentrale Theorien intertextuell seine eigene Lebensgeschichte. Autobiographie ist ein eigenständiges Genre, das

M. Meyer (*)  Professor für Anglistik, Universität Koblenz, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected]

mehr als eine Chronik der Ereignisse des Lebens (s. Kap. I.1) bietet und spezifische Funktionen für das Selbst und die Öffentlichkeit erfüllt. Der Terminus Autobiographie verknüpft die Begriffe Selbst, Leben und Schreiben. Die meiste Sekundärliteratur zu Mills Autobiographie blickt entweder von psychologischen und philosophischen Perspektiven auf das Selbst, das sich im Text abzeichnet und hermeneutisch auslegt (Levi 1945; Danahay 1993) oder von literarischen und diskursanalytischen Ansätzen auf das Schreiben, das ein Subjekt konstruiert (Buckley 1990; Meyer 1998), welches so vorher nicht existierte. Man kann aber auch die Selektion und Kombination literarischer oder diskursiver Muster von einem psychologischen oder hermeneutischen Blickwinkel aus betrachten (Nord 2014; Manheimer 2018). Das Selbst kann philosophisch und psychologisch als Verhältnis eines denkenden Bewusstseins zum gedachten Ich als seinem Gegenstand, als Zuschreibung des Eigenen oder Konstruktion einer Identität gedeutet werden, wobei der Prozess vom Produkt zu unterscheiden wäre und beide nie ganz zur Deckung kommen. Psychoanalytisch wäre das Ich-Bewusstsein vom ÜberIch und dem Unbewussten zu unterscheiden und zu untersuchen, inwiefern das Unbewusste das Ich infrage stellt. Psychologische Interpretationen aller Couleur konzentrieren sich auf das ambivalente Verhältnis Mills zu seinem Über-Vater, die psychische Krise in Folge seiner

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_11

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Erziehung und schließlich die idealisierte Beziehung zu seiner späteren Frau, Harriet Taylor Mill (s. Kap. II.6). Tatsächliche Erlebnisse ergeben noch keine Lebensgeschichte. Zwar stützt sich die Lebensgeschichte auf Erlebtes, aber Erinnerung ist alles andere als zuverlässig. Was denn erinnert wird, muss ausgewählt und sinnvoll verknüpft werden. Eine Autobiographie versucht, in der Rückschau dem Leben einen Sinn zu geben, welches aber vorwärts gelebt wird. Deshalb ist die Bedeutung von Ereignissen zum Zeitpunkt ihres Erlebens für den Lebensweg noch nicht absehbar. Die zentrale Frage lautet daher nicht: ‚Was ist passiert?‘, sondern ‚Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin?‘. Schreiben heißt, dem Leben Form und Sinn zu geben. Die religiöse und von Romantikern adaptierte Konversionsgeschichte ermöglicht es Mill, Veränderung gleichermaßen als Ende des alten Selbst wie als Begründung des neuen Selbst zu fassen. Das Ich wird ein anderer, kann aber durch die Konversion Identität über die Zeit retten. Dabei ist sich Mill der selektiven Konstruktion des Selbst bewusst, wie eine Notiz in Mills Tagebuch vom 19. Februar 1854 belegt: Hier schreibt er mit Blick auf Goethes Autobiographie, Dichtung und Wahrheit, dass Goethe nur genau so viel erzählt, wie er von sich preisgeben möchte (CW XXVII, 655). Mill greift auch moderne Diskurse der Psychologie und Pädagogik auf, die vorzeichnen, welche Erlebnisse auf welche Art und Weise Entwicklungen prägen, und passt seine eigene Geschichte in die allgemeine ein. Damit orientiert sich Mill an typischen Strukturen der Lebensgeschichten seiner Zeit, legt aber als Schriftsteller – wie andere Autoren – den Schwerpunkt auf seine ‚mental history‘. Wichtiger als Fakten ist die Funktion der Autobiographie. Für Verfasser wie Leser einer Autobiographie stellt sich die Frage, was die Eigenart dieses Individuums ausmacht, und warum es für die Allgemeinheit von Interesse sein sollte. Mills Lebensgeschichte fokussiert auf seine intellektuellen Beziehungen und vernachlässigt die zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Die skandalträchtig enge Beziehung

M. Meyer

zur verheirateten Harriet Taylor, die er 1830 kennen lernte und 1851 nach dem Tod ihres Mannes heiratete, erscheint hier dezidiert platonisch, um persönliche Angriffe zum Schweigen zu bringen (CW XIV, 137–138, 154; Robson/ Stillinger 1981, xx–xxi). Mill betont erst, dass weder er als Person noch seine Geschichte von Interesse sei, aber begründet sie dann als Vorbild im Gegensatz zum zeitgenössischen Unterricht des sinnlosen Auswendiglernens: „[I]t may be useful that there should be some record of an education which was unusual and remarkable“ (CW I, 5). Der Modellcharakter kommt umso überzeugender dem Erziehungsprozess zu, wenn der Gegenstand der Erziehung sich nicht vom Gewöhnlichen abhebt. Mill will denjenigen Anerkennung zollen, die seine intellektuelle und moralische Entwicklung beeinflusst haben. In einem weiteren Schritt beansprucht Mill jedoch indirekt einen herausgehobenen Status: „[T]here may be somewhat both of interest and of benefit in noting the successive phases of any mind which was always pressing forward“ (CW I, 5; Herv. d. Verf.). So stellt der erste Abschnitt implizit die Frage, wie die besondere Erziehung und ein aktiver Geist, Einwirkung und Eigentätigkeit zusammenhängen. Drei grundlegende Diskurse bilden Mills Grobstruktur für den Zusammenhang äußerer Umstände und innerer Entwicklung: Geistesgeschichte, Psychologie und das Konversionsnarrativ. Den großen Zusammenhang von Mills Entwicklung zum Autor bildet die Geistesgeschichte vor konkreten historischen Ereignissen, die erst mit seiner Rolle als Parlamentarier ins Rampenlicht rücken. Mill positioniert sich aber nicht einfach als Leser und Denker besonderer Texte, sondern rahmt sein eigenes Leben in Comtes Modell der Geistesgeschichte. Mills individuelle Entwicklung vollzieht sozusagen im Zeitraffer Comtes Dreiteilung der Geschichte in eine theologische, metaphysische und positivistische Phase. Mills A System of Logic Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation (s. Kap. III.17) fasst den Fortschritt

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des menschlichen Wissens nach Comte (s. Kap. II.4) zusammen: Die theologische Phase erklärt Phänomene durch übernatürliche Wesen, die metaphysische durch Abstraktionen und die positivistische durch Erfahrung und Schlussfolgerung (CW VIII, 926–928, 930). Die quasitheologische Phase entspricht der assoziationspsychologischen Schöpfung Mills durch den Über-Vater, die metaphysische seinem unreflektierten Glauben an das abstrakte Prinzip des Utilitarismus (s. Kap. III.12), und die positivistische bereitet Mill selbst durch sein System of Logic vor (Meyer 1998, 97). Zudem greift die Autobiographie auf zwei Entwürfe des Menschen in Psychologie bzw. Philosophie zurück, um den Wandel vom Gegenstand zum Besitzer von Wissen und Macht zu erklären. Die Autobiographie verwandelt den Gegensatz des determinierten Subjekts der Assoziationstheorie und des autonomen Subjekts der idealistischen Tradition in die Geschichte der Entwicklung vom Schüler zur Autorität. „Die Autobiographie zeichnet die Figur Mills in zweifacher Weise als Subjekt der historischen Entwicklung: erst als passiven Gegenstand geschichtlicher Prozesse, dann als Handelnden, der ‚Geschichte macht‘“ (Meyer 1998, 97). Die krisenhafte Konversionsgeschichte ermöglicht den Wandel und schlägt eine Brücke zwischen empirischer Logik und romantischer Imagination, die Mill zur paradigmatischen Figur seiner Zeit erhebt (Manheimer 2018, 349). Im Folgenden werden die drei wesentlichen Entwicklungsstufen analysiert: Mills Erziehung und Entwicklung in den ersten vier Kapiteln der Autobiographie, seine Krise und deren Überwindung im fünften Kapitel, und das neue Leben als Autorität in Kollaboration mit Harriet Taylor und als tatkräftiger Reformer in den letzten beiden Kapiteln. Dabei liegt, wie in vielen psychologisch motivierten Autobiographien, der Schwerpunkt auf der Entwicklung vom Kind zum jungen Erwachsenen, denn die ersten fünf Kapitel bilden die ersten 26 Jahre bis ca. 1830 ab, die letzten beiden Kapitel die letzten 40 Lebensjahre.

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Erziehung und Entwicklung In der Darstellung der Erziehung rivalisieren zwei Modelle, die assoziationspsychologische Determination des Lerners und die Anleitung zum eigenständigen Lernen (Meyer 1998, 99– 100). Das erste Modell formt den Gegenstand der Erziehung zur Kopie des Vorbildes, das andere fördert die Entfaltung persönlicher Qualitäten. Die psychologische Basis des Drills begründet der Vater James Mill in seiner Analysis of the Phenomena of the Human Mind (1869, Bd. 2, 377–378), die den Geist auf einen passiven Empfänger von Input reduziert, das nach den Gesetzen der Assoziation verarbeitet wird. Die Kontrolle der Einflüsse determiniert das Denken. Der Lehrer, führt John Stuart Mill aus, trichtert dem Schüler die richtige Doktrin ein und setzt auf mechanische Wiederholung (CW I, 332–338). Mill verurteilt diese Methode, denn sie bilde nur ‚Papageien‘ aus, die vorgefertigte Meinungen wiederholen (CW I, 331). In Anlehnung an Platon und Locke (CW I, 335; CW X, 141–142) verurteilt Mill in seinem Essay „On Genius“ (1832; CW I, 327–339) das vorherrschende mechanische Auswendiglernen als bloße Imitation etablierten Wissens und fordert „mental gymnastics“ in Logik und Metaphysik, welche geistige Fähigkeiten – heute: Kompetenzen – trainieren (CW I, 337–338). Mechanischer Drill reduziere den Menschen zum Teil einer großen Maschine, „being in himself noth­ ing“ (CW I, 329), fördernde Anleitung ziele auf die höheren Gaben des Intellekts und des Herzens. Niemand könne andere etwas lehren, denn Antworten und Wahrheiten könne nur der aktive eigene Verstand auf der Basis eigener Erfahrung durch Beobachtung und Reflexion entdecken (CW I, 332). Mill versucht in seiner typisch dialektischen Form die widersprüchlichen Modelle in seiner Lebensgeschichte zu einer höheren Einheit zu verknüpfen. Die ‚Fallstudie‘ des eigenen Lebens ebnet aber die Widersprüche nicht unbedingt ein. Die beispielhafte Erziehung steht also unter zwei widersprüchlichen An-

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forderungen: Sie muss die Macht der Erziehung an einem Subjekt zeigen, das möglichst keine individuellen Eigenschaften besitzen darf, um die Pädagogik auf jeden Schüler oder auf jede Schülerin anwenden zu können. Aber der Lernende soll auch sein individuelles Potenzial entfalten und zur Selbständigkeit reifen. Die ‚Lösung‘ liegt in der Folge von assoziationspsychologischer Konditionierung und Erziehung zum kritischen Denken, aber beide verlaufen nicht unbedingt vorbildlich. Der junge Mill sei, wie sein Vater ihm vorwirft, zu nichts fähig: „I was, as my father continually told me, like a person who had not the organs of sense: my eyes and ears seemed of no use to me, so little did I see or hear what was before me, and so little, even of what I did see or hear, did I observe and remember“ (CW I, 609). In den Augen des Vaters war der Sohn dumm, faul und „unfit for all the common purposes of life“ (CW I, 609). Diese Position radikalisiert James Mills assoziationspsychologische Annahmen, verleiht alle Macht seiner Autorität und reduziert seinen Sohn auf ein Nichts. Mill streicht die Passage wieder, wohl weil sie ein zu schlechtes Licht auf beide wirft, aber einige Details bestätigen das väterliche Erziehungsmodell: Wie bei James Mill und in der Bibel stehen am Anfang die Leere und das Wort. Der Vater schreibt dem kleinen Sohn die Bedeutung griechischer Vokabeln und die Flexionen auf, um Texte zu übersetzen und vorzulesen (CW I, 26). Da der Vater dem Jungen aber nicht zeigt, wie etwas zu lesen ist, folgt der Junge nicht den Normen der Redekunst und wird bestraft, um falsches Verhalten durch negative Sanktionierung zu unterdrücken (CW I, 26). Ähnlich muss der Sohn die Vorträge des Vaters so oft umschreiben, bis dieser sie für seine Aufsätze verwenden kann. So dienen Stimme und Schrift nicht dem Ausdruck eigener Erfahrungen oder eigenen Verstehens, sondern der habituellen Disziplinierung der Sprache und des Denkens. Es ist bezeichnend für die Unterdrückung von Individualität und Imagination, dass der Junge manche der wenigen poetischen Texte, die er zu lesen bekommt, nur im Kopf zu eigenen Melodien singt (CW I, 18–20).

M. Meyer

Das gleiche Machtgefälle kennzeichnet die moralische Erziehung. Der Vater, der Pfarrer werden sollte, dekonvertierte vom Christentum zum Utilitarismus und ersetzte religiöse durch – nach Comte (s. Kap. II.4) – höhere säkulare Werte, verkörpert in einem „ideally perfect Being, to whose approbation they habitually refer every thought and action“ (CW I, 46). Für Mill erfüllt der Vater dieses Vorbild: „I acquired a habit of leaving my responsibility as a moral agent to rest on my father, my conscience never speaking to me except by his voice“ (CW I, 613). Der Vater vertritt im quasi-religiösen Sinne die Allmacht. ‚Sein Wille geschehe‘, aber das determinierte Kind nimmt so an der moralischen Autorität teil (Danahay 1993, 150–151). Konditionierung und Habitualisierung mögen nicht immer optimal umgesetzt werden, aber Mill kritisiert hier – im Gegensatz zu seinem Essay „On Genius“ – nicht per se Imitation und das Modell von Belohnung (die kaum sichtbar wird) und Sanktionierung. Der Vater als Vorbild wird hier nicht explizit infrage gestellt, aber implizit durch die spätere Krise des determinierten Subjekts. Im Kontrast dazu scheint Bildung durch Dialog und Dialektik zu stehen, die schneller kritisches Denken vermitteln solle, als es über Erfahrung und Reflexion möglich sei. So muss der Sohn dem Vater bei Spaziergängen vom Inhalt und seinem Verständnis vorgegebener Lektüre berichten und Fragen beantworten. Er beginnt in seinem zwölften Lebensjahr mit den Grundlagen des Denkens, aber er versteht weder den Sinn syllogistischer Logik noch die Erklärungen seines Vaters. Dennoch hätten Drill in logischer Analyse damals den Samen seines kritischen Denkens gepflanzt (CW I, 21–24). Daher sei Mill wie sein Vater „a pupil of Plato, and cast in the mould of his dialectics“ (CW I, 24). Die Kombination der ‚organischen‘ Metapher des Schülers mit der mechanistischen des Formgusses kennzeichnet Mills Bemühen, dialektisch Gegensätze aufzuheben und den Drill des mechanistischen Lernens für das Lernen des Denkens fruchtbar zu machen. Allerdings ist die Entwicklung eigenständiger Ideen oder Identität

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gar nicht gefragt. Dialog und Dialektik bleiben ein Lippenbekenntnis, solange die Autorität des Vaters nie infrage steht. Das eigene Denken mag manchmal vom vorgegebenen Pfad abweichen, ordnet sich aber letztlich dem „ultimate standard“ (CW I, 32) des Vaters unter. Die Autobiographie kann den Widerspruch der Lerntheorien nicht dialektisch auflösen, wenn die Erziehung einerseits eine „reasoning machine“ (CW I, 111) produziert, andererseits ein Niemand in jemanden verwandelt, der den Vergleich mit seinem Vater und Plato nicht zu scheuen braucht. Die überwiegend mechanistische Erziehung mündet aber in eine Entdeckung. Die Lektüre von Dumonts Traité de Legislation gilt Mill als Ereignis und einer der Wendepunkte seiner geistigen Entwicklung (CW I, 66). Das Buch vermittelt schlagartig die inspirierende Erfahrung der Wahrheit des Bentham’schen Prinzips der Nützlichkeit und seine Funktion für die Entwicklung der Menschheit: „I felt taken up to an eminence from which I could survey a vast mental domain and see stretching out in the distance, intellectual results beyond all computation […] When I laid down the last volume of the Traité, I was a different being. […] I now had opinions; a creed, a doctrine, a philosophy; in one (and the best) sense of the word, a religion“ (CW I, 68). Die visionäre Qualität liegt jenseits materieller Berechenbarkeit und fungiert wie ein Leuchtfeuer: „[T]he vista of improvement which he [Dumont] did open was large enough, and brilliant enough, to light up my life, as well as to give definiteness to my aspirations“ (CW I, 70). Die zur Offenbarung und Verwandlung stilisierte Lektüre vollendet eigentlich nur die utilitaristische Erziehung (und deckt implizit ihren Mangel an Empathie auf): Warum also diese quasireligiöse Dramatisierung? Bentham und James Mill werden en passant als nicht inspirierende Lehrmeister kritisiert. Mill suggeriert hier eine Entwicklung von der mechanischen Imitation der Autoritäten zum entdeckenden Lernen durch eigene Erfahrung, welches er in „On Genius“ zum Modell erhob. Die eigene Entwicklung verwandelt ‚endlich‘ den logischen Gegensatz der Erziehungsmodelle in eine sich ergänzende

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Folge. Der Wendepunkt ist also nicht inhaltlich, sondern persönlich zu verstehen. Mill wandelt sich in der Folge vom Gegenstand der Erziehung durch andere zum Autor seiner eigenen Entwicklung. Als Editor oder eher Ko-Autor einiger Schriften seines Vaters und seines Mentors Bentham sowie in eigenen Beiträgen zur Westminster Review in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre schreibt sich Mill wortwörtlich den Utilitarismus als Prinzip der radikalen Reform der Gesellschaft ein und gestaltet ihn jenseits bloßer Reproduktion mit (CW I, 119, 122–126). Die Diskussionen in der Utilitarian Society lassen ihn zum unabhängigen und originellen Denker reifen, der sich niemals mit Unklarheiten oder halben Lösungen zufriedengibt und immer das Ganze in allen Teilen verstehen will (CW I, 123–127). Hier könnte seine erfolgreiche, wenn auch sehr eng begrenzte Bildungsgeschichte mit den Ergebnissen seiner schriftstellerischen Tätigkeit enden, doch hat sie zwei Haken: In beinahe jeglicher Hinsicht kann man – trotz der Beteuerungen wachsender Unabhängigkeit – bezüglich des Denkens und der Schriften wie der beruflichen Karriere als direkter Untergebener und später sogar direkter Nachfolger seines Vaters in der East India Company festhalten: „Der Sohn wird nicht nur zum Kopisten, sondern auch zur Kopie des Vaters“ (Meyer 1998, 102). Dies ändert sich erst, als die Vernachlässigung der Gefühle und Imagination durch den radikalen Utilitarismus, die er lange Zeit mit dem Vater und anderen Mitstreitern teilt (CW I, 111–116), zum Problem wird. Denn die Inspiration entpuppt sich als Strohfeuer, da die Begeisterung für abstrakte Konzepte, die nach Comte die metaphysische Phase kennzeichnet, nicht anhält.

Krise und neue Ausrichtung Mills ‚Glaubenskrise‘ beginnt mit nachlassendem Enthusiasmus, weil er kein Mitgefühl mit den Menschen, denen die utilitaristischen Reformbestrebungen gelten, empfindet

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(CW I, 112; Meyer 1998, 115). Mill verbindet sein persönliches Glück mit der Vorstellung eines dauerhaft glücklichen Lebens aller Menschen in der Zukunft (CW I, 136). In einer trübsinnigen Laune fragt er sich: „‚Suppose that all your objects in life were realized, that all the changes in institutions and opinions which you are looking forward to, could be completely effected at this very instant; would this be a great joy and happiness to you?‘ and an irrepressible self-consciousness distinctly answered ‚No!‘ At this my heart sank within me; the whole foundation on which my life was constructed fell down“ (CW I, 136–138). Die Assoziation dieser Situation mit Sünde stellt sich ein, als sich Mill ein Selbstbewusstsein aufdrängt und mit einem ‚Nein‘ von seinem ‚allmächtigen‘ Vater und dem gemeinsamen Reformziel abkehrt. Das intuitiv erlebte Selbstbewusstsein widerspricht seiner theoretischen Negierung in der mechanistischen Assoziationspsychologie. Allerdings kann sich die eigene Identität zunächst nur ex negativo als anderer definieren, denn er verliert seinen Lebenssinn, ohne eine neue Bestimmung zu haben. Der Rationalismus des Vaters bietet keine Konzepte und Sprache für das Gefühlsleben, weshalb sich der vergangene wie der gegenwärtige Mill romantischer Texte für die Krise und ihre Bewältigung bedient. Mill lehnt sich an die Konversion in Carlyles fiktionaler und satirischer Biographie Sartor Resartus an (zuerst 1833/1834 publiziert; Buckley 1990, 228; Meyer 1998, 114–121). Dessen einsamer, verzweifelter Protagonist Teufelsdröckh leidet an einem sinnlosen, mechanistischen Universum ohne Gott, der gleichgültigen „Mill of Death!“ (in Anspielung auf James Mill; Carlyle 1896, 129–130). Teufelsdröckh erhebt seine Stimme zum lauten ‚Nein‘ im Protest und behauptet seine Freiheit: „I am not thine, but Free, and for ever hate thee!“ (Carlyle 1896, 135; Herv. i. O.). Aber nach einer Phase der Unruhe und Gleichgültigkeit führt erst eine neue Vision zu einer emphatischen Bejahung der Willensfreiheit gegenüber der Notwendigkeit. Statt endloser Spekulation und selbstsüchtigem Streben nach Glück sollen Glaube, Hoffnung und gute Taten

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dem Leben Sinn verleihen (Carlyle 1896, 152– 153). Ähnlich folgt auf Mills ‚Nein‘ eine depressive Phase, die ein Zitat aus Coleridges „Ode on Dejection“ beschreibt: „A grief without a pang, void, dark and drear/A drowsy, stifled, unimpassioned grief/Which finds no natural outlet or relief/In word, or sigh, or tear“ (CW I, 138). Das Nichts ist weder das unbeschriebene Blatt der Assoziationspsychologie, noch findet es intuitiv selbst seinen Ausdruck: Es ist eine Traurigkeit ohne Tränen. Es gibt wohl keine Rückkehr zur ‚tabula rasa‘, die man einfach neu beschreibt: „[T]here seemed no power in nature sufficient to begin the formation of my character afresh and create in a mind now irrevocably analytic, fresh associations of pleasure with any of the Objects of human desire“ (CW I, 142). Mechanische Arbeit hilft nicht, und Mill kann so nicht weiterleben, wie er mit den Worten Co­le­ ridges umschreibt: „Work without hope draws nectar in a sieve/And hope without object cannot live“ (CW I, 144). Da es keine hilfreiche Antwort auf das Problem des Selbstbewusstseins und des eigenen Glücks gibt, das die Krise auslöste, setzt Mill – wie Carlyle – auf die Verdrängung des Selbstbewusstseins und der Frage nach dem eigenen Glück: „[A]sk yourself if you are happy, and you cease to be so“ (CW I, 146). Nicht die logische Analyse, sondern die ästhetische Erfahrung bringt eine Wende, denn die bewegende Lektüre eines Trauerfalls erlöst ihn von seinem inneren Tod: „I was reading, accidentally, Marmontel’s Memoirs, and came to the passage where he relates his father’s death, the distressed position of his family, and how he, then a mere boy, by a sudden inspiration, felt and made them feel that he would be everything, would supply the Place of everything to them. A vivid conception of his and their feelings came over me, and I was moved to tears. From this moment my burthen grew lighter. The oppression of the thought that all feeling was dead within me, was gone. I was no longer hopeless. I was not a stock or a stone. I had still, it seemed, some of the material out of which all worth of character and all capacity of happiness are made“ (CW I, 144; Herv. d. Verf.)

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„Mills Empfinden über die Verdrängung des Vaters durch den Sohn findet hier ihren ‚natural outlet‘ (CW I, 138) in der ‚weiblichen‘ Körpersprache der Tränen jenseits des väterlichen Diskurses“ (Meyer 1998, 119). Während der Text Dumonts über den Utilitarismus Mills intellektuellen Reformeifer inspiriert, sprechen die Memoiren sein Mitgefühl an, das ihn mit anderen Menschen vereint, von denen ihn die abstrakte Theorie und das ‚No‘ seines Selbstbewusstseins getrennt hatten. Statt der Rückkehr zum Glauben an Gott bei Carlyle steht allerdings bei Mill später die Bekräftigung seines Glaubens an den Utilitarismus und der Hoffnung auf Reformen, ergänzt um den Liberalismus und schließlich seine guten Taten als Parlamentarier. Die Krise und ihre ‚Lösung‘ haben zahlreiche Interpretationen herausgefordert (Meyer 1998, 113–114), zumal der Biograph Packe (1954) keine Evidenz eines derartig gravierenden Einschnitts zu diesem Zeitpunkt in Mills Leben finden kann. Packe interpretiert die Schilderung der Krise psychologisch als Ergebnis einer repressiven Erziehung und Ausdruck der Rebellion gegen den Vater (Meyer 1998, 80–81). Danahay (1993, 150–158) argumentiert, dass Mills habituelle Selbstunterdrückung zusammengebrochen ist und er wünscht, die Macht des Vaters selbst zu übernehmen. Das unwillkürliche ‚Nein‘ und die Tränen der Trauer und Erleichterung deuten auf einen ödipalen Konflikt hin. Levi (1945, 100–101) zufolge hasst Mill seinen Vater, kann dies aber nicht zum Ausdruck bringen, und so fördert erst die Lektüre des Trauerfalls die unterdrückten Gefühle der Wut und des Willens zutage, die Position des Vaters zu übernehmen. Nord (2014, 90–91, 94–96) und Manheimer (2018, 342–343) zufolge verknüpft Mill seine psychologische Entwicklung mit der Ideengeschichte des Generationenwechsels in der Übergangszeit: Der Vater repräsentiert das aufgeklärte 18. Jahrhundert. Sein Sohn erlebt die Zerstörung der Gefühle durch rationale Analyse. Anstatt die Lehre der Aufklärung aber hinter sich zu lassen, bemüht sich Mill ähnlich wie Cole­ ridge um eine Synthese und kultiviert als Viktorianer Vernunft und Gefühl wie Imagination als ‚natürliche Ergänzung‘ (CW I, 141).

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Buckley (1990) und Meyer (1998) gehen von einer rhetorischen Konstruktion der autobiographischen Figur nach literarischen und diskursiven Modellen aus (s. o.). Zwar folgt Mill strukturell Carlyles Krisengeschichte, lässt aber dessen visionäres Konversionserlebnis aus, da trotz des dramatischen Zusammenbruchs das Gedankengebäude nicht abgerissen, sondern nur erweitert wird: So kann die väterliche Autorität implizit über die innere Krise und den fiktionalen Tod einer Vaterfigur abgelehnt und selbst übernommen werden. Romantisch ist nicht nur die Krise, sondern auch ihre vorläufige Überwindung. In Wordsworths Lyrical Ballads findet Mill einen Seelenverwandten. Er identifiziert sich mit Wordsworths Gefühl des Verlusts, dem Bemühen um Kompensation und dem Interesse am Empfinden und Schicksal der Mitmenschen (CW I, 152). Zudem scheinen die Gedichte in ihm verschüttete Empfindungen frei zu legen, denn Mill scheut sich, angeborene Eigenschaften anzunehmen: Die Lektüre der Gedichte „seemed to be the very culture of the feelings which I was in quest of. By their means I seemed to draw from a source of inward joy, of sympathetic and imaginative pleasure“ (CW I, 150; Herv. d. Verf.). Die Kultivierung der Gefühle durch empathische Lektüre ergänzt die des Intellekts, aber die ästhetische Erfahrung entzieht sich seiner Analyse (Parkhurst 2013, 18–20, 32) – oder er will diese gar nicht sezieren und damit gefährden. Dennoch kann Mill vorerst den Dämon des Determinismus nicht abschütteln, der ihn erneut lähmt: „[T]he doctrine of what is called Philosophical Necessity weighed like an incubus on my existence. I felt as if I was the helpless Slave of antecedent circumstances; as if my character had been formed for me by agencies beyond my control, and was now out of my power“ (CW I, 176). Mill räumt das zentrale Problem assoziationspsychologischer Erziehung als erlebtes Dilemma ein: „[I]t would be a blessing if the doctrine of necessity could be believed by all in respect to the characters of others and disbelieved in respect of their own“ (CW I, 176). Sein Wunsch nach Freiheit vom Einfluss des Vaters geht einher mit dem Wunsch nach seinem

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eigenen Einfluss als Reformer auf empfängliche andere. Psycho-Logik verdrängt Logik. Mills Autobiography und sein System of Logic bestätigen sich wechselseitig, denn die ‚Lösung‘ seines erlebten Dilemmas hat Mill in seinem Kapitel über Freiheit und Notwendigkeit in der Logic niedergelegt: Zwar sei der Charakter vollkommen durch die Umstände bestimmt, aber der eigene Wille könne die Umstände ebenfalls beeinflussen (CW I, 176): „We are exactly as capable of making our own character, if we will, as others are of making it for us“ (CW VIII, 840; Herv. i. O.), indem wir die Mittel unserer Bildung wählen. Freiheit begrenzt Notwendigkeit, aber die möglichen Umstände, die den Willen begründen, sind schwierig zu ermitteln (CW I, 176; CW VIII, 840–842; Meyer 1998, 120– 121; Manheimer 2018, 346–347). Diese Wendung zum bedingt freien Willen erlaubt es Mill, sich zumindest graduell vom Vater zu lösen, und seine Bildung – wie seine Bindung an Harriet Taylor – in die eigene Hand zu nehmen: „I found the fabric of my old and taught opinions giving way in many fresh places, and I never allowed it to fall to pieces, but was incessantly occupied in weaving it anew: I never, in the course of my transition, suffered myself to remain confused and unsettled“ (CW I, 162–164). Jenseits der eigenen Bildung ermöglicht es der bedingt freie Wille im Rahmen einer assoziationspsychologischen Anthropologie, ‚freie‘ Leitfiguren und eine erziehbare Masse zu denken (Loesberg 1986, 24), um gesellschaftliche Reformen gegen die Beharrungskräfte überkommener Meinungen voranzutreiben (Manheimer 2018, 345). Auf diese richtet sich Mills Engagement in Wort und Tat in der letzten Phase seiner Lebensgeschichte.

Vollendung: Reform in Wort und Tat Harriet Taylor, die Mill 1830 kennenlernt und nach dem Tode ihres Mannes 1851 heiratet, ersetzt und übertrifft Mills Vater als Leitstern nach der Krise (Danahay 1993, 161). Sie verkörpere in Perfektion die ideale Verbindung von Intellekt und Gefühl, Analyse und Imagination, Theo-

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rie und Praxis (CW I, 183, 195, 251, 617–623; Buckley 1990, 229–230). Die Idealisierung droht allerdings, wie im Verhältnis zum ÜberVater, die eigene Position als passiver Empfänger zu marginalisieren, weshalb Mill auch in anderen Passagen seine männlich konnotierte Rolle des Verstandes und der Handlungsmächtigkeit behauptet. So sieht es Mill als seine Aufgabe, „to serve as a sort of prose interpreter to her poetry, giving a logical exposition to those who have more understanding than feeling, of the reasonableness of that which She either knew by the experience or divined by the intuition of one of the richest and strongest natures“ (CW I, 623). Es verwundert nicht, dass diese Behauptung wieder gestrichen wurde, folgt sie doch traditionellen Geschlechterklischees und räumt der Intuition Bedeutung ein, die er in System of Logic als Hort der Vorurteile bekämpft. Stattdessen betont er als Ideal ihre gleichberechtigte Zusammenarbeit, die in On Liberty (s. Kap. III.13) noch einen Schritt über die bedingte Freiheit des Einzelnen hinausgeht, indem sie ihre gesellschaftliche Relevanz betont. Er präsentiert On Liberty als grundlegendes philosophisches Lehrbuch „of a single truth“ (CW I, 259), dass nämlich die Freiheit und Vielfalt von Positionen notwendig sind, um öffentliche Meinungen und Praktiken zu reformieren bzw. neue Ideen zu generieren, wenn alte ausgedient haben (CW I, 259). Wie Mills Krise gibt sein Verhältnis zu Harriet (s. Kap. II.6) Anlass zu Spekulationen über die Art und Funktion ihrer Beziehung. Die Darstellung der wechselseitigen Bereicherung von Harriet Taylor und John Stuart Mill nimmt sozusagen die positivistische Utopie in Person vorweg, in der die Religion der Menschlichkeit (s. Kap. V.38) die moralische Erziehung und die von Irrtümern befreite Wissenschaft die intellektuelle Führung der Menschheit übernehmen (CW X, 303; CW XXII, 240, 253; CW XXVII, 645; Gagnier 1991, 256). So ‚beweist‘ die Autobiographie die Wahrheit der Utopie. Allerdings hinterfragen viele Kritiker die Bedeutung Harriets. Olney (1972, 249) zufolge dient die Figur Harriet der Überwindung des Vaters und als Projektionsspiegel der eigenen Autorisierung

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des Schriftstellers Mill. Aus kulturgeschichtlicher Sicht idealisiert die Romantik das autonome Selbst, trauert aber der verlorenen Gemeinschaft hinterher, was sich nach Danahay in der Projektion von Autorität auf Harriet und im Selbst als paradoxer „subjected autonomy“ äußert (Danahay 1993, 148). Psychoanalytisch interpretiert Zerilli Harriet als Figur des anderen, die einerseits das unerfüllbare prä-ödipale Verlangen versinnbildlicht, mit der abwesenden Mutter zu verschmelzen, und andererseits als ‚männlicher‘ Intellekt die Ablösung vom Vater rechtfertigt (Zerilli 1992, 206–208). Mills Positionierung als repräsentatives, fortschrittliches Individuum erreicht ihren Höhepunkt in der Ergänzung von 1869–1870, die ihn zum ersten Mal als Mann der Tat zeigt, der als Parlamentarier sein abstraktes Wissen in politisches Handeln umsetzt (Carlisle 1991, 264– 265), wobei das Handeln in Wort und Schrift erfolgt. Er beansprucht Autorität auf dem Gebiet des Wissens und des moralischen Gewissens, definiert sich aber beständig als Außenseiter im Gegensatz zur etablierten Macht, die sich auf die bestehende öffentliche Meinung stützt. Er stellt seine Stimme ausdrücklich in den Dienst der Iren, Sklaven, Frauen und Arbeiter: Mit der Repräsentation der vom offiziellen politischen Diskurs Ausgeschlossenen schlägt sich Mill auf die Seite der anderen und markiert seine Individualität als Vorkämpfer gegenüber den konservativen Repräsentanten der bestehenden Ordnung (Meyer 1998, 139–141). So scheint die Autobiographie performativ die These von On Liberty zu belegen, dass fortschrittliche einzelne gesellschaftliche Reformen gegen die vorherrschende Meinung vorantreiben. Reform bedeutet vernünftiger Wandel, nicht chaotische Revolution, bei der die Gefahr besteht, dass sich die anderen selbst ermächtigen, die sich nicht repräsentiert sehen. Revolution würde den Führungsanspruch der Elite infrage stellen, zu der sich Mill zählt, der sich aber auch in der Krise bewährt, wenn er einen Aufruhr der Arbeiter in London im Jahre 1866 verhindert. Den genauen historischen Hergang von Mills Eingreifen konnte Pugh (1982, 13) trotz intensiven Quellenstudiums nicht nach-

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weisen, doch finden sich Vorbilder in Texten wie bei der Darstellung der persönlichen Krise. Carlisle (1991, 278–279, 286–288) sieht eindeutige Parallelen zwischen Mills Handlung und Turgots Bewältigung der Unruhen von 1775 und Carrels Dämpfung von aufrührerischen Tendenzen der Gesellschaft für Menschenrechte. Carlisle bezeichnet die Autobiographie als die gegenwärtige Umschreibung der Vergangenheit, Mills „revision of his character in accordance with the ideals of political action epitomized by the conduct of his French predecessors“ (Carlisle 1991, 288). Mill wird also in seinem letzten Lebensabschnitt seiner Autobiographie zufolge zu dem Reformer, den seine Theorie des historischen Fortschritts verlangt. Die Autorität der Autobiographie soll künftige Leser vom Fortschritt bzw. von der vorausschauenden Position des repräsentativen Individuums Mill überzeugen.

Der Wert der Autobiographie im Rahmen von Mills Werk In der Autobiographie geht es Mill als Schriftsteller um die Begründung seiner Identität als Autor/ität, die eine diskursive und eine psychische Seite hat. Dazu muss er aus den Schriften wie dem Schatten seines Vaters heraustreten und als Individuum von Wert für die Gesellschaft werden. Die Verarbeitung von Ideen und Modellen in Texten prägt das Leben und Schreiben des Schriftstellers: „[T]he most valuable part of my mental growth consisted in the assimilation of those truths, and the most valuable part of my intellectual work was in building bridges and clearing the paths which connected them with my general system of thought“ (CW I, 253). Widersprüche, die als Manko der Theorie gelten, sind in der Autobiographie von besonderem Interesse, denn sie generieren Konflikte und verlangen Lösungen, die nicht unbedingt zu erreichen sind. Das Besondere des Lebens zeigt sich gerade in schwierigen Situationen und Brüchen. Wäre die Erziehung Mills nur ein Fallbeispiel der Assoziationspsychologie seines Vaters, könnte sie im Appendix seiner Theorie verschwinden und würde kein Interesse am Schüler

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begründen. Würde die Krise zu einem totalen Bruch mit dem Vater führen, hätte dessen Erziehung keinen Wert. Die Verzweiflung an der Ohnmacht gegenüber der Fremdbestimmung durch den Vater und ihre ästhetische Überwindung durch romantische Texte markieren gleichermaßen das Ungenügen der Theorie wie das Vergnügen (der Leser) an der Erzählung. Im Prinzip vollzieht das Schreiben der Autobiographie Mills Theorie eines bedingt freien Willens im Rahmen der Assoziationspsychologie: Der Schriftsteller hat durch seine große, aber doch begrenzte Erfahrung, die überwiegend im Lesen und Schreiben besteht, eine bedingt freie Wahl, seine Lebensgeschichte als Zuschnitt und Gewebe anderer Texte zu schreiben. Die narrative Autobiographie nimmt sich die Freiheit, Brücken zwischen Texten zu schlagen, welche die analytische Logik voneinander trennt. Die autobiographische Figur ‚verkörpert‘ den lebenden Beweis für die Richtigkeit seiner Theorien, dass ein bedingt freier Wille im Rahmen einer deterministischen Psychologie möglich ist (Loesberg 1986, 2–4, 24). So autorisieren sich Mills theoretische Schriften und seine Autobiographie wechselseitig: Die Schriften strukturieren die Lebensgeschichte, und die Autobiographie begründet, deutet und legitimiert umgekehrt die Schriften.

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Utilitarianism (1861)

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Christoph Schmidt-Petri

„There is no difficulty in proving any ethical standard whatever to work ill, if we suppose universal idiocy to be conjoined with it.“ John Stuart Mill, Utilitarianism, CW X, 224

Einführung Die moralphilosophische Schrift Utilitarianism gehört mit dem inhaltlich eng verbundenen Buch On Liberty (s. Kap. III.13) zu Mills wichtigsten Werken. In angelsächsischen Fachbereichen für Philosophie gehört sie zur Pflichtlektüre in den ersten Studienjahren, auch in Deutschland steht sie inzwischen sehr häufig im Vorlesungsverzeichnis. Der Text scheint sich besonders für die studentische Lektüre zu eignen, da er nicht nur ein angenehm kurzer und auch leicht zu lesender Klassiker einer der wichtigsten Strömungen der Moralphilosophie ist, sondern offenbar auch ebenso klassische Fehlschlüsse und Denkfehler aufweist, an denen Studierende ihre kritische Lektürefähigkeiten schulen können. Vor allem der Mill’sche ‚Beweis‘ des Utilitarismus und die offenbar dogmatische Unterscheidung zwischen ‚guten‘

C. Schmidt-Petri (*)  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Praktische Philosophie, Karlsruher Instituts für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

und ‚schlechten‘ Freuden haben viel und heftigen Widerspruch hervorgerufen. Letztere Unterscheidung begründet nach Ansicht mancher Interpreten eine neue Art des Utilitarismus – den qualitativen, im Gegensatz zum rein quantitativen, wie er von Mills Ziehvater Jeremy Bentham propagiert wurde (s. Kap. V.29). Dieser Interpretationsansatz, der dem Buch einen fast revolutionären Anspruch unterstellt, steht in einer gewissen Spannung mit Mills eigenen Äußerungen. In seiner Autobiographie (s. Kap. III.11) erwähnt Mill das Buch nur in einem Satz, und über die Entstehungsgeschichte von Utilitarianism ist auch ansonsten überraschend wenig bekannt. Publiziert wurde es 1861 zuerst in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben von Fraser’s Magazine, einer Zeitschrift für die politisch interessierte Öffentlichkeit (wissenschaftliche Fachzeitschriften existierten zur damaligen Zeit praktisch noch nicht), erst zwei Jahre später erschien es als Buch. Der Entstehungskontext legt also nahe, dass Utilitarianism von Mill nicht als eigenständiges Werk geplant war und sich nicht an ein philosophisches Fachpublikum richtete, sonst hätte er es wohl gleich als Monographie veröffentlicht. Hätte er das vorherrschende Verständnis der utilitaristischen Theorie revolutionieren wollen, wäre sein Vorgehen vermutlich anders gewesen, seine Argumentationsschärfe vielleicht auch. Der Text gliedert sich in fünf Kapitel, die im Folgenden rekonstruiert werden. Beachtenswert

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_12

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ist, dass das fünfte Kapitel – zum vermeintlichen Konflikt zwischen der Theorie des Utilitarismus und dem vorherrschenden Gerechtigkeitsempfinden (s. Kap. V.28) – ursprünglich ein völlig separater Artikel war, also nicht zusammen mit den anderen vier Kapiteln entstanden ist, und daher stilistisch wie argumentativ etwas aus dem Rahmen fällt. Dieses Kapitel zeigt aber besonders deutlich, dass Mills Text eine Reaktion darstellt, eine Verteidigung des Utilitarismus gegen Einwände. Der Utilitarismus als Theorie wird im gesamten Text grundsätzlich als bekannt vorausgesetzt, was auch die Tatsache, dass die systematische Darstellung der Position etwas kurz geraten ist, erklären mag. Die wichtigsten Kontroversen werden im Folgenden kurz mit Lösungsalternativen vorgestellt, für einen tieferen Einstieg empfiehlt sich die Einführung von Roger Crisp (1998) und der Sammelband von Henry West (2006).

Kapitel 1: Allgemeine Bemerkungen Im ersten Kapitel, der Einleitung, liefert Mill eine interessante Problembeschreibung, die leicht missverstanden werden kann. Klar ist, dass Mill die Grundlage der Moral in seinem Werk ergründen möchte (mit Moral ist hier ganz einfach die mehr oder minder systematische Ansammlung an Forderungen gemeint, die wir als moralische Verbote, Gebote, Regeln, Denkschemata etc. kennen). Um dieses Projekt zu erklären, bedient er sich zwei Metaphern. Einem Baum ähnlich sei die Moral, nicht einem Haus (CW X, 205 f.). Damit ein Haus gebaut und dauerhaft bestehen kann, müssen vor allem die Fundamente sorgfältig durchdacht und solide angelegt werden. Stein für Stein wird dann das Haus so hoch und breit gemauert, wie es den vorangegangenen Planungen entspricht. Anders verhält es sich bei einem Baum. Ein Baum muss sehr klein anfangen, als Samen, kann sich aber mit der Zeit zu stattlicher Größe entwickeln. Dabei wächst er jedoch nicht nur über der Erdoberfläche, gut sichtbar, sondern auch verdeckt unter ihr. Die sich so weiter ausbildenden Wurzeln des Baumes entsprechen dem Fundament

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des Hauses und geben dem Baum insgesamt die Stabilität. Wird die Moral der Baummetapher entsprechend verstanden, wie Mill es tut, ist es nicht überraschend, dass sie vergleichsweise gut funktionieren kann, auch wenn ihre Grundlagen, die Wurzeln, bisher unentdeckt geblieben sind. Diese sind eindeutig vorhanden – sonst könnte es den Baum so nicht geben. Die Stabilität der Wurzeln lässt sich auch am sichtbaren Teil des Baumes überprüfen, und sie zur genaueren Beobachtung auszugraben wäre vermutlich nicht wirklich zielführend, vielleicht sogar kontraproduktiv. Entscheidend aber ist, dass wir die Grundlagen der Moral nicht im Detail kennen müssen, um die Moral begreifen, verstehen und nutzen zu können. Sie ist kein durchgeplantes Gebäude, das einstürzen muss, wenn die Fundamente falsch angelegt wurden. Durch Hypothesen darüber, wie die Wurzeln wohl aussehen, wird der Baum auch nicht entwurzelt. Mills Projekt in Utilitarianism ist die Darstellung einer kompletten Hypothese darüber, wie die Wurzeln der Moral tatsächlich aussehen bzw. zumindest aussehen könnten: utilitaristisch. Entwurzeln will er die Moral nicht. Schon in der Einleitung werden zu diesem Zweck zwei alternative Ansätze in der Moralphilosophie kritisiert, der Intuitionismus (s. Kap. II.9) und die Theorie Kants (CW X, 206 f.). Diese Kritik zieht sich durch das gesamte Werk, wenn auch häufig zwischen den Zeilen. Der Intuitionismus, der ausgiebig in Mills Aufsatz „Whewell on Moral Philosophy“ (CW X, 165– 201) kritisiert wird, geht davon aus, dass moralische Prinzipien durch moralische ‚Intuition‘ erkannt werden, deren Quelle und Mechanismen jedoch schleierhaft bleiben, auch wenn sie sich unmittelbar als ‚gefühlte Wahrheiten‘ aufdrängen. Kant, dem sich Mill leider schriftlich nie ausgiebig gewidmet hat, probiert zu zeigen, dass das grundlegende moralische Prinzip, der Kategorische Imperativ, durch die Vernunft vorgegeben ist. Mill möchte mit seinem Ansatz, den er den ‚induktiven‘ nennt und dessen empirische Vorgehensweise er betont, die Willkürlichkeit des Intuitionismus und das offenkundige Scheitern des Kant’schen Ansatzes in der moralischen

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Praxis, das er an Kants entsprechenden Versuchen festmacht, überwinden. Dass Mill einen empiristischen Ansatz verfolgt, der als Gegenentwurf zum kantianischen zu verstehen ist, wird sich in einigen Passagen zeigen.

Kapitel 2: Was heißt Utilitarismus? Das zweite Kapitel erklärt, wie der Utilitarismus zu verstehen ist. Es beginnt mit einem Exkurs, dem man auch heute noch viele Leser wünschen möchte (CW X, 209). Gerade im Deutschen erfährt nämlich das Wort ‚utilitaristisch‘ noch ähnliche Verfälschungen wie die von Mill beklagten: es wird einerseits als eng bedeutungsverwandt mit ‚sachlich‘ und ‚nüchtern‘ verstanden – dann aber als leidenschaftslos kritisiert –, andererseits völlig gegensätzlich als eng bedeutungsverwandt mit ‚hedonistisch‘ verstanden (s. Kap. V.29), also triebhaft und ausschweifend – dann aber als oberflächlich und unsachlich kritisiert. Dabei stammt ‚utilitaristisch‘ natürlich vom lateinischen ‚utilitas‘ ab, der Nützlichkeit. Nützlichkeit als Konzept ist grundsätzlich moralisch neutral und nur instrumentell wertend. Einige nützliche Dinge befördern das Gute gut, andere nützliche Dinge befördern das Schlechte gut, beide sind den jeweiligen Zielen entsprechend nützlich. Der Utilitarismus befürwortet nun eine bestimmte Theorie darüber, was das Gute für die Menschen ist, und bezeichnet dann die Dinge oder Handlungen als moralisch richtig, die diesem Guten nützlich oder förderlich sind. Das Gute im Utilitarismus ist das menschliche Glück oder Wohlergehen (s. Kap. V.35), die ‚Nützlichkeitstheorie‘ ist genauer eigentlich die ‚Glücksförderlichkeitstheorie‘: „The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness. By happiness is intended pleasure, and the absence of pain; by unhappiness, pain, and the privation of pleasure. To give a clear view of the moral standard set up by the theory, much more requires to be said; in parti-

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cular, what things it includes in the ideas of pain and pleasure; and to what extent this is left an open question. But these supplementary explanations do not affect the theory of life on which this theory of morality is grounded – namely, that pleasure, and freedom from pain, are the only things desirable as ends; and that all desirable things (which are as numerous in the utilitarian as in any other scheme) are desirable either for the pleasure inherent in themselves, or as means to the promotion of pleasure and the prevention of pain“ (CW X, 210). Mill entwickelt die Theorie des Utilitarismus in Auseinandersetzung mit einer Reihe von Einwänden. Die zentrale Weiterentwicklung seiner Theorie, die erwähnte Unterscheidung zwischen Quantität und Qualität der Freuden, die bei ihm am Anfang steht, wird am Ende dieses Abschnitts dargestellt, um zuerst die etwas weniger wichtigen Einwände stichpunktartig zu paraphrasieren. Einwand 2 (CW X, 214): Glück ist ohnehin unerreichbar. Mit dem erreichbaren Niveau an Glück werden die Menschen sich nicht zufriedengeben. Replik 2: Dauerhafte Ekstase ist in der Tat unerreichbar, aber diese ist für wohlverstandenes menschliches Glück auch nicht erforderlich. Unglückliche Menschen sind bedauerlicher Weise häufig zu ungebildet oder egoistisch, um sich am vielfältigen Reichtum der Welt zu erfreuen. Intellektuelle und emotionale Bildung ist daher für menschliches Glück erforderlich. Einwand 3 (CW X, 214): Man muss auf Glück verzichten, um tugendhaft zu sein. Replik 3: Verzicht auf Glück ist sinnvoll, aber nur insofern dadurch das Glück Anderer befördert wird. Dies befürwortet der Utilitarismus, denn Unparteilichkeit zwischen dem eigenen Glück und dem Glück anderer ist eine seiner Hauptforderungen (wie im Christentum). Konflikte zwischen dem eigenen und dem allgemeinen Wohlergehen sollten so gut wie möglich aufgelöst werden. Die Fähigkeit, auf Glück verzichten zu können, erhebt einen aber über die Wechselfälle des Lebens und erhöht damit indirekt die Wahrscheinlichkeit, das höchstmögliche persönliche Glück zu erfahren (wie im Stoizismus).

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Einwand 4 (CW X, 219): Der Utilitarismus überfordert die Menschen motivational, da er alle Handlungen auf das allgemeine Wohlergehen ausgerichtet sehen möchte. Replik 4: Das ist ein Missverständnis. Der moralische Wert einer Handlung wird nicht durch das Motiv oder die Motivation des Handelnden bestimmt (wie z. B. in der Theorie Kants), sondern durch ihre Folgen. Auch mit den besten Absichten kann man schlechte Folgen bewirken. Wenn die Folgen einer Handlung gut sind, hat man aber auch dann das Richtige getan, wenn man einfach nur konventionelle Moralregeln befolgt hat. Die Mehrheit der Menschen hat ohnehin kaum Gelegenheit, das Wohlergehen der Menschheit zu befördern, es reicht aus, wenn sie sich um ihr eigenes Umfeld kümmern. Einwand 5 (CW X, 220): Die geforderte präzise Folgenberechnung ist herzlos und unpersönlich, Menschen werden nur als Handlungsfolgenproduzenten begriffen. Soll der Charakter der handelnden Menschen etwa irrelevant sein? Replik 5: Ein guter Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass er moralisch richtige Handlungen herbeiführt. Der moralische Wert einer Handlung wird nicht durch den Charakter oder die Tugendhaftigkeit des Handelnden bestimmt (wie z. B. in der Tugendethik), sondern durch ihre Folgen. Auch gute Menschen können vereinzelt schlechte Handlungen ausführen. Menschen sind aber nicht nur von moralischem Interesse, ihre gesamten Charaktereigenschaften können auch außermoralisch geschätzt oder abgelehnt werden. Einwand 6 (CW X, 222): Der Utilitarismus ist gottlos. Replik 6: Wenn Gott das menschliche Wohlergehen befördert sehen möchte, ist der Einwand unhaltbar. Der Wille Gottes ist jedoch schwer zu ergründen. Durch das Christentum geprägte Menschen sind in der Lage, bei den Gelegenheiten, zu denen in der Bibel keine eindeutigen Handlungsregeln vorliegen, selbständig zu entscheiden, wie der Wille Gottes lauten dürfte. Allem Anschein nach spielt das menschliche Wohlergehen in der christlichen Theologie zumindest eine zentrale Rolle.

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Einwand 7 (CW X, 223): Für Utilitaristen gibt es keine wirklich gültigen Regeln, alle können opportunistisch umgedeutet werden. Replik 7: Das Brechen von Regeln kann gerechtfertigt sein, aber nicht aus opportunistischen Gründen. Wenn es überhaupt eine Regel gibt, die bedingungslos gelten könnte, dann die, stets die Wahrheit sagen zu sollen. Kooperation unter den Menschen ist ohne ein sehr hohes Maß an Wahrhaftigkeit nicht möglich, diese Regel ist die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Das Nutzenprinzip kann jedoch die Szenarien identifizieren, in denen es ausnahmsweise erlaubt sein kann, nicht die Wahrheit zu sagen. Es kann keine Regeln geben, die buchstäblich ausnahmslos gelten, dafür ist die Welt zu kompliziert. Einwand 8 (CW X, 224): Der Utilitarismus ist unpraktikabel, da es zu viel Zeit kostet, um vor allen Handlungen alle Folgen zu überdenken und auszurechnen. Replik 8: Der Einwand ist ‚an den Haaren herbeigezogen‘. Er würde genauso das Christentum treffen, da man ja nicht vor jeder Handlung die gesamte Bibel lesen kann. Die alltäglichen Regeln der Moral sind weithin bekannt, leicht zu befolgen, und dienen dazu, das allgemeine Wohlergehen zu befördern. Bestimmte Regeln können und sollten sicherlich verbessert werden, aber eine detaillierte Berechnung vor jeder Handlung ist nicht erforderlich. Einwand 9 (CW X, 225): Ein Utilitarist kann jede Regel im eigenen Interesse brechen. Replik 9: Die Existenz von Konflikten zwischen individuell geltenden Moralregeln muss jede adäquate Moraltheorie anerkennen. Wie in der Praxis mit ihnen umgegangen wird, hängt von der Urteilskraft des Handelnden ab. Befolgt er die utilitaristische Theorie, kann er immerhin mit Regelkonflikten systematisch umgehen, da er das Nutzenprinzip als Entscheidungskriterium anwenden kann. Diese Einwände sind für Mill also alle eher weniger bedeutend. Viele von ihnen werden auch heute noch diskutiert, insbesondere der Überforderungseinwand (siehe Chappell 2009). Wie Peter Singer (1972) besonders prominent betont hat, ist es Menschen inzwischen sehr

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wohl leicht möglich, mit ihren Handlungen Konsequenzen in weit entfernten Ländern herbeizuführen, und wir alle tun dies jeden Tag, ob wissentlich oder unwissentlich. Es ist daher auch möglich, sich über diese Konsequenzen Rechenschaft abzulegen – vielleicht überfordert dies aber viele Menschen, die ohne modernste Handys und regelmäßigen Fernreisen nicht meinen leben zu können. Auch die Bedeutung von Regeln in der utilitaristischen Theorie ist weiterhin umstritten, bei Mill (Lyons 1976) wie auch allgemein (Hooker 2001). Sogenannte ‚Handlungsutilitaristen‘ sind der Meinung, dass jede Handlung nur nach ihren eigenen Konsequenzen beurteilt werden kann und soll, ‚Regelutilitaristen‘ glauben, dass einzelne Handlungen unvorteilhafte Folgen haben mögen, sie aber dennoch utilitaristisch gerechtfertigt sein können, wenn die Regel, unter die sie fallen, utilitaristisch gerechtfertigt ist. Kommen wir nun zum Herzstück des zweiten Kapitels, der Theorie der ‚höheren Freuden‘ bzw. des Unterschieds zwischen ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ der Freuden. Diese entwickelt Mill als Replik auf den folgenden Einwand: Einwand 1 (CW X, 210): Der Utilitarismus ist eine Schweinephilosophie („pig philosophy“). Es geht ihm ausschließlich darum, das Lustempfinden zu maximieren. Replik 1: Dieser Einwand ist zirkulär. Wäre das menschliche Empfinden von Freude gleich dem der Schweine, hätte der Einwand keinerlei Grundlage. Er beruht gerade auf der Beobachtung, dass Menschen andere Quellen von Freude haben als Schweine. Diese Tatsache leugnet der Utilitarismus aber nicht. Ganz im Gegenteil betont er ja, dass das menschliche Wohlergehen der Maßstab der Moral sein soll. Um diesen Maßstab in der Praxis anwenden zu können, ist allerdings ein genaueres Verständnis des menschlichen Glücks erforderlich, das Mill auf den folgenden Seiten entfalten möchte. Um die Theorie von Mill bildlich prägnant darzustellen, kann man sich zwei Behältnisse vorstellen, die jeweils das Glückspotenzial eines Schweins bzw. das eines Menschen repräsentieren (Schmidt-Petri 2018). Mill behauptet, dass das Behältnis des Menschen grö-

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ßer ist als das des Schweins. Der Mensch kann nämlich zusätzlich zu den animalischen Freuden, die er größtenteils mit dem Schwein gemeinsam hat, noch die nicht-animalischen Freuden erfahren, z. B. die intellektuellen Freuden der Philosophie, der Musik oder der Kunst, die er dem Schwein voraushat. Mill geht auch davon aus, dass normalerweise diese intellektuellen Freuden schwieriger zu befriedigen sind als die animalischen. Dies hat die Konsequenz, dass das Glückspotenzial des Schweins tendenziell zu einem höheren Maß ausgeschöpft ist als das des Menschen. In der Mill’schen Terminologie ist das Schwein deswegen „zufriedener“ als der Mensch. Aber, wie der fast sprichwörtliche Slogan, in dem Mill diesen Ansatz zusammenfasst, besagt: „It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides“ (CW X, 212). Wie kann es besser sein, weniger zufrieden zu sein? Der Grund dafür ist einfach: Der Mensch ist zwar weniger zufrieden, aber er ist glücklicher als das Schwein. Glück und Zufriedenheit sind völlig unterschiedliche Konzepte. Das Glückspotenzial des Menschen ist zwar weniger vollständig ausgeschöpft, aber sein absolutes Maß an Glück ist trotzdem höher als das des Schweins. Schließlich kann ein Mensch die animalischen Freuden so leicht befriedigen wie das Schwein, und zusätzlich meist noch einige der intellektuellen Freuden (der direkte Vergleich gilt sicher nicht für jedes Schwein und jeden Menschen). Bildlich gesprochen ist sein Glücksbehältnis, da größer, relativ leerer als das des Schweins (er ist weniger zufrieden), enthält aber absolut mehr Glück (er ist glücklicher). Diese intuitiv plausible Theorie wird Mill zufolge empirisch untermauert. Da Menschen kontinuierlich die Gelegenheit haben, zwischen den animalischen (oder ‚niederen‘) und den intellektuellen (oder ‚höheren‘) Freuden zu wählen – wobei diese Unterscheidung kaum als dichotom zu verstehen ist, sondern graduelle Abstufungen und Übergänge zwischen höhe-

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ren und niederen Freuden möglich sind (und z. B. einfache Spiele, die Schweine spielen, für sie eine höhere Freude sein dürften) – können wir den Wert, den bestimmte Freuden für Menschen haben, an ihren tatsächlichen Wahlentscheidungen festmachen. Wenn wir nun Menschen beobachten, die beide Arten von Freuden kennengelernt haben, also sich nicht in Unkenntnis der Möglichkeiten für etwas entscheiden, das ihnen vorgegeben oder aufgezwungen wurde, sehen wir, dass sie tendenziell die höheren Freuden bevorzugen. Dies beschreibt Mill in einer der kontroversesten Passagen des Werkes: „If one of the two is, by those who are competently acquainted with both, placed so far above the other that they prefer it, even though knowing it to be attended with a greater amount of discontent, and would not resign it for any quantity of the other pleasure which their nature is capable of, we are justified in ascribing to the preferred enjoyment a superiority in quality, so far outweighing quantity as to render it, in comparison, of small account“ (CW X, 211). Einer Lesart zufolge behauptet Mill hier, dass höhere Freuden ausnahmslos immer den niederen vorzuziehen sind, eine normative Aussage (Riley 2003). Die Passage kann aber auch rein epistemologisch verstanden werden und würde dann nur das paradigmatische Testverfahren beschreiben, durch das wir eine Freude „von höherer Qualität“ erkennen können (Schmidt-Petri 2003; s. Kap. V.29, VI.43).

Kapitel 3: Von der fundamentalen Sanktion des Nützlichkeitsprinzips Kap. 3 und 4 wurden in der gleichen Ausgabe von Fraser’s Magazine veröffentlicht und können zusammen als der zweite Teil des Werks angesehen werden. Nachdem im ersten Teil beschrieben wurde, wie der Utilitarismus verstanden werden sollte, wird im zweiten Teil beschrieben, wie er begründet werden kann. Die beiden Kapitel leisten dazu unterschiedliche Beiträge. Im dritten Kapitel geht es um die ‚Sanktionen‘ des Utilitarismus. Mit diesem so nicht mehr

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geläufigen Begriff wird beschrieben, mit welchen Mechanismen der utilitaristischen Theorie soziale und individuelle Geltung verschafft werden kann. Das Ziel ist hier nicht, dafür zu argumentieren, dass nur die utilitaristische Theorie Geltung hat, also die einzige wahre Moraltheorie ist (im Gegensatz z. B. zur Theorie Kants oder der Tugendethik, die dann eben einfach falsch wären). Mill geht es darum aufzuzeigen, dass der Utilitarismus, würde er als Theorie akzeptiert (ob als wahr oder nur als beste verfügbare), auch praktikabel ist, also als Moral in der Gesellschaft implementiert werden könnte. Er wäre somit nicht nur in der philosophischen Theorie begründbar, sondern auch als gesellschaftliche Moral verankerbar. Es lohnt sich, dies zu zeigen, da die vorherrschende Moral eben nicht utilitaristisch begründet erscheint (auch wenn sie es, wie Mill im ersten Kapitel vermutet hatte, tatsächlich ist) und zumindest über ein gewisses Maß an Geltung verfügt. Menschen fühlen sich bereits moralisch verpflichtet, akzeptieren und befolgen die konventionelle Moral. Könnten sie auch davon überzeugt werden, den Utilitarismus als Grundlage ihrer moralischen Verpflichtungen anzuerkennen? Eine substantielle inhaltliche Veränderung der Pflichten wäre damit nicht unbedingt verbunden, nur eine Veränderung ihrer Begründung. Mill zufolge wäre die Implementierung für die utilitaristische Theorie nicht problematischer als für jede andere Moraltheorie. Sie würde über zweierlei Arten von Sanktionen vonstattengehen können, den äußeren und den inneren (CW X, 228). Die äußeren Sanktionen liegen außerhalb der eigenen Person, es sind die jeweiligen anerkannten Autoritäten wie die Kirche, die öffentliche Meinung und sozialer Druck. Würden diese sich explizit zum Utilitarismus bekennen oder auch nur utilitaristisch gerechtfertigte Regeln vertreten und einfordern, also die Beachtung belohnen und nicht Nichtbeachtung bestrafen, würden die Menschen diese Regeln alleine schon aus Eigeninteresse und Konvention auch befolgen, wie bisher. Die innere Sanktion ist das eigene Gewissen. Mill beschäftigt sich ausführlicher mit dieser in-

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neren als mit den äußeren Sanktionen, deren Wirkweise und Missbrauch aber umfassend in On Liberty untersucht werden. Das Gewissen ist für Mill eine Art negatives Pflichtgefühl (s. Kap. V.34), das sich vor allem dadurch zeigt, dass sich für eine Person gewisse Handlungen als subjektiv undurchführbar anfühlen (positive Pflichten tauchen in seiner Diskussion nicht auf). Die ‚Gefühlsschranke‘, die sich in den Weg stellt, das Gefühl, etwas ‚einfach nicht machen zu können‘, kann durch vielerlei Einflüsse zustande kommen, z. B. durch Empathie, Liebe, Furcht, religiöse oder ethische Erziehung, Indoktrination, dem Wunsch nach Anerkennung oder auch durch Selbsterniedrigung. Eben weil die genaue Entwicklung dieses Gefühls kaum nachzuvollziehen ist, fühlt es sich ‚mystisch‘ und selbstrechtfertigend an. Dieser tatsächlich empfundene Zwang wird dann durch die Bezeichnung als ‚Gewissen‘ moralisch legitimiert (eine Strategie, die sich am Beispiel der Intuitionisten besonders deutlich zeigt). Dass das Gewissen inhaltlich anders hätte sein können, sich also andere Handlungen als subjektiv undurchführbar hätten anfühlen können, erscheint daher ebenfalls als abwegig, schließlich würde man damit seine eigenen, unergründbaren moralischen Gefühle infrage stellen müssen. Nüchtern betrachtet ist es das aber nicht. Es gibt keinen Grund, warum das Gewissen nicht andere Arten von Handlungen als unzulässig kennzeichnen könnte. Insofern die die Entwicklung des Gewissens beeinflussenden Faktoren auf den Utilitarismus ausgerichtet wären, so Mill, würde das Gewissen eben utilitaristisch geprägt werden. Insofern steht auch die innere Sanktion des Gewissen den Utilitaristen als Instrument zur Verfügung, den Utilitarismus als Begründungsinstanz zu etablieren. Uns allen dürften manche Gewissensentscheidungen anderer Menschen, vielleicht zu anderen Zeiten und in anderen Ländern oder Umständen, als nicht nachvollziehbar erscheinen. Mill erkennt, dass seine Beschreibung des Gewissens daher einem Willkürvorwurf ausgesetzt ist – es spricht kaum für den Utilitarismus, dass jede noch so abscheuliche Moraltheorie durch hinreichend tiefgreifende Manipu-

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lation in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert werden kann – sogar der Utilitarismus. Eine Theorie, derzufolge das Pflichtgefühl transzendental begründet wird – Mill denkt hier eindeutig an Kant, auch wenn sein Name in diesem Kontext nicht fällt –, oder durch göttliche Autorität, erscheint dann deutlich attraktiver, weil sie auf den ersten Blick weniger anfällig wirkt als die nur „gefühlten“ Verpflichtungen (CW X, 229). Aber auch für Menschen, die ihre Pflichten in diesen Sphären verankert sehen, ist es letztendlich immer noch ihr eigenes Gefühl, das sie zum Handeln oder Unterlassen bewegt. Selbst bei Menschen, die aufrichtig an Gott glauben, ist das mit schwerstem Geschütz legitimierte Gewissen offenbar manchmal zu schwach, um sie vor jeglichen Pflichtübertretungen zu bewahren. Dies zeigt, dass die Stärke des Gewissens nicht von der Autorität seiner vermeintlichen Quelle stammt, das subjektive Gefühl also nicht direkt von der vermeintlich objektiven Instanz bestimmt wird. Damit bieten diese Quellen also auch keinen klaren philosophischen Vorteil, was die Handlungsmotivationen betrifft. Den meisten Menschen scheint Mill nicht zuzutrauen, über ihr eigenes Gewissen ernsthaft reflektieren zu können. Er selbst hat dies offenbar ausgiebig getan, z. B. während seiner depressiven Krise im Jahre 1826, als 20-Jähriger (s. Kap. I.1 und III.11). Im Rest des Kapitels beschäftigt er sich mit der Frage, ob das Gewissen eines Menschen, der sich über die Entstehung seines eigenen Gewissens klar wird, weiterhin funktionieren kann, oder ob es ‚hinweganalysiert‘ würde. Wäre, mit anderen Worten, das Gewissen der Menschen utilitaristisch geprägt worden und würden sie dies mit der Zeit erkennen, könnte die Prägung dann weiterhin Bestand haben, oder würde sie sich unter der Erkenntnis auflösen, dass das Gewissen auch hätte anders sein können? Zusätzlich zur Möglichkeit der Implementierung des Utilitarismus als Grundlage des Gewissens möchte Mill also auch die langfristige individuelle Stabilität einer erfolgreichen Implementierung zeigen. Er tut dies, und sieht gerade hier einen sehr bedeutenden Vorteil beim Utilitarismus. Der

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Utilitarismus ist stabil, andere anerzogene Gewissenskonfigurationen sind es eben nicht (wenn man z. B. den anerzogenen Glauben an Gott verliert, würde man auch das so geformte Gewissen ablegen, insofern man sich über die dann gekappte Legitimierung klar wird). Dies liegt daran, dass der Utilitarismus sich auf eine Gefühlswelt stützen kann, die Menschen von Natur aus haben. Dies ist der Wunsch, mit anderen Menschen unter Gleichen zusammen zu leben: „But there is this basis of powerful natural sentiment; and this it is which, when once the general happiness is recognised as the ethical standard, will constitute the strength of the utilitarian morality. This firm foundation is that of the social feelings of mankind; the desire to be in unity with our fellow creatures, which is already a powerful principle in human nature, and happily one of those which tend to become stronger, even without express inculcation, from the influences of advancing civilisation. The social state is at once so natural, so necessary, and so habitual to man, that, except in some unusual circumstances or by an effort of voluntary abstraction, he never conceives himself otherwise than as a member of a body; and this association is riveted more and more, as mankind are further removed from the state of savage independence“ (CW X, 231). Alle Menschen erleben Kontexte, in denen sie andere Menschen als Gleiche sehen und sehen müssen. Durch fortschreitende Kooperation und sich überlagernde Interessen verspüren die Menschen mit der Zeit immer häufiger, wie vorteilhaft eine Struktur ist, in der die Interessen Aller als gleich berücksichtigenswert angesehen werden. Durch gesellschaftlichen Fortschritt werden Interessenkonflikte immer weiter reduziert, sodass das Verfolgen der eigenen Interessen immer seltener die Missachtung der Interessen anderer erfordert, was wiederum das bisher vorherrschende Gefühl der ständigen Gegenläufigkeit der Interessen zum Verschwinden bringt. Äußere Umstände und Gefühlswelt gelangen so in einen sich selbst stabilisierenden ‚Tugendkreis‘, so Mills Hoffnung. Egoismus und Trittbrettfahrertum bleiben möglich, werden aber nur von emotional unterentwickelten Menschen weiterhin verfolgt.

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Umso fortschrittlicher die Gesellschaft wird, desto seltener wird dieser Fall eintreten.

Kapitel 4: Welcherart Beweis sich für das Nützlichkeitsprinzip führen lässt Das vierte Kapitel begründet den Utilitarismus in einem anderen Sinn. Es enthält den berüchtigten ‚Beweis‘ des Utilitarismus. Nun hat Mill schon in der Einleitung erwähnt, dass er keinen Beweis im üblichen Sinn leisten kann oder möchte, aber welche Begründungsleistung er stattdessen genau liefern möchte, ist leider etwas unklar. Je nach Lesart ist der Beweis entweder eine völlige Fehlleistung oder einigermaßen plausibel. Eine in allen Aspekten überzeugende Interpretation wurde bisher noch nicht präsentiert. Der Beweis hat drei Schritte. Im ersten Schritt geht es um das Glück für Einzelpersonen, im zweiten um das allgemeine Glück, im dritten darum, dass nichts anderes als das allgemeine Glück als Kriterium der Moral dienen kann (s. Kap. V.35). Das folgende Zitat legt eine bestimmte Lesart des ersten Schrittes sehr nahe: „The only proof capable of being given that an object is visible, is that people actually see it. The only proof that a sound is audible, is that people hear it: and so of the other sources of our experience. In like manner, I apprehend, the sole evidence it is possible to produce that anything is desirable, is that people do actually desire it. If the end which the utilitarian doctrine proposes to itself were not, in theory and in practice, acknowledged to be an end, nothing could ever convince any person that it was so“ (CW X, 234). Im englischen Original lauten die drei Schlüsselbegriffe also ‚visible‘, ‚audible‘ und ‚desirable‘, was normalerweise mit ‚sichtbar‘, ‚hörbar‘ und ‚wünschenswert‘ (oder ‚begehrenswert‘) übersetzt wird, das Wort ‚proof‘ wird auf Deutsch normalerweise zu ‚Beweis‘. In der traditionellen Übersetzung drängt sich der klassische Einwand von G. E. Moore im Deutschen wie im Englischen auf: „Nun, der Fehlschluß ist in diesem Schritt so offenkundig, daß man sich wundert, wie Mill ihn übersehen konnte. Tat-

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sache ist, daß ‚begehrenswert‘ nicht ‚begehrbar‘ bedeutet. Begehrenswert meint einfach das, was begehrt werden sollte, oder was begehrt zu werden verdient“ (Moore 1970, 111). Moore hat recht. Natürlich folgt – im üblichen Sinn – wirklich aus der Tatsache, dass ein Gegenstand gesehen wird, dass er sichtbar ist, und aus der Tatsache, dass ein Geräusch gehört wird, folgt ebenso, dass es hörbar ist – dass er oder es also gesehen bzw. gehört werden kann. Analog folgt aus der Tatsache, dass etwas gewünscht wird, dass es gewünscht werden kann. Es folgt aber nicht, wie Moore einwendet, dass es wünschenswert ist, also gewünscht werden sollte. Aber dies scheint Mill zeigen zu wollen, vom ähnlichen Klang der drei englischen Wörter betört. Unabsichtlich präsentiert Moore aber auch einen alternativen Interpretationsansatz, der ernst genommen werden sollte. Wenn wir ‚desirable‘ nicht analog zu ‚sichtbar‘ und ‚hörbar‘ als ‚wünschbar‘ lesen – was Mill zwar einen Beweis im üblichen Sinne verschaffen würde, der dann aber kaum etwas moralisch Relevantes zeigen würde –, sondern als ‚wünschenswert‘ – was im Gegenzug aber die Analogie beschädigt –, verbleiben trotzdem noch zwei Lesarten von ‚wünschenswert‘: es könnte entweder als ‚sollte gewünscht werden‘ oder als ‚verdient es, gewünscht zu werden‘ verstanden werden. Moore hält diese Lesarten offenbar für gleich problematisch, aber das sind sie nicht. Wenn etwas verdient, gewünscht zu werden, sollte es deswegen nicht unbedingt auch gewünscht werden. Es sich zu wünschen ist mit Sicherheit nicht verboten, sondern erlaubt, vielleicht auch mehr, z. B. unterstützenswert, aber es ist nicht gefordert oder gar geboten. Konzertpianist oder Unfallchirurg zu werden ist wünschenswert, es verdient sicherlich gewünscht zu werden, aber das heißt nicht, dass alle Menschen Konzertpianisten oder Unfallchirurgen zu werden wünschen sollten. Beweist nun die Tatsache, dass etwas gewünscht wird, dass es verdient, gewünscht zu werden? Nein, sicherlich nicht – zumindest nicht im üblichen Sinn von ‚Beweis‘. Aber den wollte Mill nach eigenen Angaben ja auch nicht liefern. Ist

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vielleicht die Tatsache, dass etwas gewünscht wird, ein Indiz dafür (oder fachterminologisch ‚Evidenz‘ – Mill ist hier sorgfältig und unterscheidet im obigen Zitat zwischen „proof“ und „evidence“), dass es wert ist, gewünscht zu werden? Wenn ‚wert sein‘ hinreichend schwach verstanden wird, lässt sich dies bejahen. Dass etwas gewünscht wird, zeigt ja immerhin, dass es einen Wünschenden gibt, der dieses Objekt als wert ansieht, gewünscht zu werden. Wenn z. B. ein brillanter Mathematiker sich wünscht, die Grashalme auf einer Wiese von Harvard zu zählen, dann ist diese Tätigkeit für diesen Menschen offenbar wert, gewünscht zu werden (Rawls 1971, 432). Das alleine würde für Mill nicht reichen, denn bekanntlich wurden in der Geschichte der Menschheit auch die schlimmsten Verbrechen gewünscht. Der entscheidende Zusatz ist, dass in diesem Sinne für jeden Menschen Glück wünschenswert ist, weil tatsächlich gewünscht. Nur dies behauptet Mill. Diese Erkenntnis könnte man als trivial abtun, aber noch sind wir beim ersten Schritt des Beweises. Interessant wird die Beobachtung vor allem durch den abschließenden dritten Schritt (zum zweiten gleich), in dem Mill zeigen möchte, dass alle Menschen letztlich ausschließlich Glück wünschen, ihr eigenes oder das anderer Menschen. Damit wäre gezeigt, dass Menschen nur Glück als ultimativ wert ansehen, gewünscht zu werden. Wenn alle Wünsche sich nach hinreichend subtiler Analyse als Wünsche nach Glück verstehen lassen, hätte sich Glück als ‚höchstes Gut‘ etabliert. Dies würde zwar auch nur wirklich beweisen, dass die Menschen sich tatsächlich ausschließlich Glück wünschen, sonst nichts, aber wenn wir eine empirische Untersuchung vornehmen wollen, wie Mill als Empirist es hier eindeutig tut, kann man kaum mehr Evidenz für die Beantwortung der Frage verlangen, was für Menschen – alle Menschen, schon immer – wünschenswert ist. Konzeptionell ist es natürlich vorstellbar, dass die tatsächlichen Wünsche aller Menschen in der gesamten Geschichte der Menschheit nichts damit zu tun hatten, was wirklich wünschenswert ist, aber das wäre eine Fehlleistung von mehr als epochalem Ausmaß. Auch würde es höchst stritti-

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ger Weise voraussetzen, dass es etwas ‚objektiv‘ Wünschenswertes gibt, was Mill in dieser Lesart nicht annehmen muss. Mill betrachtet zwei Fallbeispiele, die gegen seine Theorie sprechen: Geld und Tugend (CW X, 235). Beide, so scheint es, werden sehr wohl als letzte Ziele von den Menschen gewünscht – Tugend um der Tugendhaftigkeit willen, Geld um des Geldes willen. Mill leugnet dies nicht, hält es beim Geld aber letztlich für eine (hinzunehmende) Verirrung. Es ist völlig normal, sich Geld als Mittel zum Glück zu wünschen, z. B. um sich Wanderschuhe kaufen zu können, mit denen man eine erfreuliche Wanderung machen kann, für die Sandalen nicht ausreichen. Es gibt aber auch Menschen, die Geld nicht mehr als Mittel, sondern als Zweck an sich wünschen (wobei mit ‚Geld‘ natürlich Vermögen gemeint ist, und Mill anerkennt, dass der Aufbau von Vermögen zur Erfüllung potenzieller zukünftiger Wünsche durchaus seine legitime Berechtigung hat). Aber auch diese sind kein Gegenbeispiel: für sie ist Geld nicht Mittel zum, sondern, wie Mill sagt, ‚Teil des Glücks‘. Sie wünschen sich also nicht Geld statt Glück, sondern Geld als Glück. Sie meinen, mit mehr Geld wären sie glücklich, und ohne Geld unglücklich. Die Tugendhaftigkeit kann ganz ähnlich behandelt werden. Mill bemüht sich hier auch, ein kohärentes Konzept der Tugend für den Utilitarismus zu sichern. Der entscheidende Punkt für Mill ist, dass Tugendhaftigkeit kein Selbstzweck ist. Charaktereigenschaften sind Tugenden, wenn und insofern sie das allgemeine Wohlergehen steigern (was pro tanto auch durch das Steigern des eigenen Wohlergehens geschieht, z. B. durch Mäßigkeit). Es ist daher auch für einen Utilitaristen erstrebenswert, tugendhaft zu sein und zur Tugendhaftigkeit zu erziehen. Sie ist also ein Mittel zum Glück, kann aber wiederum als Teil des Glücks fungieren – wenn ein Mangel an Tugend als das eigene Wohlergehen reduzierend wahrgenommen wird. Was ist nun mit dem zweiten Schritt? Im zweiten Schritt schließt Mill von der Tatsache, dass jeder Mensch sein eigenes Glück wünscht (nicht: ausschließlich sein eigenes Glück wünscht, denn auch das Glück anderer Men-

C. Schmidt-Petri

schen ist wünschenswert) darauf, dass das allgemeine Glück gewünscht wird und damit wert ist, gewünscht zu werden. Hier kann man natürlich einwenden, dass sich vielleicht keine Einzelperson das allgemeine Glück wünscht, sondern immer nur einen eingeschränkten Teil von ihm. Das stimmt zwar, ist aber kein guter Einwand. Mills Idee scheint zu sein, dass es eben für jeden Bestandteil des allgemeinen Glücks (metaphysisch gesehen besteht dies aus dem Glück von Einzelpersonen) mindestens eine Person gibt, die sich dieses Glück wünscht. Dies passt gut zu seiner Antwort auf Einwand 4 in Kap. 2: die utilitaristische Forderung ist nicht, dass jeder Mensch das allgemeine Wohlergehen ständig im Blick hat und es wissentlich befördert oder es befördern wollen sollte. Das wäre vermutlich vorteilhaft (wobei bekanntlich viele Köche den Brei verderben), ist aber nicht erforderlich. Es reicht aus, wenn die Leute beim Befördern ihres eigenen Glücks und des Glücks von ihnen Nahestehenden nicht das Glück anderer Menschen reduzieren. Damit wird das allgemeine Glück bereits hinreichend befördert (wobei hier bestimmte Rahmenbedingungen vorausgesetzt sind). Der Beweis insgesamt ähnelt der Beweisführung von Aristoteles. Die ersten Sätze seiner Nikomachischen Ethik lauten: „Jedes Herstellungswissen und jedes wissenschaftliche Vorgehen, ebenso jedes Handeln und Vorhaben strebt, so die verbreitete Meinung, nach einem Gut. Deshalb hat man ‚Gut‘ zu Recht erklärt als ‚das, wonach alles strebt‘“ (Aristoteles 2006, 43). Einige Absätze später zeigt sich: „Als derartiges Ziel gilt aber insbesondere das Glück; dieses nämlich wählen wir immer um seiner selbst willen und niemals um anderer Dinge willen, während wir Ehre, Lust, Vernunft und jede Tugend zwar um ihrer selbst willen wählen […] aber auch dem Glück zuliebe, weil wir annehmen, dass wir durch sie glücklich sein werden“ (Aristoteles 2006, 54). Ein Kantianer würde sicherlich gegen die vorausgegangene Argumentation einwenden, dass man auch alle eigenen Wünsche ignorieren und stattdessen dem eigenen Willen folgen kann, z. B. wenn man aus Achtung vor der Pflicht han-

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delt, obwohl man es eigentlich nicht möchte. Diesem Einwand begegnet Mill im langen vorletzten Absatz des Kapitels, der normalerweise wenig Aufmerksam erhält; Kant wird dort leider namentlich nicht genannt. Mill akzeptiert, dass dies tatsächlich geschieht. Er erklärt dieses Phänomen aber nicht mit der handlungsleitenden Vernunft, wie Kant es täte, sondern mit der Macht der Gewohnheit. Wenn man gewohnt ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln – ob dies nun unbewusst, zwanghaft oder mit fester Entschlossenheit geschieht – ist ein zeitgleicher Handlungswunsch tatsächlich nicht erforderlich. Ein vorangehender Wunsch war jedoch erforderlich, um zuallererst die Gewohnheit zu entwickeln. Dies sieht man daran, dass jegliche Angewohnheiten nicht durch eine vernunftbasierte Entscheidung, sondern nur durch zielgerichtete Anreize zu erreichen sind. Um eine Person zur Tugendhaftigkeit zu erziehen, also tugendhaftes Handeln zur Gewohnheit zu machen, muss tugendhaftes Handeln von ihr zuerst als wünschenswert wahrgenommen werden und deswegen ausgeführt werden (Mill übernimmt hier wieder eine aristotelische Einsicht, nämlich dass Charakterformung durch die Wiederholung von Handlungen vonstattengeht). Gewohnheiten sind auch für Mill moralisch nicht per se problematisch, bieten sie doch den unschätzbaren Vorteil, für andere Menschen berechenbar zu werden, und sich selbst einen stabilen Charakter zuschreiben zu können: „Both in feeling and in conduct, habit is the only thing which imparts certainty; and it is because of the importance to others of being able to rely absolutely on one’s feelings and conduct, and to oneself of being able to rely on one’s own, that the will to do right ought to be cultivated into this habitual independence. In other words, this state of the will is a means to good, not intrinsically a good; and does not contradict the doctrine that nothing is a good to human beings but in so far as it is either itself pleasurable, or a means of attaining pleasure or averting pain“ (CW X, 239). Am Schluss des vierten Kapitels betont Mill, dass er es dem Urteil des Lesers überlässt, ob durch diese Argumentation der Utilitarismus hinreichend begründet wurde.

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Kapitel 5: Über den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nützlichkeit Das fünfte Kapitel eröffnet einen völlig neuen Themenkomplex, der offenbar schon zu Zeiten Queen Viktorias als ein erhebliches Problem für den Utilitarismus angesehen wird: die Gerechtigkeit (s. Kap. V.28). Heutzutage wird dieser Konflikt am berühmten Slogan von John Rawls festgemacht: „Utilitarianism does not take seriously the distinction between persons“ (Rawls 1971, 27). Der Utilitarismus, so der Einwand, erkennt Menschen nicht als Individuen an, sondern sieht sie nur als zusammenaddierbare Glückscontainer. Insofern eine Handlung mehr Glück insgesamt auf die Container verteilen kann, ist sie moralisch besser als die Alternative, völlig unabhängig davon, wie das Glück auf die Container verteilt wird, ob höchst ungleich oder völlig gleichmäßig. Dieser Einwand bezieht seine Überzeugungskraft aus der Annahme, dass bestimmte Menschen unübergehbare Ansprüche haben, z. B. dass nicht von einer Person genommen werden kann, um einer anderen Person etwas zu geben, nur weil diese dadurch mehr Glück gewinnen würde als die andere verliert. Eine solche Umverteilung kann zwar moralisch richtig sein, wenn keinerlei sonstige Ansprüche der Personen berührt sind, aber sie kann eben auch moralisch falsch sein, z. B. wenn die erste Person ein Recht auf das umzuverteilende Gut hat. Genau dieses Argumentationsmuster liegt auch dem „manna from heaven“-Einwand von Robert Nozick (1971) gegen Rawls zugrunde, der laut Nozick (der dem Utilitarismus noch weniger verbunden war als Rawls) selbst ganz ähnlich die legitimen Ansprüche der Güterproduzenten negiert und jegliche Güter nolens volens zur Umverteilung freigibt, völlig unabhängig davon, wer was produziert hat. Das tiefersitzende Problem ist also, wer welche Ansprüche auf Güter hat, warum, und was diese Ansprüche mit Gerechtigkeit zu tun haben. Für Mill, soviel sei nun schon gesagt, lassen sich sehr wohl individuelle Rechtsansprüche auf Güter rechtfertigen. Dieser Einwand läuft also ins Leere, zumindest was die Mill’sche Version des Utilitarismus betrifft.

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Mills Ansicht wird im fünften Kapitel entwickelt. Das Problem, mit dem Mill sich dort auseinandersetzt, ist der vermeintliche Konflikt des Gerechtigkeitsgefühls mit dem Utilitarismus, nicht der Gerechtigkeit selbst. Das Gerechtigkeitsgefühl, hier ganz ähnlich dem Gewissen, fühlt sich als von sich aus verbindlich an (CW X, 240). Aber selbst wenn es auf einen naturgegebenen Instinkt zurückzuführen wäre, so Mill, wäre damit, wie bei anderen naturgegebenen Instinkten, noch keineswegs klar, dass man sich von ihnen auch in seinen Handlungen bestimmen lassen müsste oder sollte. Mill glaubt, dass sich das Gerechtigkeitsgefühl noch genauer analysieren lässt und sich dann herausstellen wird, dass es zumindest zum Teil anerzogen ist, wieder ganz ähnlich dem Gewissen. Noch ist aber nicht klar, wann es überhaupt auftritt, wann es also einen Konflikt geben soll. In guter sokratischer Manier nimmt Mill zuerst eine Bestandsaufnahme vor, welche Gerechtigkeitsprinzipien denn landläufig für wahr gehalten werden, bzw. bei der Übertretung welcher Prinzipien die anscheinend gerechtigkeitspezifische Empörung einsetzt (CW X, 241–244). Fordert die Gerechtigkeit, dass einem nichts genommen werden darf, das einem von Rechts wegen zusteht? Auf den ersten Blick mag dies plausibel wirken, auf den zweiten Blick sieht man aber, dass dieses Prinzip manchmal auch nicht gilt, z. B. wenn einer Person etwas von Rechts wegen zusteht, was ihr nicht von Rechts wegen zustehen sollte. Es sollte niemandem zustehen, einer verdurstenden Person einen Schluck Wasser aus dem eigenen Brunnen zu verwehren, selbst wenn es das de jure tut. Man dürfte sich daher einen Schluck Wasser nehmen, und würde damit die juridischen Rechte des Brunneneigentümers verletzen, aber nicht die moralischen. So zu handeln wäre nicht ungerecht. Das verfeinerte Prinzip besagt also, dass die juridischen Rechte in Ausnahmefällen verletzt werden dürfen, nicht aber die moralischen Rechte. Häufig wird geleugnet, dass Utilitaristen die Existenz von moralischen Rechten überhaupt anerkennen können, aber die Theorie Mills ist wieder bestechend einfach: Moralische

C. Schmidt-Petri

Rechte sind die Rechte, die als juridische Rechte gelten sollten (ob sie es tun oder nicht). Weitere Gerechtigkeitsprinzipien, die Mill nennt, sind: dass jeder das erhalten solle, was er verdient, dass man Treu und Glauben nicht verletzen dürfe, dass man sich unparteiisch verhalten sollte. Auch eng mit Gerechtigkeit scheint die Idee der Gleichheit verbunden zu sein, von der man typischerweise nur abweichen sollte, wenn dies durch Nützlichkeitsüberlegungen gerechtfertigt ist (diese Passagen erinnern sehr stark an die Gerechtigkeitstheorie von Rawls): „Each person maintains that equality is the dictate of justice, except where he thinks that expediency requires inequality“ (CW X, 243). Eine hinter all diesen plausiblen Prinzipien steckende systematisierende Idee lässt sich aber nicht ausmachen. Nach einigen etymologischen Erörterungen, die die direkte gedankliche Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Recht, Rechtsprechung und Strafe weiter stützen, kommt Mill zu dem Schluss, dass Pflichten im Allgemeinen, also auch Gerechtigkeitspflichten, durch die Legitimität von Zwang zur Erfüllung und Strafe bei Nichterfüllung gekennzeichnet sind: „It would always give us pleasure, and chime in with our feelings of fitness, that acts which we deem unjust should be punished, though we do not always think it expedient that this should be done by the tribunals. […] When we think that a person is bound in justice to do a thing, it is an ordinary form of language to say, that he ought to be compelled to do it. […] Thus the idea of legal constraint is still the generating idea of the notion of justice“ (CW X, 245 f.). Zur Erfüllung aller Pflichten darf man also gezwungen werden. Aber nicht alle Pflichten sind Pflichten der Gerechtigkeit. Diese zeichnen sich laut Mill dadurch aus, dass es identifizierbare Personen gibt, die ein moralisches Recht auf die Erfüllung der Pflicht haben. So hat man z. B. die Pflicht, wohltätig zu sein, und kann bestraft oder zumindest getadelt werden, wenn man diese Pflicht nicht erfüllt. Moralisch falsch wäre es, nicht wohltätig zu sein, ungerecht wäre es aber nicht, da man keiner identifizierbaren Person ein moralisches Unrecht zufügt. Man hat auch die Pflicht, seinen Kin-

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dern eine gute Erziehung zukommen zu lassen, und kann bei Nichterfüllung ebenfalls zu Recht getadelt und in besonders schlimmen Fällen der Vernachlässigung auch bestraft werden. Diese Pflichtwidrigkeit wäre natürlich auch moralisch falsch, sie wäre darüber hinaus aber auch ungerecht: sie wäre ungerechnet den eigenen Kindern gegenüber. Diese haben ein moralisches Recht auf eine gute Erziehung (s. Kap. V.24). Das Gerechtigkeitsgefühl, ein Gefühl der Empörung, wird nun durch die wahrgenommene Verletzung dieser sogenannten ‚vollkommenen‘ Pflichten ausgelöst (Wohltätigkeitspflichten wären ‚unvollkommen‘). Dubios mag erscheinen, warum dieses Gefühl der Empörung nicht nur dann einsetzt, wenn man selbst oder enge Angehörige und Freunde Opfer von Ungerechtigkeit wird, sondern auch bei Personen, die man überhaupt nicht kennt. Auch hier glaubt Mill, auf die Gefühle der Menschen bauen zu können. Wie im dritten Kapitel erwähnt, ist Mill der Überzeugung, dass Menschen mit ihren Mitmenschen (und Mitgeschöpfen) Mitgefühl verspüren (im englischen Original „sympathy“; s. Kap. IV.40). Die Anlage zu diesem Gefühl ist bei allen Menschen vorhanden, muss aber gepflegt und kultiviert werden. Umso besser es ausgebildet ist, umso weiter dehnt es sich aus, und umfasst im Idealfall alle (fühlenden) Mitgeschöpfe. Hinzu kommt der Naturinstinkt, sich selbst gegen Angriffe zu verteidigen und Angreifer zu bestrafen. Dieser Abwehrinstinkt dehnt sich dann ebenfalls aus, und zwar auf alle Angreifer, die die moralischen Rechte anderer verletzen. Erst, wenn man sich spontan über Gerechtigkeitsübertretungen empört, die von einem selbst in jeder Beziehung weit entfernte Menschen erleiden müssen, hat das eigene Gerechtigkeitsgefühl einen utilitaristisch idealen Zustand erreicht. Spiegelbildlich gilt also: „[J]ust persons resenting a hurt to society, though not otherwise a hurt to themselves, and not resenting a hurt to themselves, however painful, unless it be of the kind which society has a common interest with them in the repression of“ (CW X, 249). Gerechtigkeit herrscht also vor, wenn vollkommene moralische Rechte nicht verletzt wer-

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den, und ein Gefühl der Empörung ist nur dann ein Gerechtigkeitsgefühl, wenn es sich nicht nur auf einen selbst und Nahestehende, sondern auch auf die moralischen Rechte anderer Menschen bezieht. Als moralische Rechte wurden von Mill die juridischen Rechte bezeichnet, die gelten sollten. Noch nicht geklärt ist nun, warum überhaupt juridische Rechte gelten sollten, und welche. Das Zitat zeigt die Richtung auf: die Gesellschaft muss ein Interesse daran haben (für moralische Rechte: sollte ein Interesse haben), ein solches Recht einzurichten. Die Grundlage von juridischen Rechten sollte also die allgemeine Nützlichkeit sein, von moralischen Rechten ist sie es. Die Menge der Interessen, die durch Rechte geschützt sein sollten, muss auf wichtige begrenzt sein. Welche Interessen hinreichend wichtig sind, bzw. welche Rechte sich eine Gesellschaft in der Praxis ‚leisten‘ kann, dürfte je nach Kontext variieren, aber der physische Schutz von Leib und Leben und die Möglichkeit der freien Entfaltung stellen auch für Mill die klarsten Fälle dar. Man hat aber nicht nur das moralische Recht, nicht angegriffen zu werden (ein sogenanntes Abwehrrecht), sondern auch das moralische Recht, dass implizit oder explizit eingegangene Verpflichtungen eingehalten werden (ein sogenanntes Anspruchsrecht). Es ist für Mill grundsätzlich also auch ungerecht, wenn man gute Freunde im Stich lässt oder Versprechen nicht hält (wobei beides ausnahmsweise auch zulässig sein kann, z. B. wenn ein Leben auf dem Spiel steht). Einen einfachen Entscheidungsalgorithmus gibt Mill allerdings nicht. In den folgenden Seiten buchstabiert er aus, welche Konsequenzen diese Gerechtigkeitstheorie für einige traditionelle Gerechtigkeitsprobleme hat, wie also gerechte Bestrafung, gerechte Entlohnung und gerechte Besteuerung (s. Kap. V.39) auszusehen hätten (CW X, 251–259). Viele der traditionellen Auffassungen haben hier jeweils ihre Berechtigung, aber wenn Prinzipien in Konflikt geraten, müssen sie mithilfe von Nützlichkeitserwägungen entschieden werden. Aus der Arbeitnehmerperspektive erscheint es beispielsweise gerecht, dass alle Arbeitnehmer

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nach der aufgebrachten Anstrengung bezahlt werden sollten. Aus Arbeitgeberperspektive erscheint es hingegen gerecht, dass produktivere Arbeitskräfte mehr erhalten, auch wenn der Produktivitätsvorsprung nicht auf zusätzliche Anstrengung, sondern auf besonderes Talent zurückzuführen ist. Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung, und um zwischen Ihnen zu vermitteln, muss entschieden werden, welche Entlohnung alles in allem für die Gesellschaft vorteilhafter ist. Das Gerechtigkeitsgefühl ist also nicht ein Gefühl sui generis, sondern eine Erweiterung eines Naturinstinkts. Da es sich auf moralische Rechte bezieht, und diese utilitaristisch begründbar sind, steht es nicht im Konflikt mit dem Utilitarismus.

Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006.

C. Schmidt-Petri Chappell, Timothy (Hg.): The Problem of Moral Demandingness. New York 2009. Crisp, Roger: Routledge Philosophy Guidebook to Mill on Utilitarianism. London 1998. Hooker, Brad: Ideal Code, Real World. Oxford 2001. Lyons, David: Mill’s Theory of Morality. In: Noûs 10/2, 1976, 101–120. Moore, G. E.: Principia Ethica. Leipzig 1970 (Original Cambridge, UK 1903). Nozick, Robert: Anarchy, State and Utopia. New York 1971. Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, MA 1971. Riley, Jonathan: Interpreting Mill’s Qualitative Hedonism. In: Philosophical Quarterly 53/212 (2003), 410–418. Schmidt-Petri, Christoph: Mill on Quality and Quantity. In: Philosophical Quarterly 53/210, 102–104. Schmidt-Petri, Christoph: John Stuart Mills Qualitativer Utilitarismus und die undichten Fässer des Gorgias. In: John Stuart Mill Heute. Hg. von H. Nutzinger, H. Diefenbacher, Marburg 2018, 157–172. Singer, Peter: Famine, Affluence and Morality, In: Philosophy and Public Affairs 1/3 (1972). West, Henry (Hg.): The Blackwell Guide to Mill’s Utilitarianism. London 2006.

On Liberty (1859)

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Peter Rinderle

Das Problem: Die Gewalt der Gesellschaft Der Theorie des Liberalismus zufolge sollen wichtige Teile der Lebensführung eines Menschen außerhalb des Zugriffs von Staat und Gesellschaft bleiben. John Stuart Mills Abhandlung On Liberty gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur Tradition dieser Theorie. Schon im ersten Satz legt Mill den Gegenstand seiner Abhandlung fest: „the nature and limits of the power which can be legitimately exercised by society over the individual“ (CW XVIII, 217; AW 3.1, 306). Dabei erhebt er gar keinen Anspruch auf Originalität. Er meint nur, diese Frage stelle sich in der Gegenwart „under new conditions“ und erfordere „a different and more fundamental treatment“ (CW XVIII, 217; AW 3.1, 306). Im Zuge der schrittweisen Ausdehnung des Wahlrechts während des 19. Jahrhunderts tritt der Staat seinen Bürgern zwar nicht mehr bloß als eine fremde Macht entgegen. Das Grundproblem der politischen Philosophie, die Frage nach dem Wesen und den Grenzen der legiti-

P. Rinderle (*)  Philosoph, freier Publizist und Dozent in Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

men Ausübung von Macht, bleibt auch in Demokratien erhalten. Zwar setze eine wirksame Garantie individueller Freiheitsrechte, so Mill in seinen Considerations on Representative Government (CW XIX, 404; AW 4, 347; s. Kap. III.14), auch politische Mitwirkungsrechte voraus; doch stelle die demokratische Selbstbestimmung gleichzeitig eine potenzielle Gefahr für die personale Autonomie der Individuen dar. Die mögliche Tyrannei einer Mehrheit wird im noch jungen demokratischen Zeitalter damit zu einem zentralen Problem (Rawls 2008, 413– 414). Im Anschluss an Alexis de Tocquevilles Studie Über die Demokratie in Amerika konstatiert Mill darüber hinaus tiefgreifende Umwälzungen des gesamten kulturellen Lebens: Die Gesellschaft „practises a social tyranny more formidable than many kinds of political oppression, since […] it leaves fewer means of escape, penetrating much more deeply into the details of life, and enslaving the soul itself“ (CW XVIII, 220; AW 3.1, 310). „Thus the mind itself is bowed to the yoke“ (CW XVIII, 265; AW 3.1 376). Mill geht es also nicht nur um die politische Tyrannei, wie sie vor allem auf dem europäischen Kontinent anzutreffen ist. Er sorgt sich darüber hinaus um die sowohl im noch aristokratisch geprägten England wie auch im bereits demokratischen Amerika besonders stark ausgeprägte soziale Tyrannei der öffentlichen Meinung.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_13

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Auf diese neuen Herausforderungen möchte Mill in seiner 1859 erscheinenden Schrift On Liberty eine Antwort geben. Rückblickend schreibt Mill in seiner Autobiography (s. Kap. III.11; CW I, 259; AW 2, 188), diese Schrift sei sein bestes Werk; aufgrund der Herrschsucht des Menschen sei allerdings leider auch zu befürchten, dass deren Lehren noch lange Zeit ihre Gültigkeit behalten würden. Mill meint überdies, die Freiheitsschrift „was more directly and literally our joint production than anything else which bears my name“ (CW I, 258; AW 2, 188). Kein Satz, den der Angestellte der Ostindischen Handelsgesellschaft in London nicht mehrere Male zusammen mit seiner Freundin und Frau Harriet Taylor gelesen und überarbeitet hätte (s. Kap. II.6). On Liberty erschien allerdings erst im Februar 1859, drei Monate nach dem Tod seiner Lebensgefährtin, der sie übrigens auch gewidmet war. Gertrud Himmelfarb (1974) vertritt deshalb die Auffassung, die Schrift sei hauptsächlich auf den Einfluss der progressiven Harriet Taylor zurückzuführen und gebe gar nicht die Gedanken des „wahren“, konservativen Mill wieder. Gegen diese Position spricht allerdings, dass sich die Sorge um die Freiheit des Individuums wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Mills zieht. Auch nach dem Ableben von Harriet Taylor vertritt der Philosoph, etwa insbesondere in seiner Autobiography oder den Considerations on Representative Government, prononciert liberale Positionen (Ten 1980, 151–155). Mills Buch On Liberty ist in fünf Kapitel gegliedert: Im ersten, einleitenden Kapitel formuliert er das Problem und präsentiert – in Form eines „sehr einfachen Grundsatzes“ – auch schon seinen Lösungsvorschlag. In einem zweiten Kapitel denkt er ausführlich „Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion“ nach und zeigt die Vorteile eines freien Marktplatzes der Ideen auf. „Über Individualität als eines der Elemente der Wohlfahrt“ ist das dritte Kapitel überschrieben; Mill möchte darin aufzeigen, dass die bürgerliche Freiheit ein wichtiger Inhalt und eine Hauptbedingung des Wohlergehens sowohl von Individuen als auch von Gesellschaften ist. Im vierten Kapitel stellt er ei-

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nige zusätzliche Überlegungen „Über die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum“ an, und das vergleichsweise kurze, fünfte Kapitel gilt abschließend einigen „Anwendungen“ seiner Grundsätze.

Die Hauptthese: Ein sehr einfacher Grundsatz John Stuart Mill entwickelt keine abstrakte normative Theorie des Politischen. Seine Prinzipiendiskussionen stehen immer in einem engen Zusammenhang mit soziologischen und psychologischen Zeitdiagnosen. Während er die Erklärung und Begründung eines Freiheitsprinzips zur Begrenzung der Gewalt der Gesellschaft als Hauptzweck seiner Freiheitsschrift ansieht, bezeichnet er den Willen, „moralische Polizei“ zu spielen und sich in das Privatleben anderer Personen einzumischen, gleichzeitig als „one of the most universal of all human propensities“ (CW XVIII, 284; AW 3.1, 404). Vor allem gegen diese Leidenschaft, Macht über andere Menschen auszuüben – in seinem Essay „Centralisation“ (1862, CW XIX, 579–613) meint er, sie sei „the most evil passion of human nature“ (CW XIX, 610) –, wendet er sich mit seinem Freiheitsgrundsatz. Sein Fokus ist und bleibt immer die negative, äußere Freiheit des Individuums; der positiven, politischen Freiheit der Bürger kommt in seinen Augen kein intrinsischer Wert zu (s. Kap. V.27). Mills Antwort auf die Ausgangsfrage nach der Natur der Gewalt und den Grenzen der legitimen Ausübung von sozialer Gewalt besteht in einem, wie er sagt, ‚sehr einfachen Prinzip‘: Es lautet, „that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self-protection. That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others“ (CW XVIII, 223; AW 3.1, 316). Schon in seinen Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) von 1848 stellt Mill einen ähnlichen Grundsatz auf und fordert den Schutz eines Raums für

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jeden Menschen, den keine Regierung – gleich welcher Couleur – betreten dürfe: „[T]here is a circle around every individual human being, which no government, be it that of one, of a few, or of the many, ought to be permitted to overstep“ (CW III, 938; AW 3.2, 425). Dabei ist, wie wir noch sehen werden, wichtig: „A person may cause evil to others not only by his actions but by his inaction, and in either case he is justly accountable to them for the injury“ (CW XVIII, 225; AW 3.1, 318). Zwangsmaßnahmen seien daher nicht nur zur Einschränkung von Handlungen, die einen direkten Schaden zur Folge haben, sondern etwa auch zur Verhinderung von öffentlichen Schädigungen, die durch Unterlassungen verursacht werden, gerechtfertigt (Feinberg 1984, 221– 225; Höntzsch 2010, 111–113). Allerdings ist das Vorliegen eines Schadens noch keine hinreichende Bedingung für die Anwendung von Zwang: Wenn die Übel der Anwendung von Zwang dessen Nutzen übersteigen, dann kann eine Intervention unter Umständen unterbleiben (CW XVIII, 225; AW 3.1, 318–319; vgl. Riley 2015, 23); auch enttäuschte Hoffnungen eines Bewerbers auf dem Arbeitsmarkt rechtfertigen natürlich nicht das Eingreifen des Staates (CW XVIII, 292–293; AW 3.1, 416). Das ‚sehr einfache Prinzip‘ kann Mill zufolge nun nur für „human beings in the maturity of their faculties“ gelten (CW XVIII, 224; AW 3.1, 316). Für Kinder gelte es ebenso wenig wie für Menschen, denen wir aus anderen Gründen die Verantwortlichkeit für ihr Handeln absprechen. Auch auf rückständige Kulturen und Gesellschaften, „in which the race itself may be considered as in its nonage“, lasse es sich nicht anwenden (CW XVIII, 224; AW 3.1, 317; vgl. Rawls 2008, 419–420). Im Anschluss an die Formulierung seines Grundsatzes weist Mill kurz auf dessen Grundlagen hin. Er schreibt, „that I forego any advantage which could be derived to my argument from the idea of abstract right, as a thing independent of utility“ (CW XVIII, 224; AW 3.1, 317). Der Beitrag zum allgemeinen Nutzen bilde die alleinige Basis seiner Überlegungen: „I regard utility as the ultimate appeal on all eth­

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ical questions: but it must be utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 24; AW 3.1, 317–318). In seiner 1861 erscheinenden Schrift Utilitarianism (s. Kap. III.12) knüpft Mill damit an den von Jeremy Bentham entwickelten, utilitaristischen Ansatz in der Ethik an. In zweifacher Hinsicht ist das Freiheitsprinzip indes enger als das Nutzenprinzip: Es fordert erstens nur eine Verhinderung von Schädigungen, nicht eine Vermehrung des Nutzens; und es bezieht sich zweitens nur auf die Anwendung von sozialem Zwang, nicht auf alle möglichen Handlungen und Unterlassungen der Menschen. Lange Zeit herrschte in der Literatur nun die Auffassung vor, dass Mills Wertschätzung der Freiheit nicht mit seiner utilitaristischen Ethik zu vereinbaren sei (Himmelfarb 1974; Ten 1980). Gegen diese traditionelle Sicht vertreten die meisten Kommentatoren heute eine revisionistische Lesart und plädieren für eine Kompatibilität von Mills Liberalismus und Mills Utilitarismus (Riley 1998, Kap. 7 „Liberal Utilitarianism“): Mill zufolge bedürfe das Prinzip der Nützlichkeit schließlich einer näheren Ausdeutung. Sein Begriff des Glücks sei eher als ein pluralistisch-inklusiver, denn als monistisch-dominanter Handlungszweck zu verstehen. Und neben der intrinsischen Wertschätzung der Poesie oder der Tugend mache dieser Begriff des Glücks vor allem eine Anerkennung von Sekundärprinzipien (s. Kap. V.32) wie Moral oder Gerechtigkeit (s. Kap. V.28) für eine indirekte Vermehrung des Gesamtnutzens erforderlich (s. Kap. VI.43). Zur Stützung dieser Lesart kann man hier auch auf Mills Essay „Bentham“ (CW X, 110; AW 3.1, 165–166) sowie eine Stelle in seinem A System of Logic (CW VIII, 943–946; Kap. III.17) verweisen. Man versteht Mills sehr einfachen Grundsatz besser, hält man sich die beiden Alternativen zur Rechtfertigung von sozialem Zwang vor Augen: den Paternalismus und den Moralismus (Feinberg 1984, 10–14). Das Wohl einer Person ist Mill zufolge keine Grundlage zur Rechtfertigung der Ausübung von sozialer Macht. Die Beförderung des Glücks eines Menschen leistet

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zwar einen Beitrag zur Vermehrung des Gesamtnutzens. Doch sie ist keine moralische Pflicht. Man darf daher einen unklugen Menschen, der sich selbst schadet, wohl schelten; zwingen darf man ihn zu seinem Glück aber nicht (CW XVIII, 224, 277; AW 3.1, 316, 394). Auch die moralischen Defizite einer Handlung sind keine hinreichende Begründung für eine soziale Intervention. Weder der Staat mit seinen gesetzlichen Strafen noch die öffentliche Meinung dürfen sich als „moralische Polizei“ und Sittenwächter gerieren. Harmlose Verstöße gegen die Sitten stellen für Mill also keine hinreichende Rechtfertigung der Anwendung sozialer Sanktionen dar (CW XVIII, 224; AW 3.1, 316). Nun wirft der Freiheitsgrundsatz Mills zweifellos die Frage auf, ob man überhaupt eine klare Grenze ziehen kann zwischen Handlungen, deren Folgen sich nur auf den Handelnden selbst erstrecken, und Handlungen, die die Interessen anderer Menschen tangieren? Hat nicht jede Handlung Auswirkungen auf die Interessen anderer Menschen, und ist die Klasse der Handlungen, deren Folgen sich allein auf den Handelnden selbst beschränken, somit nicht leer? Mit einer solchen Skepsis an der Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen selbstbezogenen und fremdbezogenen Handlungen geht in der Sekundärliteratur manchmal der Verdacht einher, Mills Liberalismus bilde nur eine Fassade, hinter der sich ein „moralischer Totalitarismus“ (Cowling 1963, 104) oder ein autoritärer Kommunitarismus (Hamburger 1999, 231–234) verberge. Eigentlich, so die Vertreter dieser Lesart, möchte Mill alle Handlungen einer sozialen Kontrolle unterwerfen. Man kann diese Deutung mit einigen guten Gründen zurückweisen: Zwar gibt es viele Handlungen, die in beide Kategorien fallen. Der Trinker, so Mill, schade sich selbst, aber er „may seriously affect, both through their sympathies and their interests, those nearly connected with him, and in a minor degree, society at large“ (CW XVIII, 281; AW 3.1, 399). Doch wenn ein Mensch seine moralischen Pflichten (s. Kap. V.34) gegenüber anderen Menschen verletzt, „the case is taken out of the self-regarding class, and becomes amenable to moral disapprobation“

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(CW XVIII, 281; AW 3.1, 399). Nur dann, wenn eine Handlung also anderen Menschen einen Schaden zufügt, ist ein möglicher Grund für eine soziale Sanktion – durch den Staat oder die öffentliche Meinung – gegeben. Zudem übersieht die illiberal-konservative Lesart Mills Unterscheidung zwischen den sozialen Sanktionen einerseits und den ‚natürlichen Strafen‘ andererseits, „which cannot be prevented from falling on those who incur the distaste or the contempt of those who know them“ (CW XVIII, 282; AW 3.1, 401, Herv. i. O.). Nur Handlungen, die sich auf die Interessen anderer Menschen beziehen, können rechtmäßig sanktioniert werden. Unkluge oder unschöne Handlungen, mit denen sich eine Person selbst Schaden zufügt, werden – und sollen! – zwar die Abneigung, ja Verachtung anderer Menschen zur Folge haben (CW XVIII, 278; AW 3.1, 395; vgl. Ryan 1998, 512). Als absichtliche Zufügung einer Strafe darf man ein solches Verhalten jedoch nicht ansehen. Moralische oder ästhetische Vorlieben, die sich lediglich auf die Lebensführung anderer Menschen beziehen, sind also keine hinreichende Rechtfertigung für eine Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit. Dabei sind zwei besondere Fälle zu beachten: Zum einen stellt Mill die wirtschaftliche Vertragsfreiheit ausdrücklich nicht unter den Schutz seines Freiheitsprinzips. Sicherlich möchte er den freien Handel geschützt wissen. Doch „the so-called doctrine of Free Trade […] rests on grounds different from, though equally solid with, the principle of individual liberty asserted in this Essay“ (CW XVIII, 293, Herv. d. Verf.; AW 3.1, 416). Deshalb kann Mill in seinen Principles of Political Economy (CW III, V.xi „Of the Grounds and Limits of the Laisser-Faire or Non-Interference Principle“; AW 3.2, V.11 „Von den Gründen und Grenzen des Laisser-faire- oder Nichteinmischungsprinzips“; s. Kap. III.15) für soziale Rechte, etwa eine gesetzliche Regelung von Arbeitszeiten oder die Unterstützung der Armen, plädieren. Auch durch Unterlassungen, das haben wir oben gesehen, kann man anderen Menschen schaden. Friedrich Hayek (2005, 304) täuscht sich also, wenn er meint, John Stuart Mill lehne – wie schon Adam

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Smith – die Einmischung des Staates in den Bereich der Wirtschaftstätigkeit „prinzipiell“ ab. Vielmehr berücksichtigt Mill bei staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft sowohl Erwägungen der Zweckmäßigkeit als auch der sozialen Gerechtigkeit und der Fairness. Zum anderen spricht Mill von Fällen, „which, being directly injurious only to the agents themselves, ought not to be legally interdicted, but which, if done publicly, are a violation of good manners, and coming thus within the category of offences against others, may rightfully be prohibited“ (CW XVIII, 295; AW 3.1, 420). Die Erregung also eines öffentlichen Ärgernisses durch eine Handlung (wie etwa Sex in der Öffentlichkeit), die als solche weder schädlich noch unmoralisch ist, könnte dann ein zusätzlicher Grund für die Einschränkung der Handlungsfreiheit des Individuums sein (vgl. Feinberg 1984, 14). Das Vorliegen eines Schadens wäre somit aber nicht mehr, wie Mill sagt, ‚der einzige Zweck‘ (CW XVIII, 223; AW 3.1, 316) für die legitime Intervention der Gesellschaft in die Handlungsfreiheit ihrer Mitglieder. An dieser Stelle ist der sehr einfache Grundsatz also um eine besondere Kategorie der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses zu erweitern.

Eine Analyse: Der Begriff ‚Schädigung‘ Eine intensive Debatte hat sich in jüngerer Zeit um den Begriff der ‚Schädigung‘ („harm“) entzündet, dem bei der Formulierung des einfachen Grundsatzes eine zentrale Stellung zukommt. Je nachdem, wie dieser Begriff verstanden wird, lassen sich sehr unterschiedliche Forderungen aus diesem Grundsatz ableiten. Die beiden entscheidenden Fragen lauten dabei (Turner 2014): Wann können wir erstens überhaupt von der Schädigung einer Person durch eine andere Person sprechen? Und welche Rolle spielt das Vorliegen einer Schädigung zweitens für eine Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Gewalt der Gesellschaft über das Individuum? Die erste Streitfrage dreht sich um das Problem, ob dieser Begriff entweder rein deskriptiv zu verstehen ist und auf eine Verletzung

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aller möglichen Interessen verweist; oder ob er seinerseits bereits normative Vorannahmen enthält, die dazu führen, nur die Verletzung von besonders wichtigen und vitalen Interessen als Schädigung anzusehen (Feinberg 1984, 34–36; Rawls 2008, 423; Jacobson 2017, 444; Donner 2017, 434). Unter einer ‚Schädigung‘ ist dieser Position zufolge nicht jede beliebige Auswirkung unserer Handlungen auf andere Personen zu verstehen, sondern eine Beeinträchtigung besonders wichtiger Interessen anderer Personen. Eng verknüpft ist diese Frage mit der Frage danach, wie weit eine Schädigung einer Person ausgelegt werden soll. Eine weite Lesart des Begriffs bezieht sich auf alle Interessen einer Person, und eine engere Lesart des Begriffs bezieht sich nur auf essentielle Interessen, die unter dem Schutz von moralischen Rechten stehen. Für eine weite Lesart des Begriffs ‚Schädigung‘, der alle negativen Konsequenzen einer Handlung für andere Personen umfasst, könnte man zunächst darauf verweisen, dass Mill in On Liberty ausdrücklich auf jeden Vorteil verzichten möchte, der seiner Sache aus der Vorstellung abstrakter Rechte erwachsen könnte (CW XVIII, 224; AW 3.1, 317–318; vgl. Riley 2015, 13). Für eine solche Lesart spricht nach Piers Norris Turner (2014, 306) zusätzlich eine Passage aus dem 4. Kapitel der Freiheitsschrift, in der Mill ausdrücklich die Möglichkeit einer Schädigung sowie die Möglichkeit einer legitimen Intervention der Gesellschaft auch ohne die Verletzung eines Rechts einräumt: „The acts of an individual may be hurtful to others, or wanting in due consideration for their welfare, without going the length of violating any of their constituted rights“ (CW XVIII, 276; AW 3.1, 392). Für die enge Lesart spricht dagegen, dass Mill selbst von bestimmten Interessen von Personen spricht, die man als ihre Rechte ansehen könne. Nicht jedes beliebige Interesse eines Menschen rechtfertigt nach Mill nämlich einen Eingriff in dessen Handlungsfreiheit. Nur essentielle Interessen, „which, either by express legal provision or by tacit understanding, ought to be considered as rights“ (CW XVIII, 276; AW 3.1, 392; vgl. Höntzsch 2010, 88–91), verdienen den

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Schutz der Gesellschaft: In seiner Abhandlung Utilitarianism bezeichnet Mill das Interesse an Sicherheit als „the most vital of all interests“ (CW X, 251; AW 3.1, 505); die Moral schütze vor allem das Interesse, in Freiheit die Vorstellung vom eigenen Wohl zu verfolgen (CW X, 256; AW 3.1, 511–512). Zugunsten einer engen Lesart spricht weiterhin zum einen die mögliche Sorge, dass mit einer weiten Lesart von ‚Schädigung‘ fast jede Handlung – denn fast alle Handlungen haben Konsequenzen für andere Personen – zum Gegenstand eines legitimen Eingriffs der Gesellschaft werden könnte. Zum anderen kann man auf eine Passage in Kap. 5 von Mills Schrift Utilitarianism verweisen, in der die Berechtigung externer, sozialer Sanktionen von der Verletzung moralischer Rechte abhängig gemacht wird: „We do not call anything wrong, unless we mean to imply that a person ought to be pun­ ished in some way or other for doing it; if not by law, by the opinion of his fellow creatures; if not by opinion, by the reproaches of his own conscience“ (CW X, 246; AW 3.1, 498). Was zweitens die Frage nach der Rolle einer Schädigung für die Lösung des zentralen Problems von Mills Essay angeht, so sind auch hier – und zwar unabhängig von der Lesart des Begriffs ‚Schädigung‘ – zwei grundsätzliche Antworten denkbar. Auf der einen Seite kann man die Position vertreten, das Vorliegen einer (wie immer verstandenen) Schädigung sei nach Mill die einzige Begründung oder Rechtfertigung für das Eingreifen der Gesellschaft in die Freiheiten ihrer Mitglieder. Auf der anderen Seite kann man Mill so interpretieren, dass er andere Gründe als eine Schädigung für eine Beschränkung der Freiheiten durch die Gesellschaft zulässt. Man könnte dann zum einen für eine weite Lesart des Begriffs der Schädigung plädieren, zum anderen gleichzeitig dessen begrenzte Bedeutung für die Antwort auf Mills Hauptfrage postulieren. Turner (2014, 301) vertritt etwa die Auffassung, Mills Verteidigung der Freiheit basiere gar nicht in erster Linie auf dem Schädigungsprinzip, sondern auf utilitaris-

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tischen Erwägungen des großen sozialen Werts von Individualität (s. Kap. V.30) und Fortschritt (s. Kap. V.26). Trotz einer weiten Lesart von ‚Schädigung‘ gebe es damit keinen Anlass zur Sorge, der Staat hätte ein Recht, alle Lebensbereiche des Menschen seiner Kontrolle zu unterwerfen. Will man ein kurzes, vorläufiges Zwischenresultat dieser Kontroverse festhalten, so sollte man erstens einräumen, dass bereits die Debatte als solche es möglich macht – ganz unabhängig davon, welcher Position man sich zuletzt anschließt –, ein besseres und differenzierteres Verständnis von Mills Freiheitsschrift zu gewinnen. Das Vorliegen verschiedener Interpretationsmöglichkeiten ist selbst schon als ein Gewinn und Erkenntnisfortschritt zu verbuchen. Was wohl auch im Sinne von Mill wäre! Was dann den Begriff der Schädigung angeht, gibt es an zweiter Stelle kaum überzeugende Belege dafür, generell von einer engeren, normativen Interpretation der Schädigung abzurücken. Vernünftig streiten kann man sicher über die Frage, wo genau im Einzelfall die Grenzen gezogen werden sollen und welche Interessen moralische Rechte des Individuums schützen sollen. Eine umfassende Auslegung des Vorliegens einer Schädigung würde jedoch wohl nicht mit dem Hauptanliegen von Mills Freiheitsschrift übereinstimmen, die Gewalt der Gesellschaft über das Individuum so weit wie möglich zu begrenzen. Und selbst wenn man drittens – mit dem Hintergedanken, einen Standardeinwand gegen diese weite Lesart der Schädigung aus der Welt zu räumen – für eine Begrenzung der Rolle der Schädigung von Interessen für die Antwort auf die Hauptfrage plädiert, stellt sich plötzlich die neue Frage, warum Mill diesem Begriff überhaupt eine solch prominente Stelle sowohl bei der Formulierung seines Freiheitsprinzips als auch bei den verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten dieses Prinzips gegeben hat. Eine Einschränkung der zentralen Bedeutung des Schädigungsprinzips – etwa zugunsten von reinen Überlegungen der Nützlichkeit – wirft zuletzt wohl mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

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Die Freiheit des Denkens und der Diskussion Im zweiten Kapitel von On Liberty beschäftigt sich Mill mit einem, wie er sagt, ‚Einzelzweig‘ der allgemeinen These: der Frage, ob und aus welchen Gründen die Gedanken eines Individuums sowie deren Äußerung zum Gegenstand einer sozialen Kontrolle oder Einflussnahme werden dürfen. Dabei ist Mill übrigens nicht der Auffassung – wie etwa John Locke in seinem Brief über die Toleranz –, man könne die inneren Überzeugungen einer Person gar nicht durch äußeren, sozialen Druck beeinflussen: „History“, so Mill (CW XVIII, 238; AW 3.1, 337), „teems with instances of truth put down by persecution“. Im Gegensatz zu Locke stützt er sich also nicht auf ein Argument, das von der Unmöglichkeit einer Kontrolle oder Beeinflussung von Gedanken durch äußere Zwänge ausgeht. Außerdem ist die Wahrheit für Mill auch nicht der einzige und höchste Wert, in dessen Diensten die freie Diskussion steht; die Wahrheit einer Meinung scheint ihm nur „a part of its utility“ (CW XVIII, 233; AW 3.1, 331; vgl. Niesen 2015, 37). Zur Rechtfertigung der unbeschränkten Diskussionsfreiheit unterscheidet Mill im Laufe des zweiten Kapitels drei Möglichkeiten: Die unterdrückte Meinung kann erstens richtig sein; sie kann zweitens falsch sein; und sie kann drittens zumindest einen Teil der Wahrheit enthalten (s. Kap. V.33). Durch die Unterdrückung einer richtigen Meinung verschenke die Gesellschaft nicht nur die Chance, ihre falschen Meinungen zu korrigieren. Mill bringt ein weiteres Argument ins Spiel: Eine Berechtigung, an die Wahrheit der eigenen Meinung zu glauben, sei auch an die anspruchsvolle Voraussetzung geknüpft, dass man diese dem Widerspruch und der Kritik ausgesetzt habe. „Complete liberty of contradicting and disproving our opinion, is the very condition which justifies us in assuming its truth for purposes of action; and on no other terms can a being with human faculties have any rational assurance of being right“ (CW XVIII, 231; AW 3.1, 327).

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Selbst wenn eine Gesellschaft aber bereits im Besitz der Wahrheit wäre, hätte sie dennoch gute Gründe, sich einer Beschränkung der Äußerung falscher Meinungen zu enthalten. Damit korrigiert und erweitert Mill übrigens die Auffassung der frühen Utilitaristen, die die Äußerung von falschen Meinungen als potenziell schädlich ansahen (Niesen 2015, 34–35, 39–40). Er nennt zwei Gründe für ein prinzipielles Recht zur Äußerung auch von falschen Meinungen: Einerseits könne die richtige Meinung „as a dead dogma, not a living truth“ gelten, „if it is not fully, frequently, and fearlessly discussed“ (CW XVIII, 243; AW 3.1, 346). Nur eine Einsicht in die Gründe unserer Meinungen könne also zur „cultivation of the understanding“ beitragen (CW XVIII, 244; AW 3.1, 347), und nur der Gegner unserer Meinungen könne uns dazu veranlassen, uns Rechenschaft über die Beweggründe unseres Denkens abzulegen. Andererseits würden wir ohne kontroverse Diskussionen „not only the grounds of the opinion“, sondern „too often the meaning of the opinion itself“ vergessen (CW XVIII, 247, Herv. d. Verf.; AW 3.1, 351). Ohne die Möglichkeit eines Vergleichs mit anderen Meinungen würden wir also Gefahr laufen, „the meaning of the doctrine“ und „its vital effect on the character and conduct“ zu verlieren (CW XVIII, 258; AW 3.1, 366). Unabhängig davon also, ob die Äußerung falscher Meinungen in Einzelfällen schädlich ist, so wurzelt das Recht zur Äußerung falscher Meinungen bei Mill in einem intrinsischen Wert des ungehinderten Austausches von Gedanken und Ideen (Niesen 2015, 39–41). Nicht nur den politischen Gegner, auch den Leugner von Tatsachen, an denen es kaum vernünftige Zweifel gibt, sollte man also zu Wort kommen lassen. Mills Argumente für die Diskussionsfreiheit sind somit – um nur eine Konsequenz anzusprechen, die seine radikale liberale Position unter Umständen durchaus fragwürdig erscheinen lassen könnte – insbesondere unvereinbar mit dem Verbot einer Leugnung des Völkermords an den Juden durch die Nationalsozialisten (Niesen 2015, 43).

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Drittens besteht die Möglichkeit, dass die von einer Gesellschaft als richtig angesehene Meinung einseitig und unvollständig ist. Zwei widerstreitende Lehren, „instead of being one true and the other false“, könnten „share the truth between them“ (CW XVIII, 252; AW 3.1, 358). Auch in diesem Fall sprechen gute Gründe gegen ein Vorhaben, die Freiheit zur Meinungsäußerung zu beschränken. Gibt es Kritik, Widerspruch und Zweifel an herkömmlichen Überzeugungen, so hätten wir allen Grund, den Menschen, die solche äußern, dankbar zu sein: „[L]et us thank them for it, open our minds to listen to them, and rejoice that there is some one to do for us what we otherwise ought […] to do with much greater labour for ourselves“ (CW XVIII, 252; AW 3.1, 358). Sind Mills Argumente für die Diskussionsfreiheit schlüssig? Können sie auch eine Überzeugungskraft für Anhänger von anderen Positionen entfalten? Oder predigt er nur den Gläubigen und schüttet letztlich nur Wasser in die Themse? Und in welchem Verhältnis steht die Diskussionsfreiheit nun zur allgemeinen Handlungsfreiheit? Und welchen besonderen Schutz sollte sie nach Mill genießen? Was zunächst die Argumentation Mills angeht, so können viele Liberale Mills Schlussfolgerungen zweifellos teilen. Niesen meint, Mills Position entfalte „hohe Überzeugungskraft“; er bezeichnet ihre Begründung sogar als „merkwürdig überdeterminiert“ (Niesen 2015, 33). Fraglich bleibt dennoch, ob Mill wirklich Anhänger anderer Positionen überzeugen kann: Kann er etwa einen religiösen Fundamentalisten erreichen, der die rationalen Fähigkeiten des Menschen, dessen Individualität und den sozialen Fortschritt gerade nicht als die höchsten Güter des Menschen anerkennt? Das erscheint eher fragwürdig. Diese Zweifel bedeuten nicht, dass es nicht zusätzliche und vielleicht sogar bessere Gründe für die Freiheit der Gedanken und der Meinungsäußerung geben könnte: Hat nicht auch der Fundamentalist ein Interesse am Schutz seiner Sicherheit? Oder sollte man etwa nicht von einem grundlegenden moralischen Recht der autonomen Person zur Äußerung ihrer Meinun-

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gen und daneben auch von einem Recht eines potenziellen Rezipienten, zu bestimmten Informationen sowie zu einer Vielfalt von Meinungsäußerungen anderer Personen einen Zugang zu haben, ausgehen? Aus Mills Perspektive könnte man dann allerdings zurückfragen: Was genau soll mit der Berufung auf ein ‚Recht‘ gemeint sein, wenn man es nicht als ein besonders wichtiges Interesse – an der freien Meinungsbildung, an der Wahrheit und am gesellschaftlichen Fortschritt – verstehen und auch begründen kann? Über die Argumente, die Mill für die Freiheiten des Denkens und der Diskussion vorbringt, gibt es in der einschlägigen Literatur inzwischen eine kleine Kontroverse (Niesen 2015, 45–46; Jacobson 2017, 440–441). Einer ersten Gruppe zufolge steht diese Freiheit in einem engen Zusammenhang mit der übergreifenden Handlungsfreiheit des Individuums und findet ihre Grenze wieder genau dort, wo anderen Menschen ein Schaden zugefügt wird. Nicht die Sorge um die Wahrheit, sondern vor allem die Entwicklung und Ausübung der Individualität ist dieser Lesart zufolge auch im zweiten Kapitel das zentrale Anliegen von Mill (Ten 1980, 136). Eine zweite Gruppe sieht die Meinungsfreiheit als einen Sonderfall an, der sich nicht in Mills Begründung und Begrenzung der Handlungsfreiheit einordnen lässt. Dieser Interpretation zufolge sind die schädlichen Folgen kein ausreichender Grund, um eine Meinungsäußerung einzuschränken (dazu Niesen 2015, 46). Eine Beantwortung dieser Frage hängt wieder von mehreren Dingen ab: Zum einen stehen wir erneut vor dem Problem, was als eine ‚Schädigung‘ einer Person gelten kann. Es ist schließlich eine offene Frage, ob eine Person mit ihren Überzeugungen und Äußerungen anderen Personen einen Schaden zufügen kann. Bei einem bloßen Gedanken mag das schwierig erscheinen; aber sicherlich zählt eine Meinungsäußerung zu den Handlungen, deren Folgen sich nachteilig auf andere Personen auswirken können (Riley 1998, 56). Kann die Gesellschaft also die Handlungsfreiheit der Person A mit dem Argument beschränken, sie wolle die Person B vor der Äußerung einer bestimmten Meinung schützen und den möglichen Schaden,

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der daraus entstehen kann, verhüten? Und zum anderen stehen wir wieder vor der strittigen Frage, ob denn das Schädigungsprinzip bei Mill tatsächlich als der einzige und entscheidende Grund für die Begrenzung aller Eingriffe und Begrenzungen der Handlungsfreiheit verstanden werden kann. Mill räumt zunächst ein, dass das Recht zur freien Meinungsäußerung unter einen anderen Grundsatz als die Freiheit des Denkens und Fühlens zu fallen scheine, „since it belongs to that part of the conduct of an individual which concerns other people“ (CW XVIII, 225–226; AW 3, 319). Doch er fährt fort: „but, being almost of as much importance as the liberty of thought itself, and resting in great part on the same reasons, is practically inseparable from it“ (Herv. d. Verf.; vgl. Niesen 2015, 42). Je nach Interpretation dieser Passage könnte dann einerseits folgen: Aufgrund ihrer hohen Bedeutung und da sie auf denselben Gründen wie die Denkfreiheit beruht, sollte die Meinungsfreiheit den gleichen Schutz wie diese letztere Freiheit genießen und daher selbst dann nicht eingeschränkt werden dürfen, wenn deren Ausübung die Interessen anderer Personen nachteilig berührt. Es mag demnach so scheinen, als habe die zweite Gruppe der Mill-Interpreten Recht, die die Meinungsfreiheit als Sonderfall ansieht. Auch wenn sich die Folgen einer Meinungsäußerung nachteilig auf andere Menschen erstrecken, so können diese doch niemals eine Rechtfertigung für eine soziale Intervention sein. Jede Unterdrückung einer Meinungsäußerung erscheint dann als ein Unrecht, „it is robbing the human race; posterity as well as the existing generation“ (CW XVIII, 229; AW 3.1, 324). Was das Verhältnis der besonderen Freiheit der Diskussion zum übergreifenden Argument von On Liberty angeht, so kann uns die Klärung des Begriffs der ‚Schädigung‘ im 3. Abschnitt einen Schritt weiterhelfen. Wenn wir nämlich unter der ‚Schädigung‘ einer Person eine Verletzung ihrer moralischen Rechte verstehen, und wenn wir darüber hinaus annehmen dürfen, dass eine Person durch die Meinungsäußerungen anderer Personen niemals in ihren Rechten verletzt werden kann, so kann man die Meinungsfreiheit nämlich zugleich als Anwendungsfall des Frei-

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heitsprinzips und als Sonderfall verstehen: Sie fällt unter das Freiheitsprinzip, insofern ein Beschränkung dieser Freiheit eben nur dann erlaubt ist, wenn deren Ausübung andere Personen schädigt, bleibt aber dennoch ein Sonderfall, weil wir durch die bloße Äußerung einer Meinung in aller Regel andere Menschen nicht schädigen bzw. deren Rechte nicht verletzen können. Dabei sieht Mill von der Ausnahme ab, dass eine Beschränkung der Freiheit zur Meinungsäußerung in bestimmten Kontexten – die nichts mit den Inhalten der Meinungen zu tun haben dürfen –, natürlich rechtmäßig sein kann (CW XVIII, 260; AW 3.1, 369). Aus diesem Grund gilt es andererseits auch zu beachten: Wenn die Meinungsfreiheit ‚nur‘ zum großen Teil auf denselben Gründen beruht und praktisch nicht von der Denkbarkeit zu trennen ist, so scheint es, dass erstere zu einem geringen Teil auch auf anderen Gründen beruht und sich deshalb zumindest theoretisch von letzterer trennen lässt! In einem solchen – wenn auch nur theoretischen Falle – würde die Meinungsfreiheit eben nicht mehr als Sonderfall gelten und nicht den besonderen Schutz der Denkfreiheit genießen können.

Das Argument: Die Entfaltung der Individualität Aus welchem Grund sollte nun der Staat bzw. die öffentliche Meinung den Kreis, der um jedes Individuum herum gezogen ist und sein Interesse an der Bestimmung und Verfolgung einer Konzeption des guten Lebens schützt, nicht übertreten dürfen? Mit welchem Argument kann Mill seine zentrale These verteidigen, dass der Staat und die öffentliche Meinung nur zur Verhütung der Schädigung eines anderen Menschen in die Handlungsfreiheit eines Mitglieds der Gesellschaft eingreifen dürfen? Eine ganz allgemeine Antwort auf diese Frage gibt Mill bereits im ersten Kapitel. Diese wichtige Passage sei hier ein zweites Mal zitiert: „I regard utility as the ultimate appeal on all eth­ ical questions: but it must be utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224;

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AW 3.1, 317–318). Mit einem weiten Verständnis des Begriffs ‚Nutzens‘ kann man also durchaus von einem utilitaristischen Argument sprechen. Eine speziellere Antwort auf die Frage nach der Begründung des Freiheitsprinzips findet sich erst im dritten Kapitel. Dieses Argument basiert auf Mills hoher Wertschätzung der Entwicklung und Entfaltung bestimmter menschlicher Fähigkeiten, deren Ausübung zugleich den wichtigsten Bestandteil der individuellen und gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt ausmachen. Es stützt sich auf zwei Prämissen: 1) Die Ausübung der Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Lebensführung ist das höchste Gut im menschlichen Leben. 2) Die Entwicklung wie auch die Ausübung dieser Fähigkeit hängt von der Existenz eines Bereichs ab, in dem der Mensch schalten und walten kann, wie er es selbst für richtig hält. Daraus folgt: 3) Weder Staat noch öffentliche Meinung haben das Recht, sich in bestimmte persönliche Belange eines Menschen einzumischen. Man könnte prägnant sagen, das Recht auf die selbständige Lebensgestaltung ist bei Mill im hohen Gut der Autonomie gegründet; und der Schutz der negativen Freiheit lässt sich aus der hohen Wertschätzung der inneren, positiven Freiheit ableiten. Mill selbst spricht allerdings nur von ‚Individualität‘; den Begriff ‚Autonomie‘, der sich in der aktuellen Diskussion eingebürgert hat, verwendet er nicht. Mit seinem Ideal der Individualität (s. Kap. V.30) macht sich Mill dabei nicht zu einem Fürsprecher eines exzentrischen Lebensstils oder zu einem Vertreter einer atomistischen Sichtweise auf das Selbst. Im Gegenteil! Die mit dem Ideal der Individualität gemeinten Fähigkeiten sind, so hat jüngst Wendy Donner (2017, 426– 429) überzeugend unterstrichen, in einem hohen Maße auch soziale Fähigkeiten wie Geselligkeit und Mitgefühl. Das Individuum, das seine Werte selbst wählt, führt sein Leben nicht in einer Abgrenzung von anderen Menschen. Das Ideal der Individualität fordert vielmehr auch zur Ausbildung zahlreicher Bindungen und Beziehungen mit anderen Menschen auf.

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Auch nach John Rawls enthält der Begriff der Individualität bei Mill zwei Komponenten: Das griechische Ideal der Selbstentwicklung einerseits, wobei dieses Ideal auch „die Entfaltung und Ausübung unserer höheren Fähigkeiten“ einschließt; und das christliche Ideal der Selbstbeherrschung andererseits, mit dem dann vor allem die Fähigkeit zur Anerkennung der Grundrechte anderer Menschen gemeint ist (Rawls 2008, 447). Mill gehe es allerdings nicht darum, so Rawls, „daß wir uns bloß um der Verschiedenheit willen von anderen Menschen unterscheiden sollen“ (Rawls 2008, 450). Es wäre nach Rawls daher ein kapitaler Fehler, Mill eine besondere Wertschätzung von Exzentrizität oder eigenwilligem Handeln zuzuschreiben. Gerade die Selbstbeherrschung beinhalte auch die Bereitschaft zur Achtung der Rechte anderer Personen. Man kann also von einer Wertschätzung der inneren, positiven Freiheit oder Autonomie des Menschen sprechen, die zuletzt auch Mills Verteidigung der äußeren, negativen Freiheit stützt. (Diese besondere Wertschätzung der inneren Freiheit bildet übrigens auch das Fundament für Mills Verteidigung der äußeren, positiven Freiheit in seinen Considerations on Representative Government). Ob diese innere, positive Freiheit aber wirklich, wie etwa Bernard Semmel (1984, 171) meint, „Mill’s primary theme“ von On Liberty bildet, ist indes noch einmal eine andere Frage. Für eine solche Sicht mögen vielleicht zwei Briefe Mills sprechen: An den Linkshegelianer Arnold Ruge und an den Altphilologen Theodor Gomperz schreibt er (CW XV, 539, 598), dass es in Deutschland nicht so sehr an der moralischen, inneren Freiheit, die das Thema seiner Freiheitsschrift sei, sondern viel eher an Bürgersinn und politischer Aktivität fehle. Die herausgehobene Stellung des Freiheitsgrundsatzes im ersten Kapitel wie auch die ausführlichen Erläuterungen zu seiner Anwendung im vierten und fünften Kapitel deuten jedoch eher darauf hin, dass es Mill in erster Linie um die negative Freiheit, die Begrenzung der Macht der Gesellschaft über das Individuum ging. Schon die übergreifende Frage nach den Grenzen der Ge-

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walt der Gesellschaft weist auf die zentrale Bedeutung der negativen Freiheit hin. Sehen wir uns einige Details von Mills Argumentationsführung etwas näher an. Insbesondere stellt sich ja die Frage, auf welche Weise die Ausübung einer Fähigkeit zur personalen Autonomie nun genau zur Wohlfahrt eines Individuums beitragen kann? Warum sollte ein autonom handelnder Mensch glücklicher als andere Menschen sein, die diese Fähigkeit nicht besitzen oder nicht ausüben? Mill nennt drei Gesichtspunkte (vgl. Rawls 1975, 239): Eine erste Überlegung geht auf den instrumentellen Wert der Freiheit zurück. Der Spielraum, den man verschiedenen Charakteren lässt, wird sich, so Mill, als „useful“ und „desirable“ (CW XVIII, 260–261; AW 3.1, 370) sowohl für deren persönliches Glück als auch für den sozialen Fortschritt erweisen. Die Handlungsfreiheit ist aber nicht nur ein kausal effizientes Mittel zu einem äußeren Zweck. Die Freiheit hat zweitens nämlich einen unmittelbar intrinsischen Wert: „Where, not the person’s own character, but the traditions or customs of other people are the rule of conduct, there is wanting one of the principal ingredients of human happiness, and quite the chief ingredient of individual and social progress“ (CW XVIII, 260–261, Herv. d. Verf.; AW 3.1, 370). Mill geht noch einen Schritt weiter. Die Freiheit ist nicht nur eines der Ingredienzien des menschlichen Glücks; er bezeichnet „the free development of individuality“ als „one of the leading essentials of well-being“ (CW XVIII, 261, Herv. d. Verf.; AW 3.1, 370). Die Ausübung der Fähigkeit zur Autonomie wird somit drittens zur unabdingbaren Voraussetzung eines guten Lebens. Folgt der Mensch dagegen nur der Tradition und der Sitte, besitzt er „no more than a steamengine“ (CW XVIII, 264; AW 3.1, 375) einen eigenen Charakter. Fast könnte man von einer transzendentalen Argumentation sprechen, die die autonome Bestimmung einer Konzeption des guten Lebens durch das Individuum zur Bedingung der Möglichkeit seines Glücks macht.

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Mill erkennt allerdings an, dass seine bisherigen Ausführungen diejenigen noch nicht überzeugen werden, die einer Entwicklung ihrer Autonomie am dringendsten bedürfen. Im zweiten Teil des dritten Kapitels (CW XVIII, 266– 275; AW 3.1, 379–391) führt er deshalb vier weitere Argumente an, um seine These auch den, wie er sagt, ‚Unentwickelten‘ schmackhaft zu machen (vgl. Riley 1998, 84–88). Zunächst meint er: „There is always need of persons not only to discover new truths […], but also to commence new practices, and set the example of more enlightened conduct, and better taste and sense in human life“ (CW XVIII, 267; AW 3.1, 379). Die Unentwickelten könnten somit etwas von den Entwickelten lernen. Zweitens wirken die – durch die persönliche Freiheit ermöglichte – Individualität und der damit einhergehende soziale Fortschritt der Mittelmäßigkeit und der Tyrannei der öffentlichen Meinung entgegen. Drittens wird die Entfaltung verschiedener Individualitäten zu einer Mannigfaltigkeit verschiedener Lebensführungen in einer Gesellschaft führen; und diese wieder­um ist für die allgemeine Verteilung eines „fair share of happiness“ unabdingbar (CW XVIII, 270; AW 3.1, 384). Viertens und nicht zuletzt ist die Individualität ein unverzichtbares Instrument zur Realisierung eines sozialen Fortschritts und das einzige Gegengift gegen eine soziale Stagnation, wie sie etwa in China anzutreffen ist (CW XVIII, 274; AW 3.1, 389). Bei allen vier Erwägungen stellt sich immer die Frage, ob sie nicht letztlich zirkulär sind und die Werte der Individualität und des sozialen Fortschritts, für die ja doch erst gute Gründe angeführt werden sollten, nicht schon voraussetzen. Mill würde auf diesen Einwand wohl entgegnen, dass das echte Glück tatsächlich an die Entwicklung der Fähigkeit zur personalen Selbstbestimmung geknüpft ist. Nicht umsonst spricht er von ‚unentwickelten‘ Menschen und Kulturen. Ein gewichtigerer Einwand wird sich aber ohnehin gegen Mills Hauptargument richten und die Frage aufwerfen, ob die personale Autonomie ein unverzichtbarer Bestandteil bzw.

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sogar eine notwendige Bedingung des menschlichen Glücks ist. Die oben schon aufgeworfene Frage, die in diesem Zusammenhang auftaucht und in der Forschungsliteratur bis heute kontrovers diskutiert wird, betrifft das Verhältnis zwischen Mills Freiheitsgrundsatz, seiner Wertschätzung der Individualität und seiner utilitaristischen Moraltheorie. Einer traditionellen Lesart zufolge sind Mills Verteidigung des Liberalismus und sein Bekenntnis zum Utilitarismus nicht unter einen Hut zu bringen (Ten 1980, 4–6). In jüngeren Beiträgen zur Debatte wird jedoch auf die besondere Spielart des Mill’schen Utilitarismus aufmerksam gemacht, die durchaus sowohl mit individuellen Freiheitsrechten als auch einer Wertschätzung der Individualität vereinbar ist (Rawls 2008, 444– 451; Riley 2015, Abschn. 2.4 „Mill’s extraordinary utilitarianism“; Jacobson 2017, 448–450). Vor allem wird von den Vertretern einer kompatibilistischen Sichtweise darauf hingewiesen, dass Mill eine neue, komplexe Form des Utilitarismus entwickelt (Schramme 2015, Abschn. 4.1 „Mills komplexer Utilitarismus“): Der Nutzen wird in dieser Variante – wie oben schon zitiert – „in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224; AW 3.1, 318) verstanden. Mit anderen Worten: Die Entwicklung und Ausübung all der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten, die mit der Ausbildung der Individualität verbunden sind, ist die Quelle einer besonderen und höherwertigen Lust. Deshalb kann Mill durchaus ein Liberaler bleiben, der großen Wert auf ein Recht auf individuelle Freiheit legt, ohne dabei seine utilitaristische Moraltheorie opfern zu müssen, die eine Vermehrung des allgemeinen Nutzens fordert (Rinderle 2006). Wenn der Nutzen nämlich in einem umfassenden Sinn verstanden wird und auch besondere intellektuellen und sittlichen Lüste mit beinhaltet, und nur ein Recht auf größtmögliche Freiheit uns diese Lüste verschaffen wird, so kann ein Utilitarist auch für die Freiheit eintreten. Selbst wenn diese Auffassung nicht mehr der herkömmlichen Sichtweise eines Utilitaristen wie Bentham entsprechen sollte, so ist sie doch zumindest kohärent und für sich plausibel.

P. Rinderle

Zusammenfassung und Würdigung Mill legt sich in On Liberty die Frage nach der rechtmäßigen Ausübung von sozialer Gewalt über das Individuum vor. Zwischen der Scylla eines metaphysischen Naturrechts auf Freiheit und der Charybdis eines relativistischen Skeptizismus in Bezug auf Vorstellungen des guten Lebens hindurchsteuernd versucht er, einen Bereich des Denkens, des Fühlens, des Handelns und des Diskutierens dem Zugriff von Staat und Gesellschaft zu entziehen. Er begründet diese Begrenzung der gesellschaftlichen Macht mit dem großen Wert der Entwicklung und Ausübung der individuellen Fähigkeiten! Mischen sich der Staat oder die öffentliche Meinung nämlich in diesen Bereich ein, kann das nur eine Verkümmerung dieser Fähigkeiten und entsprechende Einbußen für das Glück des Individuums und den gesellschaftlichen Fortschritt insgesamt zur Folge haben. Zweifellos steht Mills Streitschrift in einem bestimmten Kontext: Der Autor lehnt sich mit seinen Thesen zunächst gegen den zunehmenden Konformismus des Viktorianischen Zeitalters auf. Aber zweifelsohne ist seine Argumentation gerade auch in den Zeiten der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens von großer Bedeutung. Wir sehen uns heute nicht nur mit Eingriffen der Gesellschaft in die privatesten Belange eines Menschen konfrontiert, von denen sich ein John Stuart Mill nicht einmal etwas hätte träumen lassen. Auch sein Hinweis auf den großen Wert der Entfaltung und Ausübung der menschlichen Individualität ist vor diesem Hintergrund von hoher Aktualität. An der Wertschätzung der personalen Autonomie als Grundlage des menschlichen Glücks sowie als Fundament für die Gewährung von Freiheitsrechten für das Individuum mögen aus heutiger Sicht einige Zweifel angebracht sein. Mill nimmt für seine Position einen ethischen Perfektionismus (Ryan 1998, 519–520) in Anspruch und ist somit an dieser Stelle durchaus angreifbar: Für Wertvorstellungen, in denen der personalen Autonomie kein besonders hoher Stellenwert zukommt, bleibt er letztlich ein Argument für seinen einfachen Grundsatz schuldig.

13  On Liberty (1859)

Im Zeitalter pluralistischer Gesellschaften, die von einem unversöhnlichen Widerstreit vernünftiger Vorstellungen des guten Lebens charakterisiert sind, lässt sich die Einschränkung der Freiheit durch die Gesellschaft in erster Linie aber auch durch den Hinweis auf die weithin geteilten Interessen an Sicherheit, äußerer Freiheit und sozialer Gleichheit rechtfertigen. Ein Interesse an der Ausbildung der Individualität wird wohl nicht von allen Menschen gleichermaßen geteilt. Und nachdem wir heute – besonders im Vergleich zum Viktorianischen Gesellschaft – ein recht großes Maß an Freiheit und Diversität kennen, ist die Protektion von gemeinsamen Werten und Normen inzwischen vielleicht genauso wichtig geworden wie der Schutz der individuellen Freiheit (Goodhart 2017, 10). Den wichtigen Beitrag von Mills Abhandlung On Liberty für die Theorie und die Praxis des politischen Liberalismus wird auch von denen nicht infrage gestellt, die Mills umfassenden, ethischen Liberalismus nicht teilen (Rawls 1975; Hayek 2005; s. Kap. VI.44). Anhand dreier Punkte sei dieser Beitrag abschließend noch einmal zusammengefasst: Das Interesse an der persönlichen Selbstbestimmung ist erstens ein essentielles, höhergeordnetes Interesse des Menschen. Aus diesem Grund ist das Recht auf Freiheit – wenn es auch nicht als ein apriorisches Fundament der politischen Gerechtigkeit gelten kann – als eine Trumpfkarte anzusehen, die alle Farben sticht und nicht mit anderen Werten (wie Effizienz, Moral oder Kultur) verrechnet werden kann. Das Recht auf persönliche Selbstbestimmung ist zweitens nicht mit einem Recht auf eine absolute Freiheit im Wirtschaftsleben identisch. Im Gegenteil: Die Möglichkeit zur persönlichen Selbstbestimmung setzt eine grundlegende soziale Absicherung eines jeden Menschen voraus. Der Staat darf somit für die Zwecke einer sozialen Grundsicherung eines jeden Menschen tätig werden, ohne dabei das gleiche Recht auf Selbstbestimmung zu verletzen. Mill war auch einer der ersten Theoretiker des Liberalismus, der die Gefahren der wachsenden sozialen und

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wirtschaftlichen Ungleichheiten für die Integrität des demokratischen Prozesses erkannte. Als größte Gefahr sieht Mill zufolge jedoch den Konformismus, die Tendenz also zu einer Gleichförmigkeit des Denkens und Handelns in modernen Gesellschaften. Wer an einem Recht auf Selbstbestimmung interessiert ist, muss daher drittens an einem kulturellen Pluralismus interessiert sein. Die Vielfalt der Lebensentwürfe ist für ihn eine unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung und Ausübung einer Fähigkeit zur Autonomie des Menschen. Mill lehnt sich hier ausdrücklich an Wilhelm von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen aus dem Jahr 1792 an (s. Kap. II.5): „The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity“. Dieses Zitat hat Mill (CW XVIII, 215; AW 3, 304) seiner Schrift On Liberty auch als Leitspruch vorangestellt. Als Resümee können wir festhalten: An der umfassenden Wertschätzung der personalen Autonomie als Grundlage des menschlichen Glücks muss man heute, im Zuge vor allem einer nicht erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts anhebenden neuen Bewertung der Bedeutung von Kulturen, Traditionen, Gemeinschaften und Religionen, sicherlich Abstriche machen. John Stuart Mill operiert wohl mit einer falschen oder zumindest engspurigen Alternative zwischen personaler Autonomie und konformistischer Heteronomie. Viele Philosophen – wie auch viele Nichtphilosophen – würden inzwischen sicherlich vernünftige Vorstellungen von einem guten und glücklichen Leben akzeptieren, die die Autonomie weder zu einem Hauptbestandteil noch zu einer unverzichtbaren Bedingung erheben. Zwischen einer autonomen Entfaltung der Individualität und der bloß konformistischen Anpassung an die Bräuche und Gewohnheiten einer Gesellschaft gibt es wohl ein recht breites Spektrum von vernünftigen Optionen der Lebensführung. Zwar plädiert Mill für die Vielfalt

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verschiedener Lebensstile in einer Gesellschaft; dennoch kann man ihm vorwerfen, dass es seiner Vorstellung eines vernünftigen ethischen Pluralismus ein wenig an Phantasie mangelt. Die Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe zieht heute viel weitere Kreise, als es sich Mill je hat träumen lassen. Dass diese Vielfalt in den ‚entwickelten‘, westlichen Demokratien aber inzwischen ein Stück soziale Realität geworden ist, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von John Stuart Mills Schrift On Liberty.

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P. Rinderle Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Jacobson, Daniel: Mill on Freedom of Speech. In: Christopher Macleod/Dale E. Miller (Hg.): A Companion to Mill. Chichester 2017, 440–453. Niesen, Peter: Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion. In: Michael Schefczyk/Thomas Schramme (Hg.): John Stuart Mill: Über die Freiheit. Berlin 2015, 33–54. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975. Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2008. Riley, Jonathan: Mill on Liberty. London 1998. Riley, Jonathan: The Right to Liberty. In: Michael Schefczyk/Thomas Schramme (Hg.): John Stuart Mill: Über die Freiheit. Berlin 2015, 11–32. Rinderle, Peter: John Stuart Mills Theorie der liberalen Gerechtigkeit. In: Michael S. Aßländer/Peter Ulrich (Hg.): John Stuart Mill – der vergessene politische Ökonom und Philosoph. Bern 2006, 79–123. Ryan, Alan: Mill in a Liberal Landscape. In: John Skorupski (Hg.): The Cambridge Companion to Mill. Cambridge 1998, 497–540. Schramme, Thomas: Das Ideal der Individualität und seine Begründung. In: Michael Schefczyk/ders. (Hg.): John Stuart Mill: Über die Freiheit. Berlin 2015, 55–73. Semmel, Bernard: John Stuart Mill and the Pursuit of Virtue. New Haven 1984. Ten, C. L.: Mill on Liberty. Oxford 1980. Turner, Piers Norris: ‚Harm‘ and Mill’s Harm Principle. In: Ethics 124 (2014), 299–326.

Considerations on Representative Government (1861)

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Sandra Seubert

John Stuart Mills Considerations on Representative Government haben in Deutschland anders als in England und den USA lange nicht die gleiche Beachtung gefunden wie Utilitarianism (s. Kap. III.12) oder On Liberty (s. Kap. III.13). Dies hat sich in neuerer Zeit geändert, und zwar mit gutem Grund, denn die Notwendigkeit über politische Institutionen und gute Regierung nachzudenken, ist in Mills Denken mit der Reflexion über individuelle Freiheit (s. Kap. V.27) inhärent verknüpft sowie überdies geprägt von der spezifischen Ausformulierung seines an qualitativen Maßstäben orientierten Utilitarismus (s. Kap. V.29). Die Considerations on Representative Government, die Mills fortgeschrittene Ansichten zur Demokratie enthalten, zielen auf eine allgemeine, normative Theorie politischer Institutionen und formulieren zugleich ein reformpolitisches Anliegen: über die Analyse potenzieller Deformationen der Massendemokratie einen Beitrag zur Lösung drängender politischer Probleme der Zeit zu leisten. Mill vertritt in dem Buch die These, dass nur eine Volksregierung („popular government“) eine ideale Regierung

S. Seubert (*)  Professorin für Politische Theorie, GoetheUniversität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected]

sein kann. Sie steht nicht im Gegensatz zu einer Repräsentativregierung („representative government“), denn diese bedeutet, dass das Volk als Ganzes durch periodisch gewählte Vertreter oberste Souveränität oder Kontrollgewalt ausübt. Das Wahlrecht zum Parlament ist daher das bedeutendste Mittel der Partizipation, weshalb es allgemein und direkt ausgeübt werden sollte – allerdings nicht gleich, um eine reine Mehrheitsherrschaft zu verhindern. Mills Schrift lässt sich in drei Abschnitte untergliedern: Kapitel I bis IV setzen sich in Anknüpfung an klassische Vorbilder mit grundlegenden Fragen der Staatstheorie auseinander. Kapitel V bis XV widmen sich der Institutionenanalyse der Repräsentativregierung, wozu Fragen der Parlamentsfunktionen (s. Kap. V.36), des Wahlrechts (s. Kap. V.41), der Gewaltenverschränkung und des Föderalismus gehören. Die Kapitel XVI bis XVIII drehen sich schließlich um Fragen der politischen Einheit, ihrer Formierung, ihren Formen und Grenzen.

Die relative Autonomie politischer Institutionen Zur Begründung einer allgemeinen Theorie politischer Institutionen setzt sich Mill zu Beginn mit der Frage menschlicher Gestaltungsfreiheit auseinander. Während rationalistische Positionen Regierungsformen in dieser Hinsicht

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_14

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im Wesentlichen als eine Frage des Erfindens und Konstruierens betrachten, gehen naturalistische Positionen davon aus, dass Regierungsformen nicht ‚gemacht‘ werden, sondern, anderen Naturgegebenheiten gleich, ‚wachsen‘ (CW XIX, 374; Mill 2013, 9/10). Mill nimmt eine Mittelposition ein: Institutionen sind menschengemacht und daher veränderbar. Aber das heißt auch, dass sie durch die Personen, die in ihnen handeln, mit Leben gefüllt werden müssen. Wenn die Menschen, die die Institutionen zum Laufen bringen sollen, nicht bereit oder fähig sind, das Notwendige zu ihrer Aufrechterhaltung und effektiven Erfüllung ihrer Aufgaben zu tun, so ist eine bestimmte Regierungsform unter den gegebenen Umständen nicht realisierbar. Dass Institutionen, entwicklungstheoretisch betrachtet, bestimmte soziale Funktionsvoraussetzungen haben, bedeutet für Mill nun freilich nicht, dass sie nicht auch Ergebnis bewusster Entscheidungen wären. Mill verteidigt eine relative Autonomie des Politischen gegen deterministische Auffassungen von Politik – sowohl gegen konservative Positionen als auch marxistische ‚Überbau‘-Theorien. Für ihn lässt sich politische Macht niemals allein auf die sozioökonomischen Machtverhältnisse in einer Gesellschaft reduzieren. Soziale Macht übersetzt sich in politische Macht allererst durch Organisation – und die Organisation von Macht funktioniert ganz wesentlich über die Bildung und Beeinflussung von Meinung. An diese Vorüberlegungen anschließend wendet sich Mill im Folgenden den Kriterien guter Regierung zu. Mill unterscheidet zwei Aspekte guter Regierung: die Qualität der „Maschinerie“ (CW XIX, 390; Mill 2013, 33) und die Qualität der Menschen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Ersteres, die Maschinerie, ist letztlich eine abhängige Größe: Sie muss funktional, d. h. zur Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zweckmäßig organisiert sein. Der eigentliche Zweck guter Regierung ergibt sich aus dem zweiten Aspekt, dem Menschentyp, der durch sie hervorgebracht wird. Eine gute Regierung lässt sich danach beurteilen, inwiefern sie die Tugend und Intelligenz ihrer Bürger fördert. Eine Regierung, der dies gelingt, wird auch

S. Seubert

auf allen anderen Gebieten Fortschritte erzielen. Auf diesen Überlegungen baut Mills Analyse im dritten Kapitel auf, nämlich dass nur eine Volksregierung („popular government“) eine ideale Regierung sein könne. Nur sie sei in der Lage, für eine Höherentwicklung des Charakters zu sorgen, nur sie könne bewirken, dass die Einzelnen für ihre eigenen Rechte und Interessen einstehen. Ein Volk kann nicht ohne seinen eigenen Willen und sein eigenes Zutun gut regiert werden. Mill stellt die Volksregierung der Herrschaft durch eine ‚gute Despotie‘ (CW XIX, 401; Mill 2013, 47) gegenüber: Unter einem Despoten, mag er noch so gut sein, würde ein passiver Menschentypus heranwachsen, ohne individuelle Energie, sein eigenes Los aktiv zu verbessern, geschweige denn seine Kräfte zum Wohl der Gemeinschaft aktiv einzusetzen. Mill geht es um das bildende Moment politischer Betätigung, Perspektivenerweiterung und uneigennützige Identifikation mit dem Öffentlichen, aber auch generell um Gewohnheiten der Selbsttätigkeit, die sich auf die Lebensführung im weiteren Sinne beziehen und die gesellschaftliche Prosperität steigern, weil eine Vielfalt von Kräften beteiligt ist (s. Kap. V.30). Zur Entwicklung der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten gehört der Gebrauch der Freiheit, und nur wenn dieser im alltäglichen Leben geübt wird, entsteht auch ein Verlangen nach politischer Selbstbestimmung. Wenn Mill die Repräsentativregierung als ideal beste Regierung darstellt, so besteht darin für ihn kein Gegensatz zur Volksregierung. Ideal ist diejenige Regierungsform, bei der „the sovereignty, or supreme controlling power in the last resort, is vested in the entire aggregate of the community“ (CW XIX, 403; Mill 2013, 51). Die Ausübung der Souveränität vermittelt sich aus dieser Perspektive ganz wesentlich über das Stimmrecht. Das Rousseau’sche Problem der Nicht-Übertragbarkeit des Willens der Gesellschaftsmitglieder stellt sich für Mill offensichtlich nicht (Urbinati 2008, Kap. 2). In der britischen Tradition der Parlamentssouveränität erscheint das Parlament als oberste Gewalt, die die Freiheit der Bürger sichert und die diese kraft ihres Wahlrechts an ihren Willen binden (dazu Preuß 1994). Die parlamentarische Souveränität hängt zwar noch von der

14  Considerations on Representative Government (1861)

höheren Souveränität des Volkes ab, aber diese äußert sich nicht in direkter Gesetzgebung, sondern in letztinstanzlicher Kontrolle der Regierung (s. Kap. V.36). Mills Fokus richtet sich im Gegensatz zu Rousseau weniger auf die finale Willensbekundung in der Abstimmung als auf die Willensbildung in der Deliberation. Trotz der vermittelten Ausübung von Souveränität erschöpft sich die partizipatorische Dimension der Demokratie für Mill freilich nicht im Wahlrecht. An der Ausübung der Souveränität beteiligt zu sein, bedeutet auch, zumindest zeitweise, aktiv am Regieren teilzunehmen – was für Mill vor allem auf lokaler Ebene möglich ist. Auch die Übernahme kleiner öffentlicher Funktionen hält Mill für begrüßenswert, bietet dies doch Gelegenheit, das erzieherische Moment politischer Betätigung zur Geltung zu bringen. Zwar soll der Grad der Partizipation nur so umfassend sein, wie es die Verbesserung des Gemeinwesens erlaube. Aber es besteht kein Zweifel, dass das Ziel der besten Regierungsform in der Beteiligung aller an der souveränen Macht des Staates liegen muss. Denn politischer Ausschluss blockiert die Motivation, seine Kräfte zum eigenen und zum gemeinschaftlichen Wohl einzusetzen. Wie aber rechtfertigt sich dann Repräsentation? Zunächst scheint die Notwendigkeit im Wesentlichen technischer Natur zu sein: Nur durch Repräsentation kann in einem Gemeinwesen, das die Größe einer Stadt überschreitet, die Beteiligung aller an der Regierungsgewalt sichergestellt werden. Dabei bedeutet Repräsentation für Mill zuallererst Interessenvertretung. Gegen paternalistische Vormundschaft betont er, dass jede(r) Einzelne selbst, der/die beste Vertreter:in ihrer Interessen und Rechte sei. Das richtet sich auch gegen Vorstellungen einer „virtual representation“ wie sie etwa Edmund Burke vertreten hat (Pitkin 1972, 168–189). Im Parlament mögen durchaus wohlmeinende Abgeordnete sein, die Gesetze zum Wohl der Arbeiterklasse zu verabschieden glauben. Aber das ersetzt nicht die Anwesenheit von Repräsentanten der Arbeiterklasse, die diese selbst gewählt haben. So gesehen geht für Mill Repräsentation über Interessenvertretung hinaus und bedeutet eigent-

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lich Perspektivenvertretung. Mit den Augen eines Arbeiters kann ein Abgeordneter ein Problem nur betrachten, wenn er selbst auch dessen soziale Lage und die damit zusammenhängenden Erfahrungen teilt, so argumentiert er (CW XIX, 405; Mill 2013, 53). Die Vielfalt von Perspektiven in der Gesellschaft muss vertreten und damit sichtbar gemacht werden, damit die Chance besteht, tatsächlich die Interessen aller in der Gesetzgebung zu berücksichtigen – ein Problem, das auch in aktuellen Diskussionen um Repräsentation noch eine wichtige Rolle spielt (etwa Urbinati 2008, 44 ff.; Young 2000, 133 ff.). Was die Arbeiterschaft betrifft, so steht für Mill fest, dass deren Perspektivenvertretung durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gesichert würde: ein Wahlrecht, das allen ökonomisch tätigen, steuerzahlenden Bürgern unabhängig vom Geldvermögen eine Stimme gewährt. Aber die Repräsentation einer Pluralität von Perspektiven verlangt seiner Ansicht nach weitere institutionelle Schutzmechanismen. Denn unter Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts ergäbe sich eine unbeschränkte Mehrheitsherrschaft der Arbeiterklasse, da der gebildete und wirtschaftlich besser gestellte Teil der Bevölkerung in der Minderheit sei. Eine Demokratie aber, die die reine Mehrheitsherrschaft zur Durchsetzung bringe, sei eine „falsche Demokratie“ (CW XIX, 448; Mill 2013, 112). Unter nicht-idealen Bedingungen empfiehlt Mill durchaus illiberale Übergangsmaßnahmen: Zur Förderung der einer Repräsentativregierung entgegenkommenden Sitten muss die Einübung von Gewohnheiten, insbesondere die Anerkennung der Herrschaft der Gesetze, im Zweifelsfall auch durch eine verfassungsmäßig nicht begrenzte politische Führung herbeigeführt werden (CW XIX, 418; Mill 2013, 71).

Grundprobleme demokratischen Regierens I: Partizipation und Kompetenz Repräsentativregierung bedeutet, dass das Volk als Ganzes durch periodisch gewählte Vertreter oberste Kontrollgewalt ausübt. Dies ist zunächst

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gleichbedeutend mit parlamentarischer Demokratie, insofern die Regierung aus der Volksvertretung hervorgeht und von deren Vertrauen abhängig ist. Wenn Mill sich nun der genaueren Betrachtung der Parlamentsfunktionen widmet (s. Kap. V.36), thematisiert er ein Grundproblem, um das seine Schrift immer wieder kreist: das Problem der Vermittlung von Partizipation (s. Kap. V.37) und Kompetenz. Für Mill ist das Parlament der zentrale Ort demokratischer Politik, er betont daher vor allem die Öffentlichkeits- und Beratungsfunktion. Gerade deshalb muss seine Funktion aber in einer spezifischen Weise beschränkt bleiben. Das Parlament soll die Regierung kontrollieren, aber nicht selbst regieren. Da seine zentrale Aufgabe in der öffentlichen Deliberation liegt, soll es gegensätzlichen Standpunkten Gehör und öffentliche Beachtung verschaffen und dem kontroversen Meinungskampf ein Forum geben. Als ‚Kongress der Volksmeinung‘ soll die Repräsentativversammlung die öffentliche Meinung in all ihrer Vielfalt zum Ausdruck bringen (CW XIX, 432; Mill 2013, 91). Sie muss in Beratungsprozessen gemeinsam gebildet und durch Offenlegung, Rechtfertigung und Kritik unparteiisch geprüft werden. Mill hält die Deliberationsfunktion des Parlaments für zentral, weil sie sowohl Bürgern als auch Repräsentanten vermittelt, Politik als öffentlicher Rechtfertigung bedürftig zu begreifen. Auch deshalb erscheinen ihm Partizipation und Repräsentation nicht als zwei alternative, sondern vielmehr als aufeinander bezogenen Formen demokratischer Politik. Wie sein konservativ-liberaler Zeitgenosse Walter Bagehot zählt Mill zum Katalog der Parlamentsfunktionen auch die Wahlfunktion, d.  h. geeignete Persönlichkeiten für Ämter auszuwählen. Dazu zählt natürlich in erster Linie das Regierungsoberhaupt, also das Amt des Premierministers, aber auch andere administrative Positionen. Mill legt Wert auf die Aufgabentrennung von Legislative und Exekutive und hier insbesondere auf die Ausbildung einer eingeschulten Fachverwaltung. Er betont das Erfordernis von Fachkenntnis, akkumulierter Erfahrung und praktischem Wissen, wie sie

S. Seubert

nur durch bürokratische Herrschaftsstrukturen zu gewährleisten seien. Mit dieser Fokussierung auf die Rationalität des Regierens nimmt Mill in gewisser Weise Max Webers Charakterisierung legaler Herrschaft vorweg (Weber 1972 [1921], 125–130). Und wie Weber sieht Mill auch die Nachteile dieser Herrschaftsform: Routine, Korpsgeist, Unterdrückung von schöpferischer Energie und Individualität. Hier kommt nun die Volksregierung als Gegenkraft ins Spiel. Mill betont, dass eine aktionsfähige Organisation der Leitung durch eine mit spezifischen Qualifikationen ausgestatteten Einzelperson bedarf. Aber anders als Weber setzt er darauf, politische Initiative und Gestaltungsvermögen an den parlamentarisch repräsentierten Volkswillen rückzubinden. Über die agora des Parlaments soll die Verbindung von Regierung und öffentlicher Meinung hergestellt und eine an der Beamtenhierarchie vorbeigreifende Legitimität erzeugt werden. Mills Anliegen ist es, bürokratische und demokratische Elemente zu verbinden, um einer qualifizierten Demokratie, einer „skilled democracy“, zur Realisierung zu verhelfen. Er bezieht dabei auch den Kern der Parlamentsaufgaben, die Gesetzgebungsfunktion, mit ein. Gesetzgebung, so argumentiert Mill, verlangt einen durch mühevolles Studium geschärften Verstand. Gesetze müssen sorgfältig und kompetent vorbereitet werden und sich in das rechtliche Gesamtsystem fügen. Er schlägt deshalb die Einsetzung einer ‚Legislativkommission‘ (CW XIX, 430; Mill 2013, 88) vor, die die Aufgabe hat, Gesetze vorzubereiten, die sodann dem gesamten Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden können. Anders als heutige parlamentarische Ausschüsse sollen die Mitglieder der Legislativkommission allerdings nicht aus dem Parlament heraus bestimmt, sondern von der Krone für die Dauer von fünf Jahren berufen werden. Mill vertraut hier offenbar auf die Existenz eines unpolitischen juristischen Sachverstands. Die Kommission soll das Element der ‚Intelligenz‘ in der Konstruktion der Gesetze repräsentieren, während das Recht, Gesetze zu verabschieden, ungeteilt beim Parlament bleibt.

14  Considerations on Representative Government (1861)

Angesichts vielfältiger ideologischer Attacken auf den Parlamentarismus (‚Schwatzbude‘), die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das politische Klima prägen (Schmitt 1979 [1923]) – und mit denen im Übrigen bereits Mill konfrontiert war – ist Mills Fokussierung auf die professionelle Arbeitsfähigkeit des Parlaments zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie durchaus vorausschauend. Aus heutiger Sicht ist das Interessante an Mills Reformvorschlägen weniger die konkrete institutionelle Ausgestaltung als vielmehr seine Problemanalyse, die ihn zu den Vorschlägen veranlasst. Der spezifische Rationalitätsgewinn legaler Herrschaft ist, seiner Einschätzung nach, nur zu verwirklichen, wenn dabei geschulter juristischer Sachverstand zum Zuge kommen kann. Mill spaltet die Gesetzgebung daher in eine juristisch-technische und eine politische Dimension auf. Neben die (formelle) Rationalität des Rechts tritt noch einen andere, nur im öffentlichen Meinungskampf zu erzielende kommunikative Rationalität. In politischer Hinsicht verlangt vernünftige Gesetzgebung nach öffentlicher Kritik und Rechtfertigung. Vorschläge müssen mit guten Gründen verworfen werden oder Zustimmung erhalten. Nur wenn keine Klasse die Repräsentativversammlung dauerhaft in ihrem Sinne majorisieren kann, sondern gezwungen ist, sich mit den Argumenten der jeweils anderen Seite auseinanderzusetzen, kann die Dominanz partikularer Interessen verhindert werden. Die eine Klasse zusammenhaltenden Interessen sind laut Mill zunächst immer selbstbezogen und in diesem Sinne ‚sinister‘. Zur Balancierung bedürfen sie eines Gleichgewichts der Kräfte und einer Art ‚deliberativer Regierung‘ (CW XIX, 433; Mill 2013, 92 sowie CW XIX, 446; Mill 2013, 110.). Hinter Mills Überlegungen zur Rationalität der Gesetzgebung steckt ein allgemeines demokratietheoretisches Problem, die Frage nämlich, ob Kompetenzunterschiede sich in der Demokratie auflösen werden und ob das wünschenswert ist (dazu auch Manin 1997). Trotz seiner Betonung juristischer Professionalität hält Mill eine Verringerung der Unterschiede für wünschenswert, denn die Demokratie gilt ihm

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als gefährdet, wenn sich eine abgeschottete Elite jenseits wirksamer Machtkontrolle stellt. Als Gegenmittel setzt Mill auf öffentliche Deliberation, die die Art von Kompetenz hervorbringt, die alle Bürger erwerben und ausüben können und die durch die Praxis demokratischer Beteiligung weiter verbessert wird. Ein wichtiger Beitrag Mills zur modernen Demokratietheorie besteht daher darin, zwei Arten politischer Kompetenz zu unterscheiden: eine allgemeine politisch-deliberative und eine spezialisiert fachbezogene Kompetenz (Urbinati 2002, 60–69). Die institutionelle Verankerung dieser beiden Kompetenzarten impliziert zwar eine funktionale Aufgabendifferenzierung in der Politik. Sie soll aber zugleich verhindern, dass das Regierungssystem zu einer Maschine in der Hand von Experten wird und die Bürger stumm und machtlos bleiben. Seine Betonung fachbezogener Kompetenz hat Mill den Vorwurf des Platonismus eingetragen (Duncan 1973, 258–259; Dahl 1989, 125), aber die Überzeugung Mills, dass die letzte Entscheidung und Kontrolle nicht bei Experten liegen dürfe, rechtfertigt letztlich, ihn doch als Demokraten zu identifizieren (zu dieser Debatte Urbinati 2002, Kap. 2, v. a. 47–54; zuvor bereits Thompson 1976).

Grundprobleme demokratischen Regierens II: Wahlen und politische Gleichheit Mills Überlegungen zur Ausbalancierung von Partizipation und Kompetenz spielen auch eine wichtige Rolle dabei, sich für ein allgemeines, plurales, direktes und öffentliches Stimmrecht auszusprechen. Sein Plädoyer steht dabei nicht nur in Widerspruch zur wahlrechtlichen Situation in allen damaligen Ländern der Welt, sondern auch zur heutigen Praxis in modernen Massendemokratien, in denen sich die allgemeine, gleiche und geheime Stimmabgabe durchgesetzt hat. Wahlrechtsfragen (s. Kap. V.41), denen sich Mill in den Kapiteln VII bis X seiner Considerations widmet, gehören im damaligen Europa

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und in den USA zu den am heftigsten diskutierten tagespolitischen Themen. Mills Überlegungen basieren auf motivationalen Annahmen über die Effekte von Wahlrechtssystemen: Ein gutes Wahlrechtssystem, so argumentiert er, ist geeignet, Bürger:innen zu informierter Partizipation zu animieren. Es befördert eine demokratische, also partizipative politische Kultur und dient der politischen Integration. Ein schlechtes Wahlrechtssystem hingegen trägt zur Zerstörung einer politischen Kultur der Partizipation bei. Aus diesen Grundgedanken leitet Mill seine konkreten Reformideen ab, die jedoch nicht nur aus heutiger Perspektive kritisch zu betrachten sind. Mill setzt sich zunächst mit Argumenten auseinander, die für indirekte Wahlen vorgebracht werden. Anhänger dieser Position plädieren dafür, den Wahlgang in zwei Phasen zu unterteilen und Wahlmänner einzuführen, weil dadurch die unaufgeklärte Volksmeinung gefiltert würde. Mill hingegen sieht durch ein solches Verfahren den erzieherischen Wert des allgemeinen Wahlrechts geschmälert und die Responsivität der Regierenden gegenüber den Regierten geschwächt. Doch auch Mill will das allgemeine Wahlrecht an Bedingungen geknüpft sehen. Er schließt zunächst all diejenigen aus, die nicht lesen, schreiben und rechnen können und die keine Steuern zahlen (s. Kap. V.39). Sein Kriterium ist, dass niemand, ohne selbst Steuern zu zahlen, über das Geld anderer Bürger verfügen dürfe, denn er hätte dann keinen Anreiz damit sparsam umzugehen. Das hat die interessante Konsequenz, dass Steuerbetrug, ohne Ansehen der Person, auch bei Vermögenden zum Ausschluss vom Wahlrecht führen würde. Mill sieht durchaus, dass es eine individuelle Ungerechtigkeit (s. Kap. V.28) darstelle, jemandem das Recht vorzuenthalten, bei der Entscheidung von Angelegenheiten mitzureden, die ihn betreffen, aber zumindest vorübergehend sei dies zur „Verhütung größerer Übel“ hinzunehmen (CW XIX, 496; Mill 2013, 140). Um möglichst allen Personen ihren produktiven Beitrag für das gesellschaftliche Wohl bewusst zu machen, plädiert Mill für eine progressive Besteuerung, die auch die Arbeiterklasse

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weitgehend einschließt. Er bevorzugt (wenigstens minimale) direkte vor indirekter (Konsumptions-)Besteuerung, denn letztere zahle jede Arbeiterfamilie zwangsläufig, sie sei aber schwerer sichtbar. Was das Bildungskriterium betrifft, so macht Mill deutlich, dass der Ausschluss vom Wahlrecht durch mangelnde Bildung, nur dann zu rechtfertigen sei, wenn zugleich die Gesellschaft die Chance auf Bildung unentgeltlich „or at an expense not exceeding what the poorest, who earn their own living, can afford“ (CW XIX, 470; Mill 2013, 141), für jeden Bürger bereitstellt. Es fragt sich deshalb, warum er bei Fürsorgeabhängigkeit nicht ein analoges Argument geltend macht: Nur wenn die Gesellschaft jeder Person eine Chance bietet, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu sichern, ließe sich gemäß Mills Logik ein Ausschluss von Wahlrecht rechtfertigen. Doch Mill geht diesen Schritt nicht. Das Argument, dass das Geld, über das jemand durch seine Wählerstimme verfügt, zum Teil sein eigenes sein muss, veranlasst Mill, Fürsorgeabhängigkeit generell mit dem Verlust des Wahlrechts zu verbinden. Damit erscheint Fürsorgeabhängigkeit ausschließlich als individuelles Verschulden, was vor dem Hintergrund der in seinem ökonomischen Spätwerk dargelegten Einsichten in die systemisch erzeugte Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Gesellschaften offensichtlich unzureichend ist. Mills Bindung des Wahlrechts an einen produktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl hindert ihn freilich nicht daran, vehement für das Frauenwahlrecht einzutreten (Moller-Okin 1992, 226–230). Das hängt zum einen mit seiner Überzeugung zusammen, dass Frauen die Fähigkeit und daher auch das Recht haben sollten, sich aushäusig ökonomisch zu betätigen. Es eröffnet aber auch die Möglichkeit, Geburt und Erziehung von Kindern ebenso wie Erwerbsarbeit als gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten anzusehen (McCabe 2018). Im Fall der Nicht-Berufstätigkeit besteht freilich die Abhängigkeit vom Erwerbseinkommen eines Ehemannes – wichtige Fragen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung bleiben hier also noch völlig offen (dazu Pateman 1989, 119–140).

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Gegenüber seinen Gegnern, die mit angeblichen biologischen ‚Tatsachen‘ argumentieren, verteidigt Mill das Frauenwahlrecht auf grundsätzlicher Ebene und stellt klar: Frauen verfügten im Durchschnitt über genauso viel Intelligenz wie Männer und die Erteilung des Wahlrechts führe dazu, dass sie sich stärker als bisher für Politik interessierten – Argumente, die in dem acht Jahre später veröffentlichten Buch The Subjection of Women (s. Kap. III.16) ausführlicher dargelegt werden. Zur Demokratie gehört unabdingbar das Prinzip politischer Gleichheit, und die Repräsentativregierung beruht, wie oben dargelegt, auf angemessener politischer Vertretung. Auf den ersten Blick scheint zwischen beidem keine Spannung zu bestehen, aber Mill gibt dem Gleichheitsgrundsatz eine spezifische Wendung, indem er ihn operationalisiert und auf das Recht auf Repräsentation bezieht: Demokratische Gleichheit verlange zwar die Anwendung des Mehrheitsprinzips, aber zugleich eine proportionale Vertretung. Eine angemessene politische Vertretung der Minderheit ist für Mill ein Gebot, das sich weniger aus der Demokratie entgegenstehender liberaler Prinzipien, sondern vielmehr aus dem Gleichheitsgrundsatz selbst ableiten lässt. Daraus ergibt sich eine Kritik der Demokratie im Namen der Demokratie: Politische Gleichheit bedeutet, die Chance zu haben, im Parlament vertreten zu sein. Ein reines Mehrheitswahlrecht, wie es in Großbritannien bis heute praktiziert wird, verletzt in Mills Augen diesen Grundsatz, denn es lässt im Extremfall unterlegene Minderheiten ohne jede Repräsentation. Mill plädiert daher für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht (Urdános 2019; s. Kap. V.41). Die Grundidee geht auf ein von Thomas Hare vertretenes Verteilungssystems zurück, das das Territorialprinzip aufhebt und damit die Möglichkeit eröffnet, einzelne Kandidaten landesweit wählen zu können. All die Kandidaten, denen es gelingt, insgesamt die Stimmenzahl, die ansonsten für einen Wahlkreis nötig wäre, auf sich zu versammeln, sollen einen Parlamentssitz bekommen. Der Vorzug dieses Systems liegt Mill zufolge darin, den Einfluss

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der gebildeten Minorität unter Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts zu sichern und die Rationalität der öffentlichen Debatte durch die Präsenz ‚führender Köpfe‘ im Parlament zu heben (CW XIX, 458; Mill 2013, 126). Da Mill davon ausgeht, dass die Ausweitung des Wahlrechts über kurz oder lang zu einer numerischen Dominanz der Arbeiterklasse im Parlament führen werde, sucht er nach institutionellen Mechanismen, um unter den zu erwartenden zukünftigen Bedingungen auch intellektuellen Minderheiten eine politische Repräsentation zu sichern. Auf der Basis des Mehrheitswahlrechts, so befürchtet er, wäre es für die Vertreter der Arbeiterklasse verlockend, eine kurzsichtige ‚Klassengesetzgebung‘ zu betreiben, etwa Umverteilungspolitiken, die langfristig zu einem Erlahmen der Selbsttätigkeit und zu geringeren Anreizen zum Sparen führen würden. Mit der Anwendung des Hare’schen Sitzvergabesystems setzt Mill darauf, dass die moralische Macht der Minderheit ihren (geringeren) numerischen Anteil ausgleichen würde. Sobald Minderheiten im Parlament vertreten sind, haben sie eine öffentliche wahrnehmbare Stimme und bilden einen Bezugspunkt für oppositionelle gesellschaftliche Kräfte. Der Einfluss, den Minderheiten dadurch ausüben können, stützt sich, Mills deliberativem Politikverständnis zufolge, auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente. Während Zeitgenossen bemängelten, Mills System würde eher dazu beitragen, eine despotische Herrschaft von Parteifürsten zu installieren (Bagehot 1971 [1867], 149–155), geht Mill davon aus, dass die durch das Hare’sche System bewirkte wahlrechtliche Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes eine kritische Selbstbeobachtung der Gesellschaft und damit letztlich gesellschaftlichen Fortschritt fördert. Trotz proportionaler Repräsentation hält Mill die Gefahr der Klassengesetzgebung jedoch noch nicht für hinreichend gebannt. Er schlägt deshalb ein weiteres institutionelles Mittel vor: das Pluralwahlrecht für Gebildete. Eine Vereinbarkeit mit dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz scheint bei diesem Mittel allerdings kaum zu begründen. Doch obwohl Mill zeitlebens Zweifel am Mehrfachstimmrecht hatte, verwarf er

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den Gedanken dennoch nie völlig. Statt als zeitbedingte Verirrung oder besitzbürgerliche Angst vor der Mehrheitsherrschaft der Arbeiterklasse, sollte Mills Vorschlag eines Pluralwahlrechts für Gebildete daher ebenfalls als Versuch einer Antwort auf ein grundlegendes demokratietheoretisches Problem betrachtet werden (Niesen 2007, 82 ff.). Wie erwähnt geht es Mill um die Frage, wie bürgerschaftlicher Tugend und Kompetenz in der Politik besonderes Gewicht gegeben werden können. Jede/r sollte in der Demokratie eine Stimme haben, aber Mill hält es für durchaus nicht ausgemacht, dass jeder die gleiche Stimme haben sollte (CW XIX, 473; Mill 2013, 145). Das gleiche Wahlrecht erscheint Mill als ein Verstoß gegen den schon bei Aristoteles begründeten Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Dahinter steht die Differenzierung von proportionaler und arithmetischer Gleichheit. Aristoteles erörtert den Unterschied zwischen den beiden Gleichheitsdimensionen allgemein als Frage der gerechten Zuteilung von Sachen an Personen. Sie muss für Gleiche gleich und für Ungleiche ungleich sein. Im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Staatsämter ergibt sich daraus, dass Weisheit und Sachverstand ein größeres Recht (umgekehrt aber auch eine größere Pflicht) zur Übernahme von Regierungsämtern vermittelt (Aristoteles 1994, 1281b–1282b sowie 1283a– 1284b). Ist das Pluralwahlrecht das geeignete Mittel, um das von Mill aufgeworfene prinzipielle Problem zu lösen? Dagegen lassen sich mehre Einwände ins Feld führen, zuallererst derjenige, den Mill selbst macht: Das Hare’sche Prinzip proportionaler Repräsentation könnte bereits ausreichen, um der moralischen Macht der Kompetenz zur Wirksamkeit zu verhelfen. Stellt man in Rechnung, dass Bildung meist mit anderen gesellschaftlichen Privilegien zusammenfällt, ist fraglich, warum noch eine zusätzliche Vermehrung des Einflusses durch eine Verdreifachung des Wertes der Wählerstimme notwendig sein soll. Grundlegender als dieser Einwand ist das logische Problem, das darin besteht, dass Mill voraussetzen

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muss, was eigentlich zu begründen wäre: nämlich ein Einverständnis darüber, was Weisheit und überlegene Urteilsfähigkeit – für die Bildung ein Anhaltspunkt sein soll – eigentlich ausmacht. Auf die Frage, wie der Bildungsgrad genau ermittelt werden soll, der den Anspruch auf mehr Stimmengewicht bestimmt, formuliert Mill einigermaßen willkürliche Kriterien. So soll etwa neben dem formellen Ausbildungsgrad, der über Examen zu bestimmen wäre, die erfolgreiche Übernahme ‚höherer Funktionen‘ ein Kriterium für die Bevorzugung beim Stimmrecht darstellen. Ein meritokratisches Pluralwahlrecht würde, wie Max Weber warnt, zu einer permanenten Politisierung von Verfahrensfragen führen. Weber ist der Ansicht, dass es rein „staatspolitisch“ betrachtet, durchaus Sinn macht, die Frage aufzuwerfen, ob für eine Übergangszeit ein die „ökonomisch und sozial prominenten und politisch geschulten Schichten etwas stärker privilegierendes Wahlrecht“ die Eingewöhnung in die parlamentarisch verantwortliche Mitarbeit erleichtern würde. Er hält allerdings dagegen, dass keine Begründung des Mehrfachstimmrechts den politischen Tageskämpfen standhalten würde. Anders als andere, technische Fragen des Wahlrechts sei die Frage der Gleichheit des Wahlrechts „eben auch subjektiv eine so rein politische, daß ihr ein Ende gemacht werden muß, wenn man sterile Kämpfe vermeiden will“ (Weber 1958 [1917], 234). Eigentlich steht bereits Mills eigene Unterscheidung zwischen einer fachspezifischen (skilled) und einer allgemein-politischen (deliberative) Kompetenz dem Pluralwahlrecht entgegen. Denn für die allgemein-politische Kompetenz der Vielen bedeutet es eine stets politisierbare Kränkung, wenn sie nicht gleichberechtigt über die Kriterien spezifischer Kompetenz der Wenigen zu entscheiden befugt sein soll. Ein ungleiches Wahlrecht würde die bürgerbildende Dynamik, die sich Mill von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts verspricht, weitgehend unterminieren. Bleibt die letzte Dimension: die Begründung dafür, dass das Wahlrecht nicht geheim, sondern öffentlich ausgeübt werden soll. Mill greift in seiner Argumentation auf eine p­olitische

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Interpretation des Wahlrechts zurück, die bereits von Jakobinern im Zuge der Französischen Revolution vorgebracht worden war und im 19. Jahrhundert in den Wahlrechtskämpfen in England und Deutschland auch auf konservativ-liberaler Seite ihre Fürsprecher gefunden hatte: Das Wahlrecht sei eine von der politischen Gemeinschaft verliehene ‚function‘, ein ‚trust‘, ein ‚Amt‘ und daher nicht als ‚Recht‘ im Sinne eines negativen Abwehrrechts zu begreifen (Buchstein 2015; Höntzsch 2010, 192). Eine geheime Abstimmung lasse es, so kritisiert Mill, den Bürgern so erscheinen, als sei ihnen das Wahlrecht nur für sich selbst gegeben, als verpflichte sie die Stimmabgabe zu keinerlei Rücksicht auf ihre Mitbürger. Ein solches Wahlrechtsverständnis hält Mill für ganz und gar verfehlt. Wäre das Wahlrecht ein rein negatives individuelles Recht, dann dürfte man mit seinem Wählervotum nach Belieben disponieren und es beispielsweise auch verkaufen oder verpfänden. Mill versteht das Wahlrecht im Gegensatz dazu als ‚Pflicht‘ (CW XIX, 489; Mill 2013, 166). Sein normativer Kern besteht darin, Macht über andere ausüben und damit sich selbst und andere binden zu können. Ein solches Recht kann deshalb nur ein zum Besten der Allgemeinheit anvertrautes ‚Gut‘ sein. Zwar steht den Bürgern das Wahlrecht als Mittel des eigenen Schutzes gegen Missregierung und Beherrschung zu, aber dies ist ein Schutz, den die Wähler:innen auch jedem ihrer Mitbürger:innen zu sichern verpflichtet sind. Es geht also nicht allein darum, individuell gegen Beherrschung gesichert zu sein, sondern darum, in einem politischen System zu leben, in dem alle Bürger:innen gleichermaßen gegen Beherrschung geschützt sind. Aus dem Amtscharakters des Wahlrechts schlussfolgert Mill, dass seine Ausübung, wie bei anderen politischen Ämtern auch, unter den Augen der Öffentlichkeit erfolgen müsse. Mill betrachtet die Frage der geheimen oder öffentlichen Wahl unter dem Gesichtspunkt des potenziellen Schadens bzw. Nutzens für das Gemeinwohl. Er kennt die Argumente der Kritiker gegen die öffentliche Stimmabgabe und konzediert, dass die Geheimwahl unter bestimmten Umständen und für eine Übergangszeit noch als

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Schutzinstrument gegen Erpressung vonnöten sein könnte. Doch prinzipiell hält er es für essentiell, die Logik des Geheimen zu brechen, weil sie bei den Bürgern eine mentale Privatisierung befördere. In seiner Kritik an der staatlich garantierten, obligatorischen Geheimhaltung der Stimmabgabe kommen die hohen Erwartungen an die vernunftfördernde, Rechtfertigungsdruck erzeugende Wirkung öffentlicher Debatte zum Ausdruck, die Mills deliberatives Politikverständnis prägen.

Formen und Grenzen politischer Einheit In den letzten drei Kapiteln der Considerations kommt Mill auf Fragen politischer Einheit, ihre Formen, ihre Genese und Grundlagen zu sprechen. Anschlussfähig für heutige Debatten um Nation, Föderalismus und transnationale Demokratie sind seine Reflexionen in mehrerlei Hinsicht. Was das Konzept der Nation betrifft, so ist zunächst bemerkenswert, dass Mill zu einer Zeit aufstrebender Nationalbewegungen darauf hinweist, dass territoriale Gegebenheiten oder mutmaßliche ethnische Gemeinsamkeiten keine hinreichenden Grundlagen politischer Einheit darstellen. Seiner globalen Idee von unterschiedlichen Zivilisierungsgraden folgend, weist er darauf hin, dass die Idee der Nation überhaupt erst auf einer bestimmten Zivilisationsstufe entsteht. Eine Gruppe von Menschen konstituiert sich dann als Nation, wenn sie trotz territorialer Abstände und Unterschiede durch wechselseitige Sympathie miteinander verbunden ist. Solche Gefühle der Sympathie können nur entstehen, wenn Kommunikation in einer gemeinsamen Öffentlichkeit möglich ist, und hierfür braucht es in größeren Flächenstaaten Medien, d. h. Zeitungen und Buchdruck. Das Gefühl einer gemeinsamen Zugehörigkeit wird nach Mill am stärksten durch eine gemeinsame politische Vergangenheit vermittelt, „the possession of a national history, and consequent community of recollections; collective pride and humiliation, pleasure and regret“ (CW XIX, 546; Mill 2013, 245). Erst wenn eine Gesellschaft ­dieses hohe

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kulturelle Stadium erreicht hat, ist sie auch reif für eine Demokratie mit Repräsentativregierung. Daraus zieht Mill die Schlussfolgerung, dass Kolonialmächte dafür sorgen sollen, dass in den von ihnen unterworfenen Kolonien ein eigenständiges Nationalbewusstsein entsteht – und sei es in Form eines im Namen der neuen Nation geführten leidvollen militanten Widerstandes gegen die Kolonialmacht. Um seiner historischen Mission gerecht zu werden, darf der Kolonialismus nicht auf Dauer gestellt werden, sondern muss von Beginn an auf seine eigene Abschaffung hinarbeiten. Eine Kolonialmacht darf zwar durchaus als ‚zielstrebige Despotie‘ (CW XIX, 567; Mill 2013, 273) agieren, aber sie muss auf regionale, kulturelle und religiöse Traditionen der Kolonien Rücksicht nehmen (zu dieser Diskussion Jahn 2005; Holmes 2007; Walzer 2007; s. Kap. V.31). Mills Konzept der Nation als einer Erinnerungsgemeinschaft basiert auf der Voraussetzung, dass alle Angehörigen der Nation in derselben Sprache miteinander kommunizieren. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache sieht Mill dabei dezidiert demokratiepolitisch begründet: Nur so kann eine gemeinsame Öffentlichkeit entstehen, in der Fragen des allgemeinen Interesses debattiert werden können. Gleichwohl wäre es ein Kurzschluss anzunehmen, Nationalstaat und Demokratie seien aus Mills Perspektive untrennbar verknüpft. Denn sein Konzept der Nation als einer narrativen Konstruktion erlaubt es gerade auch, bestehende nationale Grenzen zu überschreiten und zu neuen, aus Mills Sicht sogar besseren politisch-kulturellen Formationen vorzustoßen. „Whatever really tends to the admixture of nationalities, and the blending of their attributes and peculiarities in a common union, is a benefit to the human race“ (CW XIX, 549; Mill 2013, 250). Ähnlich wie Kant sieht Mill in der Errichtung föderativer Zusammenschlüsse ein die internationale Politik zivilisierendes, kriegsvermeidendes Element (Kant 1993 [1795]). Ihr Wert für die Welt liegt seiner Überzeugung nach in der „extension of the practice of co-operation, through which the weak, by uniting, can meet on equal terms with the strong“ (CW XIX,

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559; Mill 2013, 262). In Kapitel XVII diskutiert Mill verschiedene Varianten bundesstaatlicher Repräsentativregierungen, wobei der Deutsche Bund für ihn historisch das negative, die USA hingegen das positive Beispiel eines wirksamen und langfristig erfolgreichen Föderativsystems darstellen. Mill stellt institutionenarchitektonische Überlegungen an, die, etwa mit Blick auf regionale Zusammenschlüsse wie die heutige Europäische Union, in zweierlei Hinsicht interessant sind: Erstens weist Mill darauf hin, dass zwischen den einzelnen Vertragsstaaten, obwohl Machtgefälle zwischen Mitgliedern niemals vollkommen zu vermeiden sind, keine allzu großen Unterschiede in der Stärke bestehen dürfen, und zweitens betont er die Vorteile einer Direktwirkung von Bundesgesetzen, also die Kompetenz der Bundesebene, Gesetze zu erlassen und Anordnungen zu treffen, die nicht nur die Einzelregierungen betreffen, sondern unmittelbar für die einzelnen Bürger:innen der Union verpflichtend sind. Voraussetzung für die Realisierung dieses ‚vollkommeneren Föderationsprinzips‘ ist allerdings, dass die Machtzuständigkeiten der verschiedenen Ebenen in einer Verfassung klar und eindeutig definiert sein müssen und eine unabhängige Instanz, ein Schiedsrichter in Form eines Obersten Gerichtshofes, eingerichtet wird, der im Falle eines Streites zu vermitteln und zu entscheiden befugt ist. Dieser Oberste Gerichtshof hat zugleich eine Beispielfunktion für eine internationale Gerichtsbarkeit, die, so Mill, „is now one of the most prominent wants of civilized society, a real International Tribunal“ (CW XIX, 558; Mill 2013, 260).

Mills liberaler Republikanismus Lange Zeit wurde Mill ausschließlich als Vertreter eines in erster Linie individuelle Freiheit und marktwirtschaftlichen Wettbewerb betonenden Liberalismus verstanden (tonangebend hierfür: Hayek 2005 [1960], 185–188, 304–308). Diese Sicht hat sich jedoch inzwischen nicht nur als verkürzt, sondern auch in ihrem interpretatorischen Kern als unzutreffend erwiesen.

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Mills Betonung der sozialisatorischen Funktion politischer und sozialer Institutionen einerseits sowie der inhärenten Verknüpfung individueller und politischer Freiheit andererseits weisen deutlich auf republikanische Motive in seinem Denken hin (s. Kap. V.27). In neueren Diskussionen werden zwei Spielarten des Republikanismus unterschieden, eine neo-athenische und eine neo-republikanische Variante (Laborde/Maynor 2008, 3–5). In letzterer, der Mill zuzuordnen wäre, steht weniger der intrinsische Eigenwert politischer Partizipation als vielmehr das Motiv der Nicht-Beherrschung („non-domination“) im Vordergrund. Wie Verfechter dieses Ansatzes deutlich zu machen versuchen, kann nur eine politische Ordnung, in der die Bürger die Kontrolle über die Regierung haben, Freiheit als Nicht-Beherrschung sichern (Pettit 2009; Skinner, 2009). Auch Mill geht davon aus, dass Freiheit eher von Kontrolle und unabhängigem Urteilen als von direktem Mitregieren abhängt. Er verortet Freiheit zudem in sozialen Beziehungen, und das rückt ihn in Distanz zu einem Verständnis von Freiheit als „negativem“ oder reinem „Möglichkeitsbegriff“, wie er dem liberalen Denken zugeschrieben wird (Taylor 1992, 121). Mill geht davon aus, dass die Gesellschaft Macht über Individuen ausübt und fragt danach, wann und in welcher Form diese Machtausübung gerechtfertigt ist (vgl. On Liberty). Individuen können in den sozialen Zusammenhängen, in denen sie stehen, in ihren Ansprüchen auf selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln verletzt werden. Ihre Freiheit hängt somit nicht allein davon ab, dass sie in Ruhe gelassen werden – obwohl der Spielraum dazu rechtlich und sozial gegeben sein muss –, sondern auch davon, dass sie die Chance haben, sich in Beziehungen der Gegenseitigkeit und Kooperation zu entfalten. Während Mills Analysen der politischen Ökonomie, vor allem sein Eintreten für Marktmechanismen und Freihandel, in der Vergangenheit häufig von wirtschaftsliberaler Seite vereinnahmt wurden, lässt der Einbezug seiner weiteren gesellschaftstheoretischen Analysen Mill als Kritiker der freiheitsgefährdenden Tenden-

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zen moderner Gesellschaften in einem viel umfassenderen Sinne erkennen. Mill sieht diese Freiheitsgefährdungen nicht allein in der inhärenten Logik von Konformismus und Mehrheitsherrschaft und nicht nur in der Dynamik eines auf dem Gleichheitsgedanken basierenden politischen Systems ‚falscher‘ Demokratie. Vielmehr verortet er die Ursachen von Unfreiheit auch in den sozialen Verhältnissen patriarchaler, kapitalistischer Gesellschaftsordnung. Dies geht nicht auf eine Beeinflussung durch „wissenschaftsferne Kräfte“ (den angeblichen Einfluss von Harriet Taylor, vgl. Hayek 1951) zurück, sondern ist in der Konsequenz der theoretischen Entwicklung von Mill selbst angelegt (dazu die Selbstaussagen in Mills Autobiography, 136 f.; s. Kap. III.11). Schließlich war der philosophische Radikalismus der utilitaristischen Bewegung, in deren Geist Mill erzogen wurde und den er eigenständig weiterentwickelte, von vorneherein mit einem sozialreformerischen Engagement verknüpft (zur Neubewertung von Mills ‚Radikalismus‘ vgl. Persky 2016 sowie McCabe 2020). Wenn Mill etwa mit Harriet Taylor in The Subjection of Women die Lage der Frauen im viktorianischen England analysiert (s. Kap. II.6), so widmet er sich zunächst einer detaillierten Beschreibung und Kritik der Wirkungen, die die gegenwärtigen Strukturen von Ehe und Familie auf den rechtlichen und gesellschaftlichen Status der Frauen, aber auch auf ihren Intellekt und ihre Gefühlswelt ausüben. Für Mill ist nicht nur, wie oben dargelegt, lokale politische Betätigung zur Einübung von Praktiken demokratischer Beteiligung und Selbsttätigkeit relevant, sondern auch die Familie als soziale Institution. Gerecht eingerichtet kann sie zu einer „Schule“ der Demokratie werden – oder andernfalls eben zu einer „Schule des Despotismus“ (CW XXI, 294/295). Es ist diese Perspektive, die Anlass gibt, Mills Denken in die Linie partizipatorischer Demokratietheorie zu stellen (Pateman 1970) und die sein Denken ‚radikal‘ macht: Demokratie verlangt, auch den sogenannten privaten Bereich als potenziellen Ort von Unterwerfung und Beherrschung zu betrachten und Freiheit als etwas, was sich auch

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jenseits des im engeren Sinne politischen Bereichs entfaltet. Mills Freiheitsbegriff dreht sich um „freedom from subjection“ (Urbinati 2002, 159), denn ‚subjection‘ schädigt die psychische Integrität und Handlungsfähigkeit von Personen, auch wenn der Despot wohlwollend ist und aktuell gar nicht eingreift. ‚Non-subjection‘ verlangt daher nicht nur, sich individuell schädigendem Verhalten entziehen zu können, sondern strukturell, durch politische Regulierung, dagegen geschützt zu sein. Sein republikanischer Freiheitsbegriff macht Mill zum scharfen Kritiker zweier zentraler Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft: der Institution der bürgerlichen Ehe, aber auch der Institution des Privateigentums (s. Kap. V.25). Mill erweitert seine These von den sozialisatorisch ermächtigenden bzw. entmächtigenden Wirkung sozialer Institutionen nämlich auch auf die Sphäre der Arbeitswelt in der modernen Industriegesellschaft. Dass wirtschaftliches Handeln unter die sozialen Tätigkeiten fällt, auf die das Schadensprinzip („harm principle“) potenziell Anwendung findet, hatte Mill prinzipiell bereits in On Liberty deutlich gemacht. Dementsprechend argumentiert er in den 1879 posthum veröffentlichen Chapters on Socialism (s. Kap. IV.18), dass auch Eigentumsrechte Gegenstand öffentlicher Betrachtung sein und gemäß dem Beitrag beurteilt werden müssten, den sie zur allgemeinen Wohlfahrt leisten. Nicht nur politische Bevormundung schädige und beeinträchtige die Freiheit, sondern auch die Ungleichheit des Reichtums, die Abhängigkeit durch Armut schaffe. Daraus schlussfolgert Mill, dass Eigentumsverhältnisse nicht aus der Perspektive derjenigen, die ein persönliches Interesse am Fortbestehen der existierenden Ordnung haben, sondern aus der Perspektive eines unabhängigen Betrachters bewertet werden müssen. Nur dann lässt sich ermitteln, welche Eigentumsordnung dem sozialen Wohlergehen und Fortschritt am dienlichsten ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Considerations John Stuart Mill als einen Autor zeigen, dessen Reflexionen über die beste Regierungsform in inhärentem Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den Ermög-

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lichungsbedingungen gleicher individueller Freiheit stehen. Wir können uns nur zu aktiven und selbständigen Personen entwickeln, wenn wir vom Staat und seinen wesentlichen Institutionen ebenso wie von unseren Mitbürger:innen als zurechnungsfähige und selbstverantwortliche Subjekte behandelt werden. Eine Repräsentativregierung wird nur unterstützend für individuelle wie politische Selbstbestimmung sein, wenn sie eine Repräsentation der diversen sozialen Perspektiven in der Gesellschaft erlaubt. Politische Inklusion wird nicht erreicht werden, solange ein Großteil der Bevölkerung von der fairen Verteilung der Früchte gemeinschaftlicher Kooperation ausgeschlossen bleibt, wenn also die Ehe Frauen in ein ungerechtes Arrangement zwingt und der Schutz des Privateigentums das normative Versprechen der Moderne auf den Kopf stellt – Lebenschancen sollen aber nicht durch den Zufall der Geburt, sondern in Übereinstimmung mit Verdienst und Leistung vergeben werden. Mit Blick auf den Zweck politischer Institutionen scheint Mill weniger an ethischer Neutralität als an ethischem Perfektionismus interessiert. Damit gerät er nun zwar seinerseits in die Fallstricke von Paternalismus und Despotie; es erlaubt ihm aber andererseits, sich für politische Bedingungen einzusetzen, in denen jeder Mensch befähigt wird, sich in möglichst vielen Hinsichten kulturell weiterzuentwickeln. Der Staat und seine politischen Institutionen sollen den Entwicklungsgedanken verwirklichen helfen und müssen daher mit entsprechender Handlungsfähigkeit ausgestattet sein. Mills liberaler Republikanismus räumt der individuellen Freiheit keinen grundsätzlichen Vorrang vor der kollektiven Freiheit ein, sondern verweist auf die gemeinschaftliche Verantwortung der Bürger:innen füreinander und für das von ihnen eingesetzte Gemeinwesen.

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Principles of Political Economy (1848)

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Michael S. Aßländer

Zur Entstehung der Principles John Stuart Mills Principles of Political Econ­ omy with Some of their Applications to Social Philosophy erschienen 1848. Sie markieren in gewisser Weise das Ende der Periode der klassischen Politischen Ökonomie. John Stuart Mill verfasst seine Principles in nur knapp zwei Jahren zwischen Ende 1845 und Frühjahr 1847. Im Laufe des Jahres 1847 überarbeitet er die erste Fassung nochmals grundlegend (Gaulke 1996, 74). Das Werk erlebt noch zu Mills Lebzeiten weitere sechs Auflagen. Umstritten ist, welchen Anteil seine spätere Ehefrau Harriet Taylor an der Abfassung von Mills ökonomischem Hauptwerk hatte (s. Kap. II.6). Mill schreibt ihr eine enthusiastische Widmung auf dem Vorsatzblatt der ersten Ausgabe, die jedoch letztlich auf Bitten John Taylors nicht gedruckt wird (Hayek 1951, 120 ff.). Gesichert ist, dass Harriet Taylor bei der Durchsicht des Werkes behilflich war (Narewski 2008, 68 f.), auch nahm sie wohl thematisch Einfluss, etwa bei der Abfassung des Kapitels „Zur wahrscheinlichen Zukunft der arbeitenden Klassen“, wie Mill selbst in seiner Autobiographie bemerkt: „The chapter of

M. S. Aßländer (*)  apl. Professor für Sozialwissenschaften, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected]

the Political Economy which has had greater direct practical effect than all the rest, that on the ‚probable future of the labouring classes‘, is en­­ tirely due to her: in the first draft of the book that chapter did not exist. She pointed out the need of such a chapter and the extreme imperfection of the book without it; she caused me to write it, and the whole of the general part of the chapter […] was a mere exposition of her thoughts, often in words taken down from her lips“ (CW I, 254). Wenngleich Friedrich August von Hayek Harriet Taylor durchaus ein gewisses ökonomisches Grundverständnis attestiert (Hayek 1951, 139), scheint es aber wohl eher der „warmherzige“ Ton und die im gesamten Werk zum Ausdruck gebrachte humanitäre Gesinnung zu sein, die sich dem Einfluss Harriet Taylors verdanken (Schumpeter 2009, 650). Und so schränkt auch Mill selbst ein, dass sich der Einfluss Harriet Taylors weniger auf die wissenschaftlichen Inhalte, sondern letztlich vor allem auf die Art und Weise der Darstellung und den Schreibstil des Buches bezog. Zudem bleibt Mill hinsichtlich mancher eher romantischen Vorstellungen Harriet Taylors skeptisch (Hollander 1985, 772 ff.). Wie groß der Einfluss Harriet Taylors auf John Stuart Mill tatsächlich war, bleibt also umstritten (Kuenzle/Schefczyk 2009, 20). Sicherlich ist es Harriet gewesen, die seine Sicht für die sozialen Fragen seiner Zeit geschärft hat. Allerdings ist die Art, wie Mill die

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_15

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Thematik der Arbeiterfrage in den Principles behandelt, durchaus kompatibel mit seinen früheren Einlassungen auf diese Thematik, so etwa in seiner Buchbesprechung „The Claims of Labour“ (1845; CW IV, 363–387). Mithin scheint sich Mills Sicht auf die Arbeiterfrage unter dem Einfluss Harriet Taylors kaum geändert zu haben. Trotz aller Sympathie für die Arbeiterklasse (s. Kap. VI.46) und trotz seiner Bewunderung des Genossenschaftswesens bleibt er weiterhin den Vorstellungen Thomas Robert Malthus von der Unwandelbarkeit des ‚ehernen Bevölkerungsgesetzes‘ verhaftet (s. Kap. II.10). Allerdings ist Mill durchaus darum bemüht, den Anschein eines hartherzigen und gefühllosen Malthusianers zu vermeiden (CW IV, 367 f.). Insgesamt scheint der Einfluss Harriets auf Mills Principles wohl weniger stark gewesen zu sein als Mill selbst vermutet. Deutlich wird dies nicht zuletzt an der Tatsache, dass die wichtigsten Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Hauptwerk vor seiner Beziehung zu Harriet Taylor begonnen wurden. Auch die darin durchaus zum Ausdruck kommende tiefe Verwurzelung im utilitaristischen Denken der Philosophical Radicals und sein Bekenntnis zur Ricardianischen Ökonomie sind nicht dem Einfluss Harriet Taylors, sondern der Erziehung seines Vaters geschuldet (Aßländer/Nutzinger 2008, 180). So gesehen hat Harriet Taylor zwar Mills politische Ansichten, etwa zur Arbeiterfrage, zur Sklaverei oder zur Frauenemanzipation, mit beeinflusst (Rinderle 2000, 25), aber sein Wissenschaftsverständnis, sein utilitaristisches Denken, sein tief wurzelndes Bekenntnis zum Liberalismus sind das Erbe des Vaters. Insbesondere in seinen ökonomischen Ansichten bleibt John Stuart Mill weitgehend jenem Ökonomieverständnis verhaftet, das er von seinem Vater erlernt hat (Schwartz 1972, 49).

Mill und das Erbe der Ricardianischen Ökonomie Mills ökonomisches Verständnis ist geprägt von einer an Ricardo orientierten Sicht der Ökonomie als einer deduktiven Wissenschaft

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(s. Kap. II.10). Mag man darüber streiten, inwieweit es sich dabei im Einzelnen stets um die Gedanken Ricardos in ihrer ursprünglichen Form oder um ihre Interpretation durch James Mill handelt (Aßländer/Birnbacher/Nutzinger 2014, 41), wie sie John Stuart Mill von Kindesbeinen an eingetrichtert wurde (Schwartz 1972, 20 f.), so ist John Stuart Mill dennoch von der Korrektheit der deduktiven, Ricardianischen Vorgehensweise innerhalb der ökonomischen Wissenschaft überzeugt und lässt hieran auch keinen Zweifel. So etwa bezeichnet er in seine Abhandlung über „De Quincey’s Logic of Political Economy“ (1845; CW IV, 391–404) Ricardo als den wahren Gründer der abstrakten politischen Ökonomie, „whose writings are still, after all that has been since written, ist purest source“ (CW IV, 394). Ricardos Ökonomieverständnis markiert ein neues Denken innerhalb der klassischen Politischen Ökonomie. Während es den Ökonomen in der Nachfolge Adam Smiths vor allem um eine möglichst genaue Beschreibung ökonomischer Phänomene und der sie beeinflussenden menschlichen Verhaltensweisen ging, ging David Ricardo von stark vereinfachten Annahmen über die menschliche Natur aus und leitet seine Erkenntnisse hieraus auf deduktivem Wege ab (Bagehot 1848, 8). Aufbauend auf sogenannten „strong cases“ (Hollander 1983, 65) entwerfen die Vertreter der auf Ricardo aufbauenden New School ein auf wenigen Basisannahmen aufruhendes System ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, von dem aus sie auf die Wirklichkeit schließen. „Political Economy […] reasons from assumed premises – from premis­ ­es which might be totally without foundation in fact, and which are not pretended to be universally in accordance with it. The conclusions of Political Economy, ‚consequently‘, like those of geometry, are only true, as the common phrase is, in the abstract; that is, they are only true under certain suppositions“ (CW IV, 326). Zwar gestehen auch die Vertreter der New School zu, dass die Übertragung derartig vereinfachter Modellannahmen auf die Wirklichkeit nur mittels zahlreicher Modifikationen und Zusatzannahmen möglich sei (Hollander 1985,

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920). Dennoch erheben sie gewisse Basisannahmen in den Rang ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, mit deren Hilfe es möglich sei, wirtschaftliche Vorgänge zu erklären. Im Wesentlichen sind dies: a) das von Thomas Robert Malthus formulierte ‚ehernen Bevölkerungsgesetz‘, demzufolge die Produktion von Nahrungsmitteln langfristig nicht mit der Bevölkerungsvermehrung Schritt halten könne (Malthus 1999, 12 f.), mit der Folge, dass sich das Bevölkerungswachstum durch einen Anstieg der Sterberate infolge von Mangelernährung oder Krankheiten an die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel anpasse; b) die von David Ricardo formulierte Theorie der Bodenrente (Ricardo 1994, 57–61), der zufolge bei steigenden Bevölkerungszahlen zunehmend Böden minderer Qualität zur Gewinnung der benötigten Rohprodukte bebaut werden müssen, mit der Folge, dass die zusätzlichen Arbeitskosten die Preise landwirtschaftlicher Erzeugnisse stetig steigen lässt, was es den Besitzern qualitativ höherwertiger Böden erlaubt, eine Bodenrente in Höhe der auf ihren Grundstücken eingesparten Arbeitskosten zu beanspruchen; c) das ebenfalls von Ricardo formulierte „eherne Lohngesetz“ (Ricardo 1994, 79 f.), demzufolge die Zunahme der Bevölkerung aufgrund steigender Bodenrenten stets zu einer Verteuerung der Rohprodukte und damit zu einem Absinken des Reallohnniveaus auf das Subsistenzminimum führe; und d) die Theorie der komparativen Kostenvorteile im Außenhandel, der zufolge sich der internationale Warentausch stets dann rentiere, wenn die jeweils zu exportierenden Waren vergleichsweise billiger als die zu importierenden Waren erzeugt werden können (Ricardo 1994, 112 f.). Für John Stuart Mill gelten diese Annahmen als Grundgesetze jedweder wissenschaftlich betriebenen Ökonomie. Wie seine, zum Teil beißende Kritik u.  a. an den Schriften Henry Charles Careys (1858–1865) oder Francis William Newmans (1851) zeigt, ist Mill in puncto ‚Bodenrente‘ oder ‚Freihandel‘ zu keinerlei Zugeständnissen bereit. So etwa kritisiert er Carey in seinen Principles und unterstellt ihm, er wolle das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag der

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Bodennutzung umkehren (CW II, 178 f.) Dabei lässt Mill jedoch außer Acht, dass sich Carreys Argumentation auf die Umstellung von extensiver auf intensive Landwirtschaft am Beispiel der jungen USA bezieht (Carey 1858, I, 136). Hier bildet, wie auch andere Autoren zugestehen (Whewell 1862, 56 f.), die Zunahme an Arbeitskraft die Voraussetzung für eine intensivere Bodennutzung und damit für eine überproportionale Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. In einem späteren Brief an William Fraser Rae, datierend vom 9. April 1869, bezeichnet Mill Careys Werk als das schlechteste Buch über Politische Ökonomie, welches er je gelesen habe, und unterstellt Carey eine „pseudo-wissenschaftliche“ Argumentation (CW XVII, 1589). Ebenso schroff weist Mill Newmans Kritik am Ricardianischen Konzept der Bodenrente zurück. Newman kritisiert in seinen Lectures on Political Economy die allzu starke Vereinfachung der Ricardianischen Vorgehensweise. So seien Böden unterschiedlicher Qualität auch zum Anbau unterschiedlicher Feldfrüchte und für unterschiedliche Bewirtschaftungsmethoden geeignet. Es sei daher nicht möglich, deren Qualität absolut zu bestimmen. In einer Besprechung der Lectures in der Westminster Review vom Oktober 1851 („Newman’s Political Economy“; CW V, 439–457) wirft Mill Newman schlicht mangelnde Vertrautheit mit dem ökonomischen Werk Ricardos vor und weist dessen Einwand mit dem Hinweis zurück, dass dasselbe Gesetz natürlich auch für andere Arten von Feldfrüchten gelte (CW V, 447). Andere Kritikpunkte an der Ricardianischen Theorie nimmt Mill allenfalls widerwillig zur Kenntnis, so etwa William Whewells Bemerkung, dass die Höhe der Bodenrente auch durch die Lage der Grundstücke beeinflusst würde, da die mit dem Transport der Güter zum Absatzmarkt entstehenden Kosten gegen die zu erzielende Grundrente gegengerechnet werden müssten. Zudem bestimme die Nähe zum Absatzmarkt auch die Art der Bodennutzung (Whewell 1862, 54–58). Zwar gesteht auch hier Mill einzelne Punkte zu, kommt aber zu dem Schluss, dass die Ricardianische Theorie „cannot be in any degree affected by the petty cavils

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alluded to“ (CW IV, 443). Unbeirrt hält er, trotz aller Gegenargumente, an der Ricardianischen Doktrin fest. „Was die technische Volkswirtschaftslehre betrifft, gab J. S. Mill nicht einen Fußbreit Boden auf“ (Schumpeter 2009, 659). Viele Zeitgenossen Mills empfinden Ricardos Ideen als bei weitem zu spekulativ, um hierauf ein tragfähiges Theoriegebäude errichten zu können. So etwa kritisiert Nassau William Senior, dass eine derartige Wissenschaft kaum zum Erkenntnisgewinn beitrage könne, da sie stets von gegebenen, mitunter unrealistischen Annahmen ausgehe, und zudem stets der Gefahr ausgesetzt sei, ihre eigenen Annahmen als Tatsachen zu nehmen, was sie dann zu fehlerhaften Schlüssen veranlasst (Senior 1848, 43 f.). Zudem werden Malthus’ ‚Ehernes Bevölkerungsgesetz‘ und Ricardos ‚Ehernes Lohngesetz‘ von vielen zeitgenössischen Ökonomen als gesellschaftlich gefährliche Theorien eingestuft, die letztlich den sozialen Frieden bedrohen. So etwa fragt George Scrope mit Besorgnis, ob die neuen Ökonomen tatsächlich die Augen vor den fatalen sozialen Konsequenzen ihrer eigenen Theorien verschließen wollen. Würden diese Prinzipien tatsächlich angewendet, würde dies alle Klassen der Gesellschaft in ewige Feindschaft zueinander stürzen (Scrope 1831, 117). Obwohl Mill im Zweifel keinerlei Kritik an den wahren Theorien Ricardos duldet, sieht er doch, dass das Ricardianische Ökonomiekonzept auf ein nur geringes Maß an Zustimmung unter den zeitgenössischen Ökonomen stößt. In seiner Schrift „The Claims of Labour“ verteidigt er sein Festhalten an der Lehre Malthus’ und schreibt: „And, the doctrine being brought thus into conflict with those plans of easy beneficence which accord so well with the inclinations of man, but so ill with the arrangements of nature, we need not wonder that the epithets of ‚Malthusians‘ and ‚Political Economists‘ are so often considered equivalent to hard-hearted, unfeeling, and enemies of the poor; – accusations so far from being true, that no thinkers, of any pretensions to sobriety, cherish such hopeful views of the future social position of labour, or have so long made the permanent increase of its remuneration the turning-point of their political speculations, as

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those who most broadly acknowledge the doctrine of Malthus“ (CW IV, 368). In der Tat ist Mill davon überzeugt, dass es die Aufgabe der Ökonomie sei, jene wissenschaftlichen Grundlagen zu erarbeiten, auf deren Basis allein sinnvolle und erfolgversprechende soziale Reformen aufbauen können. Dabei betrachtet er die Ricardianische Ökonomie grundsätzlich als nützliches Werkzeug, um ökonomische und soziale Probleme zu lösen (Hollander 1976, 55). Was Mill daher von Ricardo unterscheidet, ist nicht die unterschiedliche Art der Analyse, sondern Mills Verständnis der Ökonomie als einer „moral and social science“ (CW II, 21), der es eben auch um soziale Reformen und den gesellschaftlichen Fortschritt gehen müsse.

Die Frage nach dem Gegenstand der Politischen Ökonomie Trotz seines klaren Bekenntnisses zur Ökonomie Ricardos sieht Mill es nicht als seine alleinige Aufgabe, die Ricardianische Lehre gegen ihre akademischen Kritiker zu verteidigen. Sein Ziel ist es, den Status der Ökonomie als Wissenschaft insgesamt zu verteidigen und die junge Disziplin gegen die Vorurteile der Zeitgenossen in Schutz zu nehmen (de Marchi 1974, 124 f.). Mit der Abfassung der Principles möchte Mill zwar einerseits ein ‚Standardlehrbuch‘ der Ökonomie schaffen. Andererseits ist es aber nicht sein Ziel, lediglich eine enzyklopädische Sammlung ökonomischen Wissens vorzulegen, sondern eine auf den Ideen Malthus’ und Ricardos basierende ökonomische Theorie zu formulieren. Sein Anliegen ist es, die Ökonomie als eigenständige Wissenschaft mit klar umrissenem Forschungsprogramm und eigener Methodik zu etablieren. Um die neue ökonomische Lehre mit den Kritikern der ‚Old School‘ zu versöhnen, ist Mill darum bemüht, deren ökonomische Entwürfe mit den Grundgedanken Ricardos zusammenzuführen, um so zu zeigen, dass diese nicht im Widerspruch zu Ricardo stehen. Damit sieht sich Mill bei der Abfassung der Principles vor zwei zentrale Probleme gestellt.

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Zum einen muss er den für seine Zeitgenossen wenig ansprechenden abstrakten Charakter der Ricardianischen Ökonomie abmildern. Sein Ziel ist es daher, die Ricardianische Ökonomie in der anschaulichen Art Adam Smiths darzustellen. Zum zweiten muss Mill den Vorwurf des ‚hartherzigen Malthusianismus‘ entkräften. Entsprechend ist er darum bemüht, auch moralische und soziale Aspekte innerhalb der ökonomischen Diskussion zu berücksichtigen. Dabei geht es ihm darum zu zeigen, dass die Kritik der Ricardianischen Ökonomie entweder einem falschen Verständnis der eigentlichen Aussagen Ricardos oder der Annahme unterschiedlicher Ausgangsprämissen über die Wirklichkeit geschuldet ist (Aßländer/Nutzinger 2008, 184). Mill ist durchaus bereit, einzelne Elemente in den Aussagen der Kritiker Ricardos anzuerkennen, sofern sie mit dessen Lehre in Einklang gebracht werden können, weist aber stets darauf hin, dass gerade dies die Richtigkeit der Ricardianischen Ökonomie bestätige (de Marchi 1974, 135). Mill selbst kündigt dieses Vorhaben in einem Brief an Auguste Comte vom 3. April 1844 an: „J’ai même encore l’idée […] de faire un traité spécial d’économie politique, analogue à celui d’Adam Smith qui n’est certainement plus au niveau de ce temps-ci“ (CW XIII, 426; ‚Ich habe sogar noch die Idee […] ein spezielles Lehrbuch zur Politischen Ökonomie zu verfassen, ähnlich wie das von Adam Smith, das sicherlich nicht mehr auf der Höhe der heutigen Zeit ist‘). Ähnlich führt er sein Vorhaben gegenüber Henry S. Chapman in einem Brief, datierend vom 8. November 1844 aus. Hierin heißt es, dass er beabsichtige, ein Werk zu verfassen, „not in the abstract manner of Ricardo and my father, but in the practical and popular manner of Adam Smith“, wobei es seine Absicht sei, die neuen Theorien der Ricardianischen Ökonomie mit einzuschließen und zu zeigen „how they do not contradict but fit into the others“ (CW XIII, 642). Trotz der beabsichtigten gefälligeren Darstellungsweise der Principles hält Mill also an seinem Bekenntnis zur Rcardianischen Ökonomie weiterhin fest. Wohl nicht zu Unrecht spricht Hollander hier von „its Smithian form

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of presentation yet Ricardian substance“ (Hollander 1985, xiii). Auch ist Mill in seinen Principles bestrebt, auf Basis ökonomischer Erkenntnisse Reformvorschläge zu unterbreiten und auf eine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung hinzuwirken. In diesem Sinne versteht Mill die Politische Ökonomie auch als eine moral science, die sich mit Fragen sozialer Gerechtigkeit (s. Kap. V.28), der Volksbildung (s. Kap. V.24) oder der Legitimierung individueller Freiheitsrechte (s. Kap. V.27) auseinandersetzt, und deren Anliegen es ist, politische Reformen anzustoßen. John Stuart Mill bemüht sich bereits in seinem im Oktober 1836 in der London and Westminster Review erschienen Artikel „On the Def­ inition of Political Economy, and on the Meth­ ­od of Investigation Proper to It“ (dem fünften Essay der Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, s. Kap. IV.21) um eine erste Definition dessen, was er selbst unter Politischer Ökonomie als Wissenschaft verstanden wissen will. Dabei definiert er politische Ökonomie als „[t]he science which treats of the production and distribution of wealth“ und ergänzt, „so far as they depend upon the laws of human nature“. Die ökonomische Wissenschaft befasst sich daher mit den „moral or psychological laws of the production and distribution of wealth“ (CW IV, 116). Dabei unterscheidet Mill zunächst zwischen Kunstlehre und Wissenschaft: „Science takes cognizance of a phenomenon, and endeavours to discover its law; art proposes to itself an end, and looks out for means to effect it“ (CW IV, 312). Dabei setzt die Kunstlehre als System von Regeln stets die wissenschaftliche Erkenntnis voraus; umgekehrt sei es aber die Aufgabe der Wissenschaft, will sie nicht nutzlos sein, die Regeln und Handlungsanweisungen der Kunstlehre wissenschaftlich zu untermauern. Mithin sind die „[r]ules […] for making a nation increase in wealth […] not a science, but they are the results of science“; aber gleichwohl gilt: „[W]hoever would be qualified to judge of the means of making a nation rich, must first be a political economist“ (CW IV, 312). Zum anderen unterscheidet Mill zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wobei sich

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erstere mit den Gesetzen der Materie, letztere mit den Gesetzen des Geistes auseinandersetzen. Während die Phänomene der Natur, wie etwa in der Physik, jedoch ohne geisteswissenschaftliche Grundlagen erforscht werden können, müssen alle Geisteswissenschaften, auch die reine Geisteswissenschaft, eine große Vielfalt naturwissenschaftlicher Wahrheiten miteinbeziehen, da sie stets an eine materielle Welt zurückgebunden sind (CW IV, 317). Die politische Ökonomie setzt daher die naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, beispielsweise als Grundlage der Güterproduktion, voraus, stellt aber die ‚geisteswissenschaftlichen‘ Grundlagen der Produktion in den Fokus ihrer Betrachtungen. Mithin teilt die Politische Ökonomie ihren Untersuchungsgegenstand in gewisser Weise mit den Naturwissenschaften: „The laws of the production of the objects which constitute wealth, are the subject-matter both of Political Economy and of almost all the physical sciences“ (CW IV, 317 f.). Ökonomische Phänomene, so John Stuart Mills Annahme, lassen sich daher sowohl aus technischer, als auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht analysieren. Jedoch sei ausschließlich die letztgenannte Betrachtungsweise der Gegenstandsbereich der Politischen Ökonomie. Hierauf aufbauend definiert Mill den Gegenstandsbereich der Politischen Ökonomie in der Einleitung seiner Principles: „In so far as the economical condition of nations turns upon the state of physical knowledge, it is a subject for the physical sciences, and the arts founded on them. But in so far as the causes are moral or psychological, dependent on institutions and social relations, or on the principles of human nature, their investigation belongs not to physical, but to moral and social science, and is the object of what is called Political Economy“ (CW II, 20 f.). Interessanter Weise beschränkt John Stuart Mill hier das unerbittliche Wirken der Naturgesetze auf den Bereich der Güterproduktion. Demgegenüber sind die Grundlagen, nach denen das Volksvermögen verteilt wird, von ‚Menschenhand‘ gemacht und damit veränderlich. Damit eröffnet sich auch für den Politischen Ökonomen der Weg zu sozialen Refor-

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men (Schumpeter 2009, 650), denn: „Unlike the laws of Production, those of Distribution are partly of human institution: since the manner in which wealth is distributed in any given society, depends on the statutes or usages therein obtain­ ing“ (CW II, 21). Dieses Zugeständnis an die Veränderlichkeit der menschlichen Gewohnheiten eröffnet den Pfad für mögliche soziale Reformen. Die Abkehr von der als soziale Katastrophentheorie empfundenen strengen Lesart der Malthus’schen Ökonomie verleiht Mills Principles eben jene positive Ausstrahlung, die von ihm durchaus beabsichtigt war. So schreibt Nassau William Senior in einer Sammelrezension zu Mills Essays on Some Unsettled Questions of Political Econ­ omy und seinen Principles in der Edinburgh Review vom Oktober 1848: „The four years which passed between the publication of the Essays and of the Principles seem to have some­ what modified Mr. Mill’s views. In the Essays Political Economy is an hypothetical science: in the Principles it is a positive art“ (Senior 1848, 304). Mill ist sich also in weit höherem Maße als Ricardo „der historischen Relativität der sozialen Institutionen und zumindest einiger seiner ‚ökonomischen Gesetze‘ […] bewusst“ (Schumpeter 2009, 665). Wenn Mill selbst daher der Ansicht war, „er würde die Ricardianische Lehre lediglich modifizieren“, so „irrte er sich. Seine Modifikationen betreffen wesentliche Teile der Theorie und natürlich noch stärker der sozialen Anschauungen“ (Schumpeter 2009, 648; s. Kap. VI.46). Diese ‚Neuausrichtung‘ der Principles wird von Mills Zeitgenossen durchaus honoriert. Anerkennend bemerkt Nassau William Senior in seiner Rezension der Principles: „Mr. Mill’s Book is not intended to serve a temporary purpose […]. It is a […] magazine of truths and of percepts from which philosophers and statesmen will, for centuries to come, draw theories and practice“ (Senior 1848, 74). Und Walter Bagehot stellt Mills Werk gar anerkennend in die Reihe der größten Ökonomen des Landes und schreibt: „[T]hree men only have by such means attained permanent rank among the great thinkers

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of their country, and that these three are Adam Smith, Ricardo and John Mill“ (Bagehot 1848, 35). Insbesondere hebt Bagehot dabei Mills Verständnis für die Lage der arbeitenden Bevölkerung hervor. So sei es das Verdienst Mills, als erster Ökonom darauf verwiesen zu haben, dass die Produktion von Reichtum weniger bedeutend sei als die Frage seiner Verteilung und dass die Trennung in eine besitzende und eine arbeitende Klasse weder ein vorherbestimmter noch ein wünschenswerter Zustand der Gesellschaft sei und dieser auf lange Sicht durch soziale Reformen verbessert werden könne (Bagehot 1848, 7). Mill sei es auf hervorragende Weise gelungen, die Akkuratesse der Ricardianischen Analysen mit der Anschaulichkeit der Smith’schen Ökonomie zu verbinden (Bagehot 1848, 9). Und auch John Stuart Mill selbst zeigt sich rückblickend zufrieden mit dem Erfolg seines Werkes: „The rapid success of the Political Economy shewed that the public wanted, and were prepared for such a book. […] It was, from the first, continually cited and referred to as an authority, because it was not a book mere­ ­ly of abstract science, but also of application, and treated Political Economy not as a thing by itself, but as a fragment of a greater whole; a branch of Social Philosophy“ (CW I, 243).

Aufbau und Inhalt der Principles Im Vorwort seiner Principles betont John Stuart Mill, dass die Politische Ökonomie seit dem Erscheinen des Wealth of Nations erhebliche Fortschritte gemacht habe; es gelte daher, die praktische Art der Smith’schen Darstellung mit den neuen theoretischen Erkenntnissen der Politischen Ökonomie zu verknüpfen und so gleichsam eine aktualisierte Version des Wealth of Nations vorzulegen (CW II, xcii). Im ersten Buch der Principles widmet sich Mill dem Themenbereich Produktion, wobei er sich der Reihe nach den drei Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden zuwendet. Das zweite Buch widmet sich der Frage der Vermögensverteilung. Dabei geht es Mill zunächst um die Frage nach den unterschiedlichen

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Eigentumsverhältnissen und den hieraus zu erzielenden verschiedenen Einkünften. Im zweiten Teil des zweiten Buches widmet sich Mill der Frage nach dem Arbeitslohn und der Bodenrente. Das dritte Buch ist dem Thema „Tausch“ gewidmet. Hier diskutiert Mill die Frage nach dem „Tauschwert“, die Wirkungsweise von Angebot und Nachfrage sowie die Frage nach der Bestimmung des Geldwertes. Etwas ungewöhnlich lautet die Kapitelüberschrift des vierten Buches „Der Einfluss des Fortschritts der Gesellschaft auf Produktion und Verteilung“. Hier finden sich die beiden wohl bemerkenswertesten Kapitel der Principles, nämlich zum stationären Zustand der Wirtschaft und zur wahrscheinlichen Zukunft der arbeitenden Klasse. Buch fünf wendet sich der Rolle des Staates zu, wobei zum einen das Thema „Besteuerung“ (s. Kap. V.39) zum anderen das Thema des staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft betrachtet werden. Auffällig an dieser Unterteilung ist zweierlei. Zum einen folgt Mill streng der bereits in seiner früher vorgelegten Definition der Politischen Ökonomie vorgenommenen Unterteilung von Produktion und Verteilung, wobei erstere quasi naturgesetzlichen Charakter besitzt, letztere der Gestaltung durch die Gesellschaft zugänglich ist. Zum zweiten thematisiert er ausdrücklich die Auswirkungen des gesellschaftlichen Fortschritts auf die Entwicklung der Ökonomie eines Landes. Da eine detaillierte Diskussion des ökonomischen Hauptwerks John Stuart Mills bei weitem den Rahmen eines Handbuchbeitrages sprengen würde, sollen im Folgenden lediglich einige zentrale Aspekte der jeweiligen Kapitel herausgegriffen und in der gebotenen Kürze besprochen werden. Ziel ist es, so zumindest einige Besonderheiten des Mill’schen Ökonomieverständnisses deutlich zu machen. Unter Produktion versteht Mill zunächst die Schaffung privaten und gesellschaftlichen Reichtums. Dabei hängen, wie bereits ausgeführt, die Möglichkeiten zur Güterproduktion letztlich von quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ab, über die sich der Mensch nicht hinwegsetzen kann. Mill sieht Produktion als erfolgreiche Kombination der drei

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Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden. Je erfolgreicher die einzelnen Produktionsfaktoren zusammengeführt werden, desto größer ist die Produktionsleistung einer Volkswirtschaft. Eines der zentralen Probleme hierbei bildet für Mill die Frage nach der für produktive Zwecke und damit zur Mehrung des Volkswohlstandes aufzuwendenden Arbeit (s. Kap. V.23). Die Frage, ob Arbeit produktiv oder unproduktiv eingesetzt wird, wurde bereits von Adam Smith aufgeworfen, letztlich aber in den Augen Mills wohl nicht zufriedenstellend beantwortet. So bestand hinsichtlich der Frage, welche Arbeitsarten als produktiv und welche als unproduktiv anzusehen seien, unter den politischen Ökonomen eine nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheit (CW II, 45). Zur Klärung der Frage, welche Arbeit als produktiv und damit für die Mehrung des Volkswohlstandes bedeutsam sei, greift Mill auf seine bereits in einem früheren Aufsatz „On the Words Productive and Unproductive“ (dem dritten Essay der Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy) veröffentlichten Überlegungen zurück. Hier plädiert er zunächst dafür, nur solche Aktivitäten und Tätigkeiten für produktiv zu halten, die dazu beitragen, die permanenten Quellen des Volkswohlstandes zu vergrößern oder in ihrem Bestand zu bewahren (CW IV, 284). Der Volkswohlstand ergibt sich für Mill als Summe aller Quellen für den materiellen und immateriellen Genuss. Während der Genuss selbst nicht aufgespeichert werden kann, lassen sich die Quellen, die den Genuss hervorbringen, jedoch akkumulieren. Während also der Musikant durch sein Spiel zwar Genuss hervorbringt, dieser jedoch (zumindest zu Zeiten Mills) nicht aufgespeichert werden kann, ist seine Tätigkeit unproduktiv. Demgegenüber ist der Instrumentenbauer, der mit dem Bau eines Musikinstrumentes eine Quelle permanenten Genusses erzeugt, produktiv tätig (CW IV, 284 f.). Allerdings ergibt sich hieraus die Schwierigkeit, dass gemäß dieser Definition die Tätigkeiten des Lehrers oder Arztes als unproduktiv eingestuft werden müssten. Mill revidiert daher in seinen Principles diese Definition und geht nun davon aus, dass der Volkswohlstand nicht

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als permanente Quellen des Genusses, sondern als die Ansammlung dauernder Nützlichkeiten definiert werden müsse. Er unterscheidet hier zwischen drei Arten von Nützlichkeit, nämlich Nützlichkeit die sich daraus ergibt, dass Gegenstände für den menschlichen Gebrauch dienstbar gemacht werden, Nützlichkeiten, die sich daraus ergeben, dass Menschen erzogen und ihnen nützliche Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden und schließlich Nützlichkeiten, die durch Dienstleitungen hervorgebracht werden, die dem Menschen bestimmte Annehmlichkeiten und Genuss verschaffen (CW II, 46 f.). Produktive Tätigkeiten umfassen für Mill alle Tätigkeiten im erstgenannten und einen Teil der Tätigkeiten im zweitgenannten Bereich, nämlich all jene, die auf die Schaffung und den Erhalt von ‚Arbeitskraft‘ gerichtet sind, wie etwa Berufsausbildung oder ärztliche Versorgung. Menschliche Bildung, die jedoch beispielsweise nur der ästhetischen Geschmacksverfeinerung dient, oder all jene Tätigkeiten, die ausschließlich dazu dienen, flüchtige Annehmlichkeiten zu verschaffen, gelten in seinen Augen als unproduktiv. Diese Revision der ursprünglichen Definition ermöglicht es Mill nun, auch Schulbildung oder berufliche Kenntnisse als ansammlungsfähiges Vermögen zu beschreiben und damit die hierauf abzielenden Tätigkeiten als produktiv einzuordnen. Allerdings ist ein Lehrer eben nur dann ‚produktiv‘, wenn er Geschicklichkeit und Kenntnisse nicht um ihrer selbst willen vermittelt, sondern diese Fertigkeiten die Voraussetzung für die Ausübung handwerklicher oder industrieller Tätigkeit bildet, „of which the labour of learning the trade is essentially conducive“ (CW II, 49). Dies bedeutet, wie Mill betont, jedoch nicht, dass nicht auch unproduktive Tätigkeit nützlich sein kann. Obwohl diese Unterteilung in unserem heutigen Ökonomieverständnis zumindest etwas bemüht wirkt, versucht Mill so, eine der Schwächen der Smith’schen Definition produktiver und unproduktiver Arbeit zu umgehen. Arbeit, die nicht direkt nützliche materielle Dinge hervorbringt, deren Hervorbringung aber auf indirektem Wege befördert, ist in seinen Augen

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ebenfalls als produktive Tätigkeit zu werten. In gewisser Weise nimmt er damit ein Argument vorweg, dass später von Friedrich List in seiner Theorie der ‚produktiven Kräfte‘ als ein Hauptkritikpunkt der englischen, insbesondere Ricardianischen Arbeitswertlehre vorgetragen wird (List 1930). In den restlichen Kapiteln des 1. Buches analysiert Mill die Unterscheidung in fixes Kapital und zirkulierendes Kapital und geht auf unterschiedliche Formen der Kombination der Produktionsfaktoren ein. Dabei untersucht Mill Produktion sowohl im Kleinen als auch im großen Maßstab. Mit der Analyse des (tendenziell abnehmenden) Zuwachses von Arbeit, Kapital und Bodenerträgen als Schranken der Akkumulation schließt Buch 1. Auffällig ist, dass Mill in seine Betrachtungen hier deutlich an den Grundgedanken der Ricardianischen Ökonomie orientiert ist. So etwa nutzt er sein Kapitel „Über das Gesetz der Arbeitszunahme“ dazu, um auf Malthus’ ehernes Bevölkerungsgesetz hinzuweisen und die Grenzen der Nahrungsmittelversorgung als limitierenden Faktor für die Arbeitszunahme zu diskutieren (CW II, 153–159). Ebenso nutzt er in seinem Kapitel „Über das Gesetz der Produktionszunahme infolge des Bodens“ ausführlich die Gelegenheit, die Ricardianische Theorie der Bodenrente darzustellen und diese gegen mögliche Einwände zu verteidigen, so u. a.William Whewells Argument der auf die Bodenrente in Anschlag zu bringenden unterschiedlich hohen Transportkosten oder Henry Careys Argument der erst durch Bevölkerungszunahme ermöglichten Intensivierung der Landwirtschaft (CW II, 173–185). Im zweiten Buch der Principles widmet sich Mill zunächst den grundsätzlichen Fragen des Eigentumserwerbs (s. Kap. V.25) und der Vermögensverteilung auf unterschiedliche Einkommensklassen. Der Untersuchungsrahmen ist hierbei breit gesteckt und umfasst auch ein Kapitel über Sklaverei und eine ausführliche Diskussion unterschiedlich ausgestalteter bäuerlicher Eigentumsrechte. Bemerkenswert sind Mills Ausführungen zur Frage des Arbeitslohns (s. Kap. V.23). Während er hier einerseits gewisse Sympathien für das Los der Arbeiter-

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schaft zum Ausdruck bringt, hält er dennoch auch unverbrüchlich an der Gültigkeit des ehernen Lohngesetzes und dem Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Lohnniveau fest (de Marchi 1974, 132; Hollander 1985, 185). Grundsätzlich, so Mill, werde die Lohnhöhe ausschließlich durch zwei Faktoren beeinflusst: Zum einen durch das von den Kapitalisten zu Lohnzwecken vorgehaltene Kapital, i.e. der Lohnfonds, und zum anderen von der Bevölkerungszahl respektive der Konkurrenz der Arbeiter um Arbeitsplätze. Daher könne der Durchschnittslohn innerhalb einer Volkswirtschaft nur fallen, wenn die Anzahl der Bewerber zunimmt oder der Lohnfonds sinkt et vice versa. Das Problem niedriger Löhne ergibt sich daher in den Augen Mills vor allem aus einem ungehemmten Bevölkerungswachstum. Jeder Versuch, das Lohnniveau, beispielsweise auf dem Wege der Gesetzgebung, bei einem gegebenen Produktionsniveau zu verändern, müsse sich zum Nachteil und nicht zum Vorteil der Arbeiterklasse auswirken, da dies entweder die Produzenten dazu zwingen würde, die höheren Lohnkosten auf die Verkaufspreise aufzuschlagen, was den Effekt einer Lohnerhöhung zunichtemachen würde, oder dies zu einer Verringerung der Produktion insgesamt und damit einhergehend der Beschäftigungsrate führen müsse (CW II, 355–366). Der einzige Weg, um ein Absinken des realen Lohnniveaus auf das Subsistenzminimum dauerhaft zu vermeiden, besteht für Mill mithin darin, die Gewohnheiten der Arbeiterklasse in Bezug auf ihre eigene Vermehrung zu ändern. Konsequent tritt er daher für die moralische und intellektuelle Bildung der Arbeiterklasse durch Erziehung und das Setzen von Anreizen für eine mäßige Vermehrung ein (Ekelund/Tollison 1976, 112). Während Mill so zwar einerseits die Unausweichlichkeit der Verelendung der Arbeiterklasse relativiert, bleibt der Ricardianische Kern seiner Lohnfondstheorie davon unangetastet. Obwohl die Richtigkeit der Lohnfondstheorie u. a. von Francis Longe (1904 [1866]) und William Thornton (1869) angezweifelt wird, hält Mill in seinen Principles an der ‚Naturgesetzlichkeit‘ des ehernen Lohngesetzes auch weiterhin fest.

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Hauptkritikpunkt Thorntons ist dabei die von Mill postulierte Zwangsläufigkeit der bei der Festlegung von gesetzlichen Mindestlöhnen eintretenden Reallohnverluste der Arbeiterschaft. Thornton argumentiert, dass der von Mill angenommene Lohnfonds die Maximalhöhe dessen bestimme, was Arbeitgeber an Löhnen zu zahlen bereit sind, was jedoch nicht bedeutet, dass dieser Lohnfonds stets in voller Höhe ausgeschöpft würde. Sind die Lohnforderungen der Arbeiter niedrig und die Arbeitgeber in der Lage, ‚Arbeit‘ billiger als geplant zu kaufen, bedeute dies für sie einen zusätzlichen Gewinn (Thornton 1869, 84 f. FN). Dies zeige jedoch, dass eine Lohnerhöhung nicht zwangsläufig zu Desinvestitionen führen müsse, da davon lediglich der bisher nicht ausgeschöpfte Teil des Lohnfonds betroffen sei. In einer Besprechung von Thorntons Buch in der Fortnightly Review vom Mai 1869 („Thornton on Labour and Its Claims“; CW V, 631–668) gesteht Mill die Richtigkeit der Argumentation zu, gibt aber zu bedenken, dass selbst in diesem Falle die Mittel der Arbeitgeber grundsätzlich begrenzt seien: „If he [the employer] gets his labour cheaper, he can afford to spend more upon himself. If he has to pay more for labour, the additional payment comes out of his own income […]. The real limit to the rise is the practical consideration, how much would ruin him, or drive him to abandon the business; not the inexorable limits of the wages-fund“ (CW V, 645). Trotz aller Zugeständnisse an die Gegner der Lohnfondstheorie weigert sich Mill jedoch, diese in seinen Prin­ ciples zu überarbeiten und die Ricardianischen Grundlagen seines Ökonomieverständnisses aufzugeben. Während das dritte Buch der Principles die gängigen Theorien zu Gebrauchswert und Tauschwert zusammenfasst, auch hier bleibt Mill der Ricardianischen Arbeitswertlehre treu, und sich ausführlich dem Thema Währung, Wechselkurs und Geldwertstabilität widmet, wendet er sich in Buch vier einer für Ökonomen eher ungewöhnlichen Fragestellung zu. Hier greift Mill erneut die beiden für ihn zentralen Kategorien der Politischen Ökonomie – Produktion und Verteilung – nochmals auf, um diese

M. S. Aßländer

im Lichte des gesellschaftlichen Fortschritts erneut zu diskutieren. Das Buch ist insofern bemerkenswert als es den eigentlichen Bereich der Ökonomie transzendiert, und die Diskussion über Produktion und Verteilung nun eher von einem sozialwissenschaftlichen als von einem rein ökonomischen Standpunkt aus geführt wird. Berühmt wurden hier die Kapitel zum stationären Zustand der Wirtschaft und zur Frage nach der wahrscheinlichen Zukunft der arbeitenden Klasse. Für Mill stellt die gegenwärtige, auf Konkurrenz basierende und auf stetiges Wachstum bauende kapitalistische Gesellschaft lediglich ein Übergangsphänomen dar, in dem „the trampling, crushing, elbowing, and treading on each other’s heels […] are […] but the disagreeable symptoms of one of the phases of industrial progress“ (CW III, 754). Für ihn ist der beste Zustand der menschlichen Natur der, „in which, while no one is poor, no one desires to be richer, nor has any reason to fear being thrust back, by the efforts of others to push themselves forward“ (CW III, 754). Mill ist sich bewusst, dass sein Eintreten für einen stationären Zustand der Wirtschaft im Gegensatz zu allen bisherigen Theorien der Politischen Ökonomie steht, geht aber davon aus, dass dieser Zustand der Wirtschaft langfristig unvermeidlich sein wird. Allerdings sieht er eine stationäre Wirtschaft nicht als Krisenphänomen sondern als Chance: „It is scarce­ ly necessary to remark that a stationary condi­ tion of capital and population implies no station­ ary state of human improvement. There would be as much scope as ever for all kinds of mental culture, and moral and social progress […]. Even the industrial arts might be as earnestly and as successfully cultivated, with this sole difference, that instead of serving no purpose but the increase of wealth, industrial improvements would produce their legitimate effect, that of abridging labour“ (CW III, 756). Trotz aller Sozialromantik und der in diesem Kapitel auch klar zum Ausdruck gebrachten Sehnsucht nach unberührter Natur setzt sich Mill hier auf positive Weise mit den Grenzen des ökonomischen Wachstums auseinander und hofft ‚zum Besten der Nachwelt‘, „that they will be content to be

15  Principles of Political Economy (1848)

stationary, long before necessity compels them to it“ (CW III, 756). Grundsätzlich glaubt Mill nicht, dass es möglich sei, die Lage der Arbeiterschaft durch karitatives Engagement zu verbessern. Auch misstraut Mill staatlichen Eingriffen in den Wettbewerb, die den Konkurrenzmechanismus zum Schutz der Arbeiter außer Kraft setzen sollen, denn „[t]o be protected against competition is to be protected in idleness, in mental dulness“ (CW III, 795). Ziel jeder erfolgversprechenden Reform müsse es sein, die Gewohnheiten der Arbeiterklasse zu verändern und sie zu selbständigen und eigenverantwortlichen Menschen zu erziehen, die ihr Schicksal selbst bestimmen. Das geeignete Mittel hierfür sieht er in der Stärkung des Genossenschaftswesens. Als er wenige Jahre nach dem Erscheinen der Principles als Experte von einer britischen Regierungskommission zum Genossenschaftswesen befragt wird, äußert sich Mill voller Optimismus über die genossenschaftlichen Experimente in Frankreich, wobei er auf die durch Erfolgsbeteiligung der Arbeiterschaft erzielten Produktivitätssteigerungen einerseits und auf die verbesserte Moral der nun am Erfolg beteiligten Arbeiter andererseits verweist (CW V, 415; auch CW IV, 382 f., FN; CW III, 769–775). Für Mill ist das Genossenschaftswesen mit drei positiven Aspekten verknüpft: Zum ersten würde eine Kapital- oder Gewinnbeteiligung der Arbeiter zu einer gesteigerten Produktivität führen, da sich diese auch positiv auf die Einkommen der Arbeiterschaft selbst auswirken würde. Zum zweiten würde das genossenschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln helfen, die Feindschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern zu überwinden. Und schließlich würde so drittens die Würde der Arbeiter gesteigert, da sie nun in der Lage seien, politische Mitverantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft selbst wahrzunehmen (CW III, 791 ff.). Mill sieht daher in den Genossenschaften als „a course of education in those moral and active qualities by which alone success can be either deserved or attained“ (CW III, 793). Dabei würde sich langfristig ein System der Arbeiterbeteiligung etablieren, in dem entweder die Ka-

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pitalisten die Arbeiterschaft am Eigentum an den Produktionsmitteln beteiligen (CW III, 769– 775) oder die Arbeiter selbst durch den Zusammenschluss zu Produktionsgenossenschaften Kapitaleigentümer würden (CW III, 775–794). Im Genossenschaftsgedanken sieht Mill daher sowohl seine Vorstellungen einer liberalen, auf Eigeninitiative, Wettbewerb und Privateigentum basierenden Wirtschaftsordnung als auch seine Idee einer sozial gerechten, auf der Mitsprache mündiger Bürger beruhenden Gesellschaftsordnung verwirklicht: „The form of association, however, which if mankind continue to improve, must be expected in the end to predom­ inate, is not that which can exist between a cap­ italist as chief, and workpeople without a voice in the management, but the association of the labourers themselves on terms of equality, collectively owning the capital with which they carry on their operations, and working under man­ agers elected and removable by themselves“ (CW III, 775). Im fünften Buch „Über den Einfluss des Staates“ thematisiert Mill abschließend die Wirkung unterschiedlicher Steuerarten sowie deren Vorund Nachteile. Weitere Themen des fünften Buches bilden das Erbrecht und seine Wirkung auf die Vermögensbildung sowie die Maßnahmen des Staates zum Schutz der heimischen Industrie, denen gegenüber Mill skeptisch bleibt. Das Buch schließt mit einem klaren Bekenntnis zu einer liberalen Wirtschaftsordnung. Hier kommt Mill hinsichtlich der von ihm angestrebten Wirtschaftsordnung zu dem Schluss: „‚Laisser-faire‘, in short, should be the general practice: every departure from it, unless required by some great good, is a certain evil“ (CW III, 945).

Zur Bedeutung der Principles Mills ökonomisches Werk ist unter heutigen Ökonomen nahezu in Vergessenheit geraten. Wenn Mills ökonomische Schriften überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann allenfalls als eine lehrbuchartige Zusammenfassung der Ricardianischen Ökonomie (Stigler 1955, 296; Ekelund/Tollison 1976, 106). Damit gilt

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John Stuart Mill innerhalb der ökonomischen Theorietradition als bloßer Bewahrer und Interpret einer von Thomas Malthus, David Ricardo und nicht zuletzt seinem Vater, James Mill, begründeten ökonomischen Wissenschaft (de Vivo 1981, 201), die er in seinem Werk gegen Angriffe seiner Zeitgenossen zu schützen bestrebt ist (Schwartz 1972, 1 f.), jedoch ohne hierzu selbst Wesentliches beizutragen. Allerdings muss man Mill auch zu Gute halten, dass es ihm mit der Abfassung der Principles nicht darum ging, Ricardos Ansichten zu korrigieren oder zu ändern, vielmehr war es sein Anliegen, Ricardos Schriften der Allgemeinheit zu erklären und der Ricardianischen Ökonomie in der breiten Öffentlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen (Capaldi 2004, 205). Während die Namen Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say oder Hermann Heinrich Gossen bis heute für großartige Ideen und Theoreme der ökonomischen Wissenschaft stehen, reiht sich Mill nicht in die Ahnengalerie der großen Ökonomen ein. Hierfür sind wohl mehrere Gründe ausschlaggebend: Dies ist zum einen das Bemühen Mills, seine ökonomischen Betrachtungen anhand tagespolitisch aktueller Fragen seiner Zeit zu erörtern (Schumpeter 2009, 663), was sein Werk heute als veraltet und nicht mehr auf der Höhe der Zeit erscheinen lässt. Auch haben die lange Diskussion um ‚produktive und unproduktive Arbeit‘ oder die Diskussion über unterschiedliche Arten des bäuerlichen Eigentums längst an Aktualität verloren. Allerdings sind die Principles mehr als nur ein historisches Dokument. Sie stellen auch auf einzigartige Weise Mills zentrales Anliegen unter Beweis, nämlich politische und soziale Fragen auf dem gesicherten Fundament einer ökonomischen Wissenschaft behandeln zu wollen und sind aus dieser Perspektive nach wie vor lesenswert. Auch haben seine Einlassungen zu den Themen ‚Lohngerechtigkeit‘ oder ‚Nullwachstum‘ bis heute nicht an Aktualität verloren, mögen manche seiner Beispiele hier auch veraltet wirken. Als wesentlich bedeutsamer dafür, dass Mills Principles nach seinem Tod allmählich in Vergessenheit gerieten, dürfte jedoch sein, dass

M. S. Aßländer

Mill aus Sicht heutiger Ökonomen das Ende der ‚ökonomischen Klassik‘ markiert. Mills Werk steht nicht am Beginn zu etwas Neuem, sondern markiert das Ende des ‚Alten‘. Dies festigt den Eindruck, Mill sei lediglich ein Verwalter der Ricardianischen Lehre, die er gefällig zusammenfasst, ohne dabei Neues hinzuzufügen. Unterschätzt wird dabei jedoch die Bedeutung Mills für die Entwicklung der Ökonomie zur Wissenschaft, deren Forschungsgegenstand und Methodik er klar umreißt, womit gerade er dazu beiträgt, den Grundstein für unser heutiges Ökonomieverständnis zu legen. Schließlich ist es zum Dritten wohl auch Mills Vorstellungen einer politischen Ökonomie als ‚moral science‘, die ihn den Vertretern einer Grenznutzen-Schule suspekt erscheinen lassen musste. Für Mill geht es bei der Diskussion ökonomischer Fragen stets auch um soziale Inhalte, wie etwa Verteilungsgerechtigkeit oder Armutsbekämpfung. Obwohl er selbst mit seinen Bemühungen, Ökonomie als exakte Wissenschaft zu etablieren, in gewisser Weise die Weichen für eine ‚marginalistische Revolution‘ innerhalb der ökonomischen Wissenschaften stellt, bleibt er auch ein ‚politischer‘ Ökonom. Für ihn ist Ökonomie keine Wissenschaft der reinen Marktmechanik, in der alles Verhalten durch das ökonomische Vorteilsstreben der Menschen erklärt werden kann. Zwischen Wissenschaft und Kunstlehre stehend ist es die Aufgabe der Ökonomie, die Gesetze ökonomischen Handelns zu erforschen und in Kenntnis dieser Gesetze Handlungsempfehlungen auszusprechen. Gerade mit dieser vorsichtigen Haltung gegenüber der unbedingten Gültigkeit ökonomischer Gesetze außerhalb einer reinen Modellwelt bezog Mill, wie Hollander es ausdrückt, Position „against professional arrogance and narrow-mindedness“ (Hollander 1985, 186).

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The Subjection of Women (1869)

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Simon Derpmann

Zum Kontext der Subjection of Women The Subjection of Women sollte nicht ohne Weiteres als Teil des Werks von John Stuart Mill behandelt werden (Birnbacher 2020, 191– 107; Miller 2022). Wenn auch weniger explizit und emphatisch als Mill es etwa in der Vorbemerkung zu On Liberty (s. Kap. III.13) festhält, bekräftigt er in seiner Autobiography (CW I, 265; s. Kap. III.11) den maßgeblichen Beitrag Harriet Taylor Mills (s. Kap. II.6) an der Entstehung von Subjection. Mill benennt Harriet zwar nicht als Mitverfasserin der Schrift, aber doch als Miturheberin der entwickelten Thesen und Argumente. Die Abhandlung, die Mill 1869 auf Anraten seiner Stieftochter Helen Taylor veröffentlicht, entsteht in den Jahren 1860– 1861. Mill beginnt mit der Niederschrift also zwei Jahre nach Harriets Tod. Subjection formuliert gleichwohl eine Position, die über Jahre hinweg Gegenstand ausgedehnter Diskussionen zwischen beiden ist. Auch Helen steuert nach Mills eigener Auskunft sowohl Ideen als auch ausformulierte Passagen zur Schrift bei (CW I, 265). Aufgrund von Mills eigenem Zeug-

S. Derpmann ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

nis, dem Briefwechsel mit Harriet und den Parallelen zu früheren Schriften aus ihrer Hand ist nicht zu bezweifeln, dass Subjection aus gemeinsamen Überlegungen hervorgeht. Wenn daher im Folgenden von der Position Mills im Singular die Rede ist, dann aufgrund der von Mill vorgenommenen Selbstzuschreibung. Allerdings geschieht dies im von Mill geteilten Bewusstsein, dass er als Verfasser vornehmlich ausführendes Organ in einer intellektuellen Partnerschaft ist. Als solcher formuliert Mill in Subjection insbesondere mit Blick auf die familiäre Rollenaufteilung eine Position, die Harriet Taylor nicht geteilt hätte (Birnbacher 2020, 199). Harriet Taylors in dieser Hinsicht radikalere Ansichten finden sich bereits in einem früheren Beitrag in der Westminster Review („Enfranchisement of Women“; CW XXI, Appendix C, 393–415), der zwar ebenfalls von Mill veröffentlicht, aber eindeutig Harriet zuzuschreiben ist. Wie schon die Programmschrift Utilitarianism (s. Kap. III.12) ist auch Subjection als Pamphlet zu lesen, das sich nicht primär als Beitrag zur akademischen Moralphilosophie versteht, sondern als Auseinandersetzung mit der gebildeten bürgerlichen Öffentlichkeit. Mill will zwar die sexistische Gesellschaftsordnung in der gebotenen Schärfe zurückweisen; gleichzeitig will er die Kritik aber in einer Form vortragen, die es ihr erlaubt, eine möglichst große gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. Das

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_16

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bringt mit sich, dass in der Schrift Ansichten behandelt werden – etwa vermeintlich wissenschaftliche Zurückführungen einer geringeren Vernunftbegabung von Frauen auf Unterschiede in der durchschnittlichen Gehirngröße –, die wir heute nicht einmal mehr als der Zurückweisung durch Argumente würdig ansehen. Die aus aufgeklärter Perspektive beinahe trivialen Forderungen von Subjection stehen in starkem Kontrast zum Weltbild und Rechtssystem der viktorianischen Epoche, in der Frauen als Personen zweiten Rangs gelten, durch Erziehung und gesellschaftlichen Druck in für sie vorgesehene Lebensläufe gedrängt werden, nicht ohne Weiteres einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit nachgehen oder Verträge schließen können, und innerhalb der Ehe der Willkür ihrer Ehemänner ausgeliefert sind. Die in Subjection vorgebrachte philosophische Auseinandersetzung mit der sexistischen Rechts- und Gesellschaftsordnung flankiert in diesem Zusammenhang, wie auch Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Women (1792), politische Forderungen der ersten Welle der Frauenrechtsbewegung und reiht sich in das aufklärerische Programm der Philosophical Radicals ein. Bereits Jeremy Bentham (1818, 35–37) etwa formuliert Reformvorschläge zur Verallgemeinerung des Wahlrechts. Wenngleich die Schrift also in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext steht und auf vorausgehende Pionierarbeiten zurückgreifen kann, zählt Mill mit seinem Beitrag zu den wenigen männlichen etablierten Theoretikern dieser Zeit, die explizit die moralische Monstrosität der Unterdrückung von Frauen anprangern. Bereits die spöttischen Reaktionen in Karikaturen zeigen, welcher breiten gesellschaftlichen Opposition sich Mill mit diesen Forderungen ausgesetzt sieht, etwa durch Darstellungen im Satiremagazin Judy (24.07.1867, 29.07; 25.11. 1868), in denen Mill im Kleid dargestellt wird, in der Absicht, ihn durch seine Feminisierung herabzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist Mills Auseinandersetzung mit teils haarsträubenden Thesen nicht zuletzt durch die Zielsetzung der Schrift zu erklären. Mill will der vorherrschenden Meinung ihr mangelhaftes argumentatives Fundament, ihre Genese aus bar-

S. Derpmann

barischen Verhältnissen und ihre furchtbaren Auswirkungen aufzeigen, um bei einer möglichst breiten Leserschaft Zweifel an den herrschenden Verhältnissen zu säen und um Wandel und Reformen voranzutreiben. Mill verfolgt also nicht nur ein theoretisches Erkenntnisziel mit dieser Schrift, sondern eine politische Agenda. Bereits als Parlamentarier opponiert Mill gegen die Missstände der Geschlechterungleichheit. So beantragt er einen Zusatz zum zweiten Reform Act, mit dem er das geschlechtsunabhängige Wahlrecht fordert (s. Kap. V.41). Den Protokollen des Britischen Parlaments lässt sich entnehmen, dass Mill 1867 bei einer Reform des Wahlrechts beantragt, das Wort ,man‘ durch ,person‘ zu ersetzen (Hansard 187, 829, 20. Mai 1867) Er weist die despotische Stellung von Männern in der Ehe zurück und setzt sich für den Schutz von Prostituierten ein. Letzteres zeigt sich etwa in seiner Opposition gegen die Contagious Diseases Acts von 1864–1869, mit denen der Prostitution verdächtigte Frauen gynäkologischen Zwangsuntersuchungen unterworfen und interniert werden konnten, um die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen (hierzu Waldron 2007; CW XXI, 350 ff.). Die terminologische Differenzierung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, nichtbinäre Vorstellungen von Geschlecht, Intersexualität, Transsexualität und Transgender sowie die Rolle von Sexualität in der Formung von Geschlechternormen werden in Mills Abhandlung nicht thematisch, obwohl sie aus heutiger Perspektive zwingend in deren Gegenstandsbereich fallen würden. Wenn im Weiteren also die ‚Unterdrückung von Frauen‘ diskutiert wird, dann holt diese Beschreibung offenkundig nicht die Vielfältigkeit der sozialen Bedeutung von Geschlecht und Sexualität und den Differenzierungsgrad gegenwärtiger Debatten ein, sondern ist vielmehr der gesellschaftlichen Realität, die Mill vorfindet, und in der diese Differenzierungen nicht artikuliert oder gehört werden, geschuldet. Insbesondere die methodischen Vorüberlegungen seiner Argumentation, die Zurückweisung der epistemischen Grundlagen der Annahme einer vermeintlich ­ weiblichen

16  The Subjection of Women (1869)

Natur und die entschiedene moralische Zurückweisung der sexistischen Gesellschaft seiner Gegenwart machen Mills Pamphlet – bei allen zuzugestehenden Grenzen und bei aller berechtigten Kritik – zu einem zentralen Beitrag zur feministischen Moralphilosophie.

Aufbau und Ziel der Abhandlung Mills Subjection gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel befasst sich Mill zunächst mit der Beweislast seiner Argumentation, mit der er gegen die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung der Ungleichstellung der Geschlechter argumentiert. Im Anschluss findet sich die Auseinandersetzung mit einer Reihe von Argumenten, die von den Befürwortern der Ungleichheit vorgebracht werden. Auch Überlegungen zur Realität und Erkennbarkeit einer vermeintlich weiblichen Natur, die in den Folgekapiteln immer wieder auftauchen, werden hier entwickelt. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Manifestationen der Geschlechterungleichheit in der Institution der Ehe, den hiermit verbundenen Abhängigkeiten und der rollenspezifischen Verteilung von Pflichten, Privilegien und Ansprüchen. Das dritte Kapitel widmet sich verschiedenen Begründungen des ungleichen Zugangs zu gesellschaftlichen Positionen, etwa zu Berufen oder politischen Ämtern. Das abschließende vierte Kapitel befasst sich mit den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Geschlechterungleichheit und der Perspektive ihrer Abschaffung. Hier thematisiert Mill auch den negativen Einfluss der Ungleichheit auf den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt sowie auf die spezifisch männliche Charakterentwicklung in androzentrischen Gesellschaften. Gegenstand der Abhandlung ist die Zurückweisung desjenigen Prinzips, das der rechtlichen und sozialen Unterordnung von Frauen zugrunde liegt, und die Forderung der Ablösung dieses Prinzips durch eines der vollständigen Gleichheit, das mit jeglichen geschlechtsspezifischen Machtstellungen und Privilegien unvereinbar ist. Diese Unterscheidung zwischen einem fundamentalen Prinzip und insbesondere

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der rechtlichen Ungleichstellung ist wichtig, da die Subjection nicht lediglich ein Argument für die juristische Gleichheit der Geschlechter vorbringt, sondern eine weitaus breitere Zurückweisung der ideologischen Grundlagen ihrer Ungleichstellung. Gleichstellung geht also über die bloße Gleichberechtigung und Gleichbehandlung hinaus. Ein Außerachtlassen der komplexen sozialen Rahmenbedingungen sexistischer Gesellschaftsordnungen wäre vor dem Hintergrund der Mill’schen Vorstellung von Freiheit (s. Kap. V.27) und Selbstentwicklung (s. Kap. V.30) verwunderlich. Schon in On Liberty (CW VXIII, 220) macht Mill in der Bestimmung bürgerlicher und sozialer Freiheit nicht nur die Grenzen staatlicher Gewalt, sondern die Grenzen politischer und sozialer Macht insgesamt zum Gegenstand. Mill betont in diesem Zusammenhang, dass staatliche Gewalt, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Legitimation, nicht die einzige und auch nicht zwingend die gravierendste Form der Einschränkung von Freiheit und Selbstentwicklung ist, die es zu verurteilen und zu bekämpfen gilt. Die Tyrannei der Gesellschaft durch Erziehung, Missachtung, Manipulation und Ausgrenzung verdient in seiner Auffassung nicht weniger Aufmerksamkeit als die despotische Bevormundung durch Gesetz, Verwaltung und Polizei. Analog sind auch die unterschiedlich gearteten Einflüsse der rechtlichen und sozialen Unterdrückung von Frauen zu unterscheiden. Obwohl rechtliche Gleichstellung mittelbar auch anderen Formen sozialer Unterdrückung entgegenwirkt, vollziehen sich gravierende Beschränkungen persönlicher Freiheit über außerhalb der Rechtsordnung wirksame Machtstrukturen. Die Zurückweisung der Unterdrückung der Frauen könnte somit zunächst als Anwendungsfall der Axiome aus Mills Freiheitsschrift begriffen werden, insofern sich die geschlechtliche Ungleichbehandlung in ungerechtfertigten Beschränkungen der persönlichen Selbstbestimmung und -entfaltung manifestiert (Schmidt-Petri 2015, 166–173). Allerdings ergibt sich eine Besonderheit daraus, dass die vorliegende Form der Beschränkung der Freiheit sich auf einen spezifischen Teil der Gesellschaft

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beschränkt. Gesellschaftliche Anstandsnormen, Sexualmoral, religiöse Vorschriften oder staatliche Zensur bedeuten meist einen allgemeinen Eingriff in die persönliche Freiheit, der zumindest der Möglichkeit nach jedes Mitglied einer Gesellschaft betrifft. Die geschlechtsspezifische Einschränkung der Freiheit hingegen ist selektiv. Mills Widerstand richtet sich aus diesem Grund nicht allein gegen die gesellschaftliche Bevormundung der Frau, sondern darüber hinaus gegen die moralisch bedenkliche Ungleichheit, auf der sie fußt. Außerdem richtet er sich auch gegen Formen der Diskriminierung, die nicht zwingend als Freiheitsbeschränkungen aufzufassen sind. Mill weist die Unterordnung von Frauen als für sich genommen falsch und als ein Haupthindernis gesellschaftlichen Fortschritts zurück (CW XXI, 261). Eine vorschnelle Interpretation von Mills Zurückweisung der Ungleichbehandlung aufgrund dieses Zusatzes, der auf nachteilige Folgen abstellt, legt in einer oberflächlichen Lesart seiner utilitaristischen Hintergrundannahmen den Vorwurf nahe, dass seine Position das eigentliche Problem der Ungleichheit verfehlt, die aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive nicht als Ursache einer geringeren sozialen Wohlfahrt, sondern an sich zu verurteilen ist. Mills Bewertung der Folgen von Ungleichheit machen jedoch weder seinen einzigen, noch den primären Einwand gegen die Unterdrückung von Frauen aus. Es geht Mill durchaus um die Zurückweisung der Ungleichstellung selbst, die auch nicht die Annahme eines mit dem Utilitarismus unvereinbaren Eigenwerts der Gleichheit erfordert. Die sexistische Gesellschaftsordnung verfehlt einen fundamentaleren Gleichberücksichtigungsgrundsatz, gemäß dem Unterschiede in moralischen Urteilen über Pflichten, Gebote und Verbote die Angabe von Unterschieden in den beurteilten moralischen Sachverhalten erfordern. Dass Mill überhaupt aufzeigen muss, inwiefern dieser moralische Mindeststandard im sexistischen Weltbild unterlaufen wird, legt die besondere diskursive Herausforderung offen, der Mill sich nun ausgesetzt sieht und die er ausführlich diskutiert (CW XXI, 261–264).

S. Derpmann

Mills argumentative Ausgangslage Mill hält es vor dem Hintergrund der weit verbreiteten sexistischen Gesellschaftsvorstellung, mit der er sich konfrontiert sieht, für unsinnig, direkt gegen das Ungleichheitsprinzip zu argumentieren. Stattdessen bestimmt er, welche Beweislast ihm eigentlich in der Auseinandersetzung mit dem Ungleichheitsprinzip zukäme, und in welche Diskursposition er unzulässiger Weise von der blinden Dominanz des gesellschaftlichen Status quo gezwungen wird. Insofern sind seine methodischen Vorüberlegungen von besonderem Interesse, weil er eine meta-argumentative Position zum Verfahren in besonders tiefliegenden moralischen Dissensen vorbringt, in denen basale Rationalitätsstandards unterlaufen werden, und die stattdessen von einem fest eingeprägten sittlichen Empfinden dominiert werden. Diese Perspektive erklärt, warum es Mill zunächst weniger auf die moralphilosophische Begründung seiner Position als auf die psychologische Erklärung der Gegenposition ankommt. Mill stellt daher zunächst ideologiekritische Überlegungen an, anhand derer der Ursprung der für die Ungleichstellung von Frauen maßgeblichen Intuitionen aufzuklären ist. Dieses Vorgehen liegt in einer Besonderheit der Debatte begründet. Die Ungleichstellung von Mann und Frau beruht nicht auf Argumenten, sondern auf unreflektierten Intuitionen. Je deutlicher Mill sie argumentativ widerlegt, desto stärker halten sich ihre Vertreter an sie (CW XXI, 261). Mill hofft demnach zunächst, das Fundament der Überzeugung der Befürworter der Unterwerfung der Frau zu erschüttern, indem er verdeutlicht, dass ihr Urteil sich keinen Vernunfterwägungen, sondern der gesellschaftlichen Prägung und langwierigen Prozessen der Machtausübung verdankt. So zeigt sich der Wert von Mills Erklärung der Entstehung des männlichen Überlegenheitsanspruchs. Bevor Mill nun zur moralphilosophischen Zurückweisung der Ungleichstellung der Geschlechter übergeht, legt er die diskursiven Anforderungen offen, die innerhalb der Debatte an ihn gestellt werden, und er prüft deren

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Berechtigung. Hier formuliert er nun nicht mehr eine Diagnose der Irrationalität seiner Gegner, sondern er entfaltet argumentative Züge. Mill sieht sich als Kritiker der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau in einer Argumentationsposition, die zwar nicht berechtigterweise, aber faktisch besondere Anforderungen an ihn stellt. Insbesondere verweist er auf eine ungewöhnliche Verteilung der eingeforderten Beweislast, also die unterstellten Ausgangsannahmen darüber, was in der Auseinandersetzung als gesichert vorauszusetzen und was eigens zu begründen ist, um eine bestimmte These zu fundieren. Eine verbreitete Überlegung im Zuschreiben von Beweislasten bezieht sich auf die Erbringbarkeit von Evidenzen zum Nachweis des Bestehens oder Nichtbestehens bestimmter Ereignisse, Gegenstände, oder Eigenschaften. Vor Gericht oder in der Geschichtsschreibung etwa trägt gemäß diesem Prinzip diejenige Partei die Last etwas nachzuweisen, die eine positive Behauptung über einen Sachverhalt aufstellt, nicht diejenige, die diese Behauptung verneint. Gemäß der Unschuldsvermutung muss der Ankläger in der Zuschreibung eines Verbrechens die Schuld beweisen, und nicht die Angeklagte ihre Unschuld. Gleichermaßen muss eine Forscherin für die Annahme einer unbekannten biologischen Art Belege vorbringen, nicht aber diejenigen, die ihre Existenz bestreiten. Erst dann, wenn belastende Indizien für einen Tathergang vorliegen oder neuartige Knochenfunde, sind die Gegner Argumente zur Widerlegung dieser Annahmen schuldig. Während also in den meisten argumentativen Kontexten die Beweislast bei den Verteidigern einer positiven Behauptung und nicht bei den Vertretern einer negativen Behauptung liegt, tritt in der Diskussion der Geschlechterungleichheit der umgekehrte Fall ein. Die sexistische Position behauptet Unterschiede zwischen den Geschlechtern und verlangt ihrer Gegenposition den Nachweis der Abwesenheit solcher Unterschiede ab (CW XXI, 262). Die zunächst anzunehmende Ausgangslage der Beweislastverteilung würde umgekehrt von der sexistischen Moral zunächst einen Nachweis einer moralisch relevanten Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ver-

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langen. Denn es ist die Ungleichbehandlung von moralischen Subjekten, die eine Begründung für die Differenzierung schuldig ist, nicht umgekehrt die Forderung der Gleichbehandlung, die einen Nachweis der Gleichheit schuldig ist. Mill fügt sich jedoch der Erwartung, einen Nachweis der moralischen Gleichheit von Männern und Frauen zu erbringen, bzw. eine Widerlegung der Ungleichheitsunterstellung vorzubringen, die eigentlich selbst zuerst zu rechtfertigen wäre. Zunächst nimmt Mill jedoch ein weiteres Argument in den Blick, das sich nicht direkt mit vermeintlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern befasst, sondern die Ungleichstellung als gegebene Praxis als legitim ausweist.

Das Akzeptanzargument Mill setzt sich im Verlauf der Schrift mit einer Reihe von zurückzuweisenden Argumenten und Fehlauffassungen der Befürworter der Ungleichheit auseinander. Eine Reihe von diesen Argumenten sind philosophisch vergleichsweise schnell abzuhandeln, insbesondere ein Argument, das zur Verteidigung zwei Varianten einer unterstellten Akzeptanz der Ungleichbehandlung anführt. In der ersten Formulierung verweist die Verteidigung auf die Autorität der herrschenden Sitten bzw. die Geltung des Gegebenen (CW XXI, 263–269). Das bloße Bestehen einer Praxis stellt für sich zwar kein Argument für die Legitimität dieser Praxis dar, denn der Schluss von der deskriptiven These des Bestehens einer Gesellschaftsordnung auf die normative These ihrer Berechtigung verstößt gegen Humes Gesetz. Über zwei mögliche Umwege ließe sich aber ein solches Argument formulieren, in dem nicht direkt von der gegebenen Ordnung auf deren Rechtfertigung geschlossen wird, sondern vermittelt über die implizite Zusatzannahme, dass ihre Einrichtung und Fortführung Ergebnis wohlüberlegter Entscheidungen oder kritischer Vergleiche mit alternativen Gesellschaftsmodellen ist. Die Gegebenheit von Sitten und Gewohnheiten kann in diesem Sinne als Indiz

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für deren Berechtigung sprechen, wenn zumindest implizit zu unterstellen ist, dass sie in der Vergangenheit einer Prüfung unterzogen wurden (CW XXI, 263 ff.). Mill weist diese Unterstellung jedoch zurück. Zwar gibt es womöglich Fälle von eingespielten Praxen, Sitten und Gewohnheiten, die wünschenswerten Zwecken dienen und die auf praktische Erfahrungen und Versuche zurückzuführen sind, die in der Fortschreibung dieser Praxen nicht mehr explizit gemacht werden. Dies gilt aber nicht für die Unterdrückung von Frauen. Für diese Praxis lässt sich nach Mills Verständnis nachweisen, dass sie gerade nicht Ergebnis einer ursprünglichen Abwägung oder Überlegung oder von Vergleichen mit alternativen Modellen ist. Der Ursprung dieser Ungleichheit liegt vielmehr in der Verrechtlichung eines natürlichen – und moralisch irrelevanten – Unterschiedes. Sie ist ein Prozess der gesellschaftlichen Normierung eines ‚Rechts‘ des Stärkeren. Ihre faktische geschichtliche Herausbildung und Persistenz ist also kein Umstand, der für sie spricht (CW XXI, 264). Dass die Menschheit noch am Prinzip der Ungleichheit festhält, lässt weder auf die Berechtigung dieses Prinzips, noch auf dessen Harmlosigkeit schließen. Denn auch die Vermutung, dass besonders unmoralische Verhältnisse sich auf lange Sicht nicht als stabil erweisen, ist im Falle der Unterdrückung von Frauen laut Mill nicht berechtigt. Die über Generationen hinweg erfolgte Prägung von weiblichen Rollenmustern durch Manipulation und Einschüchterung erklärt die Stabilität der Unterdrückung von Frauen, die durch die spezifischen Formen der Machtausübung – Mill spricht von einer Versklavung des Geistes (CW XXI, 271) – ungleich widerständiger gegen emanzipatorische Bewegungen ist als andere Formen der Unterdrückung (CW XXI, 268). Mill vergleicht die Institution der Unterdrückung von Frauen in dieser Hinsicht mit der Sklaverei und dem Feudalismus. Der Sklavenhalter und der Lehnsherr können sich damit begnügen, durch Gewalt und Einschüchterung den Widerstand ihrer Untergebenen zu brechen. Männer innerhalb der sexistischen Gesellschaftsordnung hingegen wollen, etwa in der Ehe, nicht nur die Unter-

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ordnung, sondern die affirmative Einwilligung in diese Unterordnung. Mill wehrt auch Antworten ab, die spezifische Unterschiede zwischen der Sklaverei und der Unterordnung von Frauen ausmachen wollen. Obwohl Mill den Status von Frauen in der Ehe an verschiedenen Stellen mit dem von Sklaven vergleicht, geht es hier nicht um eine allgemeine Gleichsetzung der Willkürherrschaft von Ehemännern mit der von Sklavenhaltern, sondern vielmehr um die besondere Form der manipulativen Machtausübung, die nicht bloß verlässlich die Handlungen der von ihr unterworfenen Subjekte kontrollieren will, sondern darüber hinaus nach ihrer Billigung und Zuneigung strebt. Gemäß einem ersten Einwand lässt sich die Hierarchie zwischen Herr und Knecht nicht mit der zwischen Mann und Frau vergleichen, weil Letztere natürlichen Ursprungs sei. Mill reagiert hier nicht ausführlich auf diese Annahme, sondern weist zunächst auf die schwache Geltung dieser Behauptung hin, da nahezu jede herrschende Gesellschaftsordnung ihre jeweilige Form der Machtausübung als natürlich gerechtfertigt begreift. Gleichwohl wird diese Annahme einer vermeintlichen unterlegenen weiblichen Natur im Verlauf der Schrift wieder aufgegriffen. Zuvor weist Mill jedoch den zweiten Einwand zurück, dass das von ihm beschriebene System der ‚Unterwerfung von Frauen‘ nicht ein System der Gewaltanwendung ist, sondern vielmehr dem Einverständnis von Frauen selbst entspricht, die in diese Rollenverteilung einwilligen (CW XXI, 270–272). Diese Behauptung ist faktisch falsch. Selbst wenn sich diese Einwilligung von einigen Frauen aussagen ließe, gilt sie für viele unterdrückte Frauen nachweislich nicht. Selbst wenn sie zutreffen würde, ließen sich Erklärungen für die Akzeptanz vorbringen. Wie zuvor gezeigt, erzeugen Erziehung und gesellschaftliche Abhängigkeit eine besonders tiefgreifende Form der Prägung, sodass selbst die beobachtbare Einwilligung in die Unterdrückung nur von geringer Bedeutung für die Annahme ihrer Natürlichkeit oder Legitimität ist. Das bedeutet nicht, dass es prinzipiell unvorstellbar ist, in unterdrückerische Verhältnisse einzuwilligen, aber diese Einwilligung ist nur

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vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Kontexts zu bewerten. Mit diesen Überlegungen zeigt Mill auf, dass die gesellschaftliche Beständigkeit der Unterdrückung von Frauen keinerlei positive Voreinschätzung der bestehenden Institutionen begründet. Denn ihr nachhaltiges Fortbestehen lässt sich aus den Umständen ihrer Einrichtung und Durchsetzung erklären. Im Gegenteil, die Geschichte spricht gegen die Berechtigung dieser Institution. In Mills Darlegung widerspricht die sexistische Gesellschaftsordnung dem für seine Zeit maßgeblichen Fortschrittsprinzip, das sich im gesellschaftlichen Liberalismus durchsetzt (CW XXI, 272–275). In dieser generellen Tendenz der gesellschaftlichen Liberalisierung nimmt Mill die Unterdrückung von Frauen als ein vereinzeltes Überbleibsel einer allmählich verschwindenden Vorstellung natürlich gegebener sozialer Hierarchien und vorgeprägter Lebensläufe wahr (CW XXI, 275), die in modernen Gesellschaften allmählich durch liberale Vorstellungen der demokratischen Autorität, der privaten Autonomie und der marktförmigen Kooperation abgelöst werden.

Vermeintliche Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Natur Nach der Diskussion dieser allgemeineren und teilweise randständigeren Einwände gegen Mills Forderung der uneingeschränkten Gleichstellung der Geschlechter rückt die Unterstellung faktischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den Fokus der Abhandlung (CW XXI, 276 ff.). Die hier unterstellte weibliche Natur führt Mills Gegner zur Annahme unterschiedlich ausgeprägter Eignungen für Positionen, Tätigkeiten, Rollen und Entscheidungen und, darüber vermittelt, zur Begründung abgestufter gesellschaftlicher Rechte, Pflichten und Chancen. Zunächst ist festzuhalten, dass solche Unterschiede für die Begründung der rechtlichen Ungleichstellung für viele Formen der Diskriminierung ohne normative Bedeutung wären. Es ergibt schlicht keinen Sinn, ein Verbot für etwas auszusprechen, zu dem die

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Betroffenen des Verbots ohnehin vermeintlich nicht in der Lage sind. Wenn Frauen tatsächlich nicht für Politik, Mathematik oder Kriegstaktik geeignet sind – und zwar jede von ihnen noch weniger als jeder in diesen Feldern konkurrierende Mann –, dann könnten sie einfach durch Wettbewerb oder neutrale Beurteilungen in der Verfolgung solcher Tätigkeiten scheitern, aber sie müssten nicht durch Verbote ausgeschlossen werden. Der Ausschluss, der in der von Männern dominierten Gesellschaft über das Recht erzwungen wird, könnte über demokratische Wahlen oder über marktwirtschaftliche Freiheiten erfolgen, wenn Frauen den Aufgaben, von denen sie per Zwang ausgeschlossen werden, von Natur aus nicht gewachsen wären (CW XXI, 280). Mill bezweifelt jedoch, dass Frauen diejenigen Positionen, die ihnen in der patriarchalen Ordnung untersagt sind, schlechter ausfüllen würden als die meisten Männer, die sie in dieser Ordnung besetzen. So zeigen Beispiele von Frauen, die trotz gesellschaftlicher Hürden das erreichen, was in sexistischen Gesellschaftsordnungen eigentlich für Männer vorgesehen ist, dass die unterstellte weibliche Natur nicht unvereinbar mit diesen Positionen ist. Annas wirft Mill vor, dass er an dieser Stelle nicht auf empirische Belege verweisen kann, da er an früherer Stelle die Einschlägigkeit empirischer Belege zur Darlegung einer weiblichen Natur zurückgewiesen hat: „[T]he argument cuts both ways“ (Annas 1977, 184). Aber das tut es laut Mill nicht: „[N]egative evidence is worth little, while any positive evidence is conclusive“ (CW XXI, 302). Das Faktum, dass Frauen keine Politikerinnen sind, erlaubt nicht den Schluss auf eine ihnen innere Natur, die mit der Ausübung eines politischen Amts unvereinbar wäre. Umgekehrt erlaubt aber die Feststellung, dass Frauen trotz der sozialen Umstände große Literatur hervorbringen, den Schluss darauf, dass es nichts in ihrer Natur gibt, dass mit der Produktion von Literatur unvereinbar wäre. Wenn in einem Zoo kein Flamingo flugfähig ist, dann erlaubt dies nicht den Schluss auf eine von Natur gegebene Flugunfähigkeit, insbesondere wenn wir beim Stutzen der Flugfedern zusehen können. Wenn wir aber beobachten, dass ein F ­ lamingo

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­ iegend sein G fl ­ ehege verlässt, dann können wir annehmen, dass das Fliegen nicht mit der Natur von Flamingos unvereinbar ist. Wir können aus empirischen Einzelbeobachtungen also keine spezifischen positiven Merkmale einer weiblichen Natur ableiten, aber wir können umgekehrt Hypothesen zu einer solchen Natur widerlegen. Wenn dies ausgeräumt ist, könnten Mills Gegner auf die weibliche Natur verweisen, um zu erklären, warum Frauen sich der Tendenz nach auf bestimmten beruflichen und gesellschaftlichen Feldern seltener durchsetzen, und stattdessen etwa Sorgetätigkeiten in der Familie nachgehen. So muss diese Annahme einer spezifisch weiblichen Natur, die den ideologischen Kern Geschlechterungleichheit ausmacht, näher bestimmt werden. Die aus systematischer Sicht zentrale Debatte der Abhandlung führt Mill im Rahmen der kritischen Prüfung der Annahme einer spezifisch weiblichen Natur, die seinen Gegnern zur Begründung der sozialen und rechtlichen Ungleichstellung von Frauen und Männern dient. Zunächst stellt Mill die unzureichende epistemische Grundlage eines solchen Urteils heraus: „I deny that any one knows, or can know, the nature of the two sexes, as long as they have only been seen in their present relation to one another“ (CW XXI, 276). Mill greift diese agnostische Annahme bezüglich der weiblichen Natur an verschiedenen Stellen auf (CW XXI, 277, 280, 304–305, 313) und betont, dass alle in seiner Gegenwart möglichen verallgemeinernden Aussagen über weibliche Neigungen, Eignungen und Fähigkeiten nur auf der Beobachtung von Frauen innerhalb von unterdrückenden, verzerrenden, prägenden und formenden Erziehungs-, Meinungs- und Rechtsrahmen getroffen werden. Zwar konzediert Mill an anderer Stelle (CW VIII, 831–940), dass innerhalb der sich entwickelnden Sozialwissenschaften prinzipiell gesicherte Aussagen über Charakterbildung und soziale Rollen möglich sind, und natürlich stützt er sich auf solche Annahmen, um die Wirkung von sexistischen Praxen auf die Entwicklungschancen von Frauen zu treffen. Er hält solche Überlegungen nicht prinzipiell für unergiebig. Aber Mill glaubt nicht, dass es einen gesicherten

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Rückschluss auf eine weibliche Natur unter Abstraktion von allen gesellschaftlichen Einflussfaktoren gibt. Mill formuliert hier also zunächst eine skeptische epistemische Position bezüglich der Bedingungen der Erkenntnis einer vorgesellschaftlichen Natur der Frau. In einer Gesellschaft, die derart gravierende geschlechtsabhängige Unterschiede in Erziehung, Bildung, Ansehen, Rechten und Erwartungen macht, ist eine von dieser Prägung unabhängige Natur nicht einzugrenzen. Diese skeptische These verknüpft Mill mit der Bereitstellung einer alternativen Erklärung der beobachtbaren Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die gemeinhin auf eine weibliche Natur zurückgeführt werden. Denn Mills Zweifel an der Erkennbarkeit einer weiblichen Natur impliziert wie gesagt nicht, dass uns jeder epistemische Zugang zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen fehlt. Aus diesem Grund trifft Mill auch pauschale Urteile über tendenziell weibliche Züge, die sich aber auf Frauen als sozial geprägte Subjekte beziehen, also auf „women as they now are“ (CW XXI, 305, 310, Herv. d. Verf.; auch 302, 304). Eine gesellschaftliche Prägung dieser Art erfahren natürlich nicht nur Mädchen und Frauen, sondern auch Jungen und Männer. So identifiziert Mill auch die Grundzüge einer gesellschaftlichen männlichen Prägung, die ebenfalls nicht als männliche Natur aufzufassen ist, sondern in denen Tendenzen innerhalb der Charakterentwicklung ausgemacht werden, die über die gesellschaftliche Position von Jungen und Männern erklärt werden können. Hier findet sich eine Erklärung der Genese von Charakterzügen, die gegenwärtig unter dem Begriff ‚toxische Männlichkeit‘ diskutiert werden (CW XXI, 321, 324, 293). Die universale Verbreitung von Selbstüberhöhung, pathologischem Narzissmus und rücksichtslosem Egoismus sind laut Mill auf die persönlichkeitsbildenden Auswirkungen der hierarchischen Geschlechterordnung zurückzuführen. Mill liefert hier eine entwicklungspsychologische Andeutung der Folgen der kontinuierlichen Erfahrung einer nicht begründeten Überlegenheit. Diese tief verwurzelte Selbsteinschätzung der Überlegen-

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heit gegenüber Frauen befördert bei vielen Männern nach Mills Einschätzung darüber hinaus spezifische Einstellungen der Geringschätzung und Missachtung von Frauen. Jeder gewissenhafte Beobachter muss Mill zufolge diesem ‚verdorbenen Zustand des menschlichen Geistes‘ (CW XXI, 296) mit Ekel und Empörung begegnen. Alle einschlägigen Unterschiede, die sich in bestimmten Gesellschaften zwischen Männern und Frauen benennen lassen – und auch dies ist keine einfache Angelegenheit (CW XXI, 278) –, sind also nach Mills Einschätzung als Ergebnis gesellschaftlicher Prägung zu beschreiben, d. h. sie lassen sich über Muster der Erziehung, soziale Erwartungen, Anreize und Benachteiligungen erklären (CW XXI, 308, 320–321). Damit wird zweifelhaft, ob Unterschiede zwischen Männern und Frauen identifizierbar sind, auf deren Grundlage sich eine Ungleichbehandlung rechtfertigen ließe, insofern die vermeintlichen Kandidaten natürlicher Unterschiede sich als Ergebnis sozialer Einflüsse entpuppen. Sie sind gemacht: „[W]hat is now called the nature of women is an eminently artificial thing, the result of forced repression in some directions, unnatural stimulation in others“ (CW XXI, 276). Es ist also wichtig festzuhalten, dass Mill parallel zwei argumentative Strategien verfolgt: einerseits eine Aussage über die faktische Unmöglichkeit der Erkenntnis einer vorgesellschaftlichen weiblichen Natur, und andererseits eine Aussage über die beobachtbare systematische Prägung, die diejenigen Merkmale hervorbringt, die gemeinhin als Ausdruck dieser weiblichen Natur begriffen werden. Die zweite These der Identifizierbarkeit einer systematischen Prägung lässt sich vor dem Hintergrund dieser erkenntnistheoretischen Position problematisieren. Warum sind wir in der Lage, die Entstehung vereinzelter Charakterzüge zu rekonstruieren, nicht aber auf eine von solchen Prägungen freie Natur zurückzuschließen? Den Unterschied zwischen diesen beiden Erkenntnisansprüchen lässt sich über Analogien plausibilisieren. In einem Barockgarten etwa bietet sich der Betrachterin kein verlässlicher Zugang zum natürlichen Wuchs des

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Buchsbaums, dem seine Gestalt hier meist durch Drahtung und Formschnitt gegeben ist. Aber der Prozess der Formung selbst, die er durch die menschliche Hand erfährt, ist beobachtbar. Wir können analog nicht erahnen, wie sich ein Subjekt ohne jegliche geschlechtsspezifischen Einflüsse entwickelt hätte, aber wir können die Wirkung spezifischer Einflüsse beurteilen. Mill verwendet selbst diesen Vergleich mit der Entfaltung von Pflanzen (CW XXI, 277, 307) und auch Thiel (1994) greift diese Analogie auf, indem er auf die Künstlichkeit der Bonsaiformung rekurriert (vgl. außerdem Brown 1998). Diese Antwort begegnet der Unterstellung einer Inkonsistenz bezüglich der von Mill bezweifelten Erkenntnismöglichkeit einer weiblichen Natur einerseits und der vorgebrachten Hypothese zu spezifischen gesellschaftlichen Einwirkungen auf die Entwicklung der Fähigkeiten, Neigungen und Überzeugungen von Frauen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung andererseits. Aber kann Mill diese Einwirkung als künstlich (CW XXI, 276, 293, 305, 313) im Sinne von widernatürlich bezeichnen? Stove (1993, 8) hält Mills Position bezüglich einer vermeintlichen weiblichen Natur und deren Erkennbarkeit für widersprüchlich, insofern er in Subjection zwei miteinander unvereinbare Thesen vertrete: eine Unwissenheitsthese, gemäß der wir keinen epistemischen Zugang zur weiblichen Natur haben (CW XXI, 276), und ein Unnatürlichkeitsprinzip, das die beschriebenen Eingriffe in die freie Entfaltung der Lebensgestaltung von Mädchen und Frauen als widernatürlich zurückweist (CW XXI, 305). Stoves Diagnose wird weitestgehend zurückgewiesen, etwa von Brecher (1993) oder Thiel (1994); Smith (2000) weist Stoves Darstellung ebenfalls zurück, präzisiert aber den darin enthaltenen Vorwurf. Die Analogie zwischen Eingriffen in die persönliche Entfaltung von Personen und der Beschneidung und Gestaltung von Pflanzen bietet in der Tat eine problematische Antwort auf den Inkonsistenzvorwurf, insofern die Bestimmung der natürlichen Entwicklung einer Pappel oder Rose vergleichsweise unkontrovers ist. Aber von welchen gesellschaftlichen Einflüssen müssten wir

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a­bstrahieren, um die Entwicklung einer Person als natürlich zu begreifen? Mills Argument sollte also nicht mit der Annahme verknüpft werden, dass eine geschlechtsunabhängige Natur sich nur in Abwesenheit jeglicher Sozialisation entfalten könnte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Mill sich jeglichen Verweises auf normative Vorstellungen von Natürlichkeit enthalten muss. Eine Antwortmöglichkeit, etwa in Smith (2000, 52), liest Mills Unnatürlichkeitsprinzip als Wiederholung der skeptischen These hinsichtlich der Erkennbarkeit einer weiblichen Natur, und zwar als eine Zurückweisung aller Belege, die suggerieren, dass die unterdrückende soziale Prägung von Frauen ihrer Natur entspräche. Eine zweite mögliche Antwort besteht darin, Mills Verweis auf die Unnatürlichkeit bestimmter Prägungen wörtlich zu nehmen, d. h. als dezidiertes Urteil über die Widernatürlichkeit dieser Eingriffe. Dies erfordert, zwei Verwendungen von ‚Natur‘ in den angeführten Passagen zu disambiguieren. Die Unwissenheitsthese bestreitet jegliche Erkennbarkeit einer vermeintlichen weiblichen Natur; das Unnatürlichkeitsprinzip muss aber die unterjochende Prägung der Gesellschaft nicht als in Konflikt mit einer solchen als unerkennbar ausgewiesenen spezifisch weiblichen Natur begreifen, sondern als eine der menschlichen Natur widerstrebende Formung. Mills Verständnis dieser menschlichen Natur weist die Selbstentwicklung als einen erstrebens- und befördernswerten Wesenszug menschlicher Subjekte insgesamt aus. Obwohl Mill diese Lesart in Subjection expliziter machen könnte, ist sie durchaus vereinbar mit den entscheidenden Passagen und sie entspricht Mills Verständnis der menschlichen Natur der Selbstentfaltung aus On Liberty (CW XVIII, 263; s. Kap. V.30).

Freiheit und Selbstunterwerfung? Neben den Verteidigern des Unterschiedes zwischen Männern und Frauen argumentieren einige Verteidiger der Ungleichbehandlung wie bereits angedeutet, dass die gesellschaftliche Position der Frauen von ihnen selbst an-

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genommen und befürwortet wird. Anhand dieses Einwands lässt sich eine Doppeldeutigkeit hinsichtlich des philosophischen Gegenstands, den Mill vor Augen hat, ausmachen. Denn der Begriff ,subjection‘ im Titel der Abhandlung lässt zwei Deutungen zu, insofern ,subjection of women‘ sowohl im genitivus objectivus, in dem ,women‘ das grammatikalische direkte Objekt sind, als auch im genitivus subjectivus, in dem ,women‘ das grammatikalische Subjekt sind, lesbar ist. Im ersten Fall werden Frauen unterworfen; im zweiten Fall unterwerfen sie sich selbst. Diese Doppeldeutigkeit sollte in der Interpretation der Untersuchung nicht aufgelöst werden. Mill unternimmt einerseits eine Untersuchung der Formen, in denen gesellschaftliche Strukturen Frauen unterwerfen. Andererseits versteht sich die Untersuchung in dieser Formulierung womöglich aber auch als Erklärung, warum Frauen sich diesen gesellschaftlichen Strukturen unterwerfen – dass diese Selbstunterwerfung wiederum Ergebnis von Zwang und Unterdrückung ist, ist mit dieser Lesart vereinbar. In den ersten Übersetzungen des Titels ist von der ,Hörigkeit der Frau‘ die Rede, was zumindest im heutigen Verständnis von ‚Hörigkeit‘ die Gefahr birgt, die Schrift allein im Sinne der zweiten Bedeutung zu verstehen. Birnbacher (2020, 195) betont daher, dass auch in der ursprünglichen Übersetzung des Titels Hörigkeit in der begrifflichen Terminologie eines Rechtsstatus der Abhängigkeit innerhalb von Feudalverhältnissen zu lesen ist. Mills Ausführungen, die gleich zu Beginn auf die rechtliche Ungleichheit als Grundlage gesellschaftlicher Ungleichheit hinweisen, deuten darauf hin, dass Mill ,subjection‘ primär im ersten Sinn begreift, obwohl Mill auch die gesellschaftlich mehr oder minder breite Einwilligung in die männliche Herrschaft im zweiten Sinn von passiver Unterwerfung zum Gegenstand macht. Daher ist es angemessen, dass neuere Ausgaben die Schrift als die „Unterwerfung der Frauen“ betiteln. Wenn die Unterdrückung von Frauen primär vor dem Hintergrund des Werts der Selbstentfaltung zurückzuweisen ist, welche Schlussfolgerungen haben wir dann bezüglich der zumindest denkbaren Selbstunterordnung von

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Frauen zu ziehen? Mill steht in einer liberalen Tradition der Kritik der Monarchie und der Ständegesellschaft, dehnt diese Kritik aber bereits in On Liberty auf die Unterdrückungspotenziale der öffentlichen Meinung aus und wendet dies in Subjection auf die in vergleichbarer Weise problematische hierarchische Geschlechterordnung an. Mill ist zwar ein entschiedener Verteidiger des absoluten Schutzes der persönlichen Privat- und Freiheitssphäre. Er begibt sich damit aber nicht auf eine Position der Verharmlosung oder Entpolitisierung der Unterdrückung und Gewalt, die sich innerhalb der vermeintlich außerpolitischen und außerrechtlichen Privatsphäre abspielt. Vor dem Hintergrund der Argumente aus On Liberty ist dem einzelnen Individuum jedoch klar prioritärer Schutz vor der Privatheit innerhalb von Partnerschaft oder Familie einzuräumen. Selbst für diejenigen Frauen, die sich in die ihnen zugeschriebene Position einfügen, stehen Mill zwei Antworten offen. Erstens kann er antworten, dass die Befürwortung der Unterwerfung der Frauen in Einzelfällen allenfalls dafür spricht, es zuzulassen, dass Frauen sich selbst in eine bestimmte gesellschaftliche Position fügen. Aber es spricht nichts dafür, Institutionen zu befördern, die diese Position erzwingen (analog zu CW XXI, 280). Wenn Frauen tatsächlich mit ihrer gesellschaftlichen Rolle einverstanden sind oder diese befürworten, bedarf es des Zwangs in diese Positionen nicht. Zweitens kann Mill auf der Grundlage seines philosophischen Urteils über den Wert von Selbstbestimmung und Individualität argumentieren, dass die Befürwortung der Ungleichbehandlung aus einer unzureichenden Position getroffen wird, sodass auch diese Fälle von Einwilligung mit einem moralischen Makel behaftet sind (CW XXI, 293). So begründet die Verteidigung der Freiheit der Frauen nicht die Unterstützung ihrer Entscheidung zur Unmündigkeit, sondern sie spricht im Gegenteil gegen die gesellschaftliche Vorprägung von Lebenswegen. An dieser Stelle zeigt sich der perfektionistische Zug der liberalen Grundhaltung, mit der Mill eine materiale Position zum gelingenden Leben vertritt, insofern er Selbstentwicklung als im Wesen der

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menschlichen Natur angelegt sieht bzw. diese mit einem normativen Begriff der Person verknüpft (zur Beschreibung dieser Position als ‚Perfektionismus‘ Brink 2013, 60–63; Derpmann 2020; s. Kap. V.26). Mill positioniert sich zwar gegen das Eingreifen in die persönliche Entscheidungssphäre von Individuen, betont aber gleichzeitig die moralische Bedeutung der für Selbstentwicklung essentiellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und persönlichen Vermögen. Aus dieser normativen Positionierung ergibt sich eine Spannung für diejenigen – wenn auch vereinzelten – Fälle, in denen gesellschaftliche Unterordnung und die Beschneidung von Freiheiten vermeintlich selbst gewählt sind, aber die Position, aus der heraus dies geschieht, nicht als eine der freien Selbstentwicklung ausgewiesen werden kann. Denn es gibt Fälle, in denen grundsätzlich autonome Personen sich selbst in eine Position der Unterordnung begeben. Sowohl Gesetze und Normen, die bestimmte Lebenswege erzwingen, als auch die gesellschaftliche Meinung können den für Mill fundamental bedeutsamen Prozess der Selbstentwicklung gefährden. Die womöglich selbstgewählte Unterordnung der Frauen erfordert in dieser Abwägung daher gegebenenfalls keinen Eingriff in ihre Entscheidung, aber die Herstellung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, unter denen diese Wahl nicht bereits vorgegeben ist, und die Gewährleistung der Möglichkeit, eine solche Entscheidung zu widerrufen.

Was für ein Feminismus ist Mills Feminismus? Subjection of Women ist als Beitrag der feministischen Theorie anzusehen (s. Kap. VI.45) Zum einen verschreibt sich die Schrift einem zentralen politischen Anliegen des Feminismus, der Herstellung der rechtlichen und der sozialen Gleichheit der Geschlechter. Anders als viele Beiträge der Moralphilosophie, die sich mit diesem Thema befassen, handelt es sich nicht um einen Versuch der Begründung einer sexistischen hierarchischen Ordnung, sondern um

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ihre dezidierte Zurückweisung. Die mit Harriet Taylor Mill und Helen Taylor gemeinsame Entwicklung der vorgebrachten Argumente bedingt, dass die Subjection, obwohl sie von einem Mann verfasst ist, nicht allein auf Grundlage männlicher Erfahrungen und Perspektiven beruht. Es fließen die Positionen von Harriet und Helen in die Schrift ein. Harriet Taylor gehört zwar zweifelsfrei einer privilegierten Schicht der viktorianischen Gesellschaft an, kennt aber aus eigener Erfahrung die Machtlosigkeit von Frauen innerhalb der herrschenden Eheverhältnisse. Darüber hinaus hat Mill mit Nachdruck seine eigene männliche Sozialisierung bedauert und versucht, als weiblich ausgewiesene Perspektiven und Charakterzüge zu kultivieren. Die Schrift befasst sich also nicht nur dem Inhalt nach mit zentralen Anliegen feministischer Forderungen, sondern nimmt in diesem Vorhaben die Perspektive von Frauen ernst. Subjection of Women wird daher mit guten Gründen zu einem zentralen Beitrag der feministischen Theoriebildung gezählt, der grundlegende Theorieelemente des gegenwärtigen Feminismus zwar nicht systematisch entwickelt, aber eben doch andeutet. Hierzu gehört einerseits die methodische Andeutung der Notwendigkeit einer Ideologiekritik, und andererseits die Unterscheidung einer vermeintlichen weiblichen Natur und der gegebenen sozialen Prägung von Frauen. Zum Teil wird diese Einordnung kritisiert oder nicht geteilt. Finlayson (2016, 61–66) etwa formuliert die Diagnose, dass alles Brauchbare in Mills Schrift in früheren Schriften anderer Autorinnen besser gesagt ist, und nur sein Status als ‚alter weißer Mann‘ der Abhandlung ihre Würdigung beschert. Obwohl natürlich die Frage berechtigt ist, warum gerade Subjection vergleichsweise breit rezipiert werden sollte und nicht etwa Harriet Taylors „Enfranchisement of Women“ (1851) oder Schriften weniger populärer Feministinnen der Zeit, scheint dieses Urteil jedoch den genuinen Beitrag der Schrift vorschnell zu verwerfen. Eine zentrale Frage in der Einordnung der systematischen Relevanz der Mill’schen Theorie für den Feminismus betrifft die Unterscheidung

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zwischen liberalen und radikalen Positionen, die etwa bei Burgess-Jackson (1995, 372), Stone (2007, 11–12) oder Finlayson (2016, 83– 92) diskutiert wird. Annas (1977, 180–181, 189) unterscheidet in ähnlicher Terminologie reformistische von radikalen Ansätzen. Eine feinkörnige Übersicht der möglichen Einordnung von Mills Feminismus innerhalb der verwandten terminologischen Unterscheidung von Differenz- und Dominanzfeminismus findet sich in Morales (2007, 46). Die grundlegende Unterscheidung zwischen diesen Positionen betrifft die Berücksichtigung verschiedener Formen von Ungleichheit und Unterdrückung, was sowohl deren Quellen als auch die gebotenen Veränderungen betrifft. Der liberale Feminismus befasst sich primär mit der Begründung der Forderung der legalen Gleichstellung von Frauen und Männern. Der radikale Feminismus geht darüber hinaus verstärkt auf die sozialen Grundlagen der Unterdrückung ein, die sich etwa in der Ausgestaltung von Erziehung, Gewohnheit, öffentlicher Meinung und Rollenerwartungen niederschlägt, und die gleichzeitig eine Korrektur sexistischer Gesellschaftsordnungen fordert, die weit über die bloße rechtliche Gleichstellung hinausgeht, insofern sie auch die Beseitigung informeller sexistischer Normen in Arbeit, Erziehung, Partnerschaft, und Familie umfasst. Annas (1977) diagnostiziert Mill eine verwirrte Vermengung beider Ansätze und kritisiert an Mill, dass er selbst Stereotype weiblicher Eignungen und Charakterzüge reproduziert, etwa hinsichtlich ihrer emotionalen Sensibilität. In dieser Deutung ist Mill nicht in der Lage, die Vielfalt an Formen gesellschaftlicher Repression auszumachen, die maßgeblichen Anteil an der Unterdrückung von Frauen haben. Mill (CW XXI, 305) erklärt in den Passagen, auf die sich dieser Einwand richtet, jedoch ausdrücklich, dass die hier verhandelten Unterschiede – die er oft nur im Konditional als vorübergehendes Zugeständnis an seine Gegenposition annimmt (Burgess-Jackson 1995, 379–380) – durch gesellschaftliche Umstände hervorgebracht werden, ohne dass ein Unterschied in natürlichen Vermögen vorliegen muss. Diese Ausführungen

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sind auch nicht zwingend als peinlich und apologetisch zu deuten. Natürlich erschaudert die aufgeklärte Leserschaft angesichts der Nüchternheit, mit der Mill die Vorzüge und Nachteile von Unterschieden zwischen Männern und Frauen diskutiert, die uns wie Karikaturen anmuten. Die Formbarkeit und Korrumpierbarkeit durch gesellschaftliche Prägung ist elementarer Teil von Mills Argumentation. Daher kann er nicht einerseits behaupten, dass sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen „as they are“ (CW XXI, 302, 334) über Erziehung und Sozialisation erklären lassen, um diese Unterschiede dann zu leugnen. Er kann sie nur erstens als natürliche Unterschiede leugnen, und zweitens verdeutlichen, dass diese in Stereotypen beschriebenen gesellschaftlich erzeugten Unterschiede nur Tendenzen widerspiegeln, also nicht ausnahmslos und nur graduell vorfindlich sind. Beide Einschränkungen holt Mill ein. Die Kritik, die Annas (1977, 184–185) und auch Ring (1985, 39) an Mill vorbringt, ignoriert diesen Unterschied zwischen der Zurückweisung einer vermeintlichen vorgesellschaftlichen weiblichen Natur und dem Zugeständnis faktischer geschlechtsspezifischer Muster gesellschaftlicher Prägung. Letzteren räumt Mill – immer unter der expliziten Prämisse ihrer schwachen empirischen Grundlage und ihrer Zurückführbarkeit auf gesellschaftliche Einflussfaktoren – mutmaßlich viel Raum ein, weil sie in der viktorianischen Gesellschaft weitaus ausgeprägter und daher seiner Leserschaft intuitiv vertrauter sind. Andererseits erzwingt er von seinen Gegnern das Zugeständnis, dass diese Unterschiede erstens Ergebnis des konstanten Drucks eines entstellenden gesellschaftlichen Jochs sind und dass sie zweitens moralisch folgenlos sind. Mills ‚Reproduktion‘ femininer Stereotype erscheint daher in diesem Argumentationskontext weniger problematisch. Burgess-Jackson (1995) und Nussbaum (2010) argumentieren für die Einordnung von Mill als radikalen Feministen, der viele Einsichten fortgeschrittener feministischer Positionen zwar nicht mit in vergleichbaren systematischen und terminologischen Differenzierungen

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entwickelt, aber dennoch dem Gehalt nach erfasst. Insbesondere gilt dies für die Offenlegung der Bedeutung struktureller Machtausübung und der Dominanz der patriarchalen Geschlechtermoral. So hält Nussbaum fest, dass Mill zwar eine weitreichende Diagnose der Problematik der Geschlechterungleichheit stellt, die durchaus zentrale Erkenntnisse feministischer Theorien der Unterjochung der Einzelnen durch die Formation von Bedürfnissen und Einstellungen in Erziehung, durch sozialen Druck, und über die öffentliche Meinung enthält. Gleichzeitig stellt sie fest, dass Mill die Chance vergibt, an dieser Stelle alternative Lebensformen und Experimente zu skizzieren, für die er in On Liberty so eindringlich wirbt. Stattdessen belässt es Mill weitestgehend bei der – wenngleich treffenden – Diagnose der moralischen Verwerflichkeit der Geschlechterordnung sowie ihrer Entstehung und der Mechanismen ihrer Fortschreibung. Obwohl Mill, wie in der obigen Darstellung seiner Positionen gezeigt, eine Reihe von Einsichten feministischer Theoriebildung einholt – insbesondere zur Notwendigkeit der Kritik patriarchaler Ideologien, zur Begrenztheit der Erkenntnismöglichkeiten einer vermeintlich weiblichen Natur, und zur tiefgehenden Prägung sozialer Geschlechterrollen, geht die feministische Philosophie hinsichtlich der systematischen Entwicklung einer umfassenden Terminologie und hinsichtlich der Breite der erforderlichen Mittel zur Eindämmung der sozialen Ungleichstellung von Geschlechtern deutlich über Mill hinaus. Mills Ansatz unterscheidet sich von spezifischen Ansätzen feministischer Philosophie, die eine Fundierung der Moraltheorie in normativen Grundbegriffen wie Freiheit oder Autonomie als problematisch ausweisen, insofern diese eine einseitig maskuline Perspektive auf die Moral zum Ausdruck bringen. Die normativen Forderungen in Subjection stützen sich auf liberale Konzeptionen von Freiheit und Selbstentwicklung, die selbst keiner Kritik aus feministischer Perspektive unterzogen werden. Das Ernstnehmen dieser Werte jedoch führt zu moralischen Forderungen, die sich nicht in der formalen Gleichstellung von

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Männern und Frauen erschöpfen. So fordert Mill darüber hinaus einen Wandel gesellschaftlicher Einstellungen, die Frauen einschränken und benachteiligen. Tatsächlich fehlt Mill mitunter die Vorstellungskraft oder Bereitschaft, Alternativen der Gestaltung der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Familie aufzuzeigen. Okin (2013, 197– 230) diagnostiziert, dass Mill aus seinen normativen Prämissen mit Bezug auf die in Partnerschaft, Sexualität und Familie notwendigen Veränderungen unzureichende Schlussfolgerungen zieht. Zwar findet sich in Subjection ein Ideal von Partnerschaft als gleichberechtigter freundschaftlicher Verbundenheit, das Harriet Taylor und John Stuart Mill womöglich lebten, das aber in gewisser Hinsicht auf ihre Verhältnisse begrenzt bleibt. Mill betont zwar, dass ökonomische Unabhängigkeit unabdingliche Voraussetzung der Möglichkeit gleichberechtigter Partnerschaft ist; seine unkritische Vorstellung (CW XXI, 298) jedoch, dass unter diesen Bedingungen für Frauen eine völlig gleichberechtigte Entscheidung für einen Lebensentwurf der Fürsorge für die Familie gegeben ist, verkennt die Ungerechtigkeiten und Zwänge, die auch in weitestgehend gleichberechtigten Gesellschaften fortbestehen (Okin 2013, 230). Subjection macht in der Folge keine radikalen Vorschläge zur Neuorganisation von Partnerschaft, Erziehung, Sorgearbeit, und Beruf. Auch Partnerschaft außerhalb der gesetzten Heteronormalität liegt nicht in Mills Blickfeld, anders als etwa in Benthams (1978) weitaus progressiveren, weitgehend unveröffentlichten, Beiträgen zur Sexualität. Weniger überraschend ist, dass die Möglichkeit der nichtbinären Konzeptionalisierung von biologischen oder sozialen Geschlechteraskriptionen in Mills Perspektive nicht vorkommt. Obwohl Mill mit Subjection seiner Zeit zweifelsfrei weit voraus ist, zeigen sich hier die Grenzen dessen, was von einem Text dieser Zeit mit einer spezifischen gesellschaftlichen Zielsetzung zu erwarten ist. Wenngleich die Subjection also nicht den Facettenreichtum und Reflexionsgrad gegen-

S. Derpmann

wärtiger Kritiken der sexistischen Ungleichstellung bereithält, bilden seine Analysen und Argumente einen bedeutenden Beitrag zum Arsenal der feministischen Gesellschaftskritik.

Literatur Annas, Julia: Mill and the Subjection of Women. In: Philosophy 52 (1977), 179–194. Bentham, Jeremy: Offences Against One’s Self (hg. von Louis Crompton). In: Journal of Homosexuality 3 (1978), 389–405; 4 (1978) 91–107. Bentham, Jeremy: Plan of Parliamentary Reform, in the Form of a Catechism, with Reasons for Each Article. London 1818. Birnbacher, Dieter: Nachwort. In: John Stuart Mill/Harriet Taylor Mill: Die Unterwerfung der Frauen. Stuttgart 2020. Brecher, Bob: Why Patronize Feminists? A Reply to Stove on Mill. In: Philosophy 68 (1993) 397–400. Brink, David O.: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. Brown, D. G.: Stove’s Reading of Mill. In: Utilitas 10/1 (1998), 122–126. Burgess-Jackson, Keith: John Stuart Mill, Radical Feminist. In: Social Theory and Practice 21 (1995), 369– 396. Derpmann, Simon: Antipaternalismus und Perfektionismus in Mills Axiologie der Selbstentwicklung. In: Douglas Moggach/Nadine Mooren/Michael Quante (Hg.): Perfektionismus der Autonomie. Paderborn 2020, 309–330. Finlayson, Lorna: An Introduction to Feminism. Cambridge 2016. Miller, Dale E.: Harriet Taylor Mill. In: Edward N. Zalta (Hg): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2022 Edition); https://plato.stanford.edu/archives/ fall2022/entries/harriet-mill/ (23.03.2023). Morales, Maria: Rational Freedom in John Stuart Mill’s Feminism. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought: A Bicentennial Reassessment. Cambridge 2007, 43–65 Nussbaum, Martha: Mill’s Feminism: Liberal, Radical and Queer. In: Georgios Varouxakis/Paul Kelly (Hg.): John Stuart Mill – Thought and Influence. London/ New York 2010, 130–145. Okin, Susan: Women in Western Political Thought. Princeton 2013. Ring, Jennifer: Mill’s „The Subjection of Women“: The Methodological Limits of Liberal Feminism. In: The Review of Politics 47 (1985), 27–44. Schmidt-Petri, Christoph: Freiheit, Paternalismus und die Unterwerfung der Frauen. In: Michael Schefczyk/ Thomas Schramme (Hg): John Stuart Mill: Über die Freiheit. Berlin 2015, 159–184.

16  The Subjection of Women (1869) Smith, G. W.: J. S. Mill on What We Don’t Know About Women. In: Utilitas 12/1 (2000), 41–61. Stone, Alison: An Introduction to Feminist Philosophy. Cambridge 2007. Stove, David: The Subjection of John Stuart Mill. In: Philosophy 68 (1993), 5–13.

169 Thiel, Inari: On Stove on Mill. In: Philosophy 69 (1994) 100–101. Waldron, Jeremy: Mill on Liberty and on the Contagious Diseases Act. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought: A Bicentennial Reassessment. Cambridge 2007, 11–42.

A System of Logic (1843)

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Dominique Kuenzle

Entstehung Die zweite Hälfte der 1830er Jahre – Mill war gerade 30 Jahre alt geworden – waren geprägt von seinen Versuchen, als Redaktor der London and Westminster Review den politischen Kampf der progressiven Radikalen zu unterstützen. Wie in anderen Phasen seines Lebens war auch dieses intensive politische Engagement gefolgt von einem temporär desillusionierten Rückzug in die Theorie; Mill hielt es für angemessen, sich nun vorerst für klare Ideen statt für politische Reformen einzusetzen. „Die geistige Erneuerung Europas“, meinte er zu Robert Barclay Fox, „muss der sozialen vorangehen“ (Reeves 2007, 160). Und so machte sich Mill daran, ein Projekt zu beenden, an dem er laut seiner Autobiographie (s. Kap. III.11) schon seit den frühen 1830er Jahren gearbeitet hatte (CW I, 167, 189): die systematische Darstellung der logischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen seiner philosophischen und politischen Positionen.

D. Kuenzle ()  Dozent am Philosophischen Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Kurz vor Weihnachten 1841 war das Manuskript fertig: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, Mills „big book“ (CW XIII, 474). Zu Mills Ärger verzögerte sich dann die Publikation, was aber den Vorteil hatte, dass Alexander Bain, den Mill 1841 kennengelernt hatte, das Manuskript lesen und an vielen Stellen Anregungen für Verbesserungen geben konnte (Reeves 2007, 162–163). Nach der Publikation im März 1843 zeigte sich Mill stolz auf sein Werk, das sich prompt zu einem unerwarteten Verkaufserfolg entwickelte und bis zu seinem Tod acht Auflagen erlebte. „How the book came to have […] so much success and what sort of persons compose the bulk of those who have bought, […], I have never thoroughly understood“, schreibt ein verblüffter Mill in seiner Autobiographie (CW I, 231). Das konnte offensichtlich auch Harriet Taylor nicht, die das Werk „so very dry a book“ fand (Reeves 2007, 163). Ungeachtet dessen ist kaum zu überschätzen, wie stark das Werk den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskurs Großbritanniens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte. Zweifellos leistete das System of Logic einen bedeutenden Beitrag zur heutigen Prominenz empiristischer Grundhaltungen und Ideen im angelsächsischen Raum, sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Philosophie (s. Kap. VI.42).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_17

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Inhaltsübersicht und Ziele Das System of Logic ist ein riesiges Werk, das in den in der heutigen Mill-Forschung als Standard verwendeten Collected Works of John Stuart Mill zwei Bände (CW VII und VIII) und fast 1000 Seiten füllt. Es besteht aus sechs Büchern, die in dieser Reihenfolge, I) sprachphilosophische Fragen des sprachlichen Bezugs und des Wahrheitsanspruchs von Aussagen, II) logisches Schließen (Deduktion), III) induktives Schließen und kausale Erklärungen, IV) Abstraktion und Klassifikation, V) Fehlschlüsse und VI) wissenschaftstheoretische Fragen der Sozialwissenschaften und der Philosophie thematisieren. Das System of Logic ist trotz seines Buchtitels nicht in erster Linie eine Logik, sondern eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie mit direkter ethischer und politischer Relevanz. Das ganze Werk ist eine Darstellung und Verteidigung einer systematisch ausgearbeiteten naturalistischen und radikal empiristischen Position, die verschiedenen Formen von ‚Intuitionismus‘ (s. Kap. II.9) gegenübergestellt wurde. Vereinfacht gesagt zeigt Mill, dass alles, was wir zu wissen beanspruchen, und was dann die Grundlage für ethisches und politisches Handeln bildet, empirisch und logisch gerechtfertigt werden kann und muss. ‚Intuitionen‘, ‚angeborene Wahrheiten‘, ‚Wissen a priori‘, also Dinge, die wir einfach so zu wissen glauben, vielleicht weil wir uns einfach nicht vorstellen können, dass sie falsch sind, vielleicht weil sie uns Gott mit auf den Weg gegeben hat, sind ungültig und wertlos. 1854 schrieb Mill an seinen deutschen Freund Theodor Gomperz: „[T]he regeneration so urgently required, of man and society […] can never be effected under the influence of a philosophy which makes opinions their own proof, and feelings their own justification“ (CW XIV, 239). Ähnlich wie heutige Bestrebungen um ‚evidenzbasierte‘ Medizin, Bildung und Politik versucht Mill damit, Dogmatismus, Aberglauben, diversen Versionen von Sein-SollenFehlschlüssen und epistemisch konservativem Denken das Wasser abzugraben und den Boden

D. Kuenzle

für evidenzbasierte, rationale Reformen zu bereiten. Das tut er, indem er eine umfassende ‚Logik‘ liefert – eine deskriptive und normative Theorie aller relevanten Aspekte unserer epistemischen Praxis, mit dem zentralen Ergebnis, dass a priori gerechtfertigte, selbstevidente ‚Intuitionen‘ weder epistemisch zu rechtfertigen noch nötig sind für die Rechtfertigung oder Erklärung irgendwelcher relevanter Aspekte unserer epistemischen Praxis.

Vorwort und Einleitung Das Werk beginnt mit einem Vorwort, dessen Substanz in den acht Auflagen, über die Mill die Kontrolle hatte, beibehalten wurde. Bereits die ersten Sätze weisen ohne Umschweife darauf hin, dass die Logic primär mit dem Anspruch auftritt, aus relevanten Disziplinen die Theorien und Begriffe zusammenzutragen und systematisch darzustellen, die benötigt werden, um explizit zu machen, was wir tun, wenn wir die Wahrheit über uns und die Welt ermitteln. Die Originalität des Werkes, wie Mill sie ankündigt, besteht einzig darin, relevante Aspekte unserer Erkenntnisprozesse zu systematisieren (CW VII, cxi). Dieser weit über ein engeres, auch heute verbreitetes Verständnis der Logik als einer philosophischen und mathematischen Disziplin hinausgehende Anspruch des Werks wird in der Einleitung in der Form einer Explikation von ‚Logik‘ festgehalten: „Logic“, schreibt Mill im letzten Absatz der Einleitung, „is the science of the operations of the understanding which are subservient to the estimation of evidence: both the process itself of advancing from known truths to unknown, and all other intellectual operations in so far as auxiliary to this“ (CW VII, 12). So hat das System of Logic sowohl den deskriptiven Anspruch, epistemisch signifikante Prozesse zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären; andererseits liefert das Werk normative Regeln und Werte, mit deren Hilfe wir unsere epistemische Praxis verbessern und epistemisches Fehlverhalten minimieren können.

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Buch I: Von Namen und Propositionen Das erste Buch des System of Logic liefert eine erkenntnistheoretisch motivierte und kontextualisierte sprachphilosophische Position: Wenn wir etwas beobachten, aufgrund einer solchen Beobachtung zu einer Überzeugung kommen oder von einer solchen Überzeugung auf eine andere schließen, so hantieren wir mit sprachlichen Sätzen, die aus Wörtern bestehen. Wir können nicht gute von schlechten Schlüssen unterscheiden, solange wir nicht wissen, wie die Wortwahl und -anordnung die Wahrheitsbedingungen und das Schlusspotenzial von Sätzen beeinflusst. Mill nennt die grundlegenden Einheiten seiner Sprachphilosophie ‚Propositionen‘ und meint damit nicht, wie heute üblich, den semantischen Gehalt ganzer Aussagesätze, sondern semantisch gehaltvolle Aussagen selbst. Propositionen schreiben jeweils ein Prädikat einem Subjekt zu oder ab (CW VII, 21). Sowohl das Subjekt als auch das Prädikat sind Namen, weil sie verwendet werden können, um Dinge zu benennen; ‚von‘ und ‚nicht‘ sind deshalb keine Namen (CW VII, 25). Namen funktionieren nach dem Modell von Eigennamen. Singuläre Namen ‚denotieren‘ einzelne reale oder imaginäre Gegenstände, allgemeine ‚denotieren‘ mehrere reale oder imaginäre Gegenstände (CW VII, 27). Allerdings erschöpft sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke für Mill keineswegs in ihrer Denotation; viele Namen konnotieren, indem sie zu einem Attribut (z. B. einer Eigenschaft) in Beziehung stehen (CW VII, 31). Die Bedeutung von Sätzen mit konnotativen Namen wie ‚rot‘ geht deshalb über das durch die Denotation festgelegte rein mengentheoretische Verhältnis hinaus, was insbesondere für die Semantik universaler Propositionen relevant ist (CW VII, 93; Kuenzle/Schefczyk 2009, 68–71). Diese, so Mill, behaupten die Relation der „konstanten Begleitung“ zwischen Attributen (CW VII, 97 f.) und funktionieren deshalb als ein Memorandum für Schlüsse: Wenn ich weiß, dass alle Menschen sterblich sind, so verfüge ich über ein ‚Memorandum‘ oder ‚Schlussticket‘, das es mir erlaubt, von Propositionen der Form ‚x ist ein Mensch‘ auf solche der Form ‚x ist sterblich‘ zu schließen.

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Gesetzesartige universale Propositionen, die Memoranda für kontrafaktisch robuste Schlüsse abgeben, sind dann von zentraler Bedeutung für Mills Auffassung der Induktion (Buch III). Ebenfalls von besonderer wissenschaftstheoretischer Bedeutung sind jene allgemeinen konnotativen Namen, die „eine echte Existenz in der Natur“ haben (CW VII, 122): natürliche Arten („natural kinds“) wie ‚Säure‘ oder ‚Fisch‘, von Mill noch „real kinds“ oder einfach groß geschriebene „Kinds“ genannt. Sie unterscheiden sich von „kriterialen“ Namen wie ‚rot‘, deren Bedeutung Kriterien für die korrekte Verwendung liefert (Skorupski 1989, 57 f.), weil ihre Konnotation nicht wie bei ‚rot‘ in ihren Zugehörigkeitskriterien liegt, sondern die jeweils konstitutiven Attribute gar nicht bekannt sind. Wir können kompetent von Fischen sprechen, selbst wenn es sich herausstellen könnte, dass viele Tiere, die wir heute ‚Fische‘ nennen, eigentlich gar keine sind. Damit Gegenstände eine natürliche Art bilden, dürfen sie nicht nur die kriterialen Attribute gemeinsam haben, sondern müssen darüber hinaus unbestimmt viele zusätzliche Gemeinsamkeiten haben, die nicht direkt kausal von den kriterialen Attributen abhängig sind (CW VII, 122). Eine Anforderung vorwegnehmend, die später insbesondere W. v. O. Quine zum Zentrum seiner Auffassung machte, gründen natürliche Arten zudem auf Ähnlichkeits- oder Gleichheitsbeziehungen, die sich in besonderer Weise für induktive Schlüsse eignen (Quine 1969; vgl. Mills Darstellung der Induktion im 3. Buch des System of Logic).

Buch II: Vom deduktiven Denken (reasoning) Auch das zweite Buch der Logic identifiziert und diskutiert sein Thema strikt im Kontext der übergeordneten epistemischen Ziele des Werks: Deduktive Schlüsse, wie Mill sie im Rahmen der syllogistischen Tradition diskutiert, sind epistemisch relevant, insofern sie dazu beitragen, unser nichtdeduktiv gewonnenes Wissen auf Implikationen zu überprüfen und konsistent zu halten. Mill nennt diese Art von Überlegen

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oder Denken „reasoning“ oder „ratiocination“ und folgt einer Tradition, die von Thomas von Aquin bis zu Richard Whatelys Elements of Logic führt, indem er Logik als die normative Kunst („art“) und deskriptive Wissenschaft („science“) von „reasoning“ sieht. Fruchtbare deduktive Schlüsse, wie sie in der Form von Syllogismen auftreten, sind dabei von „bloß scheinbaren Schlüssen“ wie dem Repetitionsschluss oder dem Schluss von einer Konjunktion auf eine ihrer (mit ‚und‘ verknüpften) Propositionen zu unterscheiden, was für Mill keine echte „ratiocination“ darstellt, weil die scheinbare Konklusion bereits in der Prämisse mitbehauptet sei (CW VII, 168–172). Während das von Syllogismen nicht auf plausible Weise diagnostiziert werden kann, war sich Mill aber dennoch bewusst, dass auch diese unser Wissen nicht erweitern können: „Wie Wasser nie höher steigen kann als bis zum Niveau seiner ersten Quelle, so kann Wissen, das von Aristoteles abgeleitet ist, nie höher steigen als bis zu Aristoteles’ Wissen“, hatte bereits Francis Bacon geschrieben (Godden 2014). Mill sieht das „große Paradox“, wie wir neue Wahrheiten entdecken können, indem wir deduktiv schließen (CW I, 189), als zentrale Herausforderung seiner Behandlung der Logik im zweiten Buch des System of Logic. Seine Lösung besteht darin, die Diagnose zu akzeptieren, dass Syllogismen unser Wissen nie erweitern können, und ihnen eine alternative epistemische Funktion zuzuweisen: Der epistemische Nutzen von Syllogismen besteht darin, dass sie die im Rahmen der induktiven Praxis zentralen universalen Propositionen in ihrer Funktion als Regeln oder Memoranda auf Schlüsse anwenden und damit überprüfen. So kann Mill mit einem berühmt gewordenen Slogan festhalten, „All Inference is from particulars to particulars“ (CW VII, 186, Überschrift 2.3.3), ohne die epistemisch zentrale Funktion der Deduktion zu leugnen: Wir schließen von der (partikulären) Tatsache, dass Sokrates ein Mensch ist (Prämisse „minor“), auf die (partikuläre) Tatsache, dass er sterblich sei (Konklusion), und verwenden dabei ein induktiv gestütztes Memorandum (Prämisse „maior“), das

D. Kuenzle

uns daran erinnert, dass der Schluss von Gegenständen mit dem Attribut der Menschlichkeit auf solche mit dem Attribut der Sterblichkeit legitim ist. Die universale Prämisse als Memorandum hat dabei nicht zuletzt die Funktion, Nachlässigkeit und kognitive Verzerrungen zu vermeiden (CW VII, 196–197). Deduktive Logik ist der Aspekt unserer epistemischen Praxis, der Zuverlässigkeit und Konsistenz maximiert (CW VII, 208). Eine wichtige Konsequenz von Mills Auffassung von Deduktion und der Semantik gesetzesartiger universalen Propositionen ist Mills „Ultra-Empirismus“ (Skorupski 1989, 171): Mill sieht logische, mathematische und geometrische Wahrheiten als empirisch gerechtfertigt. So kann Philip Kitcher seinen Aufsatz „Arithmetic for the Millian“ mit den Worten beginnen: „John Stuart Mill is probably the most famous champion of the thesis that mathematical knowledge is empirical“ (Kitcher 1980, 215). Mills radikaler Empirismus in der Logic gründet darauf, dass für ihn nicht nur die „Prämissen maior“ von Syllogismen (z. B. die Proposition, dass alle Menschen sterblich sind), letztlich Verallgemeinerungen von beobachtbaren partikulären Propositionen, sondern auch die Gesetze und Prinzipien des deduktiven Schließens selbst. Der Satz des Widerspruchs, so Mill, sei „one of our first and most familiar generalizations from experience“ (CW VII, 277). Geometrische Definitionen wie diejenigen Euklids wiederum seien nicht absolut, sondern nur „hypothetisch“ wahr, weil sie von der Wirklichkeit abstrahierten (CW VII, Abschn. 2.5.2). Euklids Axiome hingegen, die mithilfe der so definierten Namen formuliert sind, sind dann aber wiederum wahr, weil sie Verallgemeinerungen unserer Sinneserfahrung darstellen (CW VII, Abschn. 2.5.4). Sie funktionieren ähnlich wie universale Propositionen in der Syllogistik. Aus denselben Gründen sind auch mathematische Sätze empirisch gehaltvoll und a posteriori: Zahlwörter sind konnotative Namen, die Mengen oder „Aggregate“ von Dingen denotieren und physische Eigenschaften konnotieren: „[The number] Two, for instance, denotes all pairs of things, and twelve all dozens of

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things, connoting what makes them pairs, or dozens; and that which makes them so is some­ thing physical; since it cannot be denied that two apples are physically distinguishable from three apples“ (CW VII, 610). Arithmetische Sätze machen dieser Auffassung gemäss Aussagen über das Verhalten solcher Aggregate.

Buch III: Von der Induktion Während deduktives Schließen („reasoning“, „ratiocination“) vor allem die Funktion hat, die Zuverlässigkeit und Konsistenz unserer epistemischen Praxis zu maximieren, erweitern induktive Schlüsse, wie sie seit Francis Bacon diskutiert wurden, unser Wissen. Das dritte Buch des System of Logic, das die Induktion klärt, bildet das Zentrum von Mills Wissenschaftstheorie und zweifellos den wichtigsten und philosophiegeschichtlich einflussreichsten Aspekt von Mills theoretischer Philosophie. Im Kontext von Mills ‚Ultra-Empirismus‘ ist die Signifikanz dieses Teils des Systems nicht zu übersehen: Wenn es Mill gelingt, aufzuzeigen, wie universale gesetzesartige Propositionen, logische, mathematische, geometrische und kausale Wahrheiten auf der Basis der Induktion gerechtfertigt sein können, so lässt er, metaphorisch gesprochen, dem Intuitionismus, der ganzen von Kant inspirierten Auffassung von transzendental gewonnenen a priori gerechtfertigten Wahrheiten (und damit auch politisch und/oder religiös motivierten Verzerrungen davon) die Luft ab. Und das ist ja sein übergeordnetes Ziel. Mill formuliert keine explizite Definition eines induktiven Schlusses, aber anhand der vorhandenen Charakterisierungen und seiner Identifikation typischer Instanzen lässt sich schließen, dass er vor allem die enumerative Induktion meint: Wir kennen eine endliche Anzahl von Phänomenen oder Dingen einer Art A, denen alle ein Attribut B zukommt, und schließen daraus, dass alle A B seien (CW VII, 313). Schlüsse dieser Art können grundsätzlich gerechtfertigt sein, so Mill kontra Hume, weil wir sie immer im Rahmen einer existierenden epis-

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temischen Praxis ziehen: Logik und Erkenntnistheorie als beschreibende Wissenschaften (Mill: „sciences“) schaffen in Kombination mit Wissenschaftsgeschichte den Boden für die normative Beurteilung, Rechtfertigung, kritische Methodendiskussion (von Mill „arts“ genannt). Gleichförmigkeitssätze wie die von David Hume geforderten sind für Mill das Resultat höherstufiger Induktionen oder, wie es später Frank Ramsey (1931) anerkennend als Mills Pragmatismus hervorgehoben hat, „Induktionen über Induktionen“ (CW VII, 307). Dabei arbeitet Mill Kausalität heraus als diejenigen Regelmäßigkeiten in der Natur, welche die zuverlässigsten enumerativen Induktionen ermöglichen. Der Schluss von beobachteten Instanzen der Art A, denen Attribut B zukommt, auf die universalen Proposition, alle A seien B, ist insbesondere dann zuverlässig, wenn das Attribut B kausal von Faktoren abhängt, die alle A gemeinsam haben. Der Begriff der Ursache, so Mill, ist „die Wurzel der gesamten Theorie der Induktion“ (CW VII, 326). Und in Bezug auf Mills Diskussion von natürlichen Arten in Buch I wird jetzt die epistemisch ausgezeichnete Rolle natürlicher Arten deutlich: Gerade weil Namen natürlicher Arten die kausale Basis unbestimmt vieler Eigenschaften konnotieren, sind natürliche Arten darauf zugeschnitten, induktiv die kausalen Zusammenhänge, in die natürliche Arten eingebettet sind, zu ermitteln. Da Mill Kausalität als eine kontrafaktisch robuste Schlussrelation analysiert, muss er die Relata (die ‚Ursache‘ und die ‚Wirkung‘) als Ereignis- oder Bedingungs-Typen auffassen – sonst würden Wirkungen nicht invariabel auf Ursachen folgen. Streng genommen gilt dann die Gesamtheit der Bedingungen als ‚Ursache‘, was erklärt, warum Mill kausale Beziehungen in etwas ungewohnter Weise „unbedingt“ nennt, anstelle einer aus heutiger Sicht näher liegenden Charakterisierung in modalen Begriffen (CW VII, 338). ‚Unbedingt‘ bedeutet hier aber einfach, dass etwa nicht nur das Reiben eines trockenen Streichholzes an einer geeigneten Reibefläche die Ursache seiner Entflammung ist, sondern auch die Präsenz von Sauerstoff und die

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Abwesenheit eines starken elektromagnetischen Feldes. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zur Induktion und Kausalität, und nach einigen Überlegungen zu Beobachtung und Experiment (CW VII, Abschn. 3.7) beschreibt dann Mill diejenigen „Methoden der experimentellen Forschung“ (CW VII, Abschn. 3.8), die bis heute unter seinem Namen bekannt geblieben sind (s. Kap. VI.42): Je nach Zählung vier oder fünf ampliative (‚induktive‘, aber nicht enumerative) Schlussformen, welche die Identifikation kausaler, d. h. invariabler und unbedingter (notwendiger) Beziehungen erlauben. 1) Die „Methode der Übereinstimmung“ („method of agreement“) besteht darin, einen Wirkungstyp auf die Umstände seiner Produktion hin zu untersuchen mit dem Ziel, einen in allen diesen Umständen gemeinsamen Faktor (= Ursache) zu finden (CW VII, 389). Während diese Methode im Alltag zweifellos stark verbreitet ist, ist ihre wissenschaftliche Zuverlässigkeit dadurch beeinträchtigt, dass es jeweils möglich ist, dass die identifizierte Gemeinsamkeit nicht die einzige ist – wir hätten dann zwar invariable Bedingungen, aber nicht die Ursache gefunden (CW VII, 390, 394). 2) Die „Methode der Differenz“ („method of difference“) geht davon aus, dass etwas eine Ursache eines Phänomens sein muss, wenn ein Szenario, in dem das Phänomen (als Wirkung) eintritt, sich nur in diesem einen Aspekt von einem Szenario unterscheidet, in dem die Wirkung ausbleibt. Mill kategorisiert diese Methode zusammen mit der Methode der Übereinstimmung als „eliminativ“. Die „Kombinierte Methode von Übereinstimmung und Differenz“, die Mill ebenfalls eingehend diskutiert, wird manchmal ergänzend zu den vier Hauptmethoden dazugezählt; aus diesem Grund ist auch oft die Rede von Mills fünf Methoden. Haben wir mithilfe von Beobachtung oder Experiment sowie den beiden besprochenen Methoden bereits bestimmte Ursachen und Wirkungen identifiziert, dann können wir auf kausale Relationen zwischen den verbleibenden Umständen und Wirkungen schließen. Mill nennt dies 3) die „Methode des Übrigbleibenden“

D. Kuenzle

(„method of residues“; CW VII, 397). Und falls es Faktoren gibt, die nicht experimentell oder mit geeigneten Methoden ausgeschlossen werden können, so bleiben immer noch Korrelationen – 4) Mills „Methode der Kovariation“ („method of concomitant variations“). Mills vier (oder je nach Zählung fünf) nichtdeduktive („eliminativ induktive“) Methoden werden insbesondere im Kontext von Critical Thinking-Kursen und Wissenschaftstheorie bis heute als praktisch anwendbare Formen des kausalen Schließens gelehrt (vgl. z. B. Copi/ Cohen/McMahon 2016, Kap. 12; Baronett 2018, Kap. 14). Zudem generierten Mills Methoden eine lange Tradition von fruchtbaren Kommentaren, Kritiken und Verbesserungen. So adaptierte etwa John Mackie (1974, 298) Mills Methoden, indem er zeigte, wie sie als deduktive Schlüsse dargestellt werden können. Dabei zeigt sich, dass die Formulierung der Voraussetzungen in den Prämissen zwar ein fehleranfälliges Unternehmen sein mag, dass die gängige Kritik daran aber nicht Mills eliminativ-induktive Methodik an sich trifft. Ducheyne (2008) liefert eine wichtige kritische Diskussion der epistemischen Ansprüche von Mills Methode.

Buch IV: Von untergeordneten Aspekten der Induktion Das vierte Buch des System of Logic arbeitet eine wichtige Voraussetzung der induktiven Methode heraus, der wir schon bei unserer Diskussion natürlicher Arten begegnet sind: Damit wir induktiv schließen können, benötigen wir Ähnlichkeitsklassen von Beobachtungen, wofür wir wiederum allgemeine Begriffe benötigen (CW VIII, 647; Mill spricht in Anlehnung an Whewell von „Konzeptionen“). Diese Begriffe werden empirisch durch Vergleichen und Abstrahieren von Wahrnehmungen gebildet und an zwei epistemischen Adäquatheitskriterien gemessen: Wissenschaftliche Begriffe müssen a) angemessen und b) klar sein. Angemessene Begriffe a) sind induktiv fruchtbar. Wir können zwar den Begriff eines roten Lebewesens bilden, aber dieser Begriff

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(bzw. die Ähnlichkeitsklasse, die von ihm erfasst ist) ist in Hinsicht auf seine epistemische (induktive) Fruchtbarkeit nicht angemessen in der Art, wie es der Begriff eines Rotfuchses ist (CW VIII, 656, 660; Kuenzle 2018, 207–208). Diese Angemessenheit unserer Begriffe steigert sich im Verlauf unserer Forschung; idealerweise entwickeln wir mit der Zeit allgemeine Namen für natürliche Arten. Neben der Angemessenheit der Begriffe formuliert Mill deren Klarheit b) als zweites Adäquatheitskriterium: Wissenschaftliche allgemeine Namen müssen genaue Konnotationen haben, die mit Hilfe von Definitionen formuliert werden (CW VIII, 668). Dies kann auf zwei Weisen geschehen: Wir können erstens neue Terminologie einführen und stipulativ definieren; oder wir können Alltagsbegriffe mit dem Ziel angemessenerer und genauerer Konnotation „explizieren“, wie Mill das in Anlehnung an Whewell nennt (CW VIII, 672). Diese „Explikation“ ist nah verwandt mit der gleichnamigen, später von Rudolf Carnap definierten Methode (1962, §§ 2–3). Obwohl die Kriterien für wissenschaftliche Terminologie strikt epistemisch und wissenschaftlich sind, mahnt Mill auffallend dringlich zu Vorsicht im Umgang mit dem existierenden Sprachgebrauch, der lebendigen Sprache. Ein technokratischer, rücksichtslos wissenschaftlicher Umgang mit unserer Sprache, der nicht mindestens immer versucht, die Begriffsgeschichte zu berücksichtigen (CW VIII, Kap. IV.5) hätte, so Mill, „böse Konsequenzen“ (CW VIII, 679). In ihrem Bedeutungsspektrum bewahren unsere Ausdrücke ihre und unsere Geschichte; wichtige Erfahrungen und Wissen aus der Vergangenheit, die uns oft nicht bewusst sind, die wir aber mit ein wenig „aktiver Vorstellungskraft“ wieder zu aktivieren vermögen – wobei es nicht reicht, wenn wir einfach solche Konnotationen als Redensarten oder Slogans memorieren oder aussprechen, denn dann besteht die Gefahr, dass aus „lebendiger Bedeutung“ ein „lebloses Dogma“ wird (CW VIII, 680–681; vgl. die später berühmt gewordenen Argumente Mills für die Meinungsäußerungsfreiheit (s. Kap. V.33).

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Verfügen wir über angemessene und klare allgemeine Namen, können wir uns Gedanken über mögliche Klassifikationssysteme machen (CW VIII, Kap. IV.7). Auch hier sind die Kriterien sowohl epistemisch als auch praktisch; es ist nichts gegen eine Gärtnerin zu sagen, die ihre Pflanzen in die Kategorien „Gartenpflanzen“ und „Unkraut“ einteilt, und „Wale sind Fische oder nicht, je nach dem Zweck“ der Klassifikation (CW VIII, 716). Natürlich interessieren Mill dann von allen Klassifikationen wieder primär „natürliche Gruppen“, deren Zugehörigkeitskriterien rein wissenschaftlich sind und sich an natürlichen Arten orientieren (CW VIII, 718– 723).

Buch V: Von Fehlschlüssen Konsistent mit Mills Verwendung des Begriffs der Logik deckt nun auch der Ausdruck „fallacy“ im zweiten Kapitel des fünften Buchs ein weit größeres Spektrum ab als es eine Übersetzung wie etwa „Fehlschluss“ erwarten ließe: Es geht ihm in diesem Kapitel um sämtliche systematische Kategorien von Fehlern und Irrtümern, die unsere epistemischen Aktivitäten beeinträchtigen können (CW VIII, Kap. V.2). Wir können die so verwendeten „fallacies“ deshalb vielleicht allgemein als „epistemische Fehler“ übersetzen. Mill unterscheidet fünf Arten epistemischer Fehler und organisiert dieses fünfte Buch des System of Logic anhand dieser fünf Fehlertypen: Kapitel V.2 widmet sich den „Fehlern a priori“; die folgenden beiden Kapitel drehen sich um Fehler der Induktion, nämlich „Fehlern der Beobachtung“ (V.3) und „Fehler der Verallgemeinerung“ (V.4). Nach einem kurzen Kapitel zu den Fehlern der Deduktion (V.5) schließt das Buch mit „Fehlern der Konfusion“ (V.6). 1. „Fehler a priori“: Wenn wir fälschlicherweise davon ausgehen, dass etwas wahr sei, weil es uns intuitiv als evident erscheine, so begehen wir einen „Fehler a priori“ (CW VIII, 746). Obwohl Mill klarstellt, dass solchen „Wahrheiten“ im philosophiegeschichtlichen Kontext von Ver-

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suchen, infinite Regresse von Begründungen zu stoppen, wichtige epistemische und metaphysische Funktionen zugeschrieben wurden, diskutiert er an dieser Stelle weniger voraussetzungsreiche, aber seiner Ansicht nach eng verwandte Phänomene: Wie die kontinentalen Rationalisten würden auch abergläubische Menschen intuitive Wahrheiten über die Welt akzeptieren, ohne zu merken, dass sie dabei unzulässige Voraussetzungen zum Verhältnis des Geistes und der Welt machen würden: etwa, dass die Struktur der objektiven Welt identisch sei mit der Struktur unseres Geistes (CW VIII, 748), oder dass von unserem (Un-)Vermögen, uns etwas vorzustellen, folge, dass etwas (un-)möglich sei (CW VIII, 751). 2. „Fehler der Beobachtung“: Die erste Unterkategorie der „Fehler der Beobachtung“, die sogenannten „Fehler der Nicht-Beobachtung“ („non-observation“), ist dadurch konstituiert, dass wir Tatsachen oder Daten in unzulässiger Weise ignorieren oder vernachlässigen. Die zweite Kategorie, die „Fehler der falschen Beobachtung“ („mal-observation“), deckt Fälle ab, in denen wir etwas fälschlicherweise wahrzunehmen glauben, auf das wir aber tatsächlich geschlossen haben (CW VIII, 782). Neben vorgefassten Meinungen, die Mill als wichtigste Ursache beider Arten von Fehlern sieht, diagnostiziert er (wie schon Francis Bacon vor ihm) Phänomene, die heute als „kognitive Verzerrungen“ sozialwissenschaftlich erfasst und empirisch belegt sind. 3. „Fehler der Verallgemeinerung“: Die größte und heterogenste Kategorie epistemischer Fehler umfasst alle systematischen Verstöße gegen die Regeln und Überlegungen induktiver Forschung, die Mill in den bisherigen Büchern des System of Logic dargestellt hat (CW VIII, 785). Explizit diskutiert werden in diesem Kapitel Schlüsse auf der Grundlage unzureichender Daten, wissenschaftliche Reduktionen mit qualitativ unterschiedlichen Relata (Mill verneint vehement die Möglichkeit einer reduktiven Erklärung von Farbwahrnehmung auf neurologische Prozesse; CW VIII, 787), falsche Analogien und die Notwendigkeit von eliminativen Methoden und kausalen Erklärungen an-

D. Kuenzle

stelle von bloß „aufzählender Induktion“ (CW VIII, 789). 4. „Fehler der Deduktion“: Da er auf eine lange Logiktradition sowie die wohlbekannten Elements of Logic (1826) Richard Whatelys verweisen kann, widmet Mill den deduktiven Fehlschlüssen (u. a. Fehlschlüsse des Bejahens des Nachsatzes und Verneinens des Vordersatzes; Modifikationen von Prämissen im Verlauf von komplexen Argumentationen) nur wenige Seiten (CW VIII, 803–808). 5. „Fehler der Konfusion“: Sowohl in induktiven wie auch in deduktiven Schlüssen ist syntaktische und begriffliche Mehrdeutigkeit eine verbreitete Fehlerquelle. Mill sieht solche Ambiguität einerseits als Quelle von sozial folgenreichem Fehlglauben wie die zu seiner Zeit offenbar verbreitete Überzeugung, starke alkoholische Drinks würden uns stärken (CW VIII, 810), aber auch so eminenten philosophischen Positionen wie Platons Ideenlehre, Aristoteles’ Unterscheidung von Form und Materie und Berkeleys Idealismus, denen er allen ein fehlendes Bewusstsein für die Ambiguität von „gleich“ („same“) unterstellt (CW VIII, 815–816). Im Anschluss an diese kontroversen Diagnosen schließt Mill dieses fünfte Buch des System of Logic ab, indem er mit Bezug auf Whately die Argumentfehler der Petitio Principii und Ignoratio Elenchii bespricht (CW VIII, 819–830).

Buch VI: Von der Logik der moralischen Wissenschaften Das letzte Buch des System of Logic diskutiert die Ansprüche und Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese bauen in ihren Ansprüchen und Methoden direkt auf die bereits diskutierten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen: Sie sind, konsistent mit dem ganzen Werk, radikal empiristisch gerechtfertigt und beschreiben und erklären menschliches Verhalten als zwar komplexe, aber letztlich dennoch in die kausale Ordnung der Natur eingebettete Phänomene. Die Grundlage für dieses Unterfangen bietet die assoziationistische Psychologie, wie sie

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unter anderem Mills Vater James Mill in seinem einflussreichen Werk Analysis of the Phenomena of the Human Mind herausgearbeitet hatte (Kuenzle 2018). Mill war jung, als die erste Auflage dieses Werks erschien (Bd. I 1822, Bd. II 1829), aber vierzig Jahre später gab Mill selbst 1869 eine zweite Auflage heraus, die er gemeinsam mit seinem Freund Alexander Bain überarbeitete und mit vielen Kommentaren versah (CW XXXI, 93–253). Im Wesentlichen besteht der erklärende Ansatz der assoziationistischen Psychologie darin, dass eine Handvoll von ‚Assoziationsgesetzen‘ wenige Kategorien mentaler Phänomene miteinander und mit Stimuli und Reaktionen verbinden. Mill lässt dabei die Frage offen, ob die mentalen Phänomene selbst kausal aufeinander wirken oder ob die eigentlich kausale Interaktion auf der Ebene zugrunde liegender neuronaler Ereignisse stattfindet (CW VIII, 849–851). Unter kontrollierten Bedingungen lassen sich diese Gesetze zwar in gewohnter Manier durch Beobachtung, Experiment, geeigneter Begriffsbildung und induktiver Methode ermitteln, aber aufgrund der enormen Zahl und Variabilität der Faktoren, die Menschen voneinander unterscheiden, reichen die Assoziationsgesetze nicht aus, um menschliches Handeln außerhalb kontrollierter experimenteller Bedingungen vorauszusagen. Um allgemeine Aussagen und/oder Vorhersagen zum Verhalten von (Gruppen von) Menschen epistemisch zu stützen, benötigen wir deshalb eine wissenschaftliche Disziplin, welche die Brücke schlägt zwischen der Assoziationspsychologie und dem Anspruch, induktiv fruchtbare allgemeine Aussagen über das Verhalten von Menschen zu machen. Diese hat, wiederum gemäß gewohnter Methodologie, die Aufgabe, induktiv fruchtbare menschliche Dispositionen zu identifizieren sowie deren Erwerb und Manifestation zu beobachten und mittels empirischer Gesetze zu verknüpfen. Mill nennt das Bündel von Dispositionen (zu denken, zu fühlen, zu handeln) den „Charakter“ eines Menschen und die Wissenschaft vom Charakter „Ethologie“ (gr. ethos = Charakter; CW VIII, 869). Zwar ist die Ethologie grundsätzlich eine deduktive Wissenschaft, weil ihre Ge-

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setze aus den Assoziationsgesetzen folgen, aber aufgrund der Vielfalt an kausal relevanten Faktoren bleiben ethologische Gesetze dennoch nur „tendenziell“; ihre Gültigkeit bleibt „ceteris paribus“, d. h. eingeschränkt auf „normale“ oder erwartbare Umstände (CW VIII, 870). Obwohl Mills Zugang zu Erklärungen sozialer Phänomene insofern grundsätzlich individualistisch ist, dass der Beitrag der darin involvierten Individuen ethologisch untersucht wird, wird dieser deduktive Anspruch in der Praxis ergänzt mit historisch-induktiver Beobachtung und Verallgemeinerung – ein methodologisches Eingeständnis, das Mill vom französischen Soziologen Auguste Comte übernimmt (s. Kap. II.4). So kann etwa die politische Ökonomie fruchtbare Erklärungsleistungen bringen, indem sie den Grundsatz anwendet, Menschen würden nach Gewinn streben (CW VIII, 901), solange wir uns bewusst sind, dass die relevanten Gesetze nur tendenzielle Gültigkeit haben und durch andere Faktoren außer Kraft gesetzt werden können. In diesem Zusammenhang widmet Mill nun dem Problem der Willensfreiheit ein Kapitel, das er später als das beste des gesamten Werks bezeichnen wird. Die drohende Inkompatibilität zwischen der kausalen Determiniertheit unseres Verhaltens (CW VIII, 836; CW VII, 346 f.) und der grundlegenden Freiheit der Menschen war für Mill nicht nur ein akademisches Problem, sondern hat ihn auch persönlich belastet: „I pondered painfully on the subject“ (CW I, 177). Um dieses Problem zu lösen, diagnostiziert Mill zunächst eine irreführende Assoziation des Begriffs der Notwendigkeit – also das, was er im fünften Buch einen „Fehler der Konfusion“ nannte. Dieser wird behoben, indem die „Notwendigkeitsdoktrin“ neu „Kausalitätsdoktrin“ genannt wird, was wir ungefähr als die These des kausalen Determinismus verstehen können. Diese, so Mill, ist korrekt, aber sie impliziert, entgegen der oft impliziten Positionen der meisten Deterministen seiner Zeit (CW VIII, 836), keinesfalls Vorbestimmtheit oder Fatalismus. Gemäß der Analyse der Kausalität im dritten Buch bestimmt zwar die Gesamtheit der Bedingungen, zu der auch der Charakter der han-

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delnden Person gehört, die folgende Handlung notwendigerweise – aber wir können unseren eigenen Charakter formen. In diesem Potenzial, nicht nur unseren Wünschen entsprechend zu handeln, sondern auf unsere Wünsche gezielt Einfluss zu nehmen – die Person zu sein, die wir sein wollen – sieht Mill den Kern und Wert der Willensfreiheit, die damit mit kausalem Determinismus kompatibel ist (Kuenzle/Schefczyk 2009, 152–158). Damit hat Mill die Ansprüche und Methoden der deskriptiven Wissenschaften, von der Physik über die Psychologie bis zur politischen Ökonomie, erläutert. Im letzten Kapitel des System of Logic nimmt er nun den Faden aus der Einleitung wieder auf und erklärt, wie und warum die normativen Ansprüche von Disziplinen wie Logik, Erkenntnistheorie, Politik und Ethik zu rechtfertigen sind. Mill formuliert ein einfaches Modell: Die normativen „Künste“ („arts“, im Gegensatz zu den deskriptiven „sciences“) formulieren wünschenswerte Ziele, worauf empirisch geklärt wird, ob die Ziele erreichbar sind was die optimalen Mittel wären, um sie zu erreichen (CW VIII, 944). Was nun aber ein plausibles Modell für das Zusammenspiel von Zielsetzungen und technischer Umsetzbarkeit im Kontext der Schuhmacherei darstellt, wirft wichtige Fragen und Probleme auf, wenn es um die normative Dimension der Erkenntnistheorie (Mills Logic) und Ethik geht. Für die epistemischen Normen kann Mill allerdings direkt auf seine Charakterisierung induktiver Praxis verweisen: Wir beobachten, experimentieren, bilden fruchtbare Begriffe, schließen induktiv; daraus gewinnen wir Evidenz für oder gegen die jeweiligen Regeln und Methoden. Die Frage der Endziele unseres Strebens, relevant für Mills Utilitarismus und berüchtigt aufgrund seines viel kritisierten ‚Beweises‘ des Nützlichkeitsprinzips aus Utilitarianism (s. Kap. III.12; VI.43), ist auf der Grundlage des Systems of Logic schwieriger zu beantworten. Mill ersetzt zwar den vorletzten Absatz (VI.12.6) ab 1851 durch einen neu verfassten Text (VI.12.6– 7). Allerdings tauchen die Überlegungen seines ‚Beweises‘ von 1861 auch in der neuen

D. Kuenzle

Version nicht auf. Er fügt lediglich eine an Kant erinnernde Unterscheidung der Sphären von Moral, Klugheit („prudence“) und Ästhetik hinzu und ersetzt seine ursprüngliche Diskussion von regel- und aktutilitaristischen Aspekten durch ein explizites Bekenntnis zum Nützlichkeitsprinzip, bevor er das Werk abschließt in der Hoffnung, seinen Teil zur intellektuellen „Errungenschaft der folgenden zwei oder drei Generationen europäischer Denker“ beigetragen zu haben (CW VIII, 952).

Rezeption und Wirkung Die Veröffentlichung des System of Logic hatte bedeutende Auswirkungen. Das Werk verkaufte sich sehr gut, positionierte Mill als feste intellektuelle Größe, dominierte die britischen Universitäten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und legte die methodischen Grundlagen für Mills weitere Forschungsarbeiten in Ethik, Ökonomie und Politik. Mill ging davon aus, dass das Werk, zusammen mit On Liberty (1859), alles andere überdauern würde, was er geschrieben hatte (Loizides 2014, 1). Kurz nach seiner Publikation wurde das System of Logic in England als berühmt bezeichnet (Loizides 2014, 17). 1849 berichtet William Whewell (1849) anerkennend von seinem großen Erfolg, bald gehört es zum universitären Kanon. Um die Jahrhundertwende verglich der konservative Premierminister Arthur Balfour Mills Status im Kontext der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie mit Hegels in Deutschland und Aristoteles’ im Mittelalter (Reeves 2007, 163). Bis heute hat das System of Logic einen wohl einzigartigen Status als umfassender und systematischer empiristischer Versuch, qua science alle relevanten Aspekte unserer epistemischen Praxis zu beschreiben und erklären sowie, qua art, auf diese Beschreibung gründend die normativen Ansprüche zu regeln. Allerdings war das Werk sehr bald auch das Ziel von Kritik; Alexander Bain bezeichnete es gar als das „best attacked book of the time“ (Loizides 2014, 17). Neben verbreiteten Vorbehalten bezüglich Mills trockenem Schreib-

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stil wurde rasch bemerkt, wie bedrohlich Mills rationaler, naturalistischer Empirismus für den christlichen Glauben war (Loizides 2014, 17). Daneben war zunächst vor allem Mills Umgang mit der Syllogistik Thema. Hier wurde in gewisser Hinsicht Mills Logic vielleicht auch ihr irreführender Titel zum Verhängnis, denn ausgerechnet die deduktive Logik im heute gebräuchlichen Sinn war nicht ihre Stärke. William Stanley Jevons, ohnehin kein Freund Mills, regte sich dermaßen auf über die seiner Meinung nach hoffnungslos verwirrte Logik und Mathematik Mills, dass er 1868 einen Teil seiner Hochzeitsreise auf der Isle of Man opferte, um in einer Reihe von Artikeln zu zeigen, warum er Mills Denken für „essentially illogical“ hielt (Kitcher 1980, 234n2; Stack 2020, 77). Zudem wurden schon während Mills Lebzeiten symbolische Notationen entwickelt, die verdeutlichten, dass es viele deduktiv gültige Schlussformen gibt, die von der von Mill dargestellten Syllogistik nicht erfasst sind (z. B. von DeMorgan und Boole). Spätestens die Entwicklung der Prädikatenlogik gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts führte dann dazu, dass die deduktive Logik im „Ratiocination“-Buch nicht mehr dem Forschungsstand entsprach – was natürlich seine metalogischen Thesen nicht entwertet. Nachdem 1849 der von Mill kritisierte William Whewell mit einem Pamphlet reagierte (Of Induction: With Especial Reference to Mr. J. Stuart Mill’s System of Logic), weitete sich die kritische Diskussion auf Mills Behandlung induktiver Methoden aus. Der umfassende Kontext dieser Debatten betraf, wie von Mill beabsichtigt, die überaus erfolgreiche Verschiebung des englischen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Diskurses von oft als ‚deutsch‘ eingeordnetem ‚Intuitionismus‘ und ‚Transzendentalismus‘ (mit allen religiösen und politisch-konservativen Anwendungen) zu empiristischen, naturalistischen, an Evidenz orientierten Positionen (s. Kap. II.9). Diesem Framing entsprechend betreffen zentrale und einflussreiche Kritiken an Mills Philosophie seinen Umgang mit dem Verhältnis von Aussagen oder Theorien mit deskriptivem und normativem Anspruch. Wichtig sind hier vor

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allem zwei Vorwürfe: Freges PsychologismusVorwurf an Mills Metalogik und G. E. Moores Diagnose, Mill begehe bei seinem berüchtigtem ‚Beweis‘ des Nützlichkeitsprinzips in Utilitarianism einen naturalistischen Fehlschluss (s. Kap. III.12). Gottlob Freges PsychologismusKritik, die er in seinen Grundlagen der Arithmetik (1884) formuliert, bezieht sich auf das zweite Buch des System of Logic: Wenn Logik die Kunst und Wissenschaft des an Gründen orientierten Überlegens („art and science of reasoning“) ist, und wenn dieses Überlegen ein psychischer Prozess ist – sind die Gesetze der Logik dann letztlich universale psychologische Propositionen? Aber woher sollen sie dann ihre normative Kraft haben? – Und tatsächlich schreibt Mill in der An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy (1865/1867), Logik verhalte sich zu Psychologie als eine Kunst zu einer Wissenschaft (CW IX, 359). Moores Diagnose eines naturalistischen Fehlschlusses bezieht sich zwar nicht auf das System of Logic, sondern auf Utilitarianism, aber das sechste Buch der Logic liefert zweifelsohne die Grundlagen, die berücksichtigt werden müssen, um Mills ‚Beweis‘ und die kaum jemals nachlassende Kritik daran, angemessen einzuordnen. Hier, wie auch im Fall der Gültigkeit epistemischer Normen oder logischer Gesetze (insbesondere im Rahmen des Psychologismus-Vorwurfs), muss allerdings berücksichtigt werden, dass Mill Wissenschaft als eine induktive, historisch situierte, zukunftsorientierte Praxis versteht, die sich auf der Basis empirischer Evidenz revidierbare Regeln für ihre weiteren Schritte gibt. Und worauf sollen wir die übergeordneten Ziele von Ethik und Politik, wie sie das Nützlichkeitsprinzip formuliert, stützen, wenn nicht auf beobachtbare Präferenzen – also darauf, was gut informierte, sorgfältig entscheidende Menschen auch wirklich für sich und andere wollen, und was sich auch längerfristig und im Rückblick als dem menschlichen Wohl und der menschlichen Entwicklung als zuträglich erweist? Mills Analyse der Kausalität im Rahmen seiner Diskussion der Induktion im dritten Buch bereitet den Boden für konditionale oder auch

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kontrafaktische Theorien der Kausalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa John Mackies Klassiker The Cement of the Universe von 1974 oder auch David Lewis’ wichtiger Aufsatz „Causation“ (1973) präsentieren; einen guten Überblick bietet Menzies/Beebee (2020). Mackie etwa schreibt Mill explizit die Pionierleistung zu, kausale Relationen als durch kontrafaktisch robuste Schlussrelationen konstituiert zu sehen. Solche kontrafaktischen Analysen, wie auch kausale Beziehungen überhaupt, spielen wichtige Rollen im Kontext der aktuell viel beachteten „kausalen Revolution“ um den Computerwissenschaftler Judea Pearl, in der es nicht zuletzt darin geht, kausale Relationen mithilfe von Bayes’schen Netzwerken zu modellieren (vgl. z. B. Pearl/Mackenzie 2018). Im Rahmen der heutigen akademischen Sprachphilosophie wird die Etikette ‚Millianismus‘ manchmal für Mills Auffassung verwendet, dass sich die semantische Bedeutung von Eigennamen wie „Harriet Taylor“ in ihrer Denotation (= Referenz) erschöpfe (CW VII, Buch I). Diese intuitiv naheliegende Position galt nach Gottlob Freges Arbeiten zu Begriffen als unzureichend; Bertrand Russell etwa hielt Mills Auffassung der Semantik von Eigennamen für „totally inadequate“ (Russell 1956, 123). Typische Eigennamen, so Russell, haben eine Bedeutung oder, in Mills Terminologie, „Konnotation“, und bis der US-Philosoph Saul Kripke in den 1970er Jahren das Blatt wieder wendete, galt Mills Theorie als diskreditiert. Kripke (1980) schloss vom Verhalten von Eigennamen in kontrafaktischen Kontexten darauf, dass Eigennamen „starr designieren“: Wenn wir Aussagen darüber machen, was Harriet Taylor hätte tun können, obwohl sie es faktisch nicht getan hat, so können wir sämtliche beschreibenden Elemente, die gemäß Frege und Russell zur Konnotation des Eigennamens gehören, verneinen, ohne dass Harriet aufgehört hätte, Harriet Taylor zu sein. Auf der Grundlage dieses Arguments weist Kripke Freges Vorschlag zurück und rehabilitiert damit mindestens indirekt Mill und dessen ‚Millianismus‘. Allerdings, so Kripke, hätte Mill diese Position nicht nur in Bezug auf die Semantik von Eigen-

D. Kuenzle

namen, sondern auch von Ausdrücken für natürliche Arten vertreten sollen (Kripke 1980, 127– 128). Die heutige Diskussion der Semantik und Metaphysik natürlicher Arten („natural kinds“) kann nämlich sowohl inhaltlich als auch anhand ihrer Etikette auf Mills System of Logic zurückgeführt werden: Im Buch I diskutiert Mill diese begrifflichen Fragen zwar unter den Namen von „real kinds“ oder einfach groß geschriebenen „Kinds“, aber schon wenig später führt der Mathematiker John Venn den Begriff der natürlichen Arten ein, um auf Mills „kinds in nature“ Bezug zu nehmen (Venn 1866, 245 f.). Während es sich bei Namen natürlicher Arten für Kripke und Putnam um starre Designatoren handelt, konnotieren diese aber bei Mill, weil sie allgemeine Namen sind und weil alle allgemeinen Namen konnotieren (vgl. die Ausführungen zum ersten Buch des System of Logic oben).

Literatur Baronett, Stan: Logic, 4. Aufl. New York 2018. Carnap, Rudolf: Logical Foundations of Probability, 2. Aufl. Chicago 1962. Copi, Irving/Cohen, Carl/McMahon, Kenneth: Introduction to Logic, 14. Aufl., Oxford/New York 2016. Ducheyne, S.: J. S. Mill’s Canons of Induction: From True Causes to Provisional Ones. In: History and Philosophy of Logic 29 (2008), 361–376. Frege, Gottlob: Grundlagen der Arithmetik. Eine logischmathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Breslau 1884. Godden, David: Mill’s System of Logic. In: W. M. Mander (Hg.): Oxford Handbook of British Philosophy in the Nineteenth Century. Oxford 2014, 44–70. Kitcher, Philip: Arithmetic for the Millian. In: Philosophical Studies 37/3 (1980), 215–236. Kripke, Saul: Naming and Necessity. Cambridge, MA 1980. Original: Naming and Necessity. In: Gilbert Harman/Donald Davidson (Hg.): Semantics of Natural Language, Dordrecht 1972, 253–355. Kuenzle, Dominique: John Stuart Mill: ‚Pleasure‘ in the Laws of Psychology and the Principles of Morals. In: Lisa Shapiro (Hg.): Pleasure: A History. New York 2018, 201–231. Kuenzle, Dominique/Schefczyk, Michael: John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg 2009. Lewis, David: Causation. In: Journal of Philosophy 70 (1973), 556–567. Reprinted in: David Lewis: Philosophical Papers Volume II. New York/Oxford 1986.

17  A System of Logic (1843) Loizides, Antis: Introduction. In: Ders. (Hg.): Mill’s A System of Logic: Critical Appraisals. New York/London 2014, 1–43. Mackie, John: The Cement of the Universe: A Study of Causation. Oxford 1974. Menzies, Peter/Beebee, Helen: Counterfactual Theories of Causation. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2020 Edition); https://plato.stanford.edu/archives/win2020/entries/causation-counterfactual/ (23.03.2023). Pearl, Judea/Mackenzie, Dana: The Book of Why: The New Science of Cause and Effect. New York 2018. Quine, W. v. O.: Ontological Relativity and Other Essays. New York 1969. Ramsey, Frank: The Foundations of Mathematics and Other Logical Essays. Hg. von R. B. Braithwaite. London 1931.

183 Reeves, Richard: John Stuart Mill: Victorian Firebrand. London 2007. Russell, Bertrand: Portraits from Memory and Other Essays. New York 1956. Skorupski, John: John Stuart Mill. London/New York 1989. Stack, David: The Hostility of William Stanley Jevons Toward John Stuart Mill: The Fourth Dimension. In: History of Political Economy 52/1 (2020), 77–99. Venn, John: The Logic of Chance. London 1866. Whewell, William: Of Induction: With Especial Reference to Mr. J. Stuart Mill’s System of Logic. London 1849.

Teil IV

Kleinere Schriften

Chapters on Socialism (1879, posthum)

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Hubertus Buchstein

Ziel des Buches Im Sommer 1869 fasste John Stuart Mill ein neues Buchvorhaben ins Auge: eine Abhandlung über die Theorien des Sozialismus und Kommunismus sowie über die auf dem europäischen Kontinent wie auch in England immer weiter politisch erstarkenden sozialistischen Bewegungen und Strömungen. Mill nahm sich mit diesem Buch viel vor; er sah es auf eine Ebene mit seinem grundlegenden Buch über die Repräsentativregierung (s. Kap. III.14) gestellt und wollte darin sogar sein gesellschaftspolitisches Vermächtnis gesehen wissen (CW I, 635). Im Herbst 1869 begann er intensiv mit der Arbeit, musste sie nach einigen Monaten aber krankheitsbedingt wieder unterbrechen. Sein immer schlechter werdender Gesundheitszustand ließ ihn das Vorhaben schließlich abbrechen. Sein Manuskript blieb unvollendet im Nachlass liegen. Erst auf Drängen von politischen Freunden Mills veröffentlichte Helen Taylor es in drei Teilen unter dem Titel Chapters on Socialism in den Februar-, März- und Aprilheften

H. Buchstein ()  Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected]

des Jahres 1879 in der Fortnightly Review (CW V, 703–753). Später erschien es unter dem gleichen Titel auch als selbständige Abhandlung. Der publizierte Text besteht aus den ersten vier der von Mill geschriebenen Kapiteln des geplanten Buches. Das Originalmanuskript der Chapters ist später verloren gegangen, und dies hat in politisch interessierten Kreisen zu Spekulationen über das Ausmaß der posthumen Bearbeitung durch Helen Taylor geführt. In der Einleitung zu Mills Schrift im Rahmen der Collected Works konnte Jonathan Riley diese Befürchtungen jedoch mit dem Nachweis der inhaltlichen Konsistenz des Textes und diverser Übereinstimmungen mit anderen bekannten Äußerungen ausräumen. Der Text passt sich zudem nahtlos in die anderen, noch zu Lebzeiten von Mill publizierten Arbeiten sowie verschiedene briefliche Äußerungen von ihm zum Thema Sozialismus ein (Buchstein/Seubert 2016, 145– 155). Inhaltlich setzt die Sozialismusschrift Überlegungen fort, die Mill bereits in den 1840er Jahren in den Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) begonnen und in den verschiedenen überarbeiteten Neuauflagen des Werkes fortgeführt hatte. Während er in der ersten Auflage von 1848 vor allem die Schwierigkeiten des Sozialismus als Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft hervorhob, strich er nach dem umfassenden Studium sozialistischer Schriftsteller große Passagen seiner Kritik und er-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_18

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setzte sie durch weniger ablehnende Formulierungen zum Sozialismus. In einer kurz vor Beginn der Arbeit am Sozialismus-Buch 1869 niedergeschriebenen Passage seiner Autobiography (s. Kap. III.11) schrieb er seiner Einstellung zum Sozialismus mehrere Entwicklungsphasen zu. Während zu Beginn seine Haltung „was on the whole that of opposition to it“ (CW I, 242), habe er schließlich eine „third period (as it may be termed) of my mental progress“ (CW I, 237) erklommen. Selbstkritisch legt er im Stil eines persönlichen Bekenntnisses dar, dass er die Verbesserung der sozialen Verhältnisse in jüngeren Jahren fälschlicherweise von einem marktwirtschaftlichen Kapitalismus erwartet hätte: „Private property as now understood, and inheritance, appeared to me as to them, the dernier mot of legislation“ (CW I, 239). Er habe gelernt, dass man in der „removing of injustice“ (CW I, 239) deutlich weiter gehen könne und müsse. Mill charakterisiert sein auf dieser höheren Stufe seiner intellektuellen Entwicklung verfochtenes „ideal of ultimate improvement“ der Gesellschaft als „far beyond Democracy“ – weshalb er sich nun mit seinen Vorschlägen zur Lösung der sozialen Frage als „qualified Socialism“ (CW I, 199) einordnete, der „would class us decidedly under the general designation of Socialists“ (CW I, 237). Diese Aussagen verdeutlichen, dass Mill sich mit seiner Sozialismusschrift ambitionierte Ziele gesetzt hatte. Zum einen wollte er eine Bilanz seines eigenen gesellschaftspolitischen Lernprozesses ziehen und zum anderen eine programmatische Ortbestimmung der Theorie des Sozialismus vorlegen. Die von ihm fertiggestellten Kapitel stehen dann auch mit ihrer klaren Sprache, ihrem strikten Argumentationsaufbau sowie der Art ihrer Abwägungen und Schlussfolgerungen seinen zu Lebzeiten publizierten Arbeiten kaum nach. Ein gewisser vorläufiger Charakter ist nur insofern zu erkennen, weil die langen, wie Exzerpte wirkenden Zitate der referierten Autoren in den ersten beiden Kapiteln in dieser Form sicherlich nicht von Mill in eine von ihm als publikationsreif erachtete Ausgabe übernommen worden wären. Gleichwohl: Mill geht das Thema Sozialismus in den

H. Buchstein

vorliegenden Kapiteln bemerkenswert zielstrebig und in systematischer Weise argumentierend an. Hätte er die Gelegenheit gehabt, das Buch seinen eigenen Ansprüchen entsprechend zu beenden, so wäre daraus vermutlich ein ähnlich grundlegendes politiktheoretisches Werk geworden wie die beiden berühmten Abhandlungen On Liberty (s. Kap. III.13) und Considerations on Representative Government.

Inhalt des Buches Die Sozialismus-Schrift besteht aus einer Einleitung und vier Kapiteln, von denen das letzte wieder den Bogen zu einigen Gedanken aus der Einleitung schlägt. Nach den einleitenden Ausführungen skizziert Mill im ersten Kapitel zunächst die wichtigsten Kritikpunkte der Sozialisten an der gegenwärtigen Gesellschaft. Im zweiten Kapitel setzt er sich dann seinerseits mit diesen Kritikpunkten inhaltlich auseinander. Im dritten Kapitel folgen eine Erörterung der spezifischen Probleme, die sich in einer sozialistischen Gesellschaft stellen, und seinen Überlegungen, wie mit diesen Schwierigkeiten am besten umzugehen sei. In einem kürzeren vierten Kapitel konzentriert sich Mill auf eine kritische Auseinandersetzung mit der dominanten zeitgenössischen Eigentumstheorie (s. Kap. V.25). Mill stellt seine Überlegungen gleich in der Einleitung in den damaligen politischen Kontext der Ausweitung des Wahlrechts, für die er sich in seinen Schriften eingesetzt hat und die er auch für unvermeidlich hält (Buchstein/Seubert 2013, 305–314; s. Kap. V.41). Sein Buchvorhaben war nicht zuletzt eine konkrete Reaktion auf den Reform Act von 1867, der das Wahlrecht auf alle männlichen Haushaltsvorstände ausgedehnt hatte und in dessen Folge nunmehr zwei statt einer Million erwachsener Männer (von insgesamt fünf Millionen) an Wahlen teilnehmen durften. Wenn er nun in den Chapters nachdrücklich dafür plädiert, sich mit sozialistischen Ideen und den politischen Positionen der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen, so auch deshalb, weil er durch die Zuerkennung

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des Wahlrechts den politischen Machtzuwachs der Arbeiterschaft für unvermeidlich hält. Auch wenn sie sich zunächst nur mangelhaft politisch organisieren, hält er es gleichwohl für sicher, dass die Arbeiter ihr Wahlrecht früher oder später nutzen werden, um ihre kollektiven Ziele in organisierter politischer Form durchzusetzen. Dieser Herausforderung müsse sich die Gesellschaft offen stellen. Mill hatte bereits acht Jahre zuvor in den Considerations on Representative Government eine falsche, materialistische Sicht auf das Politische kritisiert, die davon ausgehe, dass sich ökonomische Macht quasi unvermittelt in politische Macht übersetze (Buchstein/Seubert 2013, 296). Diesen Punkt betont er in der Einleitung abermals. Politische Meinungsmacht basiere auf politischen Doktrinen, die sich über die Presse, öffentliche Foren und Assoziationen sowie nicht zuletzt über die Entsendung einer möglichst großen Anzahl von Personen ins Parlament vermittelten. Nur eine vorurteilsfreie Prüfung aller Ideen, und somit auch der sozialistischen Doktrinen, bewahre die Gesellschaft vor Stillstand oder falschen Alternativen: „The future of mankind will be gravely imperilled, if great ques­ tions are left to be fought over between ignorant change and ignorant opposition to change“ (CW V, 708; Mill 2016, 14). Im Zentrum der gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Debatten sieht Mill die Institution des Privateigentums. Ohne Umschweife positioniert er sich gleich zu Beginn seiner Ausführungen gegen naturrechtliche Begründungen von Eigentumsrechten: Alle Eigentumsgesetze müssten Gegenstand öffentlicher Betrachtung sein und nach dem Beitrag beurteilt werden, den sie zur allgemeinen Wohlfahrt leisten. Eigentumsverhältnisse dürften nicht aus der Perspektive derjenigen beurteilt werden, die ein persönliches Interesse am Fortbestehen der existierenden Ordnung haben, sondern aus der Perspektive eines unabhängigen Betrachters. Erst dann ließe sich ermitteln, welche Ordnung des Eigentums dem sozialen Wohlergehen und Fortschritt am dienlichsten ist. „The working classes are entitled to claim that the whole field of social institutions should be re-examined, and every question

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considered as if it now arose for the first time“ (CW V, 711; Mill 2016, 20). Im Anschluss an die programmatisch gehaltene Einleitung beginnt Mill im ersten Kapitel zunächst damit, die sozialistischen Einwände gegen die bestehende Gesellschaftsordnung vorzustellen und deren Kritikpunkte ausführlich aufzulisten. Mill kapriziert sich dabei insbesondere auf die drei Schriften Destinèe sociale (1834) von Victor Considerant (1808– 1893), Organisation du travail (1839) von Louis Blanc (1811–1852) und das Book of the New World (1844) von Robert Owen (1771–1858), die in England und Frankreich auch noch in den 1860er Jahren vor der Ausbreitung des Marxismus zu den wichtigsten Dokumenten des sozialistischen Denkens gehörten. Am Rande nimmt Mill auch auf Henry de Saint-Simon (1760– 1825) und Charles Fourier (1772–1837) Bezug, deren Schriften zur Zeit der Abfassung seines Textes unter Sozialisten ebenfalls Klassikerstatus genossen. Im zweiten Kapitel prüft Mill dann die Behauptungen und Überlegungen der von ihm referierten Sozialisten. Zwei Ebenen zieht er für seine Diskussion auseinander: die sozialistische Kritik des Bestehenden (die er in vielen Punkten für bestechend) und die Vorschläge für eine Konstruktion des Neuen (die er nur in Teilen für überzeugend hält). Völlig zu Recht kritisierten die Sozialisten die gegenwärtige Eigentumsordnung und das System der Produktion und der Verteilung von Wohlstand als komplettes Versagen. Die Institution des Privateigentums werde von ihren Unterstützern mit dem Argument verteidigt, dass dadurch Arbeit und Sparsamkeit ihren fairen Lohn erhalten. An diesen Zielen bemisst Mill die damalige soziale Realität in den damals am weitesten fortgeschrittenen Industrienationen und fragt: Wer kann sich tatsächlich der Vorteile des Eigentums erfreuen? Seine Antwort: Das seien nicht diejenigen, die in Lohnarbeit stehen und nichts als ihr tägliches Brot – und das häufig von schlechter Qualität – haben, ohne die Versicherung, es auch in Zukunft haben zu können. Das Eigentum ist extrem ungleich verteilt und Mill sieht keine Anzeichen der Verbesserung. Das Elend der Vielen sei eines zivi-

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lisierten Europas, und insbesondere Englands und Frankreichs, unwürdig. Und es mindere die Ungerechtigkeit keineswegs, dass die Stärksten im Wettbewerb überlebten. Physisches Elend, moralische Degradierung, körperliche Bedürfnisse, die nicht oder nur in menschenunwürdiger Weise erfüllt würden, seien im Ganzen als „failure of the social arrangements“ (CW V, 713; Mill 2016, 27) zu werten. Mill setzt die immanente Kritik liberaler Prinzipien im Verlauf seiner weiteren Argumentation fort. Dabei gilt sein Augenmerk nunmehr vor allem der sozialistischen Kritik des liberalen Leistungsprinzips. Alltagssprachlich übersetzt es sich in das Motto, dass jeder, der arbeiten wolle, es auch könne. Das, so Mill, sei empirisch schlicht nicht der Fall. Eine vernünftige nachvollziehbare Relation zwischen der individuellen Anstrengung und dem Erfolg bzw. Verdienst sei unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zu erkennen. Die Herkunft qua Geburt sei nach wie vor die entscheidendste Ursache von Erfolg und Misserfolg im Leben. Und zumeist seien es auch nicht moralische Kompetenz und Tugend, sondern Laster, die eine Person gesellschaftlich voranbrächten. Nachvollziehbarerweise erschienen den Sozialisten die Prinzipien des Individualismus und des Wettbewerbs unter diesen Umständen einzig als „system of private war“ (CW V, 715; Mill 2016, 31). Eine pauschale Ablehnung des Wettbewerbs hält er allerdings für verfehlt. Anders als Louis Blanc hält er es keineswegs für selbstverständlich, dass ein unbeschränkter ökonomischer Wettbewerb immer zu einem systematischen Verfall des Lohnniveaus führe – die Effekte des Wettbewerbs hingen auch von der Bevölkerungsstruktur und dem Niveau des technischen Fortschritts ab. Wenn Wettbewerb für beide Seiten vollkommen frei sei, so gebe es weder eine Tendenz des Verfalls noch der Steigerung, sondern eine Angleichung von Löhnen und Preisen – ein Effekt, der gemäß sozialistischer Prinzipien durchaus wünschenswert sei. Auch auf die Frage, ob Wettbewerb eine bessere Qualität von Produkten bringe, findet Mill eine differenzierte Antwort: Auf kleinen Märkten würde der Wettbewerb durchaus positive Effekte bringen.

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Je größer aber der Radius von wirtschaftlichen Transaktionen werde, desto unabhängiger würden Händler von dauerhaften Kunden und desto weniger seien sie darauf angewiesen, sich das Vertrauen von Kunden zu erwerben. Mill hält es somit für notwendig, die sozialistische Kritik in Teilen zurechtzurücken. Dies hält er auch aus dem Grund für notwendig, um nicht nur den Problemen des Kapitalismus, sondern auch den Schwierigkeiten sozialistischer Gesellschaftsentwürfe illusionslos ins Auge blicken zu können. Die Dysfunktionalitäten und die Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Systems seien groß, aber die Annahme, dass sich daraus quasi automatisch ein Systemzusammenbruch ergeben würde, hält Mill für wenig plausibel. Auch teilt er nicht die Ansicht, dass es erst eines generellen Zustandes der Verelendung und der Sklaverei bedürfe, aus dem dann allein der Sozialismus die Befreiung bieten könne. Er zieht aus seiner Kritik an den damals in sozialistischen Kreisen gängigen Krisen- und Verelendungstheorien eine grundlegende Konsequenz: Statt politisch und ökonomisch auf einen radikalen Systembruch zu setzen, sei es ratsam, experimentelle Schritte entlang tatsächlicher Verwirklichungsversuche des Sozialismus zu unternehmen. Im dritten Kapitel setzt Mill diese Überlegungen fort. Im Lager der Sozialisten unterscheidet er zwei Grundpositionen: Die eine, mit der er sympathisiert und die er mit Charles Fourier und Robert Owen identifiziert, fasst dezentral durchgeführte sozialistische Lebensformexperimente auf kommunaler Ebene ins Auge. Demgegenüber lehnt er die Position der auf dem europäischen Kontinent dominierenden revolutionären Sozialisten, die „at a single stroke“ (CW V, 737; Mill 2016, 86) durch eine einmalige Revolution das gesamte Land unter die staatliche Regie einer Zentralverwaltung stellen wollen, ab. Ihn stört dabei zum einen die intellektuelle Anmaßung, die darin zum Ausdruck komme, dass sie glaubten, auf jedwede experimentelle Verifikation verzichten zu können. Sie vergebe damit auch die Möglichkeit (die der anderen Position offensteht), ihre Veränderungen schrittweise einzuführen und durch trial and error in ihrer An-

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wendung zu prüfen. Mill bringt an dieser Stelle auch einen anderen Aspekt ins Spiel. Die kontinentalen Revolutionäre plädierten für eine staatliche Zentralverwaltung der Wirtschaft als alternatives ökonomisches System. Solch eine Zentralverwaltung aber lehnt Mill vehement mit dem knappen Hinweis ab, dass eine gesamtgesellschaftliche Planung an der Komplexität moderner Gesellschaften scheitern würde und deren Vorgaben zudem viel zu sehr in die Freiheitsrechte (s. Kap. V.27) der Menschen eingreifen müssten. Als besten Weg in die von ihm befürwortete Richtung des Sozialismus empfiehlt Mill deshalb die Gründung von genossenschaftlichen Kooperativen (s. Kap. V.23). Die Vorteile dieses Weges der gesellschaftspolitischen Reform sieht er auf vier Ebenen: 1) Aus bildungspädagogischer Sicht, denn die wirtschaftliche Mitverantwortung und Mitbestimmung in den Kooperativen werde einen Bildungsschub unter den daran Beteiligten auslösen; als dessen Folge würden die Menschen auch in ihrer privaten Lebensführung vernünftiger werden und sich zum Beispiel für eine vernünftige Geburtenplanung entscheiden. Dies würde das Angebot an Arbeitskräften verknappen, was wiederum die Löhne steigen lasse und Frauen den Eintritt in die Arbeitswelt erleichtern werde. 2) Aus Sicht seiner Theorie der Gerechtigkeit, denn das Kollektiveigentum beende die Abhängigkeit der Beschäftigten von demütigenden und ausbeuterischen Lohnarbeitsverhältnissen. 3) Ein dritter Vorteil liege in der gesteigerten wirtschaftlichen Effizienz, weil die Konkurrenz auf dem Markt von verschiedenen Kooperativen mit engagiert arbeitenden und gut ausgebildeten Miteigentümern Innovationen erzeuge und damit dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand diene. 4) Schließlich empfiehlt Mill diesen Weg auch aus entwicklungsökonomischer Perspektive. Man könne sich nicht sicher sein, dass der Sozialismus dem Kapitalismus in den drei genannten Hinsichten letztlich tatsächlich überlegen sei. Ein experimentelles Vorgehen erlaube es, die Möglichkeit für einen entsprechend reformierten Kapitalismus offenzuhalten und dennoch die für ihn grundlegenden Ziele des Sozialismus zu erreichen.

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Vor dem Hintergrund der skizzierten Überlegungen zieht Mill im vierten Kapitel die Schlussfolgerung, dass ein grundlegender Umbau des sozialen Gebäudes, so wünschenswert er für viele Sozialisten sein möge, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht umsetzbar sei. Denn der Sozialismus setze moralische und intellektuelle Qualitäten voraus, die sich nur sehr langsam in der Gesellschaft entwickeln könnten und in den genossenschaftlichen Kooperativen eingeübt werden sollten. Aus dieser Absage an einen radikalen Systemwechsel zieht Mill deshalb auch nicht den Schluss, die gegenwärtige Institution des Privateigentums unverändert fortbestehen zu lassen. Mill fügt seinen diesbezüglichen Überlegungen einen kurzen historischen Exkurs über unterschiedliche Eigentumsformen in der Geschichte der Menschheit hinzu. Das Verständnis von Eigentum, so lautet seine argumentative Pointe aus der historischen Betrachtung, ist nicht unabänderlich, sondern hat im Zuge der Menschheitsgeschichte manche gravierende Modifikation zugelassen. Weitere Änderungen müssten deshalb auch in Zukunft möglich sein. Mills Kriterium für die zu bevorzugende Eigentumsform ist die Entwicklung und Verbesserung aller menschlichen Angelegenheiten. In welche konkrete Richtung die Kritik der bestehenden Eigentumsrechte geht und welchen argumentativen Fortgang die Sozialismus-Schrift an dieser Stelle vermutlich genommen hätte, lässt sich zumindest andeutungsweise den letzten beiden Auflagen seiner Principles of Political Economy aus den Jahren 1865 und 1871 entnehmen, die in den Zeitraum seiner Beschäftigung mit der SozialismusSchrift fallen. Mill plädiert darin für ein generelles Verbot des privaten Eigentums an Grund und Boden. Er spricht sich auch für eine radikale Begrenzung des Erbrechts aus; anstatt das zu vererbende Vermögen an Nachfahren weiterzureichen, sollte es an den Staat fallen und primär in das Ausbildungssystem investiert werden. Vom Staat verlangt Mill als weitere Eingriffe in den Markt gesetzlich festgelegte Arbeitszeitverkürzungen, eine Festlegung von Mindestlöhnen und die Sicherung eines Existenzminimums für

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alle Bürger. Des Weiteren plädiert er darin für eine erleichterte rechtliche Zulassung von neuen Formen kollektiven Eigentums und für die staatliche Förderung von genossenschaftlichen Unternehmensformen (Baum 2007).

Rezeption In der englischen Arbeiterbewegung und unter linken Intellektuellen in England stieß die Publikation der Chapters on Socialism auf bemerkenswerte Zustimmung. Bald gehörten sie zu einer der Programmschriften einer in ihren politischen Zielen und ihrem Vorgehen pragmatisch ausgerichteten Labour-Party. In den zeitgenössischen konservativen wie liberalen Kreisen trug sie Mill einmal mehr den Ruf eines exzentrischen Radikalen ein. In den folgenden Jahren erfuhren die Chapters in England und den USA eine Reihe an Ausgaben als Einzelveröffentlichung. Bald nach ihrer Publikation wurde die Schrift auch ins Französische und Italienische übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erfolgte ebenfalls vergleichsweise zeitnah. Sie erschien 1880 in der ersten deutschsprachigen Mill-Edition von Theodor Gomperz. Die Übersetzung stammte vom jungen Sigmund Freud. Im deutschsprachigen Raum konnte die Schrift allerdings kaum Resonanz erzeugen; die theoretische Sozialismusdiskussion war hier zu sehr von marxistischen Debatten geprägt. Abfällige Äußerungen von Marx über Mill als Politischen Ökonomen (MEW 13, 618 f.; MEW 23, 138 f.) trugen das Übrige dazu bei, dass Mill in der deutschen sozialistischen Bewegung lange Zeit als bürgerliches Leichtgewicht abgetan wurde. Die Frage, wie Mill mit seiner Selbstbezeichnung als Anhänger des „qualifizierten Sozialismus“ einzuordnen ist, wird in der Ideengeschichtsschreibung unterschiedlich beantwortet (s. Kap. VI.46). Dies hängt in erster Linie davon ab, was als Kerngehalt der Ideenströmung des ‚Sozialismus‘ angesehen wird. Entsprechend variieren die Zuordnungen. Von einigen Autoren wird Mill der Gruppe der uto-

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pischen Sozialisten zugeschlagen (Kurer 1992; Levon 2003) – dies geschieht allerdings um den Preis, seine Kritik an deren Vorstellungen, wie sie sich auch in den Chapters findet, großzügig auszublenden. Aus einer traditionell orientierten marxistischen Sicht wird Mills Selbstbezeichnung mit scharfen Worten zurückgewiesen und wurde beispielsweise aus Sicht des Marxismus-Leninismus in der DDR als „Typ eines ganz gefährlichen vulgären Apologeten“ (Kuczynski 1965, 220) gebrandmarkt, da seine Betonung von Individualität (s. Kap. V.30) und seine Verteidigung des Wettbewerbs als unvereinbar mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung angesehen wurden. Alternativ findet sich die Kategorisierung von Mills Position als „sozialliberal“ (Berlin 1995 [1859]; Höntzsch 2010; Aßländer 2014). Des Weiteren findet sich die dazu komplementäre Kennzeichnung Mills als „liberalen Sozialisten“ (Baum 2007). Letztlich handelt es sich bei solchen Debatten um einen wenig ertragreichen Streit um Worte, der wenig über die Besonderheiten und die potenziellen aktuellen Anknüpfungspunkte der Überlegungen Mills zum Thema ausgesagt. An Mills eigenem Verständnis von Sozialismus stechen zwei Merkmale hervor. Erstens dessen kompromisslos freiheitliche Grundorientierung; der Sozialismus erfüllt demnach nur dann die in ihn gesetzten Erwartungen, wenn er tatsächlich zu einer Steigerung der autonomen Handlungsmöglichkeiten aller Bürgerinnen und Bürger führt und diese Handlungsräume gerecht verteilt sind. Und zweitens Mills erfahrungsoffene Herangehensweise bei der Lösung der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Probleme: Die konkreten Konturen des Sozialismus lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen, sondern sie können nur „on an experimental scale“ (CW V, 736; Mill 2016, 83) gefunden und müssen immer wieder auf ihre Praktikabilität hin überprüft und gegebenenfalls erneut reformiert werden. Im Kontext der im angloamerikanischen Raum wieder neu aufgebrochenen Sozialismusdebatten und vor dem Hintergrund des Erbes

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der – in Deutschland immer noch besonders wirkungsmächtigen – marxistischen Sozialismustradition besteht die Aktualität des von Mill skizzierten „qualifizierten Sozialismus“ in den folgenden fünf Aspekten. • Erstens bietet Mill eine alternative normative Begründung für die Wünschbarkeit des Sozialismus an, indem er seinen argumentativen Ausgangspunkt nicht primär bei der ungerechten Güterverteilung im Kapitalismus sucht, sondern ihn in einer Theorie gleicher Ansprüche auf Freiheit und Selbstbestimmung für alle Bürgerinnen und Bürger findet. In dieser Hinsicht ist Mill ein Verfechter eines freiheitlichen Sozialismus. • Zweitens ist der „qualifizierte Sozialismus“ von Mill ein Sozialismus des kollektiven Lernens in dezentralen, genossenschaftlich organisierten Wirtschaftsstrukturen. Mill versteht seine Vision des Sozialismus als eine auf die wirtschaftliche Sphäre ausgeweitete Form der demokratischen Mitbestimmung. In dieser Hinsicht ist Mill ein Verfechter eines demokratischen Sozialismus. • Drittens propagiert er eine Wirtschaftsform ohne zentrale Planungsagentur, in der verschiedene Eigentumsformen im Wettbewerb miteinander stehen. Mill lehnt die Gleichsetzung von Kapitalismus und Marktwirtschaft ab. Er hält es für möglich, den Wettbewerb zwischen verschiedenen genossenschaftlichen Unternehmen und divergierenden Eigentumsformen zur Vermeidung seiner menschlich desaströsen Effekte in den Dienst des sozialen Fortschritts zu stellen. In dieser Hinsicht ist Mill ein Verfechter eines marktwirtschaftlichen Sozialismus. • Viertens zielt Mill im sechsten Kapitel von Buch 4 seiner Principles of Political Econ­ omy auf einen allgemeinen Gesellschaftszustand, in dem auf zusätzliches wirtschaftliches Wachstum verzichtet werden kann und der Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde ein Ende findet. Bürgerinnen und Bürger sollen die Gelegenheit haben, in ihrer von den Zwängen der Produktion befreiten

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Zeit anderweitig kulturell aktiv zu sein und sich an den verbliebenen Enklaven unberührter Natur erfreuen zu können. Ergänzt man diese Thesen mit den Ausführungen seines Sozialismus-Buches, so kann Mill als ein sehr früher Verfechter eines ökologischen Postwachstumssozialismus gelten. • Fünftens schließlich plädiert Mill für eine experimentelle und erfahrungsoffene Strategie bei der Suche nach gesellschaftspolitischen Verbesserungen. Gesamtgesellschaftlich verbindliche Patentrezepte gibt es für ihn nicht und alle gesellschaftspolitischen Innovationen müssen regelmäßig auf ihre Praktikabilität und ihre nicht intendierten Auswirkungen überprüft und gegebenenfalls erneut korrigiert werden. In dieser Hinsicht ist Mill ein Verfechter eines experimentellen Sozialismus. Natürlich darf auch nicht übersehen werden, dass der Versuch einer solchen Aktualisierung von Mills Überlegungen auf heutige gesellschaftspolitische Problemlagen an klare Grenzen stößt. Jeder Anknüpfungsversuch an den experimentellen Charakter der Sozialismustheorie von Mill muss auch seinen erfahrungswissenschaftlichen Einwand ernst nehmen und sich nüchtern mit dem Scheitern diverser genossenschaftlicher Versuche in der Vergangenheit – seien es die großangelegten Experimente von Robert Owen, die genossenschaftlichen Gründungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die diversen Projekte der Alternativbewegung in den 1970er Jahren oder neuerdings die diversen Kollektive in der digitalen Wirtschaft – auseinandersetzen, um Genaueres über mögliche Bedingungen des Gelingens solcher Projekte zu lernen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch erkennen, dass Mill massiv unterschätzt hat, inwieweit der Kapitalismus mit seinen vielfältigen Konsumoptionen gleichsam die Herzen der Menschen kolonisiert; von seinem Ansatz führt kein direkter Weg in Richtung einer Verdinglichungskritik oder Entfremdungsdiagnose. Mills Idee einer Vielzahl von miteinander konkurrierenden, demokratisch organisierten sozialistischen Kollektiven bedarf auch angesichts

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der sich innerhalb kürzester Zeit durchsetzenden Monopolisierungstendenzen bei Unternehmen im Bereich der digitalen Wirtschaft (wie Google, Facebook oder Amazon) und der damit verbundenen Aushebelung des markwirtschaftlichen Konkurrenzmechanismus eines erneuten Realitätsabgleichs. Des Weiteren findet sich bei Mill kaum ein Ansatzpunkt für eine Kritik der in kapitalistischen Gesellschaften systematisch eingebauten politischen Machtfaktoren, die der Überwindung der etablierten kapitalistischen Eigentumsdoktrin im Wege stehen. Und schließlich ist nicht zu übersehen, dass Mill seine Reformvorschläge in einem nationalstaatlichen Rahmen konzipiert und heutige Verfechter seiner Ideen vor der schwierigen Frage stehen, ob und wie sich der Mill’sche Assoziationsgedanke auf global agierende Großunternehmen übertragen ließe. Zum experimentellen Charakter der Sozialismustheorie von Mill gehört allerdings auch, dass er unsicher war, ob der Sozialismus langfristig tatsächlich zu besseren Resultaten führen werde als der Kapitalismus. Eine sozialistische Gesellschaft verlangt ein deutlich höheres Maß an Altruismus als die kapitalistische Produktionsweise (CW V, 744–748; Mill 2016, 101–108). Erst die Erfahrung könne zeigen, ob sozialistische Systeme in der Lage seien, den erforderlichen Altruismus zu erzeugen. Ein skeptisches Credo, das gerade im Zusammenhang der gegenwärtigen Renaissance der Sozialismusdiskussion unter der Flagge des ‚Neosozialismus‘ (Buchstein 2018) in Erinnerung gerufen zu werden verdient.

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Literatur Aßländer, Michael S.: John Stuart Mill in der ökonomischen Diskussion seiner Zeit. In: Hans G. Nutzinger (Hg.): Ökonomie Nach-Denken. Zur Aktualität von John Stuart Mill. Marburg 2014, 11–42. Baum, Bruce: John Stuart Mill and Liberal Socialism. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought. Cambridge 2007, 98–123. Berlin, Isaiah: John Stuart Mill und die Ziele des Lebens [1859]. In: Ders.: Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt a. M. 1995, 257–293. Buchstein, Hubertus: Zwischen Neosozialismus und Retrosozialismus. In: Klaus Dörre/Christine Schickert (Hg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. München 2018, 33–52. Buchstein, Hubertus/Seubert, Sandra: Nachwort. In: John Stuart Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Frankfurt a. M. 2013, 289–326. Buchstein, Hubertus/Seubert, Sandra: John Stuart Mill und der Sozialismus. In: John Stuart Mill: Über Sozialismus. Hamburg 2016, 123–176. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 26. Berlin 1965, 213– 220. Kurer, Oskar: John Stuart Mill and Utopian Socialism. In: The Economic Record 68 (1992), 222–232. Levin, Michael: John Stuart Mill. A Liberal Looks at Utopian Socialism in the Years of Revolution. In: Utopian Studies 14 (2003), 68–82. Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie [1857]. In: Ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 13. Berlin 1978, 613–644. Marx, Karl: Das Kapital [1867]. In: Ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 23. Berlin 1962. Mill, John Stuart: Über Sozialismus [1879]. In der Übersetzung von Sigmund Freud neu herausgegeben von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert. Hamburg 2016.

„The Spirit of the Age“ (1831)

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Theo Jung

In späteren Jahren hatte Mill selbst von seinem Aufsatz „The Spirit of the Age“, den er zwischen Januar und Mai 1831 als fünfteilige Serie in The Examiner publiziert hatte (CW XXII, 227–234, 238–245, 252–258, 278–282, 289– 295, 304–307, 312–316), keine hohe Meinung mehr. Der Text sei nicht nur „lumbering in style, and not lively or striking enough to be at any time acceptable to newspaper readers“, sondern vor allem „ill timed“ gewesen (CW I, 181). In der aufgeheizten politischen Stimmung im Vorfeld der Parlamentsreform von 1832 habe der hohe Abstraktionsgrad der Argumentation einfach nicht den richtigen Ton getroffen. Diesem Urteil entsprechend wurde dieser Text in der Forschung lange als Jugendwerk abgetan und wenig beachtet. Doch nachdem sich ab den 1960er Jahren vermehrt eine revisionistische Lesart durchsetzte, die in Abgrenzung zu traditionellen Interpretationen von der Vereinbarkeit von Mills utilitaristischer Moralphilosophie und seinem politischen Liberalismus ausgehend eine kohärente liberale Theorie in Mills Werk ausmachte, formierten sich zugleich auch neue Gegenstimmen, die stärker die autoritäre Seite

T. Jung (*)  Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected]

des Mill’schen Denkens betonten und dem Aufsatz daher eine zentrale Rolle in Mills Gesamtwerk zuschrieben. In den sich seitdem um diesen Text entfaltenden Kontroversen wird bis heute um die zentralen Einflüsse auf Mills Werk, um die diachrone Entwicklung seines Denkens, doch vor allem um das systematische Verhältnis zwischen Freiheit und Autorität gerungen. Und so ist die Deutung von „The Spirit of the Age“ im Rahmen der Mill-Forschung inzwischen zu einem Marker grundsätzlicher Positionierungen geworden. „The Spirit of the Age“ wurde in fünf Abschnitten gegliedert publiziert, die jedoch keine stringente Untergliederung der Argumentation darstellen. Im ersten Teil stellt Mill die Frage nach dem Charakter der Gegenwart als Übergangszeitalter, wonach er im zweiten die zentrale Problematik entwickelt, die sich daraus hinsichtlich der Verteilung von intellektueller und moralischer Autorität ergibt. Der dritte und vierte Abschnitt nehmen die Unterscheidung zwischen natürlichen Epochen und Übergangszeiten zum Ausgangspunkt eines doppelten Durchgangs durch die abendländische Geschichte, in dem die historischen Entwicklungen weltlicher Macht einerseits und moralischen Einflusses andererseits erörtert werden. Der letzte Abschnitt vertieft die Analyse der aktuellen Epoche und fragt nach möglichen Wegen, die aus der Krise der Autorität herausführen könnten, bricht aber schließlich r­elativ

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_19

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plötzlich ab mit der Beobachtung, dass die aktuellen Reformdebatten eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist unmöglich machen.

Der Geist einer Übergangszeit Am Anfang der Aufsatzserie steht Mills Beobachtung, dass der im Titel genannte Begriff seit der Französischen Revolution zu einer zentralen Deutungskategorie zeitgenössischer Kulturreflexion aufgestiegen war (Jung 2012; Oergel 2019). In den polemischen Auseinandersetzungen zwischen den begeisterten Lobrednern der Gegenwart und deren kulturkritischen Verleumdern habe sich der Zeitgeistbegriff als zentraler Orientierungspunkt öffentlicher Debatten etabliert. Dabei sei, so Mill, die Popularität dieses Schlagworts paradoxerweise letztlich selbst Ausdruck eines bestimmten ‚Zeitgeistes‘, sofern die ihm eingeschriebene epochale Vergleichsdimension auf den gegenwärtig verbreiteten Glauben, in einem Übergangszeitalter zu leben, verweise. Und so, folgert der Autor, sei es nun also in doppelter Hinsicht an der Zeit, den Charakter der Gegenwart als „age of transition“ genauer zu erfassen (CW XXII, 228–230). An der Basis von Mills Zeitdiagnose liegt die an Auguste Comte (s. Kap. II.4) angelehnte Unterscheidung zwischen den ‚natürlichen‘ Stadien des Geschichtsverlaufs und den dazwischen liegenden Übergangsepochen. Erstere zeichnen sich laut Mill dadurch aus, dass sich die gegebenen Strukturen soziopolitischer Herrschaft mit den Wertvorstellungen der Gesellschaft im Einklang befinden. Die drei Quellen moralischen Einflusses – Weisheit und Tugend, Religion, weltliche Macht – korrespondieren demnach zum einen miteinander und zum anderen mit den etablierten sozialen Hierarchien (CW XXII, 290). Als Beispiele für einen solchen Zustand gelten Mill Athen, Sparta und Rom, vor allem aber Gemeinschaften, die durch eine umfassende religiöse Prägung integriert werden. In den ‚geschichtslosen‘ Gesellschaften der islamischen und hinduistischen Welt existiere die-

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ser Zustand sogar bis in die Gegenwart hinein. Doch dadurch, dass im Christentum von Anfang an der Keim eines progressiven Elements vorhanden gewesen sei, sei die politisch-moralische Einheit der abendländischen christianitas mit dem Mittelalter zu Ende gegangen (CW XXII, 291–293, 305–307). Nachdem in der Reformation zunächst die universelle Geltung des katholischen Glaubens infrage gestellt worden sei, habe der Geist der Kritik nach und nach auch andere Gesellschaftsbereiche erfasst. Und obwohl sich die politische Sphäre dabei zunächst als flexibler und dadurch auch zäher erwiesen habe als die religiöse, habe auch sie sich dem Druck des Fortschritts schließlich nicht erwehren können. Die konkreten Auswirkungen seien dabei je nach Kontext unterschiedlich ausgefallen. In England habe sich nach dem Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts vorübergehend sogar eine neue gesellschaftliche Stabilität etablieren können, als sich auf der Grundlage des britischen Konstitutionalismus mit seinem Schutz des Privateigentums und der Eingrenzung der Regierungsgewalt ein neuer, breit getragener gesellschaftlicher Konsens herausgebildet habe. Doch andere Länder seien weniger glücklich gewesen (CW XXII, 313– 314). Wo der Funken des Fortschritts, wie etwa in Frankreich, auf eine Konstellation traf, in der die Voraussetzungen für einen graduellen Übergang nicht gegeben waren, beseitigten sie laut Mill nicht nur die verkrusteten Strukturen der überkommenen Gesellschaft, sondern entfachten vielmehr einen unkontrollierten Flächenbrand, in dem auch die vorhandenen Keimzellen einer zukünftigen Zivilisationsentwicklung in Flammen aufgingen (CW XXII, 306). Die erbitterte Gegenwehr der herrschenden Mächte gegen den natürlichen Wandel des Zeitgeistes sei dabei nur durch eine Strategie mutwilliger Barbarisierung durchzusetzen gewesen, wie sie exemplarisch unter Napoléon – „in whom all the evil influences of his age were concentered with an intensity and energy truly terrific“ (CW XXII, 307) – zutage getreten sei. Auch Mills Blick auf seine unmittelbare Gegenwart war vom Kontrast zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich geprägt

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(Robson 1986, xliv–xliii). Auf der einen Seite stand dabei die Wahrnehmung der französischen Julirevolution von 1830, mit der Mill sich durch eigene Beobachtung, einen regen Briefwechsel mit Kontakten vor Ort sowie in verschiedenen Presseveröffentlichungen intensiv befasste. Anfangs hatte er die Revolution als Sieg des Fortschritts über die Kräfte der Beharrung begrüßt. Doch schon bald hatten sich der neue König Louis-Philippe und die führende politische Gruppe der Doktrinäre um François Guizot in Mills Augen als Konservative in liberalem Gewand entpuppt. Vor diesem Hintergrund erschien auch die aktuelle Situation in Großbritannien umso kritischer. Die Wahlen von 1830 hatten eine Whig-Regierung unter Führung des Earl Grey an die Macht gebracht, die angesichts einer massenhaften Agitation im Lande eine Reform des Systems parlamentarischer Repräsentation anstrebte. Doch blieb unsicher, ob sich dieser Impuls gegen den Widerstand des Königs, der Tories und des House of Lords durchsetzen konnte. Anstatt sich jedoch, wie in anderen Publikationen dieser Zeit, unmittelbar mit den tagespolitischen Entwicklungen zu beschäftigen, stellt „The Spirit of the Age“ den Versuch dar, den epochalen Rahmenbedingungen der gegebenen Konstellation auf den Grund zu gehen. Damit steht der Aufsatz im Kontext einer Form geschichtsphilosophischer Gesellschaftsdeutung, die im frühen 19. Jahrhundert in ganz Europa Konjunktur hatte (Jung 2014). Seit dem späten 18. Jahrhundert waren verschiedene neue Modi einer verzeitlichten Kulturreflexion aufgekommen, die den Charakter der Gegenwart aus ihrer Stellung in der Abfolge geschichtlicher Epochen herleiteten (Koselleck 1979). In ihrer Folge erhielten auch politische Debatten eine neue Dimension. Es kam der Gedanke auf, dass eine gute Politik nicht nur klug, rational oder tugendhaft, sondern vor allem auch im geschichtlichen Sinne ‚zeitgemäß‘ sein müsse. Der Begriff des Zeitgeistes fungierte als Kristallisationspunkt für diesen neuen Argumentationsmodus. Er evozierte eine geistige Einheit über den Wirrwarr der Einzelphänomene hinaus, die nicht nur einen

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Deutungsrahmen für tagespolitische Ereignisse, Akteure und Entwicklungen, sondern auch eine Grundlage für normative Urteile für oder gegen spezifische Vorgehensweisen bereitstellte. Als rhetorisches Mittel lebte der argumentative Verweis auf den Charakter der gegenwärtigen Epoche von ihrer vordergründig unpolitischen Natur. Unter Bezug auf den Zeitgeist erschienen politische Stellungnahmen im Gewand einer neutralen Diagnose geschichtlicher Möglichkeits- oder sogar Notwendigkeitsbedingungen. Gleichzeitig war mit diesem Analysemodus stets ein implizites Eintreten für die Autorität einer spezifischen Akteursgruppe verbunden, die sich im weitesten Sinne als Intellektuelle avant la lettre bezeichnen lässt: Publizisten ohne formelle politische Stellung, die ihr literarisches oder akademisches Prestige in politischen Einfluss umzumünzen suchten, indem sie sich in verschiedenen öffentlichen Foren als Stimme der Allgemeinheit in Szene setzten. Für sie bot die Zeitgeistanalyse ein attraktives Instrument, ihre politischen Positionierungen gegen den Verdacht ohnmächtiger Kritik von der Seitenlinie oder eigennütziger Agitation zu schützen. Unter Berufung auf ihre höhere Einsicht in die Konstitution der Zeit erschien ihre Artikulation nicht länger als ihre individuelle Sichtweise oder die einer Partei, sondern als Ausdruck der Epoche selbst. In „The Spirit of the Age“ treten solche Strategien der Selbstautorisierung klar zutage. Zwar betont Mill, dass der Transitionscharakter der Gegenwart eigentlich allgemein bekannt sei. Dass „the nineteenth century will be known to posterity as the era of one of the greatest revolutions of which history has preserved the remembrance, in the human mind, and in the whole constitution of human society“ (CW XXII, 228), darf ihm zufolge sogar als Allgemeinwissen gelten. Doch bleibe es bei diesem Wissen in der Regel bei einer dunklen Ahnung, deren richtige Einordnung von verschiedenen Fehldeutungen verhindert werde. Ein erster geläufiger Fehler bestehe dabei im Versuch der ewiggestrigen „men of the past“, die Maßstäbe der Vergangenheit einem Zeitalter anzulegen, auf das sie nicht mehr passen. Mit ihren

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Augen „in the back of their heads“ (CW XXII, 229) fasse diese Gruppe jede Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse als deren endgültige Zerstörung auf. Doch ist das nicht die einzige Art der Verblendung, die Mill zufolge einem richtigen Verständnis der Gegenwart im Wege steht. Genauso fehlerhaft sei die Sicht der sogenannten „men of the present age“ (CW XXII, 228, 239). In ihrer selbstgefälligen Zufriedenheit über den zurückgelegten Weg des Fortschritts übersehe diese Gruppe, dass die Menschheit „have outgrown old institutions and old doctrines, and have not yet acquired new ones“ (CW XXII, 230), ein Zustand, der letztlich nicht von Dauer sein könne. Nur unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Zukunft verrate die Gegenwart also ihren eigentlichen Charakter. Dafür brauche es allerdings einen radikalen Perspektivwechsel, der nur von einem „man who is capable of other ideas than those of his age“ (CW XXII, 239) vollzogen werden könne. Dass Mill damit nicht zuletzt sich selbst meinte, wird spätestens dann deutlich, wenn er betont, dass im Übergangszeitalter die Jugend „the sole hope of society“ (CW XXII, 295) darstelle. Angesichts des beschleunigten Entwicklungstempos konnte Mill zufolge der Erfahrungsschatz des Alters für den Umgang mit den gewandelten Verhältnissen der Zukunft keine verlässliche Richtschnur mehr sein; sofern er immer wieder mühselig abgelegt werden müsse, stelle er sogar einen Nachteil dar (CW XXII, 293–295).

Der doppelte Zerfall gesellschaftlicher Autorität Im Fokus von Mills Zeitdiagnose steht das Problem der Autorität (Kinzer 2015), das sich aus dem Übergangscharakter des gegenwärtigen Zeitalters ergibt und dabei gleichzeitig die Ebenen des Denkens und der politischen Herrschaft betrifft. Mill nutzt die Kontrastfolie des natürlichen Gesellschaftszustands, um den spezifischen Charakter der eigenen Transformationszeit genauer zu konturieren. Im Bereich des Wissens zeichne sich das natürliche Gleichgewicht zunächst dadurch aus, dass unter den

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intellektuellen Eliten Einigkeit über gewisse Basisprinzipien bestehe. In der Folge erlangten diese nach und nach Geltung für die gesamte Gesellschaft. Nun sei die große Masse der Bevölkerung sicherlich nicht im Stande, die Beweisführung für die Richtigkeit dieser Prinzipien im Detail nachzuvollziehen. Zwar wäre sie prinzipiell dazu fähig, insofern der allgemeine Intelligenzgrad dazu in der Regel ausreichen würde. Doch fehle den meisten einfach die Zeit und Energie, sich so lange mit solch abstrakten Fragen zu beschäftigen. Somit basiere ihre Akzeptanz der allgemein anerkannten Wahrheiten nicht auf eigener Urteilskraft, sondern auf dem Vertrauen in das autoritative Urteil der Gebildeten (CW XXII, 238–244). Diese harmonische Situation ändere sich jedoch mit dem Anbruch des Übergangszeitalters. Obwohl Mill die erzielten Wissensfortschritte der Neuzeit keinesfalls in Zweifel zieht, kehrt er sich doch gegen das allzu optimistische Bild vom unaufhaltsamen Wachstum des menschlichen Geistes. Zwar sei der Gesamtbestand des Wissens erheblich erweitert worden und auch seine gesellschaftliche Verbreitung sei merklich vergrößert. Doch ein qualitativer Fortschritt sei dadurch (noch) nicht in allen Bereichen erfolgt. Im Gegenteil. In der Anhäufung neuen Wissens und seiner intensivierten öffentlichen Diffusion seien die Unzulänglichkeiten der überlieferten Vorstellungen zwar immer deutlicher zutage getreten. Ein Fundus an neuen, allgemein akzeptierten Prinzipien habe sich in diesem Gewimmel der Meinungen aber – zumindest mit Blick auf moralische Fragen – noch nicht etablieren können (CW XXII, 231–234, 244–245). So befinde sich die Menschheit gegenwärtig in einem Zustand der „intellectual anarchy“ (CW XXII, 233). Da sich die intellektuellen Eliten nicht länger auf gemeinsame Prinzipien einigen könnten, gehe ihre Autorität beim einfachen Volk nach und nach verloren, das sich nun gezwungen sehe, sich auf sein eigenes, notwendigerweise unzulänglich ausgebildetes Urteilsvermögen zu verlassen. Analog zur Orientierungslosigkeit im Bereich des Wissens hat es Mill zufolge auch die soziale Herrschaftsordnung im Übergangszeitalter

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mit einem Einbruch der überlieferten Autoritätsstrukturen zu tun. Im natürlichen Gesellschaftszustand hätten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse mit der unterschiedlichen Eignung der Individuen für ihre jeweiligen Positionen im gegebenen Herrschaftsgefüge korrespondiert (CW XXII, 252–258, 289–291). In manchen Fällen hätten dieser Entsprechung Auslesemechanismen zugrunde gelegen, die sicherstellten, dass nur die geeignetsten Personen in Führungspositionen berufen wurden. Doch oft sei das Verhältnis genau umgekehrt und seien Personen, die sich aus anderen, kontingenten Gründen in höheren Positionen fanden, erst durch ihre Stellung – durch die Erfahrungen, die sie darin machen, und den spezifischen Anforderungen, denen sie ausgesetzt waren – nach und nach zu denen geworden, die für ihre Position tatsächlich am besten geeignet waren – „forced, whatever might be their taste for incapacity, to become men of talents in spite of themselves“ (CW XXII, 280). Im Übergangszeitalter jedoch stehe das Korrespondenzverhältnis zwischen der Macht und der Eignung für sie aus zwei Gründen unter Druck. Einerseits steige im Laufe des Zivilisationsprozesses der allgemeine Bildungsgrad, während gleichzeitig immer mehr zivilgesellschaftliche Strukturen entstünden, in denen sich auch einfache Bürger Tag für Tag im „self-government“ (CW XXII, 315) üben können (s. Kap. IV.22). Andererseits entwickelten sich die Eliten laut Mill aber nicht entsprechend weiter. Da ihre gesellschaftliche Position inzwischen so gut wie unantastbar abgesichert sei und sie sich kaum noch in der Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Umständen behaupten müssten, verfielen sie im Gegenteil mehr und mehr in Luxus und Indolenz. Während also die von der Macht ausgeschlossenen Gruppen sich zunehmend die Eigenschaften aneigneten, die für eine gute Ausfüllung verantwortungsvoller Positionen nötig wären, verloren deren tatsächliche Inhaber diese (CW XXII, 278–282). Die Autorität der Eliten, das Vertrauen in ihre höhere Fähigkeit zur Ausübung weltlicher Macht, das zuvor die Stabilität des Gesellschaftssystems gestützt hatte, habe sich

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dementsprechend zu einem „broken spell“ (CW XXII, 315) verwandelt. In Mills Augen war die zentrale Frage der Gegenwart also, wie aus dem anarchischen Schwebezustand des Übergangszeitalters wieder ein neuer natürlicher Zustand entstehen könne (CW XXII, 241). Dabei zeigte er sich generell zuversichtlich, ohne allerdings eigens auf die konkrete Gestalt der zukünftigen Gesellschaftsordnung einzugehen. Auf der intellektuellen Ebene hatte er keine Zweifel daran, dass die „first men of the age will one day join hands and be agreed“ (CW XXII, 245). Der gegebene Basiskonsens im Bereich der Naturwissenschaft lasse schon jetzt erahnen, was auch in anderen Bereichen des menschlichen Wissens möglich ist, auch wenn noch nicht absehbar sei, wie die Konturen eines zukünftigen moralischen Paradigmas de facto aussehen könnten. Doch schon bevor diese neue Einstimmigkeit im Bereich des Wissens erreicht werden könne, stehe zunächst eine Umwandlung des soziopolitischen Herrschaftssystems bevor. Aus dieser historischen Reihenfolge ergibt sich Mill zufolge nun das Problem, dass die unmittelbar bevorstehende gesellschaftliche Transformation sich nicht an einem zuvor etablierten, allgemein anerkannten moralischen System wird orientieren können. Vielmehr wird sich ihre Umgestaltung auf die situative „force of circumstances“ verlassen müssen, „which makes men see that, when it is near at hand, which they could not foresee when it was at a distance, and which so often and so unexpectedly makes the right course, in a moment of emergency, at once the easiest and the most obvious“ (CW XXII, 245). Obwohl die konkreten Ergebnisse dieses Prozesses somit in hohem Maße kontingent sein würden, sei ihre generelle Tendenz in einigen Punkten schon jetzt eindeutig erkennbar. Der Wandel der Regierungsformen, der sich auf großen Teilen des europäischen Kontinents schon vollzogen habe, sei auch in Großbritannien unausweichlich. Das Prinzip der „hereditary distinction“, durch das der Adel die gesellschaftliche Macht monopolisiere, könne auf Dauer keinen Bestand haben. Die überkommenen Institutionen seien sichtlich marode und die alten E ­ liten

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hätten ihre Legitimität eingebüßt. Eine Umwandlung des gesamten Gesellschaftsgefüges stehe bevor, eine soziale und moralische Revolution, die aber – wie Mill mit Blick auf das französische Beispiel betont – „shall […] take away no men’s lives or property, but which shall leave to no man one fraction of unearned distinction or unearned importance“ (CW XXII, 245). An ihrem Ende werde also vor allem eine Ablösung der Eliten stehen, bei der die Macht vom „stationary“ auf den „progressive“ Teil der Gesellschaft übergehen werde. So würden die tugendhaftesten und am besten ausgebildeten ihre rechtmäßige Position an der Spitze einnehmen, „by which alone England can emerge from this crisis of transition, and enter once again into a natural state of society“ (CW XXII, 316).

Deutungen und Kontroversen Der letzte Teil der Serie, der Ende Mai 1831 erschien, bricht ab mit Mills (nicht eingelöstem) Versprechen, seine Erörterungen nach der Verabschiedung der Parlamentsreform wieder aufzugreifen, da eine Analyse wie diese, in einem Moment, in dem die tagespolitischen Entwicklungen alle in Atem hielten, nicht auf die entsprechende Resonanz beim Publikum hoffen könne (CW XXII, 316). In der Tat verhallte der Text zunächst ohne merkliches Echo. Einzig von Thomas Carlyle ist bekannt, dass er sich freute, endlich einen Seelenverwandten entdeckt zu haben, der die Epoche nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen blauäugig als „the best of all possible ages“ betrachtete (CW I, 181; CW XII, 85–86). Aus seiner Kontaktaufnahme mit dem jungen Mill ergab sich eine Freundschaft, die auf Mills intellektuelle Entwicklung einen bedeutsamen und dauerhaften Einfluss haben würde (Pankhurst 1957; Culler 1985). Umgekehrt scheint Carlyle „The Spirit of the Age“ durchaus aktiv rezipiert zu haben, denn als er wenige Monate später schrieb, dass „the Old has passed away: but, alas, the New appears not in its stead; the Time is still in pangs of travail with the New“ (Carlyle 1831, 375), darf darin wohl

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ein leiser Abklang der Gedanken über das Übergangszeitalter erkannt werden. Als sich Mill 1859 dagegen entschied, den in seinen Augen missglückten Aufsatz in seine Aufsatzsammlung Dissertations and Discussions aufzunehmen, blieb dieser fast ein Jahrhundert lang wie vom Erdboden verschwunden, bis ihn die Forschung im 20.  Jahrhundert wiederentdeckte. In diesem Zusammenhang nimmt der Text seitdem insofern eine durchaus bedeutende Stellung ein, als dass sich an seiner Interpretation viele grundsätzliche Debatten über die Einheit und Entwicklung des Mill’schen Denkens knüpfen (Friedman 1968, 379–385). An der Basis dieser Kontroversen liegt die Beobachtung, dass „The Spirit of the Age“ zu den in den späteren Werken vertretenen Thesen zumindest in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht sogar im Widerspruch stehe. Besonders die positive Hervorhebung der Rolle der Autorität und der scharfen Trennung zwischen den Eliten und den Volksmassen lassen sich, so scheint es, mit dem emanzipatorischen Impetus und dem individualistischen Freiheitsbegriff (s. Kap. V.27), für die der Name Mill in vielen Bereichen bis heute steht, nicht leicht in Einklang bringen. Auffällig ist dabei, wie verschiedene Interpreten entsprechend versuchen, den Aufsatz einem Autor zuzuordnen, der höchstens einen „transitional Mill“, doch nicht den „real Mill“ darstelle (Ryan 1974, 41; Ten 1980, 169–170). In gewisser Weise gegen Mill selbst verortete etwa auch Friedrich Hayek den Text weniger in einer epochalen als in einer biographischen Übergangsphase. „The Spirit of the Age“ müsse als Ausdruck der intellektuellen Verunsicherung nach den Depressionen der Jahren 1826 bis 1828 betrachtet werden (s. Kap. I.1), als Mill zwar den „boy writer“, der sich als „zealous sectarian“ für die utilitaristische Sache seines Vaters einsetzte, hinter sich gelassen, aber noch nicht zum „austere und balanced philosopher“ seiner späteren Jahre gefunden hatte (Hayek 2015 [1942], 273–274). Auch Forscher, die sich dem Werk aus systematischer Perspektive nähern, fühlen sich regelmäßig zu einer klaren Entscheidung für oder

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gegen die in diesem frühen Aufsatz vertretenen Standpunkte genötigt. Eine Mehrheit bilden dabei diejenigen, für die die starke Betonung individueller Freiheit insbesondere in On Liberty (s. Kap. III.13) den eigentlichen Mill darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Verteidigung der natürlichen Autorität der intellektuellen und politischen Eliten in „The Spirit of the Age“ als intellektueller Irrweg, als „laborious nonsense, of which Mill himself was later much ashamed“ (Packe 1970, 98). Neben der Entschuldigung der Jugend spielt in solchen Deutungen regelmäßig auch die Erklärung eine Rolle, dass Mill in dieser Phase unter dem prägenden Einfluss des Saint-Simonismus gestanden habe (Culler 1985, 50–53). In der Tat hatte Mill seit 1828 durch die Vermittlung des Comte-Schülers Gustave d’Eichthal enge Beziehungen zu den Pariser Saint-Simonisten aufgebaut. In „The Spirit of the Age“ finden sich verschiedene Motive, die diesem Kontext entstammen. Das gilt etwa für den positivistischen Glauben an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Klärung nicht nur naturwissenschaftlicher, sondern auch moralisch-politischer Fragen. Auch spiegelt sich in der geschichtsphilosophischen Unterscheidung zwischen den natürlichen Epochen und den dazwischenliegenden Überganszeitaltern deutlich Saint-Simons Gegenüberstellung von organischen und kritischen Zeitaltern wider. Zwar würde Mill die Aufforderungen, sich den SaintSimonisten offiziell anzuschließen, immer freundlich ablehnen. Doch betonte er in seinem Briefwechsel mit ihnen, dass er sich ihren Ideen durchaus verbunden fühlte: „I think you will be pleased with two or three articles of mine in the Examiner, headed ‚The Spirit of the Age‘, […] although I am not a St Simonist nor at all likely to become one, je tiens bureau de St Simonisme chez moi“ (Mill an d’Eichthal 01.03.1831, CW XII, 71; Herv. i. O.). Allerdings lag in solchen Beteuerungen auch etwas höfliche Übertreibung, denn nicht weniger eklatant als die Parallelen mit dem Gedankengut der Saint-Simonisten sind die Unterschiede. Anders als in anderen Texten bleibt in Mills Konzeption des bevorstehenden gesellschaftlichen

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Transformationsprozesses in „The Spirit of the Age“ eine Umverteilung des Eigentums ausdrücklich außen vor. Auch über die von den Saint-Simonisten vertretenen, zum Teil durchaus radikalen Sozialreformpläne verliert er an dieser Stelle kein Wort. Dasselbe gilt für die Konzeption einer neuen Religion der Menschheit. Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene richtet sich die Argumentation des Aufsatzes schließlich dezidiert gegen den Glauben, die intellektuellen und politischen Grundprinzipien des zukünftigen Zeitalters schon in der Gegenwart deduktiv herleiten zu können. Mills Erörterungen bleiben vorläufig, eine Besinnung auf eine Situation, in der zumindest in moralisch-politischen Fragen keine gesicherte, allgemeingültige Basis für autoritative Stellungnahmen gegeben ist (Raeder 2002, 46–86). In dieser Hinsicht entfernt sich der Aufsatz somit vom Saint-Simonismus und zeigt vielmehr Parallelen zur utilitaristischen Autoritätstheorie, wie sie etwa John Austin 1829 in einer von Mill besuchten Vorlesung (1832) über Jurisprudenz entwickelt hatte (Friedman 1968). In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis zwischen „The Spirit of the Age“ und dem unter dem Titel „Civilization“ (s. Kap. IV.22) bekannt gewordenen Essay, das fünf Jahre später erschien, kontrovers diskutiert worden. Verschiedene Autoren haben die inhaltlichen Parallelen zwischen beiden Texten hervorgehoben, wobei allerdings auch immer wieder betont wurde, dass der spätere Text dieselben Gedanken deutlich klarer ausgedrückt habe (Ryan 1974, 41). Gegen diese Deutung hat jedoch Michael Levin (2004, 14–25) darauf hingewiesen, dass „Civilization“ der ausdrückliche Fortschrittsoptimismus des früheren Textes abgehe. Anstelle der Zuversicht über das Bevorstehen eines neuen natürlichen Zeitalters sei durch die zwischenzeitliche Auseinandersetzung mit Tocqueville die Sorge über die sich ankündigende Massengesellschaft und ihre erstickende Wirkung auf die individuelle Freiheit getreten (s. Kap. II.7). Da sich die Mill-Forschung bis heute mehrheitlich auf die späteren Werke konzentriert, erscheint „The Spirit of the Age“ im Rahmen

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des Gesamtwerks oft als erklärungsbedürftiger Fremdkörper. Dieser Tendenz gegenüber findet sich seit den 1960er Jahren jedoch eine Reihe von Deutungen, die gerade den Autor von „The Spirit of the Age“ als den eigentlichen Mill betrachten, der vom einseitigen Fokus auf die Spätwerke verdeckt worden sei. Diese Interpreten fassen die These, dass der natürliche Zustand des Menschen in der freiwilligen Unterwerfung unter der Autorität natürlicher Eliten liege, als zentrale Einsicht des Mill’schen Denkens auf. Daher stellt sich für sie nun umgekehrt die Frage, wie das augenscheinliche Abrücken von dieser Sichtweise im Spätwerk zu erklären sei. Auch auf dieser Seite der Debatte wurde teilweise auf biographische Argumente zurückgegriffen. Die amerikanische Historikerin Gertrude Himmelfarb (1974) etwa führte das ‚Abdriften‘ Mills in einen immer radikaleren Liberalismus auf den negativen Einfluss Harriet Taylors (s. Kap. II.6) zurück. Diese sei es auch gewesen, die die Aufnahme von „The Spirit of the Age“ in die Dissertations and Discussions verhindert und so der Nachwelt eine Kenntnisnahme dieser zentralen Schrift vorenthalten habe. Unter einem stärker systematischen Gesichtspunkt sind analoge Deutungen prominent etwa von Maurice Cowling (1963) und vor allem Joseph Hamburger vertreten worden. In den Augen des letztgenannten Autors etwa stellte für Mill die individuelle Freiheit keinen Selbstzweck, sondern nur ein vorübergehendes Erfordernis des Überganszeitalters dar, eine notwendige, aber temporäre Voraussetzung für die moralische Regeneration der Menschheit (Hamburger 1999, 166–202). Ihre einseitige Betonung in On Liberty sei somit vor allem didaktisch zu verstehen, als Instrument zur Beseitigung der überkommenen Gesellschaftsstrukturen und damit als Vorbereitung auf die Gründung eines neuen natürlichen Zeitalters. Aus einem systematischen Positionswandel wurde unter diesem Gesichtspunkt also ein didaktischer Strategiewechsel, der sich mit Blick darauf, dass das Publikum im Übergangszeitalter für eine explizite Exposition der neu zu gründenden Autoritätsstrukturen einfach noch nicht bereit sei, im Spätwerk zunehmend auf die negative Seite des

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Arguments beschränkt habe. In diesem Sinne habe Mill nicht nur jeden Hinweis auf seine Konzeption einer zukünftigen „religion of humanity“ mutwillig unterschlagen, sondern auch von einer Neupublikation von „The Spirit of the Age“ abgesehen. So erscheint aus Sicht dieser Interpretation die zeitübergreifende, systematische Einheit des Mill’schen Werks wiederhergestellt, allerdings um den Preis einer radikalen Unterscheidung zwischen Esoterik und Exoterik, die über das auf der expliziten Textebene Vertretene weit hinausgreifen muss. Die anfänglichen Grabenkämpfe zwischen den beiden geschilderten Deutungstraditionen haben sich inzwischen etwas gelegt. Doch bleiben die beiden Pole dieser Debatte zumindest dahingehend bis heute leitend, dass sich ein Großteil der Forschung inzwischen um einen dritten Weg zwischen den beiden Extremen bemüht. In der Regel wird dabei die grundsätzliche Opposition zwischen Autorität und Freiheit, die den Kontroversen zugrunde lag und liegt, kritisch hinterfragt. Schon Richard Friedman hatte in diesem Sinne betont, dass die „deference to authority“ vom „submission to coercive power“ unterschieden werden müsse, sodass die Anerkennung legitimer Autorität mit dem Anspruch auf individuelle Freiheit keineswegs im Widerspruch stehen müsse (1968, 398). Ein ähnlicher Vermittlungsgestus kann umgekehrt auch, wie es Frauke Höntzsch vorgeschlagen hat, bei einer Differenzierung des Freiheitsbegriffs ansetzen. Wenn der Freiheitsbegriff nicht auf die Frage nach den Grenzen individueller Handlungsspielräume eingeschränkt, sondern als komplexe, auf die Entfaltung des sozialen Wesens des Menschen ausgerichtete Kategorie konzipiert wird, erscheinen Elemente der sozial-politischen Kohäsion – und auch die damit notwendigerweise verbundenen Aspekte von Autorität, Konvention, Disziplin und Zwang – nicht länger als ihre Einschränkungen, sondern vielmehr als ihre ermöglichenden Voraussetzungen (Höntzsch 2010, 162–166). Nach dieser Interpretation wäre die individuelle Freiheit dann auch kein vorübergehendes Instrument mehr, das mit der Etablierung eines neuen natürlichen Zeitalters seine Funktion verliert.

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Indem auf den inneren Zusammenhang von Freiheit und Autorität hingewiesen wird, können die scheinbaren Widersprüche zwischen dem Früh- und Spätwerk auf einer höheren Ebene als zwei Seiten einer einheitlichen Konzeption verstanden werden. Allerdings fällt aus einer solchen Perspektive notwendigerweise der Aspekt der diachronen Entwicklung in den Schatten, ein Aspekt also, der gerade mit Blick auf die formulierten Zukunftsperspektiven nicht unbeträchtlich erscheint. Hatte Mill in „The Spirit of the Age“ noch ausdrücklich auf die Etablierung eines natürlichen Zeitalters gehofft, so schwebte ihm am Ende seines Lebens vielmehr eine Art Mischepoche vor, eine Zukunft „which shall unite the best qualities of the critical with the best qualities of the organic periods: unchecked liberty of thought, unbounded freedom of individual action in all modes not hurtful to others; but also, convictions as to what is right and wrong, useful and pernicious, deeply engraven [sic] on the feelings by early education and general unanimity of sentiment, and so firmly grounded in reason and in the true exigencies of life, that they shall not, like all former and present creeds, religious, ethical, and political, require to be periodically thrown off and replaced by others“ (CW I, 173).

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Three Essays on Religion (1874, posthum)

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Hans Jörg Schmidt

Bei den Three Essays on Religion (CW X, 369– 489) handelt es sich um eine spätere Zusammenführung von zu verschiedenen Zeiten entstandenen Arbeiten Mills zum Themenbereich der Religion (Millar 1998). Die beiden ersten Essays („Nature“ und „Utility of Religion“) entstanden in etwa parallel zur Arbeit Mills an On Liberty (s. Kap. III.13) Ende der 1850er Jahre. Hieraus erhellt sich auch die in der Mill-Forschung gelegentlich vertretene Interpretation der Freiheitsschrift als eine Auseinandersetzung mit der Frage der Religionsfreiheit (Hamburger (1991, 169) interpretiert On Liberty dezidiert als religiöse Abhandlung). Mit Blick auf Desiderate der Forschung kann die Fragestellung ausgeweitet werden auf die allgemeine Bedeutung der Religion für Mills Werk (vgl. etwa bezüglich der staatstheoretischen und politischen Schriften Schröder 2009; s. Kap. IV.38). Ein weiterer Referenzrahmen der Essays ist Mills Utilitarianism (s. Kap. III.12), wie es Helen Taylor, Harriet Taylors Tochter (Robson 1991), in ihrer einleitenden Bemerkung zu den posthum von ihr herausgegebenen Essays ausführt (CW X, 371–372; AW V, 374–376). In den ersten beiden Essays ist die Frage nach der Nütz-

H. J. Schmidt ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected]

lichkeit der Religion wesentlich. Das später entstandene, wesentlich ausführlichere Essay über den „Theismus“ beschäftigt sich dahingegen vornehmlich mit der Vorstellung eines Glaubens an einen Gott als Schöpfer und Lenker der Welt. Wegen der thematischen Nähe zu den beiden früheren Texten hat Helen Taylor diese Schrift mit den beiden früheren zu den Three Essays on Religion zusammengeführt. Entstanden in den Jahren von 1868 bis 1870 ist der „Theismus“-Text von Mill nicht als Fortführung der beiden früheren Beiträge geschrieben worden. Außerdem war er nicht der sonst üblichen mehrfachen Revision unterzogen worden, einem von Mill normalerweise praktizierten Verfahren, das er in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) ausführlich schildert (CW I, XX; AW II, 187). Dennoch hat Helen Taylor als Mills Nachlassverwalterin, deren bedeutsame Rolle im Wechselspiel mit ihrem Stiefvater genauso wie ihre unkonventionelle Biographie noch wenig erforscht ist, den ‚unfertigen Text‘ mit der Begründung publiziert, dass sich in dieser späten Arbeit Mills „the latest state of the Author’s mind, the carefully balanced result of the deliberations of a lifetime“ dokumentiere (CW X, 372; AW V, 376). Zwar wollte Mill im Jahr 1873 noch seine Schrift über „Nature“ publizieren, wie seine Stieftochter betont. Die Veröffentlichung „was not withheld by him on account of reluctance to encounter whatever odium might result from the free expression of his opinions

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_20

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of religion“ (CW X, 372; AW V, 375). Aber „the Author’s habit in regard to the public utterance of his religious opinions“ hätte ihn dann doch davon abgehalten (CW X, 372; AW V, 375). Mills Annahme, seine Einstellung zu religiösen Fragen könnten Widerspruch in der von religiösem Traditionalismus geprägten viktorianischen Öffentlichkeit auslösen, wird durch zahlreiche kontroverse Einlassungen seiner Zeitgenossen belegt (Sell 1997). Die ablehnende Aufnahme des Textes in religiösen und säkularen Kreisen wirkt weit über die 1870er Jahre hinaus. Beispielsweise geht die in der Auseinandersetzung mit Mill anzutreffende Fremdbeschreibung als „Heiliger des Rationalismus“ auf die Kritik an Mills Religionskritik zurück (Wellington 1905). Wenngleich als positiv gewendetes Attribut hallt sie bis in die gegenwärtige Mill-Forschung nach (Varouxakis/Kelly 2010). In der Autobiography, die eine wesentliche Quelle zum Verständnis von Mills religionskritischen Ansichten darstellt, äußert sich Mill aufschlussreich zu der frühen Präsenz bzw. Absenz von Religion in seinem Leben und schreibt zur Genese seines Agnostizismus: „I was brought up from the first without any religious belief, in the ordinary acceptation of the term. My father, educated in the dreed of Scotch presbyterianism, had by his own studies and reflexions been early led to reject not only the belief in revelation, but the foundations of what is commonly called Natural Religion“ (CW I, 41; AW II, 49). Im Hause der Mills wurde Religion sogar als ‚moralisches Übel‘ angesehen (CW I, 43; AW II, 50). Trotzdem war Mill früh mit der Kirchen- und Reformationsgeschichte konfrontiert, etwa unter dem Aspekt des Kampfes der freien Gedanken, der historischen Wandelbarkeit der Meinungen oder im Rahmen seiner Überlegungen zur Zivilisationsgeschichte (s. Kap. IV.22), und schrieb im Rahmen seiner Stadientheorie der christlichen Religion einen wesentlichen Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit zu (s. Kap.II.4). Fragen der Religion thematisierte er früh zum Beispiel in der Artikelserie „Spirit of the Age“ (s. Kap. IV.19) in Gestalt einer Kritik an der Autorität der ‚Deu-

H. J. Schmidt

ter des göttlichen Willens‘ (CW XII, 290; AW V, 86). Im Hinblick auf seine religiöse Sozialisation stellt er sich als „one of the few examples, in this country“ dar, „who has, not thrown off religious belief, but never had it“, da er in dem Zustand der Verneinung herangewachsen sei (CW I, 45; AW II, 52). In der öffentlichen Bekundung seiner Ansichten über Religion übte sich Mill wegen seines Außenseiterstatus allerdings in Vorsicht. So verweist er in der Autobiography auf seinen Vater James, der ihn früh darauf aufmerksam gemacht habe, dass diese Ansichten „could not prudently be avowed to the world“ (CW I, 45; AW II, 52), was er beim Abfassen seiner Lebensbeschreibung als moralischen Nachteil für seine geistige Entwicklung reflektierte. In Diskussionen mit Freunden bekam Mill als Jugendlicher am eigenen Leib zu spüren, wie nachteilig es im viktorianischen England sein konnte, sich negativ über Religion zu äußern. Das macht verständlich, warum Mill sich bis zu seinem Lebensende – gerade auch gegenüber der Autorität seines Vaters – darin schwertat, ausführlicher öffentlich zur Religionsfrage Stellung zu nehmen, und weshalb seine diesbezüglichen Texte erst posthum veröffentlicht wurden. Vor der genannten biographischen Folie ist es keine Petitesse, sondern zielt in den nonkonformistischen Kern von Mills durch intellektuelle Offenheit geprägten Liberalismus und spricht für seine beständige Suche nach der Wahrheit mit Mitteln der Deliberation, dass er von dem protestantischen Pastor Louis Rey mit zu Grabe getragen wurde. Ihn hatte er in seinem Altersruhesitz in Avignon kennengelernt und sich in Gesprächen über die unterschiedlichen Standpunkte bezüglich der Religion ausgetauscht (Rey 1921). Mills Kritik richtete sich nicht vorrangig gegen die in der Religion nach Wahrheit und Letztgültigkeit suchenden Individuen, sondern gegen die zur Absolutheit tendierenden Institutionen, seien es in religiöser Hinsicht die Kirchen mitsamt ihren herrschaftsstabilisierenden Theologien oder in politischer Hinsicht von ihm ebenso heftig gebrandmarkte Despotien. Der befreundete Geistliche musste sich, um den bio-

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graphischen Blick auf Mill und sein Verhältnis zur Religion abzuschließen, in der Lokalpresse öffentlich gegenüber seiner Glaubensgemeinde entschuldigen, dass er ein Gebet an der letzten Ruhestätte Mills ausgesprochen hatte (Reeves 2007, 480). Angesichts solcher zeitgenössischer Empfindlichkeiten, die auf die kontroverse Rezeption der Religionsschriften vorausdeuten, scheint es im Rückblick umso verständlicher, dass der stets differenziert argumentierende Mill lediglich das in religionskritischer Hinsicht unverfänglichere „Nature“-Essay – welches auch als Argumentationshilfe für Mills und Taylors Positionen in der Frauenfrage (s. Kap. III.16), in der sie ebenfalls ‚anti-naturalistisch‘ argumentieren, interpretiert werden kann – zur Publikation vorbereitete. Wie er darin andeutet, habe sich der Zeitgeist gewandelt und es gebe inzwischen eine beträchtliche Anzahl an Religionsskeptikern. Seither sei, wie er in der Autobiography die Entwicklung reflektiert und einen weiteren Hinweis auf die enge Verknüpfung der Fragen von Religion und Meinungsfreiheit (s. Kap. V.33) gibt, ein „great advance in the liberty of discussion“ erreicht worden: „On religion in particular the time appears to me to have come, when it is the duty of all who being qualified in point of knowledge […] to make their dissent known“ (CW I, 47; AW II, 53). Der grundlegende Vorschlag, den Mill in der Religionsfrage in seinen Schriften unterbreitet, ist, die Vorzüge des Charakters an die Stelle des religiösen Dogmas zu setzen und sich angesichts der Theodizee-Frage an einem ‚Ideal des Guten‘ zu orientieren anstatt „to find absolute goodness in the author of a world so crowded with suffering and so deformed by injustice as ours“ (CW I, 47 f.; AW II, 54). Inwiefern das eine dezidierte „Religion der Menschlichkeit“ begründet (Megill 1972; Raeder 2002) sei dahingestellt (s. Kap. V.38). Mills ebenfalls von Religions- und Absolutheitskritik geprägte Auseinandersetzung mit dem späten Auguste Comte (s. Kap. II.4) weist in eine andere Richtung.

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„Nature“ Im auch heute – unter dem Vorzeichen der Umwelt- und Naturschutzdebatte – noch absolut lesenswerten Essay „Nature“ wendet sich Mill „in einem Kabinettstückchen analytischer, auf genauen Begriffsunterscheidungen insistierender und weithin mit rein logischen Mitteln argumentierender Ethik“ (Birnbacher 1984, 226) gegen die ‚Begriffsverwirrungen‘, die sich um diesen mehrdeutigen Ausdruck ranken (CW X, 373; AW V, 377). In der einfachen Wortbedeutung sei Natur „a name for the mode, partly known to us and partly unknown, in which all things take place“ (CW X, 374; AW V, 379). Demgegenüber könne man unter Natur auch das verstehen, „what take place without the agency, or without the voluntary and intentional agency, of man“ (CW X, 375; AW V, 380). Zentrale Frage und zugleich Mills Hauptkritikpunkt ist nun, was es impliziert, wenn die Natur entgegen diesen Wortbedeutungen zum Kriterium der Moral erhoben wird. Dies führt Mill zu einer dritten Verwendung „of the word Nature as a term of ethics“, bei der es sich aber lediglich um die Manifestierung einer ‚Sprachregelung‘ handele, durch die die Natur als normativer Maßstab des Handelns festgelegt werden soll (CW X, 377; AW V, 383). Ausgehend davon sieht Mill seine Aufgabe in der Untersuchung „[of] the doctrines which make Nature a test of right and wrong, good and evil, or which in any mode or degree attach merit or approval to following, imitating, or obeying Nature“ (CW X, 377 f.; AW V, 384). Im Interesse unverstellter Erkenntnisse liegt Mill im Gang seiner auf eine Theorie der Natur gerichteten, rhetorisch mustergültigen Erörterung daran, die Sprache als ‚Atmosphäre der philosophischen Forschung‘ zu durchleuchten (CW X, 378; AW V, 384). Dezidierter noch geht es ihm um die Kritik an der Verknüpfung des Naturdiskurses mit dem Gesetzesdiskurs über den Begriff des ‚Naturgesetzes‘. Insofern handelt es sich bei Mills Text auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der Naturrechtstradition (Devigne 2006). Denn in der Rede von

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der Naturgesetzlichkeit werde Normativität mit Faktizität bemäntelt. Auch komme es im Diskurs immer wieder zur Vortäuschung falscher Autoritäten, weil die Menschen durch eine solche Argumentation aufgefordert würden, sich nach den Naturgesetzen zu richten. Diese Aufforderung ist für Mill ‚schlechterdings absurd‘, weil Menschen im deskriptiven Sinne normalerweise nicht umhinkommen, sich nach den Gesetzten der Natur, zum Beispiel nach den Gesetzen der Schwerkraft, zu verhalten (CW X, 379; AW V, 386). Seine darauf fußende Erkenntnis formuliert Mill folgendermaßen: „Man necessarily obeys the laws of nature, or in other words the properties of things, but he does not necessarily guide himself by them“ (CW X, 379, Herv. i. O.; AW V, 386). Anstelle der Natur moralisch zu folgen, rät Mill, diese wissenschaftlich zu studieren und das Ziel und den Zweck des menschlichen Handelns in Bezug auf die Natur darin zu erkennen, „to alter and improve Nature“ (CW X, 380; AW V, 388–389). Mill fordert außerdem anzuerkennen, „[t]hat the ways of Nature are to be conquered, not obeyed: that her powers are often towards man in the position of enemies, from whom he must wrest, by force and ingenuity“ (CW X, 381; AW V, 389). Mills Argumentation richtet sich gegen jegliche Fortschrittskritik, die aus einem ‚gewissen religiösen Argwohn‘ (CW X, 381; AW V, 389) entstehe und jeglichen „attempt to mould natural phenomena to the convenience of mankind“ als „an interference with the government of those superior beings“ erscheinen lasse (CW X, 381; AW V, 390). Anhand von Alltagsbeispielen illustriert Mill die Konsequenzen, die eine Fortschrittskritik im Sinne einer religiös-moralischen Aufladung der Natur zur Folge haben könnte. Schließlich würde auch niemand das Aufspannen eines Regenschirms als gottlos erachten, weil es gegen die Naturgesetze gerichtet sei. Ebenso kritisch bewertet Mill die Vorstellung, die Natur sei ein Vorbild für die Eigenschaften der Gerechtigkeit und des Wohlwollens. Geblendet von der gewaltigen Größe und der ungeheuren Macht sowie der Ausdehnung der Natur in Raum und Zeit werde in dieser Idee ein falsches Erhabenheitsgefühl transportiert, das eine ‚unein-

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geschränkte und absolute Rücksichtslosigkeit‘ der Natur bemäntele (CW X, 384; AW V, 394). Die Natur aber morde ‚die überwiegende Mehrzahl aller lebenden Wesen‘ (CW X, 385; AW V, 395). Infolgedessen sei die Schöpfung als ungerecht zu bezeichnen: „Not even the most distorted and contracted theory of good which ever was framed by religious or philosophical fanaticism can the government of Nature be made to resemble the work of a being at once good and omnipotent“ (CW X, 389; AW V, 402). Der damit verknüpften Idee, einen Bauplan der Welt in der Natur finden zu können, erteilt Mill eine Absage, denn Güte sei nun einmal keine Kategorie der Natur. Somit übt er ausdrücklich Kritik an einem Romantizismus der Wildheit in Nachfolge Jean Jacques Rousseaus. Nicht der Natur folgen, sondern diese verbessern, ist deshalb auch Mills Maxime, die das Meliorisierungsideal gegen eine mit der Moralisierung der Natur einhergehende Autoritätsgläubigkeit setzt. Abschließend gibt er zu bedenken: „[T]he duty of man is to co-operate with the beneficient powers, not by imitating but by perpetually striving to amend the course of nature – and bringing that part of it over which we can exercise control, more nearly into conformity with a high standard of justice and goodness“ (CW X, 402; AW V, 420).

„Utility of Religion“ In diesem Essay zeigt sich Mill als skeptischer Autor, der die Religion als Ursprung moralischer Normen darstellt und deren Instrumentalisierung als Sanktionsmechanismus kritisiert. Den Plan zur Umsetzung einer Schrift zur „Utility of Religion“ hatte Harriet Taylor (s. Kap. II.6) im Februar 1854 erstmals an Mill herangetragen und ihm vorgeschlagen, Religion und Poesie als verwandte Ausdrücke auf der Suche nach Höherem abzuhandeln, wobei „es gälte alle Religion genannten Lehren und Theorien und Machtmittel umzustürzen“ (AW I, 243). Den Geist der Zeit reflektierend hält Mill fest, er und seine Gegenwart lebten „in an age of weak beliefs, and in which such belief as men have is much more de-

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termined by their wish to believe than by any mental appreciation of evidence“ (CW X, 403; AW I, 422). Er erkennt aber auch die in der Zeit geborgene Chance für eine Religion der Menschheit. Hierin erweist sich Mills Nähe zu Auguste Comtes Vorstellungen einer Religion der Humanität (Daglier/Schneider 2007; Raeder 2002; s. Kap. V.38). Mills vorrangiges Anliegen ist es, die zivilisatorische Nützlichkeit der Religion zu prüfen. Schon im Essay über den Utilitarianism hatte er die Lehre von der Nützlichkeit gegen den Vorwurf verteidigt, diese sei gottlos. Ausgehend vom höchsten Gut der Utilitaristen, dem Glück (s. Kap. V.35), bemerkt er in dem Anfang der 1860er Jahre entstandenen Text mit Verweis auf William Paleys Vorstellungen von der natürlichen Theologie (Natural Theology, London 1802): „If it be a true belief that God desires, above all things, the happiness of his creatures, and that this was his purpose in their creation, utility is not only not a godless doctrine, but more profoundly religious than any other“ (CW X, 222; AW III.1, 466). Die „Utility of Religion“ stellt somit eine Religionskritik aus der Perspektive des Utilitarismus dar und kann auf berühmte Vorgänger wie David Humes Dialoge über natürliche Religion (Hume 1998 [1779]), das Werk des bereits erwähnten William Paley oder auch auf Jeremy Benthams Analysis of the Influence of Natural Religion on the Temporal Happiness of Mankind (1822) verweisen. Aufgrund der Analyse der historischen Entwicklung erachtet es Mill als durchaus denkbar, „that religion may be morally useful without being intellectually sustainable“ (CW X, 405; AW V, 424). Die daran anschließende Frage ist nun diejenige, ob diese historische Entwicklung auch Gültigkeit für die Zukunft beanspruchen kann, was Mill verneint. Im Verlauf des Essays übernimmt er deshalb die Aufgabe, „to inquire whether the belief in religion, considered as a mere persuasion, apart from the question of its truth, is really indispensable to the temporal welfare of mankind“ (CW X, 405; AW V, 424). In gewisser Weise kann Mills „inquiry into the temporal usefulness of religion“ (CW X, 406; AW V, 426), mit der er die wohlfahrts-

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steigernde und zivilisatorische Wirkung von Religion erforscht, als Vorläufer von Max Webers berühmter soziologischer These gelten. Genauer prüft Mill in seinem Essay die Annahme, der Glaube sei ein ‚Instrument zur Beförderung des gesellschaftlichen Besten‘ (CW X, 406; AW V, 427). Dieses Vorhaben unternimmt er in zwei Schritten, indem er erstens zwischen der sozialen und der individuellen Seite des Gegenstandes differenziert und zweitens danach fragt, was die Religion für die Gesellschaft und was sie für das Individuum bewirkt. Hieran knüpft Mill die virulente Frage, wie viel Einfluss der Glaube „in improving and ennobling individual human nature“ hat (CW X, 406; AW V, 426). Als untersuchenswerte Einflussfaktoren der Religion auf das Soziale und das Individuum gelten Mill insbesondere die Bereiche Autorität, Erziehung und öffentliche Meinung. Im sozialverpflichtenden Charakter der Religion liegt ihm zufolge der Einfluss der Autorität der Religion auf die menschliche Seele begründet, welcher durch die grenzenlose Macht der Erziehung in Jugendtagen zu einem ‚System sozialer Pflichten‘ reife (CW X, 408; AW V, 429). Historisch sei die Rolle der Religion also durchaus berechtigt. So habe insbesondere durch die Lehren des als Individuum vorbildhaften Christi, einem Mann ‚von Güte und moralische[r] Größe‘, eine historisch bedeutsame Erneuerung hin zu mehr Humanität stattgefunden (CW X, 424; AW V, 452). In dessen überzeitlicher und universeller Berufung auf das Gebot der Nächstenliebe sieht Mill ‚edle moralische Lehren‘ wirksam (CW X, 417; AW V, 441). So erkennt Mill in Religion und Poesie den Ausdruck des Bedürfnisses nach idealen Vorstellungen, „grander and more beautiful than we see realized in the prose of human life“ (CW X, 408; AW V, 445) – und anerkennt damit ihren Nutzen für die Charakterbildung.

„Theism“ In dem umfangreichen Essay zum „Theism“ lässt sich Mill stärker auf metaphysische Fragestellungen ein und plädiert für einen wohldosierten Theismus. Dieter Birnbacher hat in

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seiner Interpretation des Textes darauf hingewiesen, dass die meisten Argumente Mills wohl schon bei Hume zu finden sind, er diese jedoch nochmals wäge und zumindest die Wahrscheinlichkeit eines Weltschöpfers nicht ganz ausschließe (Birnbacher 1984, 241–243). In diesem pragmatischeren Umgang mit Religion, der eventuell auch mit dem Tröstungs- und Kompensationsaspekt des Christentums nach Harriet Taylors Tod im Jahr 1858 und angesichts Mills häufig prekärer gesundheitlicher Lage erklärt werden könnte, eröffnet Mill in der späteren Schrift einen religiösen Hoffnungshorizont, wenngleich er nicht unbedingt von dessen Wahrscheinlichkeit überzeugt ist. Auch hier ist Mills argumentativer Ausgangspunkt eine ‚bemerkenswerte Veränderung‘, die sich in der Debatte über Religion zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ergeben habe (CW X, 429; AW V, 459): Zwischen den drei Optionen des Glaubens an eine natürliche Religion (Theismus), an eine geoffenbarte Religion (Christentum) und des Nichtglaubens habe sich ein Diskurswandel zugunsten des Theismus eingestellt, weshalb er einen redlichen Versuch unternehme die Lehren und Institutionen der Vergangenheit unparteiisch zu beurteilen und dabei eine relative statt einer absoluten Verortung vorzunehmen, um zu einer ausführlichen ‚Abwägung der Gründe und Gegengründe‘ zu gelangen (CW X, 429; AW V, 461). Das Aufkommen der Idee der Entfaltung eines einheitlichen, durch einen Schöpfer initiierten Plans sieht Mill als den Beginn einer Zivilisationsstufe, in der die Naturreligion den Fetischismus, also den Glauben an die Beseeltheit der Dinge, überwunden habe. Hierin gründe die große Kultivierungsleistung der monotheistischen Religionen. Mills wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Theismus ist ein musterhaftes Anwendungsbeispiel seiner logischen Prinzipien. Einen zeitgenössischen Einschlag erhält Mills Essay, insofern er darin Darwins Vererbungslehre andeutet, worauf auch Helen Taylor in ihren einleitenden Bemerkungen hinweist (Harrison 1979). Darwins Idee vom ‚Überleben des Fähigsten‘ (CW X, 449; AW V, 488), mit

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der sich Mill 1860 erstmals ausführlicher beschäftigt hatte, bietet Anknüpfungspunkte für Mills Ideal der Vervollkommnung. Wenn auf der Grundlage der natürlichen Theologie, wie Mills logischen Prinzipien folgende Argumentation ergibt, zwar eine Allmacht des Schöpfers nicht ausgesagt werden könne, so sei dennoch in einem weiteren Untersuchungsschritt die Vermutung seiner Planvollheit zu überprüfen. Inhalt eines solchen Plans könnte Mill zufolge, worin er sich erneut mit Darwins Ideen trifft, die ‚Erhaltung der Geschöpfe‘ sein (CW X, 455; AW V, 497). Der Zweck des Plans sei es, dass „the structure remain in life and in working order for a certain time: the individual for a few years, the species or race for a longer but still a limited period“ (CW X, 456; AW V, 499). Was er dem von ihm konstatierten Plan jedoch nicht zumessen möchte, ist die Eigenschaft der Moralität. Auch findet Mill in utilitaristischer Wägung kein Übergewicht von Beweisen dafür, „that the Creator desired the pleasure of his creatures “ (CW X, 458 f.; AW V, 501). Vielmehr stellt Mill auch im „Theism“-Essay die Vorstellung von absoluter göttlicher Güte infrage. Als Resultat der Untersuchung göttlicher Attribute, die Mill der natürlichen Religion zuweist, skizziert er ein dahinterstehendes Gottesbild. Nach Abschluss von Mills logischer Prüfung, die die von Hume begründete Tradition der evolutionistischen Kritik des teleologischen Gottesbeweises pointiert, erweist sich der Gott des Theismus als ein Wesen „of great but limited power, how or by what limited we cannot even conjecture; of great, and perhaps unlimited intelligence, but perhaps, also, more narrowly limited than his power: who desires, and pays some regard to the happiness of his creatures, but who seems to have other motives of action which he cares more for, and who can hardly be supposed to have created the universe for that purpose alone“ (CW X, 459; AW V, 503). Was die Frage der Unsterblichkeit anbelangt, so formuliert Mill, dass es „no assurance whatever of a life after death, on grounds of natural religion“ gibt (CW X, 466; AW V, 513). Auch in der zeitgenössisch heftig diskutierten Frage des

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Religionsbeweises durch Wunder bleibt Mill ganz Empirist, da er Wunder als hochgradige Widersprüche gegen die Erfahrung definiert und sie als die Verletzung natürlicher Folgen versteht. Gerade durch den wissenschaftlichen Fortschritt seien zahlreiche ehedem verborgene, vermeintlich wundersame Gesetze ‚entdeckt‘ worden (CW X, 472; AW V, 520). Im zeitgenössischen Diskurs um den Stellenwert von Wundern als Religionsbeweisen kommt Mill zu dem empirisch begründeten Schluss, „that miracles have no claim whatever to the character of historical facts and are wholly invalid as evidences of any revelation“ (CW X, 481; AW V, 533). Trotz seiner Ablehnung des Wunderglaubens sieht der in religiösen Fragen offensichtlich altersmilde gewordene Mill, dass eine religiöse Hoffnung infolge innerer Überzeugung bestehen könne, die aber nicht aus der Erfahrung begründbar sei. Deshalb empfiehlt er als angemessene Haltung einen „scepticism as distinguished from belief on the one hand, and from atheism on the other“ (CW X, 482; AW V, 534). Die kritische Prüfung der Argumente für den Theismus schließt Mill damit, diesen als eine Möglichkeit zu sehen, „which those may dwell on to whom it yields comfort to suppose that blessings which ordinary human power is inadequate to attain, may come not from extraordinary human power, but from the bounty of an intelligence beyond the human, and which continuously cares for man“ (CW X, 482; AW V, 535). Zurück bleiben nach Mills Prüfung Trost, das Eintreten für das Gute, die Überzeugung an eine umfassende Charakterbildung, die Hoffnung auf das Erlangen von allgemeinverbindlichen Normen und Maßstäben und das Ideal der größtmöglichen individuellen Vervollkommnung, kurzum: die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, die Menschen mehr zu lieben „and work with more heart for their improvement“ (CW X, 484; AW V, 537).

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Literatur Birnbacher, Dieter: Nachwort. In: Drei Essays über Religion. Natur – Die Nützlichkeit der Religion – Theismus. Auf der Grundlage von Emil Lehmann neu bearbeitet und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Dieter Birnbacher. Stuttgart 1984, 217– 244. Daglier, Uner/Schneider, Thomas E.: John Stuart Mill’s ‚Religion of Humanity‘ Revisited. In: Critical Review 19 (2007), 577–588. Devigne, Robert: Reforming Reformed Religion. J. S. Mill’s Critique of the Enlightenment’s Natural Religion. In: American Political Science Review 100/1 (2006), 15–27. Hamburger, Joseph: Religion and On Liberty. In: Michael Laine (Hg.): A Cultivated Mind. Toronto 1991, 139–181. Harrison, James: Mill and Darwin. The Natural Selection of Ideas. In: Mill Newsletter 14/2 (1979), 17–20. Hume, David: Dialoge über natürliche Religion [1779]. Hg. und übers. von Norbert Hoerster. Stuttgart 1998. Megill, A. D.: J. S. Mill’s Religion of Humanity and the Second Justification for the Writing of On Liberty. In: The Journal of Politics 34 (1972), 612–629. Millar, Alan: Mill on Religion. In: John Skorupski (Hg.): The Cambridge Companion to Mill. Cambridge 1998, 176–202. Paley, William: Natural Theology. London 1802. Raeder, Linda C.: John Stuart Mill and the Religion of Humanity. Columbia/London 2002. Reeves, Richard: John Stuart Mill. Victorian Firebrand. London 2007. Rey, Louis: John Stuart Mill en Avignon. Vaison 1921. Robson, Ann P.: Mill’s Second Prize in the Lottery of Life. In: Michael Laine (Hg.): A Cultivated Mind. Toronto 1991, 215–241. Schröder, Peter: Devoid of Faith, yet Terrified of Scepticism. Die Bedeutung der Religion in John Stuart Mills politischer Theorie von Staat und Gesellschaft. In: Olaf Asbach (Hg.): Vom Nutzen des Staates: Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus. Hume – Bentham – Mill. Baden-Baden 2009, 229– 246. Sell, Alan P. (Hg.): Mill and Religion. Contemporary Responses to Three Essays on Religion. Bristol 1997. Varouxakis, Georgios/Kelly, Paul (Hg.): John Stuart Mill – Thought and Influence: The Saint of Rationalism. London 2010. Wellington, Samuel: John Stuart Mill, the Saint of Rationalism. In: Westminster Review 163 (1905), 11–30.

Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy (1844)

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Niklas Dummer und Christian Neuhäuser

Bereits mit Anfang Zwanzig, wohl zwischen 1829 und 1831 (CW I, 123 f.), verfasst John Stuart Mill fünf Essays (CW IV, 229–339), die seine ersten ökonomischen Schriften darstellen (Hicks 1983, 60). Mit der Ausnahme des fünften Essays werden diese allerdings erstmals 1844 veröffentlicht, zwei Jahre nach dem Erfolg von A System of Logic (s. Kap. III.17). Diese frühen Texte zeugen von Mills Fähigkeiten als Synthetisierer unterschiedlicher theoretischer Ansätze, aber ebenso von seiner oft verkannten Innovationskraft auf dem Feld der Ökonomie. Zudem zeigen sie ihn als Autor des Übergangs vom klassischen zum neoklassischen Paradigma (Kurz 2002, 253). Mill ist offen gegenüber Ideen, die nicht ohne Weiteres mit der Klassischen Nationalökonomie zu vereinbaren sind. Entsprechend findet sogar Karl Marx, trotz aller berechtigten Kritik an den Essays, lobende Worte für das „Schriftlein, das in der Tat alle originellen Ideen des Herrn J[ohn] St[uart] Mill über political economy enthält“ (MEW 26.3,

190). Für John R. Hicks sind die Essays „perhaps the freshest of Mill’s economic writings“ (Hicks 1983, 60). Trotz seines jungen Alters beschäftigt sich Mill zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits seit einem Jahrzehnt mit politischer Ökonomie (CW I, 30). Das erklärt das erstaunlich weite Themenspektrum der Essays, das von der Aufteilung der Gewinne zwischen handeltreibenden Nationen über die Möglichkeit von ökonomischen Krisen hin zu der Frage reicht, wie sich die politische Ökonomie als Disziplin von anderen Wissenschaftsdisziplinen abgrenzen lässt und welche die ihr adäquate Methode ist. Wie Mill in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) bekundet, haben diese frühen Aufsätze zumindest ein Stück weit den Charakter eines Gemeinschaftswerks, entspringen doch einige der zentralen Ideen einer Diskussionsrunde mit einem Dutzend Freunden. Darüber gelangte er zu vielen „neuen Ansichten“ über die Ökonomie, die insbesondere im ersten und vierten Essay ihren Niederschlag fanden (CW I, 122–124).

N. Dummer ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected]

Essay 1: „Of the Laws of Interchange Between Nations“

C. Neuhäuser  Professor für Praktische Philosophie, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected]

Mill widmet sich im ersten Essay der seiner Ansicht nach von David Ricardo vernachlässigten Frage nach dem Verteilungsverhältnis der Gewinne aus dem internationalen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_21

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Handel, den Terms of Trade (CW IV, 235). Im Rahmen von Ricardos Grundmodell arbeitet Mill die Aufteilung der Gewinne zwischen handelstreibenden Staaten heraus. Seine darin gewonnene Einsicht stellt den ersten Durchbruch in Richtung der postklassischen Ökonomie dar (Hicks 1983, 61): Der relative Preis international gehandelter Güter, also ihr Austauschverhältnis untereinander, wird durch das Prinzip von Angebot und Nachfrage bestimmt und nicht, wie Ricardo nach Mills Darstellung glaubte, durch ihre Kosten (CW IV, 236–237). Obwohl Mills Behauptung über Ricardo eine Fehlinterpretation darstellt (Hollander 1985, 321–323; Gehrke 2017, 143–145), war Mills Einsicht epochemachend (Hicks 1983, 61). Die entsprechenden Formulierungen aus dem Essay übernahm er fast wörtlich in die Principles of Political Economy (CW III, 587–639; s. Kap. III.15). Mill postuliert eine inverse Beziehung zwischen Nachfrage und Preis: Mit steigendem Preis fällt die Nachfrage und umgekehrt. Im Anschluss zeigt er, wie sich unter Konkurrenzbedingungen der Preis anhand des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ergibt, wobei er von einem gegebenen Angebot ausgeht. Mill wendet dies nun auf den internationalen Handel in einem Zwei-Länder-Zwei-Güter-Modell an: England und Deutschland tauschen zwei Produkte miteinander. Die Preise unterliegen temporären Schwankungen. Die Differenz zwischen den Preisverhältnissen, die sich aus den komparativen Kostenvorteilen des jeweiligen Landes ergibt, gibt die Spannbreite möglicher Gewinne an; die reziproke Nachfrage bestimmt den genauen Preis, der irgendwo zwischen den beiden Extremen auf der Spannbreite liegt (CW IV, 241). Der Preis der Waren passt sich den „inclinations and circumstances of the consumers“ in beiden Ländern an, sodass die von dem jeweiligen Land exportierten Mengen gerade ausreichen, um die Einfuhren aus dem Nachbarland zu bezahlen (CW IV, 239). Wie Samuel Hollander hervorhebt, sind Angebot und Nachfrage in Mills Modell nichts anderes als ein Ausdruck für reziproke Nachfrage (Hollander 1985, 326). Auf welchem Punkt der Spannbreite der Preis

N. Dummer und C. Neuhäuser

in der Realität tatsächlich liegt, „admit[s] only of a very general indication“ (CW IV, 240), dies a priori zu bestimmen, sei nicht möglich (Hollander 1985, 324). Unter der Annahme willkürlicher Geldpreise in den handeltreibenden Ländern erklärt Mill dann unter Zuhilfenahme des von David Hume ausgearbeiteten Goldautomatismus, wie Exportüberschüsse oder -defizite zu Änderungen des Geldwertes in beiden Ländern führen, bis die Verhältnisse wieder ausgeglichen sind (CW IV, 241–242). Dabei gilt: Je größer der Geldabfluss, der zur Herstellung des Gleichgewichts vonnöten ist, desto größer wird der Gewinn des jeweiligen Landes sein. Christian Gehrke (2017, 155) betont, die nachgefragte Menge reagiere mehr oder weniger stark auf Preisänderungen. Preisänderungen seien mit den entsprechenden Änderungen des Geldwertes verbunden, deswegen gebe das Ausmaß der Goldströme zwischen den Ländern einen Hinweis auf die Verteilung der Handelsgewinne. An seiner Behandlung der Importzölle spiegelt sich Mills utilitaristische Sichtweise wider. Grundsätzlich lehnt Mill aus Gründen der Effizienz Zölle ab, spricht sich aber gegen eine sofortige Abschaffung aus, um gerechtfertigte Erwartungen nicht zu enttäuschen und aufstrebende Industriezweige zu schützen. Insbesondere Schutzzölle sind aus seiner Sicht „purely mischievous, both to the country imposing them, and to those with whom it trades“ (CW IV, 250). Auch Einfuhrzölle lehnt er aufgrund möglicher Vergeltungsmaßnahmen ab (CW IV, 250–251). Mill kritisiert Bestrebungen, sich auf Kosten von Handelspartnern zu bereichern (CW IV, 249–250). Dies richte sich gegen die „international morality“ und laufe dem „universal weal“ (CW IV, 248) zuwider, das auch auf internationaler Ebene Mills Gradmesser für gerechte Verhältnisse darstellt. Unter diesem Standpunkt der „international morality“ und dem der „sound policy“, so Mill, liege es auch im Interesse aller Nationen, auf Maßnahmen zu verzichten, die den Export von technischen Innovationen, etwa Maschinen, einschränkten, obwohl die Ausfuhr von Maschinen negative Auswirkungen auf die

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eigenen Handelsgewinne haben könne (CW IV, 252). Dies begründet Mill damit, dass Ausfuhrbeschränkungen „the aggregate wealth of the commercial world“ vermindern würden. Mill war optimistisch, die Zeit würde kommen, in der alle Nationen dies verstünden. Bis es so weit sei, gelte allerdings (und hier zeigt sich Mill als nüchterner Realist): Bevor nicht alle Nationen übereinkommen, Handelsbeschränkungen aufzuheben, kann dies nicht von einer einzelnen Nation verlangt werden (CW, IV 252). Vor allem die Einführung der Angebots- und Nachfragefunktion hatte bleibenden Einfluss auf die Ökonomie und prägte das neoklassische Paradigma, das sich ab den 1870ern entwickelte. Mills Erläuterung von Ricardos Handelstheorie hat diese nicht nur berühmt gemacht, sondern auch eine nachhaltige Fehldeutung derselben etabliert (Gehrke 2017). Bis Alfred Marshall 1890 das Ende der klassischen Arbeitswerttheorie zur Bestimmung der Preise in der Theorie des komparativen Vorteils einläutete, blieb Mills Ansatz in der internationalen Handelstheorie der prägende (Maneschi 2009, 202).

Essay 2: „On the Influence of Consumption on Production“ Den zweiten Essay verfasst Mill vor dem Hintergrund der britischen Wirtschaftskrise von 1825 (Hicks 1983, 63). Mill will in dem Essay zeigen, dass sich schwere Wirtschaftskrisen im Rahmen der Theorien von Jean-Baptiste Say und David Ricardo erklären lassen (CW IV, 278–279; s. Kap. II.10). Ausgangspunkt ist das Saysche Gesetz, das vereinfacht besagt: Jedes Angebot schafft seine eigene Nachfrage. Implizit ist auf Basis dieser Annahme langfristig ein allgemeines Überangebot („General Glut“) ebenso unmöglich wie eine allgemeine Übernachfrage. Wie Mark Blaug darlegt, haben die klassischen Ökonomen das Saysche Gesetz nie vollständig ausbuchstabiert und widersprüchlich angewandt, mal als „Say’s Identity“, mal als „Say’s Equality“. „Say’s Identity“ ist die strengere Form. Demnach entspricht die Gesamtnachfrage nach Gütern dem Gesamtangebot an

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Gütern. Nur Angebotsschwankungen wirken sich also auf das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität aus. „Say’s Equality“ postuliert, Güternachfrage und Güterangebot können zwar aus dem Gleichgewicht geraten, dies geschieht aber nur zeitweilig, da automatische Preis- und Zinsschwankungen wieder ein Gleichgewicht schaffen. Ein Überangebot an Gütern oder eine Übernachfrage nach Gütern neigt entsprechend dazu, sich selbst zu korrigieren. Mill kommt das Verdienst zu, als erster eine klare Darstellung von Says Gesetz vorgelegt zu haben (Blaug 1996, 144–150). Bevor die Nationalökonomie ihren „present comparatively scientific character“ erreichte, stellt Mill (CW IV, 262) zu Beginn des Essays fest, hätten Theoretiker wie Praktiker der Anregung des Konsums zu viel Bedeutung beigemessen. Diese proto-keynesianische Perspektive, in der die Nachfrage das Angebot schafft, betrachtet Mill als absurd: „The person who saves his income is no less a consumer than he who spends it: he consumes it in a different way; it supplies food and clothing to be consumed, tools and materials to be used, by productive labourers“ (CW IV, 263). Versuche der Staat, den Konsum anzuregen, so fördere er den unproduktiven Konsum auf Kosten des produktiven Konsums (CW IV, 263). Mill positioniert sich in der sogenannten General-Glut-Debatte zwischen Ricardo und Malthus, in der es um die Möglichkeit einer Überproduktion im Verhältnis zur Nachfrage ging, damit klar aufseiten der Klassiker: Es werde allgemein niemals eine größere Menge an Waren produziert, als es Abnehmer für diese gebe, behauptet Mill in Einklang mit dem Sayschen Gesetz (CW IV, 263). Die Sichtweise von Kritikern des Sayschen Gesetzes wie Malthus und Sismondi (sowie später Marx und Keynes) lehnt er allerdings nicht vollumfänglich ab. Diese beleuchten seiner Ansicht nach kurzfristige Ungleichgewichte und damit die Möglichkeit von Krisen. Jedes Vorurteil, das sich so lange unter Gebildeten halte, müsse etwas besitzen, das ihm den Anschein der Richtigkeit verleihe, glaubt Mill (CW IV, 264). Was also lässt diese Sichtweise plausibel erscheinen?

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In einer modernen, arbeitsteilig organisierten Volkswirtschaft hängt der Reichtum eines einzelnen Händlers nicht nur davon ab, wie viele Güter er produziert und lagert, sondern auch davon, ob und in welchem Ausmaß er Käufer für seine Waren findet. Für den einzelnen Händler bedeutet zusätzliche Nachfrage die Möglichkeit zusätzlicher Gewinne (CW IV, 266). Hieraus Gesetzmäßigkeiten für eine ganze Volkswirtschaft abzuleiten, sei aber irreführend. Um diese These zu begründen, verfolgt Mill zwei Argumentationsstränge: Zum einen entwickelt er ein Argument anhand der Umschlagsdauer von Produkten (CW IV, 267–276). Zum anderen beleuchtet Mill, und hier leistet er Pionierarbeit (Hicks 1983, 65; Hagemann 2002, 198–199), die Folgen, die Geld als Wertaufbewahrungsmittel im Kontext der General-Glut-Debatte einnimmt (CW IV, 276–279). Eine arbeitsteilig organisierte Volkswirtschaft nutze nie die volle Kapazität des vorhandenen Kapitals, stellt er im ersten Teil seiner Argumentation fest. Nur wenige Händler schlügen ihr Kapital in kürzester Zeit um. In der Folge liege ein großer Teil des Kapitals ständig brach – das sei der Preis für eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft (CW IV, 267). Eine Vollbeschäftigung des Kapitals sei auch keineswegs wünschenswert. Produzenten und Händler könnten sich immer verkalkulieren, weswegen manche Waren im Überfluss vorhanden und andere knapp seien (CW IV, 275). „If all are endeavouring to extend them, it is a certain proof that some general delusion is afloat“ (CW IV, 275; Herv. i. O.). Dieser falschen Zuversicht liegen starke Preisanstiege zugrunde, die wiederum laut Mill zwei Ursachen haben können: Spekulation oder Währungsschwankungen. Solange den Produzenten die Wertminderung nicht klar ist, weiten sie ihre Produktion aus (CW IV, 275). Laut Mill ist eine Überproduktion also ein reales, gleichwohl kurzfristiges Phänomen. Für einzelne Marktakteure, die in Zeiten hoher Preise ihre Produktionskapazitäten ausgeweitet haben, etwa indem sie neue Maschinen gekauft haben, können die negativen Folgen allerdings sehr langfristig sein (CW IV, 275). Mills Krisentheorie

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fußt also auf psychologischen Ursachen. Er betont, „that unreasonable hopes and unreasonable fears alternately rule with tyrannical sway over the minds of a majority of the mercantile public“ (CW IV, 275). Wie das Ungleichgewicht im Detail entsteht und wie es behoben wird, erläutert Mill nicht (Blaug 1996, 150–151; Hollander 1985, 502). Im zweiten Teil seiner Argumentation betont Mill die Unterschiede zwischen einem Tauschund einem Geldsystem. Beim direkten Warentausch gibt es nur einen einheitlichen Tauschakt. Die Einführung von Geld teilt den Tauschakt in zwei zeitlich getrennte Akte, nämlich in den Kauf- und Verkaufsakt (CW IV, 276). Anders als in Ricardos Geldwirtschaft, in der Geld ausschließlich die Funktion eines Tauschmittels erfüllt, sind Verkäufer nun nicht mehr automatisch im selben Moment auch Käufer, sondern können Geld halten. „Although he who sells, really sells only to buy, he needs not buy at the same moment when he sells“ (CW IV, 276). Geld kommt damit nicht mehr nur eine buchhalterische Funktion zu, es dient auch als Wertaufbewahrungsmittel (Hagemann 2002, 198–199). Mill macht deutlich, dass das Auftreten einer allgemeinen Übersättigung unter diesen Bedingungen möglich ist, aber ein temporäres Phänomen darstellt, das im Zuge von Finanzkrisen auftritt (CW IV, 277–278). Ursächlich für das Unterangebot von Geld ist nicht eine allgemeine Überproduktion von Waren, sondern exzessive Spekulation und „a want of commercial confidence“ (CW IV, 279). Gegen Ende seines Essays kehrt Mill damit zu seinem Ausgangspunkt zurück und bekundet im Einklang mit Say und Ricardo: „Nothing is more true than that it is produce which constitutes the market for produce, and that every increase of production, if distributed without miscalculation among all kinds of produce in the proportion which private interest would dictate, creates, or rather constitutes, its own demand“ (CW IV, 278). Nachfragedefizite können das Wachstum demnach nicht nachhaltig beschränken. Der Aufsatz zählt zu den meist diskutierten aus der Sammlung, wobei er lange Zeit kaum

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adäquat gewürdigt worden ist, wie Bela A. Balassa (1959) ausführlich darlegt: Marx benennt Mill nur am Rande seiner Diskussion des Say’schen Gesetzes, obwohl er Mill vieles seiner eigenen Krisentheorie verdankt (Persky 2016, 160–162; Hagemann 2002, 193, 207). Keynes setzt Mills Behandlung des Say’schen Gesetzes fälschlicherweise mit der von Ricardo gleich (Blaug 1996, 151; Hagemann 2002, 192). Hicks dagegen bezeichnete den Essay als „one of the finest productions of Classical Economies“ (Hicks 1983, 58), Harald Hagemann sogar als „kleines Meisterwerk der Politischen Ökonomie“ (Hagemann 2002, 198). Trotzdem hält letzterer Mills Harmonisierungsversuch für „problematisch“, da es in der General-Glut-Debatte um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer allgemeinen Überproduktion ging – und nicht darum, ob diese einen temporären oder andauernden Charakter aufweist (Hagemann 2002, 200). Temporalität ist ohnehin ein sehr dehnbarer Begriff wie Keynes später argumentieren wird und in seiner berühmten Formulierung „in the long run we are all dead“ auf den Punkt bringt.

Essay 3: „On the Word Productive and Unproductive“ Der dritte Essay über den nationalökonomischen Produktivitätsstreit hat am meisten an Relevanz eingebüßt. Mill knüpft an die Debatte um die Verwendung der Begriffe produktiv und unproduktiv an, die im ausgehenden 18. Jahrhundert begann und seinerzeit von großer Bedeutung war. Mit der Herausbildung des marginalistischen Ansatzes in der Wert- und Preistheorie versandet der Disput Mitte des 19. Jahrhunderts (Burkhardt 1974). Eingeführt hatte die Unterscheidung der Physiokrat François Quesnay 1758. Adam Smith übernahm Quesnays exklusiven Produktivitätsbegriff, argumentierte aber, produktiv sei nur Arbeit, vor allem die, die sich auf die industrielle Produktion von Gütern richte. Mill folgt darin Smith, nimmt allerdings über die Produktion hinaus die Rolle des Konsums in den Blick,

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der zur Aufrechterhaltung oder zum Ausbau der Produktionskapazitäten beiträgt. Die Begriffe produktive Arbeit und produktiver Konsum verwenden die Ökonomen seinerzeit auf unklare Weise, stellt Mill eingangs fest (CW IV, 280). Einige Autoren erachten Arbeit nur als produktiv, sofern sie materiellen Wohlstand schaffe. Immaterielle Güter wie Fähigkeiten schließen sie aus. Mill lehnt diese Sichtweise aufgrund ihrer unlogischen Konsequenzen ab: Demzufolge gelte ein Handwerker als produktiv, wenn er sein Handwerk ausübe, nicht aber, wenn er es erlerne. Dabei richteten sich letztlich beide Tätigkeiten auf die Produktion (CW IV, 281). Noch willkürlicher erscheint ihm die Ansicht, produktiv sei Arbeit nur, wenn die Erträge dem zufielen, der die Arbeit geleistet oder die Investition getätigt habe. In Abgrenzung zu diesen Positionen arbeitet Mill seine eigene Sichtweise aus. Dabei setzt er einen utilitaristischen Wertmaßstab an, nämlich die Steigerung des nationalen Reichtums. Ziel aller Arbeit sei entweder der sofortige, unmittelbare Genuss oder der indirekte Genuss, womit er die Reproduktion der permanenten Quellen des Genusses oder deren Vergrößerung meint (CW IV, 284). Entsprechend definiert Mill den Wohlstand eines Landes als „the accumulated total of the sources of enjoyment which the nation possesses“ (CW IV, 284). Auch diese Konzeption hat allerdings willkürliche Folgen. Ist Arbeit auf einen direkten Genuss gerichtet, so erachtet Mill sie als unproduktiv. Das gilt etwa für Konzertmusiker. Auch deren Konsum ist unproduktiv und verringert den Wohlstand der Nation. Die Arbeit des Handwerkers, der die Instrumente der Musiker baut, gilt dagegen als produktiv, da Musikinstrumente eine permanente Quelle des Genusses sind. Eine solche permanente Quelle ist auch das Können der Musiker. Es besitzt einen „exchangeable value, is acquired by labour and capital, and is capable of being stored and accumulated“ (CW IV, 285). Mill deklariert in den Essays folglich Fertigkeiten als ein Element des Wohlstandes. Diese Bewertung nimmt er in den Principles aber wieder zurück. Seine Definition aus den Essays hält er zwar auch in den Principles für diejenige, die

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die „most conducive to the ends of classification“ (CW II, 49) sei. Allerdings weiche diese zu sehr vom allgemeinen Sprachgebrauch der Ökonomie ab, weswegen er den Begriff der produktiven Arbeit wieder stärker an die materiellen Eigenschaften eines Produktes koppelt als an seine Dauerhaftigkeit (CW II, 48–49). Den produktiven Konsum erachtet Mill übrigens keineswegs als wertvoller als den unproduktiven. Letzterer stellt die Triebfeder dar, die den Menschen zur Arbeit bewegt: „The consumption called unproductive, viz., that of which the direct result is enjoyment, is in reality the end, to which production is only the means; and a desire for the end, is what alone impels any one to have recourse to the means“ (CW IV, 287). Mills Unterordnung des produktiven unter den unproduktiven Konsum macht deutlich: Die ökonomische Produktion ist für Mill lediglich ein Mittel und kein Zweck an sich. Hier zeigt sich noch einmal sein Utilitarismus.

Essay 4: „On Profits, and Interest“ Ausgangspunkt des vierten Essays ist die Feststellung: „THE PROFITS OF STOCK are the surplus which remains to the capitalist after replacing his capital“ (CW IV, 290). In dem Essay wendet sich Mill gegen die aus seiner Sicht irreführende Ansicht, Kapital verfüge über Produktivkraft. Arbeit, so Mill, sei die einzig notwendige Bedingung der Produktion. Werkzeuge und Rohstoffe besäßen zwar eigene Produktivkraft, letztlich seien sie aber das Resultat von Arbeit. Zunächst untersucht Mill Ricardos Grundsatz, Profite und Löhne stünden in einem antagonistischen Verhältnis zueinander: Die Profite steigen, wenn Löhne fallen, und umgekehrt (CW IV, 290–291). Um Ricardos Profittheorie vor „misapprehension[s]“ zu schützen, nimmt Mill zwei Erläuterungen vor. Zum einen verweist er darauf, dass Ricardo unter einem Steigen der Löhne keineswegs eine Verbesserung der „real comforts“ der Arbeiter versteht. Die Profitrate hänge nicht vom Reallohn, sondern vom Wert der Löhne ab – also gemäß Ricardos Arbeitswerttheorie

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von der zur Produktion eines Gutes benötigten Arbeitsmenge (CW IV, 293). Mills Interpretation des Ricardianischen Theorems besagt letztlich, dass sich die Profitrate antagonistisch zum Anteil der Arbeit eines Arbeiters verhält, der der Produktion seines Lohnes gewidmet ist (CW IV, 294) – eine Sichtweise, die sich später bei Marx als „relativer Mehrwert“ wiederfindet (MEW 23, 334; Kurz 2002, 262, FN 5). Gegen Ricardos Theorie des Profitgesetzes wendet Mill ein, dass Kapital nicht vollständig auf Arbeit reduzierbar ist. Der Kapitalist benötigt nämlich Maschinen und Rohstoffe für die Produktion. Die Rückzahlung der Profite der Produzenten dieser Produktionsmittel fließt in die Ausgaben eines Kapitalisten mit ein. „[B]ut profits do not compose merely the surplus after replacing the outlay; they also enter into the outlay itself. Capital is expended partly in paying or reimbursing wages, and partly in paying the profits of other capitalists, whose concurrence was necessary in order to bring together the means of production“ (CW IV, 295). Hieraus ergibt sich die seiner Ansicht nach einzig richtige Formulierung des Profitgesetzes, wonach „the rate of profits varies inversely as the cost of production of wages“ (CW IV, 298). Die von Mill präsentierten Modifikationen beruhen zum Teil auf Fehldeutungen von Ricardo. Marx beispielsweise wirft ihm zurecht vor, die Rate des Mehrwerts mit der Profitrate bei Ricardo verwechselt zu haben (MEW 26.3, 191). Teilweise sind die Modifikationen mit Ricardos Theorie auch nicht konsistent vereinbar (Kurz 2002, 257–258). Zudem sind seine Änderungen deutlich weitreichender, als er zugibt (Hollander 2000, 340; Kurz 2002, 262). Im weiteren Verlauf des Essays untersucht Mill das Zusammenspiel von Real- und Finanzwirtschaft sowie die Umstände, die den Zinssatz regulieren. Dies sei bis dato von Autoren der politischen Ökonomie lediglich in „an unscientific manner“ behandelt worden (CW IV, 300). Dabei versucht Mill den realwirtschaftlich fundierten Surplusansatz der Klassiker mit einer monetären Zinstheorie in Einklang zu bringen (Spahn 2002, 221). Mill diskutiert zu diesem Zweck den Standpunkt Adam Smiths, der

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einen quantitativen Zusammenhang zwischen Zins- und Profitrate sah. Diese Sichtweise lehnt Mill ab (CW IV, 300–301). Zwar gehe Smith richtig in der Annahme, Profit lasse sich in Zinsen und Unternehmerlohn zerlegen, daraus folge aber keineswegs, dass der Zins dem Profit abzüglich des Unternehmerlohns entspreche (CW IV, 301). Mill betrachtet Zins und Unternehmerlohn als unabhängige Größen, wie er anhand der Analogie von Eimer und Ziehbrunnen erläutert: „[W]hen one rises, the other descends, but neither of the two motions is the cause of the other; both are simultaneous effects of the same cause, the turning of the windlass“ (CW IV, 302). Entsprechend unterscheidet Mill in der gesellschaftlichen Praxis eine Klasse von Personen, „who are habitually, and almost necessarily, lenders“, von den Menschen im Geschäftsleben, die „habitually borrowers“ sind (CW IV, 302). Erstere Gruppe lebe von den Zinsen ihres Kapitals, ohne sich mit produktiver Arbeit zu befassen. Hier sind für einen klassischen Ökonomen die Äußerungen über den Einfluss der Geldsphäre auf die Realwirtschaft bemerkenswert (Spahn 2002, 220). Die Macht liegt seiner Ansicht nach nämlich aufseiten der Finanzwirtschaft. Die produktive Klasse ist bereit, jede Kapitalmenge zu leihen, solange der Zins einen Gewinnüberschuss ermöglicht (CW IV, 302– 303). Zwar werden auch die Profite der Geldverleiher durch die Konkurrenz auf einen „normalen“ Gewinn begrenzt. Die Geldgeber verleihen trotzdem nur zu bestimmten Zinssätzen: „It is not impossible that the disposition of the lenders might be such, that they would cease to lend rather than acquiesce in any reduction of the rate of interest“ (CW IV, 306). Mill verweist zudem auf die Geldschöpfungsfunktion der Banken, mit der diese Unternehmen zur Akkumulation von Kapital zwingen können (CW IV, 306–307). Trotz aller wirtschaftlichen Effizienzgewinne stellt das für Mill ein Unrecht dar: „Though A might have spent his property unproductively, B ought not to be permitted to rob him of it because B will expend it on productive labour“ (CW IV, 307). Gemäß Mills liberaler Haltung wiegen auch hier Freiheitsrechte (s. Kap. V.27) schwerer als Effizienzgewinne.

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Essay 5: „On the Definition of Political Economy“ Der fünfte Essay erscheint erstmals 1836. Für die Veröffentlichung 1844 überarbeitet Mill ihn. Bekannt ist der Aufsatz vor allem, weil Friedrich August von Hayek ihn als Grundlage für seine Behauptung heranzog, Mill sei der Erfinder des „homo oeconomicus“ (Hayek 2011, 121; s. Kap. VI.44). Mill sieht die politische Ökonomie mit dem Problem konfrontiert, dass ihr eine Definition ihres Gegenstandsbereichs fehlt, die auf „strictly logical principles“ beruht (CW IV, 309–312). Ausgehend von Adam Smiths Ansicht, die politische Ökonomie sei eine Wissenschaft, die lehrt, auf welche Weise eine Nation reich wird, führt Mill die Begriffsunterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunstlehre („art“) ein (CW IV, 312). „Science is a collection of truths; art, a body of rules, or directions for conduct. […] Science takes cognizance of a phenomenon, and endeavours to discover its law; art proposes to itself an end, and looks out for means to effect it“ (CW IV, 312; Herv. i. O.). Die praktisch orientierte Kunstlehre ist keine Wissenschaft, sondern ihr Ergebnis. Entsprechend gebe die politische Ökonomie selbst keine praktischen Empfehlungen, etwa wie eine Nation reich werden kann; doch sei die Kenntnis der politischen Ökonomie unabdingbar für jeden, der praktische Politikberatung betreiben will (CW IV, 313–314). Ebendiese Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunstlehre verschwimme in Smiths Ansatz. Auch die Ansicht, die politische Ökonomie beleuchte die Gesetze von Produktion, Verteilung und Konsum von Reichtum, verwirft Mill (CW IV, 313–316). Zwar sei gemäß diesem Ansatz die politische Ökonomie eine Wissenschaft und keine Kunst („art“). Doch die Definition ist zu weit, wie Mill anhand der Produktionssphäre zeigt. Umfasste die politische Ökonomie die Gesetze der Produktion aller Dinge, so müsste sie alle naturwissenschaftlichen Kenntnisse einschließen (CW IV, 314). Die Nationalökonomie befasse sich aber lediglich mit den psychologischen und moralischen

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Voraussetzungen von Produktion und Verteilung. Die politische Ökonomie ist für Mill eine Gesellschaftswissenschaft, die im Bereich der Produktion auf den Erkenntnissen der Naturwissenschaft beruht (CW IV, 317–318). Fragen des Konsums klammert Mill aus der politischen Ökonomie weitgehend aus; sie sind nur indirekt ein Teil dieser, und zwar insofern sie mit Fragen der Produktion und Distribution verknüpft sind. Bestimmt wird der Konsum aber durch die „laws of human enjoyment“, die kein genuiner Teil der politischen Ökonomie sind (CW IV, 318, FN 1). Die Ökonomie als Moralwissenschaft nimmt den Menschen, aufgefasst „[m]an, who, considered as a being having a moral or mental nature“ (CW IV, 319), nicht in seiner Gesamtheit in den Blick, sondern betrachtet ihn „solely as a being who desires to possess wealth, and who is capable of judging of the comparative efficacy of means for obtaining that end“ (CW IV, 321). Die politische Ökonomie reduziert also alle Handlungen des Menschen auf das „pursuit of wealth“ und die diesem Streben entgegenwirkenden Motive, nämlich die „aversion to labour“ und „the desire of the present enjoyment of cosily indulgences“ (CW IV, 321). Von allen weiteren Motiven, die die Handlungen der realen Menschen bestimmen, abstrahiert die politische Ökonomie (CW IV, 321–322). Mill ist sich der mangelnden Realitätsnähe seines Akteursmodells bewusst, glaubt er doch, kein Ökonom sei so töricht, anzunehmen, der Mensch sei wirklich so beschaffen (CW IV, 322). Insofern trägt auch Hayeks Lesart nicht, Mill habe die Annahme der natürlichen Neigung des Individuums zum rationalen Handeln in die Ökonomie eingeführt und damit den „homo oeconomicus“ geschaffen (Hayek 2011, 121). Mills Abstraktion dient rein analytischen Zwecken und nicht der adäquaten Beschreibung des Verhaltens realer Menschen (Hollander 2015, 486; Kremser 2013). Diese willkürliche Definition des Menschen (die Mill mit der Definition einer Geraden in der Geometrie vergleicht, die in der Realität

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ebenfalls nicht anzutreffen ist) ist aus methodologischer Sicht unumgänglich. Erst sie ermöglicht es, die Deduktion anzuwenden, die Mill als a-priori-Methode einführt. Da Forscher auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften kaum Experimente durchführen können, taugt die induktive a-posteriori-Methode nicht zur Ableitung von Gesetzen und dient einzig und allein der Überprüfung der deduktiven Ableitungen (CW IV, 325–328). Letztlich ist es kaum möglich, die Prämissen der Sozialwissenschaften, ähnlich denen der Naturwissenschaften, als wahr zu qualifizieren (CW IV, 328–330). Mill sieht also die Einschränkungen, die mit der Anwendung der ökonomischen Modellierung auf die realen Verhältnisse einhergehen müssen. Deswegen übte er große Zurückhaltung bezüglich der praktischen Anwendbarkeit ökonomischer Erkenntnisse. Ökonomen wie Praktikern, die im Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse für die Umsetzung von Eigeninteressen kämpfen, legt Dieter Schneider (2002, 94) deshalb Mills Warnung ans Herz: Sobald Faktoren zur Geltung kommen, die nichts mit dem ökonomischen Bereich zu tun haben, „the mere political economist, he who has studied no science but Political Economy, if he attempt to apply his science to practice, will fail“ (CW IV, 331). Historisch am wirkmächtigsten war wohl Mills Trennung von Produktion und Verteilung (Aßländer/Nutzinger 2008, 193). Diese Trennung ist vor allem für Mills philosophisches Anliegen von großer Bedeutung: So entschärft er den Konflikt zwischen der naturgesetzlichen Kausalität innerhalb der Produktionssphäre und dem der individuellen Willensfreiheit, der sich in der sozial geschaffenen Verteilungssphäre abspielt. Auf diese Weise schafft er es auch, innerhalb der Ökonomie eine Sphäre für die moralischen Ansprüche des Utilitarismus zu bewahren (Aßländer/Nutzinger 2008, 193). In späteren Überarbeitungen seiner Principles kommen diese utilitaristischen ebenso wie liberale Bezüge immer deutlicher zur Geltung.

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„Civilization“ (1836)

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Oliver Eberl und Annika D’Avis

Sozio-historische, persönliche und intellektuelle Einflüsse John Stuart Mills Essay „Civilization – Signs of the Times“ (CW XVIII, 117–147) wurde erstmals im April 1836 in der London and Westminster Review publiziert und erneut 1867 in Mills Dissertations and Discussions veröffentlicht (CW XVII, 160). Obwohl der Titel es anklingen lässt, leistet Mill in diesem Essay keinen eigentlichen Beitrag zur Frage der Zivilisationstheorie, sondern er gibt dem Zivilisationsbegriff eine politische Wendung, indem er den Zusammenhang zwischen Staat, Regierungsform und Zivilisation theoretisiert (Fisch 1992). Zivilisation wird dabei zur Bestimmung und Kritik der Gegenwartsgesellschaft genutzt, wobei vor allem negative Tendenzen der zivilisierten Massengesellschaften für Mill im Fokus stehen (Blättler 1995). Mill gibt eine durchaus klare Diagnose der sozialen Frage und versucht potenzielle Lösungen für diese zu identifizieren (Bell

O. Eberl (*)  Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. D’Avis  Promovendin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technischen Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected]

2010, 38–45) und er leistet damit vorrangig einen Beitrag zur Debatte um die Bildungsreform und Massengesellschaft in Großbritannien. Die empirischen Beobachtungen Mills fußen vor allem auf dem dynamischen Umschwung in Großbritannien, der sich in den 1830er Jahren vollzieht. Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und ihrer sozialen Auswirkungen, gekoppelt mit einem rapiden Bevölkerungswachstum, breiteten sich in England öffentliche Ängste vor Armut und Instabilität aus (Bell 2010, 38). Auf politischer Ebene setzte ein Diskurs über die Schulpflicht und ‚Massenbildung‘ ein, welche jedoch erst 1870 umgesetzt wurde. Universitäten werden seit Beginn des Jahrhunderts schrittweise von der kirchlichen in die öffentliche Hand übertragen. Dieser Prozess mündet 1844 in den Butler Act, welcher endgültig alle Schulen in ein öffentliches System integrierte. Insbesondere die Notwendigkeit, den kirchlichen Einfluss auf Bildung zu unterbinden, stellt bei Mill eine zentrale Forderung zur Reformierung des Bildungssystems dar, um Dogmatik aus den Lehrplänen herauszulösen. Diese bildungspolitischen Umschwünge, verbunden mit der Herausbildung einer industriellen Massengesellschaft, bilden den realhistorischen Impuls und Hintergrund für Mills Überlegungen und ziehen seinen wissenschaftlichen Fokus in dieser Zeit auf Reformen in England (Böge 2018, 36–38).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_22

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Auf persönlicher Ebene ist vor allem festzuhalten, dass „Civilization“ nach Mills mentaler Krise im Alter von 20 Jahren entsteht. Wie Mill in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) schreibt, wendet er sich in dieser Zeit von dem Bildungsansatz seines Vaters James Mill ab, welcher auf der reinen Verinnerlichung von Fakten basierte, und fokussierte sich auf die ganzheitliche Entwicklung sowie Kultivierung des Charakters (s. Kap. II.5, V.24, V.30). Trotz dieser Abgrenzung vom väterlichen Bildungsideal übernimmt John Stuart Mill die Unterscheidung gesellschaftlicher Zivilisationsstufen von James Mill. Letzterer hat erstmals das Zivilisationskonzept mit dem Utilitarismus verbunden, wobei er einen starren Zivilisationsindex zur Hierarchisierung von Gesellschaften (‚barbarisch‘ – ‚zivilisiert‘) nutzte (Mill 1984). John Stuart Mill übernimmt zwar die Dichotomie von zivilisierten und ‚barbarischen‘ Gesellschaften, jedoch gestalten sich diese flexibler. Denn für ihn können Gemeinwesen auch im Zivilisationsprozess stagnieren oder gar auf vorherige Stufen zurückfallen (Pitts 2019, 271–272). Auch von Jeremy Benth­ am grenzt sich Mill mit seinem Zivilisationskonzept ab. Bentham vertritt ein eher juridisches Zivilisationsverständnis, frei von Zivilisierungsversuchen anderer Gesellschaften und eher auf universelle Reformen ausgerichtet (Benth­ am 1843). Mill hingegen bringt seine Konzeption von zivilisatorischem Fortschritt mit einer Geschichtsphilosophie (s. Kap. IV.19) und den moralischen Effekten der Masse in Verbindung (Pitts 2019, 274–277). Mill schreibt seinen Essay „Civilization“ in einer Zeit, in der er sich intensiv mit französischen Denkern wie Auguste Comte (s. Kap. II.4), François Guizot und besonders Alexis de Tocqueville (s. Kap. II.7) auseinandersetzt. Über die Rezeption von Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika 1835 und 1840 kommt Mill mit einer Deutung der amerikanischen Massendemokratie in Kontakt, die ihm einerseits die Unvermeidbarkeit der Demokratie und andererseits die Gefahr eines kollektiven Despotismus, der konformistischen Vereinnahmung des Individuums durch die öffentliche Mehrheitsmeinung

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und die Prämisse des Privatinteresses vor dem Gemeinwohl vor Augen führt (Marwah 2011, 357–359). Auch Tocqueville eröffnet eine Trias von Demokratie, Zivilisation und Fortschritt, wobei Bildung der Motor dieser Entwicklungen sei, denn „alle Errungenschaften der Demokratie breiteten sich mit denen der Zivilisation und der Bildung aus“ (Tocqueville 1985, 18). Mill und Tocqueville sehen gleichermaßen die Masse als ein inhärentes Phänomen der zivilisierten Demokratie, bemängeln jedoch den Einfluss der ungebildeten Masse auf die öffentliche Meinung, welche zu Konformismus führt und durch den Druck auf Individuen für Tocqueville zu einer Tyrannei und neuen „Abart der Knechtschaft“ werden könnte (Tocqueville 1985, 150–152, 224). Kooperation durch Bildung resultiert in Fortschritt und dieser treibt die zivilisatorische Entwicklung einer Gesellschaft voran (s. Kap. V.24, V.26). Ohne Bildung könnten Gemeinwesen auf einer Entwicklungsstufe stagnieren oder wieder in die „Barbarei“ verfallen (Tocqueville 1985, 250). Beide Autoren teilen die Sorge darum, dass die Masse politische Macht erhalten könnte, bevor sie gebildet genug dazu ist – eine Klassenherrschaft der unwissenden Masse über die gebildeten Wenigen wollen beide verhindern. Dies verdeutlicht auch der argumentative Aufbau des Essays. Nach einer kurzen Darlegung der Unterschiede von zivilisierten und nicht-zivilisierten Gesellschaften, beschreibt Mill vor allem die negativen Effekte des Zusammenspiels von Masse und Demokratie in zivilisierten Ländern. Daran anknüpfend liefert er diverse Vorschläge wie über Bildung sowie ein revitalisiertes Bewusstsein der höheren Klassen die negativen Züge der Zivilisation abgeschwächt werden können. Demokratie, auch im zivilisierten Stadium, muss gelenkt und vor ihren negativen Tendenzen bewahrt werden. Als utilitaristischer Reformer versucht er die Vorteile der Zivilisation zu maximieren und ihre negativen Effekte zu minimieren. Als zögerlicher Demokrat versucht er den Einfluss der Masse auf die Politik zu kontrollieren, da zwar die Mehrheit regieren soll, aber nur die Minderheit dazu in der Lage ist.

22  „Civilization“ (1836)

Kritische Reflexion der entstehenden Massengesellschaft In seinem Essay „Civilization“ von 1836 erläutert Mill, was es aus seiner Sicht bedeutet, in einer „era of civilization“ zu leben (CW XVIII, 160). Im Laufe dieser Bestimmung buchstabiert Mill sein thematisches Programm für sein späteres Werk entlang der Themen Massengesellschaft, Bildung, Demokratie und Kolonialismus unter dem Dach des Konzepts „Civilization“ aus. Zu Beginn des Essays unterscheidet er zunächst ein moralphilosophisches Konzept der individuellen Vervollkommnung von einem staatstheoretischen Konzept der Zivilisation. Letzteres wählt er als seinen eigenen Begriff. Mill charakterisiert wohlhabende und mächtige (europäische) Nationen im Unterschied zu ‚wilden‘ und ‚barbarischen‘ Völkern als ‚zivilisiert‘. Auf diese Weise bestimmt Mill den Inhalt von Zivilisation nicht etwa mittels wohldefinierter Kriterien, sondern ex negativo durch den Verweis auf ‚wilde‘ Gesellschaften: „Whatever be the characteristics of what we call savage life, the contrary of these, or the qualities which society puts on as it throws off these, constitute civilization“ (CW XVIII, 161). Erkennbar werden hier die staatlichen europäischen Gesellschaften mittels einer Gegenüberstellung vermeintlich ‚wilden‘ Lebens definiert und dann mit Zivilisation gleichgesetzt. Damit bestätigt er der Zivilisation jedoch nicht etwa, fehlerfrei zu sein, sondern wirft auch die Frage nach den „vices or the miseries of civilization“ und möglichen Gegenmaßnahmen auf (CW XVIII, 160). Diese Frage bestimmt die reformerische Stoßrichtung seines Beitrags, der weniger eine Abhandlung über das Konzept der Zivilisation ist, als vielmehr dieses zur Untermauerung seiner kritischen Diagnose des gesellschaftlichen Zustands der entstehenden europäischen Massengesellschaften nutzt. Sein Vorgehen, aus dem Gegensatz zu „rudeness or barbarism“ die Definition der Zivilisation zu gewinnen, zwingt Mill dazu, zunächst einmal diese Zustände zu definieren. Einen „savage tribe“ porträtiert Mill als wenige nomadisch lebende Individuen auf einem großen Ter-

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ritorium, zivilisiert sei dagegen das sesshafte Leben in Städten. Ein ‚wilder Stamm‘ betreibe keinen Handel, keine Manufakturen und auch keine Landwirtschaft, das zivilisierte Leben dagegen sei genau dadurch bestimmt. ‚Wilde‘ seien ungesellig, unfähig zur kooperativen Zusammenarbeit und uninteressiert an der Formierung gemeinsamer Ziele. Dagegen nennt Mill gemeinsames Handeln mit geteilten Zielen von Massen und das Wohlgefallen an gesellschaftlichem Verkehr und Geselligkeit ‚zivilisiert‘. Da es ‚wilden‘ Gesellschaften an Gesetzen und juristischer Administration mangele, müsste jeder Mensch selbst für den Schutz des eigenen Lebens und Eigentums Sorge tragen. Demgegenüber zeichneten sich zivilisierte Gesellschaften über den Schutz des Individuums durch die Gemeinschaft aus und erlauben so den Zusammenschluss der Massen. Sozialer Frieden – nämlich Schutz der Person und des Eigentums der Gesellschaftsmitglieder – werde in zivilisierten Gesellschaften durch gesellschaftliche Institutionen gesichert, nicht durch die Eigenschaften des Individuums wie Mut und Stärke (CW XVIII, 161). Als Kennzeichen der Zivilisation benennt Mill schließlich die Sicherheit der Person und den wachsenden Wohlstand, der immer breiter gesellschaftlich gestreut werde. Daraus ergebe sich der zentrale Effekt der Zivilisation, nämlich „that power passes more and more from individuals, and small knots of individuals, to masses: that the importance of the masses becomes constantly greater, that of individuals less“ (CW XVIII, 161–162). Mill gewinnt diese Diagnose aus der Bestimmung der treibenden Elemente des Zivilisationsprozesses: Eigentum (s. Kap. V.25) und Bildung (s. Kap. V. 24; CW XVIII, 162). In früheren Zeiten und fernen Gegenden seien Eigentum und Bildung nur auf sehr wenige Menschen verteilt gewesen. Der Aufstieg der Mittelschicht und der Arbeiterklasse symbolisiere die zivilisatorische Entwicklung hin zur Diffusion von Eigentum und Bildung auf die Masse (was vor allem die Mittelschichten meint) und deren sukzessiven Machtgewinn, weshalb eine unvermeidliche Wirkung der Zivilisation der Übergang der Macht auf diese Klasse

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sei. Doch entstehen aus dem gleichzeitigen Fehlen von zur demokratischen Teilhabe an der Macht notwendigen Fähigkeiten Spannungen, die durch geeignete Maßnahmen auszugleichen seien. Letztlich ist die sich entwickelnde Massengesellschaft für Mill ein zweischneidiges Schwert. Sie ist auf der einen Seite die Manifestation des progressiven Zivilisationsprozesses im Sinne einer breiteren Verteilung von Wohlstand und Macht. Auf der anderen Seite führt sie zum Verlust der Bedeutung des Individuums. Dies untergräbt gleichzeitig den Zivilisationsprozess und bringt die Gefahr von Stagnation und Rückfall mit sich. Die Stärke der zivilisierten Staaten ergibt sich für Mill aus der Fähigkeit zivilisierter Menschen, sich zusammenzuschließen und zu kooperieren. „There is not a more accurate test of the progress of civilization than the progress of the power of co-operation“ (CW XVIII, 162). Darunter versteht Mill die Fähigkeit, die eigenen Affekte zu kontrollieren und Kompromisse zu schließen. Die Unfähigkeit zum Zusammenschluss verhindere die Staatsbildung ebenso wie den militärischen Erfolg bei den ‚Wilden‘, während die Zivilisierten einen gemeinsamen Willen bilden und sich gemeinsame Ziele setzen könnten (CW XVIII, 163). Mill beschreibt die Kontrolle der Affekte, die Absehung von reinem Eigennutz, das Erkennen gemeinsamer Ziele als Voraussetzung der Zivilisation, die ‚Wilden‘ und ‚Sklaven‘ fehlen würden. Die Elemente der Zivilisation erlerne eine Gesellschaft in einem langen Zeitraum: „[T]he whole course of advancing civilization is a series of such training“ (CW XVIII, 163). Mill trifft hier eine Unterscheidung, die für seine spätere Bestimmung der Kolonialherrschaft wichtig ist (s. Kap. V.31): Während ‚Wilde‘ ihrer Selbstsucht unterworfen wären und keine Abwägungen anstellen könnten, seien ‚Sklaven‘ daran gewöhnt, beherrscht zu werden, könnten sich aber nicht selbst beherrschen: „[W]hen a driver is not standing over him with a whip, he is found more incapable of withstanding any temptation, or restraining any inclination, than the savage himself“ (CW XVIII, 163). Es folgt daraus, dass beiden die Voraussetzungen für die

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Freiheit fehlen und sie – wenn nicht die Peitsche – so doch Führung und Anleitung benötigen. Darin spiegelt sich das Selbstverständnis einer gesellschaftlichen Elite mit dem Selbstverständnis europäischer Kolonialstaaten. Als Basis für den Fortschritt der Zivilisation sieht Mill die Arbeitsteilung. Sie ist die „great school of co-operation“ (CW XVIII, 164). Diese Schule findet ihre Orte im Militär, im Handel und in der Fabrik. Schüler:innen dieser Schule „learn a practical lesson of submitting themselves to guidance, and subduing themselves to act as interdependent parts of a complex whole“ (CW XVIII, 164). Wer einmal Disziplin erlernt habe, verfüge später über die Fähigkeit, diese für komplexere Aufgaben zu nutzen. Damit hat Mill den Zustand höherer Zivilisation schließlich doch noch positiv bestimmt als „being the diffusion of property and intelligence, and the power of co-operation“ (CW XVIII, 164). Das Gesamtkapital sei durch viele kleine Anteile ungeheuer angewachsen. Während das Vermögen der Masse wachse, versinken die adligen Großgrundbesitzer in Schulden (CW XVIII, 164). Die Fähigkeit zum kooperativen Zusammenschluss zeige sich in Aktiengesellschaften ebenso wie in der Vielzahl zivilgesellschaftlicher Assoziationen und besonders in den Vereinen und Gewerkschaften der Arbeiterklasse. Auch die Tageszeitungen sprechen für diese Kooperation, denn sie vereinigen die Stimmen vieler zu einer einzigen (CW XVIII, 165). Zivilisation ist folglich die Diffusion von Eigentum und Bildung in die Massen sowie die Fähigkeit zur Kooperation. Mill nimmt mit diesem Zivilisationsbegriff, der auch die Demokratisierung der Gesellschaft umfasst, eine kritische Haltung gegenüber zwei Gruppen ein: der alten Aristokratie, welche ihre Fähigkeit zur politischen Einflussnahme verliert, und der ungebildeten Masse, welche noch nicht über die nötigen Eigenschaften zur Bestimmung der Politik verfügt. Dem Aufstieg der Massen müsse im weiteren Verlauf der Zivilisation politisch entsprochen werden: Zivilisation mündet für Mill in eine repräsentative Demokratie. Ein Beharren auf überkommenen Institutionen oder der Forderung nach einer politischen Unterdrückung des

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Volkes, wie vonseiten der Konservativen und der Kirche vorgebracht, sei rückständig und schädlich für den weiteren Zivilisationsprozess, denn „whatever is the growing power in society will force its way into the government, by fair means or foul“ (CW XVIII, 166). Auch wer glaube, dass die Massen noch nicht reif seien, die Führung über die öffentlichen Angelegenheiten zu übernehmen, habe daher keine andere Wahl, als die Massen auf die politische Verantwortungsübernahme vorzubereiten. Im Folgenden legt er dann aber kein Reformprogramm der allgemeinen Schulbildung vor, sondern setzt auf eine Reform der universitären Ausbildung, um die Jugend der höheren Klassen mit dem besten und wertvollsten Wissen auszustatten, um „individuelle Größe“ herauszubilden und so „to create a power which might partially rival the mere power of the masses, and might exercise the most salutary influence over them for their own good“ (CW XVIII, 167). Mill geht es also nicht einfach um eine Demokratisierung der Bildung, sondern vor allem um ein Gegengewicht zur Masse, wozu es eine gebildete und tatkräftige Elite brauche. Dafür bedarf es einer Reform der universitären Ausbildung. Nicht länger dürfe die stumpfe Vermittlung von Fakten oder Gehorsam, wie in den dogmatischen Lehren der Kirche und den Lehrplänen der englischen Universitäten vorgesehen, stattfinden, sondern es müsse die Befähigung für Mündigkeit, Aktivität, Disziplin und Partizipation von privilegierten Bürger:innen gefördert werden. Dies gelinge nur über die Anpassung der Institutionen an die neuen sozio-politischen Bedingungen der Zivilisation, nicht über Beharren auf Bestehendem und Veraltetem (CW XVIII, 167–168). Im nachfolgenden Argumentationsschritt präzisiert Mill seine empirische Beschreibung der gesellschaftlichen Missstände, welche in einer zivilisierten Massengesellschaft auftreten, wobei seine Analyse eng an Tocquevilles Analysen der amerikanischen Demokratie angelehnt ist, mit der er sich zeitgleich ausführlich beschäftigte. Da die Gesellschaft den Schutz der Individuen übernimmt, würden diese träge und abhängig. Durch die Konkurrenz in der kapitalistischen

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Produktionsweise und die Oberflächlichkeit der Massengesellschaft streben die Menschen nur noch nach Geldgewinn, versuchen ausschließlich in Quantität und nicht mehr Qualität zu produzieren und werden abhängig von der unzureichend informierten öffentlichen Meinung. Während die Masse sich in Eigennutz ergeht, erschlaffen die privilegierten Klassen in Untätigkeit, da sie sich auf ihrem Wohlstand ausruhen. Durch den Trend zur Trägheit und den Druck der öffentlichen Meinung zur Konformität tendieren die Menschen dazu, Konflikte und deliberative Auseinandersetzungen zu vermeiden. Weil sich in zivilisierten – also industriell-kapitalistischen – Massengesellschaften die Energie der Menschen auf den Wohlstand richtet, folgt daraus, dass die aufstrebenden Mittelklassen sich allein auf den Gelderwerb konzentrieren, während die Energie der höheren, wohlhabenden Klassen erlischt (CW XVIII, 169–170). Zusammenfassend lässt sich festhalten: In einer zivilisierten Gesellschaft werden die Mittelschichten träge, abhängig von öffentlichen Leistungen, eigennutzorientiert und konform zur öffentlichen Meinung. Statt wahre und qualitative Talente herauszubilden, bemühe sich jeder nur noch darum, sich selbst möglichst positiv darzustellen, sodass substantielle Qualitäten durch vermarktbare ersetzt werden. Die Massengesellschaft korrumpiere die öffentliche und universitäre Bildung, schwäche den Einfluss kultivierter Weniger über die unwissende Masse und belohne Selbstdarstellung mehr als tatsächliche Leistung. Die negativen Effekte der Zivilisation zeigen sich folglich in der Erschlaffung der höheren Klassen: „This torpidity and cowardice, as a general characteristic, is new in the world; […] it is a natural consequence of the progress of civilization, and will continue until met by a system of cultivation adapted to counteract it“ (CW XVIII, 170). Diese Haltung macht einerseits von der öffentlichen Meinung abhängig und schränkt diese andererseits auf weniger durchdachte Ansichten ein. Von daher ist das Problem ein politisches und nicht nur moralisches: „It corrupts the very fountain of the improvement of public opinion itself; it corrupts public teaching; it

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weakens the influence of the more cultivated few over the many“ (CW XVIII, 171). Das Leseverhalten werde nicht mehr gesteuert, sondern verliere sich in unbedeutender Lektüre. Den Einfluss der wenigen Gebildeten, die in der Lage sind, die öffentliche Meinung zu informieren und anzuleiten, ist die Absicht von Mills Reformprogramm, das allgemein gesprochen in besserer Kooperation der Individuen untereinander, nationalen Erziehungsanstalten und Regierungsformen, die einen individuellen Charakter stärken, besteht (CW XVIII, 173–174). Die erste Maßnahme würde das Konkurrenzprinzip einschränken, indem sie die Zahl der Konkurrenten verringere. Vor allem in den höheren Berufen sei dies nötig. Mit Blick auf die Meinungsbildung der Öffentlichkeit durch Literatur denkt Mill daher, dass dem Zeitalter der Mäzene und dem der Buchhändler eines einer schriftstellerischen „collective guild“ (CW XVIII, 175) folgen sollte. Außerdem müssten vor allem die Universitäten aus der kirchlichen in die öffentliche Hand übergehen, um säkulare, statt dogmatische Lehren zu fördern (CW XVIII, 177–180). Seine Reformvorschläge umfassen dabei nicht nur das grundsätzliche Abrücken von Dogmatik, sondern empfehlen darüber hinaus vor allem antike und historische Literatur als Lehrstoff, um andere „great minds, minds of many various orders of greatness“ kennen zu lernen (CW XVIII, 179). Aber auch Geschichte sollte eine wichtige Funktion in der akademischen Bildung einnehmen, denn nur über ihr Studium könnten die Studierenden den menschlichen Fortschritt nachvollziehen und mögliche Weichen für die Zukunft entsprechend stellen (CW XVIII, 179–180). Er schließt sein Essay mit der Forderung, dass die Reformen erreichen müssten, dass nur die persönlichen Leistungen der höheren Klassen über ihre gesellschaftliche Stellung entscheiden dürften: „The main thing which social changes can do for the improvement of the higher classes – and it is what the progress of democracy is insensibly but certainly accomplishing – is gradually to put an end to every kind of unearned distinction, and let the only road open to honour and ascendancy be that of personal qualities“ (CW XVIII, 181).

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Zivilisation ist für Mill der Prozess, der durch Arbeitsteilung die Kooperation und Disziplin fördert und so Handel und eine immer breitere Verteilung von Eigentum herbeiführt. Demokratie ist eine notwendige Folge des Aufstiegs der Massen bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust des gebildeten Individuums. Zur Rekonstitution des gebildeten Individuums bedarf es weitreichender Reformen der universitären Ausbildung, zu denen Mill konkrete Vorschläge macht. Getragen wird der Zivilisationsbegriff von mehreren Differenzierungen: der Unterscheidung zivilisierter und nicht-zivilisierter Gesellschaften, der Unterscheidung der Massen und der höheren Klassen sowie der Unterscheidung von positiven und negativen Effekten der Zivilisation. Diese Unterscheidungen überträgt Mill ebenfalls auf seine späteren Werke.

Interpretationsansätze, Wirkung und Rezeption Mills Essay fungiert als Regieanweisung für seine späteren Publikationen, denn es liefert die Basis für das Verhältnis von Individuum und Staat in On Liberty (s. Kap. III.13), der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie in Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14) sowie der Rechtfertigung von Kolonialherrschaft im letzten Kapitel der Considerations. Für sein Gesamtwerk bildet dieses Essay insofern die Weichenstellung für darauffolgende theoretische Konzepte und Argumentationen von Bildung, Demokratie und Völkerrecht. Es zeigt sich, dass seine Überzeugungen durchweg stabil sind und in allen Kontexten wieder auftauchen. Für alle drei Aspekte steht ein eher milder Blick auf Mill, als liberaler Zivilisationsoptimist (Marwah 2011), einem eher skeptischen Blick gegenüber, welcher bei Mill eine Parallelisierung von internen und externen ‚Barbaren‘ sieht (Jahn 2005). Mills Bildungskonzept bewegt sich in seiner Verknüpfung zu Zivilisation in einem Spannungsverhältnis von staatlichem Paternalismus und individueller Freiheit (s. Kap. V.27). In Anlehnung an Wilhelm von Humboldt (1851)

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(s. Kap. II.5) proklamiert Mill, dass die Entwicklung und Kultivierung des eigenen Charakters die größte Verpflichtung des Menschen darstelle. Das Bildungssystem solle nicht nur schulisches Wissen vermitteln, sondern die Entwicklung des Charakters, der Reflexionsfähigkeit und der praktischen Fähigkeiten fördern, sodass moralische und aufgeklärte Bürger:innen erzogen werden. Parallel zu Humboldt spricht sich Mill für ein diversifiziertes Bildungssystem aus, welches nicht nur vom Staat kontrolliert sein sollte, damit sich kein Konformismus durch die Hintertür einschleichen kann. Zu diesem Ansatz gesellt sich die Idee der ganzheitlichen Bildung, also nicht nur die Verbesserung von kognitiven, sondern auch die Entwicklung von praktischen Fähigkeiten sowie moralischen und sittlichen Charakterzügen (Böge 2018). In seiner späteren Publikation A System of Logic (s. Kap. III.17) formuliert er die Lehre der Charakterentwicklung als Ethologie aus. Mill setzt zur Mündigkeitserziehung der Bürger:innen vor allem auf die regenerierte Autorität der intellektuellen Eliten, vermittelt durch die öffentliche Meinung. Da Bildung eine elementare Voraussetzung für den gesellschaftlichen und materiellen Fortschritt einer Nation darstellt, kommen den sozio-politischen Institutionen gleichermaßen eine Bildungs- und Zivilisierungsmission zu (Habibi 2001, 182– 183). In einem skeptischen Blick zeigt sich Mill hier als Vertreter eines staatlichen Paternalismus, welcher die Regierung durchaus als Werkzeug zur Verbesserung der Menschheit erachtet (Jahn 2005, 604–607). Partiell wird in der Sekundärliteratur auch davon ausgegangen, dass die unteren Volksmassen bei Mill noch genauso zur zivilisierten Demokratie erzogen werden müssten, wie die ‚barbarischen‘ oder ‚wilden‘ Gesellschaften. Während er in „Civilization“ postuliert, dass die unteren Klassen noch nicht gebildet genug für die Demokratie seien, sagt er diesen Mangel an Demokratiefähigkeit in Considerations on Representative Government auch ‚barbarischen‘ Gesellschaften nach (Jahn 2005). Mill vertrete eine „tendenziöse, unsoziologische und politisch destruktive Interpretation von sozialem Fortschritt“ über die Verbindung von Zi-

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vilisation, Demokratie und Bildung (Pitts 2019, 289). Ein milderer Blick liest Mills Bildungskonzept jedoch konträr, indem die gebildete Elite die Massenbildung um deren selbst willen leiten sollte. Denn, wie später in On Liberty dargestellt, nur durch Bildung und Kultivierung der eigenen Fähigkeiten können Menschen Freiheit erlangen und wenn die Menschen diesen Selbstzweck nicht von sich aus erkennen, dann ist eine intellektuell überlegene Elite notwendig, um die Masse durch Bildungseingriffe zu befreien (West 1965, 129–134). Dieser Aspekt führt bereits zu Mills Verständnis von Demokratie. In ihrer höchsten Form mündet Zivilisation in einer repräsentativen Demokratie. Jedoch teilt Mill die Sorge, dass eine vollwertige Demokratie sich durchsetzen könnte, bevor die Massen ausreichend dafür gebildet sind. Diese Befürchtung fußt primär auf seiner Enttäuschung über reale demokratische Institutionen und seinen Zweifel an der Rationalität der Wählerschaft. Vor allem kritisiert Mill den Reform Act von 1832, welcher die englischen Wahlbezirke neu sortierte und durch die Veränderung des Wahlzensus die Wählerschaft ausweitete. Für Mill liegt die richtige Vorgehensweise nicht in einer Ausweitung des Wahlrechts (s. Kap. V.41), sondern in einer Bereitstellung der notwendigen Institutionen und Eliten, sodass die unteren Klassen zur politischen Mündigkeit erzogen würden (Kahan 2001, 73–74). Gegen die universelle Ausweitung des Wahlrechts führt Mill verschiedene institutionelle Sicherungen an, welche der Klassenherrschaft der ungebildeten Masse präventiv entgegenwirken sollen. Hierzu zählt neben institutionellen Maßnahmen vor allem das Pluralwahlrecht und intellektuelle Voraussetzungen für Wahlkandidaten (Niesen 2011). Gerade das Pluralwahlrecht verbindet seine Idee einer Volksregierung mit den notwendigen Einschränkungen des Bildungsgrades, um unerwünschte Folgen der Massendemokratie einzuschränken. Da die Stimmenanzahl von Wahlberechtigten hier mit deren intellektuell-politischer Kompetenz korreliert, soll eine Herrschaft der Masse verhindert werden. Diese Idee steht eindeutig im Widerspruch zu den

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d­ emokratischen Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit (Niesen 2011, 96–100). In einem milden Blick bleibt dabei jedoch die hypothetische politische Partizipation aller Bürger:innen als utilitaristisch erstrebenswertes Ziel bestehen (Niesen 2011, 82–83). Das Zivilisationskonzept bewegt sich demnach auch in seiner Verbindung zur Demokratietheorie in einem Spannungsverhältnis von politischer Befähigung aller durch Bildung und der Rechtfertigung von hierarchischer Ordnung zwischen den Klassen, wobei letzteres in einen skeptischen Blick fällt (Bryson 1998). Bei Mill äußert sich die Perspektive der europäischen Superiorität im zivilisatorischen Fortschrittsprozess mit entsprechenden Folgen für das Völkerrecht. Zivilisation, definiert als Gegensatz zur ‚Barbarei‘ und geographisch im Epizentrum Europa positioniert, ist bei ihm primär ein Ausdruck des Bewusstseins, an der Spitze einer umfassenden weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung zu stehen. Sein Essay „Civilization“ rückt dabei vor allem im Kontext mit Mills Rechtfertigung des Kolonialismus (s. Kap. V.31) in seiner späteren Schrift Considerations on Representative Government in den Fokus. In seinem Essay „A Few Words on Non-Intervention“ (1859; CW XXI, 109–124) wird die bereits im „Civilization“-Text getroffene Unterscheidung von ‚barbarischen‘ und ‚zivilisierten‘ Nationen ins Völkerrecht übertragen, wo diese im 19. Jahrhundert Leitkategorie ist (Gong 1984). Mill erläutert die Ungleichheit beider Akteure: „But barbarians will not reciprocate. They cannot be depended on for observing any rules. Their minds are not capable of so great an effort, nor their will sufficiently under the influence of distant motives. In the next place, nations which are still barbarous have not got beyond the period during which it is likely to be for their benefit that they should be conquered and held in subjection of foreigners“ (CW XXI, 151). Das Zivilisationskonzept legt die Basis für seine Idee, dass zivilisierte Gesellschaften ‚barbarische‘ Völker kolonialisieren dürfen, um ihnen so beim zivilisatorischen Fortschritt zu helfen. An diesem Punkt wird Zivilisation zu einer Bildungsmission der eigenen Gesell-

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schaft und im erweiterten Sinne auch zu einer Zivilisierungsmission der nicht-zivilisierten Gesellschaften (Osterhammel 2005). Kolonialismus wird so quasi zur Zivilisationsvolksschule. Mill konstruiere eine „Transformationsdespotie“, also einen legitimen Despotismus zur Vorbereitung ‚wilder‘ Gruppen auf eine freie Gesellschaft und Regierung (Schefczyk 2017, 249–256). Auch hier öffnen sich wieder zwei Interpretationsstränge: Während der milde Blick herausliest, dass Mill tatsächlich allen Gesellschaften die Möglichkeit zur zivilisatorischen Aufstiegsentwicklung zuspricht (Schefczyk 2017; Mazlish 2004), sieht ein vorsichtig skeptischer Blick Mill ‚barbarische‘ oder ‚wilde‘ Gesellschaften erst in einer nicht eindeutig definierten Zukunft aufstiegsfähig (Marwah 2011, 349–350). Schärfer akzentuiert erscheint Mills Programm als das eines sich selbst ermächtigenden Zivilisationskolonialismus, der außerhalb seiner eigenen Ordnung nur ‚Barbaren‘ wahrnehmen kann (Eberl 2011; Jahn 2005). Mills eher blasser Zivilisationsbegriff könnte daher auch als Beitrag zum Barbarendiskurs gedeutet werden, aus dem er sich ja gegenbildlich ableitet (Eberl 2021). Unschwer ist in seiner Beschreibung der Zivilisation die Idee der Gegenüberstellung eines staatlichen und eines nichtstaatlichen Zustands zu erkennen, dem Hobbes den Namen Naturzustand und die Beschreibung eines Mangelzustands gegeben hat. Mill kombiniert diese Beschreibungsweise mit dem Diskurs über gesellschaftliche Stadien der schottischen Aufklärung (Jäger/Sammler, Hirten, Ackerbau, Handel) mit einer an die Beschreibung seines Vaters angelehnten dichotomen Sichtweise von ‚barbarischen‘ und ‚zivilisierten‘ Völkern, die Staatlichkeit mit zivilisiert gleichsetzt, dabei aber zuallererst und allein an den europäischen Staat des 19. Jahrhunderts denkt. Mill verbindet die von den Fortschritten der industriellen Epoche und der Massendemokratie geprägte zivilisierte Gesellschaft mit dem kolonialen Bild ‚barbarischer‘ Gesellschaften und übersetzt diese im Anschluss an Tocqueville in die Gefahr des ‚Rückfalls‘ der eigenen Gesellschaft. Seine Definition von Zivilisation ist dabei ganz abhängig

22  „Civilization“ (1836)

von dem Bild, das sich die kolonisierenden Staaten von den kolonisierten Gesellschaften als nicht-zivilisierte machen, und somit kann Mills Zivilisationsbegriff als eine zirkuläre Selbstbestätigung betrachtet werden. Damit wird sein Zivilisationsbegriff nicht nur zur Signatur der industriell-kapitalistischen Gesellschaft, sondern bestätigt diese auch als koloniale Gesellschaft, die einen spezifisch kolonial-liberalen Blick auf die inhärenten Mängel der Massendemokratie entwickelt.

Literatur Bell, Duncan: John Stuart Mill on Colonies. In: Political Theory 38/1 (2010), 34–64. Bentham, Jeremy: The Works of Jeremy Bentham, Bd. 1. Principles of Morals and Legislation, Fragment on Government, Civil Code, Penal Law. Edinburgh 1843. Blättler, Sidonia: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Berlin 1995. Böge, Manfred: Moralische Erneuerung. Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie. Freiburg/München 2018. Bryson, Anna: From Courtesy to Civility. Changing Codes of Conduct in Early Modern England. New York 1998. Eberl, Oliver: Kolonialismus oder: die Rechtfertigung externer Herrschaft über ‚Barbaren‘ und ‚Wilde‘. In: Frauke Höntzsch (Hg.): John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart 2011, 103–122. Eberl, Oliver: Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik des Staates im Zeichen des Kolonialismus. Hamburg 2021. Fisch, Jörg: Zivilisation, Kultur. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7. Stuttgart 1992, 679–774. Gong, Gerrit W.: The Standard of Civilization in International Society. Oxford 1984.

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Teil V

Zentrale Konzepte

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Arbeit Christoph Henning

Mill hat keine ausgefeilte Philosophie der Arbeit vorgelegt, kommt aber in seinen ökonomischen und sozialpolitischen Schriften immer wieder auf die Bedeutung des Arbeitens zu sprechen – und wird dafür noch heute als Referenz aufgerufen (etwa Stabile 2009). Es ist wichtig, seine jeweiligen Aussagen zu kontextualisieren, da sie sich nicht vollends zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Unterschieden werden in der Folge Mills Überlegungen zur Arbeit (was meist, aber nicht immer Lohnarbeit im Kapitalismus meint) als Tätigkeit, als Mechanismus sozialer Differenzierung (im Sinne der Klassenbildung), und als Gegenstand sozialpolitischer Reformen. Für Mill als letzten Vertreter der ökonomischen Klassik (Landreth/Colander 2002, 173 ff.; s. Kap. II.10) ist Arbeit zunächst wichtig als Produktivkraft. Er unterscheidet wie Adam Smith produktive und unproduktive Arbeit sowie Grade von Produktivität (CW II, 45 f.); kommt von hier aus aber zu keiner Ausbeutungstheorie wie etwa Hodgskin (1825; vgl. die Kritik bei Marx, MEW 26.3, 190 ff.). Da er dem Privateigentum und dem marktlichen Wettbewerb bis

C. Henning (*)  Professor für Philosophie und Humanismus, University of Humanistic Studies Utrecht, Utrecht, Niederlande E-Mail: [email protected]

zuletzt eine zentrale Stelle einräumt, aber die Arbeitswerttheorie stillschweigend aufgibt, interessiert Arbeit bei Mill weniger aufgrund von Innovationen in der politischen Ökonomie, sondern eher im Bereich der Kulturphilosophie und Politik. Hier hält Mill Arbeit als Tätigkeit für einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu kulturellem Fortschritt (s. Kap. V.26), allerdings für einen Schritt, der irgendwann überwunden werden muss. Daher kritisiert er an einigen Stellen die Arbeit, an anderen die Nicht-Arbeit; an wieder anderen ihre schlechten Bedingungen. Betrachtet sei zunächst die Kritik der NichtArbeit. Mill kann es trotz seiner Toleranz gegenüber verschiedensten Lebensstilen (s. Kap. V.27, V.30) nicht akzeptieren, wenn Personengruppen sich der im westlichen Kapitalismus als ‚normal‘ klassifizierten Berufs- oder Lohnarbeit verweigern. Dieses negative Urteil wendet er nach außen wie nach innen. Nach außen hält er (scheinbar) nicht-arbeitende Kulturen für entwicklungsbedürftig, was einen Eingriff von außen etwa durch Kolonialmächte rechtfertigt, vom aufgedrängten Freihandel bis hin zur Sklaverei (s. Kap. V.31): „[U]ncivilized races […] are averse to continuous labour of an ­unexciting kind. Yet all real civilization is at this price; with­out such labour, neither can the mind be dis­ ciplined into the habits required by civilized society, nor the material world prepared to receive it. […] Hence even personal slavery, by giving a commencement to industrial life, and ­enforcing

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it as the exclusive occupation of the most numerous portion of the community, may accelerate the transition to a better freedom than that of fighting and rapine“ (CW XIX, 394 f.). Diese Verkennung nicht-westlicher Kulturen folgt einer verbreiteten liberalen und zugleich kolonialen Lesart, die schon John Locke etabliert hatte: Nicht-westliche Kulturen arbeiteten nicht und könnten daher in der Begegnung mit dem Westen weder Rechtsansprüche auf Eigentum noch auf kulturelle Selbstbestimmung geltend machen (Tully 1993; Parekh 1995; Henning 2017). Dieses Arbeitsverständnis hat eine zentrale Stellung innerhalb des imperialen Selbstbildes des Westens, nach außen wie nach innen. Dennoch wird Arbeit von Mill nicht als erfüllende Tätigkeit beschrieben, sondern als Durchgangsstadium: Es bedürfe der durch sie vermittelnden materiellen und habituellen Voraussetzungen (gemeint sind Sekundärtugenden: Pünktlichkeit, Sauberkeit, Fleiß etc.), um zum höheren Zustand der ‚Zivilisation‘ zu gelangen (s. Kap. IV.22). In einem solch vorzivilisatorischen Zustand befänden sich nicht nur die ‚Barbaren‘, sondern auch die Armen im eigenen Land – etwa weil sie unfähig seien, sich der Fortpflanzung zu enthalten („propagate like swine“, CW II, 157). Sie waren nach liberaler Wahrnehmung zudem unwillig zu arbeiten. Arbeitslose Arme („able bodied“), die im Prinzip arbeiten könnten und daher keine Fürsorge verdienten (daher „undeserving poor“), sollten Mill zufolge zwar versorgt werden, aber auf eine unattraktive Weise („undesirable“, CW XIII, 687; vgl. CW III, 961), auch indem sie in Arbeitshäusern zum Arbeiten gezwungen werden („enforced rigidity of discipline“; CW II, 360), um sie vor der Unmoral der NichtArbeit zu retten, und zugleich andere Arbeiter vor dem unmoralischen Zustand der NichtArbeit abzuschrecken – eine Symbolpolitik. Diese erzwungene Arbeit müsse noch schlechteren Bedingungen unterworfen sein als die einfachste reguläre Arbeit. Heute heißt dies „Lohnabstandsgebot“ und „punitive Sozialpolitik“ (Wacquant 2009; historisch Katz 1986; Bohlender 2007): Man soll es sich nicht in der Wohlfahrt einrichten können, sie darf keine Lebens-

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form („culture of poverty“) werden. Genau dies war schon Mills Punkt: „To arrest this demoralization, before the labouring population shall be entirely corrupted, and the whole produce of the country swallowed up by the poor rates, […] [t] he condition of a pauper must cease to be, as it has been made, an object of desire and envy to the independent labourer“ (CW VI, 203 f., von 1834). Arbeit wird damit teils als Erziehungsinstrument, teils als Strafe verstanden. Noch als Ende des 20. Jahrhunderts die neoliberalen workfare-Maßnahmen (Lees 1998; Handler/ Hasenfeld 1997; Henning 2009) den Rückbau des Sozialstaats paternalistisch flankierten, wurden die Tugenden bemüht, die von einer regelmäßigen Arbeit ausgehen sollten – ein klarer Rückgriff auf die viktorianische Moral, der auch Mill entstammte (Himmelfarb 1995). Allerdings ist Mill selbst vorsichtig, wenn es um die charakterlichen Auswirkungen gerade der einfacheren manuellen Arbeitstätigkeiten ging. Erzwungene ökonomische Arbeit am Rande des Marktes, die als Strafe und Abschreckung gedacht ist, ist wenig geeignet, eine weitergehende charakterliche Verbesserung zu bewirken. Arbeit an sich ist für Mill weder erstrebenswert noch bildend (anders als für Hegel oder Marx, eher im Sinne von Adam Smith und David Hume, Henning 2011): „It is not sufficiently considered how little there is in most men’s ordinary life to give any largeness either to their conceptions or to their sentiments. Their work is a routine; not a labour of love, but of self-interest in the most elementary form, the satisfaction of daily wants; neither the thing done, nor the process of doing it, introduces the mind to thoughts or feelings extending beyond individuals“ (CW XIX, 411, von 1861). Es ist bezeichnend für die Widerspenstigkeit von Mills Arbeitsphilosophie, dass er sich zwar deutlich gegen die Verweigerung von Arbeit, aber im Kontext der Emanzipation der Sklaven zugleich auch gegen die protestantische Arbeitsethik ausspricht, die sein Kollege Thomas Carlyle zur Rechtfertigung der Sklaverei genutzt hatte: „Work, I imagine, is not a good in itself. There is nothing laudable in work for work’s sake. […] In opposition to the ‚gospel of work‘

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[Carlyle], I would assert the gospel of leisure, and maintain that human beings cannot rise to the finer attributes of their nature compatibly with a life filled with labour“ (CW XXI, 90 f., von 1850). Menschen sollen also zunächst arbeiten. Das gilt auch für die wohlhabenden Klassen, die aufgrund ihrer Privilegien nicht arbeiten müssen: „I do not recognise as either just or salutary a state of society in which there is any ‚class‘ which is not labouring“ (CW III, 758, von 1848; vgl. CW XXI, 91). Doch auf der durch das Arbeiten erreichten basalen zivilisatorischen Stufe soll man nicht länger als nötig stehen bleiben. Dieses Übergangs- und Aufstiegsmotiv unterstellt Mill einerseits den Arbeitenden selbst: „I cannot think that they will be permanently contented with the condition of labouring for wages as their ultimate state. […] To begin as hired labourers, then after a few years to work on their own account, and finally employ others, is the normal condition of labourers in a new country, rapidly increasing in wealth and population, like America or Australia“ (CW III, 766; vgl. Sandel 1996, 169 ff.). Andererseits, etwas abstrakter, ist ein solcher Übergang in andere Tätigkeiten auch das historische Ziel, das Mill dem Fortschritt anweist – es gehe letztlich darum, sich in der Muße zu üben und das Leben jenseits der Arbeit zu kultivieren („to cultivate freely the graces of life“, CW III, 755; vgl. Henning 2011). Hier kehrt dieselbe Arbeitsskepsis wieder: „I confess I am not charmed with the ideal of life held out by those who think that the normal state of human beings is that of struggling to get on; that the trampling, crushing, elbowing, and treading on each other’s heels, which form the existing type of social life, are the most desirable lot of human kind, or any­ thing but the disagreeable symptoms of one of the phases of industrial progress“ (CW III, 754). Das führt nun zur weiteren Bedeutung der Arbeit für die Sozialphilosophie, zu ihrer sozialen Segregationsfunktion, der Bildung gesellschaftlicher Klassen durch die jeweilige Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Wenn die benannte Dynamik stillgestellt wird, wenn Menschen also auf bestimmte Funktionen festgelegt, diese ihnen quasi auf den Leib ge-

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schrieben werden, kommt es zur Bildung ökonomischer Klassen, zur Verewigung der Sklaverei oder zur permanenten Unterdrückung der Frau (s. Kap. III.16). Auch an dieser Stelle ist Mills Position von Ambivalenzen geprägt: Einerseits moniert er die Bildung von Klassen und die sozialen Kämpfe zwischen ihnen, ebenso wie die Sklaverei und die Frauenunterdrückung. Schon im frühen Aufsatz „Perfectibility“ (1828; CW XXVI, 428–433) fordert Mill etwa, dass die Klassenmacht gebrochen werden solle – Klassen dürften keine politische oder kulturelle Macht ausüben; das dürfe nur (wie später im Chartismus) das ganze Volk: „And there is another thing that is requisite […] to leave no class possessed of power sufficient to protect one another in defying public opin­ ion, and to manufacture a separate code of morality for their private guidance; and so to organize the political institutions of a country that no one could possess any power save what might be given to him by the favourable sentiments, not of any separate class with a separate interest, but of the people“ (CW XXVI, 433). Andererseits wird Mill seinen Elitismus, seine Vermutung, dass die höheren Klassen im Durchschnitt doch irgendwie talentierter seien, nie recht los („the wiser or better man, has a claim to superior weight […]. An employer of labour is on the average more intelligent than a labourer“, CW XIX, 475). Ähnliche Stellen gibt es auch über Frauen („the general bent of their talents is towards the practical“, CW XXI, 305). Wie erklärt Mill nun die Lage der arbeitenden Klassen im Besonderen – ist sie verdient oder unverdient, reformierbar oder stabil? Zunächst teilt Mill mit Ricardo die Annahme, dass zumindest für einfachste Arbeit („unskilled labour“) stets nur ein minimaler Lohn gezahlt werden solle (CW IV, 368; wobei dieses Minimum je nach Umstand variieren kann, CW II, 340 f.). Dennoch beklagt Mill die Absurdität der aus dem kapitalistischen System resultierenden Einkommensverteilung, in der die Bezahlung desto geringer ausfällt, je schwerer die Arbeit ist – solange dies gelte, sei der Sozialismus vorzuziehen: „the largest portions to those who have never worked at all, the next largest to

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those whose work is almost nominal, and so in a descending scale, the remuneration dwindling as the work grows harder and more disagreeable, until the most fatiguing and exhausting bodily labour cannot count with certainty on being able to earn even the necessaries of life“ (CW II, 207; vgl. CW II, 383; MacPherson 1983, 66 f.). Eine solche Klassengesellschaft verändere den Charakter des Arbeitens selbst: Sie führe zur Unwilligkeit der Arbeitenden, da sie durch Anstrengung nicht mehr, sondern eher weniger bekämen; auch blieben sie abhängig und arbeiteten somit nicht für sich selbst, sondern für andere (für Marx war dies ein Grund für die Entfremdung in der Arbeit, MEW 40, 514). Lohnarbeiter entwickelten daher keinen Stolz, sondern wollten stets nur mehr Lohn: „We look in vain among the working classes in general for the just pride which will choose to give good work for good wages; for the most part, their sole endeavour is to receive as much, and return as little in the shape of service, as possible“ (CW III, 767). Nun kommt allerdings erneut die Widerspenstigkeit der Mill’schen Gedanken zum Zuge. Denn obwohl die Löhne zu niedrig sind und viele Menschen in Armut und Elend halten, spricht sich Mill in den 1840er Jahren gegen Lohnerhöhungen aus. Jeder Versuch, die Löhne zu erhöhen, würde verpuffen – entweder durch steigende Lebenshaltungskosten (da die Kapitalisten die höheren Löhne bei den Kosten ihrer Waren wieder aufschlügen) oder durch eine wachsende (Arbeiter-)Bevölkerung, die rasch die Löhne drücken würden. Voraussetzung für diese pessimistische und politisch reaktionäre Einschätzung ist die Bevölkerungstheorie von Thomas Malthus (s. Kap. II.10). Die deutliche Spannung zwischen seinen Positionen (einerseits Klage über niedrige Löhne, andererseits Abwehr von Lohnerhöhungen) lockerte Mill erst gegen Ende seines Lebens, als er gegenüber staatlichen Mindestlöhnen und gewerkschaftlich durchgesetzten Forderungen milder wurde (Aßländer 2018). Obwohl Mill sich als Reformer versteht, verwendet er viel intellektuelle Energie auf den Beleg, dass Forderungen nach Lohnerhöhung nicht

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nachzugeben sei. Es sei nicht nur wirtschaftlich vergeblich, sondern auch politisch gefährlich: Da nur die höheren Klassen diese Löhne gewähren könnten, machten sich die Arbeitenden – so die Mill’sche Logik – gerade durch diese Forderung von den höheren Klassen abhängig, sie würden sogar devot (es drohe die „degradation to the character of the dependent class“, CW IV, 374). Obwohl auch strenge Marxisten gegenüber dem gewerkschaftlich-reformistischen Weg, wie ihn etwa Eduard Bernstein einschlug (beeinflusst nicht zuletzt von der Englischen Arbeiterbewegung), Skepsis artikulierten, war Mill gegenüber der revolutionären Alternative – der öffentlichen Kontrolle über die Produktionsmittel – ebenso abweisend, sowohl in den Principles of Political Economy (erstmals erschienen im Revolutionsjahr 1848, CW II und III; s. Kap. III.15) wie noch in den posthum erschienen Chapters on Socialism von 1879 (CW V, 703 ff.; vgl. Ten 1998; s. Kap. IV.18). Er fürchtete, ein gewaltsamer Aufstand würde am Ende nur noch mehr Menschen arm machen. Welchen Ausweg gibt es aber, wenn die Lage der Arbeitenden nicht bleiben kann, wie sie ist (auf globaler Ebene stellt sich diese Frage nach wie vor; vgl. Van der Linden 2017), aber weder Sozialismus noch Sozialdemokratie herauszuhelfen vermögen? Mill hilft sich aus dieser Zwickmühle durch eine Vision, die moderat klingt und daher das liberale Denken besticht, die aber letztlich utopisch bleibt. Es ist, genauer gesagt, eine Erziehungsutopie. Diese Utopie ist in mehrfacher Hinsicht um Arbeit und die Arbeitenden zentriert. Da Mill der Auffassung ist, dass die Arbeitenden durch ihr Verhalten an ihrer Armut mitschuldig seien (etwa durch ihre ständige Vermehrung, aber auch durch ihre Bildungsferne), durch fremde Hilfe jedoch nicht aus ihrer Misere kommen könnten, ohne charakterlich weiteren Schaden zu nehmen, muss er einen Eingriff um die Ecke postulieren: Eingreifen solle man nicht direkt in ihr Leben, allerdings indirekt in ihr Vermögen, das eigene Leben besser führen zu können (eine „Führung durch Selbstführung“, Bröckling 2015, 171). Und dies kann nicht anders gehen als durch Erziehung (s. Kap. V.24): „Education […] indeed

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is not the principal, but the sole remedy“ (CW IV, 376). Das Ziel sei, die Arbeiter überhaupt erst einmal „rational“ zu machen („converting these neglected creatures into rational beings“, CW IV, 378; vgl. CW III, 763), sonst könne sich ihre Lage nicht verbessern („until there is a change in themselves, there can be no lasting improvement in their outward condition“, CW IV, 375). Für die anzuerziehende sittliche Rationalität geben die „middle classes“ das Vorbild ab (CW II, 157). Die imaginierte Wirkweise dieser Verbürgerlichung läuft einerseits über die MalthusSchiene: Wenn die Arbeiter nur so gebildet seien wie die Mittelschichten, würden sie sich sexuell ebenfalls zurückhalten und sich erst vermehren, wenn die Versorgung der Kinder gesichert sei. Damit muss sich ihre Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt und damit ihr Lohnniveau verbessern. Andererseits würde eine Erziehung ihre Fertigkeiten verbessern und sie so zusätzlich aus dem Niedriglohnsektor emporheben. Wie realistisch ist dies, wenn alle gleichermaßen diese Bildung erhalten, wie es ja gedacht ist? („Justice demands […] that the means of attaining these elementary acquirements should be within the reach of every person“, CW XIX, 470; vgl. CW XIX, 411). Mill erhofft sich noch weitergehende Folgen: Die Bereitschaft wachse, nicht nur für sich allein, sondern zusammen zu arbeiten und Kooperativen zu gründen. „But if public spirit, generous sentiments, or true justice and equality are desired, association, not isolation, of interests, is the school in which these excellences are nurtured. The aim of improvement should be […] to enable them to work with or for one another in relations not involving dependence“ (CW III, 768). Die Kooperativen setzen zwar moralische Einsichten voraus (es bedarf zuvor der Erziehung –aber wer erzieht die Erzieher? Vgl. MEW 3, 6; These 3). Einmal ins Rollen gebracht (als Vorbilder stehen hier Owen und Fourier), würden die Kooperativen die Moralisierung aber von sich aus weitertreiben, und so könne es zu einer regelrechten „moral revolution“ kommen (CW III, 792; Mill denkt an „rules of discipline“, „voluntary obedience“

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usw., CW III, 780), durch welche die Klassenkämpfe in eine „friendly rivalry“ überführt würden (CW III, 792) – dem liegt die Annahme zugrunde, die Kämpfe gingen nur von der Seite der Arbeiter aus). Die liberal gedachten Arbeitergenossenschaften entstehen nicht durch die Unterstellung privater Produktionsmittel unter genossenschaftliche Kontrolle, sondern – gemäß der liberalen Imagination – durch Sparsamkeit und Fleiß sowie unternehmerische Initiative der Arbeiter, die so nach und nach ihre eigenen Kapitalisten werden (CW III, 793). In dieser Idealwelt gibt es zumindest mittelfristig weiterhin private Unternehmer, die riskantere Investitionen tätigen (‚venture capital‘), aber sie stehen harmonisch neben den Arbeiterkooperativen, die eher auf Sicherheit setzen (und, anders als die Privaten, keine Probleme mit dem zu erwartenden Fall der Profitrate haben werden). Zusammen genommen führe dies zu einer höheren Produktivität, nicht zuletzt durch technische Verbesserungen. Doch diese könnten nun statt in immer mehr Geld alternativ in kürzere Arbeitszeiten umgesetzt werden. Gebildete Menschen haben für Mill eine höhere Präferenz für Muße, da sie gelernt haben, diese höheren Freuden zu schätzen (CW III, 756). Damit sei es endlich möglich, eine ganze Gesellschaft von der Arbeit zu emanzipieren: durch Verkürzung der Arbeitszeit, die dann fair auf alle zu verteilen sei: „To reduce very greatly the quantity of work required to carry on existence, is as needful as to distribute it more equally; and the progress of science, and the increasing ascendancy of justice and dis-cipline good sense, tend to this result“ (CW XXI, 91). Diese wohlklingende Vision wird bis heute zitiert, da sie scheinbar auf moralischem und zugleich marktwirtschaftlichem Weg über den Kapitalismus hinauszuführen erlaube. Allerdings ist sie von Widersprüchen durchsetzt: Mill will zwar freiheitsmindernde Eingriffe vermeiden, setzt aber auf eine verordnete Erziehung, die eine bestimmte Moral (oder Theorie des Guten) festlegen will (‚legislating morality‘). Mill setzt auf Eigenaktivität, muss sie aber von außen erzwingen. Mill ist gegen Lohnerhöhungen, muss für die Erziehung aber solche voraussetzen (CW

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IV, 368; „a large edition to the present wages“, CW II, 378), denn Arbeitende müssten an einen höheren Lebensstandard gewöhnt werden. Von Unternehmern wird erwartet, dass sie helfen, ihre eigene Konkurrenz aufzubauen, die dabei nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch mächtiger würde (durch mehr Wahlrechte, s. Kap. V.41). Von der Arbeiterschaft wird erwartet, dass sie sich zwar ‚unternehmerisieren‘ lasse (also sparsam und fleißig werde und ihr Erspartes gewinnbringend anlege), ohne jedoch ganz zu Unternehmern zu werden (indem sie weiter solidarisch und uneigennützig handle und an die Stelle ökonomischer Imperative bildungsbürgerliche, also statt auf das Gewinnmotiv auf Kultivierung setze). Mill bleibt also nicht nur in seiner Beschreibung der Arbeit, sondern auch in seiner Vision der Post-Arbeitsgesellschaft ambivalent.

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Bildung/Erziehung

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Michael Geiss

Das Verhältnis des Liberalismus zu Fragen der Bildung und Erziehung ist vielgestaltig. In der Geschichte liberalen Denkens finden sich mindestens drei Konstellationen, die jeweils zu unterschiedlichen Bestimmungen der Funktion von Schule, Bildung, Erziehung oder Lernen führen. Erstens fußt die Idee einer liberalen Gesellschaft auf bestimmten Voraussetzungen, die durch die pädagogischen Institutionen erst hergestellt werden müssen. Zweitens legt der Liberalismus als eine Option politischen Denkens der staatlichen Organisation und Kontrolle von Bildung bestimmte Schranken auf. Drittens geht mit dem Liberalismus häufig die Vorstellung der individuellen Selbstentfaltung einher, die in der Regel als ein Bildungsprozess verstanden wird (s. Kap. II.5, V.30). John Stuart Mill hat sich zu jeder dieser drei Konstellationen umfassend geäußert. Sowohl in seinen Vorträgen und Gelegenheitsschriften als auch in seinen systematischen Arbeiten spielen Fragen der Bildung und Erziehung eine zentrale Rolle. Gleichzeitig gibt es von Mill, anders etwa als etwa von John Locke oder John Dewey, die ebenfalls zu pädagogischen Klassikern geworden sind, keine bildungs- oder erziehungs-

M. Geiss ()  Professor für Erziehungswissenschaft, Pädagogische Hochschule Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

theoretischen Schriften im engeren Sinne. Zumeist wird anstelle eines der Hauptwerke Mills Autobiography (s. Kap. III.11), die als eine Bildungserzählung angelegt ist, beigezogen, um den hohen Stellenwert von Bildung in seinem Werk zu belegen (Cavenagh 1969). Die Arbeiten Mills sind aber insgesamt von starken pädagogischen Annahmen bestimmt (Ryan 2011), enthalten durchaus längere Passagen zu Erziehung und Bildung (etwa in On Liberty, 1859; s. Kap. III.13) und sind auch verschiedentlich pädagogisch gelesen worden (vgl. etwa Rössner 1983; Anderson 1998; Garforth 1971). Mill schließt direkt an die bildungs- und erziehungstheoretischen Überlegungen Jeremy Benthams und seines Vaters James Mill an. Das Ziel der Erziehung und Bildung besteht für ihn entsprechend darin, den Einzelnen so zu unterweisen, dass er das eigene und das Glück der anderen stetig mehre (Finlay 2017). Mill unterscheidet dabei eine weite und eine enge Bedeutung von Bildung. Bildung umfasst in diesem Sinne nicht allein die Anstrengungen zur individuellen Vervollkommnung, sondern alle „mittelbaren Wirkungen auf Charakter und menschliche Fähigkeiten“ (CW XXI, 217), die von sozialen Institutionen und selbst von natürlichen Umwelten ausgehen. Bildung und Erziehung dienen für Mill damit zum einen der Enkulturation und Sozialisation. Sie sorgen dafür, dass die Wissensbestände, Werte und sozialen Normen an die nächste

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­eneration vermittelt werden. Damit stabiliG sieren sie die bestehende soziale Ordnung. Sie sind also zunächst einmal konservativ. Zugleich schreibt Mill aber der Bildung auch eine progressive Funktion zu, da sie dafür verantwortlich sei, dass Gesellschaften sich fortlaufend weiterentwickeln. Indem die Potenziale besonders begabter Individuen durch Bildung und Erziehung freigesetzt würden und insgesamt der Bildungsstand der Gesamtbevölkerung sukzessive erhöht werde, könne der soziale Fortschritt auf Dauer gestellt werden (Garforth 1980, 38–57). Die pädagogischen Überlegungen in Mills Werk gehen damit von zwei Prämissen aus: der Möglichkeit individueller Vervollkommnung und der Wahrscheinlichkeit kollektiver Lernprozesse. Eine bildungstheoretische Grundlegung erfahren Mills pädagogische Überlegungen dann in seiner utilitaristischen Ethik. Der Mill’sche Utilitarismus geht von dem Prinzip aus, dass diejenigen Handlungen richtig sind, die das Glück befördern, wobei Glück hier als „pleasure“ und die „absence of pain“ definiert wird (CW X, 210; s. Kap. V.35). In Mills Lesart bedeutet dies aber nicht, dass alle Formen der Lust denselben Wert hätten. Vielmehr sei es so, dass einige Erfahrungen höherwertiger seien, eine höhere Qualität hätten und deshalb selbst dann gewählt würden, wenn ein quantitativ größeres Maß einer niedrigwertigeren Erfahrung zur Verfügung stünde. Mill sieht diese Besonderheit im Sinn für die eigene Würde verankert, der allen Menschen – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – eigen sei (CW X, 212). Mills qualitativer Hedonismus (s. Kap. V.29) bleibt aber nicht beim Individuum stehen. Vielmehr geht Mill davon aus, dass der höchste Wert in einer utilitaristischen Ethik dennoch die Maximierung des Gesamtglücks bleiben müsse. Selbst wenn also der Einzelne durch die Entscheidung für eine höherwertige Erfahrung gar nicht glücklicher werde, würden Dritte dennoch davon profitieren. Mill hält es aber für ausgemacht, dass sich in der Realität individuelle und kollektive Lustmaximierung in der Regel entsprechen. Die Erhöhung des Gesamtglücks könne deshalb nur durch eine „general cultiva-

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tion of nobleness of character“ erreicht werden (CW X, 213 f.) Mill sieht nun unterschiedliche Gründe, dass die Individuen ihre Möglichkeiten dennoch nicht ausschöpfen. Neben der Selbstsucht gilt ihm das Fehlen einer geistigen Kultiviertheit als eine der zentralen Ursachen dafür, dass die qualitativ höherwertigen Erfahrungen nicht gemacht würden. Mit der richtigen Erziehung und den entsprechenden Gelegenheiten sieht er keinen Grund anzunehmen, dass höhere Formen von Genuss nur durch wenige Personen zu erreichen seien, mit einer zentralen Ausnahme: Sie gilt allein für „every one born in a civilized country“ (CW X, 216; Herv. d. Verf.). Bildung und Erziehung kommen nun in einem politischen Gemeinwesen eine zentrale Rolle bei der Mehrung des Glücks zu. Neben den Gesetzen, sozialen Gefügen und der öffentlichen Meinung sollen sie dafür sorgen, dass das ‚greatest happiness principle‘ verwirklicht wird. Bildung und Erziehung sind dafür verantwortlich, zwischen individuellem Glück und Gesamtglück eine Verbindung herzustellen, sodass der Einzelne diejenigen Handlungen ergreift, die zugleich den anderen zugutekommen. Mill schreibt Erziehung und Bildung hier eine große Bedeutung zu. Sie sollen für die Harmonisierung von Individual- und Gesamtwohl sorgen, indem sie die korrespondierenden Verhaltensweisen zur Gewohnheit machen. Der Freiheit, die Mill für eine zentrale Bedingung einer glückmaximierenden Gesellschaft hält (s. Kap. V.27), geht die pädagogische Bereitstellung der entsprechenden Charakterzüge voraus. Den Einzelnen muss gar nicht bewusst sein, dass sie mit ihrem richtigen Verhalten auch den anderen Gesellschaftsmitgliedern dienen (CW X, 218). Bildung und Erziehung sorgen also, neben den sozialen Institutionen und der öffentlichen Meinung, dafür, dass eine Gesellschaft sich einerseits stabilisiert, sich andererseits aber auch weiterentwickelt. So lobt Mill in seinen Auseinandersetzungen mit der antiken Klassik (s. Kap.II.8) die Spartaner, die er sonst kritisch sieht, für ihre starken und umfassenden pädagogischen Anstrengungen. Erst durch die Kultivierung eines Gefühls für das Gemeinwohl sei

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Sparta zu seiner Stärke gekommen. Was Sparta aber, im Gegensatz zu Athen, gefehlt habe, sei das kreative Moment, das Fortschritt erst möglich mache (Devigne 2018). Das Problem der angemessenen Organisation des öffentlichen Bildungswesens, eine der zentralen Fragen des 19. Jahrhunderts, hatte Mill bereits in den Principles of Political Econ­ omy (s. Kap. III.15) beschäftigt. Hier leitet er aus der Annahme, dass ein ‚civilized government‘ in der Regel einen höheren Grad an Kultivierung aufweise als die Regierten, die Befugnis und die Kompetenz dieser Regierung her, für den notwendigen durchschnittlichen Bildungsgrad in der Bevölkerung zu sorgen. Er hält es für ausgemacht, dass ein gewisser Stand an Kenntnissen und Fertigkeiten generell wünschenswert sei. Hierbei hat er die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten im Blick, die für eine angemessene Bildung und Erziehung der Kinder zu sorgen hätten. Wenn sie dieser Verantwortung nicht gerecht würden, begingen sie sowohl gegenüber den Kindern als auch gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft eine Pflichtverletzung. Die Regierung dürfe eine hinreichende Erziehung und Bildung der Schutzbefohlenen also durchaus erzwingen, müsse dann aber auch dafür sorgen, dass alle dieser nachkommen könnten (CW III, 948 f.) Mit seinem Interesse an bildungspolitischen Fragen greift Mill ein Thema auf, das den politischen und philosophischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gleichermaßen beschäftigt hat. Es ist geradezu ein Signum der liberalen Bewegung, dass sie sich um die Eignung der breiteren Bevölkerung zur politischen Teilhabe sorgte. Gegen eine Erweiterung demokratischer Mitbestimmung ließ sich durch die bürgerlichen Honoratioren das Argument ins Feld führen, dass den meisten doch die „capacité“ oder „Befähigung“ fehle, politische Entscheidungen zu treffen (Kahan 2003, 153–171). Wenn aber die politische Befähigung nicht mehr allein im Privateigentum gründen sollte, war es naheliegend, stattdessen das öffentliche Bildungswesen auszubauen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen verschiedene liberale Denkerinnen und Denker zu dem Schluss, dass die

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Demokratie nur pädagogisch zu zähmen sei. Die Ausweitung der politischen und ökonomischen Rechte ohne eine entsprechende Erziehung und Bildung konnte im Verständnis der Liberalen nur den Charakter verderben und zu gewalttätigen Revolutionen führen. Auch Mill sorgte sich um die negativen charakterlichen Folgen einer weitergehenden Liberalisierung der Gesellschaft (Rosenblatt 2018, 148). Anders als noch Adam Smith schrieb Mill der öffentlichen Bildung für die gemeine Bevölkerung aber nicht mehr allein die Aufgabe zu, der durch die Arbeitsteilung bedingten Abstumpfung entgegenzuwirken und politische Aufstände zu verhindern (Geiss 2019). Erziehung und – vielmehr noch – Bildung haben bei Mill eine dynamisierende Funktion. Sie sollen die Grundlage für gesellschaftliche Experimente und damit sozialen Fortschritt bereitstellen. Mill hat sich, gemeinsam mit seiner Frau Harriet Taylor, außerdem sein Leben lang für die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt (s. Kap. III.16) – im Liberalismus des 19. Jahrhunderts eine absolute Minderheitenposition (Rosenblatt 2018, 151; s. Kap. VI.45). Dennoch ist der restaurative Befähigungsdiskurs bei Mill, wie insgesamt im Liberalismus, ausgesprochen präsent. In den Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14) unterscheidet Mill etwa ein ‚proportionales‘ Wahlsystem, in dem die Wählerinnen und Wähler die bevorzugten Kandidierenden unterschiedlich zu gewichten, von einem ‚pluralen‘ Modell, bei dem die gebildeten Wahlberechtigten mehr Stimmen zu vergeben haben als die ungebildeten (s. Kap. V.41). Auf diese Weise würde das Gleichgewicht von Kompetenz und Partizipation gewahrt bleiben (Miller 2003). Der Elitismus in Mills Überlegungen zur richtigen Regierungsform wird einerseits durch sein Eintreten für politische Teilhabe (s. Kap. V.37) konterkariert, andererseits aber auch durch seinen Einsatz für eine hinreichende öffentliche Bildung. In der Programmschrift On Liberty ist Bildung eines der Anwendungsbeispiele für das „one very simple principle“, demzufolge Herrschaft über einzelne Mitglieder einer „civilized community“ gegen ihren ­Willen nur dann

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a­usgeübt werden dürfe, wenn dessen Handlungen eine Gefährdung Dritter darstellten. Sein eigenes Wohl stelle hingegen keinen Grund der staatlichen Intervention dar (CW XVIII, 223). Auch hier betont Mill wieder, dass seine Überlegungen allein für diejenigen Gesellschaften gelten, die er als „civilized“ bezeichnet. Explizit kommen die in On Liberty diskutierten Freiheiten ausschließlich diesen zu. Für „barbarians“ sei hingegen die Despotie durchaus eine legitime Regierungsform (CW XVIII, 224 f.; s. Kap. IV.22, V.31). Überlegungen zu Bildungsprozessen durchziehen das gesamte Buch On Liberty. So kommt etwa der freien Meinungsäußerung eine bildende Funktion zu, da sie dazu führe, dass alle Beteiligten ihre eigenen Auffassungen ständig neu validieren müssten (CW XVIII, 224 f.; s. Kap. V.33). Erst die Denkfreiheit erlaube es, dass „great thinkers“ ihr volles Potenzial ausschöpfen könnten und jede gewöhnliche Person zumindest den mentalen Status erreiche, zu dem sie grundsätzlich fähig sei (CW XVIII, 243 f.). Mill geht davon aus, dass sich der einmal erreichte Stand an nützlichen Wahrheiten in einer Gesellschaft in Form von nicht hinterfragten Doktrinen verstetige, die dann der nächsten Generation bereits zur Gewohnheit würden (CW XVIII, 250). Im abschließenden Teil wendet Mill sich nun direkt der Frage zu, welche Funktion der Staat in der Erziehung haben solle. Hier bezeichnet er es als eine „moral crime“, Kindern den notwendigen Unterricht vorzuenthalten. Daraus folgt für Mill aber nicht zwingend, dass der Staat auch als Bildungsanbieter auftreten müsse. Vielmehr sieht er die Gefahr einer uniformen Staatserziehung, die dem liberalen Prinzip entgegenlaufe. Die „diversity of education“ müsse gewahrt bleiben (CW XVIII, 302). Mill plädiert also nicht für ein staatliches Bildungsmonopol, sondern für eine staatliche Aufsicht und Kontrolle, also eine Durchsetzung der Unterrichtspflicht. Der Staat soll nur ergänzend tätig werden, wo eine hinreichende Beschulung ansonsten nicht gewährleistet werden könne. Zur Durchsetzung dieses Prinzips sieht Mill öffentliche Prüfungen als das zentrale

M. Geiss

I­ nstrument an, die aber allein „facts and positive science“ zum Inhalt haben dürften (CW XVIII, 303). In der Verantwortung sieht er also die Eltern, die die Verpflichtung hätten, nicht nur für Ernährung und Unterkunft der Kinder zu sorgen, sondern auch eine hinreichende Unterrichtung gewährleisten müssten (CW XVIII, 304). An On Liberty lässt sich gut nachzeichnen, wie sehr Mills Vertrauen in den gesellschaftlichen Fortschritt und kollektive Lernprozesse von seinem Glauben an die Möglichkeiten der individuellen Selbstoptimierung getragen war (s. Kap. V.30). Als Motto ist dem Buch ein Satz Wilhelm von Humboldts aus den Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1851) vorangestellt, in der dieser in einer „öffentlichen Staatserziehung“ eine Bedrohung der individuellen Vervollkommnung sieht (Humboldt 1960 [1851]; s. Kap. II.5). Mill glaubte über die gesamte Zeit seines Schaffens an die Perfektibilität des Menschen. Gleichzeitig nahm er an, dass es unterschiedliche Grade der Entwicklung einer Zivilisation gebe, von barbarischen Despotien bis hin zu zivilisierten liberalen Gesellschaften mit erweiterten politischen Partizipationsmöglichkeiten (s. Kap. V.37). Sein Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und den gesellschaftlichen Fortschritt (s. Kap. V.26) bedeutete auch, dass er anderen zeitgleich existierenden Gesellschaften und einzelnen gesellschaftlichen Gruppen die Kompetenz zur Teilhabe absprach. Mill hat den Kolonialismus und das britische Imperium zeitlebens verteidigt. Dies galt nicht zuletzt auch für den sogenannten Siedlerkolonialismus, den er als Versuch verstand, neue zivilisierte Gemeinwesen zu schaffen (s. Kap. V.31). Das liberale Projekt der individuellen Bildung und der öffentlichen Bildung hat eine dunkle Seite, ohne dass es nicht zu verstehen ist. Der Befähigungsdiskurs des 19. Jahrhunderts, der in der zeitgenössischen Kritik am unwissenden Wahlvolk eine Entsprechung hat (Brennan 2017), zeigt, dass die liberale Idee der Bildung stets damit verbunden war,

24 Bildung/Erziehung

a­nderen das Recht zur politischen Partizipation abzusprechen. Die Forderung des Ausbaus eines öffentlichen Bildungswesens ist nicht zu verstehen, ohne die Angst vor einer gleichberechtigten Teilhabe des Pöbels in Rechnung zu stellen. Die gemeine Bevölkerung sollte durch eine hinreichende Elementarbildung nicht nur befähigt werden, an den politischen Geschäften teilzuhaben. Es ging immer auch darum, sie zu disziplinieren und zu integrieren. Welche politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung einem fortlaufend ausgebauten öffentlichen Bildungswesen dann noch zukommen sollte, konnten sich die Liberalen des 19. Jahrhunderts wohl so nicht vorstellen.

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Eigentum Michael Schefczyk

Aus Sicht von Libertären des 20. Jahrhunderts ist Mill durch seine Eigentumstheorie zu einem gefährlichen Wegbereiter des Sozialismus geworden. „Mill“, so schreibt Ludwig von Mises, „is the great advocate of socialism. All the arguments that could be advanced in favour of socialism are elaborated by him with loving care. In comparison with Mill all other socialist writers – even Marx, Engels, and Lassalle – are scarcely of any importance“ (Ludwig von Mises, zit. nach Miller 2003, 213–214; s. Kap. VI.46). Richtig ist an dieser Einschätzung, dass nach Mill jegliche Eigentumsordnung an Maßstäben der Verteilungsgerechtigkeit zu messen ist. Insofern kann man ihn tatsächlich als Vordenker moderner Gerechtigkeitstheorien sehen. In seinen Lectures on the History of Political Philosophy erklärt Rawls, Mill vertrete im Kern eine Position, die seinen beiden Gerechtigkeitsprinzipien entspreche (Rawls 2008, 388–389). Wenn man – wie viele Libertäre – Rawls als Sozialisten einstuft, so ist von Mises Einschätzung folglich nachvollziehbar. Irreführend ist jedoch, Mill als ‚Advokaten‘ des Sozialismus zu bezeichnen, weil er es als eine offene Frage betrachtete, ob eine sozialistische oder eine auf Privateigen-

M. Schefczyk ()  Professor für Praktische Philosophie, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

tum an Produktionsmitteln basierende Markwirtschaft zu bevorzugen wäre. Irreführend ist auch, dass von Mises Mills entschiedene Kritik an den gefährlichen Tendenzen des revolutionären Sozialismus insbesondere in den 1879 posthum erschienenen Fragment Chapters on Socialism (s. Kap. IV.18) unterschlägt (CW V, 737, 749; AW III/2, 691, 707–708). Mill betrachtet Eigentum einerseits als ein historisch wandelbares Rechtskonzept, das zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche dingliche und vertragliche Befugnisse umfasst (CW V, 753; AW III/2, 714–715); andererseits fragt er nach den moralischen Rechtfertigungsgründen von Eigentumsordnungen, insbesondere nach der Rechtfertigung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die ausführlichste Beschäftigung mit dem Thema Eigentum findet sich in den beiden ersten Kapiteln von Buch II der Principles of Political Economy (s. Kap. III.15). Dort (in Kap. 1) stellt Mill fest: „The laws of property have never yet conformed to the principles on which the justification of private property rests“ (CW II, 207; AW III/2, 80). Als relevant für diese Beurteilung benennt er zunächst (a) das Prinzip der Entsprechung zwischen Vergütung und Anstrengung („equitable principle, of proportion between remuneration and exertion“, CW II, 208; AW III/2, 80) und (b) an späterer Stelle das Recht der Produzenten auf das von ihnen Produzierte („the right of

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_25

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producers to what they themselves have produced“, CW II, 215; AW III/2, 89). Eigentum versteht Mill hier als „alleiniges Verfügungsrecht“ („right to the exclusive disposal“, CW II, 215; AW III/2, 89) über eine Sache. Neben der eigenen Produktion können Eigentumsrechte auch durch Schenkung oder faire Vereinbarungen („fair agreement“, CW II, 215; AW III/2, 89) erworben werden. Vom Produzentenrecht schreibt Mill, es sei die Grundlage des Ganzen („the foundation of the whole“, CW II, 215; AW III/2, 89). Produzenten haben Verfügungsrechte über die von ihnen hergestellten Güter, wie den Konsum, die Weiterverarbeitung, das Veräußern einer Sache. Dem Veräußerungsrecht der Produzenten korrespondiert die Möglichkeit des vertraglichen Eigentumserwerbs durch Kauf oder Schenkung. Eben weil es zu den moralischen Verfügungsrechten von Produzenten gehört, die von ihnen hergestellten Güter zu veräußern, können auch Nichtproduzenten Eigentum an besagten Gütern erlangen. Typischerweise haben Kapitalisten die Produktionsmittel nicht selbst produziert, sondern durch Transfer erworben. Da Produktion jedoch keine notwendige Bedingung für Eigentum ist, erklärt Mill es für kurzschlüssig, gegen die Institution des Eigentums in seiner damaligen Form einzuwenden, „that it recognises rights of property in individuals over things which they have not produced“ (CW II, 215; AW III/2, 89). Bei arbeitsteiliger Produktion in einer Fabrik treten die Arbeiterinnen und Arbeiter als Mitproduzenten ihre andernfalls entstehenden Eigentumsansprüche gegen Lohn an die Kapitalgeber ab. Das oben genannte Prinzip der Entsprechung von Vergütung und Anstrengung gibt einen – wenn auch unscharfen – Maßstab für relative Höhe gerechter Löhne. Eine ähnliche Position hatte bereits der jugendliche Mill in einem Redemanuskript aus dem Jahre 1825 vertreten (CW XXVI, 308– 313). Hintergrund war eine Debatte zwischen den Philosophical Radicals und den Anhängern des Sozialisten Robert Owen bei einer Veranstaltung der „Cooperative Society“ (Medearis 2005, 138; Robson 1988, xxi). Die mehrheitlich jungen Radikalen (Charles Austin,

M. Schefczyk

William Ellis, John Arthur Roebuck, Mill) übernahmen die Rolle der politischen Ökonomen, die von den Oweniten als unversöhnliche ideologische Gegner betrachtet wurden; gleichwohl beschreibt Mill in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) den Disput zwischen den beiden hochkarätig besetzten Gruppen als „perfectly friendly“: „We who represented political economy had the same objects in view as they had, and took pains to shew it“ (CW I, 129; AW II, 106). Die Oweniten vertraten die Auffassung, dass Kapitalisten keinen gerechten Anspruch auf Rendite hätten, da jegliches Kapital akkumulierte Arbeit darstelle und daher moralisch betrachtet den Arbeitern gehöre (CW XXVI, 309). Mill stimmte den Oweniten zu, dass Produktionsmittel selbst durch Einsatz von Arbeit produziert werden müssen. Anders als die Oweniten ist Mill jedoch überzeugt, dass die Entstehung von Kapital (und die von Kapitalisten) ursprünglich kein Unrecht darstellen muss. Produktionsmittel setzen voraus, dass ein Teil der Produktion in der Vorperiode nicht unmittelbar konsumiert wurde. Wenn eine Einzelperson oder eine häusliche Produktionsgemeinschaft das Recht hat, die eigene Produktion zu konsumieren, dann ist es billig, anzunehmen, dass sie auch das Recht hat, über den gesparten Produktionsanteil in der Folgeperiode nach eigenem Belieben zu verfügen. Mit anderen Worten, die Produktionsgemeinschaft darf den aufgesparten Ertrag als Produktionsmittel einsetzen, beispielsweise um anderen Personen Lohnarbeit anzubieten, die einträglicher ist als selbstständige Arbeit. Da – nach Mills Annahme – das Lohnarbeitsverhältnis zum wechselseitigen Vorteil der beteiligten Parteien ist und freiwillig eingegangen wird, ist es grundsätzlich möglich, dass große Kapitalvermögen in moralisch unanstößiger Weise aufgehäuft werden. Das Redemanuskript des jugendlichen Mills wirft offensichtlich eine ganze Reihe von Fragen auf, die ihn sein ganzes Leben lang weiter beschäftigt haben. Es soll zeigen, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und die resultierende ungleiche Vermögensverteilung legitim ist, sofern sie auf das Aufsparen der eigenen Produktion zurückgeht. Dies, wie gesagt, nicht, weil

25 Eigentum

Verzicht per se tugendhaft wäre, sondern weil dasselbe Recht, das den Konsum einer Sache erlaubt, auch das Aufsparen selbiger Sache statthaft macht. Aber kann dieser Gedanke die kapitalistische Privateigentumsordnung moderner Gesellschaften rechtfertigen, die sich keinem normativen Prinzip, sondern kontingenten historischen Prozessen verdankt? „The social arrangement of modern Europe“, schreibt Mill 1852 in der dritten Auflage der Principles of Political Economy, „commenced from a distribution of property which was the result, not of just partition, or acquisition by industry, but of conquest and violence: and notwithstanding what industry has been doing for many centuries to modify the work of force, the system still retains many and large traces of its origin“ (CW II, 207; AW III/2, 79–80). Mills kritischerer Ton in Fragen des Privateigentums an Produktionsmitteln in den Arbeiten nach 1848 hing nicht nur mit der in der Autobiography erwähnten vertieften Beschäftigung mit sozialistischen Autoren (CW I, 239; AW II, 175) zusammen oder dem von konservativer Seite behaupteten und beklagten Einfluss, den die Werturteile und Weltanschauung seiner Frau Harriet auf ihn hatten (Miller 2003, 213) – er ergibt sich auch aus einer klareren Differenzierung zwischen der Ebene idealer Theorie einerseits und der Beurteilung der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits. Zu Zeiten der Abfassung und Überarbeitung der Principles lässt Mill keinen Zweifel darüber aufkommen, dass ein Argument für die moralische Erlaubtheit des Privateigentums an Produktionsmitteln unter idealen Bedingungen nicht mehr ist als eben dies. Es zeigt weder, dass die tatsächlich bestehende Privateigentumsordnung den formulierten normativen Grundsätzen entspricht, noch reicht es aus, um in idealer Betrachtung die Überlegenheit des Privateigentums an Produktionsmitteln gegenüber dem Kollektiveigentum plausibel zu machen. Entsprechend stellt Mill in den Principles zwei Dinge klar: 1) Wäre die Wahl zu treffen zwischen der aktuell bestehenden Privateigentumsordnung (1852) und dem Kommunismus,

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so wäre seines Erachtens letzterer vorzuziehen. Im Verhältnis zu den Leiden und Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen Gesellschaftszustands „all the difficulties, great or small, of Communism would be but as dust in the balance“ (CW II, 207; AW III/2, 79). 2) Um die Vorzugswürdigkeit einer Eigentumsordnung im Lichte des Nutzenprinzip zu beurteilen, ist jedoch ein fairer Vergleich anzustellen. Man muss „compare Communism at its best, with the régime of individual property, not as it is, but as it might be made“ (CW II, 207; AW III/2, 79). Mit ‚der besten Gestalt‘ meint Mill einerseits, dass die normativen Prinzipien hinreichend spezifiziert und in ihrer institutionellen Ausgestaltung expliziert werden. Andererseits sollen die derart beschriebenen Ordnungsentwürfe aber realisierbar sein in dem Sinne, dass ihre Verwirklichung mit dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis über Gesetzmäßigkeiten und Tatsachen vereinbar wäre. Zur Debatte stehen somit ideale, aber realisierbare Privateigentumsordnungen und ideale, aber realisierbare Kollektiveigentumsordnungen. Dem von ihm selbst formulierten Prinzip des fairen Vergleichs werden Mills Ausführungen jedoch nur in sehr unvollkommener Weise gerecht. Seine Darstellung der zur Wahl stehenden Eigentumsordnungen ist äußerst lückenhaft und die wertenden Vergleiche werden systematisch keineswegs befriedigend durchgeführt. Gelindert werden diese Mängel durch die Tatsache, dass Mill sich in vielen Hinsichten tentativ äußert und darauf verweist, dass relevante Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten nicht hinreichend bekannt sind. Zu seinen Gunsten könnte man daher sagen, dass es ihm darauf ankam, grob zu skizzieren, wie ein fairer Vergleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus auszusehen hätte – und nicht darum, einen solchen Vergleich selbst systematisch durchzuführen. Ideale sozialistische Eigentumsordnungen (SEO) sehen das gemeinschaftliche Eigentum aller Produktionsmittel vor. Die Gewerbetätigkeit geschieht auf gemeinschaftliche Rechnung unter Leitung eines demokratisch gewählten Magistrats. Die Verteilung des Produzierten ist ein öffentlicher Akt, wobei neben vollständiger Gleichheit (Kommunismus) auch eine Zuteilung

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entsprechend Bedarf oder Verdienst möglich ist (CW II, 202; AW III/2, 73–74). Als Vertreter des Kommunismus nennt Mill Owen sowie Louis Blanc und Étienne Cabet, aber nicht Marx, auf den er in seinem gesamten Werk an keiner Stelle namentlich Bezug nimmt. (Er scheint ihn allerdings als Proponenten des von ihm abgelehnten revolutionären Kommunismus des europäischen Kontinents wahrgenommen zu haben, vgl. Feuer 1949, 297–298). Als die bedeutendste Variante des nicht-kommunistischen Sozialismus benennt Mill den Fourierismus (CW V, 747; AW III/2, 704). In Fourieristischen Gemeinschaften können die Mitglieder frei wählen, welcher Beschäftigung sie mit anderen nachgehen wollen. Die Entlohnung der jeweiligen Beschäftigung wird je nach Zulauf reguliert. Ist der Zulauf zu groß, wird der relative Lohn gesenkt und vice versa. Die Gruppenmitglieder sollen auch die Möglichkeit haben, den Talentierten einen höheren Anteil am Sozialprodukt zuzusprechen (CW V, 747; AW III/2, 704). Mill attestiert Fourier, plausible Vorschläge zur Lösung des Problems der Arbeitsmotivation entwickelt zu haben (CW V, 747; AW III/2, 704). Neben dem Verteilungsprinzip zieht Mill auch die Größe der Produktionsgemeinschaft als Unterscheidungsmerkmal zwischen unterschiedlichen Varianten des Sozialismus heran. Er differenziert zwischen revolutionären Ansätzen, welche „the management of the whole productive resources of the country by one central authority“ (CW V, 737; AW III/2, 690–691) anstreben auf der einen Seite, und solchen, die gemeinschaftliches Eigentum der Produktionsmittel auf Ebene von Dorf- und Stadtgemeinschaften vorsehen. Den Vorteil eines Sozialismus auf Gemeindeebene sieht Mill vor allem darin, dass er die Erprobung unterschiedlicher Modelle erlaubt, die – sofern erfolgreich – schrittweise eingeführt werden könnten. Die Einführung des Zentralverwaltungssozialismus würde dagegen „den Kreislauf des sozialen Lebens“ unterbrechen, ohne die neue Organisationsweise wirklich erprobt zu haben (CW V, 737; AW III/2, 690–691). Historischer Ausgangspunkt einer idealen Privateigentumsordnung (PEO) wäre nach Mill

M. Schefczyk

ein Zustand, in dem die äußeren Produktionsmittel (Land, Werkzeuge…) gleich verteilt wären und „[e]very full grown man or woman, we must suppose, would be seucred in the unfettered use and disposal of his or her bodily and mental faculties“ (CW II, 201; AW III/2, 72). Ungleichheiten der äußeren Ausstattung wären in der historischen Ausgangsposition der PEO nur statthaft, um natürliche körperliche Nachteile auszugleichen („Compensation might be made for the injuries of nature, and the balance redressed by assigning to the less robust members of the community advantages in the distribution, sufficient to put them on a par with the rest“, CW II, 201; AW III/2, 72). Ist die ursprüngliche Verteilung jedoch durchgeführt, sollen keine weiteren Eingriffe mehr vorgenommen werden. Die sich ergebende Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands resultiert aus den eigenen Anstrengungen und den gewöhnlichen Zufällen („ordinary chances“) des Lebens (CW II, 201; AW III/2, 72). Der Grundgedanke der PEO entspricht dem des ungleich differenzierteren Auktionsmodell von Ronald Dworkin. Dworkin illustriert, wie Mill, die Ausgangssituation einer PEO mithilfe der Vorstellung, dass eine Gruppe von Personen unbewohntes Land in Besitz nimmt (Dworkin 2000, 66) und die vorhandenen Ressourcen gleich verteilt. Dworkin und Mill stimmen in der Auffassung überein, dass Ungleichheiten, die sich aus ungleichen Präferenzen von Personen ergeben, keine Ungerechtigkeiten darstellen (Dworkin 2000, 73). Folgt man dem obigen Gedankengang, scheint Mill allerdings bereit zu sein, Ungleichheiten, die aus ‚gewöhnlichen Zufällen‘ und verschiedenen Begabungen von Individuen resultieren, hinzunehmen, ein Zugeständnis, das mit einer voll entwickelten zufallsegalitaristischen Position unvereinbar ist. Seine Aussage zu den ‚gewöhnlichen Risiken‘ ist jedoch vermutlich weniger durch normative Überzeugungen zu erklären als durch einen Mangel an institutioneller Phantasie. Er hätte sicher keine Einwände gegen die heutigen Sozialversicherungen gehabt, die auf dem Solidarprinzip aufbauen und unverdiente Nachteile (‚brute bad luck‘) ausgleichen. Für diese Annahme spricht, dass Mill an einer Stelle mit Bezug auf man-

25 Eigentum

gelnde natürliche Gaben schreibt, dass sie keine wirtschaftlichen Nachteile nach sich ziehen sollten: „The proportioning of remuneration to work done, is really just, only in so far as the more or less of the work is a matter of choice: when it depends on natural differences of strength or capacity, this principle of remuneration is in itself an injustice: it is giving to those who have; assigning most to those who are already most favoured by nature“ (CW II, 210; AW III/2, 83). Wenn Mill es hier als Ungerechtigkeit erklärt, dass natürliche Unterschiede zwischen Individuen zu sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten führen, so darf man davon ausgehen, dass er keine Bedenken gegen Institutionen gehabt hätte, deren Ziel darin besteht, die sozialen und wirtschaftlichen Effekte unverdienter Nachteile auszugleichen, die aus ‚gewöhnlichen Risiken‘ resultieren. Insofern ist es keineswegs abwegig, ihm – mit gewissen Einschränkungen – eine zufallsegalitaristische Position zuzuschreiben (vgl. jedoch Turner 2019). Von Bedeutung ist die zitierte Stelle auch noch in anderer Hinsicht: Mill definiert Privateigentum, wie oben angesprochen, „vom sozialphilosophischen Standpunkt“ (CW II, 201; AW III/2, 71) aus als „the right to the exclusive disposal of what he or she have produced by their own exertions, or received either by gift or by fair agreement, without force or fraud, from those who produced it. The foundation of the whole is, the right of producers to what they themselves have produced“ (CW II, 215; AW III/2, 89). Im Kern beruht die PEO auf dem Recht des Produzenten auf das Produkt (Medearis 2005, 139). In arbeitsteiliger Produktion auf Grundlage von Lohnarbeitsverträgen bedeutet dies dem Prinzip der Entsprechung zwischen Vergütung und Anstrengung folgend, dass Personen ihrem produktiven Anteil gemäß entgolten werden sollten, wie auch immer dieser produktive Anteil genau zu bestimmen ist. Soweit aber die produktiven Anteile von ungleich verteilten natürlichen Voraussetzungen abhängen, so scheint Mill auf die Auffassung festgelegt zu sein, dass PEO unvermeidlicher- und ungerechterweise die Begünstigungen und Benachteiligungen der Natur repliziert. Und genau

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dies stellt Mill in besagter Passage ausdrücklich fest. Auch eine ideale Privateigentumsordnung wäre ungerecht, wenn sie denen am meisten zuteilt, die ohnehin von der Natur begünstigt wären (CW II, 210; AW III/2, 83) Mill setzt fort: „Considered, however, as a compromise with the selfish type of character formed by the present standard of morality, and fostered by the existing social institutions, it is highly expedient; and until education shall have been entirely regenerated, is far more likely to prove immediately successful, than an attempt at a higher ideal“ (CW II, 210; AW III/2, 83). Das Prinzip der Entsprechung zwischen Vergütung und Anstrengung schützt das hochrangige Interesse eines in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschenden beschränkt altruistischen Charaktertypus, den Mill jedoch nicht als naturgegeben annimmt. Eine ideal gerechte Eigentumsordnung, die besagtem Prinzip nicht folgte, wäre denk-, aber unter den gegebenen Bedingungen menschlicher Motivation nicht realisierbar. Ob und inwieweit sich grundlegende und derzeit vorherrschende Dispositionen von Menschen weiterentwickeln können, erklärt Mill in den Chapters on Socialism für die große offene Frage, von der die Möglichkeit des Kommunismus abhängt (CW V, 746; AW III/2, 703); wir wissen ihm zufolge nicht, wie sich eine kommunistische Eigentumsordnung auf den menschlichen Charakter auswirken würde. Neben der Frage, wie viel Altruismus Menschen unter idealen Bedingungen entwickeln können, hält Mill für entscheidend, „which of the two systems is consistent with the greatest amount of human liberty and spontaneity. After the means of subsistence are assured, the next in strength of the personal wants of human beings is liberty“ (CW II, 208; AW III/2, 81). Folglich ist neben dem Gerechtigkeitsprinzip (s. Kap. V.28) zur Beurteilung von Eigentumsordnungen das Freiheitsprinzips (s. Kap. V.27) heranzuziehen, das Mill bereits in den Principles of Political Econ­ omy im Kern formuliert hat (CW III, 938; AW III/2, 425). Anders als Libertäre geht Mill nicht davon aus, dass die Inkompatibilität von Sozialismus

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und Freiheitsprinzip a priori feststehe. Eine SEO sei sehr wohl damit vereinbar, dass die Mitglieder über ihren Anteil am Sozialprodukt dem eigenen Urteil entsprechend verfügen und zudem auch entscheiden könnten, welche Tätigkeit sie ausüben und an welchem Ort sie leben wollten (CW II, 209). Durch welche institutionellen Vorkehrungen ideale sozialistische Ordnungen Freiheit der Berufswahl, Konsumfreiheit und Freizügigkeit garantieren, erläutert Mill nicht; er bringt die Meinung zum Ausdruck, dass „[t] he restraints of Communism would be freedom in comparison with the present condition of the majority of the human race“ (CW II, 209; AW III/2, 82). Aber diese Bemerkung wird weder dem von ihm selbst formulierten Prinzip des fairen Vergleichs gerecht, noch hilft sie bei der Klärung der Frage, inwiefern SEO (und PEO) individuelle Freiheiten gewähren beziehungsweise einschränken. Vergleichsweise detailliert sind demgegenüber Mills Überlegungen zum intergenerationellen Vermögenstransfer in einer PEO, die zugleich dazu dienen, den „keineswegs verdienten Vorteil“ („unearned advantage“, CW II, 216; AW III/2, 90) der Kapitalbesitzer zu beschneiden. Das Recht, etwas zu vererben, gehört Mill zufolge zur Idee des Privateigentums, nicht jedoch das Recht, zu erben (CW II, 218; AW III/, 97). Der Erbanspruch von (ehelichen und unehelichen) Kindern beruht auf der Tatsache, dass sie von ihren Eltern in die Welt gesetzt wurden. Er übersteigt aber nicht das zur Versorgung erforderliche Maß – und dies auch nur, solange sie noch nicht volljährig sind (CW

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II, 224; AW III/2, 99). Haben die Eltern keine testamentarische Verfügung hinterlassen, so sollten etwaige Überschüsse für die allgemeinen Zwecke der Gemeinschaft angeeignet werden (CW II, 223; AW III/2, 97). Mill schlägt darüber hinaus vor, dass ein Höchstmaß dessen bestimmt werden sollte, was eine Person als Erbschaft erwerben dürfe – ein Vorschlag, der eine breite Streuung von Vermögen in der Gesellschaft fördern würde (CW II, 224–225; AW III/2, 99– 100). Land ist das „Erbe der Menschheit“ („original inheritance of the whole species“, CW II, 230; AW III/2, 106) und entsprechend steht es in einer PEO dem Staat zu, „to deal with landed property as the general interests of the community may require“ (CW II, 231; AW III/2, 107)].

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Fortschritt/Entwicklung

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Christoph Henning

Im vielschichtigen Denken von Mill bildet das „progressive principle“ einen Glutkern (CW XVIII, 272; vgl. Brink 2013): Die Überzeugung, dass Menschen verbesserungsfähig sind, sich tatsächlich verbessern und verbessern sollen, treibt viele seiner Schriften an. Da sie in verschiedenen Versionen auftritt, gilt es zu differenzieren. Zunächst ist zu unterscheiden, in welcher Sphäre von Fortschritten die Rede ist – bei Mill kommen kognitive, moralische, ökonomische und politische Hinsichten zum Zuge. Daneben ist die Redeweise vielschichtig: Ein Fortschritt wird einerseits konstatiert, andererseits gefordert bzw. sein Fehlen beklagt. Und schließlich kann es sich auf der Seite des Subjekts der Verbesserung um Individuen wie um Gesellschaften oder gar um die ganze Menschheit handeln („human improvement in general“, CW XXVIII, 119, insbesondere „progressiveness of the human mind“, CW XXVI, 428). Universalgeschichten der gesamten menschlichen Entwicklung zum Besseren hat es seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegeben – bei Turgot, Adam Ferguson, John Millar oder Condorcet, den Mill besonders verehrte. Auch wenn Mill

C. Henning (*)  Professor für Philosophie und Humanismus, University of Humanistic Studies Utrecht, Utrecht, Niederlande E-Mail: [email protected]

kein naiver Aufklärungsoptimist ist, gehört er in diese Reihe von Autoren über den Fortschritt der Menschheit, die sich über Stadien hinzieht (Mill nennt sie „savage“, „nomad“, „agrarian“ und „modern industrial“, CW II, 11 f., vgl. Meek 1976; Meramveliotakis/Manioudis 2021). Ansatzpunkt einer solchen ‚Zivilisierung‘ (s. Kap. IV.22) ist zunächst das menschliche Individuum, bei dessen Bildung (s. Kap. V.24) eine solche Entwicklung daher ansetzen muss, er kann sich aber auch universalgeschichtlich auf ganze Kulturen beziehen (das Englische „development“ ist eine Übersetzung der Humboldt’schen „Ausbildung“, s. Kap. II.5, etwa im Motto zu On Liberty, CW XVIII, 215, s. Kap. III.13, aber bezieht sich bis heute zugleich auch auf ganze Regionen). Zuweilen fusioniert Mill diese beiden Dimensionen direkt („parallel to a political revolution […] the reforming self must seek to reconcile these differences on some higher level“, kommentiert Eisenach 1989, 255 f.). In seiner Logic (s. Kap. III.17) bekennt sich Mill zu einem methodologischen wie ontologischen Individualismus („Human beings in society have no properties but those which are derived from, and may be resolved into, the laws of the nature of individual man“, CW VIII, 879), und On Liberty ist geradezu ein Manifest des qualitativen Individualismus (Simmel 1995 [1901]). Allerdings sind Individuen keine Atome, sondern angewiesen auf Kooperation und das Wohl ihrer Gemeinschaften. Nationen

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bzw. Staaten sind daher die Einheiten, an denen Versuche der Veränderung eines Entwicklungsstandes durch verschiedene Erziehungspolitiken am sinnvollsten ansetzen (Malachuk 2005, 47 ff.); selbst wenn die Kunst zuweilen wie im Daoismus darin besteht, möglichst wenig zu tun (Nicht-Eingriffsrechte zu gewähren, die Macht der Gewohnheit oder von Klassenmacht zu brechen etc.). Mill trennt unterschiedliche „national characters“ (CW X, 99; CW XVIII, 94) oder Kulturen und stimmt seine politischen Empfehlungen auf deren Eigenheiten und ihren wahrgenommenen Entwicklungsstand ab („very different institutions are needed“, CW X, 105). Je weniger fortgeschritten eine Kultur sei, desto mehr Zwang brauche sie („Despotism is a legitimate mode of government in dealing with barbarians, provided the end be their improvement“, CW XVIII, 224). Damit hat er historische Tiefenschärfe und einen Konservatismus in den utilitaristischen Universalismus eingebracht, inspiriert u. a.von Coleridge (s. Kap. II.3), zugleich aber auch eine zeittypische Missdeutung nicht-westlicher Kulturen als „primitiv“ (Campbell 2010). Das ist problematisch, weil es aus der Perspektive einer vermeintlichen westlichen Überlegenheit artikuliert wird: China etwa sei seit Jahrhunderten kulturell stehengeblieben, wenn auch auf hohem Niveau (CW XVIII, 273); andere, „barbarische“ Nationen befänden sich gar noch im geistigen Tierreich („very little above the highest of the beasts“, CW XIX, 394). So rechtfertigt das Fortschrittsprinzip bei Mill einerseits Forderungen nach weitgehender kultureller Freiheit, sobald ein gewisser Entwicklungsstand erreicht scheint; andererseits einen Despotismus und Kolonialismus (s. Kap. V.31), wenn dieser fehle, wie nach Meinung von Vater und Sohn Mill etwa in Indien: „[A] people in a state of savage independence […] is practically incapable of making any progress in civilization until it has learnt to obey“ (CW XIX, 394; vgl. dazu Levin 2004, 38 ff.; Pitts 2005, 123 ff.). Bei der Betrachtung dieser unterschiedlichen Gegenstände und Dimensionen von Entwicklung ist zu beginnen mit dem Grundlegendsten, der Anthropologie. Als Utilitarist

C. Henning

setzt Mill einen Naturalismus voraus. Dieser ist allerdings durch die Rezeption u. a. von Aristoteles und der Romantik geläutert (Habibi 2001; Devinge 2006; Brink 2013, 60 ff.; Höntzsch 2010, 79 f.). Aristotelisch ist die Idee der Perfektibilität, derzufolge der Mensch als Naturwesen sich entwickeln kann und muss (er ist definiert als „progressive being“, CW XVIII, 224), romantisch ist das Verständnis dieser Entwicklung als individuelle („Individuality is the same thing with development“, CW XVIII, 267; vgl. Henning 2015, 368 ff.). Philosophiegeschichtlich wurde Natur meist als allgemein, notwendig und gesetzesförmig angesehen, eigensinnige Individualität (s. Kap. V.30) daher als gegen- oder übernatürlich. Daher ist die Vorstellung einer individuellen Natur oder inneren ‚Kraft‘ der Menschen ungewöhnlich. Ausgeprägt war sie bei Herder und Wilhelm von Humboldt (Borsche 1990), sie findet sich über dessen Rezeption auch bei Mill (s. Kap. II.5): „Human nature is not a machine to be built after a model, and set to do exactly the work prescribed for it, but a tree, which requires to grow and develop itself on all sides, according to the tendency of the inward forces which make it a living thing“ (CW XVIII, 263; vgl. die erstaunliche Parallele in CW XXI, 93). Aus dieser Doppelbestimmung menschlicher Entwicklung als natürlich, aber letztlich individuell, ergibt sich eine Spannung. Entwicklung zum Besseren ist nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert. Besser meint hier keinen quantitativ-technisch reduzierten Begriff vom menschlich Guten, sondern einen qualitativ-eudaimonistischen („it is one thing to be rich, another thing to be enlightened, wise, brave or humane“, CW III, 2; s. Kap. V.35). Mill begründet die Vorziehenswürdigkeit der individuellen Entwicklung utilitaristisch damit, dass eine intellektuelle, moralische, aber auch sentimentale Kultivierung den Individuen „höhere Freuden“ ermögliche (CW X, 214, 216; Brink 2013, 46 ff.; s. Kap. V.29) und sie zugleich wertvoller für andere mache (CW XVIII, 266; „to keep the others up to a certain standard of excellence“, CW XVIII, 302). Doch gibt es keinen Automatismus: Obzwar natürlich, ist menschlicher Fortschritt

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nicht naturwüchsig, er ergibt sich nicht jederzeit von allein (Mill nennt ihn sogar „one of the rarest phenomena in history“, CW XXI, 93); das ähnelt dem Paradox der negativen Erziehung von Rousseau, das gleichwohl einen Erzieher mit starken Kompetenzen voraussetzt. Da der in diesem Sinne ‚künstliche‘ Fortschritt auch nicht für jedes Individuum oder jede Nation dasselbe meint, wird es schwierig (und ideologieanfällig), hier noch Vergleiche anstellen zu wollen. Die bloße Natürlichkeit stellt für Mill noch keinen Wert dar: Auch die Natur solle verbessert werden – eine ökologisch fragwürdige Idee, die zudem nachhaltigere Kulturen des Umgangs mit Natur als zurückgeblieben verkennt („the duty of man is the same in respect to his own nature as in respect to the nature of all other things, namely not to follow but to amend it“, CW X, 397). Menschliche Entwicklung muss also gewollt, erarbeitet, ja produziert und zuweilen von außen angestoßen werden. Doch eine zu massive Förderung kann diese Entwicklung gerade wegen ihrer Angewiesenheit auf Individualität (s. Kap. V.30) wieder verderben – das naheliegendste Beispiel dafür ist der Bruch in Mills eigener Biographie (s. Kap. I.1; Kap. III.11). Fehlende Entwicklung kann somit auf zu viel, aber auch auf zu wenig Anstoß von außen zurückgeführt werden. Das ist delikat. Ein bedeutender Teil von Mills sozialphilosophischen Schriften befasst sich daher mit der diagnostischen Frage, wann und warum diese natürliche Kraft nicht zum Zuge kommt, um die Hindernisse dann nach Möglichkeit durch Reformen aus dem Weg räumen zu können. Auch eine falsche Naturalisierung des Status quo kann ein solches Hindernis darstellen, wie Mill anhand der Situation der Schwarzen, der Frauen oder der Arbeiter ausführt. Natur ist stets Möglichkeit, daher eignet sie sich nicht als Rechtfertigung für Unterdrückung oder Stillstand, wohl aber als Grundlage einer Kritik an einer zu einengenden Kultur. Mill strebt also einerseits ein besseres Denken (daher die Arbeit an der Logic: „[T]he mental regeneration of Europe must precede its social regeneration“, CW, XIII, 563 f.), andererseits eine aktive Politik an („all that we have lost we may regain, and bring

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to a perfection hitherto unknown […] by establishing counter-tendencies“, 1836, CW XVIII, 136). Diese Politik orientiert sich, zumindest im eigenen Land, am Humboldt’schen Vorbild der „negativen Freiheit“ (s. Kap. V.27). Es handelt sich um liberalen politischen Perfektionismus (Chiu 2005; Donatelli 2006; Brudney 2008; Henning 2015, 368 ff.). Wie die meisten liberalen Theorien ist er von paternalistischen Zügen nicht frei – vor allem gegenüber den Armen und nichtwestlichen Kulturen, die er als weniger zivilisiert begreift (s. Kap. IV.22, V.31). Diese Dialektik ist auch in der Literatur bemerkt worden: Hamburger (1999) zufolge etwa habe Mill die individuelle Freiheit in kritischen Perioden des Übergangs verortet („transitional stages“, CW XII, 253), sein Ziel sei aber nicht die Verabsolutierung des Fortschreitens um seiner selbst willen gewesen, sondern vielmehr eine Art Gleichgewicht der individuellen Freiheit mit der Stabilität eines organischen Zustands (s. Kap. IV.19). „During organic periods liberty […] would be modified sufficiently to allow moral authority, cohesion, duty, and altruism to coexist with it“ (Hamburger 1999, 201 f.). Offensichtlich gibt es für Mill ganz verschiedene Hindernisse einer Entwicklung. Angefangen mit der Anthropologie, gibt es bereits bei Mill eine Art Bedürfnispyramide im Sinne Abraham Maslows. Zunächst bedarf es der wirtschaftlichen Versorgung, fehlt diese, dann ist Weiterentwicklung schwierig, da das Besorgen des Nötigsten zu viel Mühe und Aufmerksamkeit benötigt: „[H]uman beings cannot rise to the finer attributes of their nature compatibly with a life filled with labour“ (1850, CW XXI, 91). Die Reduktion von Arbeit durch Absenkung der Bedürfnisse ist allerdings nicht im Sinne Mills, weil damit auch die Kultivierung durch Arbeit stagniere – dies kritisiert er an den südlichen Arbeitskulturen (etwa in Haiti oder Jamaika), die daher nach ihrer Emanzipation des Anstoßes von außen bedürften: „To civilize a savage, he must be inspired with new wants“ (CW II, 104; vgl. CW XIX, 394). Insbesondere dem Eigentum schreibt Mill einen zivilisierenden Einfluss zu, wie er u. a. am Beispiel Irlands diskutiert (CW XXIV, 903; das wirkt zurück

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auf die Einschätzung des Sozialismus; s. Kap. IV.18). Daraus folgt allerdings nicht, dass ein ständiger Zuwachs an ökonomischen Ressourcen automatisch gut ist. Wie schon beim Naturbegriff (s. Kap. IV.20) erweist sich Mill hier als widerspenstiger, geradezu dialektischer Autor. Bei den arbeitenden Klassen Europas verpuffe der kultivierende Effekt eines ökonomischen Zuwachses deswegen, weil sie ihn vermutlich nur in eine höhere Anzahl von Kindern umsetzen und damit ihre Lage wieder verschlechtern würden (hier folgt Mill allzu unbesehen Malthus; s. Kap. II.10): „[I]t would leave the country with an increased number of the poorest class“ (CW II, 366). Um den kultivierenden Arbeitsanreiz bei den Armen zu erhöhen, spricht er sich für eine sehr niedrige Armenunterstützung bei gleichzeitigem Fortpflanzungsverbot aus (eine Biopolitik; s. Kap. V.23). Die Unterstützung dürfe nicht beschämend, müsse aber klar „undesirable“ sein (CW III, 961; vgl. den Artikel von 1834, CW XIII, 686 f.). Bei den wohlhabenden Klassen haben mehr ökonomische Ressourcen ebenfalls einen paradoxen Effekt: In England hätten sie versäumt, die Entwicklungs-Leiter zu erklimmen, sie seien bei der Vermehrung ihres materiellen Reichtums stehengeblieben, was keinen kultivierenden Effekt mehr habe: „[I]n highly civilized countries, and particularly among ourselves, the energies of the middle classes are almost confined to money-getting, and those of the higher classes are nearly extinct“ (CW XVIII, 130). Diese Kulturkritik an den Auswirkungen des Geldes, die schon Aristoteles artikuliert hatte, kehrte im 19. Jahrhundert nicht nur bei Mill, sondern auch bei Tocqueville, Carlyle, Marx, Nietzsche und später Max Weber und Schumpeter wieder. In beiden Fällen, arm wie reich, könne nur eine moralische Erziehung von außen abhelfen: „Every real improvement in the character of the English […] must necessarily moderate the ardour of the devotion to the pursuit of wealth“ (CW II, 105). Mill artikuliert hier eine Dialektik des Fortschreitens im Sinne von Rousseau und Horkheimer. Sowohl Reichtum wie auch Armut haben

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ambivalente Effekte: Sie können, wie gesehen, zur Weiterentwicklung und Kultivierung der Menschen anreizen, aber auch das Gegenteil bewirken. Um eine angemessene Wirkung zu erzielen, braucht es in beiden Fällen Erziehung oder Kultivierung („the character of the high­er classes needs renovating“, 1836, CW XVIII, 128); nicht nur durch direkten Unterricht, sondern auch indirekt, durch veränderte soziale Praktiken. Mill setzt in unterschiedlichen Schriften immer wieder auf ein besseres Wissen um die höheren Freuden, die eine kulturelle Entwicklung bringt. Man werde sie, so die Vermutung, um ihrer selbst willen anstreben, sobald man sie einmal kennengelernt und erfahren habe (s. Kap. V.24). Doch hier schlägt die Dialektik des Fortschreitens erneut zu, denn auch dieses Wissen kann ambivalente Effekte haben. Weder mit der Errichtung von Universitäten – oder gar EliteUniversitäten (Mill nennt explizit „Oxford and Cambridge, Eton and Westminster“, CW XVIII, 138) – noch mit einem freien Markt für Bücher oder Zeitschriften ist es getan. Die Universitäten kranken daran, dass sie mehr Wert darauf legen, ein vorgefasstes Wissen weiterzugeben, das angeblich auf die Geschäftswelt vorbereite, als zum eigenständigen und kritischen Denken zu erziehen („our business is not to make thinkers or inquirers, but disciples“, CW XVIII, 140) – eine Humboldt’sche Position, die Mill in On Liberty wiederholt (Böge 2018, 135 ff.). Ausgerechnet die akademische Welt wird so zum Hort des despotischen Konformismus. Auch auf dem Zeitschriften- und Büchermarkt moniert Mill die verbreitete Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit, die dazu führe, dass Lesen nicht länger bilde, sondern Blasen und Echokammern der emotionalen Selbstbestätigung bilde („literature becomes more and more a mere reflection of the current sentiments, and has almost entirely abandoned its mission as an enlightener and improver of them“, CW XVIII, 135). Den Autoren werde durch die zunehmende Vermarktlichung („marketable qualities become the object instead of substantial ones“, CW XVIII, 133) die Vermarktung auch ihrer selbst abverlangt („For the first time, arts for attrac-

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ting public attention form a necessary part of the qualifications even of the deserving: and skill in these goes farther than any other quality towards ensuring success“, CW XVIII,133); Ähnliches schrieben später Georg Lukács oder Adorno). Als Grund für diese Entpolitisierung macht Mill, ähnlich verdinglichungskritisch wie Karl Marx, die Kommerzialisierung des Pressewesens aus („newspapers are a mere investment of capital for the sake of mercantile profit“, CW XVIII, 135; zur Pressekritik des jungen Marx vgl. Henning 2017, 20 ff.). Anders als es eine verbreitete pauschale Kritik am Perfektionismus sowie am Liberalismus des 19. Jahrhunderts will, handelt es sich bei Mills liberalem Perfektionismus zu weiten Teilen um eine kritische Theorie: Mill kritisiert ein imperiales Entwicklungsdenken, das zu sehr auf ökonomisches Wachstum und Technik abstellt (daher greift nicht zuletzt Martha Nussbaum [2004] auf Mill zurück), er kritisiert eine Theorie der Bildung, die zu sehr auf marktkonforme Zurichtung und zu wenig auf individuellen Freiraum und Entfaltung der eigenen Potenziale erpicht ist, er kritisiert paternalistische Sozialfürsorge, die in Abhängigkeit und Unmündigkeit führt, er kritisiert die Institution der Ehe, solange sie Frauen ihren Männern unterstelle und dadurch einengt, er kritisiert die Verteidigung der Sklaverei, die den demoralisierenden Einfluss dieser Herrschaft den Beherrschten selbst (als ihre ‚Natur‘) zuschreibe usw., und das stets vor der normativen Folie der Ermöglichung einer selbstbestimmten Entfaltung der eigenen Anlagen. Einige Interpreten deuten ihn daher als Egalitaristen (Buchstein/Geisler 2013 etwa nennen ihre Edition Liberale Gleichheit). Das darf allerdings die Ambivalenzen nicht überblenden, denn gerade wo Mill eine wohlmeinende Emanzipation im Namen des kulturellen Fortschritts erkämpfen möchte, transportiert er zugleich einen Paternalismus der Mittel sowie die Suggestion einer tief sitzenden Ungleichheit in den Fähigkeiten zwischen verschiedenen Menschengruppen: Mill setzt sich für alle ein, auch – und darin liegt die Herablassung – für die mittelmäßig Begabten („Not that it is solely, or chiefly, to form great thinkers, that freedom of thin-

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king is required. On the contrary, it is as much, and even more indispensable, to enable average human beings to attain the mental stature which they are capable of“, CW XVIII, 243) und für die Ungehobelten („moral excellence does not suppose a high order of intellectual cultivation, since it is often found in greatest perfection in the rudest minds“, CW XXVI, 432). Eine Aneignung des Fortschrittsdenkens von Mill muss daher neben ihren Vorzügen auch ihre Abgründe mitbedenken.

Literatur Böge, Manfred: Moralische Erneuerung. Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie. Freiburg/München 2018. Borsche, Tilman: Wilhelm von Humboldt. München 1990. Brink, David O.: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. Brudney, Daniel: Grand Ideals: Mill’s Two Perfectionisms. In: History of Political Thought 29/3 (2008), 485–515. Buchstein, Hubertus/Geisler, Antonia (Hg.): John Stuart Mill: Liberale Gleichheit. Vermischte politische Schriften. Berlin 2013. Campbell, Craig Grant: Mill’s Liberal Project and Defence of Colonialism from a Post-Colonial Perspective. In: South African Journal of Philosophy 29/2 (2010), 63–73. Chiu, Yvonne: Perfectionism in J. S. Mill’s Economic Thought. Manuskript 2005. Devinge, Robert: Reforming Liberalism J. S. Mill’s Use of Ancient, Religious, Liberal, and Romantic Moralities. Yale 2006. Donatelli, Piergiorgio: Mill’s Perfectionism. In: Prolegomena 5/2 (2006), 149–164. Eisenach, Eldon: Self-Reform as Political Reform in the Writings of John Stuart Mill. In: Utilitas 1/2 (1989), 242–258. Habibi, Don A.: John Stuart Mill and the Ethic of Human Growth. Dordrecht/Boston/London 2001. Hamburger, Joseph: John Stuart Mill on Liberty and Control. Princeton 1999. Henning, Christoph: Freiheit, Gleichheit, Entfaltung: Die politische Philosophie des Perfektionismus. Frankfurt a. M. 2015. Henning, Christoph: Marx und die Folgen. Stuttgart 2017. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Levin, Michael: J. S. Mill on Civilization and Barbarism. London 2004.

258 Malachuk, Daniel S.: Perfection, the State, and Victorian Liberalism. New York 2005. Meek, Ronald L.: Social Science and the Ignoble Savage. Cambridge 1976. Meramveliotakis, Giorgos/Manioudis, Manolis: History, Knowledge, and Sustainable Economic Development: The Contribution of John Stuart Mill’s Grand Stage Theory. In: Sustainability 13 (2021), 1468.

C. Henning Nussbaum, Martha: Mill Between Bentham and Aristotle. In: Daedalus 133/2 (2004), 60–68. Pitts, Jennifer: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton 2005. Simmel, Georg: Die beiden Formen des Individualismus [1901], Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt a. M. 1995, 49–56.

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Freiheit Michael Schefczyk

John Stuart Mill wird häufig als prototypischer Vertreter eines „negativen Freiheitsbegriffs“ dargestellt (Carter 2022). Eine solche Charakterisierung ist anachronistisch. Die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit ist erst lange nach Mills Tod von Isaiah Berlin eingeführt worden (Berlin 1984 [1969]). Durch Berlin ausgelöste Fragen begrifflicher Abgrenzung, die in der Politischen Philosophie der letzten fünfzig Jahre große Aufmerksamkeit erhalten haben (nicht zuletzt aufgrund der Unklarheiten in Berlins Distinktion), tauchen bei Mill nicht auf und – wichtiger noch – lassen sich auch nicht ohne weiteres auf ihn anwenden. Mill selbst bezieht sich in seinen politikphilosophischen Arbeiten auf Freiheit mittels gesellschaftstheoretischer Attribute. Er handelt von ‚bürgerlicher‘ (‚sozialer‘) und von ‚politischer‘ Freiheit. Wer frei leben möchte, braucht ihm zufolge beide Freiheiten. Diese Grundauffassung zieht sich durch sein gesamtes Werk. Die Zusammengehörigkeit von politischer und bürgerlicher Freiheit bei Mill zeigt sich vielleicht am deutlichsten in seinem feministischen Klassiker The Subjection of Women (s. Kap. III.16, VI.45). Die Befreiung der Frauen wird nicht

M. Schefczyk ()  Professor für Praktische Philosophie, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

durch Freiheit von staatlichen Eingriffen erreicht – im Gegenteil muss der Staat Frauen durch Verleihung bürgerlicher und politischer Rechte vollständig handlungsfähig machen, um ihre Unterwerfung zu beenden. Dass Mill dennoch überwiegend als Vertreter eines negativen Freiheitsverständnisses gelesen wird, hat vermutlich damit zu tun, dass sein einflussreichstes Werk, On Liberty (s. Kap. III.13), den Wert individueller Freiheit gegen die Kräfte des gesellschaftlichen Konformismus und der hoheitlichen Bevormundung verteidigt. Sein nur wenig später erschienenes politiktheoretisches Hauptwerk, Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14), wird zumeist nicht als das erkannt, was es ist: das Ergänzungsstück zu On Liberty, in dem eine Ordnung politischer Freiheit beschrieben wird, innerhalb derer bürgerliche Freiheiten ausgeübt werden. In den Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) wiederum bettet Mill die Idee wirtschaftlicher Freiheit in ein Konzept bürgerlicher Freiheit ein (Schefczyk 2016). Inspiriert durch Berlin wird immer wieder versucht, ‚bürgerliche Freiheit‘ auf ‚negative Freiheit‘ und ‚politische Freiheit‘ auf ‚positive Freiheit‘ abzubilden. Charles Taylor schreibt Mill beispielsweise tentativ einen positiven Freiheitsbegriff zu, da in den Considerations die Selbstregierung des Menschen „möglicherweise“ als positiver Wert betrachtet werde (Taylor 1992 [1985], 119). Bei solchen Charak-

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terisierungen ist zu bedenken, dass Mill mit der Unterscheidung zwischen politischer und bürgerlicher Freiheit arbeitet, um ein wünschenswertes System gesellschaftlicher Rechte und Institutionen zu beschreiben. Politische und bürgerliche Freiheit betreffen unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, und Mills Sicht ist zweifellos, dass beide gegeben sein müssen, um ein freies Leben führen zu können. Berlins Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit soll hingegen politikphilosophische Positionen voneinander abgrenzen. Die Distinktion ‚positive/negative Freiheit‘ verfolgt insofern eine andere theoretische Zielsetzung als die Differenzierung zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit – und sie funktioniert entsprechend anders. Berlin möchte Theorien nach Möglichkeit dem einen oder dem anderen Lager zuordnen. Einordnungsprobleme werden im Zweifel den besprochenen Theorien als ideologische Unentschlossenheit oder begriffliche Unklarheit angelastet. Konkret wirft Berlin Mill vor, ideologisch und begrifflich fragwürdige Zugeständnisse an das (antiliberale) positive Freiheitsverständnis gemacht und nicht konsequent genug am (liberalen) negativen Freiheitsbegriff festgehalten zu haben (s. Kap. VI.44). Solche Abgrenzungslogik fehlt der Mill’schen Differenzierung zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit. Es wäre aus Mills Sicht abwegig, zu fordern, dass man sich entweder für bürgerliche oder für politische Freiheit entscheiden müsse. I. On Liberty verteidigt ein striktes Abwehrrecht gegen äußere Eingriffe in die individuelle Handlungsfreiheit, soweit ausschließlich die eigene Person betroffen ist (CW XVIII, 223– 227; AW III/1, 315–322). „Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign“ (CW XVIII, 224; AW III/1, 316). Staat und Gesellschaft soll es verboten sein, die individuelle Wahlfreiheit mit der Begründung einzuschränken, dass dies im wohlverstandenen Interesse der betroffenen Person sei (gesetzlicher Paternalismus) oder der Förderung gewisser Wertvorstellungen diene (gesetzlicher Moralismus). Seine Grenze findet dieses Abwehrrecht in den Rechten anderer. Frauke Höntzsch hat in Individuelle Freiheit zum Wohle Aller (2010)

M. Schefczyk

herausgearbeitet, dass On Liberty eine „komplexe Freiheitskonzeption“ vertritt. Die Abwehrrechte dienen nicht nur der Abgrenzung des Individuums von der Gesellschaft, sondern dem Schutz eigenwilliger Formen der Interaktion und des Sozialen. Individuelle Freiheit verwirklicht sich in der Äußerung von Meinungen (s. Kap. V.33) oder im künstlerischen Ausdruck, die an andere gerichtet sind; in der Zusammenarbeit zu kommerziellen oder sozialen Zwecken; und in verschiedenen Formen von auf Dauer angelegten Vereinigungen zwischen Menschen. Mill war zeitlebens Utilitarist. Freiheit ist kein abstraktes Recht des Individuums, das keiner weiteren Begründung bedürfte. Bürgerliche und politische Freiheiten sind wünschenswert, weil (und nur weil) sie einen unabdingbaren Beitrag zum menschlichen Wohlergehen leisten. Erklärtes Ziel von On Liberty ist es, darzulegen, dass bürgerliche Freiheiten den „permanent interests of man as a progressive being“ dienen (CW XVIII, 224; AW III/1, 318). Im Hintergrund steht Mills Werttheorie, die heute zuweilen als „qualitativer Hedonismus“ (Donner 2009, 16–23; auch Crisp 1997, 25–28; s. Kap. V.29) oder als eine Variante des Perfektionismus (Brink 2013, 46–78) bezeichnet wird. Ihre empirische Grundannahme lautet, dass Menschen die gelungene Ausführung anspruchsvoller Tätigkeit als besonders freudvoll erfahren (CW X, 211–214; AW III/1, 451–455). Anders als bei Aristoteles, mit dessen Theorie guten Lebens Mills Konzeption zuweilen verglichen wird (Nussbaum 2004), ist die bestmögliche Lebensform nicht für alle Menschen gleich. Die individuell bestmögliche Lebensweise hängt von den individuellen Merkmalen einer Person ab, ihren Begabungen, ihrem Temperament und ihren Vorlieben. Welche Art und welches Ausmaß anspruchsvoller Tätigkeiten für sie ideal ist, erschließt sich durch das Sammeln eigener Erfahrungen und das Studium der Erfahrungen anderer. Auf dieser Grundlage skizziert On Liberty zwei Begründungsgänge zugunsten bürgerlicher Freiheit, die man (1) ‚statisches‘ und (2) ‚dynamisches Argument‘ nennen könnte. 1) Das statische Argument geht davon aus, dass eine Ge-

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sellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt eine Menge an unterschiedlichen Lebensweisen umfasst. Individuen sind unterschiedlich und aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit sind ihnen unterschiedliche Lebensweisen gemäß. Sie können, alles in allem, am besten selbst beurteilen, welche Lebensweise ihnen entspricht. Da Individuen kein Wissen a priori über die für sie selbst beste Lebensform haben, brauchen sie die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln und getroffene Entscheidungen gegebenenfalls zu revidieren. Daher sollten sie, im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten, freien Zugang zu den Lebensweisen haben, die eine Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt eröffnet. Menschen zu verweigern, die – nach ihrem eigenen Urteil – für sie bestmögliche Lebensweise zu wählen, verschlechtert deren Glücksaussichten. In Subjection of Women spielt dieses statische Argument eine wichtige Rolle für die Begründung des gleichberechtigten Zugangs von Frauen zu gesellschaftlichen Ämtern und Positionen. 2) Das dynamische Argument hebt darauf ab, dass die Gesellschaft im Status quo nur eine begrenzte Zahl an Lebensoptionen anbietet. Als kreative Wesen wollen Menschen jedoch auch neue Lebensweisen ausprobieren. On Liberty hat hierfür die Bezeichnung „Lebensexperimente“ geprägt (CW XVIII, 306; AW III/1, 435). Würden Staat oder Gesellschaft Lebensexperimente unterdrücken, so würden sie zum einen die Kreativität von Menschen frustrieren, die ihr Glück außerhalb der bestehenden Konventionen suchen. Zugleich würden sie aber auch die Produktion von Wissen behindern. „There is always need of persons […], to commence new practices, and set the example of more enlightened conduct, and better taste and sense in human life“ (CW XVIII, 267; AW III/1, 379). Lebensexperimente haben insofern einen epistemischen Wert. Ergänzt werden die beiden Argumente durch die psychologische Annahme, dass Menschen eigensinnige Wesen sind, deren Wohlergehen durch Zwangsausübung oder Einschränkung ihrer Wahlfreiheit beeinträchtigt wird. Ceteris paribus, hat eine Tätigkeit nach Mill für ein Individuum höheren Wert und wird als erfüllender erlebt, wenn sie aus einer freien

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Entscheidung resultiert als wenn sie aus Zwang oder Gewohnheit hervorgeht. Wahlfreiheit hat insofern nicht allein eine Erkenntnisfunktion – sie hat auch einen eigenständigen emotionalen Wert, weil Menschen eigenes Urteilen und Entscheiden wertschätzen. Neben der utilitaristischen Argumentation für individuelle Abwehrrechte findet sich in On Liberty aber auch eine kurze Passage, in der Mill ein Konzept ‚positiver Freiheit‘ zu vertreten scheint – sofern unter ‚positiver Freiheit‘ verstanden wird, den ‚wirklichen Wünschen und Interessen‘ entsprechend zu handeln. Es sei keine Verletzung ihrer Freiheit, wenn eine Person gegen ihren Willen daran gehindert werde, eine unsichere Brücke zu überqueren, schreibt Mill. Denn Freiheit besteht darin, das zu tun, was man zu tun wünsche – und keine Person wünsche, in den Fluss zu fallen (CW XVIII, 294; AW III/1, 418). Bei aller Achtung für Mill als Vordenker des Liberalismus befürchtet Isaiah Berlin, dass er das Tor für antiliberale Politik im Namen der „wahren Interessen“ gefährlich weit geöffnet hat. Wenn es von Mill für möglich erklärt wird, dass eine Person nicht in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt wird, obwohl man ihr verwehrt zu tun, was sie tun möchte, so ist es nach Berlin kein großer Schritt mehr zu der Auffassung, Menschen seien wahrhaft frei, wenn man sie zu dem zwinge, was Staat und Gesellschaft als gut (für sie) erkannt hätten. Für diese gefährliche Latenz in On Liberty macht Berlin Mills Utilitarismus verantwortlich (Berlin 1984 [1969], 128). Hierzu ist zweierlei anzumerken: Der ‚positive Freiheitsbegriff‘ taucht in besagter Passage in Form einer ‚doppelten Negation‘ auf: Es ist keine Freiheitsberaubung, wenn eine Person durch Zwang an etwas gehindert wird, was sie ‚nicht wirklich‘ tun möchte. Die Zielrichtung ist offensichtlich, intuitiv hochgradig plausible Eingriffsbefugnisse nicht grundsätzlich auszuschließen. Staatliche Stellen sollen agieren dürfen, wenn Gefahr im Verzug ist und ein Interesse an der Abwendung der Gefahr vernünftigerweise unterstellt werden muss. Mill schreibt nicht, dass es im Namen der „wahren Interessen“ grundsätzlich verboten sein soll, unsichere Brücken zu überqueren. Insofern scheint es ex-

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egetisch fragwürdig, auf diese Passage zu viel Gewicht zu legen. Berlin gibt ergänzend zu bedenken, dass es weit weniger klar sei als Mill suggeriere, ob Freiheit tatsächlich Erfüllung und Selbstverwirklichung (s. Kap. V.30) fördere (Berlin 1984 [1969], 128). Richtig ist an diesem Einwand, dass Mills utilitaristische Verteidigung der Wahlfreiheit auf empirischen Annahmen über deren Glücksförderlichkeit beruht, die sich als falsch erweisen könnten. Dabei ist anzumerken, dass Mill, anders als Kant, den Gedanken apriorischer Erkenntnis ablehnt. Es gibt ihm zufolge keine absolute epistemische Sicherheit. Insofern ist die Feststellung, dass Mills politikphilosophische Position von der Richtigkeit empirischer Aussagen abhängt, innerhalb seines Theorierahmens weder überraschend noch beunruhigend. Entscheidend ist aus einer Mill’schen Perspektive, wie wahrscheinlich die von Berlin befürchteten Konsequenzen wären, sollten die gemachten Annahmen zutreffen, und wie plausibel diese Annahmen für sich genommen sind. Mit Blick auf das dynamische Argument deutet Mill die Möglichkeit an, dass in Zukunft ein Zustand erreicht werden könnte, in dem Lebensexperimente keinen kollektiven Erkenntnisgewinn mehr erbringen würden (CW XVIII, 260–261; AW III/1, 370). Doch auch wenn alle glücksträchtigen Lebensformen im Prinzip bekannt wären, wäre die individuelle Frage, welche für einen selbst die beste wäre, noch nicht beantwortet. Solange diese individuelle Antwort experimentell gesucht werden muss, behalten Freiheitsrechte ihren Wert. Und sollte es zukünftig möglich werden, die individuell besten Lebensentscheidungen mittels fortgeschrittener Datenanalyse zuverlässig zu kalkulieren, wäre mit Mills psychologischer Annahme davon auszugehen, dass Individuen ein hochrangiges Interesse daran behalten, Lebensentscheidungen selbst zu treffen und nicht vollständig an Algorithmen zu delegieren. Mills Verteidigung individueller Abwehrrechte gegen gesellschaftliche und staatliche Eingriffe beruht somit auf drei empirischen Kernthesen: 1) Das Wissen der Menschheit über die best-

M. Schefczyk

möglichen Lebensformen ist unvollkommen (CW XVIII, 260–261; AW III/1, 370). 2) Welche Lebensformen die individuell bestmögliche ist, kann das Individuum am besten selbst beurteilen. 3. Individuen haben ein vernünftiges Interesse an Selbstbestimmung, weil eine Tätigkeit ceteris paribus freudvoller ist, wenn sich eine Person selbst aufgrund eigener Gründe für diese Tätigkeit entscheidet als wenn sie zu der Tätigkeit durch gesellschaftlichen Zwang genötigt wird. Wenn Kernthese 3 zutrifft, dann hält die Stützung der negativen Freiheit auch dann, wenn These 1 und 2 in Zukunft nicht mehr gelten sollten. Insofern ist Mills Begründung des Liberalismus zwar abhängig von empirischen Annahmen, scheint aber insgesamt recht robust. II. Wichtigste Quelle für Mills Verständnis politischer Freiheit sind die Considerations on Representative Government. Wie gesehen, hat Charles Taylor dieses Werk in die Tradition republikanischen Freiheitsdenkens eingeordnet (Taylor 1992 [1985], 119). Tatsächlich wird aktive Teilhabe an Prozessen politischer Deliberation und Selbstbestimmung von Mill positiv bewertet. Wie Hubertus Buchstein und Sandra Seubert jedoch mit Recht anmerken, bewegt Mill sich eher in „einer neo-römischen als in einer neo-athenischen“ Tradition, insofern weniger der „intrinsische Eigenwert politischer Partizipation als das Motiv der Nicht-Beherrschung (‚non-domination‘) im Vordergrund“ (Buchstein/Seubert 2013, 320) stehe (s. Kap. V.37). Eine Person befindet sich in einem Zustand politischer Freiheit, wenn sie einer kompetenten und unparteilichen Regierungsgewalt untersteht, auf deren Urteils- und Willensbildung einzuwirken sie das Recht hat. Sie verfügt über politische Teilhaberechte, und das politische System ist so aufgebaut, dass die systematische Benachteiligung von Minderheiten effektiv ausgeschlossen und kompetentes Regieren sichergestellt ist. Parallelen zu Philip Pettits neorepublikanischem Konzept der Nicht-Beherrschung (Pettit 1999) sind deutlich erkennbar. Politische Freiheit genießen Individuen unter einer wohlgeordneten Repräsentativregierung, deren Institutionenordnung ein Höchstmaß an

27 Freiheit

Gemeinwohlorientierung und Kompetenz der Politik sicherstellen soll. Denn die Freiheit der Bürgerschaft wird nicht nur durch Interessenpolitik und Korruption, sondern auch durch gesetzgeberische, administrative oder richterliche Unfähigkeit bedroht. Unsinnige Gesetze, unfähige Behörden und Gerichte schränken das Gemeinwohl und die Handlungsmöglichkeiten von Individuen unnötig ein und bürden überdies der Bevölkerung Kosten ohne angemessenen Nutzen auf. Entsprechend ist politische Freiheit bei Mill in erster Linie nicht ein Attribut von Individuen, die über politische Freiheit ‚verfügen‘ und sich durch deren ‚Ausübung‘ selbst verwirklichen, sondern ein Zustand, in dem sie sich befinden. Wer unter einer wohlgeordneten Repräsentativregierung lebt, genießt politische Freiheit, ganz gleichgültig, ob sie oder er sich an der politischen Meinungs- oder Willensbildung beteiligt oder nicht. Zugleich betont Mill, dass die Repräsentativregierung allen anderen bekannten Formen überlegen ist, weil sie ‚Tugend und Intelligenz‘ der Bevölkerung in bestmöglicher Weise fördert. Hier macht sich abermals seine Werttheorie bemerkbar. Die Institutionenordnung einer Repräsentativregierung fordert und fördert mehr als andere Formen charakterliche und epistemische Tugenden der Bevölkerung, wie die Fähigkeit, Argumente zu würdigen oder persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, die aus einer insgesamt gemeinwohlorientierten Politik folgen (zum Beispiel eine Infektionsschutz- oder Baumaßnahme akzeptieren, obwohl man selbst negativ von ihr betroffen ist). Mill geht davon aus, dass vergleichsweise anspruchsvolle Tätigkeiten, wie es Beiträge zum politischen Prozess in einem System von Freien und Gleichen sind, tendenziell als freudvoller erlebt werden als weniger anspruchsvolle Tätigkeiten. Aber natürlich steht die politische Tätigkeit in Konkurrenz zu anderen Aktivitäten, die mit höher entwickelten Freuden verbunden sind und einem Individuum möglicherweise bes-

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ser entsprechen. Folglich kann politische Teilhabe durchaus zur Selbstverwirklichung von Menschen beitragen – sie wird von Mill jedoch nicht als notwendige Bedingung hierfür angesehen. Der neo-athenische Gedanke, dass Individuen in der kollektiven Selbstregierung sich zumindest partiell selbst verwirklichen (Taylor 1992 [1985], 122) findet sich bei Mill allenfalls in dieser stark abgeschwächten Form. Politische Freiheit unter einer wohlgeordneten Repräsentativregierung beruht darauf, dass eine kritische Masse an Individuen ihre Selbstverwirklichung in der kompetenten und gemeinwohlorientierten Ausübung von Rollen und Ämtern im demokratischen Prozess findet.

Literatur Berlin, Isaiah: Two Concepts of Liberty [1969]. In: Ders.: Four Essays on Liberty. Oxford 1984, 118– 172. Brink, David: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. Buchstein, Hubertus/Seubert, Sandra: Nachwort. In: John Stuart Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Hg. von dens., Frankfurt a. M. 2013, 289– 326. Carter, Ian: Positive and Negative Liberty. In: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2022 Edition), https://plato.stanford.edu/entries/liberty-positive-negative/ (23.03.2023). Crisp, Roger: Mill on Utilitarianism. London 1997. Donner, Wendy: Mill’s Moral and Political Philosophy. In: Dies./Richard Fumerton (Hg.): Mill. Oxford 2009, 15–143. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden 2010. Nussbaum, Martha C.: Mill Between Aristotle & Benth­am. In: Daedalus 133/2 (2004), 60–68. Pettit, Philip: Republicanism. A Theory of Freedom and Government. Oxford 1999. Schefczyk, Michael: The Tale of Two Doctrines. Mill on Economic and Political Liberalism. In: Deutsches Jahrbuch Philosophie 7 (2016), 191–206. Taylor, Charles: Der Irrtum der negativen Freiheit [1985]. In: Ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt a. M. 1992, 118–144

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Gerechtigkeit Markus Stepanians

„In all ages of speculation, one of the strongest obstacles to the reception of the doctrine that Utility or Happiness is the criterion of right and wrong, has been drawn from the idea of Justice“ (CW X, 240). Mit diesen Worten beginnt ein Aufsatz, den Mill in einem Brief vom Juni 1854 als seinen „Essay über Gerechtigkeit“ (CW XIV, 222) bezeichnet. Veröffentlicht wird er jedoch erst 1861 als dritter und letzter Teil einer mit Utilitarianism betitelten Artikelreihe in Fraser’s Magazine for Town and Country (CW I, 265 ff.). Zwei Jahre später erscheint die Reihe unter der gleichen Überschrift in Buchform. In der Buchfassung von 1863 bildet der Gerechtigkeitsessay das mit „On the Connexion between Justice and Utility“ überschriebene Schlusskapitel V. Mill misst der befriedigenden Lösung des darin behandelten Hauptproblems allergrößte Bedeutung bei. Es geht um nichts weniger als die Beseitigung der „only real difficulty in the utilitarian theory of morals“ (CW X, 259).

M. Stepanians ()  Professor für Philosophie (Schwerpunkt politische Philosophie), Universität Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected]

Die Notwendigkeit einer utilitaristischen Theorie des Pflichtgefühls Worin genau besteht die Schwierigkeit? Um falschen Erwartungen vorzubeugen, muss man sich zunächst klarmachen, dass Mills Hauptproblem im Gerechtigkeitsessay weder die Fairness von Güterverteilungen noch die angebliche Ungerechtigkeit des Utilitarismus betrifft. Vielmehr geht es Mill um die Explikation eines psychisches Alltagsphänomens, das in seinen Augen jede empirisch angemessene Morallehre, also auch der Utilitarismus, anerkennen und erklären können muss. Dieses Phänomen ist die eigentümliche „Stärke, Schwere und Schärfe“ (CW XXXI, 241; Analysis II, 325) eines Pflichtgefühls, das jedem Menschen als innere Stimme des Gewissens wohlvertraut ist und das sich mit besonderer Intensität in Gerechtigkeitsurteilen artikuliert. Der Hauptgrund, warum eine angemessene Erklärung dieses empirisch-psychischen Phänomens speziell den Utilitarismus vor eine ernste Herausforderung stellt, ist die normative Schwäche des Nutzenprinzips. In Mills außerordentlich weitem Verständnis von Utilitarismus, das sogar Epikur, den jungen Sokrates und Aristoteles einschließt (CW XV, 762; CW X, 240; CW XVIII, 235) ist das utilitaristische Nutzenprinzip zunächst nur ein Bekenntnis zu menschlichem Glück als letztem Handlungszweck (s. Kap. V.35). Nach Mills

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_28

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Verständnis besagt es lediglich, dass die Förderung menschlichen Glücks wünschenswert sei (CW X, 210; zur ‚Synonymie‘ von ‚Glück‘ und ‚dem Wünschenswerten‘ vgl. CW X, 258). In diesem normativ schwachen Sinne bildet es das Primärprinzip der allgemeinen Theorie praktischer Vernunft, die Mill in der 3. Auflage von A System of Logic (s. Kap. III.17) von 1851 als ‚Lebenskunst‘ (s. Kap. V.32) bezeichnet. Innerhalb der vom übergreifenden Nutzenprinzip regierten Lebenskunst unterscheidet Mill zunächst drei Typen praktischer Sekundärregeln variierender normativer Stärke: „[T]he Art of Life in its three departments, Morality, Prudence or Policy, and Aesthetics; the Right, the Expedient, and the Beautiful or Noble, in human conduct and works“ (CW VIII, 949; Eggleston et al. 2011). Obwohl die weitgehende Befolgung aller drei Regeltypen mit Blick auf das Glück der Menschheit wünschenswert ist, fällt ihre jeweilige normative Kraft sehr verschieden aus. Die stärkste normative Kraft besitzen die ‚imperativischen‘ Regeln des moralisch Richtigen („the Right“). Sie allein erzeugen strenge Pflichten, die erfüllt werden müssen (CW X, 241). Die Regeln der zweiten Abteilung bloßer Nützlichkeit („the Expedient“) sind normativ schwächer, denn sie erzeugen keine Pflichten. Gleichwohl kann ihre Befolgung angemahnt werden als etwas, das mit Blick auf menschliche „Annehmlichkeiten“ getan werden sollte (CW X, 259). Die schwächste normative Kraft weisen die supererogatorischen Sekundärprinzipien des dritten Bereichs des ‚Schönen und Noblen‘ in menschlichen Verhaltensweisen auf. Auch ihre Erfüllung ist mit Blick auf menschliches Glück wünschenswert (im Sinne von ‚verdienstlich‘) und offenbart einen bewundernswerten Charakter. Aber nach Mills Überzeugung kann die Befolgung der Regeln des Schönen und Noblen weder streng gefordert noch angemahnt werden (CW X, 337; auch CW X, 247; CW XVI, 1234). Das Kernproblem des Gerechtigkeitsessays betrifft die durch den generischen Pflichtbegriff (s. Kap. V.34) markierte Unterscheidung zwischen dem moralisch Richtigen („the Right“) und dem bloß Nützlichem („the Expedient“). Die entscheidende Frage lautet: Kann eine ge-

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nuin utilitaristische Morallehre die normative Differenz zwischen der milden Kraft des bloß Nützlichen und der imperativischen Kraft des Moralischen als irreduzibel real anerkennen und gleichwohl an der explanatorischen Schlüsselstellung des Nützlichkeitsbegriffs festhalten? Um diesem Gattungsunterschied zwischen Moral und bloßer Nützlichkeit erfolgreich Rechnung zu tragen, so Mill, muss das schwache Nutzenprinzip durch eine utilitaristische Theorie der Pflicht ergänzt werden. Dabei geht Mill mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass eine solche Pflichttheorie die Form einer Erklärung der eigentümlichen Kraft, Schwere und Schärfe des Pflichtgefühls im Rahmen einer psychologischen Motivationslehre annehmen muss.

Die Notwendigkeit einer utilitaristischen Theorie speziell des Gerechtigkeitsgefühls Am deutlichsten, so Mill, offenbart sich die tiefe Kluft zwischen dem schwachen Sollen des Nützlichkeitsempfindens und dem ‚imperativischen‘ Müssen des Pflichtgefühls in Fragen der Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit bildet für Mill den „unvergleichlich heiligsten und verbindlichsten Teil aller Moralität“ (CW X, 255). Nach Mills Überzeugung ist es in erster Linie die evidente innere Erfahrung einer generischen Diskrepanz zwischen den milden Sollensforderungen bloßer Nützlichkeit den imperativischen Charakter speziell der Gerechtigkeitspflichten, die seit jeher einer breiten Akzeptanz des Utilitarismus im Wege steht. Denn das schwache Nutzenprinzip scheint als Quelle dieser introspektiv offenkundigen Gefühlsdifferenz von vornherein auszuscheiden: „[I]nasmuch as the subjective mental feeling of Justice is different from that which commonly attaches to simple expediency, and, except in extreme cases of the latter, is far more imperative in its demands, people find it difficult to see, in Justice, only a particular kind or branch of general utility, and think that its superior binding force requires a totally different origin“ (CW X, 241).

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Mills explizite Anerkennung der Gerechtigkeit als „unvergleichlich heiligsten und verbindlichsten Teil aller Moralität“ (CW X, 255) erzwingt eine Erweiterung der Lebenskunst von 1851 um einen generisch vierten Bereich des Gerechten als Unterabteilung des Moralischen überhaupt. Mills zusätzliche Gattungsunterscheidung zwischen generischen Pflichten der Moral und speziellen, noch stärkeren Pflichten der Gerechtigkeit verkompliziert Mills Aufgabe im Gerechtigkeitsessay noch weiter. Denn Mill muss nun nicht nur zeigen, dass eine utilitaristische Morallehre die gefühlte Intensitätsdifferenz zwischen Moral und Nützlichkeit als irreduzibel real anerkennen kann. Er muss überdies zeigen, wie eine utilitaristische Anerkennung und Erklärung des gattungsmäßigen Unterschieds zwischen dem Moralischen überhaupt und speziell dem Gerechten ausfallen könnte. Wie noch zu zeigen sein wird, verweist Mill in seiner Antwort auf die zweite Frage auf die spezielle normative Kraft moralischer Rechte. Die höhere Verbindlichkeit der Forderungen der Gerechtigkeit, so Mill, fließt aus den moralischen Rechten von Individuen: „The essence of the idea of justice [is] that of a right residing in an individual, [and this notion] implies and testifies to this more binding obligation“ (CW X, 255). Der Begriff eines moralischen Rechts leistet also hinsichtlich der Abgrenzung der Gerechtigkeit von der Restmoral das, was der generische Pflichtbegriff in Mills Lebenskunst für die Abgrenzung der Moral gegenüber dem Bereich bloßer Nützlichkeit leistet.

Die Erklärung der anschaulichen Schule und Benthams „grandioses Übersehen“ Wie eingangs schon erwähnt, ist die evidente Alltagserfahrung einer irreduziblen Intensitätsdifferenz zwischen der schwachen normativen Kraft bloßer Nützlichkeit und der eigentümlichen Kraft, Schwere und Schärfe des Moralischen und speziell des Gerechten für Mill ein empirisch-phänomenologisches Datum, das jede Morallehre erklären können muss. Die

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Forderung nach empirischer Angemessenheit wird für den Utilitarismus zum Problem, weil die Nutzenprinzip aufgrund seiner normativen Schwäche als Quelle dieser normativen Intensität ausscheidet. Darin besteht für Mill „the only real difficulty in the utilitarian theory of morals“ (CW X, 259), die seit jeher anti-utilitaristische Einwände provoziert und die anhaltende Vorherrschaft der ‚anschaulichen‘ Schule („the Intuitive School“; s. Kap. II.9) in der Moralphilosophie erklärt, zu der Mill auch Kant zählt. Mill hält es für ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der anschaulichen Schule, dass sie für das hier relevante Phänomen eine beachtenswerte, wenn auch letztlich nicht akzeptable Erklärung bereitstellt. Der Grundgedanke dieser Erklärung, der die anschauliche Schule ihren Namen verdankt, ist in Mills Verständnis der Versuch, die eigentümliche normative Intensität von Gerechtigkeitsurteilen durch Analogisierung mit der Intensität und Gewissheit direkter Wahrnehmungsurteile zu explizieren (CW X, 51). Bei Gerechtigkeitsurteilen, so die Vertreter dieser Schule, handle es sich um quasi-sensuelle Anschauungen moralischer Tatsachen mit den ‚Augen des Geistes‘ (Platons omma tês phychês, Ciceros mentis oculi). Ihr normativ-kategorischer Charakter erklärt sich in diesem Erklärungsmodell durch die Unterschiede der Intensität und Gewissheit direkt gewonnener anschaulicher Einsichten und nur indirekter und nicht-anschaulicher, weil durch andere Urteile vermittelte deliberative Erwägungen. Entsprechend postuliert die anschauliche Schule die Existenz eines speziellen ‚moralischen Sinns‘, der den eigentlichen fünf Wahrnehmungssinnen ein analoges, quasi-sinnliches Vernunftvermögen (CW X, 240, 51) hinzufügt. Wie noch zu zeigen sein wird, lehnt Mill das ‚anschauliche‘ Postulat einer speziellen moralischen Vernunftvermögens ab. Aber immerhin stellt sich die anschauliche Schule der Herausforderung einer Erklärung des Pflichtgefühls, während die Utilitaristen nach Mills Überzeugung nicht nur mit leeren Händen dastehen, sondern den anti-utilitaristischen Kritikern in dieser heiklen Frage durch grobe „Fehler“ (CW I, 208 Fn) unnötig Vorschub leisten. Es gibt vor allem zwei Weisen,

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wie man dem Problem der Anerkennung und Erklärung der eigentümlichen Kraft, Schwere und Schärfe der Forderungen der Moral und speziell der Gerechtigkeit nicht gerecht werden kann. Man kann die Existenz des Phänomens entweder leugnen und wegzuerklären versuchen; oder man kann es als real anerkennen, aber unzureichend erklären. Nach Mills Überzeugung begeht Bentham den ersten Fehler, sein Vater James Mill den zweiten. Benthams Strategie, so Mill, besteht darin, die Existenz des zur Debatte stehenden Phänomens zu leugnen und für illusorisch zu erklären. Nach Bentham gibt es kein Gefühl moralischer Verpflichtung, das nicht auf Nützlichkeitserwägungen beruht und restlos darauf zurückführbar wäre. Bentham, so Mills Vorwurf, glaube an „the selfish principle in human nature“ (CW X, 14), demzufolge alle menschlichen Handlungen, auch scheinbar altruistische, letztlich als Befriedigung eigener Interessen entlarvt werden können (CW X, 13 f.). Was auf den ersten Blick als reine Pflichthandlung erscheint, erweist sich für Bentham bei Lichte besehen als selbstsüchtige Interessenverfolgung. Ein genuines, irreduzibles Pflichtgefühl, wie es oft als innere Stimme unseres Gewissens erscheint, finde in Benthams Moralpsychologie daher keinen Ort (CW X, 13, 95). Mill hält Benthams Leugnung echter Pflichthandlungen für ein „grandioses Übersehen“ und den „Kardinalfehler“ der Bentham’schen Moralpsychologie (CW X, 97). Die Propagierung dieser defizitären Auffassung der menschlichen Natur macht Benthams Schriften in Mills Augen zu einer Quelle „sehr ernstlichen Übels“, die anti-utilitaristische Vorbehalte unnötig bestätigt (CW X, 15). Mill beeilt sich zu versichern, dass Benthams Schüler ihm in diesem kritischen Punkt nicht gefolgt seien (CW X, 97). Er denkt hier in erster Linie an den Autor der Analysis of the Phenomena of the Human Mind (1829). Tatsächlich gibt James Mill schon mit der Überschrift des ‚Moral Sense‘-Kapitels XXIII seiner Analysis zu erkennen, dass er im Gegensatz zu Bentham und im Einklang mit der anschaulichen Schule die psychische Existenz eines irreduziblen

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Pflichtgefühls, das man als Manifestation eines moralischen Gewissens oder eines ‚moralischen Sinns‘ bezeichnen könnte, prinzipiell anerkennt. Aber wie Mill junior hält auch James Mill die Erklärung des so verstandenen ‚moralischen Sinns‘ durch das ‚anschauliche‘ Postulat eines quasi-sensuellen Vernunftvermögens schon aus wissenschaftstheoretischen Gründen für verfehlt. Wie alle natürlichen Erscheinungen müsse auch dieses Phänomen ursächlich, d. h. durch Subsumtion unter ein Kausalgesetz erklärt werden. In den Worten von Mill junior: „An individual fact is said to be explained, by pointing out its cause, that is, by stating the law or laws of causation, of which its production is an instance“ (CW VII, 464). Da die hier zur Debatte stehende ‚individuelle Tatsache‘ psychischer Natur ist, so James Mill in der Analysis, kommt hier insbesondere das Grundgesetz der Vorstellungsassoziation in Betracht, das erstmals David Hartley in seinen Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations (London 1749) formuliert. Nach Mills Überzeugung liegt sein Vater mit dem Verweis auf Hartleys assoziationstheoretischen Erklärungsansatz in methodischer Hinsicht goldrichtig. Auch in seinen Augen ist Hartley, wie Mill junior in der Einleitung der 1869 von ihm selbst besorgten Neuauflage der Analysis („James Mill’s Analysis of the Phenomena of the Human Mind“ 1869; CW XXXI, 93–253) lobend schreibt, „the man of genius who first clearly discerned that [the great fundamental law of Association of] is the key to the explanation of the more complex mental phenomena“ (CW XXXI, 98; Analysis I, x f.). Da es sich auch beim Pflichtgefühl um ein komplexes psychisches Phänomen handelt, kann und muss auch seine Genese und Entwicklung im Rückgriff auf assoziationstheoretische Gesetze erklärt werden. In Rahmen eines Hartley’schen Ansatzes nimmt eine solche Erklärung die Form einer genetisch-konstruktiven Erzählung an, die den kausalen Ursprung und die diachrone Herausbildung dieses Gefühls nachzeichnet. Wie sein Vater glaubt auch Mill, dass Gerechtigkeitsurteile und die mit ihnen assoziier-

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ten Pflichtgefühle „not the result of any peculiar law of our nature“ in Gestalt eines quasi-sinnlichen Wahrnehmungsvermögens seien. Vielmehr würden diese moralischen Gefühle hervorgebracht durch „the same laws on which all our other complex ideas and feelings depend“ (CW X, 51).

Die spezifische Differenz zwischen moralischen Urteilen und bloßen Nützlichkeitsurteilen Im Rahmen eines Hartley’schen Erklärungsmodells lautet die entscheidende Frage: Worin besteht die Assoziation, die in dem Fall existiert, in dem man etwas als Pflicht betrachtet, aber nicht existiert in dem Fall, in dem man etwas als bloß nützlich ansieht? Diese Frage ist es, so Mill, die sein Vater im ‚Moral Sense‘-Kapitel der Analysis nicht befriedigend beantwortet (vgl. Mills Kritik in Analysis II, 324; CW XXXI, 240) und für die er im Gerechtigkeitsessay eine angemessenere Lösung vorschlägt. Die Lösung des Problems sieht Mill in der Idee der Strafwürdigkeit. Es ist die stete Präsenz der Verknüpfung mit dem Gedanken der Strafwürdigkeit, die uns vor einer Untat „Zurückschrecken“ lässt (CW X, 15). Diese Assoziation ist es, die dem Pflichtgefühl seine ‚imperativische‘ Kraft verleiht und den Gattungsunterschied zu Nützlichkeitsurteilen begründet: „I believe that the element in the association, which gives this distinguishing character to the feeling […] is the idea of Punishment. I mean the association with punishment, not the expectation of it“ (CW XXXI, 241; Analysis II, 325). Der letzte Satz ist eine Spitze gegen Bentham, demzufolge die Normativität des (auf Nützlichkeitsgefühle reduzierbaren) Pflichtgefühls allein aus der prudenziellen Vorsicht vor zukünftigen Schmerzen resultiert und nicht, wie für Mill, aus dem durch die Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit hervorgerufenen spontanen „Zurückschrecken“ hier und jetzt, unabhängig von zukünftigen Konsequenzen (CW X, 12 ff.).

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Die konstitutive Rolle der „Wesenselemente menschlichen Wohls“ Aber der schlichte Verweis auf die psychische Verknüpfung, die den Gattungsunterschied markiert, bietet nach Mill für sich genommen noch keine vollständige Erklärung des Phänomens. Dazu bedarf es überdies eines plausiblen Narrativs über Ursprung und Entwicklung der hier relevanten psychischen Verknüpfung im Einklang mit dem Gesetz der Vorstellungsassoziation. Unklar ist bislang auch noch, was eine assoziationstheoretische Rekonstruktion unseres Pflichtgefühls zu einer genuin utilitaristischen Erklärung macht. Um diesem Desiderat zu genügen, muss Mill zeigen, dass Nützlichkeitserwägungen bei der Entstehung und Entwicklung des komplexen Pflichtgefühls eine konstitutive Rolle spielen. Allein aufgrund ihrer konstitutiven Rolle in der Psychogenese des Pflichtgefühls können Moralität und Gerechtigkeit beanspruchen, „a particular kind or branch of general utility“ (CW X, 241) zu sein. Erst hier artikuliert Mill den „Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Nützlichkeit“, dem der Gerechtigkeitsessay seinen Titel verdankt. Nach Mill ist die schließliche Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit das Ergebnis der rationalen Veredelung und Verfeinerung eines naturgegebenen Instinkts, nämlich des „animalischen“ Triebs zur Selbstverteidigung. Der Ursprung dieser assoziativen Verknüpfung ist der (auch bei nicht-menschlichen Tieren anzutreffende) Wunsch nach Vergeltung für Angriffe auf „vitale Interessen“ unserer selbst oder derer, die uns nahestehen (CW XXXI, 241; Analysis II, 325). Wie Mill betont, ist der naturwüchsige Selbstverteidigungsinstinkt ursprünglich kein moralisches Gefühl (CW X, 249), sondern nur das Urelement, aus dem genuin moralische Gefühle, allen voran das Pflichtgefühl, in einem zivilisatorischen Prozess rationaler Zähmung nach und nach erwachsen. Am Ende dieses evolutionären Prozesses ist das ‚Selbst‘, das der auf diese Weise erfolgreich ‚moralisierte‘ Instinkt nunmehr verteidigt, nicht mehr das Indivi-

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duum, sondern die Gemeinschaft als Ganze, das Kollektiv (CW X, 249). Was diese Erklärung in Mills Augen zu einer utilitaristischen macht, ist die Fundierung der so generierten moralischen Gefühle in der Erkenntnis der rationalen Notwendigkeit einer Verteidigung „vitaler Interessen“, welche „die Wesenselemente menschlichen Wohls“ (CW X, 251) ausmachen. An erster Stelle steht hier für Mill das Sicherheitsinteresse. Denn „security no human being can possibly do without; on it we depend for all our immunity from evil, and for the whole value of all and every good, beyond the passing moment“ (CW X, 251).

Moralische Rechte als konstitutive Elemente der Gerechtigkeit Wie gesehen, charakterisiert das Pflichtgefühl moralische Urteile überhaupt, nicht nur Gerechtigkeitsurteile. Die Erklärung des Pflichtgefühls im Rückgriff auf die stete Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit sagt daher noch nichts darüber aus, worin sich Pflichten der Gerechtigkeit von moralischen Pflichten als solchen unterscheiden (CW X, 246). Was muss zur Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit noch hinzukommen, um eine moralische Pflicht als Pflicht der Gerechtigkeit zu erweisen? Die Pflichten der Gerechtigkeit, so Mill im direkten Anschluss an die moderne Naturrechtstradition, sind jene, deren Nichterfüllung die moralischen Rechte anderer Personen verletzt: „Justice implies something which it is not only right to do, and wrong not to do, but which some individual person can claim from us as his moral right […] Wherever there is a right, the case is one of justice“ (CW X, 247). Was aber sind moralische Rechte? In seiner Analyse folgt Mill den begrifflichen Erläuterungen der modernen Naturrechtler von Grotius über Pufendorf bis Kant im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen ‚vollkommenen‘ und ‚unvollkommenen‘ Pflichten: „[D]uties of perfect obligation are those duties in virtue of which a correlative right resides in some person or persons; duties of imperfect obligation are those

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moral obligations which do not give birth to any right“ (CW X, 247). Die historische Wurzel des naturrechtlichen Pflichtendualismus ist Grotius’ Unterscheidung in De jure belli ac pacis libri tres (Paris 1625) zwischen ‚vollkommenen‘ und ‚weniger vollkommenen‘ subjektiven Rechten. Erst Pufendorf macht in seinen Elementa jurisprudentiae universalis (Amsterdam 1660) explizit, dass den ‚vollkommenen‘ Rechten eines Menschen bei anderen Personen ‚vollkommene‘ Pflichten entsprechen, während Grotius’ ‚weniger vollkommene‘ Rechte bei anderen mit ‚unvollkommenen‘ Pflichten korrelieren. Im 18. Jahrhundert wird es jedoch zunehmend üblich, auf die Idee ‚unvollkommener‘ Rechte gänzlich zu verzichten und den Ausdruck ‚subjektives Recht‘ für die Korrelate vollkommener Pflichten zu reservieren. Nach Mill ist dies der „präzisere“ Sprachgebrauch der „philosophischen Juristen“ (CW X, 247; vgl. ähnlichen Bemerkungen bei Mills Freund Bain (1859, 292 f.) sowie bei Austin (1832, 32 ff.); einen historischen Überblick bietet Kersting 1982). Der so verstandene Pflichtendualismus, so Mill, markiert die innermoralische Grenze zwischen Gerechtigkeit und dem Rest der Moral. Während also moralisches Unrecht im Allgemeinen in der Verletzung sowohl vollkommener als auch unvollkommener Pflichten besteht, bestehen Ungerechtigkeiten in der Verletzung ausschließlich vollkommener Pflichten auf deren Erfüllung mindestens eine andere Person einen moralischen Anspruch hat. Die Kernelemente der Gerechtigkeit sind demnach Hohfeld’sche Anspruchsrechte (Hohfeld 1913, 30 f.), und eine Handlung ist genau dann ungerecht, wenn sie ein Anspruchsrecht mindestens einer anderen Person verletzt. Nach Mill beziehen moralische Rechte (und die begrifflich verschiedenen, wenn auch gleichursprünglichen vollkommenen Pflichten, die mit ihnen korrelieren) ihre normative Kraft aus der Einsicht in die rationale Notwendigkeit einer Sicherung der „Wesenselemente menschlichen Wohls“ (CW X, 251). In diesem genetisch-konstruktiven Sinne sind moralische Rechte für Mill in allgemeiner Nützlichkeit fundiert und aus ihr abgeleitet. (Die politischen Konsequenzen der Idee subjektiver

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Rechte mit Blick auf die Freiheit des Individuums gegenüber der Gesellschaft [s. Kap. V.27] entwickeln Mill und Harriet Taylor [s. Kap. II.6] in dem zwei Jahre vor dem Gerechtigkeitsessay erschienen Büchlein On Liberty [s. Kap. III.13]). Im Schlussteil des Gerechtigkeitsessays zieht Mill ein selbstzufriedenes Fazit. Er glaubt gezeigt zu haben, dass der Utilitarismus verschiedene Regeltypen mit stark variierender Normativität grundsätzlich anerkennen kann und nicht auf eine Bentham’sche Reduktion auf bloße Nützlichkeit festgelegt ist. Auch eine genuin utilitaristische Morallehre, so Mills frohe Botschaft, kann die evidente psychologische Alltagserfahrung eines irreduziblen Gattungsunterschieds zwischen Gerechtigkeits- und Nützlichkeitsurteilen anerkennen und als real bestätigen. Die psychogenetische Rekonstruktion dieser Differenz im Rahmen einer Hartley’schen Assoziationstheorie beweist in Mills Augen nicht nur, dass zwischen dem Gerechten und dem Nützlichen ein echter Gattungsunterschied besteht. Sie ist aufgrund der konstitutiven Rolle, die Nützlichkeitserwägungen in ihr spielen, genuin utilitaristisch: „Is, then, the difference between the Just and the Expedient a merely imaginary distinction? Have mankind

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been under a delusion in thinking that justice is a more sacred thing than policy, and that the latter ought only to be listened to after the former has been satisfied? By no means. The exposition we have given of the nature and origin of the sentiment, recognises a real distinction“ (CW X, 255).

Literatur Austin, John: The Province of Jurisprudence Determined. London 1832. Bain, Alexander: The Emotions and the Will. London 1859. Eggleston, Ben/Miller, Dale E./Weinstein, David (Hg.): John Stuart Mill and the Art of Life. Oxford 2011. Hohfeld, Wesley N.: ‚Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning‘. In: The Yale Law Journal 23/1 (1913), 16–59. Leicht gekürzte deutsche Übersetzung in: Stepanians, Markus (Hg.): Individuelle Rechte. Paderborn 2007. Kersting, Wolfgang: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit – Kant und die Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts. In: Studia Leibniziana XIV/2 (1982). Mill, James: Analysis of the Phenomena of the Human Mind. Hg. von John Stuart Mill, with notes by Alexander Bain, Andrew Findlater and George Grote, 2 Bde., 2. Aufl. London 1869.

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Hedonismus Christian Seidel

Einer verbreiteten Auffassung zufolge schenkte Mill der utilitaristischen Tradition mit der Unterscheidung zwischen höheren und niederen Vergnügen („pleasures“) eine begriffliche Innovation und stützte seinen Utilitarismus ganz wesentlich auf die daraus erwachsene Axiologie, den sogenannten ‚qualitativen Hedonismus‘. Dieser sei jedoch inkonsistent, intellektualistisch und – wegen des lexikalischen Vorrangs höherer Vergnügen – letztlich absurd. Dieses philosophiegeschichtliche Vorurteil ist in mehreren Hinsichten verzerrt. Es ignoriert den ideengeschichtlichen Rahmen, missversteht den Gehalt des ‚qualitativen Hedonismus‘ und überschätzt dessen systematische Rolle in Mills Werk. Stutzig machen sollte, dass Mill Ausdrücke der Form ‚[H/h]edonis∗‘ in nur einem einzigen Aufsatz verwendete (CW XI, 378, 391, 418) und er sich weder in Veröffentlichungen noch in der Korrespondenz genötigt sah, seine Unterscheidung zwischen höheren und niederen Vergnügen oder die darin gründende Axiologie – trotz der zeitgenössischen Kritik, die sich auch genau daran entzündete (Schneewind 1977, 185–186) – zu verteidigen oder näher zu er-

C. Seidel (*)  Professor für Philosophische Anthropologie, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

läutern. In welchem Sinne bzw. vertrat Mill also überhaupt einen Hedonismus?

Hermeneutische Herausforderungen Die Antwort auf diese Leitfrage hängt entscheidend davon ab, was man unter Hedonismus versteht. Als ‚Hedonismus‘ bezeichnet man Positionen, in denen hēdonē – Freude, Lust bzw. Vergnügen – eine tragende Rolle spielt. Es kann sich dabei a) um empirische, b) normative oder c) begriffliche Thesen handeln. Der psychologische Hedonismus oder der motivationale Hedonismus sind z. B. empirische Thesen über die Erwägungen, die Menschen bewusst im Handeln leiten, oder über die wahren (ggf. unbewussten) kausalen Ursachen ihres Handelns. Normative Positionen hingegen sind auf Vergnügen verweisende Thesen darüber, was man tun sollte (z. B. ein deontischer egoistischer Hedonismus, demzufolge jede Person ihr eigenes Vergnügen maximieren sollte), sowie eine ganze Familie von Thesen darüber, was gut oder wertvoll ist (axiologischer bzw. auch evaluativer oder ethischer Hedonismus), teils in Kombination mit der explanatorischen These, dass etwas nur wertvoll ist, weil und insofern es Vergnügen mit sich bringt. Zur Klasse hedonistischer Positionen zählen aber auch die begrifflichen Thesen, dass das gute Leben, der Zustand des empfundenen Glückserlebens, Wohlergehen oder

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_29

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Glückseligkeit jeweils ihrer Natur nach in Vergnügen bestehen. Auch wenn Mill ein Gespür für die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Hedonismen hatte (CW X, 5), so war die Vielfalt der hedonistischen Thesen zu Mills Lebzeiten doch noch nicht analytisch ausdifferenziert. Das erschwert eine Beantwortung der Leitfrage ebenso wie die Tatsache, dass die begriffliche Emanzipation des Hedonismus vom Utilitarismus – die Trennung zwischen einer bestimmten konsequentialistischen Moraltheorie und ihren optionalen (empirischen, normativen oder begrifflichen) vergnügensbezogenen Zusatzannahmen – damals noch nicht vollzogen war. Vielmehr wurde beides im Wesentlichen miteinander identifiziert – von Mill selbst ebenso wie von seinen intuitionistischen Widersachern. Zum Teil geschah dies durch die Identifikation von „utility“ (oder „happiness“) mit „pleasure“ (CW X, 192; Whewell 1852, ix), zum Teil über eine Gleichsetzung von Utilitarismus und Epikureismus (CW X, 87, 209; CW XI, 61; CW XV, 764; Whewell 1852, ix–x). Ausdrücke mit dem Stamm ‚[E/e]picurean∗‘ verwendeten Mill et al. nämlich – in Ermangelung eines erst mit Sidgwick (1981 [1907]) etablierten Gebrauchs von ‚[H/h]edonis∗‘ und in teils nonchalanter Kaschierung des Unterschieds zwischen egoistischem Bezug auf das eigene Vergnügen und universalistischem Bezug auf das Vergnügen aller (CW XI, 61; CW XV, 764) – häufig als Bezeichnung für jene vergnügensbezogenen Positionen, die wir heute als hedonistisch bezeichnen. Zwar finden sich in Mills Spätphase Anzeichen einer einsetzenden begrifflichen Entkopplung (CW XI, 391; CW I, 48, 49). Insofern er Hedonismus bzw. Epikureismus jedoch als essentiell für den Utilitarismus ansah, blieben diese Thesen für ihn geradezu symbiotisch verquickt. Darum darf man nicht erwarten, bei Mill jeweils sauber getrennte Argumentationslinien zu finden. Diese Verquickung verschärft eine weitere hermeneutische Herausforderung, die sich aus einer doppelten strategisch motivierten Überformung des primären Bezugspunkts der Interpretation ergibt: Mills vermeintlicher Hedonis-

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mus wird meist ausschließlich anhand weniger Passagen aus Utilitarianism (s. Kap. III.12) – gelegentlich ergänzt um A System of Logic (Buch VI, Kap. xii; s. Kap. III.17) – diskutiert. Nicht nur vernachlässigt dies andere Schriften, in denen sich Mill zur Natur von Vergnügen äußert (weitere Teile von A System of Logic sowie An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy und „James Mill’s Analysis of the Phenomena of the Human Mind“). Auch überfrachtet es eine Schrift, die Mills selbst als „little work“ (CW I, 265–266) einschätzte und ursprünglich in einem populären Magazin mit breitem Adressatenkreis veröffentlichte, mit einer philosophischen Erwartungshaltung, die nicht zur strategischen Zielsetzung des Autors passt. Wie Mill unverblümt klarmachte (CW X, 207–208), ging es ihm in Utilitarianism nämlich nicht primär um eine philosophische Abhandlung, sondern (u. a.) darum, populäre Missverständnisse des Utilitarismus auszuräumen (was Zeitgenossen auch genau so verstanden, vgl. Sidgwick 1981 [1907], 93n1). Zugleich ist Utilitarianism auch von dem Bemühen geprägt, Mills frühere Kritik am Bentham’sche Erbe (s. Kap. II.2) zu vollenden und dem Utilitarismus ein neues, adäquateres Fundament zu geben, das auch Elemente anderer philosophischer Traditionen (insb. des Intuitionismus) integrierte (s. Kap. II.9). So kündigte Mill, nachdem er die utilitaristische Orthodoxie in der Eröffnung von Kap. II wiedergegeben hatte, auch explizit erheblichen Klärungsbedarf an (CW X, 210) – insbesondere auch, was den Begriff des Vergnügens angeht. Wegen der begrifflichen Verquickung von Utilitarismus und Hedonismus konnte Mill dabei aber nicht zu weit gehen, ohne im Kampf um die Vorherrschaft in öffentlichen Debatten als fahnenflüchtig zu gelten und seinen intuitionistischen Widersachern in die Hände zu spielen. Dass Mill sich gegenüber einem breiteren Zielpublikum auf zugängliche Weise an einer Rehabilitation des Utilitarismus und zugleich an einer Abkehr vom Benthamismus versuchte, ohne dabei großes Aufsehen erregen zu wollen, erzeugt eine (nicht immer gesehene) Doppelbödigkeit in den für den sogenannten

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‚qualitativen Hedonismus‘ zentralen Passagen aus Utilitarianism: Es bleibt aufgrund der beschreibenden, drittpersonalen Formulierungen (wie z. B. „The creed […] holds that“, CW X, 210, oder „The utilitarian doctrine is, that“, CW X, 234) und aufgrund der Struktur des Kontexts dieser Passagen (Berger 1984, 37–38) systematisch unklar, ob Mill sich die referierte Position letztlich selbst zu eigen machte oder distanziert eine von ihm zu qualifizierende Orthodoxie wiedergab. Zudem muss man im Lichte dieser Strategie der öffentlichen Neupositionierung zu Bentham auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die in Utilitarianism ausgedrückte Affinität zum Hedonismus nur einen Deckmantel bildet, unter dem gravierende Veränderungen am axiologischen Fundament des Utilitarismus vorgenommen werden. Mill hätte sich so nämlich nach außen hin (d. h. gegenüber seinen intuitionistischen Gegnern) politisch richtig positionieren und zugleich nach innen hin (d. h. gegenüber den Bentham’schen Radicals) abgrenzen können.

Hedonismen bei Mill Dass Mill regelmäßig und durchgängig Ausdrücke mit Stamm ‚pleasure∗‘ bzw. ‚pain∗‘ verwendete und die utilitaristische Tradition mit dem Epikureismus verknüpft sah, ist ein Indikator dafür, dass die Idee des Vergnügens in seinem Werk eine systematische Rolle spielte. Auch wenn die o. g. hermeneutischen Schwierigkeiten dem Bemühen wohl grundsätzliche Erkenntnisgrenzen setzen, lohnt der Versuch, Aufschluss darüber zu gewinnen, welche Rolle dies genau ist und ob dies in Spielarten einer (empirischen, normativen oder begrifflichen) hedonistischen These mündet. Auf empirischer Ebene wurde Mill u. a. von Sidgwick (1981 [1907], 43–44) und Moore (1903, §§ 41–42) wirkmächtig eine Art psychologischer Hedonismus zugeschrieben, wonach Vergnügen das einzige Objekt menschlicher Wünsche sei – das, was Menschen sich tatsächlich wünschten, was sie im Handeln bewusst anstrebten und um dessen willen sie handeln. Die

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Grundlage solcher Zuschreibungen bilden einige Formulierungen im sogenannten ‚Beweis‘ des Utilitarismus (CW X, Kap. IV, insb. 237–238 i.V.m. 210; s. Kap. VI.43). Es herrscht jedoch weitgehend Konsens, dass der Schein trügt und Mill keinen psychologischen Hedonismus in diesem Sinne vertrat (z. B. Berger 1984, 12–23; West 2004, 102 f., 128 f.; Brink 2013, 26–29). Mill war von der frühen Kritik an Benthams einfacher Motivationstheorie (CW X, 12–13, 94–96) bis zu den späten Arbeiten (CW VIII, 842; CW XXXI, 229, 231–242) stets klar darin, dass Vergnügen und Leid, welches infolge der Handlung erwartet oder aber bereits beim Gedanken an ihren Vollzug empfunden werde, assoziationistisch verknüpft werden könne mit Dingen, die dann um ihrer selbst willen gewünscht würden und so eine Handlung motivierten, ohne dass es noch eines bewussten Gedankens an Vergnügen oder Leid bedürfe. Nicht alle handlungsmotivierenden Wünsche richten sich also in ihrem Gehalt auf Vergnügen (und schon gar nicht nur auf das eigene Vergnügen, weil wir auch zu Mitgefühl fähig sind; CW X, 60; CW XXXI, 219). Mills Position auf empirischer Ebene lässt sich dann verstehen als motivationaler Hedonismus bzgl. der (womöglich unbewussten) Ursachen unseres Handelns, der jedoch nicht einhergeht mit einem psychologischen Hedonismus bzgl. der phänomenal bewussten Objekte unserer handlungsmotivierenden Wünsche. Denn für Mill können sich unsere handlungsmotivierenden Wünsche auch auf eine Erfahrung richten, die Erfahrungen von Vergnügen mit sich bringt, nicht auf die Erfahrung von Vergnügen selbst. Auf der normativen Ebene scheint Mill einen axiologischen Hedonismus vertreten zu haben, wonach [manches/jedes/allein] Vergnügen [intrinsisch/final] wertvoll sei (CW X, 210, 234). Die jeweiligen Textstellen sind in ihrer oben genannten Doppelbödigkeit jedoch nicht zwingend. Eindeutig und durchweg aber bekennt sich Mill zur axiologischen These, dass „happiness“ der einzige finale intrinsische Wert („ultimate end“) ist: Bereits früh hatte er den axiologischen Grundsatz des Utilitarismus mit Bezug auf­

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„happiness“ – nicht „pleasure“ – formuliert (CW X, 5). In seiner teleologischen Doktrin der „Art of Life“ (CW VIII, Buch VI, Kap. xii; s. Kap. V.32) identifizierte Mill – über alle Auflagen hinweg – die Förderung von „happiness“ als den obersten teleologischen Grundsatz (CW VIII, 951) und ergänzte ab der Auflage von 1865 einen expliziten Hinweis auf Utilitarianism, welches eine Diskussion und Rechtfertigung dieses Grundsatzes biete. In der 1863 ergänzten, klärenden Fußnote zu Spencer stimmte Mill dann auch ausdrücklich der in der Terminologie von „happiness as the ultimate end of morality“ gefassten Formulierung der utilitaristischen Doktrin zu (CW X, 257). All das spricht dafür, dass ‚happiness‘ der primäre (und einzige) axiologische Bezugspunkt ist, nicht ‚pleasure‘. Natürlich würde daraus ein axiologischer Hedonismus folgen, wenn Mill sich auf begrifflicher Ebene zu der utilitaristischen Orthodoxie bekannt hätte, dass ‚happiness‘ in nichts anderem als Vergnügen bestehe. Die doppelbödige Formulierung („By happiness is intended pleasure, and the absence of pain“, CW X, 210) stützt ein solches Bekenntnis aber wieder nicht eindeutig. Andere Stellen (CW VIII, 952; CW X, 235, 236; CW XVIII, 261) legen vielmehr nahe, dass Mill eine pluralistische Glückskonzeption mit hedonistischen Elementen vertrat, derzufolge Glück mehrere Bestandteile – darunter auch Vergnügen und die Abwesenheit von Leid – habe (vgl. Berger 1984, Kap. 2). Eine solche pluralistische Glückskonzeption ergibt dann zwar zusammen mit der axiologischen These, dass ‚happiness‘ der einzige finale intrinsische Wert sei, eine pluralistische Axiologie mit hedonistischen Elementen: Insofern Glück wertvoll ist, sind auch alle seine Bestandteile wertvoll, insbesondere auch Vergnügen. Aber Vergnügen bekommt dabei seinen (derivativen) Wert verliehen aufgrund der Tatsache, dass es Teil des einzigen finalen intrinsischen Werts ist. Mill erklärte den Wert von Vergnügen also und nahm ihn nicht als final an. Damit fällt die explanatorische These eines waschechten axiologischen Hedonismus, dass etwas letztlich nur wertvoll ist, weil und insofern es Vergnügen mit sich bringt.

C. Seidel

In Mills pluralistischer Glückskonzeption und Axiologie (A)

Glück allein ist final intrinsisch wertvoll; es besteht aus Vergnügen und weiteren davon verschiedenen Arten von Dingen.

kann nun alles, was wertvoll ist, als Teil des Glücks bezeichnet werden. Wenn es Mill gelänge, einen sehr weiten Sinn von ‚Vergnügen‘ zu etablieren, in dem alles, was Teil des Glücks ist, auch als Vergnügen bezeichnet werden kann, so könnte er seine Heterodoxie als eine (A) zum Verwechseln ähnliche Position (B)

Glück allein ist final intrinsisch wertvoll; es besteht ausschließlich aus (verschiedenen Arten von) Vergnügen.

darstellen, die viel näher am hedonistischen Kern der utilitaristischen Orthodoxie läge: Vielfältig wären dann nicht die Arten von Dingen, die das Glück ausmachen, sondern die Erscheinungsformen der einen, das Glück ausmachenden Art von Ding, Vergnügen. Den sogenannten ‚qualitativen Hedonismus‘ kann man als Versuch verstehen, diese Angleichung zu leisten.

Mills ‚qualitativer Hedonismus‘ in der Diskussion Eher unstrittig ist in der Mill-Literatur, dass der sogeannte ‚qualitative Hedonismus‘ – ein Ausdruck, den Mill selbst so nie verwendet hat – als Weiterentwicklung der klassischen hedonistischen Axiologie der Radicals zu verstehen ist. Diese Weiterentwicklung übernimmt Vergnügen als axiologischen Bezugspunkt, ergänzt aber eine andere Konzeption davon, was den Wert von Vergnügen ausmacht: Demnach unterscheiden sich Vergnügen hinsichtlich ihrer ‚Qualität‘ und diese Unterschiede in der ‚Qualität‘ beeinflussen die Wertigkeit eines Vergnügens in einer Weise, die einen praktischen Unterschied macht.

29 Hedonismus

Strittig war und ist allerdings, wie weit dabei die Kontinuität mit und wie weit die Abgrenzung von den Radicals reicht. Schon Zeitgenossen sahen in Mills Weiterentwicklung eine einer Abkehr gleichkommende Konzession an den Intuitionismus (z. B. Stephen 1902, 306). In der gegenwärtigen Literatur wird insbesondere diskutiert, (a)

wie neu die Unterscheidung hinsichtlich der Qualität von Vergnügen war;

(b)

was genau Mill unter der Qualität eines Vergnügens verstand und ob sie letztlich nicht doch auf die traditionelle Quantität zurückführbar ist;

(c)

wie genau die Extension der Unterscheidung zu verstehen ist und wie man bestimmt, welche Qualität ein Vergnügen hat;

(d)

welche axiologische Rolle die Qualität eines Vergnügens genau spielt, insbesondere gegenüber der Quantität.

Für all diese – voneinander nicht unabhängigen – Fragen spielt es eine Rolle, (e)

was genau für Mill eigentlich die Natur von Vergnügen war.

Dabei ist es wichtig, neben Utilitarianism weitere Schriften einzubeziehen, in denen Mill sich mit (der Natur von) Vergnügen befasste. Zu (a): Mill war nicht der erste, der zwischen Vergnügen höherer und niederer Qualität unterschied. Die Grundlage für eine solche Unterscheidung findet sich bereits in der Antike und dürfte Mill maßgeblich beeinflusst haben (vgl. u. a. Gibbs 1986, 31–41; s. Kap. II.8). Umstrittener ist, welchen Einfluss Hutcheson (1755, 117–119), der diese Unterscheidung auf verblüffend ähnliche Weise charakterisierte, auf Mill hatte (vgl. etwa Saunders 2011, 190) und inwiefern Mills Unterscheidung auf Harriet Taylor (s. Kap. II.6) zurückging, die in „On Marriage“ (Taylor 1984 [1832–33?], 375, 377) sowie in Tagebucheinträgen sehr ähnliche Unterscheidungen bemühte (dazu Jacobs 2002, 16, 17, 251 vs. McCabe 2017, 119). Bedeutsam ist jedenfalls, dass verwandte Unterscheidungen zu Mills Lebzeiten bereits verbreitet waren –

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sowohl unter den intuitionistischen Widersachern als auch unter den Radicals selbst. So hatte bereits Hartley – auf den sich Vater und Sohn Mill in ihrer assoziationistischen Psychologie beriefen – zwischen verschiedenen Arten von Vergnügen unterschieden (Hartley 1749, Prop. 6, Prop. 33). Bentham klassifizierte sowohl „pleasures“ als auch „pains“ der Art nach („sorts“, „kinds“; Bentham 1996 [1789], Kap. V). Auch James Mill unterschied verschiedene Arten von Vergnügen und sprach ihnen – über Bentham hinausgehend – sogar unterschiedliche Wertigkeit zu (J. Mill 1869, Kap. 1, 8; vgl. auch CW I, 50, 51). Man sollte Mills Bruch mit der Tradition der Radicals also an der richtigen Stelle verorten: Das Neue bestand weniger in einer Unterscheidung innerhalb der Vergnügen als vielmehr in der axiologischen Bedeutung, die Mill dieser Unterscheidung beimaß. Insofern ist der eine Wertigkeit konnotierende Ausdruck ‚quality‘, den Mill neben ‚kind‘ verwendete und der dem sogenannten ‚qualitativen Hedonismus‘ seinen Namen gibt, treffend. Zu (b): Allerdings ist die Idee der Qualität von Vergnügen systematisch mehrdeutig (Perry 1967). Damit kann eben die Wertigkeit, Trefflichkeit oder Vorzüglichkeit des Vergnügens gemeint sein, also das Maß, in dem etwas Eigenschaften aufweist, die es zu einem vortrefflichen Exemplar seiner Gattung machen. Manchmal aber wird ‚Qualität‘ auch im Sinne von Beschaffenheit verwendet, um – eben qualitative – Anders- oder Gleichartigkeit in der Gesamtheit der für eine Sache wesentlichen Eigenschaften auszudrücken. Und schließlich kann mit Qualität auch eine ganz bestimmte Eigenschaft eines Vergnügens gemeint sein, nämlich der Erfahrungsaspekt bzw. die phänomenale Qualität einer (vergnüglichen) Erfahrung: wie genau sich das Vergnügen anfühlt. Mills Werk enthält Textevidenz für alle drei Verständnisse. Entsprechend wird die Frage, was genau Mill meinte, wenn er in Bezug auf Vergnügen von Qualität sprach, kontrovers diskutiert (vgl. Gibbs 1986, 41 f.; Donner 1998, 261–263; Miller 2010, 55; s. Kap. VI.43). So scheint Mill die entschiedene Präferenz kompetent Urteilender (EPKU) zunächst als ein

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Kriterium zur Bestimmung (von Unterschieden in) der Qualität von Vergnügen anzukündigen und dann zu beschreiben, wie man die Wertigkeit eines Vergnügens feststellt (CW X, 211). Dann wäre die Qualität eines Vergnügens einfach seine Wertigkeit. Dagegen spricht allerdings, dass Mill den ‚qualitativen Hedonismus‘ unmittelbar davor als innovative Konzeption davon motivierte, was die Wertigkeit von verschiedenen Arten von Vergnügen ausmacht. Mit Qualität scheint hier vielmehr eine intrinsische Eigenschaft eines Vergnügens gemeint, in der sich Vergnügen unterscheiden und sie (mehr oder weniger) wertvoll machen. Das lässt noch offen, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art („kind“) oder der phänomenale Erfahrungsaspekt eines Vergnügens dies leistet. Stellenweise scheint Mill „quality“ und „kind“ in Bezug auf Vergnügen synonym zu verwenden (CW X, 211; CW XXVII, 663; vgl. die Ersetzung in CW VIII, 857). Allerdings unterschied Mill in seinem philosophisch genaueren Werk System of Logic durchaus terminologisch scharf zwischen beidem (vgl. Hoag 1992, insb. 264–270): Er verstand „kinds“ im Sinne natürlicher Arten (CW VII, 122–123) und „quality“ als eine intrinsische Eigenschaft einer Empfindung, nämlich deren phänomenale Qualität (CW VI, 65–67, 73). Das spricht eher für eine Deutung von Qualität als Erfahrungsaspekt (vgl. West 2004, 56–57, 71–72). Alternative Verwendungsweisen wären dann derivativ: Da Mill zufolge Unterschiede in intrinsischen Eigenschaften Erfahrungen der Art nach verschieden („different in kind“) machen können, kann die phänomenale Qualität eines Vergnügens es zu einem Vergnügen anderer (Qualität als) Art machen. Und manche dieser Arten von Vergnügen haben eben eine höhere (Qualität als) Wertigkeit. In jedem Fall wäre (phänomenale) Qualität dann als weitere intrinsische Eigenschaft eine eigenständige – entgegen z. B. Sidgwick (1981 [1907], 94–95, 120–121) nicht auf Quantität reduzierbare – Bewertungsdimension. Zu (c): Mill bemühte verschiedene Kontraste, um Unterschiede in der Qualität von Vergnügen zu illustrieren (CW X, 210–212): animalische Vergnügen vs. solche, die spezifisch mensch-

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liche Vermögen erfordern; Vergnügen der sinnlichen Erfahrung vs. Vergnügen des Intellekts, des Gefühls, der Vorstellungskraft und der moralischen Gefühle; körperliche vs. mentale Vergnügen. Es ist keineswegs klar, dass diese Unterscheidungen trennscharf sind oder alle zusammenfallen. Auch darum sollte man die illustrierenden Kontraste nicht als definitorische Festlegungen von niederen („lower“) und höheren („higher“) Vergnügen missverstehen. Offen ist ohnehin, ob Mill diese Unterscheidung als binäre Klassifikation (so z. B. Rawls 2007, 259– 263) oder als graduellen Vergleich (so z. B. Crisp 1997, 30; Saunders 2017, 322 f.) verstand. Die oben genannten Kontraste legen die binäre Lesart nahe, doch viele Formulierungen können auf beide Weisen gedeutet werden. Selbst die Stelle, an der Mill explizit von „both classes of pleasures“ spricht (CW X, 213), ist im Kontext betrachtet mit der komparativen Lesart vereinbar (Crisp 1997, 30). Die Passage zur EPKU (CW X, 211) wiederum legt eine solche komparative Lesart nahe, weil das Kriterium zur Bestimmung (von Unterschieden in) der Qualität jeweils auf zwei gegebenen Vergnügen operiert. Manchmal wird die EPKU nicht als evidentieller Indikator verstanden (der anzeigt, wann ein Vergnügen zu den höheren gehört), sondern als konstitutives Definitionsmerkmal, das ein Vergnügen zu einem höheren macht (so z. B. Millgram 2000, 296 f.). Dagegen sprechen jedoch nicht nur systematische Bedenken (Brink 2013, 57; Saunders 2011, 200) und werkimmanente Spannungen (Hoag 1992, 271), sondern auch, dass Mill die EPKU als „Test“ oder „Messregel“ bezeichnet (CW XXVII, 663; CW X, 214). Entsprechend überwiegt die evidentielle Lesart (z. B. Crisp 1997, 36; Schmidt-Petri 2003, 103; Saunders 2017, 321 f.). In seiner Anwendung zeichnet das EPKUKriterium dann wohl jene Vergnügen als höhere aus, welche die Gesamtheit der (in Mills Augen spezifisch menschlichen) mentalen Vermögen zu einem höheren Grad aktivieren – was nicht nur intellektuelle, sondern auch affektive, ästhetische, soziale, moralische und deliberative Vermögen einschließt (vgl. Hoag 1992, 276; Donner 1998, 271–277; Miller 2010, 59 ff.). Die so

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verstandenen höheren Vergnügen unterscheiden sich dann auch in ihrer phänomenalen Qualität von niederen: Sie fühlen sich anders an, weil sie das Ergebnis der Aktivierung anderer Vermögen sind. Zu (d): Mill spricht ihnen auch eine höhere Wertigkeit zu. Die genaue axiologische Rolle von Unterschieden in der (phänomenalen) Qualität und ihr Verhältnis zu Unterschieden in der Quantität von Vergnügen sind allerdings umstritten. Manchmal wird Mill so verstanden, als habe er den höheren Vergnügen lexikalischen Vorrang eingeräumt: Jedes (quantitativ) noch so kleine, (qualitativ) höhere Vergnügen sei mehr wert als jedes (quantitativ) noch so große, (qualitativ) niedere Vergnügen (Riley 2003, 415–416). Allerdings besagt die EPKU-Passage genau genommen lediglich, dass die Präferenz der kompetent Urteilenden in solch einem Fall hinreichend (und nicht, dass sie notwendig) für die höhere Wertigkeit eines Vergnügens ist (Schmidt-Petri 2003). Zudem nennt Mill auch ein Kriterium für den Fall, dass die implizit vorausgesetzte Annahme gleicher Quantität der zu vergleichenden Vergnügen nicht erfüllt ist (Miller 2010, 57–59). Das Neue an Mills Weiterentwicklung des Bentham’schen Erbes bestand dabei nicht darin, dass er den Wert eines Vergnügens von mehreren Aspekten abhängig machte. Die Neuerung war vielmehr, dass er der (phänomenalen) Qualität von Vergnügen eine eigenständige axiologische Rolle einräumte. Genau damit handelte er sich bereits früh die wirkmächtige Kritik ein, dass die Unterscheidung zwischen Vergnügen höherer und niederer Qualität unvereinbar mit der Grundannahme seines (vermeintlichen) axiologischen Hedonismus sei, dass ausschließlich Vergnügen intrinsisch wertvoll seien (vgl. u. a. Bradley 1876, 105–109; Sidgwick 1981 [1907], 94–95). Wenn man jedoch unterscheidet zwischen Thesen darüber, welche Dinge (intrinsischen) Wert haben, und Thesen darüber, aufgrund welcher (intrinsischen) Eigenschaften Dinge ihren intrinsischen Wert haben, dann geht dieser Inkonsistenzvorwurf ins Leere (vgl. z. B. Donner 1998, 264; Miller 2010, 56–57).

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Zu (e): Die Einschätzung, wie weit bei Mills sog. qualitativem Hedonismus die Kontinuität mit und wie weit die Abgrenzung von den Radicals reicht, hängt auch davon ab, was genau für Mill eigentlich die Natur von Vergnügen war. Denn der – für alle Hedonismen zentrale – Begriff des Vergnügens („pleasure“) ist systematisch mehrdeutig (vgl. u. a. Perry 1967): Einerseits kann damit – wie bei Benthams Verständnis von „pleasures“ als „interesting perceptions“ (Bentham 1996 [1789], V.1, 42) – ein (sinnes-) empfindungsähnlicher Zustand mit einer angenehmen phänomenalen Qualität gemeint sein (‚kindliches Vergnügen empfinden‘) oder ein intentionaler Zustand mit einem propositionalen Gehalt (‚Vergnügen daran finden, dass …‘). Andererseits kann mit Vergnügen aber auch diejenige Tätigkeit oder Erfahrung gemeint sein, die mit solchen Zuständen einhergeht oder sie hervorrufen (‚X tun ist ihr größtes Vergnügen‘). Diese – bereits im namensgebenden griechischen Ausdruck ἡδονή angelegte – Mehrdeutigkeit schlägt sich auch in Mills Verwendung des Ausdrucks ‚pleasure‘ nieder. Für die mentalistische Deutung, wonach Vergnügen für Mill vergnügliche mentale Zustände sind, sprechen verschiedene Stellen aus den theoretischeren Schriften: Vergnügen fallen dort unter Mills Oberbegriff für mentale Zustände – „feelings“ –, und an verschiedenen Stellen in seine verschiedenen Unterkategorien wie „emotions“, „sensations“ oder „thoughts“ (CW VII–VIII, 47, 51–54, 75; CW IX, 430–435; CW XXXI, 225–226, 239, 247, 251; vgl. auch CW VIII, 984, CW X, 50–51, 237, 238). Die aktivistische Deutung, wonach Vergnügen für Mill vergnügliche Tätigkeiten sind (Rawls 2007, 259; Brink 2013, 54–55, 60–63, 66–67), kann sich darauf berufen, dass Mill den Ausdruck ‚pleasure‘ in Utilitarianism an manchen Stellen in einem viel weiteren Sinne verwendet und darunter Tätigkeiten, Güter und Lebensweisen zu fassen scheint (CW X, 211–213, 235); dass er gerade die höheren Vergnügen („pleasures of the intellect, of the feelings and imagination, and of the moral sentiments“) von den „pleasures […] of mere sensation“ abgrenzt (CW X, 211); und

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dass er gerade (und nur) im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen höheren und niederen Vergnügen auch von „enjoyments“ spricht (CW X, 211–212, 214–215, 217) – ein Ausdruck, der einen engeren, auf Tätigkeiten bezogenen Sinn hat (Perry 1967, 61–63; Hoag 1992, 253–254). Vielleicht ist diese Vermischung von vergnüglichen Aktivitäten und vergnüglichen Empfindungen letztlich Ausdruck einer tieferen Einsicht: dass bei demjenigen Vergnügen, das zählt, beides wesentlich miteinander einhergeht (Saunders 2017, 325). Vergnügen wäre demnach eine Art Tätigkeitsvergnügen: ein Erfahrungszustand in der Tätigkeit, der die (in der Tätigkeit vollzogene) Ausübung oder Entwicklung von Vermögen erst in der richtigen Weise aktiviert. Je mehr Vermögen aktiviert werden und je höher der Aktivierungsgrad, desto wertvoller ist das Vergnügen. Eine solche Deutung enthält mit der – Mill aus seiner „Krise“ (CW I, 137 ff.) persönlich vertrauten – aristotelischen Vorstellung, dass im guten Leben erst das Vergnügen eine Tätigkeit vollkommen macht, eine weitere Neuerung gegenüber dem Bentham’schen Erbe.

Systematische Rolle hedonistischer Elemente in Mills Gesamtwerk Trotz verschiedener hedonistischer Elemente bleibt letztlich unterbestimmt, ob und in welchem Sinne Mills Position schlussendlich als hedonistisch zu bezeichnen ist. Vielleicht hätte eine definitive Klärung aber auch keine besondere Relevanz. Hedonistische Ressourcen scheinen nämlich systematisch betrachtet in Mills Gesamtwerk kaum eine begründungstragende Rolle zu spielen. Denn die zentralen Argumentationslinien für die normativen Eckpfeiler von Mills sozialreformerischem Programm berufen sich kaum expressis verbis auf ‚pleasures‘ und ‚pains‘. So gibt es in Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) zwar mehr als 60 Vorkommnisse von „pleasures“, in denen Mill Vergnügen bzw. Verhinderung von Leid teils mit „utility“ – und nicht mit „happiness“ – (CW II, 8, 46–47, 48, 50), teils auch mit „bene-

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fit“ (CW II, 34, 45, 51) gleichsetzt. In argumentativer Funktion tauchen Vergnügen jedoch nur in der Auseinandersetzung mit dem Fourierismus auf (CW II, 212–213; vgl. Appendix CW III, 983–984). Dort machte Mill sich aber keine hedonistische Axiologie zu eigen, sondern gestand um des Arguments willen zu, dass die Vergnüglichkeit einer Tätigkeit tatsächlich die Produktivität entscheidend beeinflusse, um dann geltend zu machen, dass die Vergnüglichkeit von der Freiheit abhänge. Vergnügen waren lediglich bei untergeordneten Implikationen begründungstragend (CW III, 755, 869). Ähnliches gilt auch für die demokratietheoretische Hauptschrift Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14). Dort gibt es insgesamt 19 relevante Vorkommnisse des Ausdrucks ‚pleasure‘, darunter mehrere, in denen Mill – anders als in Principles of Political Economy – „pleasures“ als Gegenbegriff zum „public good“ mit egoistischen Interessen gleichsetzte (CW XIX, 328, 489). Die Argumente zur Repräsentativregierung basieren jedoch nicht auf einer expliziten Bilanzierung von ‚pleasures‘ und ‚pains‘. Mill schien eine solche Bilanz allenfalls als epistemischen Indikator für Interessen anzusehen (CW XIX, 637). Auch On Liberty (s. Kap. III.13) greift nicht – wie man angesichts der überlappenden Entstehungszeiten und Nähe der Publikationszeitpunkte erwarten könnte – auf die hedonistischen Ressourcen aus Utilitarianism zurück: Mill leitet das ‚harm principle‘ ja nicht aus einer Vergnügensbilanz ab. Unter den 12 Vorkommnissen von ‚[dis]pleasure‘ haben nur zwei Stellen überhaupt eine argumentative Funktion (CW XVIII, 270, 278). Am ehesten noch scheinen hedonistisch anmutende Überlegungen in The Subjection of Women (s. Kap. III.16) eine tragende Rolle zu spielen. Unter den 18 relevanten Vorkommnissen von ‚pleas∗‘-Ausdrücken ist eines begründungsbezogen. Mill fasst dort in einer Zwischenbilanz seine Begründung als eine Betrachtung von „Vergnügen und Vorteilen“ des Ehebunds zusammen (CW XXI, 335). Die beiordnende Formulierung macht jedoch auch hier deutlich, dass Mills Argumentation nicht allein auf Vergnügen beruht.

29 Hedonismus

Wenn es also darum geht, für konkrete sozialreformerische Vorschläge zu argumentieren, so bilden hedonistische Elemente für Mill kaum eine eigenständige argumentative Ressource. Das erklärt dann auch, warum Mill sich – trotz der zeitgenössischen Kritik daran – nie genötigt fühlte, seine vermeintlich hedonistische Axiologie näher zu erläutern: Auf sie kam es für seine normativen Schlussfolgerungen gar nicht an.

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Individualität Thomas Schramme

Individualität stellt für Mill eine Quelle und gleichzeitig ein Ziel individuellen und gesellschaftlichen Fortschritts dar. Individualität ist ein Element des Wohlergehens, wie die Überschrift des dritten Kapitels seiner Freiheitsschrift (s. Kap. III.13) festhält. Individualität ist somit ein vorrangiges Ziel der Erziehung, Bildung (s. Kap. V.24) und guten Regierung (s. Kap. III.14). Zudem kann Individualität, ausgedrückt in verschiedensten Lebensexperimenten, die Entwicklung einer Gesellschaft voranbringen (CW XVIII, 267; s. Kap. V.26, V.30). Es sollte insofern nicht überraschen, dass Individualität ein zentrales Konzept des Mill’schen Denkens darstellt. Schließlich war sein Denken insgesamt auf die Verbesserung der Menschheit und der Lebensverhältnisse gerichtet (Robson 1968). Die wesentlichen Überlegungen Mills zum Ideal der Individualität finden sich im bereits genannten Abschnitt seines Werks On Liberty (CW XVIII, 260–275). Andere seiner Werke bilden den Kontext, den ein vollständiges Verständnis erfordert. Insbesondere seine Überlegungen zur Willensfreiheit in der Logic (s. Kap. III.17) und

T. Schramme (*)  Professor für Philosophie, University of Liverpool, Liverpool, Großbritannien E-Mail: [email protected]

seine Theorie der höheren Freuden im Essay Utilitarianism (s. Kap. III.12) sind zu nennen. Der schillernde Begriff der Individualität muss in seinen verschiedenen Facetten beleuchtet werden. Für Mill ist insbesondere das Verhältnis von Originalität – der Besonderheit eines Individuums – und sozialen Konventionen sowie kulturellen Sitten relevant. Mill scheint bisweilen ein Leben abseits der gesellschaftlichen Norm zu propagieren, doch seine Theorie ist komplex. Trotz der Relevanz äußerer Umstände erfordert die Entwicklung von Individualität eigene Einflussmöglichkeiten, genuin eigene Lebensexperimente. Aus dem Denken Mills ergibt sich ein potenzieller Konflikt zwischen der Gewährung von individueller Freiheit und dem Anspruch, eine Gesellschaft zu erzeugen, in der sich Menschen gegenseitig zur Verbesserung ihrer selbst anspornen.

Der Begriff der Individualität Wie andere seiner zentralen Begriffe, changiert der Begriff der Individualität zwischen verschiedenen Bedeutungshorizonten (Arneson 1980, 479–480). Im Vordergrund steht das Konzept der Authentizität: ein Mensch zu sein, der man sein möchte oder tatsächlich ist. Dies ist die Idee, man selbst zu sein; mit sich eins zu sein. Ein solcher Anspruch, der uns heute so vertraut erscheint, war zu Lebzeiten Mills

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weniger bekannt. Für die meisten Menschen war Authentizität ein unerreichbares Ideal, waren sie doch gesellschaftlich festgelegt auf bestimmte Existenzweisen und Rollen. Mill stemmt sich vehement gegen das Joch der sozialen Kontrolle und verteidigt eine Sphäre, in der das Individuum ganz es selbst sein kann. Individualität kann auch Einzigartigkeit oder Originalität bedeuten. Hier ist nicht das Selbstverhältnis thematisch, sondern das Verhältnis zu anderen Menschen. Jedes Individuum ist – zumindest in gewissen Grenzen – anders als ein anderes. Bei der Ausbildung der eigenen Individualität folgt ein Individuum, das diesen Namen verdient, nicht einfach der Meinung anderer, sondern es entwickelt sich selbst, wenn auch in Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit anderen (Donner 2017, 429). Zudem wird Individualität im Denken Mills zu einem spezifischen Ideal der Selbstentwicklung. Man selbst zu sein oder auch besonders zu sein, könnte durchaus mit elendigen Lebensweisen und moralisch niederträchtigen Charaktereigenschaften einhergehen. Für Mill ergibt sich aus seinen Überlegungen zu den höheren Freuden eine normative Einhegung der spezifischen Formen von Individualität, die als Bestandteil des menschlichen Glücks gelten können (s. Kap. V.29, V.35). Kurz, er vertritt eine perfektionistische Position. „It really is of importance, not only what men do, but also what manner of men they are that do it“ (CW XVIII, 263; vgl. auch Ladenson 1977). Soweit ist in erster Linie der innere, psychologische Charakter einer Person im Blick, der ein menschliches Wesen mit Individualität ausstattet. Individualität muss sich darüber hinaus in der Welt zeigen, sich in Handlungen ausdrücken. Ein Individuum will sich selbst verwirklichen. Um dies zu ermöglichen, müssen Menschen so frei wie möglich sein. Das Ziel der Individualität hat somit eine direkte Verbindung zu politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies ist die Freiheit von Zwang. Wenn Individualität sich idealerweise in spezifischer Form zeigt, dann kann Freiheit diesem Verständnis zufolge darüber hinaus eine

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bestimmte Form des Freiheitsgebrauchs ausdrücken, nämlich individuelle Autonomie. An dieser Stelle zeigt Mills Denken deutlich die Verbindung von Freiheit mit dem guten Leben für Menschen. Insofern ist er kein klassisch liberaler Denker, für die Freiheit in bloßer Abwesenheit von Zwang besteht, also in negativer Freiheit (s. Kap. V.27). Individualität ist selbst ein Entwicklungsziel, ein Ideal der individuellen Selbstbestimmung (Semmel 1984, 166; Schramme 2015, 55). Mill zufolge kann ein Mensch auch in Situationen unfrei sein, in denen er Handlungsfreiheit besitzt. Das geschieht dort, wo er sich nicht selbst entwickelt beziehungsweise nicht selbst seinen Willen formiert hat. In einem Wort: Freiheit erfordert, einen freien Geist zu besitzen (Baum 2000, 25–31). Der Begriff der Individualität findet sich im Werk Wilhelm von Humboldts, auf den Mill wiederholt zustimmend verweist (s. Kap. II.5). Humboldt hatte das Konzept mit einer jeweiligen „Eigentümlichkeit“ von Menschen verbunden (Humboldt 1903, 103). Ebenso wie Humboldt vertritt Mill eine entwicklungspsychologische Auffassung, welche die Formung des Charakters eines Menschen in den Vordergrund stellt. Dabei ist er wie Humboldt der Meinung, dass es nicht eine bestimmte Form gibt, zu der Menschen sich entwickeln sollten. Individualität verlangt Originalität – da sind sich beide einig. Ebenso wie Humboldt zielt Mill auf die ‚höchste Bildung‘ der spezifischen Vermögen eines Menschen. Allerdings will Mill nicht einfach nur eine authentische Ausprägung des Charakters erreichen, die jeweils für jeden einzelnen Menschen spezifisch ist. Seine Idee der Individualität ist normativ eingehegt. Gelingende Originalität ist nur möglich, wo eine dem Menschen gemäße Ausprägung des eigenen Charakters erreicht wird. Ein Ideal des Menschseins, welches die höheren Freuden notwendig einschließt, begrenzt gelingende Selbstbestimmung. Ein Individuum zu sein bedeutet, die charakteristische Ausstattung eines menschlichen Wesens („distinctive endowment of a human being“, CW XVIII, 262) zu entwickeln.

30 Individualität

Originalität versus soziale Konventionen Für Mill stehen Individualität und Sozialität nicht grundsätzlich im Gegensatz (Donner 1991, 147–148; Höntzsch 2010). Menschen benötigen sich gegenseitig bei der Ausbildung ihres Charakters und bei der Verwirklichung ihrer individuellen Lebensvorstellung. Zudem kann die Verbindung zu anderen eine Quelle des eigenen Glücks darstellen (CW X, 231). Gleichwohl ist Mill sehr bewusst, dass andere Menschen zur Gefahr für die freie Ausbildung von Individualität werden können. Die Tyrannei der Mehrheit zeigt sich nicht nur im politischen Raum, sondern ebenso im täglichen Miteinander (s. Kap. II.7). Sozialer Druck kann bis zur „Versklavung der Seele“ führen (CW XVIII, 219–220). Sozialer Druck kommt insbesondere durch verbreitete Meinungen, Konventionen, Sitten und Gebräuche zustande. Entsprechend ablehnende Worte finden sich bei Mill bezüglich der Tendenz vieler Menschen, anderen gedankenlos zu folgen und sich – metaphorisch gesprochen – in Formen pressen zu lassen (CW XVIII, 267– 268). Doch es wäre falsch, Mill nun zu unterstellen, dass ein Leben abseits der gesellschaftlich tradierten Normen als solches schon Individualität garantiert. Bisweilen klingt Mill tatsächlich so, als sei Originalität mit Exzentrizität gleichzusetzen. Gleichwohl sieht Mill die besonders individuellen Charaktere, die von ihm auch als Genies bezeichnet werden (CW XVIII, 267–268), eher als Wegbereiter in einer insgesamt kulturell geschlossenen und verkrusteten Gesellschaft. Durch ihre Individualität können diese Genies vorbildhaft aufzeigen, dass andere Lebensformen möglich wären. In Analogie zu Mills Argumentation für Äußerungsfreiheit (CW XVIII, 258; Ten 2008, 7–8; s. Kap. V.33) können originelle Individuen kulturelle Dogmas aufzeigen, die sich möglicherweise längst überlebt haben. Durch ihre Lebensweise verlangen sie Argumente für überkommene Konventionen und warum man ihnen folgen sollte. Wo diese Begründungen scheitern, können kul-

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turelle Normen nicht allgemein verpflichten. Genies sind damit auch Verteidiger der individuellen Freiheit, denn sie zeigen auf, in welcher Weise Individualität droht, gesellschaftlich erstickt zu werden. Alles in allem sieht Mill keinen strikten Gegensatz zwischen kulturell tradierten Lebensvorstellungen und Individualität. Doch sollten Individuen verstanden und durchdacht haben, warum sie so leben, wie sie leben. Blind anderen zu folgen, beruht auf keiner eigenen Wahl. Ohne diese Aktivität des Wählens wiederum fehlt ein wesentliches Element der individuellen Entwicklung, nämlich die aktive Ausübung spezifisch menschlicher Fähigkeiten (CW XVIII, 262).

Formung von Individualität Inwiefern sich Menschen in ihren charakterlichen Eigenschaften selbst formen können, ist eine wichtige Frage, die nicht nur Mill beschäftigte. Gäbe es keine Möglichkeit, sein individuelles Wesen selbst zu bestimmen, so wäre jeder Versuch, die eigene Entwicklung durch „innere Kultivierung“ (CW I, 147) zu steuern, zum Scheitern verurteilt. Die Ausbildung von Individualität wäre vergleichbar mit der Abrichtung eines Tieres durch äußere Einflüsse, in erster Linie durch Sanktionen. Einer solchen Auffassung hatte sich Mill vehement entgegengestemmt, insbesondere in seiner Kritik an Bentham (Heydt 2006; s. Kap. II.2). Mill hatte sich in seiner Schrift A System of Logic, dessen sechstes Buch der „Logik der Moralwissenschaften“ gewidmet ist, ausdrücklich mit der These befasst, dass der individuelle Charakter eines Menschen „für ihn und nicht durch ihn gebildet“ sei (CW VIII, 840). Mill hält diesen ‚Fatalismus‘ für falsch, vielmehr habe der Mensch zumindest eine beschränkte Macht, seinen eigenen Charakter zu formen. Auch wenn die Lebensumstände den Charakter formen, so sei doch der einzelne Mensch selbst ein Bestandteil dieser Umstände und damit in der Lage, einen Beitrag zur Selbstformung zu leisten.

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Mill benutzt eine Metapher, um sein Ideal des individuellen „Wachstums“ zu verdeutlichen: „Human nature is not a machine to be built after a model, and set to do exactly the work prescribed for it, but a tree, which requires to grow and develope itself on all sides, according to the tendency of the inward forces which make it a living thing“ (CW XVIII, 263). Bleibt man in diesem Bild eines Baumes, der ohne äußere Beschränkung wachsen soll, so sind zwei mögliche Deutungen der Ausbildung von Individualität denkbar. Zum einen die Idee, die vielleicht am deutlichsten mit dem Begriff der Authentizität verbunden ist: Zu werden, der man bereits ist, im Sinne angelegter Eigenschaften. So wie im Samenkorn eines Baums die Identität vorgezeichnet ist und nur in Grenzen durch äußere Umstände beeinflusst werden kann, so könnte man denken, Mill ginge es darum, dass Menschen ein bestehendes individuelles Wesen verwirklichen. Individualität wäre dieser Lesart zufolge eine Art Entdeckung seiner selbst. Doch andererseits kann man Individualität auch im Sinne einer Selbstwahl verstehen. So verstanden kann eine Person charakterliche Eigenschaften wählen, die sie dann verwirklicht. Individualität ist dieser Lesart zufolge eine Art Projekt; etwas, das man erfindet. Ein Baum kann sich selbst nicht entscheiden, in eine bestimmte Richtung zu wachsen, aber ein Mensch mag seine ‚inneren Kräfte‘, wie Mill sie in dem obigen Zitat nennt, durchaus selbst steuern können. Die beiden Interpretationen von Individualität stehen nicht im direkten Widerspruch. Individualität sollte einerseits nicht einfach als vorgegebene Größe verstanden werden, die es bloß zu entdecken gälte. Gleichwohl können wir uns Mill zufolge auch nicht in einer völlig unbeschränkten Selbstwahl erfinden. Mill kann insofern Beschränkungen der jeweils originären Ausformung von Individualität postulieren, ohne den Anspruch zu verlieren, jeweils verschiedene, authentische Versionen innerhalb dieses Rahmens zuzulassen, der wiederum durch die dem Menschen spezifische Lebensform gesetzt wird. Innerhalb dieses Rahmens bleibt Spielraum für Originalität, auch wenn manche Auto-

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ren Mill ein stärker eingegrenztes Ideal unterstellen (Collini 1989, xvii; Berlin 2002 [1959]; vgl. Höntzsch 2010, 142 ff.). Wie so häufig in Mills Denken zeigt sich hier sein Hang, extreme Sichtweisen zu umschiffen. Eine völlig entfesselte Individualität könnte im Gegensatz stehen zum moralisch geforderten Handeln oder zur Vorstellung von sinnvollen, gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen. Frühe Kritiker von Mill machten diesen Einwand (Pyle 1994, xiv; Rees 1956, 14 ff.). Doch wie schon erwähnt, stehen für Mill Individualität und Sozialität bzw. Moralität keineswegs in einem Spannungsverhältnis (Berger 1984; Riley 2010). Mill ist der Ansicht, dass nur diejenigen Ausprägungen von Individualität als gelingend gelten können, welche die sogenannten höheren Freuden verwirklichen. Diese höheren Freuden werden insbesondere erreicht durch die Betätigung der menschlichen Fähigkeiten des Intellekts, der Empfindung, der Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühls (CW X, 211). Zumindest ein Mindestmaß an Sozialität ist Mills Auffassung zufolge ein Bestandteil des vollständigen menschlichen Glücks. Hier verbindet sich Mills normative Theorie von Individualität mit seiner Theorie der höheren Freuden (s. Kap. V.29). Die höheren Freuden beruhen auf Fähigkeiten, die selbst wiederum Voraussetzungen einer von innen gesteuerten Individualität manifestieren (CW XVIII, 262–263; Gray 1996, 78; Berkowitz 1998). „Individuality is the same thing with development“ (CW XVIII, 267), da die Ausbildung von Individualität bedeutet, bestimmte spezifisch menschliche Fähigkeiten zu entwickeln. Mills Auffassung schränkt die gelingenden Formen der Individualität insofern nicht ein auf bestimmte Lebensweisen. Es geht vielmehr darum, grundlegende menschliche Fähigkeiten auszubilden, die eine Vielzahl an Lebensexperimenten erlauben (Capaldi 2004, 274; Donner 1991, 118 ff.). Mill zufolge wäre ein Leben, in dem Menschen ihre höheren Fähigkeiten nicht ausbilden oder nicht ausüben können, kein gelingendes Leben, weil es kein wirklich menschliches

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Leben wäre. Mills Perfektionismus beschränkt sich darauf, die Minimalbedingungen der Idee von gelingender Individualität zu bestimmen. Diese Bedingungen ergeben sich aus der Verfassung von Menschen als entwicklungsfähigen und entwicklungswilligen Wesen.

Lebensexperimente und die ständige Gefahr sozialer Kontrolle Damit Menschen das für sie jeweils bestmögliche Leben erreichen können, benötigen sie entgegenkommende soziale Verhältnisse. Dazu gehört die Gewährung des größtmöglichen Spielraums an individueller Freiheit (s. Kap. V.27), Unterstützung in Zeiten von Hilfsbedürftigkeit, Erziehung und Bildung (s. Kap. V.24) sowie – wo nötig – Ermunterung, das Beste aus sich zu machen. Um sich zu einem eigenständigen und authentischen Individuum zu entwickeln, müssen Erfahrungen über das eigene Leben gesammelt werden. Man muss sich ausprobieren können. Lebensexperimente sind der Weg, auf dem wir Wissen über uns selbst sammeln (CW XVIII, 267, 281, 306). Die Lebensexperimente anderer Menschen sind gleichzeitig Quellen von Erfahrungen, die uns Hinweise geben bezüglich nachahmenswerten, aber auch scheiternden Weisen sein Leben zu leben. Menschen müssen in Bezug auf ihr Leben – im starken Sinne eigene – Erfahrungen machen. Erfahrungen müssen auf ihrer eigenen Wahl beruhen und sie müssen die Konsequenzen erleben, die mit ihren Entscheidungen einhergehen. Insofern müssen Menschen so frei wie möglich sein, um sich entwickeln zu können. Natürlich existieren auch für Mill gleichwohl Grenzen der individuellen Freiheit: Wo Menschen durch ihre Art zu leben andere schädigen, findet ihre Individualität eine Begrenzung. Wo aber eine Handlung oder ein Aspekt des individuellen Lebens andere nicht betrifft, fällt es in die selbstbezogene Sphäre („self-regarding sphere“) und soll entsprechend vor Eingriffen anderer geschützt sein. Natürlich ist es eine schwierige Frage, welches Verhalten jeweils in die selbstbezogene

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Sphäre gehört (s. Kap. III.13); in welchem Fall also keine Verbote oder Strafen bestehen sollten, obwohl andere Menschen durchaus Anstoß an dem entsprechenden Lebensexperiment nehmen können und es für eine Form „elender Individualität“ halten mögen (CW X, 216). Gleichwohl, die individuelle Freiheit soll so groß wie möglich sein. Wo andere nur in ihren Vorlieben betroffen sind; wo kein Schaden für sie droht, müssen sie Expressionen von Individualität gewähren lassen. Auch wenn Mill die gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung und das Verhalten von Individuen beschränken will, bedeutet das nicht, dass er Desinteresse an deren persönlicher Entwicklung verlangt. Anders aber als im Falle der Schädigung anderer, bei denen moralische Sanktionen erlaubt sind, soll sich die Auseinandersetzung im Falle des selbstbezogenen Verhaltens in alternativer Form zeigen. Gerade wenn Menschen an anderen interessiert sind, werden sie diese ermuntern, das Bestmögliche aus sich zu machen. Diese „Ermunterung“ (CW XVIII, 277) wiederum erlaubt Mill zufolge interessanterweise Interaktionen, die sehr nahe an die Strafen heranreichen, welche von ihm innerhalb der selbstbezogenen Sphäre ausdrücklich abgelehnt werden. Insofern ergibt sich ein vordergründiger Widerspruch zum liberalen Grundprinzip Mills: „I do not mean that the feelings with which a person is regarded by others, ought not to be in any way affected by his self-regarding qualities or deficiencies. This is neither possible nor desirable. […] If he is grossly deficient in those qualities, a sentiment the opposite of admiration will follow. There is a degree of folly, and a degree of what may be called (though the phrase is not unobjectionable) lowness or depravation of taste, which, though it cannot justify doing harm to the person who manifests it, renders him necessarily and properly a subject of distaste, or, in extreme cases, even of contempt“ (CW XVIII, 277–278). Diese und ähnliche Textstellen in Mills Freiheitsschrift haben zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. Manche Autoren sehen hier das freiheitlich orientierte Credo Mills in-

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frage gestellt und sein wahres Interesse an sozialer Kontrolle durchscheinen (Hamburger 1999, 166–202). Andere verteidigen Mill, indem sie auf die Freiheit derjenigen verweisen, die ihren Unmut und ihre Geringschätzung ausdrücken können sollten (Riley 2015, 123–125). Gleichwohl, eine gewisse Spannung wird man nicht leugnen können, insbesondere da die verbreitete Ablehnung von Lebensexperimenten zur Ausgrenzung einzelner Menschen führen kann (Waldron 2003; Schramme 2020). Auch wenn kein Zwang ausgeübt wird, kann die Abneigung anderer gefährlich nahe an das von Mill beklagte Joch der Tyrannei der Mehrheit herankommen. Diese Gefahr ergibt sich aus der Wahrscheinlichkeit, dass Menschen in vielerlei Hinsicht das Ideal der gelingenden Individualität und Selbstentwicklung verfehlen werden. Somit ergibt sich in Mills Konstruktion gerade aus dem gegenseitigen Interesse von Menschen – aus der Tatsache, dass sie nicht indifferent gegenüber der Qualität des Lebens ihrer Mitmenschen sind – die ständige Gefahr sozialer Kontrolle. Wie dieser Konflikt in einer liberalen und gleichzeitig sozialen Gesellschaft zu lösen ist, wird die politische Philosophie vermutlich für lange Zeit beschäftigen.

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Kolonialismus/ Imperialismus Oliver Eberl

Kolonialismus und Zivilisation Politik und Praxis des Kolonialismus sind so tief in das Zeitalter und die Biografie (s. Kap. I.1) von John Stuart Mill eingelassen – er trat 1823 mit 17 Jahren in die East India Company ein, die er erst bei ihrer Auflösung 1858 verließ –, dass sich die Beschäftigung mit Fragen des Kolonialismus durch sein ganzes Leben hinweg in seinen Werken, Korrespondenzen und Zeitungsartikeln findet. Von Stellungnahmen zur kolonialen Politik der frühen 1830er Jahre (CW XXII und XXIII) über Schriften zum Völkerrecht aus den späten 1850er Jahren (CW XXI, 109–124) bis zum grundlegenden Kap. 18 im demokratietheoretischen Hauptwerk Considerations on Representaive Government (s. Kap. III.14) von 1861 und den verschiedenen Versionen der Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) zwischen 1848 und 1871 reichen die Auseinandersetzungen mit theoretischen und praktischen Fragen, die sich aus dem britischen Kolonialismus ergeben. Meist wird Mills Position unter dem Stichwort ‚Imperialismus‘ (Mehta 1999; Jahn 2005)

O. Eberl (*)  Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected]

und traditionell für Indien behandelt (Zastoupil 1994). Für die folgende Einordnung soll eine Unterscheidung getroffen werden zwischen einem (britischen) Siedlerkolonialismus, wie er vor allem in Australien, Kanada und Neuseeland etabliert ist, und kolonialer Herrschaft über indigene Gesellschaften, für die paradigmatisch die britische Herrschaft in Indien steht. Mill steht den ‚Colonial Reformers‘ nahe, die mehr Selbständigkeit für die Kolonien verlangen.  Während Mill Siedlerkolonien mit britischen Siedlern von zu starker Bindung an die Interessen des kolonialen Mutterstaates befreien möchte, sieht er die Regierung der Kolonialmacht in den anderen Fällen als „as legitimate as any other“, stellt sie jedoch unter die Bedingung, „if it is the one which in the existing state of civilization of the subject people, most facilitates their transition to a higher stage of improvement“ (CW XIX, 567). Die Fragen, die sich aus der kolonialen Praxis ergeben, bearbeitet Mill ausgehend von seiner schon früh entwickelten Auffassung von ‚Zivilisation‘. Die Idee der Formung vom individuellen und nationalen Charakter, die er in dem Begriff ‚Zivilisation‘ im gleichnamigen Essay (s. Kap. IV.22) zusammenfasst, hält Mill für den größten Fortschritt, den seine Philosophie gegenüber der Benthams brachte (Pitts 2006, 135). Das bedeutet, dass sich alle Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rechtfertigung und Praxis des Kolonialismus aus dem Gefälle

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zwischen ‚Zivilisierten‘ und Kolonisierten ergeben, die Mill im Anschluss an die europäische koloniale Tradition als ‚Barbaren‘ bezeichnet. Da ‚Zivilisation‘ einen Prozess des politischen Fortschritts hin zur repräsentativen Regierung bedeutet, versteht Mill es als die Aufgabe seiner Zeit, koloniale Herrschaft über nicht-europäische Gesellschaften und Fortschritt zur repräsentativen Demokratie miteinander in Einklang zu bringen. In exakt diesem Punkt führt die Grundlegung durch das Paradigma der ‚Zivilisation‘ die liberale Theorie zur Zivilisierungsmission des zeitgenössischen Kolonialismus (Osterhammel 2005). Kolonien definiert Mill in den Considerations als „dependencies, that is, which are subject, more or less, to acts of sovereign power on the part of the paramount country, without being equally represented (if represented at all) in its legislature“ (CW XIX, 562). Diese Regierungsform lässt sich nach Mill in zwei Kategorien teilen: „Some are composed of people of similar civilization to the ruling country; capable of, and ripe for, representative government: such as the British possessions in America and Australia. Others, like India, are still at a great distance from that state“ (CW XIX, 562). Mill ist sich bewusst, dass koloniale Fragen in seiner Zeit immer wichtiger werden: „As it is already a common, and is rapidly tending to become the universal, condition of the more backward populations, to be either held in direct subjection by the more advanced, or to be under their complete political ascendancy; there are in this age of the world few more important problems, than how to organize this rule, so as to make it a good instead of an evil to the subject people, providing them with the best attainable present governments, and with the conditions most favourable to future permanent improvement“ (CW XIX, 568). Es lassen sich insgesamt drei Formen kolonialer Herrschaft bei Mill unterscheiden: die von Siedlerkolonien, die Herrschaft über ‚Wilde‘ und die Herrschaft über ‚Barbaren‘. Alle drei Formen haben verschiedene Ziele und Methoden, die Mill gemäß seinem Paradigma der Zivilisation aus dem Entwicklungsstand der Beherrschten ableitet.

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Herrschaft über Siedlerkolonien Zu Beginn der 1830er Jahre war Mill begeisterter Anhänger des kolonialen Projekts in Südaustralien, von dem er sich eine Lösung der sozialen Frage durch Emigration versprach und sich an die antiken griechischen Kolonien erinnert fühlte (Bell 2010, 39). Mill war Anhänger des Kolonialbeauftragten Edward Gibbon Wakefield und hegte Hoffnungen auf eine positive Funktion des Kolonialismus für England. In seinen Artikeln vertritt Mill das Projekt einer „systematic colonization“ (CW XXII, 218). Australien erscheint ihm in den 1830er Jahren als eine Art Musterkolonie (CW XXIII, 733–737) und Emigration in die Kolonien preist er als Ausweg für die verarmten Arbeiter (CW XXII, 271–272). Duncan Bell urteilt: „Indeed he contended colonization was the most important development of the working class“ (Bell 2010, 40). Siedlerkolonialismus hat also die Funktion, die nötigen Ressourcen (vornehmlich Land) zur Behebung der Zivilisationsdefizite der verarmten einheimischen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen, die Mill wohlgemerkt für die irischen Armen wegen ihres unzureichenden Zivilisationsniveaus ausschloss (CW XXIV, 915). Während er in den Principles von 1848 noch den Verkauf von Land in diesem Sinne als vorteilhaft ansieht, tritt ein Wandel in den Ansichten Mills ein, der nun stärker auf die globalen wirtschaftlichen Vorteile eingeht (CW III, 963; Bell 2010, 43). Die Bezugsgröße ist nun nicht länger die britische Arbeiterklasse, sondern die Menschheit. In den Considerations beschreibt Mill die Beziehung Englands zu seinen Siedlerkolonien als „a step, as far as it goes, towards universal peace, and general friendly cooperation among nations“ (CW XIX, 565). Danach macht Mill einen weiteren Wandel durch, den Bell als Wechsel von einem romantischen zu einem melancholischen Kolonialismus beschreibt und auf die zunehmende Enttäuschung über die Gewalt der Siedler gegenüber den Indigenen zurückführt (Bell 2010, 52; Pitts 2006, 159–160). Doch äußerte Mill diese Skepsis nur in Briefen (CW XVII, 1599; CW XVI, 1194–

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1196; CW XVI, 1135–1136; CW XVII, 1685– 1687) und niemals öffentlich in seinen Werken (Bell 2010, 53).

Despotische Herrschaft über ‚Wilde‘ Es war James Mills explizites Anliegen, mit seiner Geschichte Indiens (Mill 1984) eine Stufentheorie der ‚Zivilisation‘ in den Utilitarismus einzuführen und somit Fortschritt und Geschichte gegen die weitgehend universalistischen Annahmen Benthams einer einzigen Regierungskunst zur Geltung zu bringen (Mehta 1999, 88). Der junge Mill erweiterte das Konzept um die Komponente der Regierungsform: In der bürgerlichen Gesellschaft verteilen sich Bildung (s. Kap. V.24) und Eigentum (s. Kap. V.25) immer weiter und werden zu Massengütern, sodass mit dem ökonomischen Fortschritt auch der Fortschritt der Regierungsform von Monarchie und Aristokratie auf Demokratie möglich ist. Ausgehend von dieser Annahme fragt Mill, „what makes all savage communities poor and feeble? The same cause which prevented the lions and tigers from long ago extirpating the race of men – incapacity of co-operation. It is only civilized beings who can combine“ (CW XVIII, 122). ‚Wilde‘ Gesellschaften bestehen nach Mill aus wenigen Individuen, die zerstreut oder als Nomaden leben und ihnen fehlt es an Handel, Industrie oder Ackerbau. ‚Wilde‘ können keine sozialen Verbindungen eingehen, weil sie ihre ‚Selbstsucht‘ nicht beherrschen können. Der erste Schritt aus diesem Zustand führt über die Sklaverei. Der Sklave „is used indeed to make his will give way; but to the commands of a master, not to a superior purpose of his own. He is wanting in intelligence to form such a purpose; above all, he cannot frame to himself the conception of a fixed rule: nor if he could, has he the capacity to adhere to it; he is habituated to control, but not to self-control; when a driver is not standing over him with a whip, he is found more incapable of withstanding any temptation, or restraining any inclination, than the savage himself“ (CW XVIII, 122).

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‚Wilde‘, so Mill, blieben ihren Affekten unterworfen, sie können keine Ziele der ‚Berechnung‘ wählen und kooperierten daher nicht. Der Sklave dagegen sei an die Kontrolle seines Willens gewöhnt, jedoch nur vermittels der Peitsche seines Herrn. Sobald er sie nicht mehr hinter sich spürt, ist er ganz seinen Neigungen, und das bedeutet wohl in Anlehnung an Adam Smith, seiner Trägheit und seinem Desinteresse, ausgeliefert. Dieser Gedanke der Selbstbeherrschung und Disziplin ist für Mills Theorie zentral. Nach Mill machen die „conditions of command and obedience“ die Menschen zu dem, „what they are, and enable them to become what they can be“ (CW XIX, 394). Im Zustand primitiver Ungebundenheit ist ein Volk „incapable of making any progress in civilization until it has learnt to obey“ (CW XIX, 394). Daher ist despotischer Zwang für Mill die angemessene und einzig mögliche Form der kolonialen Regierung von staatenlosen, häufig nomadischen Gesellschaften, wie sie in Nordamerika und Australien vorwiegend lebten. Holmes fasst zusammen: „The first step toward civilization, according to Mill’s scheme, involves the teaching of obedience or the transformation of savages into slaves. The second step involves a dramatic and and difficult change in the style of obedience, from obedience to specific commands to obedience of general rules“ (Holmes 2007, 334). Ungewollt drücken diese Sätze treffend aus, dass die Geschichte der politischen Philosophie auch eine Gewaltgeschichte ist, zu deren Insignien die Peitsche gehört (Därmann 2020, 104). Liberale Philosophie traut kolonialer Herrschaft zu, ‚Wilde‘ erst zu gehorsamen Sklaven und dann zu Demokraten machen zu können.

Patriarchalische Herrschaft über ‚Barbaren‘ ‚Barbaren‘ stehen für Mill mental und organisatorisch über den ‚Wilden‘, sie haben einen Staat gebildet und sind an Gehorsam gewohnt, aber sie schaffen es nicht aus eigener Kraft, einen Herrscher hervorzubringen, der ihnen

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den Weg zur ‚Zivilisation‘ bereitet. Genau das ist die Aufgabe der patriarchalischen kolonialen Herrschaft eines ‚zivilisierten‘ Volkes über sie. Diese koloniale Herrschaft kann nicht mehr allein auf Gewalt zurückgreifen: „They have to be taught self-government, and this, in its initial stage, means the capacity to act on general instructions. What they require is not a government of force, but one of guidance“ (CW XIX, 395). Es sei nicht mehr nötig, dass die Herrscher beständig hinter den Beaufsichtigten die Peitsche schwingen. Aus diesem Argument entwickelt Mill nun eine Empfehlung, welcher Art die koloniale Herrschaft eines ‚zivilisierten‘ Volkes mit repräsentativer Regierung über ein ‚barbarisches‘ Volk sein soll. Er wendet sich gegen die allgemeine Ansicht, dass das zur Selbstregierung unfähige Land durch einen Minister regiert werden solle, der dem britischen Parlament verantwortlich ist. Die externen Herrscher kennen die Bräuche, Gewohnheiten und ihre Bedeutungen nicht, sie wissen zu wenig über die Regierten. So entsteht eine Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten, die von Misstrauen, Unverständnis und Verachtung geprägt ist und daher den Zivilisationsprozess insgesamt gefährdet (CW XIX, 569). Direkte Herrschaft kann das beherrschte Volk nur als „warren“ [Wildgehege] halten oder „preserve for its own use, a place to make money in, a human cattle farm to worked for the profit of its own inhabitants. But if the good of the governed is the proper business of a government, it is utterly impossible that a people should directly attend to it“ (CW XIX, 569). Mill empfiehlt als „intermediate body“ die East India Company. Die durch sie ausgeübte „delegated administration“ habe drei Vorzüge: ihre eigene Macht „of deriving profit from misgovernment may be reduced“, sie kann unabhängig von Interessen Dritter handeln und sie vertritt im Mutterland die Interessen der Kolonie. Ihre Mitarbeiter kennen die Verhältnisse der Kolonie besser, wurden dort in der Regel ausgebildet und sehen eine dauerhafte Aufgabe in der Verwaltung der Kolo-

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nie. Die intermediäre Instanz hält die Besetzung von Ämtern aus dem Parteienstreit heraus und kann so die am besten qualifizierten Personen auswählen (CW XIX, 573–574). Nur der Vizekönig, als Stellvertreter der britischen Monarchie, sollte aus England kommen, so werde „the mixed government of the Crown and the East India Company“ sichergestellt (CW XIX, 576). Dies nennt Mill die „true theory of the government of a semi-barbarous dependency by a civilized country“ (CW XIX, 577). Wie kommt es aber überhaupt zu Kolonien? In der Regel ziehen nach Mills Wahrnehmung und dem Urteil seiner Zeit, die kriegerischen und unvernünftigen ‚Barbaren‘ ihre ‚zivilisierten‘ Nachbarn in einen Krieg hinein, den sie verlieren. So schildert Mill das Geschehen auch im Falle Indiens, wo die englischen Niederlassungen gegen die ‚Barbaren‘ bis zu deren Entwaffnung verteidigt werden mussten. Als Folge der Entwaffnung ging die Verantwortung für den Schutz der ‚Barbaren‘ gegenüber anderen Feinden auf die Engländer über (CW XXI, 119). Die Regierung über ‚Barbaren‘ ist also nicht Folge der Expansion der ‚Zivilisierten‘, sondern Folge des Verhaltens der ‚Barbaren‘, die zu friedlicher Nachbarschaft und Kooperation unfähig seien. Mill sieht keine Möglichkeiten, diese Konfrontation zwischen ‚Zivilisierten’ und ‚Barbaren‘ im Rahmen des Völkerrechts anders zu gestalten: „To suppose that the same international customs, and the same rules of international morality, can obtain between one civilised nation and another, and between civilised nations and barbarians, is a grave error“ (CW XXI, 118). Der Grund ist die fehlende Zivilisation der ‚Barbaren‘: „[B]arbarians will not reciprocate. They cannot be depended on for observing any rules. Their minds are not capable of so great an effort, nor their will sufficiently under the influence of distant motives. In the next place, nations which are still barbarous have not yet got beyond the period during which it is likely to be for their benefit that they should be conquered and held in subjection by foreigners“ (CW XXI, 118).

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Einordnung Postkolonialen und kritischen Lesarten stehen „apologetische“ Lesarten gegenüber (Schefczyk 2017, 239, FN 4). Letztere erkennen in Mills Positionen zum Beispiel einen Beitrag für eine Bewertung der Invasion in den Irak und anschließender Demokratieförderung (Holmes 2007). Mills Theorie sei auch für die „heutige Diskussion um Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit von großem Interesse“ (Schefczyk 2017, 237). Dagegen analysiert Dipesh Chakrabarty, wie das von Mill vertretene Konzept der britischen Herrschaft als einer Periode der Vormundschaft in Indien zu einer „Selbstspaltung des kolonialen Subjekts“ (Chakrabarty 2010, 52) und „Selbsthass“ geführt hat. Zuerst wird die indische Gesellschaft in die Oberschicht und die für den Rückstand verantwortlich gemachten Bauern gespalten und dann spaltet sich die intellektuelle Oberschicht in Anhänger der britischen Herrschaft und indische Nationalisten, die nun gegen die britischen Ideale die patriarchalische Großfamilie verteidigen, wodurch genuine Reformwege verschlossen bleiben. Auch für die von Mill gepriesene Herrschaft nach dem System von Wakefield in Kanada lässt sich eine ähnliche Problematik beschreiben. Mill verteidigte die kanadische Rebellion gegen die direkte Herrschaft aus England und hoffte, mit den von Lord Durham angestoßenen Reformen, Kanada zu einer Modellkolonie zu machen (Bell 2010, 48; CW VI, 417). Der Durham Report nach der Rebellion von 1838 empfahl die britische Assimilation der französischsprachigen Kanadier und Mill begrüßte den Zusammenschluss von Lower und North Canada als „only legitimate means of destroying the-so-muchtalked-of-nationality of the French Canadians“ (CW VI, 458). Ein Mitautor des Reports, Adam Thom, wurde von der Hudson’s Bay Company zum Präsidenten des Red River Courts ernannt und damit die Position der Company gegen die Interessen an „responsible government“, in

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der die indigenen und franko-indigenen Gruppen mehr Rechte gehabt hätten, gestärkt (Teillet 2019, 130). Weder in Indien noch in England wurden die Interessen der indigenen Bevölkerung an Selbstrepräsentation berücksichtigt. Es gibt keinen Kolonialismus, der dieses Dilemma lösen kann, auch wenn Mill geglaubt hat, dazu beitragen zu können.

Literatur Bell, Duncan: John Stuart Mill on Colonies. In: Political Theory 38/1 (2010), 34–64. Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, aus dem Englischen von Robin Cackett. Frankfurt a. M./New York 2010. Därmann, Iris: Undienlichkeit: Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin 2020. Holmes, Stephen: Making Sense of Liberal Imperialism. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassessment. Cambridge 2007, 319–346. Jahn, Beate: Barbarian Thoughts: Imperialism in the Philosophy of John Stuart Mill. In: Review of International Studies 31 (2005), 599–618. Mehta, Uday Sing: Liberalism and Empire. A Study in Nineteenth-Century British Liberal Thought. Chicago/London 1999. Mill, James: The History of British India [1817]. Associated Publisher House 1984. Osterhammel, Jürgen: „The Great Work of Uplifting Mankind“: Zivilisierungsmission und Moderne. In: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005, 363–425. Pitts, Jennifer: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton/Oxford 2006. Schefczyk, Michael: „Die wahre Theorie der Regierung eines zivilisierten Landes über eine halbbarbarische Kolonie“ – John Stuart Mill über Kolonialismus und die East India Company. In: Daniel Jacob/Bernd Ladwig/Cord Schmelzle (Hg.): Normative Fragen von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Baden-Baden 2017, 237–265. Teillet, Jean: The Northwest is Our Mother. The Story of Louis Riels People, the Métis Nation. Toronto 2019. Zastoupil, Lynn: John Stuart Mill and India. Stanford 1994.

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Lebenskunst Simon Derpmann

Innerhalb des Gesamtsystems der praktischen Philosophie John Stuart Mills erfüllt der Begriff der Lebenskunst, oder der „art of life“ und der dazugehörigen „theory of life“, eine zentrale systematische Funktion. Die Abschnitte über die Kunst oder das Handwerk des Lebens haben in der Rezeption der Mill’schen Philosophie besondere Bedeutung, weil in ihnen Ansatzpunkte zu finden sind, mit denen sich die mitunter sehr disparaten Positionen Mills innerhalb der praktischen Philosophie in ein kohärentes Gesamtsystem fassen lassen. So werden Grundunterscheidungen innerhalb dieses Theorieelements angeführt, um die Spannung zwischen dem Nutzenprinzip (s. Kap. V.35), das die axiologische Grundlage der gesamten praktischen Philosophie Mills darstellt, mit spezifischeren Normen der Gleichheit, Gerechtigkeit (s. Kap. V.28) und Freiheit (s. Kap. V.27) aufzulösen. Die Lebenskunst entspricht in dieser Funktion nicht dem herkömmlichen Begriff der ‚Ars vivendi‘ oder ‚Savoir vivre‘ als Vermögen, das eigene Leben zu gestalten, seine Herausforderungen zu meistern, oder zur Vervollkommnung zu bringen. Vielmehr behandelt

S. Derpmann ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

die Theorie der Lebenskunst die allgemeinste Form der praktischen Rationalität. Obwohl Mill in seinem moralphilosophischen Hauptwerken Utilitarianism (s. Kap. III.12) und On Liberty (s. Kap. III.13) den zentralen Stellenwert der Lebenskunst nicht ausführlich entfaltet, ist seine bewusste Unterscheidung dieser Ebenen und ihre Relevanz für die Deutung seiner Moralphilosophie nicht zu bestreiten.

Formulierungen der „Art of Life“ in Mills Werk Das Konzept der Lebenskunst ist von Mill nicht ausführlich systematisch ausgearbeitet, sondern muss vielmehr über Bemerkungen aus unterschiedlichen Theorieelementen erschlossen werden (Ryan 2014, 245–249). Die „art of life“ oder die dazugehörige „theory of life“ thematisiert Mill in der Logic (CW VIII, 949– 952; s. Kap. III.17), in Utilitarianism (CW X, 210–211) sowie in seinem Essay über „Bentham“ (CW X, 75–116; hier: 99). In den Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) ist mitunter in einer abweichenden Terminologie von „arts of life“ die Rede, die jedoch hier (CW II, 153, 193–94) eher als besondere Landwirtschafts- und Produktionstechnologien verstanden werden (ähnlich im Essay über „Civilization“ CW XVIII, 120, 135; s. Kap. IV.22). Die Lebenskunst ist zunächst Kunst im ­Unterschied

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_32

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zu Theorie oder Wissenschaft. Der Ausdruck ‚Kunst‘ steht in diesem Kontext für das von Mill verwendete englische art, das allerdings nicht auf die schöne oder bildende Kunst verweist, sondern vielmehr auf ein Können oder Handlungswissen. Kunst ist also als Handwerk im weitesten Sinne, oder als technē zu verstehen, die ein praktisches Wissen darstellt, das sowohl die Annahme von Handlungszwecken als auch das Wissen um die Erfordernisse der Herstellung dieser Zwecke umfasst. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft ist zentraler Bestandteil des System of Logic (die Lebenskunst wird erst ab der dritten Auflage 1851 behandelt; vgl. Eggleston/Miller/Weinstein 2010, 4), und ist auch bereits Gegenstand in seinem Essay „On the Definition of Political Economy“ (CW IV, 309–339). Die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunst vollzieht sich über die für sie kennzeichnenden Arten von Urteilen. Wissenschaft besteht in theoretischem Wissen in der Form von deskriptiven Urteilen über natürliche Wirkungszusammenhänge, wobei der Begriff ‚Natur‘ hier weit gefasst ist und etwa auch psychologische und begriffliche Zusammenhänge umfasst. Kunst besteht demgegenüber im normativen praktischen Wissen von begründeten Zwecken und Handlungsregeln. Unterschiedliche Künste, wie Medizin oder Architektur, setzen in diesem Verständnis besondere zu erreichende Zwecke und entnehmen spezifischen Wissenschaften die Beschreibung der Wirkungszusammenhänge, anhand derer sich diese Zwecke hervorbringen lassen. Mill nimmt an, dass sich eine Ordnung von Zwecken beschreiben lässt, in die unterschiedliche Künste eingeordnet werden können. Die übergeordnete Verfolgung des letzten Zwecks allen Handelns, der im Prinzip der Nützlichkeit formuliert ist, gliedert sich für Mill in verschiedene Künste der persönlichen Lebensführung, der Moral und der Politik, die wiederum weitere Zwecke in sich fassen. Aus den einschlägigen jeweils kurzen Bezugnahmen auf die Lebenskunst als Schlüsselbegriff der praktischen Rationalität in der Logic und der Utilitarismusschrift ergibt sich ein vorläufiges Bild, dessen Bedeutung für Mills prak-

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tische Philosophie jedoch der Kontextualisierung bedarf. Mill bestimmt in der Logic die Lebenskunst als gegliedert in „three departments, Morality, Prudence, or Policy, and Aesthetics; the Right, the Expedient, and the Beautiful or Noble, in human conduct and works“ (CW VIII, 949). Der systematische Zusammenhang zwischen der Lebenskunst und diesen spezifischeren Künsten besteht in einer hierarchischen Teleologie. Die Lebenskunst (CW VIII, 951) formuliert das übergeordnete Kriterium, an dem sich die Zwecke der untergeordneten Künste letztlich orientieren. Der Zweck der Lebenskunst ist Nützlichkeit. Anhand der Realisation dieses Zweckes lassen sich alle untergeordneten Künste einerseits überhaupt als handlungsleitend ausweisen und andererseits priorisieren. Die Bedeutung der spezifischen Unterteilung der Lebenskunst (vgl. auch CW XXI, 251) in Moral, Klugheit und Ästhetik ist weniger relevant als die Einführung der Hierarchisierung selbst. Im Folgenden liegt das Hauptaugenmerk auf der Bedeutung dieser Hierarchisierung für die Mill’sche Moralphilosophie. Dieser Fokus liegt insofern nahe, als Mill selbst die Diskussion der Lebenskunst im Kontext der Bestimmung moralischen Wissens einführt (CW VIII, 943).

Das Handwerk des Lebens als der Moral übergeordnetes Prinzip Mill unterscheidet in der Bestimmung des Nützlichkeitsprinzips in Utilitarianism explizit zwischen einer Theorie des Lebens, in der Zwecke zum Gegenstand gemacht werden, und einer Theorie der Moral, innerhalb derer Handlungsnormen formuliert werden (CW X, 214). Das Prinzip der Nützlichkeit ist nicht Teil, sondern Grundlage der Moral (hierzu Schefczyk 2012; Gray 1996, 21). In einer zentralen Passage unterscheidet Mill die „theory of life on which this theory of morality is grounded“ (CW X, 210). Es ist diese hier angedeutete Unterscheidung verschiedener Ebenen praktischer Rationalität, aufgrund derer der Lebenskunst eine besondere Bedeutung für das Verständnis

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der Mill’schen Moralphilosophie zugeschrieben wird. In der Mill-Forschung wird die Konzeption der Kunst des Lebens mitunter als das Theorieelement begriffen, mit dem sich die scheinbar miteinander in Spannung befindlichen moralphilosophischen Thesen Mills in Einklang bringen lassen. Insbesondere in der neueren Rezeption vertritt eine als zunächst ‚revisionär‘ (Gray 1996, 9–13) verstandene Deutung diese Vereinbarkeitsthese unter Berufung auf das Mill’sche Gesamtsystem. Gray legt etwa für On Liberty dar, dass die in ihr vorgebrachte Verteidigung der moralischen Bedeutung der Freiheit nur im Kontext der Konzeption der Lebenskunst zu begreifen und zu kritisieren ist (Gray 1996, 10; vgl. auch Ryan 1991). Der Verweis auf Mills Lebenskunst erhellt die Passung der utilitaristischen Moralbegründung mit einer Reihe von politischen und sozialen Grundüberzeugungen, für die Mill gleichzeitig eintritt, die aber auf den ersten Blick unvereinbar mit dieser Moralbegründung sind. Die zentralen Einwände gegen die Bestimmung der Nutzenorientierung als Grundlage moralischer Richtigkeit, verweisen etwa auf die Unangemessenheit dieses Prinzips in der Ausgestaltung moralischer, distributiver und retributiver Gerechtigkeit, oder eine mangelnde Passung zu den Prinzipien der Freiheitsschrift (u. a. Honderich 1974; Himmelfarb 1974). Gegen Mills Begründung von moralischen Rechten wird eingewandt, dass er in Utilitarianism die moralische Beurteilung von Handlungen auf genau ein Prinzip, das Prinzip der Nützlichkeit, stützt. Wenn Mill diese These aufrechterhalten will, scheint es nicht zulässig, neben dem Nutzenprinzip weitere offenbar sogar vorgeordnete Handlungsprinzipien zum Schutz der individuellen Freiheit oder der persönlichen Integrität einzuführen. Denn es ist vorstellbar, dass die Missachtung von Rechts- und Freiheitsansprüchen von Einzelnen in konkreten Situationen einen in Nutzen bemessenen vorteilhaften Effekt haben könnte. Dementsprechend formiert sich der Einwand, dass der Utilitarismus keine geeignete Begründung von Rechtsnormen formulieren kann, insofern individuelle Ansprüche zugunsten von Erwägungen des Allgemein-

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wohls grundsätzlich aufhebbar sind. Ein zweiter Einwand kritisiert, dass Mill Verteilungsfragen nicht adäquat adressieren kann, insofern das utilitaristische Kalkül die nutzenoptimale Verteilung von Gütern oder Ansprüchen einfordert, auch wenn dies mit sozialer Ungleichheit einhergeht. Schließlich richtet sich ein dritter Einwand auf die Legitimierung von Strafen und Sanktionen. Demzufolge sind Strafen nicht allein über den von ihnen zu erwartenden gesellschaftlichen Nutzen zu rechtfertigen, sondern ihre Legitimität unterliegt bestimmten Bedingungen. Sie dürfen nur diejenigen treffen, denen tatsächlich ein Vergehen zuzuschreiben ist, und müssen in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Vergehen stehen. Diese verschiedenen Einwände benennen grundlegende Gerechtigkeitsintuitionen, die scheinbar unabhängig, wenn nicht sogar unvereinbar mit Folgeabwägungen sind. Entscheidend für Mills utilitaristische Rekonstruktion solcher Ansprüche ist die Unterscheidung zwischen dem System der Zwecke und der Ausgestaltung von auf diese Zwecke ausgerichteten Praxen, die geeignete Handlungsnormen formulieren. Ein zentraler Zug in Mills Grundlegung der utilitaristischen Moral ist sein Bestreben, die Vereinbarkeit des Nützlichkeitsprinzips sowohl mit philosophischen als auch mit alltäglichen Auffassungen von Moral aufzuzeigen. Mill versucht eine Moralkonzeption anzubieten, die bestehende Intuitionen darüber, was als richtig und falsch gelten kann, erfasst oder zumindest als ihnen zugrunde liegend angesehen werden kann. Ein entscheidendes Theorieelement einer Synthese der zugestandenermaßen in Spannung stehenden Gehalte seiner Moralphilosophie und seiner Gesellschaftstheorie ist der unterschiedliche Status, den Mill dem Nützlichkeitsprinzip einerseits und moralischen Sekundärprinzipien andererseits zuschreibt. Eine zentrale Frage in diesen Kontexten ist, welchen Status diese sekundären Prinzipien haben. Erst vor dem Hintergrund der Überlegung, dass das Nützlichkeitsprinzip selbst nicht einfach eine moralische Pflicht (s. Kap. V.34) der Nutzenmaximierung auferlegt, sondern vielmehr eine axiologische Prämisse der F ­ormulierung

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spezifischerer Normen bildet, lassen sich besondere Moralprinzipien etablieren, die sich zwar auf das Nutzenprinzip gründen, aber sich nicht darin erschöpfen. Gray begreift dementsprechend das Nutzenprinzip zwar als kritisch für die Moralphilosophie, insofern es ein axiologisches Prinzip zur Prüfung moralischer Normen formuliert, nicht aber selbst als praktisches Prinzip der Moral (Gray 1996, 22, 29).

Intermediäre oder sekundäre Prinzipien und die übergeordnete Lebenskunst Ein Versuch, Mills Position als konsistent auszulegen, beginnt dementsprechend damit, einen Unterschied zwischen dem axiologischen Nutzenprinzip und den verschiedenen von Mill formulierten moralischen deontischen Handlungsnormen zu etablieren. Das Prinzip der Nützlichkeit darf demnach nicht einfach als moralisches Prinzip begriffen werden, sondern ist verschiedenartigen praktischen Disziplinen übergeordnet, sodass der evaluative Gehalt des Nutzenprinzips von dem präskriptiven Gehalt der Sekundärnormen zu unterschieden ist. Das im Nutzenprinzip formulierte Werturteil besagt lediglich, dass nur Freude um ihrer selbst willen wertvoll ist. Dieses Urteil erstreckt sich nicht nur auf Handlungen, sondern es lassen sich auch die Auswirkungen von Krankheit, Naturkatastrophen und sozialen Verhältnissen bewerten, ohne dabei unmittelbar auf die Bewertung einer Handlung rekurrieren zu müssen. Erst in einem zweiten Schritt können wir fordern, dass wir in unseren Handlungen Nutzen im Sinne von Freude oder Glück hervorbringen sollten. Das Prinzip der Nützlichkeit, in dem die Zwecksetzung der allen Normen übergeordneten Lebenskunst liegt, ist also selbst kein moralisches Prinzip, sondern vielmehr einer Vielzahl von praktischen Normen vorgeordnet, die unterschiedliche Zwecke realisieren. Dementsprechend glaubt Mill, dass verschiedene Sekundärzwecke ein System von Handlungsprinzipien formen, an denen wir uns in unserem Handeln ausrichten sollten. Innerhalb der Moral

S. Derpmann

werden also solche Normen und Regeln als sekundäre oder abgeleitete Prinzipien formuliert, die geeignet scheinen, den innerhalb des Nützlichkeitsprinzips formulierten Zweck hervorzubringen. Ausgehend von Mills eigener Beschreibung (CW I, 145) lässt sich diese Darlegung von Rechten als ‚indirekter‘ Utilitarismus beschreiben (Alexander 1985; Skorupski 1989, 316–321; Pettit 1997, 93 ff.; West 2004, 84– 87; zur Mehrdeutigkeit dieser Einteilung Brink 2022, 1671 sowie FN 37). Auf zwei Ebenen erfordert moralisches Überlegen keine direkte Ausrichtung auf das Prinzip der Nützlichkeit, sondern einen Umweg über abgeleitet begründete Absichten oder Normen. Dies zeigt sich in der Betrachtung bestimmter Charakterdispositionen (Donner, 2010) einerseits und verbindlicher bzw. als prima facie absolut gesetzten Normen andererseits, deren moralische Funktion jeweils davon abhängt, dass in konkreten Entscheidungen Nützlichkeit selbst nicht angestrebt, aber dennoch hervorgebracht wird. Damit wird der Mill’sche Utilitarismus nicht zwingend zu einem Regelutilitarismus (Gray 1996, 34). Es sind nach wie vor die tatsächlichen Folgen einer jeden Handlung, die über ihren moralischen Wert bestimmen. Allerdings kann es aus der begrenzten Perspektive moralischen Überlegens sinnvoll sein, sich auf abgeleitete Handlungsprinzipien zu stützen, weil sich anhand ihrer Befolgung zuverlässiger der Nutzen befördern lässt als in Einzelabwägungen. Tugenden wie die Treue innerhalb der Freundschaft oder Normen wie die kategorische Ablehnung bestimmter gesellschaftlicher Eingriffe sind dieser Überlegung zufolge über ihre Tendenz begründet, den Nutzen zu fördern. Es ist deshalb ratsam, diese Sekundärprinzipien um der mit ihnen verbundenen Nutzenwirkungen willen einzuhalten. Mill formuliert ein summum bonum, dessen Hervorbringung jedoch über axiomata media erfolgen sollte. Aus den Überlegungen zur Lebenskunst wird deutlich, dass die einfache Behauptung der Unvereinbarkeit der utilitaristischen Grundlegung der Moral mit Rechts- und Freiheitsnormen zu kurz greift (s. Kap. VI.43). Die ­Rekonstruktion

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von Mills Position über die Unterscheidung des Prinzips der Nützlichkeit und der daraus abgeleiteten sekundären moralischen Normen zeigt, dass die vielfach miteinander im Widerspruch stehenden Axiome auf unterschiedlichen Ebenen praktischen Überlegens anzusiedeln sind.

Literatur Alexander, Larry: Pursuing the Good – Indirectly. In: Ethics 95 (1985), 315–332. Brink, David: Mill’s Moral and Political Philosophy. In: Edward N. Zalta/Uri Nodelman (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Herbst 2022), https:// plato.stanford.edu/archives/fall2022/entries/mill-moral-political/ (30.10.2023). Donner, Wendy: Morality, Virtue, and Aesthetics in Mill’s Art of Life. In: Ben Eggleston/Dale E. Miller/ David Weinstein (Hg.): John Stuart Mill and the Art of Life. New York 2010, 146–165.

299 Eggleston, Ben/Miller, Dale E./Weinstein, David: Introduction. In: Dies. (Hg.): John Stuart Mill and the Art of Life. New York 2010, 3–18. Gray, John: Mill on Liberty: A Defence. London 1996. Himmelfarb, Gertrude: On Liberty and Liberalism: The Case of John Stuart Mill. New York 1974. Honderich Ted: The Worth of J. S. Mill On Liberty. In: Political Studies 22 (1974), 463–470. Pettit, Philip: The Consequentialist Perspective. In: Marcia Baron/ders./Michael Slote: Three Methods of Ethics. Oxford 1997, 92–174. Ryan, Alan: John Stuart Mill’s Art of Living. In: John Gray/G. W. Smith (Hg.): J. S. Mill’s On Liberty in Focus. London/New York 1991, 162–168. Ryan, Alan: A System of Logic and the „Art of Life“. In: Antis Loizides (Hg.): Mill’s A System of Logic: Critical Appraisals. New York 2014, 247–261. Schefczyk, Michael: John Stuart Mill’s Ethics. In: James Fieser/Bradley Dowden (Hg.): Internet Encyclopedia of Philosophy. University of Tennessee at Martin, 2012, http://www.iep.utm.edu/mill-eth/ (30.10.2023). Skorupski, John: John Stuart Mill. London 1989. West, Henry: An Introduction to Mill’s Utilitarian Ethics. Cambridge 2004.

Meinungsfreiheit

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Peter Niesen

Mill gilt als Klassiker der Meinungsfreiheit und sein Essay On Liberty (s. Kap. III.13) als eine ihrer bedeutendsten Verteidigungen. Das zweite Kapitel mit dem Titel „Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion“ ist eingebettet in den Versuch, die Grenzen legitimer Freiheitseinschränkungen zu bestimmen, die die Individuen sei es von Staats wegen, sei es vonseiten der Gesellschaft, bedrohen. Damit ersetzt Mill einen eigenen älteren Anlauf, der den herausgehobenen Status der Meinungsfreiheit begründen sollte, mit einer neuen Konzeption (1). Erklärungsbedürftig ist vor allem, ob und wie der Schutz und die Schranken der Meinungsfreiheit mit den Grundbegriffen aus dem ersten Kapitel von On Liberty zusammenhängen, dem Schadensprinzip („harm principle“) und der Unterscheidung zwischen bloß die Person selbst betreffenden („self-regarding“) und sozialen Angelegenheiten (2). Schließlich ist kurz darauf einzugehen, welche Verhältnisse gesellschaftlicher Machtausübung mit der Meinungsfreiheit verträglich sind (3). 1. Mit der Meinungsfreiheit greift On Liberty ein Thema wieder auf, das Mill bereits zu seinen frühesten Publikationen inspiriert hatte. Von

P. Niesen (*)  Professor für Politische Theorie, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

„Law of Libel and Liberty of the Press“ (1825; CW XXI, 1–34), das Mill als Sechzehnjähriger noch unter dem starken Einfluss Benthams und seines Vaters James Mill verfasst hatte, unterscheidet sich seine spätere Position in drei Hinsichten. Erstens hält Mill jetzt die Pressefreiheit für so weitgehend durchgesetzt, dass ihn ihre ältere Funktion als Gegengewicht und Kontrollmacht autoritären Staatshandelns nicht mehr vorrangig interessiert. Er konzentriert sich nun auf den Gewinn, den Individuum und Gesellschaft aus ihrem horizontalen Meinungsaustausch ziehen. Zweitens treten der frühe und der spätere Text gleichermaßen für die Freiheit wahrer und falscher Meinungsäußerungen ein. Die Freiheit falscher Meinungsäußerungen hatte Mill in „Law of Libel“ noch so verteidigt, dass sich wahre und falsche Auffassungen letztlich nicht auseinanderhalten lassen. Dieses erkenntnisskeptische Argument wird in On Liberty nicht mehr verwendet. Stattdessen baut Mill dort darauf, dass eine gesellschaftliche Praxis der permanenten Auseinandersetzung mit falschen Meinungen die entgegengesetzten wahren Überzeugungen deutlicher hervortreten und nachhaltiger bewahren lasse. Drittens spricht Mill in On Liberty eine wichtige Unterscheidung, die er in „Law of Libel“ eingeführt hatte, nicht mehr an. Dies ist die Unterscheidung zwischen Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen: „False opinions must be tolerated for the sake of the true: since it is impossible

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to draw any line by which true and false opinions can be separated from one another. There is no corresponding reason for permitting the publication of false statements of fact“, heißt es in „Law of Libel“ (CW XXI, 14; vgl. Peonidis 2008). Dort geht Mill davon aus, falsche Tatsachenbehauptungen partizipierten nicht am Schutz der Äußerungsfreiheit; die Feststellung ihres Wahrheitswerts sei vielmehr Sache der Gerichte. Der Begriffsapparat von On Liberty dagegen sieht nicht mehr vor, falsche Tatsachenbehauptungen, die uns heute in Gestalt von Fake News und übler Nachrede begegnen, restriktiver zu behandeln als falsche Meinungsäußerungen. Es muss daher offenbleiben, ob Mill zeitlebens an der fundamentalen Unterscheidung zwischen Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen festhält und ob er das Argument, die entgegengesetzten wahren Überzeugungen würden in ihrer Bedeutung und Vitalität gestärkt, auch für Auseinandersetzungen mit den Leugnerinnen von Epidemien, Schulmassakern und Menschheitsverbrechen gelten ließe. Mill tritt in On Liberty aus drei Gründen für den bedingungslosen Schutz aller Meinungsäußerungen ein: 1. Eine Meinung könnte wahr sein. 2. Eine Meinung könnte insgesamt falsch sein, aber ein wahres Element enthalten. 3. Eine Meinung könnte vollständig falsch sein, aber dadurch, dass man ihr zu widersprechen gezwungen ist, die ihr entgegengesetzte wahre Auffassung im lebendigen Bewusstsein der Bevölkerung halten (CW XVIII, 258). Alle drei Argumente setzen die Wahrheitsfähigkeit von Meinungsäußerungen voraus. Das bedeutet, dass Selbstausdruck ohne propositionalen Gehalt, undeutliche Gesten, künstlerische Ausdrucksformen und womöglich sogar manche politische Protestaktion keinen direkten Anspruch auf Schutz erheben können. Daraus folgt aber nicht, dass nur gut begründete oder gar durchdachte Meinungen Schutz genießen sollen, ganz im Gegenteil muss es als Verdienst einer Meinung gelten, dass sie nicht

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Geschmackssache oder Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten, sondern grundfalsch ist. Alle drei Argumente stehen in engstem Zusammenhang mit individuellem und kollektivem Fortschritt im Sinn von Mills perfektionistischem Utilitarismus (Brink 2013; s. Kap. V.26). Im ersten Kapitel von On Liberty hatte Mill angekündigt, sich zur Rechtfertigung der Grundfreiheiten ausschließlich auf das Prinzip der Nützlichkeit („principle of utility“) zu berufen (s. Kap. V.35), verstanden als „utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224). Während die Nützlichkeit einer Auffassung von ihrer Wahrheit abhängt (CW XVIII, 233), spielen falsche Meinungen eine flankierende, funktionale Rolle, da der Prozess ihrer Zurückweisung zwar vielleicht nicht den Fortschritt anleiten, aber doch zumindest die Gefahr drohender Regression bannen kann. Dies wird in der Literatur manchmal als „epistemische“ Rechtfertigung einschränkungsfreier öffentlicher Diskussion bezeichnet, als deren Ergebnis sich wahre Überzeugungen herausschälen werden (MacLeod 2021). Fortschritt hängt allerdings für Mill nicht allein von der Qualität der Ergebnisse, sondern von der Bedeutung des Prozesses ab. Unersetzbar ist nicht allein das kognitive Resultat, sondern das Durcharbeiten von Widersprüchen, das Entkräften falscher Ansichten und das Gewinnen eines lebhaften und deutlichen Verständnisses dessen, was eigentlich den Inhalt der eigenen Überzeugungen ausmacht. Einen Anspruch darauf, „die eigene Meinung für besser als die beliebiger anderer zu halten“, erwerbe man erst dann, wenn man sie freimütig Einwänden ausgesetzt und gegen diese verteidigt hat (CW XVIII, 232). Mills Argument ist daher weniger epistemisch als deliberativ; weniger teleologisch als prozessual. Wenn der selbsttätige Vollzug individueller und kollektiver Auseinandersetzungen davon abhängt, dass Meinungsäußerungen bedingungslose Freiheit genießen, so wächst diesen damit eine dienende Bedeutung zu. Die „Freiheit des Denkens und der Diskussion“, von der Kap. 2 handelt, ist daher nicht mit der Meinungsäuße-

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rungsfreiheit identisch, sondern stützt sich auf sie. Dass weder Staat noch Gesellschaft in die Äußerungsfreiheit eingreifen, ist Voraussetzung für den nonkonformistischen, selbstbestimmten Charakter von Prozessen der Meinungsbildung. Die negative Freiheit, Meinungen ohne Einschränkung äußern zu dürfen, beruht mithin auf dem überragenden Wert der positiven Freiheit, die sich in der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des je individuellen Denkens ebenso wie im schöpferischen Charakter kollektiver Auseinandersetzungen realisiert. 2. Umstritten ist angesichts der Platzierung von Kap. 2 innerhalb von On Liberty, ob neben dem offensichtlichen Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und perfektionistischem Utilitarismus auch ein Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit, den rein geistigen Freiheiten und dem ‚harm principle‘ besteht. Das Schadensprinzip besagt, dass der einzige Grund, aus dem Staat oder Gesellschaft die Freiheit von Individuen einzuschränken berechtigt sind, in der Schädigung anderer Personen liegt. Daraus folgt unmittelbar, dass alle Angelegenheiten, die allein eine Person selbst betreffen („self-regarding matters“), unbehindert und frei sein müssen (CW XVIII, 226). Zu den Freiheiten dieser separaten Sphäre zählt Mill die Gewissensfreiheit, die Freiheit des Denkens und Fühlens, die Freiheit, Meinungen aller Art auszubilden und zu unterhalten, aber nicht automatisch die Freiheit der Meinungsäußerung und ihrer Veröffentlichung (CW XVIII, 225). Diese liege in einem Zwischenbereich, weil sie offensichtlich auch „andere Leute angeht“, sei aber „praktisch untrennbar“ von der Freiheit des Denkens, mit ihr gleichursprünglich („cognate“), nahezu gleich bedeutsam und beruhe „teilweise auf denselben Gründen“ (CW XVIII, 226–227). Diese Passage hat bei den Interpretinnen berechtigte Frustration ausgelöst. Fällt die Freiheit der Meinungsäußerung nun unter denselben Grundsatz wie die nur einen selbst betreffenden Freiheiten oder nicht? Jede Antwort auf diese Frage muss die Fälle erklären, in denen Mill Einschränkungen für gerechtfertigt hält. An erster Stelle steht dabei das Beispiel, das er zu Beginn des dritten Kapitels von On Liberty prä-

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sentiert. Wer einen zornigen Mob vor dem Haus eines Getreidehändlers durch die Behauptung aufhetzt, dass „die Getreidehändler die Armen aushungern“, begeht eine Straftat, auch wenn dieselbe Äußerung in einem Presseartikel nicht zu beanstanden wäre. Auf den ersten Blick liegt hier ein Fall vor, in dem der ausgelöste Schaden den Anspruch auf freie Meinungsäußerung übertrumpft. Mill dementiert ausdrücklich, dass Meinungsäußerungen als nur auf sich selbst bezogene Handlungen Immunität genießen: „Acts, of whatever kind, which, without justifiable cause, do harm to others, may be […] controlled […], when needful, by the active interference of mankind“ (CW XVIII, 260). Aber welchen Unterschied sollte es dann noch machen, ob die Äußerungsfreiheit an der Freiheit des Denkens partizipiert und „teilweise auf denselben Gründen“ beruht? Fallen dann nicht eher Reden und Prügeln unter ein und denselben Grundsatz, nämlich, dass die von ihnen ausgelösten Schädigungen anderer manchmal so gravierend ausfallen, dass sie zu Recht unterbunden werden können? In der Mill-Literatur lassen sich zwei konkurrierende Antworten unterscheiden. Die erste sieht keinerlei Sonderstatus der Meinungsfreiheit. Ebenso wie andere Freiheiten, die nur die handelnde Person selbst etwas angehen, sei die Äußerungsfreiheit nur insofern prinzipiell geschützt, als sie nicht gegen das Schadensprinzip verstößt (Riley 2008; Brink 2008). Die zweite Linie ist radikaler. Sie sieht Meinungsfreiheit bei Mill auch in dem Falle als einschränkungsimmun, wo das ‚harm principle‘ eine Beschränkung zuließe. Man könne dem Schadensprinzip zustimmen oder es verwerfen, ohne die Verteidigung der Äußerungsfreiheit aufs Spiel zu setzen, auch wenn diese offensichtlich nicht allein die äußernde Person betrifft (Skorupski 1991, 376). Die erstgenannte Lesart lässt sich als Zusammenhangsthese bezeichnen, da sie die Schranken der Äußerungsfreiheit aus ihrem Zusammenhang mit dem Prinzip der individuellen Freiheitssphäre und dem ‚harm principle‘ bestimmt, die zweite als Unabhängigkeitsthese. Wie wir gesehen haben, lässt sich der Fall des Getreidehändlers einerseits so deuten, als

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würden Ausdehnung und Schranken der Äußerungsfreiheit entlang abzusehender Schädigungen Anderer, also durch das ‚harm principle‘ bestimmt. Dem entgegen steht die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit, die für Mill im Fortschritt einer „progressiven“ Gesellschaft liegt, ohne dass er im Kapitel über die Freiheit des Denkens und der Diskussion das ‚harm principle‘ oder die Idee eines nur die Person selbst betreffenden Verhaltens auch nur erwähnen würde. Zu den Vertreterinnen der Zusammenhangsthese gehört Jonathan Riley. Riley zufolge ist die Meinungsfreiheit nicht aufgrund beliebiger Schädigungen einzuschränken, die von Redeäußerungen ausgelöst werden. Sanktionen werden erst dort zulässig, wo Handlungen andere Menschen ohne deren Einverständnis auf äußerlich wahrnehmbare Weise schädigen (Riley 2008, 68). Rileys Lesart beruht auf einer stipulativen Interpretation von ‚harm‘, die Verletzungen von bloß lästigen Begleiterscheinungen unterscheidet. Mill selbst definiert nicht, was als ‚harm‘ zählen soll und was nicht, und eine kleine Industrie hat bisher vergeblich versucht, die vom ‚harm principle‘ umfassten Typen von Schäden zu präzisieren, sie entweder gegen trivialere Folgen abzugrenzen oder aber auf emotionale und Statusverletzungen zu erweitern (zuletzt Bell 2020). Eine andere Version der Zusammenhangsthese vertritt David O. Brink. Er sieht Mills Verteidigung der Meinungsfreiheit aus den menschlichen Interessen an deliberativen und expressiven Praktiken hervorgehen. Das ‚harm principle‘ sorge dann für einen abgestuften Schutz der Meinungsäußerung: Rein expressive, nicht-deliberative Interessen, wie sie etwa in rassistischer Hassrede („hate speech“) zum Ausdruck kommen, würden direkt vom ‚harm principle‘ übertrumpft. Das gleiche gelte für Meinungsäußerungen, die die Entwicklung deliberativer Fähigkeiten einer Person zu unterminieren drohen; dies könne im Fall von übler Nachrede und aggressiven Formen von Beleidigung („fighting words“) der Fall sein (Brink 2008, 50, 56). Während Brinks Unterscheidung expressiver und deliberativer Interessen sinnvoll erscheint, macht er es sich in der direkten

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Abbildung von Interessen auf Äußerungstypen zu leicht. Seine unvermittelte Anwendung des Schadensprinzips missachtet die Selbständigkeit freier Meinungsäußerung: Wo Äußerungen zum Zweck der wahrheits- und verständnisorientierten individuellen und kollektiven Deliberation nichts beitragen können oder ihm sogar aktiv entgegenarbeiten, können sie ihren Schutz verlieren. Dabei muss allerdings das Missverständnis vermieden werden, eine Meinungsäußerung trage nur dort zur Freiheit des Denkens und der Diskussion bei, wo sie selbst einen gehaltvollen Beitrag leistet. Dies verfehlte Mills Begründung, die nicht die Qualität der je einzelnen Meinungsäußerung, sondern die des deliberativen Systems des wechselseitigen Meinungsaustausches insgesamt im Blick hat. Unter Mills Konzeption genießen nicht-deliberative, polemische und disruptive Interventionen zumindest dort Schutz, wo sie einen übermäßig harmonischen Meinungsstreit und die in ihm verteidigten Überzeugungen neu beleben. Welche Beiträge zum Gedeihen deliberativer Prozesse beitragen, lässt sich nicht Aussage für Aussage, sondern nur holistisch bewerten. Den Vertretern der Unabhängigkeitsthese zufolge greift das ‚harm principle‘ nicht auf die Redefreiheit durch. Ihre Auffassung lässt sich am besten durch das ‚Mill’sche Prinzip‘ („Millian Principle“) illustrieren, das Thomas Scanlon als „Erweiterung der These, die Mill im zweiten Kapitel von On Liberty verteidigt“, formuliert hat (Scanlon 2003, 14). Das Prinzip besagt, dass Schädigungen, die daraus erwachsen, dass Personen aufgrund von Meinungsäußerungen falsche Überzeugungen gewonnen oder nachteilige Handlungsvorsätze angenommen haben, nicht für eine Einschränkung der Äußerungsfreiheit herangezogen werden können. In anderen Worten, Staat und Gesellschaft haben nicht das Recht, Schädigungen auszuschließen, die aus der Akzeptanz von Redeäußerungen resultieren, so problematisch diese auch scheinen mögen. Im Fall des Getreidehändlers ist es den Vertretern der Unabhängigkeitsthese zufolge nicht so, dass das Schadensprinzip als solches eine Sanktion rechtfertigte; vielmehr wäre die unzureichende Gelegenheit zur Deliberation

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in der Hörerschaft für den Entzug der Immunität in der gegebenen Situation verantwortlich zu machen. Zwischen Reden und Prügeln lässt sich dann weniger anhand unterschiedlicher Typen von Schäden, sondern anhand der Arten und Weisen, auf die Schäden zustande kommen, unterscheiden. Wo wir, wie im Falle des zornigen Mobs, nicht erwarten können, dass auf Meinungsäußerungen nachdenklich und mit Widerspruch reagiert werden kann, resultiert die zu erwartende Schädigung nicht aus Überlegung und Deliberation und kann daher ohne Weiteres auf der Basis schadensbezogener Argumente verfolgt werden (Skorupski 2006, 59; Scanlon 2003, 20). Allerdings handelte es sich dabei, wie Mills ausdrückliche Zulassung potenziell aufrührerischer Pamphlete in der Presse belegt, um eine Regulierung, keine generelle Beschränkung der Meinungsfreiheit. Die Unabhängigkeitsthese ist somit verträglich mit kontextspezifischen Regelungen, die in Ort, Zeit sowie die Art und Weise von Meinungsäußerungen eingreifen. Dagegen ist es nicht möglich, auf ihrer Basis inhaltlich gegen beliebige Formen von Hassrede oder Volksverhetzung vorzugehen. Während die Zusammenhangsthese den prinzipiellen Vorrang der Meinungsfreiheit dementieren muss, fehlt der Unabhängigkeitsthese ein prin­ zipienbasiertes Argument, menschenverachtende Rede auszuschalten. 3. Eine wenig diskutierte Innovation von Mills Verständnis der Meinungsfreiheit liegt darin, dass er Meinungsäußerungen nicht nur vor staatlicher Repression, sondern auch vor gesellschaftlichen Sanktionen in Schutz nimmt. Meinungsfreiheit müsse auch dort gegen die soziale Macht der Öffentlichkeit verteidigt werden, wenn diese sich keiner staatlichen Zwangsinstrumente bedient. Diesem Gesichtspunkt kommt heute in zwei Hinsichten wachsende Bedeutung zu. Erstens, da die Macht der Mehrheitsmeinung wie zu Mills Zeiten dort erdrückend wirken und „moralischen Zwang“ („moral coercion“, CW XVIII, 223) ausüben kann, wo keine stabilen Medienordnungen einen heterogenen Meinungspluralismus stützen und bewahren. Zweitens aber auch dort, wo unpersönliche, aber nichtstaatliche Verhältnisse zunehmend als Kontexte wahrgenommen werden,

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in denen die Meinungsfreiheit sich bewähren muss. Aus der Perspektive Mills haben die heute unter dem Kampfbegriff einer Cancel Culture gefasste Entfernung eines unterstellt frauenfeindlichen Gedichts an einer Universitätswand, die Ausladung umstrittener Künstlerinnen und die Boykottaufrufe gegen Bücher nicht schon deshalb nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, weil es keine „staatliche Intervention und Kontrolle“ gibt (so Schubert 2020, 196; vgl. Simpson/Srinivasan 2018). Wenngleich kontextspezifische gesellschaftliche Beschränkungen wie das no-platforming nicht dazu vorgesehen oder geeignet sind, kontroverse Positionen insgesamt zum Schweigen zu bringen („silencing“; CW XVIII, 229) und eher regulieren als einschränken, wäre aus Mills Sicht problematischer Rede eher durch militante Toleranz entgegenzutreten: Die öffentliche Skandalisierung problematischer Äußerungen, Widerspruch und Protest wären die Mittel der Wahl.

Literatur Bell, Melina Constantine: John Stuart Mill’s Harm Principle and Free Speech: Expanding the Notion of Harm. In: Utilitas 33/2 (2020), 162–179. Brink, David O.: Mill’s Liberal Principles and Freedom of Expression. In: C. L. Ten (Hg.): Mill’s On Liberty. A Critical Guide. Cambridge 2008, 40–61. Brink, David O.: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. MacLeod, Christopher: Truth, Discussion, and Free Speech in On Liberty II. In: Utilitas 33/2 (2021), 150–161. Peonidis, Filimon: A Note on Mill’s Early Theory of Free Speech. In: Australian Journal of Legal Philosophy 33 (2008), 60–65. Riley, Jonathan: Racism, Blasphemy, and Free Speech. In: C. L. Ten (Hg.): Mill’s On Liberty. A Critical Guide. Cambridge 2008, 62–82. Scanlon, Thomas: A Theory of Freedom of Expression [1972]. In: Ders.: The Difficulty of Tolerance. Cambridge 2003 6–24. Schubert, Karsten: Umkämpfte Kunstfreiheit – ein Differenzierungsvorschlag. In: Zeitschrift für Menschenrechte 2 (2020), 195–204. Simpson, Robert Mark/Srinivasan, Amia: No Platforming. In: Jennifer Lackey (Hg.): Academic Freedom. Oxford 2018, 186–210. Skorupski, John: John Stuart Mill. London 1991. Skorupski, John: Why Read Mill Today? London 2006.

Moralische Pflicht

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Im Spätherbst 1859 erreicht Mill in seinem Altersdomizil in Saint Véran bei Avignon der Vordruck einer moralphilosophischen Abhandlung des Mathematikers und Theologen William G. Ward (1812–1882; Ward 1859). Mill hatte Ward in früheren Diskussionen schätzen gelernt und liest den Text mit aufrichtiger Bewunderung und Sympathie (CW XV, 647). Mill sieht in Ward einen der schlagkräftigsten Vertreter der „anschaulichen Schule“ („the Intuitive School“, CW XI, 165, 267; s. Kap. II.9), deren Morallehre er zeit seines Lebens als die einzige ernst zu nehmende Alternative zum Utilitarismus betrachtet (CW X, 51, 240; CW XV, 762; CW XVIII, 235). In seinem Begleitschreiben bittet Ward Mill zu einem anti-utilitaristischen Einwand Stellung zu nehmen, den Ward gegen die utilitaristische Pflichttheorie richtet, die Mills Vater James Mill in seiner Analysis of the Phenomena of the Human Mind (London 1829; 1869 in zweiter Auflage von Mill junior herausgegeben [CW XXXI, 93–253]) entwickelt. Ward illustriert seine Kritik an James Mill am Beispiel der moralischen Pflicht zur Rückerstattung anvertrauten Eigentums. Ward konstruiert den Fall eines wertvollen Juwels, das ihm

M. Stepanians ()  Professor für Philosophie (Schwerpunkt politische Philosophie), Universität Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected]

ein Freund zur Aufbewahrung anvertraut hat und das er nun zurückfordert. Für einen Utilitaristen wie James Mill, so Ward, sei das moralische Urteil, dass das Juwel zurückzugeben sei, die deliberative Schlussfolgerung einer instrumentell motivierten Nützlichkeitserwägung zur Vermeidung zukünftiger Schmerzen. Alle Utilitaristen, so Wards Vorwurf, würden in dieser Weise versuchen, moralische Urteile restlos auf Nützlichkeitsurteile zurückzuführen. Aber diese eliminative Reduktion, so Ward, verkenne die kategoriale Verschiedenheit dieser beiden Urteilsarten. Moralische Urteile seien sui generis und explanatorisch irreduzibel. Wären sie tatsächlich restlos auf Nützlichkeitsurteile zurückführbar, dann würden die Sätze ‚Ich bin moralisch verpflichtet, das Juwel zurückzugeben‘ und ‚Mich erwartet eine schmerzliche Reaktion der Gesellschaft, wenn ich das Juwel behalte‘ dasselbe Urteil ausdrücken. Aber diese Synonymiethese, so Ward und die gesamte anschauliche Schule, komme einer Reductio gleich.

Kann der Utilitarismus irreduzible moralische Pflichten anerkennen? Ward möchte wissen, ob Mill seine Kritik an der reduktionistischen Analyse moralischer Pflichturteile des Autors der Analysis für berechtigt hält. Nach Mills Überzeugung ist Wards Frage ebenso bedeutsam wie ihre Beantwortung

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kompliziert ist. Sie ist bedeutsam, weil Ward hier in größter Klarheit einen anti-utilitaristischen Einwand formuliert, der nach Mills Überzeugung „zu allen Zeiten spekulativen Denkens“ (CW X, 259) gegen den Utilitarismus vorgebracht wurde. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob eine utilitaristische Theorie der Moral im eigentlichen Sinne möglich ist. Die Morallehre, deren Kern für Mill die Gerechtigkeit bildet (CW X, 255; s. Kap. V.28), steht im Zentrum von Mills umfassender „Lebenskunst“ (s. Kap. V.32), zu der er auch die Lehre vom klugen Handeln sowie die Theorie supererogatorischen Verhaltens zählt: „[T]he Art of Life in its three departments, Morality, Prudence or Policy, and Aestetics; the Right, the Expedient, and the Beautiful or Noble, in human conduct and works“ (CW VIII, 949; Eggleston/ Miller/Weinstein 2011). Entscheidend ist hier, dass nach Mill allein die Regeln der Moral genuine Pflichten oder Verbindlichkeiten generieren. Darin unterscheiden sie sich von Maximen bloßer Nützlichkeit („the expedient“), die nicht die verpflichtende Kraft strengen Müssens, sondern nur die ermahnende Kraft bloßen Sollens haben. Die Missachtung der Regeln bloßer Nützlichkeit ist (abgesehen von Extremfällen) nicht unmoralisch, sondern nur unklug. Der dritte Bereich des ‚Schönen und Noblen‘ der Lebenskunst enthält praktische Grundsätze supererogatorischen Verhaltens, die weder befehlen noch ermahnen, deren Beachtung jedoch einen bewundernswerten Charakter offenbart. Wards Kritik nimmt die gattungsmäßige Unterscheidung zwischen Moral und bloßer Nützlichkeit ins Visier nimmt und behauptet ihre Unhaltbarkeit im Rahmen einer Morallehre, die in einem normativ schwachen Nutzenprinzip fundiert ist. Die entscheidende Frage lautet: Kann der Utilitarismus eine generische Unterscheidung zwischen moralischer Pflicht und bloßer Nützlichkeit konsistent aufrechterhalten und ihre kategoriale Distinktheit erklären? Oder impliziert die Anerkennung des Nutzenprinzips als Grundprinzip aller Normativität, wie Ward meint, letztlich die analytische Zurückführbarkeit eines nur scheinbar verpflichtenden Müssens auf das bloße Sollen der Nützlichkeit? For-

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muliert in jenem psychologischen Vokabular, in dem die Debatte seinerzeit geführt wurde: Kann eine utilitaristische Moralpsychologie die Existenz eines ‚moralischen Gewissens‘, eines ‚moralischen Sinns‘ oder ‚wahrer moralischer Gefühle‘, paradigmatisch das Pflichtgefühl, als real existierende psychische Phänomene anerkennen und wissenschaftlich erklären?

Benthams „grandioses Übersehen“ Nach Mills Überzeugung legt der anti-utilitaristische Standardeinwand den Finger auf die „einzig wirkliche Schwierigkeit in der utilitaristischen Morallehre“ (CW X, 249). Er ist Mill auch deshalb wohlvertraut, weil er selbst ihn der Sache nach 27 Jahre vor Ward mit großer Schärfe gegen Bentham gerichtet hatte. In seinen (aus Rücksicht auf seinen Vater anonym erschienenen) „Remarks on Bentham’s Philosophy“ (CW X, 3–18) von 1833 beklagt der junge Mill, dass irreduzibel moralische Gefühle, darunter jenes Pflichtgefühl, das unser Gewissen ausmacht, in Benthams Moralpsychologie keinen Platz finden: „He omits conscience, or the feeling of duty: one would never imagine from reading him that any human being ever did an act merely because it is right, or abstained from it merely because it is wrong […] Nothing is more curious than the absence of recognition in any of his writings of the existence of conscience“ (CW X, 13; 95). Mill hält diese Auslassung für ein „grandioses Übersehen“ und den „Kardinalfehler“ der Bentham’schen Moralpsychologie (CW X, 97). Nach Mill ignoriert Bentham das empirische Phänomen echter Pflichthandlungen aus Gewissengründen, weil er fälschlich der Überzeugung sei, es restlos auf Handeln aus „Sympathie“ oder aus eigennützigen Interessen zurückführen zu können (CW X, 95; s. Kap. II.2, V.40). In diesem Punkt weiche Bentham von früheren Moralpsychologen, insbesondere David Hartley zum Schaden für seine eigene Moralpsychologie ab (CW X, 13). Mit diesem verfehlten Reduktionsversuch, so Mill, würde Bentham der Sache nach „die großartige Tatsache der menschlichen Natur“

34  Moralische Pflicht

(CW X, 95) in Abrede stellen, dass Menschen häufig etwas allein deshalb tun oder lassen, weil sie es für ihre moralische Pflicht halten – völlig ungeachtet etwaiger unerfreulicher Konsequenzen für sich selbst. Die Existenz eines moralischen Gewissens wie es sich paradigmatisch in einem Pflichtgefühl manifestiert, hält Mill für ein unbestreitbares empirisch-psychologisches Datum, das den meisten Menschen aus innerer Erfahrung vertraut ist und das jede sachlich angemessene Moralpsychologie, also auch der Utilitarismus, anerkennen und erklären muss. Nach Mill ist das Gewissen ein psychisches Alltagsphänomen, das wir introspektiv als „Masse von Gefühlen“ erleben, die schon dem bloßen Gedanken an eine unmoralische Tat massive emotionale Widerstände entgegensetzt: „[Conscience is] a mass of feeling which must be broken through in order to do what violates our standard of right, and which, if we do nevertheless violate that standard, will probably have to be encountered afterwards in the form of remorse“ (CW X, 229). Benthams verfehlter Versuch, diese empirisch-psychologische Tatsache zu leugnen und wegzuerklären, provoziert in Mills Augen offenkundige und berechtigte Kritik. Diese Kritik wird zu einem ernsten Einwand speziell gegen den Utilitarismus, wenn die eliminative Reduktion dieses Phänomens auf Nützlichkeit – wie von Ward und der anschaulichen Schule – als notwendiger und wesentlicher Bestandteil nicht nur einer Bentham’schen, sondern einer utilitaristischen Moralpsychologie überhaupt betrachtet wird.

Moralische Urteile sind phänomenal sui generis und irreduzibel Natürlich glaubt auch Mill, dass es Menschen gibt, die unmoralische Handlungen einzig und allein deshalb unterlassen, weil sie schmerzliche Konsequenzen für sich selbst fürchten (CW XV, 649). Aber praktische Urteile, die allein aufgrund eigennütziger Abwägungen gefällt werden, unterscheiden sich in Mills Augen in ihren phänomenal-empirischen Eigenschaften zutiefst von genuin moralischen Urteilen, deren Quelle

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jene oben erwähnte Schmerzlichkeit ist, die schon der bloße Gedanke an einen Regelbruch auslöst. Contra Bentham schreckt der moralische Mensch nach Mills Überzeugung nicht aufgrund eines zukunftsorientierten Konsequenzenkalküls von einer Untat zurück, sondern aufgrund des Abschreckungseffekts der moralischen Gefühle, die hier und jetzt sein Gewissen ausmachen. Nicht die Furcht vor zukünftigen, noch gar nicht gefühlten Schmerzen als mögliche Folgen einer unmoralischen Handlung, sondern die Schmerzen, die schon der bloße Gedanke an den Regelbruch erzeugt, würden einen moralischen Menschen zurückschrecken lassen: „[H]e recoils from the very thought of committing the act; the idea of placing himself in such a situation is so painful, that he cannot dwell upon it long enough to have even the physical power of perpetrating the crime. His conduct is determined by pain; but by a pain which precedes the act, not by one which is expected to follow it“ (CW X, 15; Herv. d. Verf.). Moralisches Urteilen ist für Mill emotional-schnelles Denken, Urteilen mit Blick auf Nützlichkeit deliberativ-langsames Denken. Der 27-jährige Mill formuliert den Punkt unter Anspielung auf eine Tragödie von Joseph Addison: „The fear of pain consequent upon the act, cannot arise, unless there be deliberation; and the man as well as ‚the women who deliberates‘ is in imminent danger of being lost“ (CW X, 12; Herv. d. Verf.). Insbesondere angesichts krasser Ungerechtigkeiten würden moralische Urteile oft mit einer „Schnelligkeit und Gewissheit“ vollzogen, „die einem Instinkt ähnelt“ (CW X, 240). Entscheidend ist hier, dass moralischen Urteile, die aufgrund eines solchen „Zurückschreckens vor einer Handlung ohne Überlegen“ (CW X, 13) gefällt werden, sich auch in Mills Augen der Gattung nach von Nützlichkeitsurteilen unterscheiden, die auf der Basis kühl-deliberativer Erwägungen entstehen. Als solche sind sie sui generis und irreduzibel. Der tiefe Unterschied der jeweiligen Urteiltypen zeigt sich in der Intensität und Eindrücklichkeit der jeweils assoziierten Gefühle. Moralische Urteile besitzen eine eigentümliche „Stärke, Schwere und Schärfe“ (CW XXXI, 241; Anal­ ysis, II, 324 f.), die sie von den „milderen“ Sol-

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lensgefühlen, die sich in bloßen Nützlichkeitsurteilen artikulieren, scharf unterscheidet. Dieser Stärke, Schwere und Schärfe, so Mill, verdanken moralische Urteile ihre vergleichsweise „größere imperativische“ Kraft und „absolutere Verbindlichkeit“ (CW X, 241, 255).

Mills Rettung des Phänomens der Pflicht: Zurück zu Hartley „Such are the phenomena. Concerning their reality there is no dispute“ (CW X, 51). Nach Mills Überzeugung darf eine empirisch angemessene Moralpsychologie diese psychischen Realitäten nicht leugnen und wegzuerklären versuchen, sondern muss sie ‚retten‘ und erklären. Der sui generis-Charakter moralischer Urteile, ihre nicht-deliberative, instinktartige Spontanität und die mit ihnen assoziierte mächtige Empfindung bedarf einer wissenschaftlichen Erklärung, die bisherige utilitaristische Moralpsychologien, sei es Benthams oder die seines Vaters, schuldig bleiben. Angesichts dieser gravierenden Lücke hält Mill den anti-utilitaristischen Standardeinwand, wie er seit jeher von Vertretern der anschaulichen Schule erhoben wird, grundsätzlich für berechtigt. Er bilde einen ernstzunehmenden „Stolperstein für die utilitaristische Ethik“ (CW X, 259), der beseitigt werden müsse, aber glücklicher Weise auch beseitigt werden könne. Die begrifflichen Ressourcen für eine Immunisierung gegen diesen Einwand, die mit utilitaristischen Grundsätzen vereinbar ist, finden sich nach Mills Überzeugung schon in Hartleys Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations (London 1749) und der darin entwickelten Assoziationspsychologie. Allgemein gilt nach Mill, dass wissenschaftliche Erklärungen eines Phänomens in Kausalbegriffen formuliert werden. Sie müssen sowohl die Ursachen des Explanandums identifizieren als auch das Kausalgesetz, das es generiert: „An individual fact is said to be explained, by pointing out its cause, that is, by stating the law or laws of causation, of which its production is an instance“ (CW VII, 464; vgl. Wilson 1998, 204). Insbesondere komplexe psychische Phänomene

M. Stepanians

wie das Gewissen und die moralischen Gefühle, so Mill, seien im Rückgriff auf dieselben psychischen Kausalgesetze zu erklären, die alles menschlichen Denken und Fühlen hervorbringe. Von entscheidender Bedeutung ist hier nach Mills Überzeugung das von Hartley formulierte Gesetz der Vorstellungsassoziation: „Dr. Hartley was the man of genius who first clearly discerned that [the fundamental law of Association of Ideas] is the key to the explanation of more complex mental phenomena“ (CW XXXI, 98; Analysis I, x f.). Auch das moralische Gewissen, so Mills lebenslange Überzeugung, ist ein komplexes mentales Phänomen, dessen Bildung dem Gesetz der Vorstellungsassoziation unterliegt. Folglich besteht eine wissenschaftlich angemessene Erklärung in der detaillierten Rekonstruktion der assoziativen Genese des komplexen Phänomens, das wir ‚Gewissen‘ nennen, aus seinen konstitutiven psychischen Elementen. Eine solche Erklärung kann als utilitaristisch gelten, wenn Nützlichkeitserwägungen in ihr eine konstitutive Rolle spielen. Mill entwickelt die Grundzüge einer Theorie, die in seinen Augen dem anti-utilitaristischen Standardeinwand hinreichend Rechnung trägt, in enger Auseinandersetzung mit dem Autor der Analysis. Obwohl Mill glaubt, dass auch die Moralpsychologie seines Vaters gegenüber dem Standardeinwand bis „zu einem gewissen Grad offen“ (CW I, 208) ist und letztlich keine befriedigende Erklärung der moralischen Gefühle bietet, hält er sie vor allem aus zwei Gründen für einen bedeutenden Fortschritt gegenüber Bentham. Erstens würde sich der Autor der Analysis klar zu Hartley bekennen. Mill junior sieht in seinem Vater sogar den „second founder of the Association psychology“ (CW XXXI, 99; Analysis I, x f.). Zweitens glaubt Mill, dass der Erklärungsbegriff der Analysis nicht reduktiv-eliminativ, sondern genetisch-konstruktiv verstanden werden kann und muss (Analysis II, 321). Der konstruktive Aspekt einer genetisch-konstruktiven Erklärung gestattet die Anerkennung eines irreduziblen Pflichtgefühls; sein genetischer Aspekt eröffnet die Möglichkeit einer Kausalerklärung auf utilitaristischer Grundlage. So verstanden bildet das Werk seines

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Vaters nach Mill in methodischer Hinsicht einen „immensen Fortschritt“ nicht nur mit Blick auf Hartley, sondern auch gegenüber Bentham (CW XXXI, 101/102; Analysis I, xvii). Zweifellos war es dieser Aspekt, der Mill drei Jahre vor seinem Tod zur Herausgabe einer reich kommentierten Neuauflage der Analysis veranlasste. Insbesondere das von Ward kritisierte ‚Moral Sense‘-Kapitel der Analysis versieht Mill junior mit Anmerkungen, die länger sind als das Kapitel selbst.

Der Pflichtbegriff und die zentrale Assoziation mit Strafwürdigkeit Allerdings lässt in Mills Augen die Theorie seines Vaters, wie oben schon angedeutet, selbst in einer genetisch-konstruktiven Interpretation noch zu wünschen übrig. Denn auf die für assoziationstheoretische Erklärungen entscheidende Frage bleibt sie letztlich die Antwort schuldig: Worin besteht die konkrete psychische Assoziation, die Pflichturteilen ihre ausgeprägte Emotionalität und imperative Kraft verleiht und den gattungsmäßigen Unterschied zu bloßen Nützlichkeitsurteilen begründet? Mill entwickelt seine detaillierteste Antwort auf diese Frage im Schlusskapitel V von Utilitarianism: „I have there endeavoured to shew what the association is, which exists in the case of what we regard as a duty, but does not exist in the case of what we merely regard as useful, and which gives to the feeling in the former case the strength, the gravity, and pungency, which in the other case it has not“ (CW XXXI, 241; Analysis II, 324 f.; vgl. auch den Verweis auf Utilitarianism in Mills Antwortbrief an Ward: CW XV, 650). Entscheidend ist hier für Mill die psychische Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit. Nur Handlungen, deren Unterlassung strafwürdig ist, sind nach Mill moralisch verpflichtend. Eben diese Assoziation ist es auch, die das imperativische Müssen der Pflicht vom milderen Sollen bloßer Nützlichkeit nicht nur graduell, sondern der Gattung nach unterscheidet: „I believe that the element in the association, which gives this distinguishing character to the feeling, and

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which constitutes the difference of the antecedents in the two cases, is the idea of Punishment. I mean the association with punishment, not the expectation of it“ (CW XXXI, 241; Anal­ysis II, 325; Miller 2006). Mit dem letzten Satz stellt Mill noch einmal klar, dass nicht die Assoziation mit der faktischen Furcht vor einer wahrscheinlichen Strafe, sondern die psychische Verknüpfung mit der normativen Idee legitimer Strafbarkeit hier entscheidend ist. Genau genommen sind es nach Mill zwei Assoziationen, die uns spontan und nicht-deliberativ schon vor der bloßen Vorstellung einer Pflichtverletzung zurückschrecken lassen. Erstens die normative Überzeugung, dass wir (unabhängig von ihrer tatsächlichen Erwartbarkeit oder Wahrscheinlichkeit) im Fall einer Pflichtverletzung „ein passender Gegenstand von Bestrafung sind“ (CW XXXI, 242; Analysis II, 325); und zweitens der normative Wunsch nach Strafe (CW XV, 650). Wie kommt es zu dieser psychischen Assoziation mit der Idee der Strafwürdigkeit? Was ist der Ursprung des Pflichtgefühls und wie hat es sich psychogenetisch herausgebildet? Nach Mill ist die Assoziation mit Strafwürdigkeit das Ergebnis der rationalen Veredelung und Verfeinerung eines naturgegebenen Instinkts, nämlich des „animalischen“ Triebs zur Selbstverteidigung. Die ursprüngliche Quelle dieser Assoziation, so Mill, sei der auch bei anderen Tieren anzutreffende Wunsch nach Vergeltung für Angriffe auf „vitale Interessen“ unserer selbst oder derer, die uns nahestehen: „This feeling of indignation, or resentment, is, I conceive, a case of the animal impulse (I call it animal because it is common to us with the other animals) to defend our own life or possessions, or the persons whom we care for, against actual or threatened attack. All conduct which we class as wrong or criminal is, or we suppose it to be, an attack upon some vital interest of ourselves or of those we care for, (a category which may include the public, or the whole human race): conduct which, if allowed to be repeated, would destroy or impair the security and comfort of our lives“ (CW XXXI, 242; Analysis II, 325). Mill beeilt sich hinzuzufügen, dass dieser animalische Trieb ursprünglich kein moralisches ­Gefühl

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sei, sondern nur das Urelement, aus dem die „wahren“ moralischen Gefühle im Laufe eines Prozesses rationaler Zähmung und Regulierung nach und nach hervorgehen (CW XXXI, 242 f.; Analysis II, 325 f.). Wie alle menschlichen Instinkte müsse auch dieser Trieb erst „be controlled and enlightened by a higher reason“ (CW X, 240). Nach Mill sind es vor allem zwei natürliche Vermögen, die Menschen (im Unterschied zu anderen Tieren) die ‚Moralisierung‘ dieses Instinkts ermöglichen: Erstens die menschliche Fähigkeit zum sympathisierenden Mitfühlen mit anderen und zweitens unsere höher entwickelte Intelligenz (CW X, 248). Die konsequente Ausübung dieser beiden natürlichen Vermögen führt vernünftige Menschen unweigerlich zu der Einsicht, so Mill, dass zwischen ihren eigenen Interessen und denen anderer Personen eine breite Übereinstimmung besteht. Sie erfassen den Begriff des Gemeinwohls einer Gesellschaft und der rationalen Notwendigkeit seiner Wahrung und Sicherung. Am Ende dieses Prozesses der rationalen Zähmung des Vergeltungstriebs ist das ‚Selbst‘, das der so erfolgreich ‚moralisierte‘ Instinkt nunmehr verteidigt, nicht mehr das Individuum, sondern das Kollektiv, die Gesellschaft insgesamt (CW X, 249). Und so kam es, dass im Laufe der Zivilisationsgeschichte zumindest einige Mitglieder der Gattung Homo sapiens aufgrund ihres sozialen Wesens ein emotional geprägtes moralisches Gewissen und einen Gerechtigkeitssinn ausgebildet haben. Diese psychogenetische Just-So-Geschichte (Kipling 1902), in der Nützlichkeitserwägungen mit Blick auf „vitale Interessen“ eine konstitutive Rolle spielen, bildet den Schlussstein von Mills utilitaristischer Kausalerklärung unserer moralischen Gefühle im Allgemeinen und speziell des Pflichtgefühls. Wie schon erwähnt, ist ihrer ausführlichen Darstellung das Schlusskapitel von

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Utilitarianism gewidmet. In ihm diskutiert Mill den anti-utilitaristischen Standardeinwand mit Blick auf den „heiligsten und verbindlichsten Teil der Moral“ (CW X, 255) in dem der Kontrast zwischen moralischer Pflicht und bloßer Nützlichkeit besonders scharf ausgeprägt ist: die Gerechtigkeit (s. Kap. V.28). Dort fasst Mill seine konstruktiv-genetische Analyse der moralischen Gefühle im Allgemeinen und insbesondere unseres Gerechtigkeitssinns so zusammen: „[T]he sentiment of justice appears to me to be, the animal desire to repel or retaliate a hurt or damage to oneself, or to those with whom one sympathizes, widened so as to include all persons, by the human capacity of enlarged sympathy, and the human conception of intelligent self-interest. From the latter elements, the feeling derives its morality; from the former, its peculiar impressiveness, and energy of selfassertion“ (CW X, 250).

Literatur Eggleston, Ben/Miller, Dale E./Weinstein, David (Hg.): John Stuart Mill and the Art of Life. Oxford 2011. Hartley, David: Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations. London 1749. Kipling, Rudyard: How the Leopard got his Spots. Just So Stories for Little Children. London 1902. Mill, James: Analysis of the Phenomena of the Human Mind, 2. Aufl. Hg. von John Stuart Mill, with notes by Alexander Bain, Andrew Findlater and George Grote, 2 Bde. London 1869. Miller, Dale E: ‘Mill’s Theory of Sanctions’. In: Henry R. West (Hg.): The Blackwell Guide to Mill’s Utilitarianism. Malden/Oxford 2006, 159–173. Ward, William G.: On Nature and Grace, Book I: Philosophical Introduction. Printed for Private Circulation. London 1859. Wilson, Fred: Mill on Psychology and the Moral Sciences. In: John Skorupski (Hg.): The Cambridge Companion to John Stuart Mill. Cambridge 1998, 203–254.

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Nutzen/Glück Christoph Schmidt-Petri

Einleitung Im zweiten Kapitel von Utilitarianism (s. Kap. III.12) beschreibt Mill seine Konzeption des Utilitarismus. Er beklagt, dass das Wort ‚Utilitarismus‘ zu vielerlei Missverständnissen geführt hat, von denen er einige ausräumen möchte. Das ist ihm schon damals nur zum Teil gelungen. Seit 1861 hat sich dieses Problem für den Utilitarismus in der Tat noch potenziert, da das ihm zugrunde liegende Wort utility (dt. ‚Nutzen‘) durch die Volkswirtschaftslehre eine völlig neue Bedeutung verliehen bekam (genau: seit Jevons 1871). Darüber hinaus befürworten viele Volkswirtschaftler auch eine normative Theorie, die sie, da sie sich auf diesen Begriff von Nutzen stützt, konsequenterweise ebenfalls als ‚Utilitarismus‘ bezeichnen. Hinzu kommt die weitverbreitete Annahme, dass Ökonomen grundsätzlich davon ausgehen, dass alle Menschen nur rationale Nutzenmaximierer seien, was häufig auch noch als herzloser Egoismus angesehen wird, und dieser wiederum, vor allem im ökonomischen Kontext, auch noch als synonym mit Profit- oder Einkommen-maximierend.

C. Schmidt-Petri ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Praktische Philosophie, Karlsruher Instituts für Technologie, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]

Darüber hinaus war Mill ja selbst ebenfalls Ökonom, sodass eine solche Interpretation auch bei ihm naheliegt. Da jede alltägliche Moral einen hemmungslosen Egoismus natürlich ablehnt, wird somit auch der Utilitarismus als eine geradezu pervertierte Auffassung der Moral angesehen. Das ist bedauerlich, da so ein Zerrbild des Utilitarismus verbreitet wird, das sein Ansehen kontinuierlich beschädigt. Die bereits vor 1861 umfassend diskutierte Frage, was ein gutes Leben ausmacht, erscheint bei dieser Herangehensweise dem Utilitarismus eher fremd. Dabei ist gerade dies die Frage, die Mill in Utilitarianism bearbeitet. Seine Unterscheidung zwischen ‚höheren‘ und ‚niederen‘ Freuden stellt keine Forderung auf, sie beschreibt nicht, was Menschen aus moralischen Gründen tun sollen. Sie beschreibt, was Menschen, die ein gutes Leben führen wollen, und hinsichtlich dieser Frage als kompetent einzuschätzen sind, tatsächlich tun, insofern sie eine Wahl haben. Irritierenderweise führt er dazu eine offenbar neue Unterscheidung ein, zwischen ‚Quantität‘ und ‚Qualität‘ von Freuden, mit der häufig eine radikale Abkehr vom traditionellen Verständnis des Utilitarismus verbunden wird (s. Kap. V.29). Dass Mill den Utilitarismus verändern möchte, lässt sich im Text auch klar nachweisen, und dass er, der in seiner Kindheit auf Veranlassung von Jeremy Bentham durch seinen Vater zum Vorzeige-Benthamianer erzogen bzw. gedrillt wurde (s. Kap. I.1), von dieser zurückblickend

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_35

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absurden Überforderung tief beschädigt wurde (was sich offenbar in seiner „mental crisis“ von 1826 äußerte) und somit allen Grund zur schöngeistigen Total-Opposition hatte, lässt diesen Ansatz höchst nachvollziehbar erscheinen. Im Folgenden wird zuerst Mills Theorie dargestellt und dann erläutert, wie sich seine Antworten zu den oben beschriebenen Missverständnissen verhalten. Dadurch soll verdeutlicht werden, wie die die zentralen Konzepte im Utilitarismus zueinander passen. Am Ende des Textes wird ausgeführt, wie sich diese Ansichten in weiteren Texten Mills zeigen.

Nutzen und Glück im Mill’schen Utilitarismus Mill antwortet mit seiner Theorie auf den Einwand, der Utilitarismus sei eine Schweinephilosophie, die sich nur dem Lustgewinn verschrieben hat, und dazu die primitivsten Freuden moralisch verbrämt: „To suppose that life has (as they [the opponents of utilitarianism] express it) no higher end than pleasure – no better and nobler object of desire and pursuit – they designate as utterly mean and grovelling; as a doctrine worthy only of swine, to whom the followers of Epicurus were, at a very early period, contemptuously likened“ (CW X, 210). Mill erwidert: „But there is no known Epicurean theory of life which does not assign to the plea­ sures of the intellect, of the feelings and imagination, and of the moral sentiments, a much higher value as pleasures than to those of mere sensation“ (CW X, 211). Er unterscheidet also zwischen unterschiedlichen Arten von Freuden, denen der bloßen Sinnlichkeit – die laut den Gegnern des Utilitarismus die einzigen sind, die der Utilitarismus als wünschenswert ansieht – und anderen, z. B. die Freuden des Verstandes, der Gefühle und der Vorstellungskraft – die ihm zufolge die Utilitaristen seit Epikur schon immer als höherwertig angesehen haben. Soweit sieht er den Einwand offenbar inhaltlich als gegenstandslos an.

C. Schmidt-Petri

Er fährt fort: „It must be admitted, how­ ever, that utilitarian writers in general have placed the superiority of mental over bodily plea­sures chiefly in the greater permanency, safety, uncostliness, &c., of the former – that is, in their circumstantial advantages rather than in their intrinsic nature. And on all these points utilitarians have fully proved their case; but they might have taken the other, and, as it may be ­called, higher ground, with entire consistency. It is quite compatible with the principle of utility to recognise the fact, that some kinds of pleasure are more desirable and more valuable than oth­ ers. It would be absurd that while, in estimating all other things, quality is considered as well as quantity, the estimation of pleasures should be supposed to depend on quantity alone“ (CW X, 211). Mill möchte also betonen, dass die höheren Freuden nicht nur zufälligerweise oder umständehalber von höherem Wert sind, z. B. weil es sehr viel länger dauert, ein anspruchsvolles Buch zu lesen als die sinnliche Freude eines guten Abendessens zu genießen, die Freude also länger anhält (wobei dies nur in erster Näherung gelten würde, da man sich an besondere Abendessen ja lange mit Freude erinnert), sondern an der Art der Freude liegt, vielleicht also an ihrem Wesen. Leider erklärt er nicht, was genau damit gemeint ist, sondern fügt hinzu, dass es sich hier nicht anders verhält als bei allen anderen Dingen, bei denen man auch zwischen Quantität und Qualität unterscheidet. Er fährt fort: „If I am asked, what I mean by difference of quality in pleasures, or what makes one pleasure more valuable than another, merely as a pleasure, except its being greater in amount, there is but one possible answer. Of two pleasures, if there be one to which all or almost all who have experience of both give a decided preference, irrespective of any feeling of moral obligation to prefer it, that is the more desirable pleasure“ (CW X, 211). Klar ist also, dass es empirische Evidenz dafür gibt, welche Freude wertvoller oder wünschenswerter ist. Ziemlich eindeutig ist auch, dass die Qualität der Freuden und das, was sie wertvoller macht, deckungsgleich sind.

35 Nutzen/Glück

­ mstritten ist, welche Rolle der einschränkende U Passus zum ‚amount‘ spielt. Ist damit die der Qualität gegenläufige Quantität gemeint? Und bedeutet er, dass ein größerer ‚amount‘ (also eine größere Menge oder ein größerer Betrag) ebenfalls oder eben gerade nicht dazu führen kann, dass eine Freude wertvoller wird als eine andere? Die folgenden Ausführungen klären dies leider auch nicht auf: „If one of the two is, by those who are competently acquainted with both, placed so far above the other that they prefer it, even though knowing it to be attended with a greater amount of discontent, and would not resign it for any quantity of the other pleasure which their nature is capable of, we are justified in ascribing to the preferred enjoyment a superiority in quality, so far outweighing quantity as to render it, in comparison, of small account“ (CW X, 211). Diese Passage ist vermeintlich das inhaltliche Kernstück der Mill’schen Revolution des Utilitarismus. In ihm wird der traditionellen Auffassung zufolge Mills zentrale normative Neuerung beschrieben, nämlich dass höhere Freuden den niederen stets vorzuziehen seien, auch wenn die niederen in großem Ausmaß zur Verfügung stehen und die höheren nur in sehr beschränktem (z. B. Riley 2003). Dies würde z. B. bedeuten, dass eine sehr kurz andauernde höhere Freude einer sehr lang anhaltenden niederen Freude vorzuziehen wäre – nicht nur häufig oder meistens, sondern ausnahmslos immer, und auch, wenn die niedere Freude in sehr großer ‚quantity‘ vorliegt (der traditionellen Lesart zufolge also sehr lang anhält und sehr intensiv ist). In einer alternativen Lesart beschreibt Mill hier, unter welchen Umständen wir empirisch gesichert höheren Freuden eine besonders hohe Qualität zuschreiben können, nämlich wenn die Quantität bei einer beobachteten Entscheidung zwischen höheren und niederen Freuden offenbar keine Rolle spielt (z.  B. Schmidt-Petri 2003). Diese Lesart hat den Vorteil, dass sie gut mit Mills Aussage kohärieren würde, dass bei Freuden ‚wie bei allen anderen Dingen‘ Qualität und Quantität berücksichtigt werden sollten. Häufig ist es ja so, dass qualitativ h­ öherwertige

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Ausführungen teurer sind als die qualitativ weniger hochwertigen, und man damit bei eingeschränktem Budget eine Wahl treffen muss, ob man die ‚gute‘ Schokolade, den ‚guten‘ Wein, das ‚gute‘ Fahrrad etc. kauft oder lieber die einfachere Ausführung, dann vielleicht aber entsprechend mehr davon (z. B. zwei Tafeln vom Hersteller B statt einer vom Hersteller A, oder Rennrad und Stadtrad mit Alurahmen statt ein Rennrad mit Carbonrahmen). Wenn man dann eine sehr geringe Menge einer Schokolade vom Hersteller A statt einer sehr viel größeren Menge vom Hersteller B kauft, scheint dies ceteris paribus offenbar an der höheren Qualität der Schokolade zu liegen. Für solche Qualitätsunterschiede gibt es meist nachvollziehbare Gründe: sie sind z. B. darauf zurückzuführen, dass die eine Schokolade erlesene Kakaobohnen aus Land A enthält, die mit Verfahren A veredelt wurden und dann mit Zutat A sorgfältig abgestimmt wurden, die andere Schokolade enthält Kakaobohnen aus Land B, die mit Verfahren B behandelt und dann nur mit Zutat B verschnitten wurden – also an Bestandteilen oder Verfahren, die ihre wesentlichen Eigenschaften beeinflussen. Über Freuden ließe sich Analoges feststellen – bestimmte niedere Freuden sind leicht in größerer Anzahl erreichbar (z. B. viele körperliche Freuden), aber auf diese kann man auch rationalerweise verzichten, wenn man dadurch wenige aber besondere höhere Freuden gewinnen kann (z. B. eine wissenschaftliche Leistung zu erbringen). Mill spitzt den Gegensatz zwischen den Arten von Freuden weiter zu, weil er offenbar akzeptiert, dass die Wahl von höheren Freuden nicht immer mit der umfassenden Euphorie verbunden ist, die sinnliche Freuden manchmal begleitet, und die man umgangssprachlich durchaus als Glücksgefühl bezeichnen würde. Dies ist kein Gegenargument: „Few human creatures would consent to be changed into any of the lower animals, for a promise of the fullest allowance of a beast’s pleasures; no intelligent human being would consent to be a fool, no instructed person would be an ignoramus, no person of feeling and conscience would be selfish and base, even though they should be persuaded

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that the fool, the dunce, or the rascal is better satisfied with his lot than they are with theirs“ (CW X, 211). Dies legt nahe, dass in Einzelentscheidungen zwar durchaus die niederen den höheren Freuden vorgezogen werden können, wenn es um weiterreichende Entscheidungen geht, die den gesamten Lebensstil betreffen, jedoch Intelligenz, Bildung, Feinfühligkeit und Mitgefühl gewählt würden – zumindest von den meisten menschlichen Wesen, nicht unbedingt von allen (Long 1992). Dass „niedere Tiere“ mit ihrem Leben sehr zufrieden sein können, sieht auch Mill. Er leugnet aber, dass Menschen mit einem Leben voll animalischer Freuden glücklich wären: „Whoever supposes that this preference takes place at a sacrifice of happiness- that the superior being, in anything like equal circumstances, is not happier than the inferior- confounds the two very different ideas, of happiness, and content. It is indisputable that the being whose capacities of enjoyment are low, has the greatest chance of having them fully satisfied; and a highly endowed being will always feel that any happiness which he can look for, as the world is constituted, is imperfect. But he can learn to bear its imperfections, if they are at all bearable; and they will not make him envy the being who is indeed unconscious of the imperfections, but only because he feels not at all the good which those imperfections qualify. It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides“ (CW X, 212). Mit ‚Zufriedenheit‘ („contentment“) führt Mill hier im Vorbeigehen ein neues Konzept ein, das von entscheidender Bedeutung ist. Zufriedenheit ist das Verhältnis von tatsächlich erfahrenem Glück zum maximal möglich erfahrbaren Glück, beschreibt also, zu welchem Maß das Glückspotenzial des jeweiligen Wesens ausgeschöpft ist (Schmidt-Petri 2018).

C. Schmidt-Petri

Da Mill davon ausgeht, dass Menschen zusätzlich zu den (niederen) animalischen Freuden, die sie sich mit den Tieren teilen, auch Zugang zu den (höheren) intellektuellen Freuden haben, haben Menschen insgesamt ein höheres Glückspotenzial als Tiere. Da die höheren Freuden nicht so leicht zu befriedigen sind wie die niederen, ist das Glückspotenzial der Menschen aber nicht so leicht auszuschöpfen, und Menschen sind deswegen weniger zufrieden als Tiere. Da sie aber die niederen Freuden ähnlich leicht wie die Tiere befriedigen können, und zusätzlich einige der höheren, sind sie trotzdem glücklicher als sie. Zusammen mit der Annahme, die Mill im vierten Kapitel von Utilitarianism zu belegen versucht, dass Glück – also nicht Zufriedenheit – das letzte Ziel allen menschlichen Handelns ist, ist es nur folgerichtig, dass ein unzufriedener Sokrates kein zufriedenes Schwein sein möchte, denn damit würde er ja einen Zustand wählen, in dem er unter diesen Annahmen unglücklicher wäre, also vom letzten Ziel weiter entfernt. Mill stellt hier also eine (relativ ungenaue) Theorie vor, wie sich menschliches Glück zusammensetzt, nämlich aus höheren und niederen Freuden (die beide jedoch nur abstrakt benannt werden). Das spezifisch menschliche sind hier die Freuden, die mit den spezifisch menschlichen Fähigkeiten verbunden sind, die sich ganz ähnlich z. B. auch im Ergon-Argument von Aristoteles finden lassen. Damit begegnet er dem Einwand der Schweinephilosophie überzeugend, denn dieser beruht ja sogar auf der Behauptung, dass menschliche Freuden über die der Schweine hinausgehen. Mill gibt seiner Theorie jedoch eine stärkere empirische Untermauerung als Aristoteles es tut, für den die empirische Beobachtung, die er sicherlich ähnlich gemacht hat, als Begründung nicht erforderlich schien. Nicht nur sind die Fähigkeiten spezifisch menschlich, sie stellen sich auch für den Menschen als besonders wünschenswert dar, was sich letztlich daran festmacht, dass Menschen, die beide Arten von Freuden kennen, den höheren den Vorzug geben.

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Nutzen und Glück in Utilitarismus und Ökonomie Wie passt dies nun zum Utilitarismus? Dessen propagiertes Ziel lautet folgendermaßen: „The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness. By happiness is intended pleasure, and the absence of pain; by unhappiness, pain, and the privation of pleasure“ (CW X, 210). Dass Freude ein Bestandteil von Glück ist, wurde bereits klar. Über Leiden spricht Mill kaum, aber durch die höheren Fähigkeiten der Menschen müssten sich nebst höheren Freuden eigentlich auch höhere Leiden einstellen. Man könnte auch annehmen, dass die höheren Leiden die höheren Freuden sogar neutralisieren, auch dies ist für Mill leider nicht der Erörterung wert bzw. soll vielleicht durch die als moralisch unproblematisch angesehene „Unzufriedenheit“ abgehandelt werden. ‚Nützlichkeit‘ wird in diesem Zitat mit dem ‚Prinzip des größten Glücks‘ gleichgesetzt, das auch als ‚Nutzenprinzip‘ („principle of utility“) bekannt ist. Wie hängen nun Nützlichkeit und Glück zusammen? Für Mill sind Handlungen moralisch richtig, insofern sie nützlich sind. Nützlich sind sie, wenn und insoweit sie das Glück befördern. Mit anderen Worten sind Handlungen moralisch richtig, insoweit sie das Glück befördern – ‚Nützlichkeit‘ lässt sich inhaltlich also ohne Verlust aus der Theorie kürzen. Der im engeren Sinne volkswirtschaftliche Begriff von ‚Nutzen‘ ist ein völlig anderer. Die ab 1870 entstandene neoklassische Theorie baut auf sogenannten ‚Nutzenfunktionen‘ auf. Statt ‚Nutzen‘ hätte hier auch jeder andere Begriff dienen können, z. B. ‚Lieblichkeit‘, aber aus mehrerlei Gründen erschien damals ‚Nutzen‘ als naheliegend (die Entstehungsgeschichte ist deutlich verworrener als das hier zusammengefasste Ergebnis). Wenn eine Person sich auf eine Art und Weise verhält, die den deutlich später axiomatisch formulierten Ansprüchen an Rationalität

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entspricht, lässt sich für sie eine solche Nutzenfunktion nachträglich konstruieren. Das bedeutet, dass sich die Wahlentscheidungen durch eine mathematische Funktion mit mathematisch ansprechenden Eigenschaften repräsentieren lassen, die Güter jeglicher Art als ‚Input‘ und Nutzen als ‚Output‘ aufweisen. Wenn eine Person eine Option einer anderen vorzieht, nimmt erstere bei dieser Rekonstruktion einen höheren ‚Nutzenwert‘ an als letztere. Dies bedeutet ausschließlich, dass die Person sie gewählt hat und sagt nichts über die Gründe, Motive oder den moralischen Wert der Handlung aus. Es bedeutet also weder, dass diese Option ‚besser‘ oder ‚nützlicher‘ ist, die Person sich hinterher mit der Wahl besser oder glücklicher fühlt als vorher, sie ihre Wahlentscheidung bewusst nach dem ‚Nutzen‘ oder moralischem Wert der Güter ausrichtet, noch dass sie sonst irgendwie überhaupt auf eine bestimmte Art entscheidet, ein Ziel verfolgt, ihr zukünftiges Verhalten damit vorhersagbar oder gar determiniert ist. Sogar Tiere oder Zombies würden sich in diesem Sinne rational verhalten, würden ihre Entscheidungen das geforderte Maß an Konsistenz aufweisen. Eine Nutzenfunktion beschreibt also nachträglich Verhalten, das eine bestimmte Struktur aufweist bzw. einer bestimmten Präferenzstruktur entspricht. Es wird in der Entscheidungstheorie kontrovers diskutiert (vgl. Briggs 2019), wie gehaltvoll diese Rationalitätsanforderungen sind, aber sie sind auf jeden Fall nur struktureller und nie inhaltlicher Art (z. B. wird gefordert, dass rationale Präferenzen transitiv sein müssen, man also rationalerweise Option A der Option C vorziehen muss, wenn man Option A der Option B vorzieht und Option B der Option C, aber nicht, dass man z. B. Zartbitterschokolade der Vollmilchschokolade vorziehen muss). Die Theorie sagt also auch nicht, dass man nur seine eigenen Interessen verfolgen sollte (eine Theorie, die als ‚normativer Egoismus‘ bezeichnet wird) oder tatsächlich nur seine eigenen Interessen verfolgt (der ‚psychologische Egoismus‘). Das Ziel, eine Funktion erstellen zu können, ist durch den Wunsch bedingt, menschliches Verhalten mathematisch greifbar darstellen zu können und

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soll keinerlei weitergehenden Ansprüche an es stellen. Oben haben wir gesehen, dass für Mill menschliches Glück aus ‚Freude und Abwesenheit von Leid‘ besteht, also Zuständen. Er stellt auch eine Theorie darüber auf, durch welche Handlungen diese Zustände allem Anschein nach zu erreichen sind, nämlich durch die Wahl von höheren Freuden, also Aktivitäten, die die typisch menschlichen Fähigkeiten involvieren. Ihm ist klar, dass bedauerlicherweise nicht jeder Mensch Zugang zum höchstmöglichen Umfang dieser Freuden hat. Ihm ist aber auch klar, dass nicht alle Menschen, die diesen Zugang haben, ihn auch nutzen – dafür muss man zusätzlich hinreichend kompetent sein. Mill würde also nicht sagen, dass alle Menschen durch ihr Handeln kontinuierlich Glück befördern, weder ihr eigenes noch das anderer. Wenn die Handlungen dieser Menschen die Rationalitätsanforderungen der neoklassischen Volkswirtschaftslehre erfüllen, die ja keine inhaltlichen Anforderungen sind, würden sie dennoch als eine Nutzenfunktion maximierend dargestellt werden können. Diese Menschen maximieren ihren Nutzen im volkswirtschaftlichen Sinn, aber nicht deswegen schon Glück oder Wohlergehen.

Nutzen und Glück in weiteren Kontexten In seiner Autobiography (s. Kap. III.11) bekennt Mill: „I never, indeed, wavered in the conviction that happiness is the test of all rules of conduct, and the end of life. But I now thought that this end was only to be attained by not making it the direct end. Those only are happy (I thought) who have their minds fixed on some object other than their own happiness; on the happiness of others, on the improvement of mankind, even on some art or pursuit, followed not as a means, but as itself an ideal end. Aiming thus at some­ thing else, they find happiness by the way“ (CW I, 146 f.). Ein Ergebnis seiner „mental crisis“

C. Schmidt-Petri

war also die Einsicht, dass man Glück nicht als solches verfolgen muss oder sollte, um es zu erreichen (dieses „Paradox of Happiness“ wird häufig als ein Problem für den Utilitarismus dargestellt; vgl. Eggleston 2013). Im vorliegenden Zusammenhang ist aber vor allem der erste Satz interessant: Die Überzeugung, dass Glück der Maßstab aller Handlungsregeln und das ultimative Lebensziel ist, war eine früh angenommene Grundüberzeugung, die Mill sicherlich hinterfragt, aber nie aufgegeben hat. Er empfand sie offenbar auch als so einleuchtend, dass er – bis auf in Utilitarianism – kaum explizit über menschliches Glück spricht. Mill kümmert sich eher um die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es für alle Menschen erreichbar wird. Eine wichtige Ausnahme ist On Liberty (s. Kap. III.13). Mill möchte in diesem Grundlagentext des Liberalismus eine Grenze ziehen zwischen den Bereichen des Lebens, über die die Individuen völlig frei entscheiden können dürfen sollten – um ihre eigene Auffassung von Glück ungestört verfolgen zu können – und den Bereichen, in denen der Staat oder die Gesellschaft ein legitimes Mitspracherecht hat – um das allgemeine Glück zu gewährleisten, welches mit dem Glück von Einzelpersonen in Konflikt geraten kann. Diese Grenze ist laut Mill dort zu ziehen, wo eine Person einer anderen einen Schaden zufügt. Die Handlung muss also, erstens, eine andere Person betreffen und, zweitens, sie auf eine bestimmte Art und Weise betreffen. Damit diese Theorie anwendbar wird, muss natürlich bestimmt werden, was als Schaden zählen soll. Ein Schaden ist in Mills Theorie nicht jegliche Verringerung des eigenen Glücks (z. B. wenn die Angebetete den Heiratsantrag ablehnt) sondern liegt erst dann vor, wenn die moralischen Rechte einer Person verletzt wurden. Moralische Rechte wiederum sind nicht deckungsgleich mit den juridischen Rechten, also den Rechten, die eine Person tatsächlich hat. Es sind die juridischen Rechte, die eine Person, moralisch gesehen, haben sollte. Um dies entscheiden zu können, müssen

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­ützlichkeitsüberlegungen angestellt werden: N „It is proper to state that I forego any advantage which could be derived to my argument from the idea of abstract right, as a thing independent of utility. I regard utility as the ultimate appeal on all ethical questions: but it must be utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224). Die moralischen Rechte einer Person sind weder ‚natürlich‘ noch gottgegeben, sondern nur durch Nützlichkeit bestimmbar – aber durch Nützlichkeit in einem weiten Sinne, der Fortschritt (s. Kap. V.26) und dauerhafte Entwicklung beinhaltet (Brink 2013). Es ist also nicht die sofortige Befriedigung bestehender Wünsche, die geschützt werden soll, sondern die Möglichkeit, sich den menschlichen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln. Hier zeigt sich erneut Mills Hoffnung, dass im Lauf der Zeit immer mehr Menschen sich den Freuden widmen können, die er als die wünschenswertesten ansieht.

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Literatur Briggs, Rachael: Normative Theories of Rational Choice. In: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2019 Edition), https://plato.stanford. edu/archives/fall2019/entries/rationality-normativeutility/ (30.03.2023). Brink, David: Mill’s Progressive Principles. Oxford 2013. Eggleston, Ben: Paradox of Happiness. In: Hugh LaFollette (Hg.): International Encyclopedia of Ethics. London 2013, 3794–3799. Jevons, William Stanley: The Theory of Political Econ­ omy. London 1871. Long, Roderick: Mill’s Higher Pleasures and the Choice of Character. In: Utilitas 4/2 (1992), 279–297. Riley, Jonathan: Interpreting Mill’s Qualitative Hedonism. In: Philosophical Quarterly 53/212 (2003), 410–418. Schmidt-Petri, Christoph: Mill on Quality and Quantity. In: Philosophical Quarterly 53/210 (2003), 102–104. Schmidt-Petri, Christoph: John Stuart Mills Qualitativer Utilitarismus und die undichten Fässer des Gorgias. In: H. Nutzinger/H. Diefenbacher (Hg.): John Stuart Mill Heute. Marburg 2018, 157–172.

Parlamentarismus

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Hubertus Buchstein

Mill verfasste seine Schriften zum Parlamentarismus in einer Epoche der Geschichte Großbritanniens, die im Nachhinein als „Zwischenstadium der Parlamentssouveränität“ (Kluxen 1983, 125) charakterisiert wird. In den gut vierzig Jahren zwischen 1825 und 1867 fassten die Mitglieder beider Häuser in London ihr Mandat so frei wie nie zuvor und auch später nicht mehr von Partei- und Wählerinstruktionen auf. Eine plutokratische „Elite hochadeliger Berufspolitiker, bedeutender Juristen und erfolgreicher Geschäftsleute beriet und entschied […] über Regierung und Politik in eigener Selbstherrlichkeit“ (Kluxen 1983, 126). Mills Überlegungen zur Theorie des Parlamentarismus sind von dieser Ära der Parlamentsgeschichte tief geprägt – das gilt sowohl für die in seinen Schriften erkennbaren Bewunderung für einige ihrer Merkmale wie auch für seine Kritik an den damaligen parlamentarischen Zuständen. Denn Mill gehörte nicht zu den Autoren, die sich von der „Glorifizierung dieser Epoche“ (Jäger 1973, 18) des englischen Parlamentarismus blenden ließen. Zusammen mit den Schriften seines ebenfalls in der liberalen Partei aktiven Zeit-

H. Buchstein (*)  Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected]

genossen Walter Bagehot werden Mills Beiträge heute zu den „two major programmatic defenses of parliamentary government“ (Palonen 2016, 174) gezählt. Erste und fragmentarische Überlegungen zur Theorie des Parlamentarismus finden sich bereits in Mills frühen Schriften von 1835 zur Repräsentativregierung („Rationale of Representation“; CW XVIII, 15–46), seiner Auseinandersetzung mit Tocquevilles Amerika-Büchern („De Tocqueville on Democracy in America I/II“, 1835/1840; CW XVIII, 47–90 und 153–204; s. Kap. II.7) sowie seinem Aufsatz „Civilization“ (CW XVIII, 119–147; s. Kap. IV.22) aus dem Jahre 1836. Mill verficht in diesen Schriften die Vorstellung einer historischen Aufeinanderfolge unterschiedlicher politischer Regimeformen, an deren evolutionärer Spitze das System der Repräsentativregierung steht. Das Parlament wird von Mill in diesen Schriften als Teil einer gewaltenteilig organisierten Repräsentativregierung verstanden. Zugleich äußerte er sich darin und an weiteren verstreuten Stellen zu Fragen der Zeitbegrenzung von parlamentarischen Debatten, Geschäftsordnungsreglements und seiner Kritik an der französischen Praxis von geheimen Ausschusssitzungen (Palonen 2016, 162–166). Erst mehrere Jahre später wurden diese allgemeinen Überlegungen von Mill im Hinblick auf das Parlament als Institution in ihrer institutionellen Ausgestaltung systema­

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tischer durchdacht, argumentativ unterfüttert und im Hinblick auf die politische Praxis entfaltet. Seine beiden wichtigsten Schriften zum Parlamentarismus entstanden in den Jahren 1858–1861. Es sind sein Essay „Thoughts on Parliamentary Reform“ von 1859 (CW XIX, 311–340) und vor allem das Buch Considerations of Representative Government (s. Kap. III.14), das 1861 publiziert wurde. Mill erweist sich darin als Gegner der sogenannten ‚Abbild-‘ oder ‚Identitäts-Theorie‘ der Repräsentation, wonach das Parlament den wahren Volkswillen jederzeit abbilden solle. Stattdessen gehört er zu einem der in der politischen Ideengeschichte markantesten Autoren eines Parlamentarismusverständnisses, wonach ein demokratisch gewähltes Parlament in geregelten Verfahren selbst eigenständig einen politischen Willen bildet.

Die Parlamentsfunktionen Mills Theorie des Parlamentarismus ist eine in Richtung auf die Praktikabilität modernen Regierens ausformulierte Theorie. Dabei lässt er sich nur zum Teil von der englischen Tradition des Parlamentarismus leiten, sondern reklamiert in seinen Grundaussagen eine für sämtliche modernen politischen Systeme gültige allgemeine Theorie des Parlamentarismus. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das normative Grundprinzip der Repräsentativregierung, wonach die Bevölkerung als Ganzes durch periodisch gewählte Vertreter die oberste politische Kontrollgewalt in einem Staat ausübt. Übertragen auf konkrete Institutionen heißt dies, dass die Spitze der Regierung in einem gewaltenteiligen politischen System aus dem gewählten Parlament hervorgeht und von deren Vertrauen abhängig ist. Repräsentativregierung hält er nur in der Form der parlamentarischen Demokratie, nicht aber als direkte Demokratie, für sinnvoll (CW XIX, 378–380). Mills Überlegungen bei den allgemeinen Ausführungen zum Parlamentarismus und der genaueren Bestimmung der Parlamentsfunktionen kreisen um ein Grundproblem demokratischen Regierens: das Problem der Ver-

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mittlung der politischen Beteiligung der Bürger und der kompetenten Sachangemessenheit von zu treffenden politischen Entscheidungen. Mills Vermittlungsversuch wird bei einem Vergleich mit dem ausführlichen und klassisch gewordenen Katalog der Parlamentsfunktionen von Walter Bagehot (1971 [1867], 136–141) besonders deutlich. Bagehot setzt im Unterschied zu Mill auf das funktionelle Primat der stabilen Regierungsbildung (Friedrich 1953, 321–323). Wie Bagehot hebt auch Mill die Wahlfunktionen des Parlaments hervor. Bezüglich der Gesetzgebungs- und Rekrutierungsfunktionen des Parlaments sind die Differenzen zu Bagehot ebenfalls nicht groß (auch wenn dies in einigen Überblicksdarstellungen zur Parlamentarismustheorie bis heute anders zu lesen ist, Marschall 2018, 96–99). Die Besonderheit der Theorie von Mill liegt in dessen Betonung der Öffentlichkeitsund Beratungsfunktionen des Parlaments. Wenn das Parlament der zentrale Ort demokratischer Politik ist, so ist zu vermuten, dass seine Funktion nicht in spezifischer Weise beschränkt werden muss. Genau dies mahnt Mill aber an. Das Parlament soll die Regierung kontrollieren, aber nicht selbst regieren. Die mit der Bezeichnung „controlling assembly“ (CW XIX, 435) betonte Kontrollfunktion hat Florian Meinel zu Recht als eine „im viktorianischen England brillante Beobachtung Mills“ (Meinel 2019, 173) hervorgehoben. Die parlamentarische Kontrolle soll im Medium der öffentlichen Deliberation stattfinden. Unterschiedlichen Tatsachenbeschreibungen und gegensätzlichen Standpunkten sollen im Parlament Gehör und öffentliche Beachtung verschafft, dem kontroversen Meinungskampf soll ein fokussiertes Forum geboten werden. Die parlamentarische Versammlung ist ein „Congress of Opinions“ (CW XIX, 432). Das kann sie aber nur sein, wenn diese Meinung in all ihrer Vielfalt zum Ausdruck gebracht wird, weswegen Mill sich vehement für Reformen der britischen Wahlgesetzgebung einsetzt, um auch den Frauen sowie den unteren Schichten die Chance der Vertretung ihrer Situationswahrnehmungen, Interessen und Überzeugungen im Parlament zu ermöglichen. Auf Basis dieser Vielfalt soll

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die Volksmeinung dann im Parlament in Beratungsprozessen gemeinsam gebildet und durch Offenlegung, Rechtfertigung und Kritik der unparteiischen Prüfung unterzogen werden. Aus diesem Grund ist Mill ein entschiedener Gegner des imperativen Mandats (CW XIX, 504–512). Er hält die Deliberationsfunktion des Parlaments für so bedeutsam, weil sie sowohl die Bürger als auch ihre Repräsentanten dazu animiert und ermutigt, Politik als etwas zu denken, was öffentlicher Rechtfertigung bedarf. Auch deshalb erscheinen in Mills Theorie des Parlamentarismus Partizipation (s. Kap. V.37) und Repräsentation nicht als zwei alternative, sondern als zwei aufeinander bezogene Formen demokratischer Politik (Urbinati 2002, 104–122). Neben der Öffentlichkeits- und Beratungsfunktion hat das Parlament eine Wahlfunktion: Es soll die geeigneten Persönlichkeiten für Ämter auswählen und dabei auf spezifische Qualifikation achten, die es selbst, d. h. jeder einzelne Abgeordnete gar nicht haben kann. Das gilt natürlich in erster Linie für das Regierungsoberhaupt, den Premierminister, aber auch für andere administrative Positionen. Für Mill hängt die Rationalität des Regierens von einer klaren Aufgabentrennung zwischen Legislative und Exekutive und hier insbesondere einer geschulten Fachverwaltung ab (CW XIX, 520–533). Max Webers Charakterisierung legaler Herrschaft gewissermaßen vorwegnehmend (Weber 1958 [1918]), betont er die Notwendigkeit von Fachkenntnis, akkumulierter Erfahrung und praktischem Wissen, wie sie nur durch bürokratische Routinen und Herrschaftsstrukturen zu gewährleisten seien. Wie Max Weber sieht Mill auch die Nachteile dieser Herrschaftsform: eingefahrenen Stillstand, Korpsgeist und Unterdrückung von schöpferischer Energie und Individualität. Gegen solche Tendenzen hat das Parlament eine spezifische Funktion: Es ist die Gegenkraft, die eine an der Beamtenhierarchie vorbeigreifende politische Legitimität verschafft. Mill betont, dass eine aktionsfähige Organisation der Leitung durch eine Einzelperson bedarf, aber anders als Weber setzt er darauf, politische Initiative und Gestaltungsvermögen durch Reformen im Wahlrecht zu sichern (s.

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Kap. V.41) und an den parlamentarisch repräsentierten Volkwillen zurückzubinden. Über die agora des Parlaments soll die Verbindung von Regierung und öffentlicher Meinung hergestellt werden. Mills Anliegen ist es, bürokratische und demokratische Elemente so zu verbinden, dass ein Fortschritt in Richtung einer qualifizierten Demokratie möglich ist. Mill macht in seinem Bemühen, Legitimität und Rationalität des Regierens zu verbinden, selbst vor dem ureigensten Recht des Parlaments, der Ausübung der Gesetzgebungsfunktion, nicht halt. Die Gesetzgebung verlangt einen durch mühevolles Studium erworbenen geschärften Verstand. Gesetze müssen in Ausschüssen vorbereitet werden und sich in das rechtliche Gesamtsystem fügen. Es wäre Mill zufolge kontraproduktiv, wenn das Parlament im Plenum Gesetzesvorlagen ohne die nötige Sach- und Detailkenntnis erarbeiten wollte. Mill wird nicht müde, Beispiele für diese bislang vorherrschende unproduktive Praxis der Gesetzgebung in England zu nennen. Auch sorgfältig und kompetent vorbereitete Gesetze können, so kritisiert er, nicht verabschiedet werden, „because the House of Commons will not forego the precious privilege of tinkering it with their clumsy hands“ (CW XIX, 429). Er schlägt deshalb die Einführung einer ‚Legislativkommission‘ vor, welche die Aufgabe hat, Gesetze vorzubereiten, die sodann dem gesamten Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden können. Dabei scheint er von der Möglichkeit eines unpolitischen Sachverstands auszugehen. Anders als die heutigen parlamentarischen Ausschüsse sollen die Mitglieder der Legislativkommission nicht aus dem Parlament heraus bestimmt, sondern von der Krone für die Dauer von fünf Jahren berufen werden. Das Recht, Gesetze zu verabschieden, bleibt gleichwohl ungeteilt dem Parlament vorbehalten: „No one would wish that this body should of itself have any power of enacting laws: the Commission would only embody the element of intelligence in their construction; Parliament would represent that of will “ (CW XIX, 430; Herv. i. O.). Mill erörtert damit zudem ein allgemeines demokratietheoretisches Problem: Hinter den

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Überlegungen zur Rationalität der Gesetzgebung steht die Frage, ob sich Kompetenzunterschiede in der Demokratie auflösen werden und ob das wünschenswert ist. In gewisser Weise hält Mill eine Verringerung der Unterschiede für wünschenswert, denn er sieht die Demokratie als gefährdet an, wenn die kompetenten ‚Wenigen‘ eine abgeschottete Kaste bilden und sich selbst jenseits wirksamer politischer Machtkontrolle stellen. Als Gegenmittel setzt Mill auf die öffentliche Deliberation, denn sie erzeugt eine Art von Kompetenz, die alle Bürger ausüben können und die durch die Praxis demokratischer Beteiligung weiter verbessert wird; Praktiken, denen Mill mit seinen Plädoyers für politische Dezentralisierung, Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung entgegenkommen möchte (Buchstein/Geisler 2013, 27–47).

Reformvorschläge Mills Theorie des Parlamentarismus wäre unvollständig, wenn sie ohne die von ihm ins Spiel gebrachten Reformvorschläge zur Kenntnis genommen würde. Bei Mill findet sich eine Idealtheorie und eine davon abweichende Realtheorie, die auf die jeweils vorliegenden konkreten Kontextbedingungen Rücksicht nimmt. Gelingender Parlamentarismus beruht auf den prekären Voraussetzungen einer politischen Kultur, die auf argumentatives Abwägen und die Kompromissbildung trainiert ist. Gelingender Parlamentarismus bedarf aber auch des klugen Einbaus eines Parlaments in das jeweilige politische Gesamtsystem. Dies betrifft die von ihm differenziert diskutierten Fragen des Zweikammersystems (das er für überflüssig erachtet; CW XIX, 513–519), der Mandatsperiode von Parlamenten (die nicht zu lang sein dürfte; CW XIX, 501–504), dem Verhältnis zum Kabinett (anders als Bagehot spricht er sich für einen Dualismus von Regierung und Parlament aus; CW XIX, 420–425) bis hin zu Geschäftsordnungsreglements (die er vor allem im Hinblick auf die Sicherstellung von genügend Zeit für gründlich abwägende Entscheidungen bewertet; CW XIX, 426–431). Parlamentarismus

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bedarf des Weiteren bestimmter wahltechnischer Voraussetzungen: An diese Stelle gehört Mills jahrelanger Kampf für eine grundlegende Reform des britischen Wahlrechts. Gelingender Parlamentarismus bedarf schließlich auch der Einpassung in die sich wandelnden sozialen Randbedingungen seines Funktionierens. Interessant an Mills Reformvorschlägen sind aus heutiger Sicht weniger ihre konkreten institutionellen Ausgestaltungen als vielmehr die grundlegende Problemanalyse, die ihn zu den Vorschlägen veranlasst hat. Mill spaltet die Gesetzgebung in eine technische (juristische) und eine politische Dimension auf. Der spezifische Rationalitätsgewinn legaler Herrschaft (in der englischen Tradition: ‚rule of law‘) lässt sich nur verwirklichen, wenn dabei auch geschulter juristischer Sachverstand zum Zuge kommen kann. Neben die Rechtsrationalität tritt aber eine spezifische, nur im öffentlichen Meinungskampf zu erzielende kommunikative Rationalität. Die politische Dimension der Gesetzgebung verlangt nach öffentlicher Kritik und Rechtfertigung. Sie ist darauf angewiesen, dass Vorschläge aus bestimmten Gründen verworfen werden oder Zustimmung erhalten. Das Parlament ist der Ort, „where those whose opinion is overruled, feel satisfied that it is heard, and set aside not by a mere act of will, but for what are thought superior reasons, and commend themselves as such to the representatives of the majority of the nation“ (CW XIX, 432). Auf der politischen Ebene ist es von entscheidender Bedeutung, das Durchschlagen partikularer und klassengebundener Interessen zu verhindern, was nur gelingen kann, wenn keine gesellschaftliche Klasse die parlamentarische Versammlung dauerhaft in ihrem Sinne majorisieren kann. Mills Theorie des Parlamentarismus ist ein rationalistisches Gegenmodell zum Dezisionismus. Sie weist hingegen Parallelen zum Prozeduralismus und der deliberativen Demokratietheorie von John Rawls und Jürgen Habermas auf (Rinderle 2009), wenn er für einen Bau der institutionellen Ordnung plädiert, die alle Beteiligten zwingen soll, sich mit den Argumenten der jeweils anderen Seite argumentativ auseinanderzusetzen.

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Ein wichtiger Beitrag Mills zur Theorie der modernen parlamentarischen Demokratie besteht darin, zwei Arten politischer Kompetenzen zu unterscheiden – eine allgemein politisch deliberative und eine spezialisiert fachbezogene Kompetenz – und darzulegen, wie sie institutionell verankert werden sollen (Urbinati 2002, 44–46). Die Unterscheidung beider Kompetenzen impliziert zwar eine funktionale Aufgabendifferenzierung in der Politik, sie lässt aber das Regierungssystem nicht zu einer Maschine in der Hand von Experten werden, in der die Bevölkerung stumm und machtlos bleibt. Die letzte Entscheidung und Kontrolle dürfen nicht bei Experten liegen. Diese Überzeugung Mills rechtfertigt es, Mills Theorie des Parlamentarismus als eine demokratische Theorie zu identifizieren. Die zivilisatorischen Hoffnungen, die Mill auf den Parlamentarismus setzte, lassen sich nicht zuletzt in seinen Schriften zum Britischen Kolonialreich erkennen (s. Kap. V.31). In den 1850er Jahren schlug er in mehreren Memoranden für die East India Company eine umfassende Reorganisation der britischen Herrschaftsausübung in Indien vor. Er sprach sich darin für die Einrichtung eines „Council“ (CW XXX, 204), bestehend aus ernannten Mandatsträgern aus der indischen Bevölkerung, aus, welches „analogous to the functions of Parliament“ (CW XXX, 88) als Beratungsgremium der britischen Behörden fungieren sollte. Mit der Zeit könne daraus ein Gremium der politischen Selbstverwaltung hervorwachsen, welches Indien schließlich in die von Mill erwünschte politische Autonomie überführen könne. Mill hat seine Theorie des Parlamentarismus noch ohne Blick auf seine eigene praktische Tätigkeit als Parlamentarier im Unterhaus des Vereinigten Königreichs entwickelt. Erst 1865, vier Jahre nachdem er seine zentralen Programmschriften zum Thema Parlamentarismus und zur Parlamentsreform publiziert hatte, zog er für die Liberalen in das britische Unterhaus ein. Er erwarb sich dort den Ruf eines ebenso exzentrischen wie radikalen Kritikers des britischen Establishments und unermüdlichen Reformredners. Zu seinen bekanntesten Aktivitäten gehörte sein Einsatz für das Frauen-

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wahlrecht sowie seine kompromisslose Kritik der Irlandpolitik der Regierung sowie des Machtmissbrauchs in den Kolonien (Thompson 2007). Bei der nachfolgenden Parlamentswahl 1868 verlor Mill seinen Sitz und wurde von einem Konservativen abgelöst. Seine Theorie des Parlamentarismus wurde durch die dreijährigen praktischen Erfahrungen im Unterhaus nicht verändert. Rückblickend beschrieb Mill in seiner Autobiografie seine Zeit als Parlamentarier als eine große Lernerfahrung im Hinblick auf die taktischen Erfordernisse von öffentlich wirksamen Interventionen und auf die notwendige Raffinesse bei gelingenden Reformgesetzgebungen (CW I, 272–286).

Rezeption In der Ideengeschichtsschreibung galt Mill lange Zeit als der herausragende Vertreter der „klassischen englischen Parlamentstheorie“ (Fraenkel 2007 [1964], 483). In Deutschland wurde Mills herausragende Rolle in der politischen Ideengeschichte noch dadurch betont, dass seine Parlamentarismustheorie in der Weimarer Republik als besondere Zielscheibe der Kritik am Parlamentarismus von rechtsextremer Seite diente (Schmitt 1979 [1923]). Eine spätere deutsche Kritiklinie hat dann Mills Parlamentarismustheorie als „naiv, ja verantwortungslos“ (Hennis 1999 [1965], 160) tituliert gegenüber Walter Bagehot ausgespielt, weil dieser das in England (angeblich) grassierende Problem der Regierbarkeit der Bevölkerung in den Vordergrund gerückt habe. Erst in späteren Rezeptionswellen hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die von den britischen Spezifika absieht und die Mill in der internationalen Diskussion als einen der wichtigsten Verfechter einer allgemeinen Theorie eines sowohl liberalen wie auch demokratischen Parlamentarismus würdigt (Thompson 1976; Hofmann/Riescher 1999; Urbinati 2002; Rawls 2012). Auch von seinen Zeitgenossen wurde Mill bereits mit Versuchen einer ideologischen Demontage des Parlamentarismus und der Abwertung der parlamentarischen Rede konfron-

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tiert: „[R]epresentative assemblies are often taunted by their enemies with being places of mere talk and bavardage“ (CW XIX, 432/433; Herv. i. O.). Mill reagierte auf derartige Polemik in einer bemerkenswert vorausschauenden Art: erstens mit einer Ausdifferenzierung der Parlamentsfunktionen, zweitens mit einer Fokussierung auf die Sicherstellung der kompetenten Arbeitsfähigkeit des Parlaments und drittens mit einer offenen Reformagenda, die an den jeweils konkreten gesellschaftlichen und institutionellen Gegebenheiten und Herausforderungen orientiert ist. Auch für Mills Theorie des Parlamentarismus gilt, was Bernard Manin auf Carl Schmitts einseitige geistesgeschichtliche Verortung des Parlamentarismus entgegnet hat: „[T]o define representative government simply as government by discussion is insufficient“ (Manin 1997, 191).

Literatur Bagehot, Walter: Die Englische Verfassung [1867]. Übers. von Klaus Streifthau. Neuwied 1971. Buchstein, Hubertus/Geisler, Antonia: Einleitung: John Stuart Mill – Ein liberaler Intellektueller im Handgemenge. In: John Stuart Mill: Liberale Gleichheit. Vermischte politische Schriften. Berlin 2013, 11–71. Fraenkel, Ernst: Artikel: Parlament [1964]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Baden-Baden 2007, 478– 485. Friedrich, Carl J.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit. Berlin 1953.

H. Buchstein Hennis, Wilhelm: Aufgabe einer modernen Regierungslehre [1965]. In: Ders.: Regieren im modernen Staat (=Politikwissenschaftliche Abhandlungen 1). Tübingen 1999, 142–168. Hofmann, Wilhelm/Riescher, Gisela: Einführung in die Parlamentarismustheorie. Darmstadt 1999. Jäger, Wolfgang: Öffentlichkeit und Parlamentarismus. Stuttgart 1973. Kluxen, Kurt: Geschichte und Problematik des Parlamentarismus. Frankfurt a. M. 1983. Manin, Bernard: The Principles of Representative Government. Cambridge 1997. Marschall, Stefan: Parlamentarismus. Eine Einführung, 3. Aufl. Baden-Baden 2018. Meinel, Florian: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. München 2019. Palonen, Kari: From Oratory to Debate. Parliamentarisation of Deliberative Rhetoric in Westminster. BadenBaden 2016. Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2012. Rinderle, Peter: John Stuart Mill über die Grundlagen, Gestalten und Gefahren der Demokratie. In: Olaf Asbach (Hg.): Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse im klassischen Utilitarismus. Baden-Baden 2009, 183–210. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923]. Berlin 1979. Thompson, Dennis F.: John Stuart Mill and Representative Government. Princeton 1976. Thompson, Dennis F.: Mill in Parliament. When Should a Philosopher Compromise? In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): J. S. Mill’s Political Thought. Cambridge 2007, 166–199. Urbinati, Nadia: Mill on Democracy. From the Athenian Polis to Representative Government. Chicago 2002. Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland [1918]. In: Ders.: Gesammelte Politische Schriften. Tübingen 1958, 294–431.

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Partizipation Sandra Seubert

Mills Verständnis von Partizipation bezieht sich in einem engeren Sinne auf politische Partizipation (Considerations on Representative Government, s. Kap. III.14) und in einem weiteren Sinne auf chancengleiche gesellschaftliche Teilhabe (Subjection of Women, s. Kap. III.16; Chapters on Socialism, s. Kap. IV.18). Partizipation an den öffentlichen Angelegenheiten zu ermöglichen, ist für Mill ein bedeutendes Merkmal guter Regierung (CW XIX, 390–394; Mill 2013, 32–38): Die Beteiligung aller an der souveränen Macht des Staates gilt ihm als Gewähr, um individuelle und kollektive Selbstbestimmung aber auch Bildung (s. Kap. V.24) und gesellschaftlichen Fortschritt (s. Kap. V.26) zu verwirklichen. In einem utilitaristischen Sinne ist Partizipation also primär von instrumentellem Wert: mit Blick auf das Individuum ist ihre Hauptfunktion eine erzieherische, mit Blick auf die Gesellschaft als Ganz eine innovatorische. Das wichtigste Mittel politischer Partizipation ist das allgemeine Wahlrecht (s. Kap. V.41). Im Gegensatz zur heutigen Praxis tritt Mill für die Einführung eines allgemeinen und direkten, pluralen und öffentlichen Wahlsystems

S. Seubert (*)  Professorin für Politische Theorie, GoetheUniversität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected]

ein (vgl. CW XIX/Mill 2013, Kap. 7–10). Zugleich erschöpft sich die partizipatorische Dimension der Demokratie für Mill aber nicht in Wahlen. Demokratische Partizipation schließt auch ein, sich durch die Übernahme öffentlicher Funktionen und Ämter zumindest zeitweise aktiv am Regieren zu beteiligen. Dies ist Mill zufolge vor allem auf lokaler Ebene möglich. Jedwede Partizipation, und sei sie noch so klein, bietet Gelegenheit, das erzieherische Moment politischer Betätigung zur Geltung zu bringen. Partizipation an der Ausübung der Souveränität vermittelt durch Wahlen bedeutet, die Chance zu haben im Parlament, als dem zentralen Ort demokratischer Politik, repräsentiert zu sein. Eine direkte Ausübung der Souveränität, also selbst über Gesetze abzustimmen, wie es etwa bei Rousseau zur Wahrung republikanischer Freiheit notwendig ist, ist bei Mill nicht zwingend (s. Kap. V.27). Die parlamentarische Souveränität hängt zwar von der höheren Souveränität des Volkes ab, aber diese äußert sich nicht in direkter Gesetzgebung, sondern in letztinstanzlicher Kontrolle der Regierung (s. Kap. V.36). Im Zusammenhang mit der zweiten Wahlrechtsreform in England (1867) tritt Mill unmissverständlich für die Ausweitung des Wahlrechts ein – ein Wahlrecht, das allen wirtschaftlich produktiven, steuerzahlenden Bürgern unabhängig vom Geldvermögen eine Stimme verleiht. Denn das Recht, zu wählen, bedeutet Schutz gegen Missregierung,

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den Missbrauch von Autorität und damit Beherrschung. Gegen paternalistische Bevormundung betont Mill, dass jeder Einzelne selbst der Beste Hüter seiner Interessen und seiner Rechte sei (CW XIX, 404; Mill 2013, 52). Daraus folgt, dass alle gesellschaftlichen Schichten im Parlament vertreten sein müssen. Mit Blick auf die Arbeiterklasse argumentiert er, dass auch noch so wohlmeinende Abgeordnete die Anwesenheit von Repräsentanten, die selbst dieser Klasse entspringen und daher denselben Erfahrungshintergrund haben, nicht ersetzen können. Mehr noch als Interessenvertretung bedeutet Repräsentation für Mill Perspektivenvertretung. Denn nur wenn eine Vielfalt von Perspektiven geäußert und respektiert wird, besteht die Chance, die Interessen aller in der Gesetzgebung zu berücksichtigen (zur neueren Diskussion: Urbinati 2008; Young 2000). Mills Überlegungen zur Partizipation durch Wahlen basieren auf motivationalen Annahmen über die Effekte von Wahlrechtssystemen. Mit Montesquieu hält er den ‚Geist‘ einer Institution für ein wirkmächtiges sozialisatorisches Element. Dementsprechend stellt er sich die Frage, welche Botschaft ein bestimmtes elektorales Arrangement den Bürger:innen vermittelt. Im besten Fall animiert ein gutes Wahlrecht die Bürger:innen zu informierter Partizipation und fördert das Niveau öffentlicher Debatte. Im schlechten Fall trägt es zur Zerstörung einer politischen Kultur der Partizipation bei. Im Kern geht es darum, durch das jeweilige Arrangement die Verantwortlichkeit und Responsivität der Regierenden gegenüber den Regierten zu stärken. Trotz seines Einsatzes für das allgemeine Wahlrecht knüpft Mill dieses aber an Bedingungen. Ausgeschlossen sind diejenigen, die nicht lesen, schreiben und rechnen können und diejenigen, die keine Steuern zahlen (CW XIX, 470–471; Mill 2013, 142–143). Das Argument dafür ist, dass niemand mit seiner Stimme ohne selbst Steuern zu zahlen, über das Geld anderer Bürger verfügen dürfe, denn er hätte dann keinen Anreiz, damit sparsam umzugehen (s. Kap. V.39). Fürsorgeabhängigkeit ist somit mit dem Verlust des Wahlrechts verbunden. Fehlende wirtschaftliche Partizipation führt zu Aberkennung des

S. Seubert

Rechts auf politische Partizipation. Dies ist nicht nur demokratiepolitisch betrachtet problematisch, sondern auch vor dem Hintergrund der von Mill selbst in seinem Spätwerk dargelegten Einsicht in die systemisch erzeugte Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Gesellschaften offensichtlich eine fragwürdige Schlussfolgerung. Die Bindung des Wahlrechts an ökonomische Tätigkeit hindert Mill freilich nicht daran, vehement für das Frauenwahlrecht einzutreten. Die Abhängigkeit vom Erwerbseinkommen eines Ehemannes gilt ihm offensichtlich nicht per se als Ausschlusskriterium, was die Möglichkeit eröffnet, neben wirtschaftlicher Betätigung auch Geburt und Erziehung von Kindern als einen produktiven Beitrag für das gesellschaftliche Wohl zu würdigen (vgl. McCabe 2018). Mill betont das Recht von Frauen zur Partizipation am Wirtschaftsleben und zu außerhäuslicher Tätigkeit. Aber Fragen von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und der Rolle des Staates bei der Unterstützung von Geschlechtergerechtigkeit, damit Männer und Frauen gleichermaßen am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben können, bleiben noch weitgehend offen bzw. finden widersprüchliche Antworten (vgl. Pateman 1989; Moller-Okin 1992). Gute Regierung lässt sich Mill zufolge danach beurteilen, was für einen Menschentypus sie hervorbringt und wie sie die Tugend und Intelligenz der Bürger:innen fördert. Nur eine Volksregierung („popular government“) ist nach Mill in der Lage, für eine Höherentwicklung des Charakters zu sorgen und bewirken, dass die Einzelnen für ihre Recht und Interessen einstehen (CW XIX, 404; Mill 2013, 51). Dadurch steigt seiner Ansicht nach auch die gesellschaftliche Prosperität, weil eine Vielzahl von Kräften beteiligt ist und für das gesellschaftliche Wohl arbeitet. Regierungen, die die Möglichkeit zur Partizipation bieten, tragen dazu bei, dass ein aktiver Menschentypus heranwächst. Dieser ist nicht nur bestrebt, sein eigenes Los aktiv zu verbessern, sondern darüber hinaus motiviert, seine Kräfte zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Das bildende Moment von politischer Beteiligung, insbesondere auf lokaler Ebene

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(etwa in kommunalen Verwaltungsinstitutionen oder Geschworenengerichten), liegt darin, dass sie Gewohnheiten der Selbsttätigkeit stärkt, was vor falschen Versprechen und politischer Verführbarkeit schützt (CW XIX/Mill 2013, insbes. Kap. 15; Donner 2007). Mill erwartet von Bürger:innen in einer Demokratie ein Gefühl der Zuständigkeit für die Art, wie sie regiert werden. Private Lebensführung und politische Lebensweise sind dabei eng miteinander verknüpft. Zur Entwicklung der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten gehört der Gebrauch der Freiheit (s. Kap. III.13, Kap. V.27, V.30), und nur wenn dieser im alltäglichen Leben eingeübt wird, entsteht auch das Verlangen nach politischer Selbstbestimmung. In Mills Theorie politischer Institutionen spielt die Notwendigkeit einer Ausbalancierung von Partizipation und Kompetenz eine wesentliche Rolle: Einerseits gilt es sicherzustellen, dass alle Bürger:innen eine Stimme und die Möglichkeit der Beteiligung haben, und andererseits Intelligenz und Tugend für die Qualität politischer Entscheidungen ihren Platz einzuräumen (Urbinati 2002; Thompson 1976). Der Grad der Partizipation soll daher nur so umfassend sein, wie es die Verbesserung des Gemeinwohls erlaubt. Mill gibt dem politischen Gleichheitsgrundsatz aus diesem Grund eine spezifische Wende. Jede/r Bürger:in soll einen berechtigten Anspruch auf ein Stimmrecht machen können. Nur so hat sie die Möglichkeit, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen und ein Motiv, sich für die öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren. Das heißt freilich nicht, dass jede(r) auch die gleiche Stimme haben sollte. Gemäß dem aristotelischen Grundsatz, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden sollte, ergibt sich Mill zufolge, dass Weisheit, Kompetenz und Sachverstand ein größeres Recht – umgekehrt aber auch eine größere Pflicht – zur Übernahme von Regierungsämtern mit sich bringen. Um auch Minderheiten in einer Repräsentativverfassung mit reinem Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien eine Möglichkeit der Vertretung im Parlament zu geben, plädiert Mill einerseits für

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ein personalisiertes Verhältniswahlrecht (vgl. CW XIX/Mill 2013, Kap. 7). Darüber hinaus möchte er aber auch noch die angemessene Repräsentation von Kompetenz durch ein auf Bildung bezogenes Pluralwahlrecht sicherstellen (s. Kap. V.41). Auf diese Weise will Mill einer qualifizierten Demokratie, einer „skilled democracy“, zur Realisierung zu verhelfen. Er unterscheidet eine, wenigen vorbehaltene, fachspezifische („skilled“) von einer, allen zugänglichen, allgemein-politischen (‚deliberativen‘) Kompetenz und möchte die institutionelle Ordnung so gestalten, dass beide eine ihnen angemessene Rolle spielen können (Urbinati 2002, 60–69; Niesen 2007). Ob ein ungleiches Pluralwahlrecht die Bereitschaft zur Partizipation erhalten und die bürgerbildende Dynamik in Gang setzen würde, die Mill sich von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts verspricht, darf allerdings bezweifelt werden (so schon Weber 1958 [1917]). Mill weitet seine These von der sozialisatorischen Funktion von Institutionen auch auf andere soziale Sphären, insbesondere Familie und Arbeitswelt, aus. Soziale Institutionen können entmächtigende oder ermächtigende Wirkung auf Individuen haben, und in seinen Blick geraten in diesem Zusammenhang vor allem die patriarchale Ehe und die Institution des Privateigentums (s. Kap. V.25). Gemeinsam mit Harriet Taylor (s. Kap. II.6) widmet er sich der Analyse der Lage der Frauen im viktorianischen England. The Subjection of Women beschreibt die Wirkungen, die die Strukturen von Ehe und Familie auf den rechtlichen und gesellschaftlichen Status sowie den Intellekt und die Gefühlswelt von Frauen haben. Für Mill ist nicht nur lokale politische Betätigung, sondern auch die gerecht eingerichtete Familie eine „school of the virtues of freedom“ (CW XXI, 295). Die Analyse des Wechselverhältnisses zwischen den Autoritätsstrukturen von Institutionen und den psychologischen Eigenschaften und Haltungen von Individuen haben dazu geführt Mills Denken als ‚radikal‘ einzustufen und in die Linie partizipatorischer Demokratietheorie einzuordnen (Pateman 1970). In

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jüngerer Zeit sind seine Thesen, insbesondere sein Freiheitsverständnis, in den Kontext eines neo-republikanischen Politikverständnisses gestellt worden (Pettit 2009; Skinner 2009). Mill, der eher einem „Verwirklichungs-“ als einem „Möglichkeitsbegriff“ von Freiheit nahesteht (vgl. Taylor 1992), verortet Freiheit in sozialen Beziehungen, und das heißt, Individuen können in den sozialen Zusammenhängen, in denen sie stehen, in ihren Ansprüchen auf selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln verletzt werden. Mill wendet diesen Blick auch auf die Analyse der Arbeitswelt in der modernen Industriegesellschaft an. In den posthum veröffentlichten Chapters on Socialism argumentiert er, nicht nur politische Bevormundung schädige und beeinträchtige die Freiheit, sondern auch eine Ungleichheit des Reichtums, die Abhängigkeit durch Armut schafft (CW V; Mill 2016). Daraus schlussfolgert er, dass auch Eigentumsrechte Gegenstand öffentlicher Betrachtung sein und gemäß dem Beitrag beurteilt werden müssten, den sie zur allgemeinen Wohlfahrt leisten (s. Kap. V.25). Mill verfolgt die Idee eines dezentralisierten, genossenschaftlichen Sozialismus – eine Wirtschaftsform, die freiwillig gebildetes, gemeinsames Eigentum einschließt – weil er annimmt, dass Selbsttätigkeit, Eigenverantwortung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf diese Weise nicht nur für die Wenigen, sondern auch für die große Mehrheit der Menschen möglich werden.

S. Seubert

Literatur Donner Wendy: John Stuart Mill on Education and Democracy. In: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.): John St. Mill’s Political Thought. Cambridge 2007, 250–276. McCabe, Helen: Good Housekeeping? Re-assessing John Stuart Mill’s Position on the Gendered Division of Labour. In: History of Political Thought 39/1 (2018), 135–155. Mill, John Stuart: Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Hg., editorisch bearbeitet und mit einem Nachwort von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert. Berlin 2013. Mill, John Stuart: Über Sozialismus [1879]. Übers. von Sigmund Freud, hg. und mit einem Essay von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert. Hamburg 2016. Moller-Okin, Susan: Women in Western Political Thought. Princeton 1992. Niesen, Peter: Für und wider das Pluralwahlrecht. In: Frauke Höntzsch (Hg.): John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart 2007. Pateman, Carol: Participation and Democratic Theory. Cambridge 1970. Pateman, Carol: Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy. In: Dies.: The Disorder of Women. Cambridge 1989, 119–140. Pettit, Philip: Law and Liberty. In: Samantha Besson/ José Luis Marti (Hg.): Legal Republicanism. Oxford 2009, 39–59. Skinner, Quentin: Die Idee der negativen Freiheit. Machiavelli und die moderne Diskussion. In: Ders.: Visionen des Politischen, Frankfurt a. M. 2009, 135–170. Taylor, Charles: Der Irrtum der negativen Freiheit. In: Ders.: Negative Freiheit? Frankfurt a. M. 1992, 118–144. Thompson, Dennis: John Stuart Mill and Representative Government. Princeton 1976. Urbinati, Nadia: Mill on Democracy. Chicago 2002. Urbinati, Nadia: Representative Democracy. Principles and Genealogy. Chicago 2008. Weber, Max: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland [1917]. In: Ders.: Politische Schriften. Tübingen, 1958. Young, Iris M.: Inclusion and Democracy. Oxford 2000.

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Religion Peter Schröder

Auf den ersten Blick scheint die Religion bei Mill nur eine periphere Rolle zu spielen. Seine ausdrücklich dem Thema der Religion gewidmeten Schriften (CW X, 369–489; s. Kap. IV.20) verfasste er erst spät und sie wurden dann nicht mehr von Mill, sondern von seiner Stieftochter Helen Taylor, die eng mit Mill zusammenarbeitete, 1874 publiziert. Aber Religion ist für das Verständnis von Mills Philosophie von grundlegenderer Bedeutung, denn sie wird als moralische Basis für die Gesellschaft von Mill in seiner Theorie des Utilitarismus (s. Kap. III.12) mitgedacht. Mills Utilitarismus, sein Verständnis von Staat und Gesellschaft, bedarf letztlich eines über die bloße Vernunft des Menschen hinausweisenden Fundaments. Es geht bei Mill damit um mehr als nur eine vermeintlich liberale Positionierung gegenüber den etablierten Institutionen von Kirche und Staat des viktorianischen Englands. Mill distanzierte sich von der christlichen Religion, stattdessen griff er die von Comte (s. Kap. II.4) übernommene Idee einer humanen Religion auf und integrierte sie als Fundament in sein utilitaristisches Moralsystem. Mill hat, trotz aller Kritik an Comte,

P. Schröder ()  Professor für Politische Ideengeschichte, University College London, London, Großbritannien E-Mail: [email protected]

den Zusammenhang zwischen der Bedeutung der humanen Religion („religion of humanity“) und seinem utilitaristischen System in Bezug auf Comtes Hauptwerk, Système de politique positive, ou Traité de sociologie, instituant la Religion de l’humanité, selbst ausdrücklich in seinem Essay Utilitarianism hervorgehoben (vgl. auch Wright 1986; Raeder 2002): „I entertain the strongest objections to the system of politics and morals set forth in that treatise; but I think it has superabundantly shown the possibility of giving to the service of humanity, even without the aid of belief in a Providence, both the psychical power and the social efficacy of a religion; making it take hold of human life, and colour all thought, feeling, and action, in a manner of which the greatest ascendancy ever exercised by any religion may be but a type and foretaste; and of which the danger is, not that it should be insufficient, but that it should be so excessive as to interfere unduly with human freedom and individuality“ (CW X, 232). Das Thema der Religion ist in Mills Schriften präsent und für seine Theorie des Utilitarismus bedeutsam. Aber auch in seiner Diskussion von individueller Freiheit, Moral und Gesellschaft, die er vor allem in seinem Essay On Liberty (s. Kap. III.13) vornahm, setzte er sich ausführlich mit dem Problem der Religion auseinander (vgl. Schröder 2009). In seinen weniger bekannten, aber durchaus wichtigen Essays

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zu „Bentham“ (1838; CW X, 75–116), „Co­le­ ridge“ (1840; CW X, 117–163) und vor allem in Auguste Comte and Positivism (1865; CW X, 261–368) wird die Religion erneut ausführlich und innovativ diskutiert. Insofern wäre es geradezu irreführend, wenn man sich lediglich auf die posthum erschienen Three Essays on Religion (vgl. Kap. IV.20) beschränken wollte, um die Bedeutung der Religion im Denken Mills zu bestimmen. Die Schriften von Comte und Bentham legten Mill nahe, sich mit der Frage der Nützlichkeit der Religion zu befassen. Ihn interessierte nicht der Wahrheitsanspruch der Religion, den er immer als despotisch kritisiert hatte (CW I, 45 f.), sondern der positive moralische Einfluss, den Religion auf die Gesellschaft ausüben könne (CW I, 73). Mill betrachtet die Religion insofern vornehmlich instrumentell. Bereits in Auseinandersetzung mit den Ideen des Bischofs Joseph Butler hatte Mill seine später in dem ersten der drei Essays on Religion, „Nature“, weiter ausgeführte Position antizipiert, indem er fragte, inwiefern und wodurch menschliche Handlungen bestimmt seien. Butlers Position lässt sich in etwa so zusammenfassen, dass die menschliche Natur als Schöpfung Gottes dazu neige, tugendhaft zu sein. Mill jedoch genügt diese auch zu seiner Zeit noch vorherrschende Position (Sell 1997) keineswegs. Wenn, so Mill, durch die göttliche Schöpfung die menschliche Natur so veranlagt sei, dass von den Menschen das Gute und Gerechte eo ipso gewollt werde, wie erkläre sich dann die Existenz des Bösen in der Welt? Ist Gottes Macht nicht stark genug, um die von ihm gewollte tugendhafte Natur des Menschen durchzusetzen? Es sei doch offensichtlich, dass die Menschen keineswegs immer nur das Gute erstrebten. Der Mensch ist nun aber auch für Butler ein Wesen mit eigenem freiem Willen. Wodurch wird der Mensch zu einem tugendhaften Verhalten angehalten? Wie erkennt und warum befolgt er das als gerecht Erkannte? Die Frage nach der offensichtlichen Existenz des Bösen in der Welt führt Mill dazu, sich gegen die christliche Offenbarung zu verwahren. Um zu begründen, warum die Menschen sich moralisch

P. Schröder

verhalten sollen, genüge die Idee der christlichen Schöpfung und Vorsehung nicht. Es könne zwar sein, „that religion may be morally useful without being intellectually sustainable“ (CW X, 405), aber auch wenn die viktorianische Gesellschaft in der Mill lebte, davon ausging, dass Moral und Tugend sich der christlichen Religion verdankten, so war es doch Mills Anliegen, mit seinem Utilitarismus eben genau hier eine Alternative aufzuzeigen (Campagna 2018, 146). Deswegen war seine leitende Frage in seinem zweiten Essay über Religion, „Utility of Religion“, „to inquire whether the belief in religion, considered as a mere persuasion, apart from the question of its truth, is really indispensable to the temporal welfare of mankind“ (CW X, 405). Der Geltungsanspruch seiner Theorie kann nur Bestand haben, wenn Mill zeigen kann, dass die Menschen ihr individuelles Verhalten nach den Maximen, die zum größten Glück der größten Zahl führen würden, ausrichten, ohne dass es einer sie dazu motivierenden oder gar zwingenden äußeren Instanz bedürfe. Die von Comte inspirierte Idee der humanen Religion ist für Mills Versuch deswegen bedeutsam, weil sie Mill das argumentative Rüstzeug für diese Auseinandersetzung liefert (dazu ausführlicher Wright 1986). Mill interessiert sich vornehmlich für den Nutzen der Religion und für die Frage, ob dieser Nutzen auch anderweitig gewonnen werden könne. Es sind also nicht die metaphysischen oder theologischen Fragen, die ihn an der Religion interessieren, sondern deren Nützlichkeit für die Gesellschaft. Angesichts von Mills Grundüberzeugung, „utility as the ultimate appeal on all ethical questions“ (CW XVIII, 224) zu betrachten (s. Kap. V.35), rückt die Religion mit dieser Perspektive ins Zentrum von Mills politischer und moralischer Philosophie. In seinen verschiedenen Schriften ging er immer wieder der Frage nach, auf welcher Grundlage eine moralische Verpflichtung für die Menschen begründet werden könne (s. Kap. V.34). Für ihn lag in der Erörterung dieser Frage die erste Aufgabe der Moralphilosophie, und so heißt es auch in seinem Essay zum Utilitarianism an zentra-

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ler Stelle: „The question is often asked, and properly so, in regard to any supposed moral standard – What is its sanction? what are the motives to obey it? or more specifically, what is the source of its obligation? whence does it derive its binding force?“ (CW X, 227). Mill muss, wenn sein System tragfähig und überzeugend sein soll, diese Fragen schlüssig beantworten. Für ihn lag das entscheidende Problem nicht so sehr in dem Auffinden des Ursprungs moralischer Verpflichtung, sondern die eigentliche Herausforderung und Aufgabe der Moralphilosophie war die Bereitstellung einer überzeugenden Theorie, wie ein für alle verbindlicher Konsens über die theoretische und praktische Anwendung eben dieser Normen gefunden werden könne. Mill nimmt in seinen Überlegungen die moral sense Philosophie wieder auf und entwickelt sie weiter, indem er dieses moralische Vermögen des moral sense, die den Menschen natürlicherweise zu eigen sei, aber auch durch Erziehung kultiviert und weiterentwickelt werden müsse, zur Basis seiner Theorie des Utilitarismus machte (s. Kap. V.24, V.40). Er ging davon aus, dass es eine „natural basis of sentiment for utilitarian morality“ (CW X, 231) in uns gäbe, allerdings seien diese moralischen Gefühle „not innate, but acquired“ (CW X, 230), was nicht bedeute, dass sie deswegen weniger natürlich seien. Mill führte seine Überlegungen über das moralische Gefühl als Grundlage des Utilitarismus mit seiner Freiheitsidee zusammen (zu den verschiedenen Aspekten von Mills Freiheitsbegriff vgl. Höntzsch 2011). Ausgehend von gleichberechtigten Individuen sollte die Gesellschaft so organisiert werden, dass ein jeder in seinen Rechten geschützt und ein Höchstmaß an Freiheit ihm den Verfolg des größtmöglichen Glücks gewähren werde (s. Kap. V.27). Die Freiheit der Menschen bedeutet aber auch, dass sie sich unter Umständen gegen die Interessen der Gesellschaft verhalten. Genau deswegen wird sein Verständnis von Religion in diesem Argumentationszusammenhang wichtig. Mill behauptet zwar, die Moralphilosophie des Utilitarismus werde die Interessen aller, zum Vorteil aller, zu wahren wissen: „Society

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between equals can only exist on the understanding that the interests of all are to be regarded equally“ (CW X, 231). Dieses Fundament des Sozialtriebes oder Gemeinschaftsgefühls, das jedem Menschen natürlicherweise eigen sei, müsse zum Habitus aller werden, um nicht den unverhofften Schwankungen des menschlichen Willens ausgesetzt zu sein. Auch wenn dieses Gefühl natürlich ist, muss es den Menschen möglichst nahegebracht werden, was am besten gelingen würde, wenn „we suppose this feeling of unity to be taught as a religion, and the whole force of education, of institutions, and of opinion, directed, as it once was in the case of religion“ (CW X, 232). Damit ist die beispielgebende Rolle der Religion innerhalb des Utilitarismus eindeutig benannt (vgl. auch Matz 2000). Mill bemüht sich im letzten Teil seines Essays Utilitarianism darum, den Verpflichtungscharakter der utilitaristischen Moralphilosophie aufzuzeigen. Der Staat, und seine spezifische Rolle als Rechtsetzungs- und Rechtsicherungsinstanz wird bei Mill durch die Gesellschaft ersetzt. Man müsse zwar zwischen Gerechtigkeit und Moralität unterscheiden (s. Kap. V.28), aber das Recht ist bei Mill eben gerade nicht an den Staat gebunden und von diesem geschützt, sondern an die Gesellschaft. Dennoch muss Mill erklären, wie die Menschen verpflichtet werden können, sich an bestimmte Normen zu halten. Der moral sense sollte dies eigentlich allen Menschen eo ipso nahelegen. Aber diese Konstruktion bleibt notwendig defizitär, und Mill behauptet nun immer wieder in seinen verschiedenen Schriften, dass der Nutzen die Menschen dazu verpflichte. Der Verpflichtungscharakter in Mills Theorie gewinnt seine Tragweite dadurch, dass nur wenn der Einzelne seine Handlungen auch in Hinsicht auf alle anderen und die Gesellschaft im Allgemeinen beurteilt, man davon sprechen könne, dass er nach den Prinzipien der Gerechtigkeit handle. Mill betont also erneut, dass nur wenn der Vorteil aller in die Beurteilung der menschlichen Handlungen mit einbezogen werde, man tatsächlich in der Position sei, diese Handlungen angemessen zu beurteilen.

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Für Mill war das Individuum nur dann moralisch und intellektuell integer, wenn nicht das Eigeninteresse, sondern das Interesse aller als die handlungsleitende Perspektive bei der Abwägung der eigenen Handlungen eingenommen wurde. Die utilitaristische Moral gründete in dem Gemeinschaftsgefühl der Menschen „which tend to become stronger […] from the influences of advancing civilization“ (CW X, 231). Mill bemüht sich in seinen Schriften um eine Moralphilosophie, die zunächst zum Ziel hat, handlungsleitende Regeln und Normen aufzuweisen. Diese sollen von den Menschen erkannt und befolgt werden, und nicht durch den Staat festgelegt und eingefordert werden. Der bestimmende Maßstab ist bei ihm nicht an eine äußere Instanz gebunden, sondern verbleibt im individuellen Verfügungsbereich der Menschen. Dem Staat kommt – das hatte Mill bereits in seinen Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) ausgeführt – nur eine ergänzende Rolle zu. Die Funktion der Staatsgewalt und der Regierung konnte nach Mill nur durch den allgemeinen Nutzen bestimmt werden. Mill unterscheidet zwischen notwendigen und optionalen Aufgaben des Staates, aber was immer der Staat verordnet oder tut, die einzige Legitimation, die er für seine Tätigkeit in Anspruch nehmen kann, ist an den Nutzen für die Menschen zurückgebunden. Er führt sein Argument nun in einer signifikanten Wendung fort und behauptet, kein Mensch könne „rightfully be compelled to do or forbear, because it will be better for him to do so, because it will make him happier […]. These are good reasons for remonstrating with him, or reasoning with him, or persuading him, or entreating him, but not for compelling him“ (CW XVIII, 223–224). Das ist eine bemerkenswerte Behauptung für Mill, denn offensichtlich sanktioniert der individuelle Nutzen nicht das Eingreifen anderer oder gar des Staates. Es ist daher für ein angemessenes Verständnis von Mills Moralphilosophie wichtig zu sehen, dass zwar der größte Nutzen aller das erklärte Ziel des Utilitarismus ist, dies aber nicht dahingehend interpretiert werden kann, dass in der Verfolgung dieses – vermeintlichen – Nutzens

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zum Wohle der Menschen der Intervention keine Grenzen gesetzt wären. Im Gegenteil zieht Mill diese Grenzen sehr eng und behauptet: „The only part of the conduct of any one, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign“ (CW XVIII, 224). Der größte Nutzen für alle ist für Mill offensichtlich dann zu erzielen, wenn als grundsätzliche Regel gilt, dass Interventionen nur dort zulässig sind, wo es sich nicht um die individuelle Sphäre des Einzelnen handelt. Dies ist gewissermaßen das grundlegende und die individuelle Freiheit garantierende Prinzip seines Utilitarismus. Mill ist Individualist. In diesem Sinne diskutiert Mill dann auch die Religion, die er gleich dem Staat in das utilitaristische Kalkül seiner Moralphilosophie integriert (CW X, 415 f.). Aber auch die Religion hat eben keinesfalls einen begründeten Anspruch, dem Einzelnen eine bestimmte Moral vorzuschreiben. Darin bestand gerade Mills Kritik an Comtes humaner Religion (CW I, 221). Damit ist aber das Problem, inwieweit eine moralische Verpflichtung der einzelnen Menschen besteht und im Falle ihrer Nichterfüllung auch eingefordert werden kann, noch nicht befriedigend beantwortet. Mill geht es in seinem Utilitarismus nicht um die individuelle Nutzenmaximierung, sondern um den allgemeinen Nutzen der Gesellschaft, von dem dann allerdings alle profitieren sollen. Damit kann Mill zumindest dem Einwand begegnen, warum man sich überhaupt an Normen oder Regeln halten solle, wenn diese doch offensichtlich der individuellen Verfolgung des eigenen Glücks in die Quere kommen könnten. Diese für Mill spezifische Definition des Nutzens muss erneut in Erinnerung gerufen werden, da nur so die Kohärenz seiner Moralphilosophie im Zusammenhang mit seinem Individualismus verständlich werden kann. Das moralische Gefühl („moral sense“) soll die potenziell egoistischen Menschen in ihrem Verhalten so beeinflussen, dass sie das allgemeine Glück aller Menschen („general hap-

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piness“) und nicht nur ihre egoistischen Glücksvorstellungen zum Ziel ihrer Handlungen machen. Um dieses moralische Gefühl zu entwickeln und zum Movens der menschlichen Handlungen zu machen, bedarf es ‚einer verbesserten Erziehung‘ (CW X, 227). Mill instrumentalisiert hier die christliche Religion in pädagogischer Absicht, um den moralischen Charakter der Menschen im Sinne seiner utilitaristischen Theorie zu formen. Auch Christus habe ‚es unzweifelhaft gewollt‘ (CW X, 227), dass die Menschen dieses utilitaristische Gefühl gegenüber ihren Mitmenschen entwickeln und zum Handlungsprinzip machen. Mill ergänzt damit seinen Rechtsbegriff an ganz zentraler Stelle seiner Argumentation. Staat, Gesellschaft und Religion haben unter Umständen durchaus ihre Rolle in der Erziehung zu spielen. „The principle of utility either has […] all the sanctions which belong to any other system of morals. Those sanctions are either external or internal“ (CW X, 228). Mill geht davon aus, dass sich die utilitaristische Moral auch alle religiösen Motive nutzbar machen könne (CW X, 228). Wichtiger ist Mill in der Logik seines Arguments die innere Sanktionierung, die durch das menschliche Gewissen jedem Menschen eigen sei. Daher kann er behaupten, die „ultimate sanction, therefore, of all morality […] being a subjective feeling in our own minds“ (CW X, 229). Dieses moralische Gefühl sensibilisiert die Menschen gewissermaßen, sodass sie ein subjektives Gefühl von richtigem und falschem moralischen Verhalten entwickeln. Mills Utilitarismus gründete ausdrücklich in Versatzstücken der christlichen Moral: „In the golden rule of Jesus of Nazareth, we read the complete spirit of the ethics of utility. To do as one would be done by, and to love one’s neighbour as oneself, constitute the ideal perfection of utilitarian morality“ (CW X, 218). Mill ist weit davon entfernt die anglikanische Kirche als Institution zu verteidigen. Ganz im Gegenteil hat er sich immer wieder nachdrücklich für die un-

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eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit (s. Kap. V.33) eingesetzt, die er auch durch die Institution der Kirche bedroht sah. Er ging sogar noch weiter und kritisierte die christliche Moral – trotz aller unbenommenen Verdienste, die er ihr zusprach, als „in many important points, incomplete and one-sided“ (CW XVIII, 255). Für Mill war sie „essentially a doctrine of passive obedience“ (CW XVIII, 255). Mill glaubte aber dennoch, dass das Ideal des Utilitarismus in der goldenen Regel trefflich ausgedrückt sei. Da er an der Religion aber vornehmlich hinsichtlich ihrer Funktion (CW X, 422) zur sittlichen Bildung der Menschen interessiert war, kommt er zu dem Schluss, dass die von ihm in Anlehnung an Comte beschriebene humane Religion selbst gegenüber der christlichen „a better religion“ (CW X, 422) sei. In diesem funktionalen Sinne kommt Mills Verständnis von Religion ein bedeutender Stellenwert innerhalb seiner utilitaristischen Moral zu.

Literatur Campagna, Norbert: Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage. Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus. Stuttgart 2018. Höntzsch, Frauke (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart 2011. Matz, L.: The Utility of Religious Illusion. A Critique of J. S. Mill’s Religion of Humanity. In: Utilitas 12 (2000), 137–154. Raeder, Linda C.: John Stuart Mill and the Religion of Humanity. Columbia/London 2002. Schröder, Peter: Devoid of Faith, yet terrified of Scepticism – Die Bedeutung der Religion in John Stuart Mills politischer Theorie über Staat und Gesellschaft. In: Olaf Asbach (Hg.): Vom Nutzen des Staates. Das Staatsverständnis des klassischen Utilitarismus: Hume – Bentham – Mill. Baden-Baden 2009, 229–246. Sell, Alan P. F. (Hg.): Mill and Religion: Contemporary responses to Three Essays on Religion. Bristol 1997. Wright, Terry R.: The Religion of Humanity: The Impact of Comtean Positivism on Victorian Britain. Cambridge 1986.

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Steuer Sebastian Huhnholz

In der besteuerungstheoretischen Ideengeschichte und in der Fiskalphilosophie nimmt Mill einen prominenten Platz ein (Groves 1974, 26–38; Scheer 2002). Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur dagegen hielt Mills Ökonomik vor, in den Kinderschuhen der Disziplin steckengeblieben zu sein, weil sie nicht auf Ertragsmaximierung – und wir können ergänzen: darum auch nicht auf fiskalische oder wohlfahrtsökonomische Steigerung – hin orientiert sei (Schumpeter 2009, 663) und eine Menge außerökonomischer Themen berücksichtige. Dass Besteuerungsthemen in Mills Werken eine grundsätzliche statt eine wirtschaftstheoretische oder lediglich eine haushalts- oder gar parteienpolitische Rolle spielen, ist nur umso bemerkenswerter. Es ist ein starker Indikator dafür, dass Mill Wirtschaft und Öffentliche Finanzen nicht um ihrer selbst willen thematisierte. Gegen historisch aufgetürmte Abgabentraditionen und gegen konkurrierende Varianten öffentlicher Finanzen setzt Mill auf ein System prinzipiellen Steuervorrangs (etwa vor Gebühren, Staatswirtschaft, Staatsschulden und

S. Huhnholz ()  Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected]

Staatspapierhandel) und auf Steuerdominanz im Staatshaushalt. Er argumentiert für eine allgemeine Abgabenpflicht sowie für eine (privatnützige Wirtschaftskalküle optimierende und stimulierende) Nettozuwachsbesteuerung (Reineinkommensprinzip) mit sozial gerechten Grund- und leistungs- wie freiheitsgerechten Sparerfreibeträgen. War die allgemeine Steuerpflicht noch in den Principles of Political Econ­ omy (s. Kap. III.15) als Ideal individuell (relativ) gleicher Schwere kollektiv aber geringstmöglicher Belastung argumentiert, von Mill aber als ‚persönliche‘ Ansicht ausgegeben und mit dem allgemeinen Schutz des Staates begründet worden (CW III, 807–819, insb. 809), argumentiert er sie in den Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14) schon politisch. Eine verhältnismäßig gleiche Mitbelastung aller Bürgerinnen und Bürger liege im Ziel politischer Gleichheit begründet. Die allgemeine Steuerpflicht und der Verzicht auf Steuerprogression fundiere sich nur in einem allgemeinen Wahlrecht gleicher Bürgerinnen und Bürger (s. Kap. V.41), weshalb auch möglichst niemand der Mündigen, ob privilegiert oder arm, von einer gewissen Besteuerung ausgeschlossen werden oder überproportional mehr als andere erbringen solle – vor allem nicht zum eigenen politischen Vorteil (wie im Zensuswahlrecht). „But to reconcile this, as a condition annexed to the representation, with universality, it is essential, as it is on many other accounts d­ esirable, that taxation, in

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_39

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a visible shape, should descend to the poorest class“ (CW XIX, 471). Die ökonomische Verhaltenssteuerung unter Wahrung vieler utilitaristischer Prinzipien sowie die breite Streuung und Mobilisierung partiell reversibler Privateigentumsrechte (s. Kap. V.25) zwecks Überwindung feudaler Beharrungskräfte und zwecks wettbewerblicher Förderung politischer und ökonomischer Vielfalt leiten Mills steuerpolitische Ideale an (Ekelund/ Walker 1996, 576). Und doch ist seine finanzwirtschaftliche Agenda nicht geprägt von permanenter Umverteilung, klassenpolitischer Diskriminierung oder direkter Preisregulierung: Entschieden lehnt Mill progressive Besteuerung ab und steuertechnische Möglichkeiten, eine Belastung vom Schuldner direkter Steuern auf andere Personen zu überwälzen (etwa durch Produktions- statt Gewinnbesteuerung), findet er unlauter – vom Staat! Ständig (und nur mit Ausnahme sittlicher, chancenfairer und machtverteilender Freiheitsaspekte) argumentiert Mill für das Prinzip staatlicher Nichteinmischung und schärft es anhand lebensnaher Beispiele (insb. in CW III, 963–970). Insofern lassen sich zwar konkrete Fiskalsystematiken identifizieren, vornehmlich im fünften Buch der Principles, die er ab 1848 veröffentlicht und bis 1871 überarbeitet (CW III, 799–970). Doch fächert dieses vordergründig ökonomische Lehrbuch die Sozial- und Gesellschaftsphilosophie Mills nicht in Gänze auf; es kaschiert sogar Bezüge zu seiner Politischen Theorie. Letztere sind nicht nur über das Werk gestreut. Zu unterstellen ist vor allem, dass Mill fiskalische Prinzipien, präferierte Steuerarten und -sätze sowie deren Wechselwirkungen den gesellschaftlichen Dynamiken anzupassen verstand. Mit werkhistorisch beachtlicher Kohärenz und Kontinuität lässt sich bei all dem ein regulatorisches Leitmotiv erkennen: die Förderung sozialliberaler Freiheit durch Antimonopolismus, durch steuerrechtliche Transparenz und finanzbehördliche Verlässlichkeit sowie durch intergenerationelle Übertragungsbeschränkungen. De facto läuft das auf einen Dreiklang hinaus: Privateigentumsgarantie, Steuerstaat, pro-

S. Huhnholz

portionale Einkommenssteuer. Gemeinwohlzuträglicher Besitz, Fleiß und Sparsamkeit dürften steuerrechtlich nicht diskriminiert werden – sofern sie nur dem einzelnen Menschen zurechenbar und seinen persönlichen Bedürfnissen und sozialen Verhältnissen maßgerecht sind. Progressive und paternalistische Abgaben befürwortet Mill allenfalls linksliberal: zwecks Wegbesteuerung unverdienten Wertzuwachses an Grund und Boden, zwecks Sittlichkeitsmoderation und Gesundheitsvorsorge (Besteuerung von Luxus, Suchtmitteln und demonstrativem Konsum) sowie zwecks sozialer Korrektur ererbter Vermögenssteigerung. Damit will Mill liberalistischen Idealen wie Leistungsethos, kollektivem Eigentum an essentiellen Ressourcen, Rationalität und Chancengerechtigkeit finanzwirtschaftliche Effektivität und wirtschaftskulturelle Geltung verschaffen (Gaus 2017). Die dafür unvermeidliche Komplexität und eine moderate Vielfalt der Steuerarten sowie eine finanzbehördliche Kapitalisierungsrechnung passiver Vermögenswerte empfiehlt Mill also nicht aus fiskalistischen Motiven, sondern aus Gerechtigkeitsgründen: um möglichst alle einträglichen Aktivitäten und Wertzuwächse monetär und fair zu erfassen, Ausweichverhalten zu reduzieren, Vertrauen und Transparenz zu fördern, Privilegien und Ungleichbehandlungen abzubauen. Gesellschaftsphilosophisch bleibt er damit dem Utilitarismus seines Mentors Jeremy Benth­ am treu (Dome 1999). Wirtschaftstheoretisch stellt sich Mill in die Tradition von Adam Smith, dessen überholtes Wealth of Nations er respektvoll ersetzen will (CW II, xcii) und das er dann doch vor allem im fünften Buch der Principles beinahe kopiert: ausgerechnet also im Buch über das öffentliche Finanzwesen. Dass Mill dabei Smiths vermeintlich missverständliche Besteuerungsnorm der Leistungsfähigkeit mit umständlichen Ausführungen ‚präzisiert‘, faktisch aber kassiert (nun: Proportion statt Progression), kehrt die Bedeutung von Smith für Mill nur hervor. Mills in der Literatur stets bemühte Prägung durch David Ricardo – einem Freund von John Stuarts strengem Vater James Mill ­ (Hollander

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2015, 436–439; dagegen schon Schumpeter 2009, 648) – fällt im Vergleich mit Bentham und Smith weniger ins Gewicht. Auch Bentham hatte auf eine optimale Lastenverteilung der auf die Privatpersonen umgelegten öffentlichen Ausgaben gesetzt, wobei allerdings nicht eine volkswirtschaftlich günstige Verteilung erreicht werden (wie bei Smith) und nicht die für alle geringsten Lasten (wie bei Mill), sondern nur für jeden Einzelnen das geringste Opfer anfallen sollte. Als Abgabengrund formulierte Bentham den individuellen Nutzen (gebührenlogische Äquivalenz von Steuer- und Staatsleistung). Smith hingegen neigte, wie erwähnt, dem (tendenziell steuerprogressiven) Leistungsfähigkeitsprinzip zu. Mill nun arbeitet diese Prinzipien wirtschaftsund finanztheoretisch um: zum Leitprinzip der Opfergleichheit (verhältnismäßig und subjektiv ähnlicher Belastungsdruck bei allen Zensiten). Der Zweck dieses Prinzips freilich war nicht die wirtschaftstheoretische Präzision, gar finanzethischer Appell oder schlichter Fiskalismus, sondern die gesellschaftspolitische Nützlichkeit. Denn die Besteuerungsnorm der Opfergleichheit entwirft Mill mit Blick auf seine fiskalisch unterstützte Sozialtechnologie: und die war auf massenpädagogische und entpolitisierende bzw. entpolarisierende, gesellschaftliche Konflikte und Kontraste nach oben und unten schlichtende Wirkungen programmiert. Politisch ist Mill damit seiner Zeit weit voraus. Sein gerechtigkeitsphilosophisch angeleitetes Privateigentums- und Abgabensystem zielt auf eine „ethisch-normativ[…], steuerpsychologisch[…], soziologisch[…], administrativ[…] und wirtschaftstheoretisch[…]“ harmonisierte Gesellschaftsordnung (Scheer 2002, 112); es offeriert Werkzeuge für deren sozialreformerische Selbsterzeugung. Erstmals in der Finanzideengeschichte kommt dabei dem finanztechnischen Instrument der Steuer „die zentrale Rolle“ (Höntzsch 2018, 210; Herv. i. O.) für die ökonomische Erziehung, leistungsethische und investitions- bis innovationsförderliche Verhaltensregulierung sowie die sozialpolitische Feinsteuerung zu.

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Die Wirkungskomplexität, die er sich vom staatsfinanzwirtschaftlichen Leitmedium Steuer erhofft, begründet denn auch die Vorherrschaft transparenter und gleichmäßiger Einkommensteuern für Mills ideale Wettbewerbsgesellschaft. Üblich war diese noch heute auffällige Einseitigkeit auch für einen Liberalen jener Zeit nicht (Mann 1978 [1937], 262–265). Mill mag retrospektiv wie ein Vordenker wirken. Praktisch besehen musste sein Ansatz eine Kopfgeburt bleiben. Der Rückbau etablierter und aufkommensstarker Finanzquellen (also: politischer Stabilitäts-, Verteilungs- und Machtressourcen!) mochte modelltheoretisch überzeugen, war aber realpolitisch weltfremd. Selbst der im 20. Jahrhundert in vielen kapitalistischen Massendemokratien allmählich erfolgte Siegeszug der Einkommensteuer samt Nettogewinnprinzip und darüber steuertechnisch realisierter Privateigentumsschonung lässt sich nicht auf Mills Einfluss zurückrechnen. Und selbst Mills sicher „einflussreichste[s]“ Engagement für die progressive Erbschaftssteuer (Beckert 2004, 199 ff.) entsprach eher den politischen Zeitläuften der frühindustriellen Entfeudalisierungsepoche mit ihrem Kernfamilientrend, Erwerbs- und Investitionsethos sowie beschleunigter Sozial- und Kapitalmobilität. Wie sehr Mills Darstellungen auf seinem sozialliberalem Gesellschaftsideal basieren, lässt sich über die vielen Auflagen seiner Principles allerdings nur mit Mühe erkennen. Zu sehr konstruierte dieses für mehrere Generationen bald legendäre Werk ökonomische ‚Gesetze‘ (Eigentums-, Lohn- und Preislogik, Konkurrenz, Sparsamkeit etc.), die so untergründig mit Mills Staats-, Regierungs- und Soziallehre harmonieren, dass sie letzterer die Aura einer natürlichen (vgl. auch CW I, 255), kaum mehr gestaltungsbedürftigen Vernunft verliehen, während die Vollständigkeitssuggestion verbarg, wie Mill Themen und Material arrangierte. Diskret komplimentierte er ihm Unliebsames aus dem fiskalpolitischen Denk- und Diskursraum hinaus. Umso kontextualisierungsbedürftiger ist Mills Perspektive auf Fiskus und Finanzen. Mill zählt schon deshalb zu den Klassikern des

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liberalen Denkens, weil er Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsverfassung nicht gleichsetzt, aber voneinander abhängig weiß. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit bedingen einander, ihr Zusammenspiel präfiguriert und begrenzt Institutionen und Gewalt sowohl des Staates wie auch die allzu freien Marktkräfte. Wenn sich ökonomische, bürgerliche und soziale Freiheit für Mill ‚reimen‘ sollten (Schefczyk 2015), musste das also Konsequenzen für die auch in den Principles verhandelte Frage haben, durch was, durch wen und wozu sich ein Gemeinwesen der Freien finanziert. Eine konkrete fiskalische Gestalt des Staates, gar genaue steuerpolitische Grundregeln aus gesellschaftspolitischen Idealen statt ökonomischen und wohlfahrts- bzw. politökonomischen Prämissen abzuleiten, war aber zu Mills Zeit nicht selbstverständlich. Überdies kamen andere ‚liberale‘ Klassiker zu anderen Lösungen. Und auch die Wirklichkeit entsprach Mills Vorschlägen nicht. Gerade die liberaldemokratische Steuerstaatlichkeit des 20. Jahrhunderts, die Mill schon zu meinen scheint, musste für ihn noch unvorstellbar sein. Die militärfiskalische Überwälzung öffentlicher Wohlstandskosten in die Kolonien und Peripherien des Empires hingegen war gängig. Ausdrücklich macht Mill selbst Ausnahmen vom Laisser-faire-Prinzip staatlicher Nichteinmischung und plädiert für Kolonialisierungs-, Auswanderungs- und Arbeitsmigrationsförderung zwecks Hebung nationalen Wohlstands und ökonomischer Produktionseffizienz (CW III, 962–967). Entsprechend skeptisch befragt die jüngere Literatur Mills Aufrichtigkeit und kontextualisiert ihn als Entwicklungsimperialisten (Hollander 2015, 386–423; Pitts 2005, 123–162). Und auch dass die Principles die fiskalische Rolle der Sklaverei für die Staatsfinanzen nicht erwähnen, geschweige denn dass Mill sie für diskussionswürdig hielt (speziell CW II, 244– 251) – obwohl doch just in seine publizistische Hochzeit der legalistische Abolitionismus vielen ‚enteigneten‘ Sklavenhaltern gewaltige Entschädigungen aus öffentlichen Geldern zukommen lässt – mag auf einen gewissen Ab-

S. Huhnholz

stand zur Wirklichkeit des Wirtschaftens und der Finanzwirtschaftswelt hinweisen. Dass die Principles die fiskalischen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit nicht ohne Weiteres zu erkennen geben, ließe sich darum ambivalent lesen: Als Beweis der visionären Brillanz Mills und der wirtschaftswissenschaftlichen Wahrheit seines Werks – oder aber als Ausdruck global gewordener Ideologie. Wie radikal Mill in seiner Zeit war, zeigt sich in den wiederkehrenden Details. Wenn er immer wieder eine Grundsteuer vorschlägt, die die leistungslose Bodenrente restfeudaler Landbesitzer aufzehrt und die aristokratische Klasse in die Marktwirtschaft zwingt. Wenn Mill in On Liberty (s. Kap. III.13) pro Gewerbefreiheit (unbeschadet staatlicher Aufsichts-, Lizensierungs- und Informationspflichten) die antipaternalistische Überzeugung aus den Principles konkretisiert, der freie Wirtschaftsmensch verstünde sein Geschäft besser als jede Regierung (CW III, 942). Wenn er ebenda Straf-, nicht aber Erdrosselungs-, also gewerbeverhindernde Lenkungssteuern als Sozial- und Sittensteuerungsinstrument allenfalls auf schädliche Konsumprodukte („stimulants“) legen will: als implizite Prohibition für Arme und als Luxusschranke für Reiche (CW XVIII [1859], 259 f.). Wenn Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit (s. Kap. V.33) in On Liberty mit dem Nichteinmischungsprinzip des Staates aus den Principles interagieren (CW III, 944–972). Oder wenn Mill in den Considerations nicht nur fordert, dass „representation should be coextensive with taxation“ (CW XIX, 471), sondern das Wahlrecht über (direkte und redliche) Steuerzahlung konditioniert und dabei politische Mitbestimmung ausdrücklich der Sanktionsoption einer (temporären) Aberkennung des Wahlrechts unterwirft und so den politischen Mündigkeitsstatus an Einkommen, direkte Abgaben und Erwerbstätigkeit bindet. All dies aber zeigt auch: Für Steuerpolitik in einem kreativen Sinn, durch Mehrheitslogik oder durch klassenpolitische Strategien ist hier kaum Platz. In den Considerations ist Mill ganz elitenliberalistisches Kind seiner Zeit: Der Volksvertretung kommt weder

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Fiskalsouveränität noch planerisches Haushaltsrecht zu. Mehr als Kontroll- und Vetorechte hat sie nicht (CW XIX, 422–434). So imprägniert Mill Finanzverfassung und Finanzpolitik gegen demokratische Mitsprache und spontane Umverteilung. „Inkompetenz und Klassenherrschaft“ will er verhindern (Höntzsch 2018, 221). Die Öffentlichen Finanzen bei Mill sind also weniger fiskalische Kunst als marktwirtschaftlich präformierte Staatshaushaltung durch die Autorität eines expertisch beratenen und allenfalls willkürlich responsiven Staatsoberhaupts. Kollektive Mitbestimmung in Gestalt eines „deliberativen Beweislast-Liberalismus“ (Schefczyk 2015, 120) erfasst bei Mill wenn überhaupt die quantitative, nicht die qualitative Dimension. Denn Staatsausgaben sollen ja in jedem Fall auf alle einzelnen marktaktiven Gemeinschaftsmitglieder umgelegt werden. Die Kosten einer über die Gewährleistung der grundlegenden Souveränitätspflichten hinausgehenden Nachfrage nach öffentlichen Gütern kann die Bandbreite und Tiefe der angebotenen Staatsaufgaben zwar vergrößern, ja aufblähen. Dass diese Kosten aber tatsächlich gemeinsam und vollständig gedeckt werden können, ist nicht garantiert. Eine dieser sozialphilosophisch hermetischen Perfektion und ihren demokratischen Defiziten entgegen durchaus praktische Nützlichkeit zeigt sich in Gelegenheitsschriften. Aus ihnen stechen vor allem die Parlamentsanhörungen von 1852 hervor. Dem Unterhaus stellte Mill (geladen bereits als Steuersachverständiger!) sein individualistisch-utilitaristisches System vor, das Gesamteinkommens- und Zugewinnprinzip, Vorsorgeverschonung, Gleichwertigkeit verdienter Einkünfte und Berücksichtigung aller Einkommensarten begründet. Grundrechtliche und politische Gleichheit werden dabei in allgemeiner Steuerpflicht gespiegelt. Die soziale Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit der Besteuerung fundiert Mill auch hier im fortan umso einflussreicheren Gedanken des „gleiche[n] Opfers“ anstatt im Nutzen- oder Leistungsfähigkeitsprinzip Benthams bzw. Smiths (CW V, 467). Diese gegenüber den anderen klassischen Liberalen ganzheitlichere Perspektive der Be-

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steuerungsrechtfertigung entspringt Mills Position, der politischen Herstellung von Gerechtigkeit durch allmähliche Korrektur der vorfindlichen Verteilung einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem Interesse an effizienter Produktion von Wohlstand (Smith) oder dem Wohlbefinden der Produzenten (Bentham). Volkswirtschaftliche Verteilung hält Mill keineswegs für gute Magie der ‚invisible hand‘. Von Vordenkern wie Hume, Ferguson, Smith oder Ricardo übernimmt Mill zwar die Annahme klassentypischer Einnahmequellen (z. B. CW III, 819). Bodeneigentümern fällt (leistungslose) Grundrente zu, den Eigentümern des Kapitals der (risikoverdiente) Gewinn und Arbeitern Lohn. Je nach Vorherrschaft dieser oder jener Ressourcen bildeten sich darin politische Regimehorizonte ab: Feudalismus, Liberalismus, Kommunismus. Mills Leistung gegenüber dieser Tradition besteht darin, über sein Besteuerungsmodell eine Art fortschrittlichen Klassenkonsens zu konturieren: Während der Rentner des Bodens kein wirtschaftliches „Risiko“ trage und darum ökonomisch entbehrlich, fiskalisch allemal leicht zu drangsalieren ist (CW III, 819), wird die Verteilung der Eigentumsrechte und Vermögensverteilungen zwischen Kapital- und Lohnarbeitsklasse dynamisiert. Anders als reine Ökonomen konturiert Mill diese Dynamik durch Wettbewerb im umfänglicheren Sinn. Die Homologie von Eigentums-, Gewerbe- und Unternehmerfreiheit und Arbeitsteilung einerseits, Presse-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit und pluralistischem Wettstreit andererseits kann hier systemimmanent entfaltet werden. Ökonomische Produktions- ringen dann in der Öffentlichkeit mit politischen Verteilungs- und sozialen Gerechtigkeitsinteressen. „Effiziente Ressourcennutzung ist sein Hauptargument für die Beibehaltung des Konkurrenzprinzips“ gegen Monopole jeder Art (Birnbacher 2006, 69). Mit Themen wie Grundeinkommen, Gemeineigentum an Naturschätzen oder hoher Erbschaftsbesteuerung bläst Mills „ökonomische Utopie“ (Kremser 2021) ins selbe Horn. Und selbst dass der späte Mill eine stationäre Wirtschaftsweise fordert, dementiert das

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Gesagte nicht, sondern wirbt für Dekommodifizierungsoasen (CW III, 752–757). Schließlich bewirken ständige Produktivitätssteigerung und Ressourcenvernutzung weder Freiheits- noch Glücksmehrung; von Generationengerechtigkeit und politischer Nachhaltigkeit ganz zu schweigen (Zinn 2011). Nicht um Wachstums-, sondern um Wettbewerbsvorsorge zwecks Vielfalt war es Mill also zu tun: Er „untergräbt“ das kapitalistische „Ethos“ (Rawls 2012, 457). Für Mill also ist die Politische Ökonomie das sozialphilosophisch angeleitete Instrumentarium einer wohlgeordneten Gesellschaft (Hollander 2015). Engagiert für die Expansion einer sozialliberalen Bürgergesellschaft (im Sinne zunehmender Verteilungsgerechtigkeit, rechtlicher Gleichheit und politischer Gleichberechtigung) konnte er als Fiskaltheoretiker weder Libertärer und Minimalstaatsverfechter sein noch Etatist oder gar einer zu zügellosen Laisser-faire-Doktrin folgen. Mill rechtfertigt die Verpflichtungsgründe etwaiger allgemeiner öffentlicher und marktorientierter Zwangsabgaben (Steuern) weder über individuelle Leistungsfähigkeit noch über das Interesse des Einzelnen an Staatstätigkeit oder Effizienz; auch nicht allerdings über politische Deliberation oder Mehrheiten. Stattdessen dominieren das pragmatische Motiv: dass es essentielle Staatsaufgaben gibt, die verlässliches Aufkommen erfordern, sowie das Motiv der liberalen Sozialreform: dass ungerechte Inbalancen und politische Asymmetrien in den materiellen Verhältnissen der aufkommenden Massengesellschaft steuerpolitisch moderiert, gelenkt und korrigiert werden können. Das erklärt, warum Mill zunehmend mit ‚sozialistischen‘ Unternehmungen und notorisch mit einer sozialeren Eigentumsordnung nur unter den Vorbedingungen politischen und ökonomischen Wettbewerbs sympathisierte (Buchstein/Seubert 2016; s. Kap. IV.18, V.25). Dass Mill zumal in der libertären Rezeption selbst als ‚Sozialist‘ gehandelt wurde, hängt bloß mit seiner Offenheit für einen fiskalpolitisch aktivistischen Wohlfahrts- und Lenkungsstaat zusammen (Riley 1996). Seine wirtschaftspolitischen und staatshaushalterischen Erwägungen sind gesellschaftspolitisch motiviert: Soziale und faire Tei-

S. Huhnholz

lung öffentlicher Lasten und liberalitätsverträgliche Umverteilung (z. B. Erbschaftsregulierung) sollen individueller und gesellschaftlicher Freiheit dienen. Alle staats- und gemeinwirtschaftlichen Optionen großen Stils sind damit wirtschaftssystemlogisch ausgeschlossen. Wenn Mill Eigentums-, Unternehmer- und Marktfreiheit (Anti-Interventionismus) Grenzen setzt, indem er zugunsten von Freihandel (internationale Arbeitsteilung), Wettbewerb (Anti-Monopolismus) und kommunaler Daseinsvorsorge argumentiert, sollen reaktionäre, revolutionäre und libertäre Chancen verringert werden, Fiskus und Steuerpolitik als gesellschaftspolitische Waffen in Anschlag zu bringen. Schumpeter nennt ihn darum einen „evolutionären Sozialisten“ (2009, 650; s. Kap. VI.46). Sein ‚Sozialismus‘ ist mithin kein Kommunismus und wenn überhaupt ein ökonomischer Sozialismus, der eine undogmatische Sensibilität für die fiskalischen Voraussetzungen und Grenzen einer liberalen Gesellschaft einfordert.

Literatur Beckert, Jens: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt a. M./New York 2004. Birnbacher, Dieter: Mill zu Eigentum, Erbrecht und Besteuerung. In: Peter Ulrich/Michael S. Aßländer (Hg.): John Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph. Bern u. a. 2006, 57–77. Buchstein, Hubertus/Seubert, Sandra: John Stuart Mill und der Sozialismus. In: John Stuart Mill: Über Sozialismus. Hg. v. dens. Hamburg 2016, 123–174. Dome, Takuo: Bentham and J. S. Mill on Tax Reform. In: Utilitas 11/3 (1999), 320–339. Ekelund, Robert B. Jr./Walker, Douglas M.: J. S. Mill on the Income Tax Exemption and Inheritance Taxes: The Evidence Reconsidered. In: History of Political Economy 28/4 (1996), 559–581. Gaus, Gerald: Mill’s Normative Economics. In: Christopher Macleod/Dale E. Miller (Hg.): A Companion to Mill. Chichester 2017, 488–503. Groves, Harold M.: Tax Philosophers Two Hundred Years of Thought in Great Britain and the United States. Madison 1974. Höntzsch, Frauke: Steuern zum Wohle aller. John Stuart Mills sozialistische Reform des Privateigentums. In: Sebastian Huhnholz (Hg.): Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute. Baden-Baden 2018, 209– 232.

39 Steuer Hollander, Samuel: John Stuart Mill. Political Economist. New Jersey u. a. 2015. Kremser, Christian E. W.: Ein Ende der ökonomischen Geschichte. Utopische Visionen in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Marburg 2021. Mann, Fritz Karl: Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935 [1937]. Darmstadt 1978. Pitts, Jennifer: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton/Oxford 2005. Rawls, John: Geschichte der Politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2012. Riley, Jonathan: J. S. Mill’s Liberal Utilitarian Assessment of Capitalism Versus Socialism. In: Utilitas 8/1 (1996), 39–71.

343 Scheer, Christian: John Stuart Mill als Steuerphilosoph. In: Erich W. Streissler (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie 19: John Stuart Mill. Berlin 2002, 111–187. Schefczyk, Michael: „Grounds different from, though equally solid with“ – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit in On Liberty. In: Ders./Thomas Schramme (Hg.): John Stuart Mill: Über die Freiheit. Berlin/Boston 2015, 115–135. Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 1. Göttingen 2009. Zinn, Karl Georg: Wachstum um jeden Preis? Mills „Stationary State“ heute und die Angst vor der vernünftigen Stagnation. In: Frauke Höntzsch (Hg.): John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart 2011, 193–216.

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‚Sympathy‘ Thomas Schramme

Mit dem Ausdruck ‚sympathy‘ bezeichnet Mill die menschliche Fähigkeit, zu fühlen, was andere fühlen; oder allgemeiner, Zugang zum subjektiven Erleben Anderer zu erlangen. Sowohl Einfühlung als auch Mitfühlen sind in dieser Idee integriert. Für Mill ist ‚sympathy‘ eine wesentliche Voraussetzung der menschlichen Moralität. Allerdings gilt es, ‚sympathy‘ zur Fähigkeit auszubilden, genuin moralische Empfindungen zu zeigen. Erst dann sind stabile Moraldispositionen zu erwarten und damit letztlich die Realisierbarkeit des utilitaristischen Moralprinzips ermöglicht. In der Moralphilosophie seiner Zeit war ‚sympathy‘ bereits ein fest etabliertes Element. Mill waren die Theorien von David Hume und Adam Smith vertraut, die jeweils Versionen eines moralischen Sentimentalismus vertraten. Deren Fokus war allerdings auf der Rolle der ‚sympathy‘ für moralische Urteile, während Mill im Zusammenhang mit dieser Fähigkeit an der Frage interessiert war, in welcher Weise sich Menschen zu moralfähigen Wesen entwickeln, die über eine Disposition zum moralischen Handeln verfügen. Trotz der wichtigen Unterschiede existieren natürlich gleichwohl Überschneidungen mit Hume und Smith. T. Schramme ()  Professor für Philosophie, University of Liverpool, Liverpool, Großbritannien E-Mail: [email protected]

Der Begriff ‚sympathy‘ ist äußerst vielschichtig und muss daher genauer eingefasst werden. Ein wichtiger Anlass für Mills Interesse an dieser menschlichen Fähigkeit waren vermutlich seine Zweifel gegenüber Benthams Moralpsychologie, die Moralität auf egoistische Motive reduzierte. Mill zufolge kann die natürlich angelegte Fähigkeit, mit anderen zu fühlen, durch innere Kultivierung ausgebildet werden und in der inneren Sanktion des Gewissens münden. Somit ergibt sich für Mill die Möglichkeit aufzuzeigen, auf welche Weise das Nützlichkeitsprinzip (s. Kap. V.35) in stabilen Handlungsdispositionen verankert werden kann. Das Glück aller kann durch die Ausbildung moralischen Empfindens mit dem eigenen Glück amalgamiert werden. ‚Sympathy‘ bleibt dabei die grundlegende Fähigkeit, auch wenn das an sich unkultivierte Gefühl anderen gegenüber gleichwohl ausgebildet werden muss. Die Ausbildung zu einem moralischen Charakter kann am Beispiel Mills selbst beleuchtet werden, wie insbesondere in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) deutlich wird. Mills Bemerkungen zur Rolle von ‚sympathy‘ innerhalb seiner Moralpsychologie und Moraltheorie sind weit verstreut. Die beste Zusammenschau der relevanten Texte erhält man in Jerome Schneewinds inzwischen vergriffener Edition der moralphilosophischen Schriften Mills (Schneewind 1965).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_40

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Der Begriff der ‚sympathy‘ Wie andere seiner zentralen Begriffe definiert Mill ‚sympathy‘ nicht ausdrücklich. An einer Stelle übernimmt er, offenbar affirmativ, die Bestimmung seines Freundes Alexander Bain, der ‚sympathy‘ als die Fähigkeit bezeichnete, die Gefühle oder generell die mentalen Zustände anderer zu übernehmen (CW XI, 362). Diese Fähigkeit zu fühlen, was der andere fühlt – das Einfühlungsvermögen –, wird heutzutage als Empathie bezeichnet; ein Wort, das erst nach Mills Tod in die Philosophie und später in die Alltagssprache eingeführt wurde (Schramme 2020). Einfühlung ist selbst keine moralische Fähigkeit; sie hat vielmehr in erster Linie epistemische Dimensionen und ermöglicht das Verstehen anderer Menschen. An weiteren Stellen wiederum beschreibt Mill ‚sympathy‘ in Verbindung mit ‚fellow-feeling‘ (Priestley 1969, xxvi), was eine Art protomoralische Verbindung zu anderen andeutet; eine Art Anerkennung. Wo wir fühlen, dass andere so wie wir fühlen, und wir sie insofern als wesentlich Gleiche erkennen – als ‚fellows‘ –, da drängt sich der Grundgedanke des Mitfühlens in den Vordergrund. Mitfühlen heißt – wie bei der Empathie – das zu fühlen, was der andere fühlt; aber hinzu kommt das Fühlen in Verbindung mit einem anderen Wesen. Auch bei Hume und Smith changierte die Bedeutung von ‚sympathy‘ in ähnlicher Weise zwischen verschiedenen Phänomenen. Im Deutschen wiederum bezeichnen verwandte Begriffe des Einfühlens, Mitfühlens oder Mitleidens unterschiedliche, aber nicht völlig getrennte Aspekte. Es ist daher sinnvoll, den Ausdruck nicht zu übersetzen. Das vermeintlich passende deutsche Wort Sympathie erweckt im heutigen Sprachgebrauch Bedeutungshorizonte, die Mill nicht vorschwebten. ‚Sympathy‘ kann man auch mit Menschen verspüren, die einem nicht sympathisch sind. Der Ausdruck ‚sympathy‘ in der Verwendung Mills changiert also zwischen der Fähigkeit, Zugang zur Psyche anderer Menschen zu erhalten, und der Fähigkeit, mit anderen zu fühlen. Die re-

T. Schramme

levanten Phänomene ermöglichen Mill eine empiristische Erklärung der menschlichen Moralität. Er benötigt keinen spezifischen moralischen Sinn, wie er in intuitionistischen Moraltheorien der damaligen Zeit angenommen wurde (Green 1996, 1708), oder eine vor aller Erfahrung liegende Einsicht in den vernunftgeleiteten Zwang der Moral, wie bei Kant. Mill vertritt eine entwicklungspsychologische Begründung der Moral: Die natürliche Fähigkeit des Menschen zur ‚sympathy‘ kann, wie er in Utilitarianism (s. Kap. III.12) ausführt, durch Erziehung und entgegenkommende Einrichtung der Umstände so ausgebildet werden, dass Menschen ein Gefühl der Einheit mit allen Menschen erreichen (CW X, 227; s. Kap. V.24). Erst dann fühlen sie sich dem utilitaristischen Moralcodex verpflichtet (s. Kap. V.34), also der Bewertung des Handelns nach dem Maßstab, inwieweit es das Glück eines jeden befördert.

Kritik an Bentham Jeremy Bentham, der wichtigste Begründer des modernen Utilitarismus, hatte in seiner Moraltheorie die Menschen als vorrangig selbstinteressierte Wesen konzipiert. ‚Sympathy‘, das Mitfühlen mit anderen, könne zwar durchaus bisweilen motivierend wirken, aber verlässliche, an Regeln bindende Motivlagen erreiche man nur durch Sanktionen (Bentham 1823 [1789], Kap. III). Die Angst davor, Leid durch verschiedene Formen der Bestrafung zu erfahren, hielt dieser Konzeption zufolge Menschen zuverlässig von unmoralischen Handlungen ab. Eine solche, offenbar egoistische Moralbegründung rief harsche Kritik hervor, auch von Denkern, deren Urteil Mill vertraute (Wilson 1990, 234). Schon früh regte sich tatsächlich in Mill Widerstand gegenüber den psychologischen Annahmen Benthams (s. Kap. II.2). Bereits 1833 kritisierte er in einer anonym in Auszügen publizierten Schrift („Remarks on Bentham’s Philosophy“ 1833; CW X, 3–18) deutlich dessen unvollständige Analyse der moralischen Motivation. Mill zufolge vergisst Bentham eine

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wesentliche Quelle der Moralität: das eigene Gewissen, welches durch die Entwicklung des eigenen Selbst entsteht; durch innere Kultivierung (Heydt 2006). Mill stellt nicht die Grundüberlegungen Ben­ th­ams infrage, sondern hält fest, dass dieser aufgrund von mangelnder Stringenz und fehlendem empirischem Wissen von einer gewissermaßen eingeschränkten Datenbasis ausgeht, wenn er seine moralpsychologischen Theorieteile entwickelt. Mills Kritik richtet sich demnach kurz gesagt gegen Benthams falsche Auffassung der menschlichen Psyche, nicht gegen seine normative Theorie (Priestley 1969, xv). Bentham sieht Menschen, vereinfacht gesprochen, als mechanische Apparate, die durch äußere Reize betrieben werden. Diese Reize bestehen insbesondere in Strafen. Mill sieht darin eine grobe Missachtung des inneren Lebens von Menschen. Bentham bleibt ihm zufolge ganz einer legalistischen Sichtweise verhaftet und reduziert Moralität auf das Befolgen von Regeln (CW X, 7–9). Er übernehme nicht einmal den Versuch, den menschlichen Willen durch Erziehung und Bildung zu steuern (CW X, 98). Mill hingegen war sich bewusst, welch wesentliche Rolle das Gefühlsleben bei der individuellen Selbstentwicklung spielt (s. Kap. V.30). Wie er in seiner Autobiographie ausführlich beschreibt, war die Entdeckung seiner eigenen, lange Zeit unterdrückten Empfindsamkeit – wozu auch das Mitgefühl für andere zählte – für ihn ein wesentlicher Schritt zur Überwindung seiner persönlichen Lebenskrise (CW I, 143– 155). Man kann davon ausgehen, dass diese Krise auch durch grundlegende Zweifel an der utilitaristischen Moraltheorie begründet war, genauer gesagt an der bis dahin überlieferten Form des Utilitarismus. Somit hatte Mills Entdeckung der inneren Kultivierung doppelt therapeutische Wirkung: Für den Utilitarismus und für Mill selbst. Die Kritik an Bentham war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Erreichung des Ziels, die utilitaristische Moraltheorie auf ein adäquateres Fundament zu stellen und damit seine eigenen Zweifel zu besiegen.

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‚Sympathy‘ und individuelles Gewissen ‚Sympathy‘ spielt bei der Entwicklung des Gewissens eine Rolle, da Menschen bei der Betätigung dieser Fähigkeit direkt die Wirkungen ihres Handelns und des Handelns anderer verspüren können. Schmerzen und Unlust sind Empfindungen, die als Konsequenzen von Handlungen vorliegen können. Wenn nun Menschen die Fähigkeit haben, zu empfinden was andere empfinden, dann sind sie auch in der Lage, das Leid anderer im eigenen Bewusstsein als unangenehm zu erleben. Daraus ergibt sich noch keine stetige Disposition, Leiden anderer zu vermeiden oder gar zu lindern. Aber das Mitfühlen ist der Anfang, gewissermaßen die Infizierung („contagion“) – wie es Mill einmal ausdrückt (CW X, 232) – mit Moralität. Allerdings ist Mill zufolge erst ein entwickeltes Gewissen in der Lage, Menschen beständig zum moralischen Handeln zu leiten. Hierzu ist die Habituation von Motiven in bewussten Dispositionen notwendig (Spence 1968). Der Ursprung kann durchaus ein direkt verspürtes Gefühl sein, das eine Person ursprünglich angesteckt hatte, insbesondere das Leid oder die Freude anderer. Wie für Bentham auch sind für Mill die natürlich angelegten Handlungsmotive der ‚sympathy‘ keine verlässlichen Quellen der moralischen Motivation. Doch durch Verstetigung in Handlungsgewohnheiten, also Dispositionen, kann kultivierte ‚sympathy‘ auch ohne direkte Affizierung wirken. Die individuelle Charakterbildung kann sich also abschließend von der Notwendigkeit lösen, die relevante Fähigkeit in jeder Situation zu betätigen. Eine moralisch ausgebildete Person muss in relevanten Situationen nicht immer Mitgefühl verspüren, um die innere Sanktion des eigenen Gewissens erleben zu können und moralisch motiviert zu sein. Man kann das mit der Eingewöhnung von anderen praktischen Fähigkeiten vergleichen, etwa dem Klavierspiel. Durch Einüben ist irgendwann das bewusste Drücken von Tasten unnötig. In ähnlicher Weise

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werden moralische Dispositionen durch Eingewöhnung zu einem Teil unseres Selbst. „In this way people grow up unable to conceive as possible to them a state of total disregard of other people’s interests“ (CW X, 231). Gleichzeitig wird durch ‚sympathy‘ die Wirkungskraft externer Sanktionen gestärkt, da diese zumindest in vielen Kontexten nur dort greifen, wo wir die Ablehnung anderer wirklich als unangenehm empfinden (Miller 2010, 24). Umgekehrt ist das positive, wohlwollende Gefühl anderer in Reaktion auf tugendhaftes Handeln eine Art Verstärker des eigenen moralischen Charakters, da Menschen die Belohnung der ‚sympathy‘ anderer lieben (CW X, 410). In ähnlicher Weise können wir durch Einfühlung zur Bewunderung und möglicherweise sogar der Nachahmung exemplarischer, etwa besonders tugendhafter Vorbilder angeregt werden (CW XI, 150). Für Mill bildet ‚sympathy‘ also eine wesentliche Grundlage der individuellen moralischen Entwicklung, die wiederum in Abhängigkeit und Auseinandersetzung mit anderen stattfindet. Dabei ergibt sich eine völlig andere Relation zwischen Selbstinteresse und moralischen Normen als noch bei Bentham (Höntzsch 2010, 28– 35). Das moralisch Richtige zu tun ist durch die Verankerung im Gewissen etwas dem Menschen genuin eigenes, es steht nicht im Gegensatz zum eigenen Interesse. Insofern kann man Mills Kritik an Bentham auch so lesen, dass er dessen Engführung des menschlichen Selbstinteresses auf bloß egoistische Interessen angreift, welche sich dem üblichen Verständnis nach gegen andere richten. Für Mill existiert bei rechter Entwicklung des Gewissens kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen dem eigenen Interesse und dem Interesse anderer. Der Begriff des Selbstinteresses darf nicht zu eng interpretiert werden. Wie Mill in seiner Utilitarismusschrift verdeutlicht: Tugend kann ein Bestandteil des eigenen Glücks werden (CW X, 235).

Die Motivation zur Befolgung des utilitaristischen Moralprinzips Mill ist nicht der Ansicht, im Gegensatz zu anderen Moraltheoretikern seiner Zeit, dass aus der Fähigkeit zur ‚sympathy‘ sinnvolle norma-

T. Schramme

tive Unterscheidungen entstehen. Zwar können wir Handlungen, die zu Leid bei anderen führen, als unangenehm empfinden. Doch es ist nicht die negative oder positive Empfindung, welche eine Handlung ablehnungswürdig oder bevorzugenswert macht. Kurz: Motiv und Inhalt des moralischen Sollens sind streng zu unterscheiden (CW X, 51–52, 97). Daher sollte man Mill auch nicht als moralischen Sentimentalisten ansehen, im Unterschied zu Hume oder Smith, die eine Rolle der ‚sympathy‘ bei der Bestimmung des moralisch Guten sehen. Die tatsächlichen Regungen der ‚sympathy‘ können uns fehlleiten. Menschen können Mill zufolge in jede Richtung erzogen werden, bis hin zur Verinnerlichung bösartiger Handlungsziele. Es kann also bei der moralischen Motivation nicht um die blinde Befolgung vermeintlich natürlicher Gefühle gehen. Erst genuin moralisches Empfinden, also habituierte und durchdachte Motive, können das utilitaristische Moralprinzip stützen (Devigne 2006, 42). Moralisches Empfinden verlangt im Gegensatz zur ‚sympathy‘ mindestens einen ersten Ansatz innerer Kultivierung, die wiederum in erster Linie durch Erziehung entsteht (Green 1996, 1710–1711). Erst dann zeigt eine Person die freiwillige Aufmerksamkeit gegenüber den Gefühlen anderer (CW X, 61), welche die „Schönheit“ des moralischen Handelns aufscheinen lässt (CW X, 112). Am Ende des Prozesses der inneren Kultivierung steht für Mill ein Verstehen oder eine Einsicht („understanding“). Wenn alles gut geht bei der Ausbildung des moralischen Gewissens, dann folgt die betroffene Person aus Überzeugung der Moral des größten Glücks (s. Kap. V.34, V.35). In der verinnerlichten utilitaristischen Überzeugung besteht Mill zufolge die abschließende Sanktion („ultimate sanction“), welche die individuelle moralische Entwicklung zur Vollendung bringt. Auch wenn an dieser Stelle intellektuelle Aspekte der Moralmotivation ins Spiel kommen, liegt in der empfindungsbezogenen ‚sympathy‘ gleichwohl eine wesentliche Grundlage der Moralität. Bei der Ausübung dieser Fähigkeit erleben Menschen den Schmerz anderer direkt als schmerzhaft (CW X, 60–61). Insofern sind sie

40 ‚Sympathy‘

unwillkürlich auf den Ausgangspunkt der utilitaristischen Moral geeicht, wonach Handlungen nach ihrer Tendenz beurteilt werden, Schmerz zu vermeiden und Freude zu befördern. Der Utilitarismus ist insofern ein natürlicher, weil dem Menschen naheliegender Moralkodex (CW XXXI, 232; Paul 1998, 103). Die Ausdehnung der Rücksicht auf alle Menschen erfordert allerdings Erziehung und innere Kultivierung. Dabei sind auch externe Sanktionen nach wie vor relevant. Für eine verlässliche Verankerung des Nützlichkeitsprinzips im Gewissen muss das Wohl anderer mit dem eigenen Wohl gewissermaßen amalgamiert werden (Devigne 2008, 649). Das ursprüngliche Wirken der ‚sympathy‘ muss, in den Worten des reifen Mill, zur zweiten Natur – also bearbeitet und kultiviert – werden (CW X, 396). Das Moralprinzip des Utilitarismus harmonisiert dabei durchaus mit der angelegten psychologischen Basis, da diese in den „social feelings of mankind“ besteht (CW X, 231). Mill geht es also nicht darum, das utilitaristische Moralprinzip philosophisch zu begründen, etwa im Sinne einer logischen Ableitung oder in einem ähnlichen Verfahren. Eine solche Art der Begründung ist seiner Meinung nach nicht sinnvoll, da für erste Prinzipien unmöglich. Der berüchtigte Beweis im vierten Kapitel seiner Utilitarismusschrift zielt auf eine sozialpsychologische Erklärung der tatsächlichen Moralität des Menschen in Kombination mit einer Erklärung der Realisierbarkeit und bereits vorhandenen, angelegten Realität des utilitaristischen Moralprinzips.

Die Ausbildung eines moralischen Charakters Warum überhaupt moralisch sein? Dies ist eine traditionelle moralphilosophische Frage. Auch Mill befasst sich mit ihr und er liefert eine Variante der antiken eudaimonistischen Ethik. Moralisch zu sein befördert das eigene – richtig verstandene – Glück. Das schließt nicht aus, dass moralische Prinzipien bisweilen Opfer von Menschen verlangen, die ihrem gegenwärtigen In-

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teresse entgegenlaufen. Aber als soziale Wesen sind wir auf andere Menschen angewiesen. Durch die Fähigkeit zum Mitfühlen sind wir ihnen direkt verbunden. Mill lässt durchaus zu, dass Menschen die Moral grundsätzlich ablehnen, also amoralisch sind. Man kann genuine Moralität nicht erzwingen, auch wenn man vielleicht durch passende externe Sanktionen moralkonformes Handeln für eine Weile aufrechterhalten kann. Doch die Natur des Menschen, seine Fähigkeit zur ‚sympathy‘, veranlagt ihn bei richtiger Ausbildung zur generellen Disposition, andere zu beachten. Es ist demnach nicht undenkbar oder gegen die Vernunft, sich dem bewusst erlebten Zwang der Moral komplett zu entziehen, aber vollständiges Glück ist für eine solche Person nicht möglich. Den Zwang der Moral komplett abzulehnen kommt demnach gewissermaßen dem Ablehnen eines genuin menschlichen Lebens gleich (Donner 1991, 115). Mill betont wiederholt die Rolle der Imagination in der Ausbildung der moralischen Gefühle (Paul 1998; Heydt 2006). Aus seiner eigenen Charakterbildung, die lange Zeit fast ausschließlich intellektuell vor sich ging, konnte er – nach Überwindung seiner ‚Krise‘ – die Bedeutung der Einfühlung und des Mitgefühls erkennen (Green 1989). Eine große Rolle bei der Erweiterung seiner eigenen psychologischen Ausstattung spielte die Lektüre von romantischen Dichtern seiner Zeit, beispielsweise Wordsworth und Byron (CW I, 149). Bis ins hohe Alter vertrat er die Ansicht, dass innere Kultur verschiedenste Aspekte verlangt, inklusive der Ausschöpfung menschlicher Gefühle. Der Weg dorthin verlangt eine entsprechend weitgefächerte Bildung, welche die Künste nicht vergisst (CW XX, 221, 253–257). ‚Sympathy‘ war für Mill nicht nur ein zentraler Gegenstand seiner Moraltheorie; sie stellte für ihn selbst eine Art therapeutisches Instrument dar. Erst die tatsächliche Ausübung und Ausbildung des Mitgefühls erlaubte ihm – so kann man vermuten –, aus vollem Herzen an die philosophische Überzeugungskraft des Utilitarismus zu glauben und gleichzeitig das eigene Glück in seinem vollständigen Umfang anzustreben.

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Wahlrecht Hubertus Buchstein

Grundanliegen Sämtliche Überlegungen von John Stuart Mill zu Wahlrechtsfragen sind aus seiner Theorie der Demokratie abgeleitet. Danach kommt der Demokratie zum einen ein intrinsischer Wert zu, weil sie mit ihrem Prinzip der politischen Gleichheit der institutionell geronnene Ausdruck einer liberalen Konzeption von Gerechtigkeit ist. Zum anderen kommt der Demokratie ein instrumenteller Wert zu, weil sie im Fall ihres Gelingens den wichtigen pädagogischen Zweck der Förderung der höchsten menschlichen Fähigkeiten erfüllt (Rinderle 2009). Mill entwickelt seine Vorschläge zu den adäquaten Formen des Wahlrechts auf Basis dieser beiden normativen Begründungen sowie vor dem Hintergrund der konkreten gesellschaftlichen und politischen Lage. Entsprechend seiner utilitaristischen Theorieanlage findet sich auch beim Thema Wahlrecht bei Mill eine perfektionistische Idealtheorie und eine davon abweichende Realtheorie, die auf die jeweils vorliegenden konkreten Kontextbedingungen Rücksicht nimmt (Buchstein 2015, 21 f.). Dieser zweite, pragmati-

H. Buchstein ()  Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected]

sche Zug in Mills theoretischem Ansatz hat dazu geführt, dass er zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Wahlrechtsvorschlägen aufwartete; besonders markant ist dies bei seinen divergierenden Stellungnahmen zur geheimen Stimmabgabe, seinen taktischen Erwägungen zum Pluralstimmrecht und zum Frauenwahlrecht zu erkennen. Wahlrechtsfragen gehörten im damaligen Europa und in den USA zu den am heftigsten diskutierten tagespolitischen Themen. Mill sprach sich auf Ebene der Idealtheorie für ein allgemeines, gleiches, direktes und – zumindest in seinen späteren Schriften – öffentliches Wahlrecht aus. Auf Ebene der Realtheorie lieferte er verschiedene Argumente für ein beschränktes, ungleiches, indirektes und geheimes Wahlrecht – aber immer verbunden mit dem Ziel, die politischen Verhältnisse damit in Richtung der Idealtheorie zu bewegen. Wie sehr Mill dabei über den Tellerrand der in seinen Kreisen gewohnten Ansichten und wahlrechtlichen Gegebenheiten seiner Zeit hinausschaute, verdeutlicht sein Engagement für das Frauenwahlrecht. Das Wahlrecht bietet den Bürgern Mill zufolge Schutz gegen Missregierung, den Missbrauch von Autorität und damit Beherrschung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Mill politische Rechte allein nach der Logik negativer Abwehrrechte begreift. Der Schutz gegen Missregierung ist für den Bürger ein wichtiges, aber nicht das einzige Element des Wahlrechts: „The

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_41

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suffrage is indeed due to him, among other reasons, as a means to his own protection, but only against treatment from which he is equally bound, so far as depends on his vote, to protect every one of his fellow-citizens“ (CW XIX, 489). Das hier zum Ausdruck gebrachte Verständnis des Wahlrechts zielt nicht allein darauf, individuell gegen Beherrschung gesichert zu sein, sondern auch, in einem politischen System zu leben, in dem alle Bürgerinnen und Bürger gemeinsam durch das in demokratischen Verfahren gesatzte Recht gegen Beherrschung geschützt sind. Die instrumentelle Dimension zeigt sich in Mills Überlegungen zu Wahlrechtsreformen und seinen provisorischen Modifikationen der Wahlrechtsgrundsätze. In ihrem Zentrum steht Mills motivationale Annahme über die Effekte von Wahlrechtssystemen. Im besten Fall animiert ein gutes Wahlrecht die Bürger zu informierter Partizipation (s. Kap. V.37), fördert das Niveau einer demokratischen politischen Kultur und dient der politischen Integration. Im schlechten Fall leistet es einen Beitrag zur Zerstörung einer politischen Kultur der Partizipation. Mill dekliniert diesen Grundgedanken und die sich daraus ergebenden konkreten Reformoptionen für alle fünf der heutigen Wahlrechtsgrundsätze (Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, freie Wahl, Wahlgleichheit, geheime Wahl) durch.

Wahlreformvorschläge Mill setzte sich bereits als junger Mann mit Fragen des Wahlrechts auseinander. In den 1830er Jahren hatte er zusammen mit seinem Vater James Mill und Jeremy Bentham zu den Philosophical Radicals gehört, die sich in England für eine Ausweitung des Wahlrechts und die geheime Wahl engagierten. Er war davon überzeugt, dass es nur eine Frage von wenigen Jahren sei, bis in England das geheime Wahlrecht („ballot“) durchgesetzt sei. In einem Brief an Tocqueville versicherte er diesem zu Beginn des Jahres 1837: „[Y]ou will soon see the ballot a cabinet measure & then reform will have finally triumphed; the aristocratic principle will

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be completely anihilated“ (CW XIII, 317). Diese Prognose Mills erwies sich indes als falsch. Die britische Regierung weitete das Stimmrecht nur sehr zögerlich aus und machte keine Anstalten, die Geheimwahl einzuführen. Aus seinem Briefwechsel geht hervor, dass sich Mill auch in den folgenden Jahren wiederholt für Fragen des Wahlrechts interessierte. Sein neuerliches öffentliches Engagement setzte mit der Veröffentlichung seiner Schrift „Thoughts on Parliamentary Reform“ (CW XIX, 311–340) aus dem Jahre 1859 ein. Zwei Jahre später präsentierte Mill seine Überlegungen zum Thema Wahlrecht systematischer und ausführlicher in dem Buch Considerations on Representative Government (s. Kap. III.14). Mill ging es in diesen beiden Schriften um mehrere spezifische Änderungen des Wahlrechts. Unabdingbar gehörte für Mill zur Demokratie, dass sie auf dem Prinzip politischer Gleichheit beruht. Mill gibt der wahlrechtlichen Ausbuchstabierung des Gleichheitsgrundsatzes dann aber mehrere spezifische Wenden. Mill ist Verfechter des direkten Wahlrechts. Anhänger indirekter Wahlen, die dafür plädieren, den Wahlvorgang in zwei Phasen zu unterteilen und Wahlmänner einzuführen, argumentierten, dass mit einem solchen Verfahren unaufgeklärte Volksmeinungen ‚gefiltert‘ würden. Dagegen führt Mill ins Feld, dass durch indirekte Wahlen der erzieherische Wert des allgemeinen Wahlrechts geschmälert und die Verantwortlichkeit und Responsivität der Regierenden gegenüber den Regierten geschwächt würden (CW XIX, 482–490). Gleichwohl will Mill auch das allgemeine Wahlrecht vorerst an bestimmte Bedingungen geknüpft sehen: Es sei zwar eine „individuelle Ungerechtigkeit“, jemandem das Recht vorzuenthalten, bei der Entscheidung von Angelegenheiten mitzureden, die ihn angehen, aber „for the prevention of greater evils“ (CW XIX, 469) sei dies hinzunehmen. Mit diesem Argument schließt er zunächst all diejenigen vom Wahlrecht aus, die nicht lesen, schreiben und rechnen können, die keine Steuern zahlen und die Klienten der Sozialfürsorge sind. Auch Bankrotteuren, die ihre Schulden

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noch nicht zurückgezahlt haben, und Steuerbetrügern räumt er kein Stimmrecht ein. Mills Kriterium ist, dass niemand mit seiner Stimme, ohne selbst Steuern zu zahlen, über das Geld anderer Bürger verfügen dürfe, denn er oder sie hätte ansonsten keinen Anreiz, damit sparsam umzugehen (CW XIX, 471 f.). Dabei plädiert Mill freilich für eine progressive Besteuerung, die auch die Arbeiterklasse weitgehend einschließt (CW XIX, 420). Indirekte (Konsumtions-)Steuern, die jede Arbeiterfamilie zwangsläufig zahle, seien schwerer sichtbar und sollten zugunsten (wenigstens minimaler) direkter Besteuerung aufgegeben werden, um möglichst allen Personen ihren produktiven Beitrag für das gesellschaftliche Wohl bewusst zu machen (s. Kap. V.41). Bemerkenswert ist, dass das Nichtzahlen von Steuern auch bei Vermögenden zum Ausschluss vom Wahlrecht führen würde. Das Argument, dass das Geld, über das jemand durch seine Stimme verfügt, zum Teil sein eigenes sein muss, veranlasst Mill dazu, Fürsorgeabhängigkeit mit dem Verlust des Wahlrechts zu verbinden. Da Mill beim Bildungskriterium deutlich macht, dass der Ausschluss vom Wahlrecht durch mangelnde Bildung nur dann zumutbar sei, wenn zugleich die Gesellschaft die Chance auf Bildung unentgeltlich „or at an expense not exceeding what the poorest, who earn their own living, can afford“ (CW XIX, 470). für jeden Bürger bereitstellt, läge es nahe, bei der Fürsorgeabhängigkeit ein analoges Argument geltend zu machen: Nur wenn die Gesellschaft jeder Person die faire Chance bietet, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu sichern, ließe sich, gemäß Mills Logik, ein Ausschluss vom Wahlrecht rechtfertigen. Doch Mill geht diesen naheliegenden Schritt nicht (MacPherson 1983, 70–74). Stattdessen erscheint ihm Fürsorgeabhängigkeit ausschließlich als individuelles Verschulden, was vor dem Hintergrund der von ihm in seinem ökonomischen Spätwerk dargelegten Einsichten in die systemisch erzeugte Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Gesellschaften ganz offensichtlich unzureichend ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Bindung des Wahlrechts an eine ökonomische Tätigkeit Mill nicht daran hin-

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dert, für das Frauenwahlrecht einzutreten (Okin 1992, 226–230). Ihm gilt die Abhängigkeit vom Erwerbseinkommen eines Ehemannes bei Frauen nicht als Ausschlusskriterium, was darauf hinweist, dass er Geburt und Erziehung von Kindern als gesellschaftlich notwendige Arbeit ansieht, wenn sich auch dieses Argument eher indirekt aus seinen Schriften zur Frauenemanzipation erschließt. Er betont darin die Fähigkeit und das Recht der Frauen zu außerhäuslicher Tätigkeit, lässt damit allerdings einige wichtige Fragen offen: Sollen etwa nicht berufstätige Frauen beim Verlust der Erwerbsarbeit des Ehemannes auch automatisch vom Wahlrecht ausgeschlossen werden – sie verrichten ja unter Umständen weiterhin ihren Teil gesellschaftlich notwendiger, wenn auch monetär nicht entlohnter Arbeit? Was ist mit unverheirateten oder kinderlosen Frauen? Mill geht davon aus, dass die völlige Gleichberechtigung von Frauen in Politik und Gesellschaft eine Konsequenz der normativen Entwicklungslogik moderner Gesellschaften sein wird. Gleichzeitig hält er an geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung fest, zumindest wenn Frauen Mütter werden (CW XXI, 296–299; Pateman 1989; Morales 2007). Gleichwohl verteidigt Mill das Frauenwahlrecht auf grundsätzlicher Ebene gegenüber seinen Gegnern, die mit biologischen ‚Tatsachen‘ argumentieren, und stellt klar: Frauen verfügten im Durchschnitt über genauso viel Intelligenz wie Männer und die Erteilung des Wahlrechts führe zu einem gesteigerten politischen Interesse – Argumente, die in dem sechs Jahre später erschienenen Buch zur Frauenfrage (s. Kap. III.16) ausführlicher dargelegt werden (CW XXI, 299–340).

Proportionale Repräsentation Mill plädiert zudem für eine Reform des Sitzverteilungsmechanismus im britischen Parlament, die im Ergebnis auf eine proportionale Repräsentation hinausläuft. Demokratie verlangt ihm zufolge zwar die Anwendung des Mehrheitsprinzips, aber auch eine proportionale Vertretung der unterschiedlichen ­ Meinungen

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und Interessen in einer Gesellschaft. Die angemessene politische Vertretung der Minderheit im Parlament ist ein Gebot, das er aus dem Gleichheitsgrundsatz ableitet. Politische Gleichheit bedeute, die gleiche Chance zu haben, im Parlament vertreten zu sein. Ein reines Mehrheitswahlsystem, wie es in Großbritannien damals (und heute) praktiziert wird, verletzt diesen Grundsatz (und lässt im Extremfall unterlegene Minderheiten ohne jede Repräsentation), weshalb Mill für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht plädiert (CW XIX, 313–339, 448– 467). Er kombinierte dieses Gleicheitsargument allerdings mit einem Elite-Argument. In wahltechnischer Hinsicht schloss sich Mill einen konkret durchgerechneten Reformvorschlag von Thomas Hare (Hare 1861) an. Forderungen nach einer Einführung des Verhältniswahlsystems waren nicht neu – sie gehen zurück bis zum französischen Nationalkonvent 1793. Seit den 1840er und 1850er Jahren gab es in Frankreich und England eine Reihe an Reformschriften zu diesem Thema; die Idee lag zum Zeitpunkt, als Mill sie aufgriff, „sozusagen in der Luft“ (Friedrich 1953, 320). Der Grundgedanke des auf Hare zurückgehenden Verteilungssystems von Parlamentssitzen besteht darin, das Territorialprinzip aufzuheben und damit die Möglichkeit zu eröffnen, einzelne Kandidaten landesweit wählen zu können. All die Kandidaten, denen es gelingt, insgesamt die Stimmenzahl, die ansonsten für einen Wahlkreis notwendig wäre, auf sich zu versammeln, sollen einen Parlamentssitz bekommen. Der Vorzug dieses Plans ist laut Mill, den Einfluss der gebildeten Minorität unter Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts zu sichern und die Rationalität der öffentlichen Debatte durch die Präsenz der „first minds“ (CW XIX, 458) im Parlament zu heben. Mill geht von der Vermutung aus, dass die Ausweitung des Wahlrechts über kurz oder lang zu einer Dominanz der Arbeiterklasse führen werde und dass es auf der Basis des Mehrheitsprinzips für ihre Vertreter verlockend sei, eine kurzsichtige Klassengesetzgebung zu betreiben (CW XIX, 457 f.). Insbesondere befürchtet er Umverteilungspolitiken, die langfristig zu einem Erlahmen der

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Selbsttätigkeit und zu geringeren Anreizen zum Sparen führen würden. Aus diesem Grund sucht er nach institutionellen Mechanismen, um unter den zu erwartenden zukünftigen Bedingungen auch intellektuellen Minderheiten eine politische Repräsentation zu sichern. Mill setzt mit der Adaption des Sitzvergabesystems von Hare darauf, dass die moralische Macht den numerischen Anteil der Minderheiten im Parlament übertreffen wird. Denn sobald Minderheiten im Parlament vertreten sind, haben sie eine öffentlich wahrnehmbare Stimme und bieten einen gesellschaftlichen Kristallisationsort der oppositionellen Kräfte. Der Einfluss, den Minderheiten dadurch ausüben können, stützt sich auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente. Versteht man die wahlrechtliche Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes in diesem Sinne, fördert er die kritische Selbstbeobachtung der Gesellschaft und damit letztlich auch den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt (s. Kap. V.26). Demgegenüber bemängelten allerdings bereits Zeitgenossen von Mill, dass sein System den von ihm nicht-intendierten Effekt haben würde, eine despotische Herrschaft von Parteiführern zu installieren (Bagehot 1971 [1867], 149–152).

Pluralstimmrecht Trotz seiner hohen Erwartungen an die proportionale Repräsentation sieht Mill die Gefahr der Klassengesetzgebung und des zu niedrigen Standards der politischen Bildung noch nicht ausreichend gebannt. Er schlägt deshalb eine weitere wahlrechtliche Reform vor, deren Vereinbarkeit mit dem demokratischen Gleichheitsprinzip eher fernliegt: ein Pluralwahlrecht, welches Gebildete begünstigt (CW XIX, 473– 481). Mill hatte zwar zeitlebens Zweifel am Mehrfachstimmenrecht; er wägte ab, ob das Hare’sche Proportionalsystem nicht doch ausreichend sei, und setzte sich auch mit anderen Optionen wie der indirekten Wahl durch Wahlmänner auseinander, aber er verwarf den Gedanken doch nie völlig (Reeves 2007, 313– 315). In einem Brief an William Rathbone Jr. pries Mill beispielsweise 1863 das preußische

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Dreiklassenwahlrecht als „considerable improvement“ (CW XV, 906) gegenüber dem britischen Status quo. Deshalb liegt es nahe, seinen Vorschlag eines Pluralwahlrechts für Gebildete weniger als eine zeitbedingte Verirrung anzusehen – motiviert durch eine besitzbürgerliche Angst vor der Mehrheitsherrschaft der Arbeiterklasse –, sondern als Versuch einer Antwort auf ein grundlegendes Problem zu verstehen (Niesen 2007). Mill formulierte seine Überlegungen vor dem Hintergrund der Frage, wie der Tugend und Kompetenz in der Politik besonderes Gewicht gegeben werden kann. Nach Mills nicht verhandelbaren Überzeugung kann jede Bürgerin und jeder Bürger einen berechtigten Anspruch auf ein Stimmrecht geltend machen. „But though every one ought to have a voice – that every one should have an equal voice is a totally different proposition“ (CW XIX, 473). Hinter dieser Äußerung stehen weniger Platons Vorstellungen vom Philosophenkönigtum als vielmehr die aristotelischen Überlegungen zum Verhältnis von proportionaler und arithmetischer Gleichheit. Aristoteles erörtert den Unterschied zwischen den beiden Gleichheitsdimensionen allgemein als Frage der gerechten Zuteilung von Sachen an Personen. Sie muss für Gleiche gleich und für Ungleiche ungleich sein. Hinsichtlich des Anspruchs auf Staatsämter ergibt sich daraus, dass Weisheit, Kompetenz und Sachverstand ein größeres Recht (umgekehrt auch eine größere Pflicht) zur Übernahme von Regierungsämtern bedingen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als Ungerechtigkeit, von jemandem regiert zu werden, der einem an Tugend (Aristoteles) bzw. besserem Urteil (Mill) nachsteht. Das gleiche Wahlrecht erscheint Mill daher als Verstoß gegen den Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nun lassen sich freilich mehrere Einwände gegen die Annahme ins Feld führen, dass ein Pluralwahlrecht das geeignete Mittel ist, um das von Mill aufgeworfene prinzipielle Problem zu lösen. Da ist zunächst der Einwand, den Mill selbst formuliert: Hares Prinzip, das das allgemeine Wahlrecht mit proportionaler Repräsentation verbindet, könnte bereits ausreichen,

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um der moralischen Macht der Kompetenz zur Wirksamkeit zu verhelfen. Deutlicher wird die Fragwürdigkeit des Pluralwahlrechts, wenn man Mills Antwort auf die Frage verfolgt, wie der Bildungsgrad ermittelt werden soll, der über den Anspruch auf ein größeres Stimmengewicht entscheidet. Hatte Mill beim allgemeinen Wahlrecht für relativ weite Inklusionskriterien plädiert – ein Bildungstest soll sich auf Lesekompetenz und Grundrechenarten beschränken, damit der Willkür von Regierungsbeamten möglichst wenig Raum bleibt –, formuliert er nun selbst einigermaßen willkürliche Kriterien. Einen weiteren Einwand gegen Mills meritokratisches Pluralwahlrecht findet man bei Max Weber: Es würde zu einer permanenten Politisierung von Verfahrensfragen führen (Weber 1958 [1917], 234–236).

Öffentliche und geheime Stimmabgabe Besonders irritierend für heutige Leserinnen und Leser ist Mills Plädoyer für die öffentliche Stimmabgabe (CW XIX, 491–496). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Überlegungen zu diesem Thema hatte lediglich Australien den geheimen Stimmzettel eingeführt. In den wenigen anderen Ländern, in denen es politische Wahlen gab, erfolgte die Stimmabgabe als offenes Votum. Mill hatte, wie bereits erwähnt, in den späten 1820er Jahren zusammen mit seinem Vater James Mill und Jeremy Bentham zu den engagierten Verfechtern der geheimen Stimmabgabe gehört, wenn auch ohne Erfolg. Nach intensiven Diskussionen mit Harriet Taylor rückte er in den 1850er Jahren von dieser Position ab (Buchstein 2002, 629 f.). Mill greift in seiner Argumentation auf eine politische Interpretation des Wahlrechts zurück, die erstmals 1791 von einigen Jakobinern in den Debatten der französischen Nationalversammlung vorgebracht worden war (Gueniffey 1993, 42–55) und die im 19. Jahrhundert in den Wahlrechtskämpfen in England und Deutschland auch auf konservativer und liberaler Seite ihre Fürsprecher gefunden hatte: Das Wahlrecht

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sei kein ‚Recht‘ im Sinne eines Abwehrrechts, sondern es sei eine von der politischen Gemeinschaft verliehene ‚function‘, ein ‚trust‘, ein ‚Amt‘ (Buchstein 2002, 624–632). Mill hält mit Montesquieu den ‚Geist‘ einer Institution für ein wirkmächtiges sozialisatorisches Element. Deshalb fragt er, welche Botschaft das geheime Wahlrecht den Bürgern vermittelt. Eine geheime Abstimmung lasse es so scheinen, als sei ihnen das Wahlrecht nur für sich selbst gegeben, als verpflichte sie die Stimmabgabe zu keinerlei Rücksicht auf ihre Mitbürger. Ein solches Wahlrechtsverständnis hält Mill für ganz und gar verfehlt. Das Wahlrecht sei „strictly a matter of duty“ (CW XIX, 489). Wäre das Wahlrecht ein rein negatives individuelles Recht, dann dürfe man mit seinem Wählervotum nach Belieben disponieren und es beispielsweise verkaufen und verpfänden, wogegen doch die Verfechter der geheimen Abstimmung gerade Vorkehrungen treffen wollen. Für Mill besteht der normative Kern des Wahlrechts darin, dass es ein Recht bedeutet, Macht über andere auszuüben zu können. Ein solches Recht kann deshalb nur ein „trust“ (CW XIX, 488), also ein zum Besten der Allgemeinheit anvertrautes Gut sein. Mill schlussfolgert aus dem Amtscharakter des Wahlrechts, dass – wie bei anderen politischen Ämtern auch – seine Ausübung unter den Augen der Öffentlichkeit erfolgen müsse. Mill kannte die Argumente der Kritiker gegen die öffentliche Stimmabgabe und konzediert bereitwillig, dass in Ländern mit stärkeren sozialen Abhängigkeitsstrukturen, als er es für das damalige England konstatiert, die Geheimwahl noch für einige Zeit als Schutzinstrument gegen Erpressung der Wähler vonnöten sei. Für die Zukunft sieht er aber die größere Gefahr von der Selbstbezogenheit „sinisterer“ Individual- oder Klasseninteressen ausgehen (CW XIX, 502 f.). Mill erachtet es als notwendig, die Logik des Geheimen zu brechen, weil sie bei den Bürgern eine mentale Privatisierung befördert. Er unterschlug bei diesem Plädoyer allerdings, dass die öffentliche Stimmabgabe auch in einer Gesellschaft der Unabhängigen und Gleichen die Gefahr nicht wirksam verhindern kann, dass

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Wählerstimmen mit Methoden der Korruption und Erpressung erlangt werden (Buchstein 2018). Mill wurde zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Verteidiger der offenen Stimmabgabe seiner Zeit in Europa. Von seinen ehemaligen Mitstreitern wurde er als Verräter gebrandmarkt: „If James Mill could have anticipated that his son John Stuart would preach so abominable a heresy,“ so schrieb sein ehemaliger Kapagnenkamerad für das geheime Wahlrecht Francis Place 1868, „he would have cracked his skull“ (zit. nach Reeves 2007, 315). Selten sind die hohen Erwartungen, die Mill auf die vernunftfördernde, öffentlichen Rechtfertigungsdruck erzeugende Wirkung der politischen Deliberation in der Öffentlichkeit und auf die kulturprägende Kraft politischer Institutionen richtet, so deutlich zu erkennen wie in Mills Plädoyer für die öffentliche Stimmabgabe – ein Thema, das nach der flächendeckenden Einführung der Geheimwahl zwischen 1870 und 1920 in modernen Massendemokratien aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten, welche Abstimmungen per Heimcomputer und Mobiltelefon sowie spezielle Software für Praktiken wie ‚Liquid Democracy‘ bieten, in jüngster Zeit auf überraschende Weise an Aktualität gewonnen hat (Buchstein 2015, 49 f.).

Rezeption Mills Überlegungen zum Thema Wahlrecht werfen ein instruktives Schlaglicht auf die tatsächlichen institutionenpolitischen Konsequenzen seiner oft eher vage bleibenden politischen Theorie. Ansonsten sind sie heute primär von ideengeschichtlichem Interesse. Dabei fallen die Bewertungen durchaus unterschiedlich aus. Der einen Rezeptionsströmung gilt Mill als ein unverbesserlicher „Idealist der Gerechtigkeit“ (Friedrich 1953, 325), der die tatsächlichen Konsequenzen seiner Reformvorschläge nicht überblickt hat. Anderen gilt er –vor allem mit seinem Plädoyer für das öffentliche Stimmrecht – als eine eher skurrile Figur (Lever

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2007). Schließlich gibt es aber auch eine Reihe von Autoren, die vor allem Mills Rolle als Vorkämpfer für das Frauenwahlrecht, die proportionale Repräsentation und den Abbau von Beteiligungshürden würdigen (Urbinati 2002; Skorupski 2006; Rinderle 2009).

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Teil VI

Wirkung

Wissenschaftstheoretischer Diskurs

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Raphael Scholl

John Stuart Mills Wissenschaftstheorie wird von den meisten Autoren mit wenig Wohlwollen betrachtet. Mills Vorstellungen der Ziele und Methoden der empirischen Wissenschaften, die er in seinem A System of Logic (s. Kap. III.17) darstellte, werden sowohl für einfältig als auch für realitätsfern gehalten. Einfältig, weil die von Mill skizzierten empirischen Methoden bei näherer philosophischer Betrachtung unschlüssig und kraftlos erscheinen. Realitätsfern, weil Mill angeblich die Vertrautheit mit der Geschichte und Praxis der Wissenschaften fehlte, die Voraussetzung für eine erfolgreiche philosophische Analyse gewesen wäre. Zudem hatte Mill das Pech, dass einer seiner Wünsche für sein System in Erfüllung ging: Er suchte und fand eine Konfrontation mit einem einflussreichen Zeitgenossen, dem Historiker und Philosophen der Wissenschaften William Whewell (s. Kap. II.9). Whewells Kritik und Mills Verteidigung werden bis heute als die „Mill-Whewell-Debatte“ diskutiert und unterrichtet. Dieser Kontrast ist für Mill oft unvorteilhaft, unter anderem weil Whewells Position sich leichter an gegenwärtige philosophische Sichtweisen assimilieren lässt als Mills. Im Licht der jün-

R. Scholl ()  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Philosophie, Universität Genf, Genf, Schweiz E-Mail: [email protected]

geren Wissenschaftsforschung ist allerdings in vielen Punkten eine günstigere Beurteilung der Mill’schen Position möglich, als traditionellerweise angeboten wird.

Mills Methoden des experimentellen Schließens Das Kernstück von Mills Philosophie der Induktion bilden die Methoden des experimentellen Schließens, die bis heute diskutiert werden. Im dritten Buch des System of Logic charakterisiert er die Induktion wie folgt: „It consists in inferring from some individual instances in which a phenomenon is observed to occur, that it occurs in all instances of a certain class; namely, in all which resemble the former, in what are regarded as the material circumstances“ (CW VII, 306, Herv. i. O.). Die Annahme, dass unter den gleichen Bedingungen immer die gleichen Phänomene auftreten, ist für Mill eine Verallgemeinerung aus der Erfahrung (CW VII, 311, 562 ff.). Die Aufgabe einer Induktionslogik war einerseits zu benennen, in welchen wesentlichen Umständen sich Instanzen gleichen müssen, damit jeweils das gleiche Phänomen auftritt. Andererseits mussten Regeln formuliert werden, mit denen diese Umstände gefunden werden konnten. Das Hauptaugenmerk der empirischen Wissenschaften sei besonders auf die Abfolge

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_42

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von Phänomenen gerichtet. Diese, schreibt Mill, unterliege einem allgemeinen „Law of Causation“: „To certain facts, certain facts always do, and, as we believe, will continue to, succeed. The invariable antecedent is termed the cause; the invariable consequent, the effect. And the universality of the law of causation consists in this, that every consequent is connected in this manner with some particular antecedent, or set of antecedents“ (CW VII, 327). Induktion besteht nach der Mill’schen Vorstellung also hauptsächlich darin, Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzudecken (CW VII, 378). Ein für die empirischen Wissenschaften angemessener Kausalitätsbegriff muss Mill zufolge aus der Erfahrung entnommen werden. Er verstand als Ursache eines Phänomens die Menge von vorangehenden Bedingungen, die hinreichend sind, um ein Phänomen hervorzubringen. Ein brennendes Zündholz löst nur in einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre einen Brand aus. Einzelne Bedingungen sind also nicht Ursachen in diesem Sinn, obwohl wir im Sprachgebrauch oft einzelne Bedingungen als die Ursache eines Phänomens hervorheben (CW VII, 327 ff.). Mills Ansicht, dass es sich bei solchen Hervorhebungen um eine rein pragmatische Entscheidung handelt, gilt als Ausgangspunkt einer noch immer lebhaft geführten Diskussion über „causal selection“ (vgl. etwa Waters 2007; Woodward 2010; Weber 2017; Pocheville/Griffiths/Stotz 2017). In der weiteren Diskussion begegnet Mill dem Einwand, dass Kausalität nicht einfach aus ausnahmsloser Abfolge erschlossen werden kann (CW VII, 338 ff.). Denn es ist möglich, dass zwei Phänomene ausnahmslos aufeinander folgen, obwohl das eine nicht die Ursache des anderen ist. So folgt (um das von Mill diskutierte Beispiel zu verwenden) der Tag auf die Nacht, ohne von ihr verursacht zu werden. Echte Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind nach Mill deshalb unbedingte Abfolgen. Man könnte sich leicht vorstellen, dass die Nacht ewig dauern würde unter der Bedingung, dass die Sonne nicht mehr über den Horizont steigt. Die Nacht ist also nicht die Ursache des Tages. Die Sonne hingegen ist die Ursache des Tages, da sie unbedingt den Tag erzeugt, falls sie aus

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angemessener Distanz und ohne Hindernis auf eine Oberfläche scheint. Auch diese Unterscheidung zwischen bedingten und unbedingten ausnahmslosen Abfolgen versteht Mill strikt als Erfahrungswissen (CW VII, 340). Mills Methoden sind nun dafür gedacht, die relevanten Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzu­ decken. Er beschrieb metaphorisch, dass man sich die allgemeine Regularität der Natur als ein Netz vieler einzelner Regularitäten vorstellen muss, das durch die Methoden entwirrt wird (CW VII, 318). Mill stellte einen hohen Anspruch an die Methoden. In der Autobiography (s. Kap. III.11) schrieb er, dass seine Methoden der experimentellen Forschung nichts Geringeres sein sollten als „a reduction of the inductive process to strict rules and to a scientific test, such as the Syllogism is for ratiocination“ (CW I, 217). Mill unterscheidet im achten Kapitel des dritten Buches je nach Zählung vier oder fünf Methoden. Die „Method of Agreement“ (CW VII, 388) vergleicht verschiedene Instanzen miteinander, in denen ein bestimmtes, zu untersuchendes Phänomen auftritt. Das Ziel ist es, Bedingungen aufzuspüren, in denen all diese Instanzen übereinstimmen (daher der Name der Methode): „If two or more instances of the phenomenon under investigation have only one circumstance in common, the circumstance in which alone all the instances agree, is the cause (or effect) of the given phenomenon“ (CW VII, 390). Um ein Beispiel von J. L. Mackie zu entleihen: Wenn alle, die an Skorbut erkranken, darin übereinstimmen, dass sie längere Zeit kein frisches Obst oder Gemüse gegessen haben, dann legt dies einen Ursachenkandidaten nahe. Zu beachten ist, dass die Methode keine Richtung der Kausalität festlegt. Die Bedingungen, die mit dem Phänomen einhergehen, können seine Ursache oder seine Wirkung sein. Unter anderem deswegen schrieb Mill der „Method of Agreement“ vor allem heuristischen Wert zu. Die Methode ist hochgradig geeignet, um Ursachenkandidaten zu identifizieren. Aber für sich alleine genommen, erlaubt sie selten ­zuverlässige Kausalschlüsse. Denn es gibt zahlreiche Kontexte, in denen die Methode zu ­falschen Urtei-

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len führen würde. Erstens wird man selten sämtliche Antezedenzien eines Phänomens kennen (CW VII, 390). Damit bleibt es möglich, dass ein ausnahmslos mit dem Phänomen verbundenes Antezedens kein unbedingtes Antezedens ist, also keine Ursache in Mills Sinn. Das beachtete Antezedens und das Phänomen könnten beispielsweise aus einer gemeinsamen Ursache folgen, die aber unbeobachtet geblieben ist. Zweitens diskutiert Mill in einem späteren Kapitel eine „characteristic imperfection“ der „Method of Agreement“ (CW VII, 435). Die Methode könnte nämlich nur dann definitive Kausalschlüsse erlauben, wenn ein Phänomen nur eine oder eine Menge an Ursachen aufweist. Falls ein Phänomen auf verschiedenen Pfaden erzeugt werden kann – eine Bremse kann versagen, weil der Bremsbelag abgenutzt ist (Pfad A) oder weil die Bremsflüssigkeit leckt (Pfad B) – dann wird es keine Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Instanzen des Phänomens geben. Schlimmer noch: Wir könnten feststellen, dass weder die eine Ursache noch die andere allen Instanzen des Phänomens gemeinsam ist, und deshalb beide möglichen Ursachen ausschließen. Die Methode versagt also, sobald wir es mit komplexen Kausalstrukturen zu tun haben, in denen Effekte mehr als eine mögliche Ursache haben können. Diese Situation, die Mill als „plurality of causes“ bezeichnet, wird wohl in den meisten Fällen vorliegen (CW VII, 434 ff.). Mill führt als zweite Methode die „Method of Difference“ ein, die Methode der Unterschiede. Die „Method of Agreement“ sucht nach Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Vorkommnissen eines Phänomens. Im Gegensatz dazu sucht die „Method of Difference“ nach Unterschieden zwischen Situationen, in denen das Phänomen auftritt, und solchen, in denen es nicht auftritt: „If an instance in which the phenomenon under investigation occurs, and an instance in which it does not occur, have every circumstance in common save one, that one occurring only in the former; the circumstance in which alone the two instances differ, is the effect, or the cause, or an indispensable part of the cause, of the phenomenon“ (CW VII, 391).

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Mill verlangt hier nicht, dass eine passende Bedingung eine hinreichende Ursache sein muss: Sie kann auch lediglich Teil einer komplexeren Ursache sein, entsprechend Mills oben diskutiertem Kausalitätsbegriff. Mill betont, dass die „Method of Difference“ das Vorgehen der experimentellen Wissenschaften besonders gut widerspiegelt. Im normalen Lauf der Dinge seien die strengen Bedingungen der Methode selten erfüllt, wohingegen Experimente genau das Ziel haben, vor einem gleichbleibenden Hintergrund die Auswirkungen gezielter Eingriffe zu prüfen. Umgekehrt verhält es sich mit der „Method of Agreement“: In der Regel dient uns diese Methode, wenn wir nach möglichen Ursachen suchen und noch nicht in der Lage sind zu experimentieren. Die „Method of Difference“ löst nach Mill die wichtigsten Probleme der „Method of Agreement“. Die „Method of Agreement“ lässt die Frage offen, ob die gefundene Koinzidenz ursächlich ist. Um nachzuweisen, dass eine vermutete Ursache eine tatsächliche ist, müssen wir das fragliche Phänomen anhand der vermuteten Ursache erzeugen, ohne weitere Bedingungen zu verändern. Nach dieser Vorstellung kann die „Method of Difference“ also die durch die „Method of Agreement“ identifizierten Ursachenkandidaten bestätigen und damit auch die Richtung der Kausalität festlegen. Auch die zweite Schwäche der „Method of Agreement“ vermeidet die „Method of Difference“. Denn auch wenn es eine „plurality of causes“ gibt, wird die „Method of Difference“ zumindest eine Bedingung auf einem der mehreren Pfade zum fraglichen Phänomen zuverlässig nachweisen. Mill verstand die „Method of Difference“ deshalb als die belastbarste seiner Methoden: „It thus appears to be by the Method of Difference alone that we can ever, in the way of direct experience, arrive with certainty at causes“ (CW VII, 394). Mills dritte Methode ist die „Method of Residues“. Er verstand diese Methode als einen wichtigen Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Denn sie regt uns an, auf Aspekte eines Phänomens zu achten, die wir anhand bekannter

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Ursachen noch nicht erklären können. Dies zeigt uns auf, wo nach weiteren Ursachen zu suchen ist. Mills Formulierung war: „Subduct from any phenomenon such part as is known by previous inductions to be the effect of certain antecedents, and the residue of the phenomenon is the effect of the remaining antecedents“ (CW VII, 398). Mills Beispiele für die „Method of Residues“ waren allesamt direkte Zitate aus John Herschel’s Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (1830), eine von Mills wichtigsten Quellen über die induktiven Wissenschaften. Herschel nannte als ein Beispiel den nach Johann Franz Encke benannten Kometen, der die kürzeste Umlaufzeit aller damals bekannten Kometen hat (etwas mehr als drei Jahre). Herschel hielt fest, dass sich der Komet langsamer bewegte, als die bekannten Gesetze vorhersagten; und er spekulierte, dass dies ein Anzeichen auf die Existenz eines Äthers sein könnte, der den Kometen bremst (CW VII, 426–427). Diese Spekulation überlebte die weitere Entwicklung der Wissenschaften zwar nicht – aber es ist plausibel, dass derartige Beobachtungen ein möglicher Pfad zur Entdeckung des Äthers hätten sein können, wenn es einen Äther zu entdecken gegeben hätte. Mills letzte Methode ist die „Method of Concomitant Variation“: „Whatever phenomenon varies in any manner whenever another phenomenon varies in some particular manner, is either a cause or an effect of that phenomenon, or is connected with it through some fact of causation“ (CW VII, 401). Mill hielt diese Methode für entscheidend, wenn sich gewisse Einflüsse nicht gänzlich ausschalten lassen (sodass die „Method of Difference“ und die „Method of Agreement“ nicht zum Zug kommen). Beispiele dafür sind die Untersuchung der Schwerkraft (die notgedrungen auf der Erde stattfinden musste) oder der Wärme (die sich in keinem Objekt auf null reduzieren ließ). Mill führte schon im achten Kapitel mehrere anschauliche Beispiele an. So können wir den Einfluss des Mondes auf die Gezeiten nicht untersuchen, indem wir den Mond entfernen; aber wir können die „concomitant variation“ der Gezeiten und der Position des Modes aufzeigen (CW VII, 400–401).

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Mill war der Ansicht, dass unser Erfahrungswissen letztlich auf den hier skizzierten Methoden fußt. Allerdings behauptete er nicht, dass all unser Wissen direkt aus diesen Methoden folgt. In vielen Fällen seien die relevanten Vorgänge zu komplex, als dass man UrsacheWirkungs-Beziehungen unmittelbar anhand der Methoden identifizieren könnte. In solchen Fällen hielt Mill die „deductive method“ für angemessen (CW VII, Buch III, Kap. XI). Die deduktive Methode hatte nach Mill drei Schritte (CW VII, 454). Den ersten bezeichnete er als „direct induction“. Hier geht es darum, anhand von Mills Methoden grundlegende kausale Regularitäten festzustellen. Den zweiten Schritt bezeichnete er als „ratiocination“. Hier war das Ziel, die Folgen von komplexen Interaktionen der grundlegenden kausalen Regularitäten abzuleiten. Im dritten Schritt, „verification“, wird schließlich geprüft, ob die so abgeleiteten Phänomene mit der Beobachtung übereinstimmen. Es ist der erste Schritt (dass die grundlegenden kausalen Abhängigkeiten direkt anhand der Methoden nachweisbar sein müssen), der Mill besonders von seinem Zeitgenossen William Whewell unterscheidet.

Mills Debatte mit William Whewell Mills System of Logic wurde fast von Anfang an im Kontrast zu William Whewells einflussreicher Wissenschaftstheorie gesehen. Whewell war ein Gelehrter von ausserordentlicher Breite, der als Master des Trinity College in Cambridge große Sichtbarkeit genoss. Mit seiner History of the Inductive Sciences, from the Earliest to the Present Times (1837) und der drauf aufbauenden Philosophy of the Inductive Sciences, Founded Upon Their History (1840) wurde er zum wahrscheinlich bedeutendsten Wissenschaftsforscher seiner Zeit (zu Whewell vgl. Yeo 1993). Die Konfrontation der zwei Ansätze war nicht unwillkommen. Mill erzählt in der Autobiographie, dass er auf die „polemical propensities of Dr. Whewell“ gezählt hatte, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Werk zu ziehen (CW I, 231). Whewell antwortete allerdings erst 1850,

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womit es Mill gerade noch reichte, seinerseits in der dritten Ausgabe des Systems auf Whewell zu reagieren. Die einschlägige moderne Abhandlung zum Hintergrund und den Inhalten der Debatte ist Laura Synders Reforming Philosophy (2006). Mehrere Aspekte der Debatte bleiben für die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie relevant, wovon hier eine Auswahl diskutiert wird.

Whewell über Induktion und Hypothesen Whewells Erkenntnistheorie vereinte empiristische und rationalistische Elemente. Nach Whewell trägt der menschliche Geist Ideen („conceptions“) zur Erklärung der Phänomene bei. Induktion bestehe darin, dass eine Menge an Phänomenen durch solche Ideen verbunden werden (Whewell spricht von einer „colligation of facts,“ diskutiert in Whewell 1840, Bd. 2, II/4). Ein Beispiel soll diesen Gedanken illustrieren. Laut Whewell war Keplers Entdeckung der Ellipsenform der Umlaufbahn des Planeten Mars eine „colligation of facts“: Die beobachteten Planetenpositionen waren empirische Phänomene, die durch Keplers Geist anhand der Idee der Ellipse verbunden wurden („[t]he pearls are there, but they will not hang together till some one provides the string“, Whewell 1840, Bd. 2, II/5 § 2). Anschließend führte Newton eine weitere Idee ein: diejenige der Gravitationskraft, die umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes zweier Objekte wirkt. Da eine solche Kraft zu ellipsenförmigen Umlaufbahnen führt, konnte nun die Idee der Gravitationskraft ihrerseits die bekannten ellipsenförmigen Planetenbahnen zusammenführen. Solche hypothetischen Ideen bewähren sich anschließend durch empirische Tests (vgl. hierzu Whewell 1840, Bd. 2, Teil II, Kap. 5; ab der zweiten Ausgabe von 1847 unter der handlichen Überschrift „Tests of Hypotheses“). So versteht es Whewell als ein Merkmal einer erfolgreichen Hypothese, dass sie erfolgreiche Vorhersagen macht – allerdings Vorhersagen nicht nur von Phänomenen der gleichen Art wie jene, die den Anlass zur Formulierung der Hypothese gegeben

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haben, sondern von Phänomenen einer anderen Art („phenomena of a different kind“). Über die Zeit ist von erfolgreichen Hypothesen darüber hinaus zu erwarten, dass sie vereinheitlicht werden. Das heisst, dass eine Hypothese, die zur Erklärung einer Art von Phänomenen induktiv erschlossen wurde, auch zur Erklärung einer anderen Art von Phänomen induktiv erschlossen wird. Whewell spricht in solchen Fällen von einer „consilience of inductions“, einem „Zusammenspringen“ verschiedener Induktionen. Wir können zum Beispiel der Planetenbahnen zurückkehren, um diese Vorstellungen über die Bestätigung von Hypothesen zu erläutern. Newtons Hypothese der Gravitationskraft wurde einerseits durch eine erfolgreiche Vorhersage bestätigt, die ein anderes Phänomen als die Bewegung von Planeten betraf: die Rückkehr von Halleys Kometen. Eine noch entscheidendere Bestätigung erfuhr die Hypothese andererseits durch eine „consilience of inductions“. Es konnte nämlich gezeigt werden, dass sich die Präzession der Erdachse erklären ließ durch die Wirkung der Gravitationskraft auf eine nicht genau kugelförmige Erde. Hier konnte die Hypothese der Gravitationskraft also zur Erklärung eines Phänomens herbeigezogen werden, das plausiblerweise von einer anderen ‚Art‘ war als die Bewegung der Planeten um die Sonne. Diese Übereinstimmung mehrerer Induktionen sprach nach Whewells Vorstellungen für die Korrektheit der Hypothese der Gravitationskraft. Zusammengefasst hatte sich die Wissenschaft also von den empirischen Phänomenen schrittweise hin zu weitreichenden Theorien entwickelt. Die einzelnen Schritte waren in Whewells Sinn induktiv insofern, als dass bei jedem Schritt neue Ideen durch den menschlichen Geist beigesteuert wurden: zuerst die ellipsenförmige Umlaufbahn, dann die umgekehrtquadratisch wirkende Kraft. Die hypothetischen Ideen bestätigen sich jeweils durch ihre Fähigkeit, die bekannten Phänomene zu verbinden („colligation“); neue Phänomene vorherzusagen („prediction“); und schließlich verschiedenartige Phänomene unter der gleichen Hypothese zu vereinen („consilience“).

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Mills Kritik und das Problem der unbedachten Alternativhypothesen Mill lehnte diesen erkenntnistheoretischen Apparat ab. Er verstand Hypothesen zwar als ein wichtiges Werkzeug im Verlauf wissenschaftlicher Forschung. Es sei „erlaubt, nützlich und oft notwendig“, über mögliche Ursachen zu spekulieren (CW VII, 498). Dies diene dazu, unsere Forschung in fruchtbare Richtungen zu lenken. Fast alle gut bestätigten Theorien hätten ursprünglich als bloße Hypothesen begonnen. Allerdings sei es ungenügend, Hypothesen indirekt zu bestätigen anhand ihrer Fähigkeit, die Phänomene zu erklären oder neue Vorhersagen zu machen. Vielmehr sei unabhängige Evidenz für die Existenz einer Ursache verlangt, ebenso wie direkte Evidenz für die Verbindung zwischen einer Ursache und den ihr zugeschriebenen Wirkungen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Existenz einer Ursache empirisch nachzuweisen ist; und dass ihre Fähigkeit, die vermutete Wirkung herbeizuführen, aufzuzeigen ist anhand einer der von Mill formulierten Methoden des experimentellen Schließens. Der Biss dieser Position wird klar, wenn wir einen der hauptsächlichen wissenschaftlichen Inhalte der Debatte betrachten: die Debatte über die Existenz des Äthers. Es war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine breit akzeptierte Vorstellung, dass Licht als die Ausbreitung von Wellen in einem Medium, dem sogenannten Äther, zu erklären war. Dieser physikalische Mechanismus bot eine Erklärung für die Welleneigenschaften des Lichts, insbesondere sogenannte Interferenzphänomene: Zwei Lichtstrahlen können sich derart treffen, dass es im Gebiet der Überschneidung nicht heller wird (wie man es erwarten würde, wenn Licht aus Teilchen bestünde, deren Dichte an der Stelle der Überlappung zunähme), sondern dunkler (so wie eine Schallwelle eine andere auslöschen kann). Whewell und Mill bezogen hierzu unterschiedliche Positionen. Whewell war der Meinung, dass der Äther alle Bedingungen einer gut bestätigten Theorie erfüllte. Er erklärte allem voran die Phänomene der Lichtausbreitung. Er

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hatte aber auch zu überraschenden Vorhersagen geführt, da die Interferenzphänomene ursprünglich eine theoretische Vorhersage waren, die erst im Anschluss experimentell bestätigt wurden. Zudem hatten auch andere, verschiedenartige Phänomene ihrerseits zur Hypothese des Äthers geführt, sodass Whewell eine „consilience of inductions“ für gegeben hielt. Mill hingegen hielt die Äther-Hypothese für problematisch. Er berief sich in seiner Diskussion neben der Äther-Theorie auf das Beispiel von Descartes’ Vortex-Theorie, die ebenfalls flüchtige Partikel postuliert, deren Bewegung (u. a.) zur Erklärung der Schwerkraft dienen sollte. „Of the existence of either fluid there is no evidence“, schrieb Mill, „save the explanation they are calculated to afford of some of the phenomena“ (CW VII, 491). Der Nachweis der Existenz eines flüchtigen Mediums und der notwendigen Interaktionen zwischen seinen Bestandteilen fehlte. Nach Mills Erkenntnistheorie war die Äther-Theorie deshalb keine gut bestätigte Induktion. Diese Behauptungen waren nicht apodiktisch. Mill lieferte eine Begründung für seine Skepsis gegenüber Whewells Erkenntnistheorie. Er argumentierte, dass wir nur unter einer Bedingung auf die Wahrheit einer Theorie schließen können, weil ihre deduktiven Konsequenzen eintreffen. Diese Bedingung ist, dass jede andere Theorie auch andere deduktive Konsequenzen hätte (CW VII, 500). Dies hielt Mill zum Beispiel im Fall von Newtons umgekehrt-quadratischer Schwerkraft für gegeben. Denn jede andere mathematische Funktion hätte nicht die bekannte Ellipsenform der Planetenbahnen ergeben. Falls hingegen mehrere Theorien denkbar wären, die die gleichen deduktiven Konsequenzen haben, dann können wir nicht von der Bestätigung der deduktiven Konsequenzen auf die Wahrheit der Theorie schließen. Genau so ein Fall war die Äthertheorie des Lichts: „[M]ost thinkers of any degree of sobriety allow, that an hypothesis of this kind is not to be received as probably true because it accounts for all the known phenomena; since this is a condition sometimes fulfilled tolerably well by two conflicting hypotheses; while there are pro-

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bably many others which are equally possible, but which, for want of anything analogous in our experience, our minds are unfitted to conceive“ (CW VII, 500). Mill verneinte auch den erkenntnistheoretischen Wert von neuen Vorhersagen: „Such predictions and their fulfilment are, indeed, well calculated to impress the uninformed [vor 1851: „the ignorant vulgar“], whose faith in science rests solely on similar coincidences be­ tween its prophecies and what comes to pass. But it is strange that any considerable stress should be laid upon such a coincidence by persons of scientific attainments“ (CW VII, 500). Auch dieses Urteil begründete Mill: Falls sich die Gesetze der Lichtausbreitung in einem gewissen Mass mit den Regularitäten decken, die wir aus einem Modell der Schwingungen in einem elastischen Medium ableiten können, dann sollte es uns nicht überraschen, falls es einige weitere Übereinstimmungen gibt. Daraus folgt jedoch nicht, dass Schwingungen in einem elastischen Medium auch wirklich die Phänomene der Lichtausbreitung verursachen. Mill schrieb: „Among the natural agents with which we are acquainted, the vibrations of an elastic fluid may be the only one whose laws bear a close resemblance to those of light; but we cannot tell that there does not exist an unknown cause, other than an elastic ether diffused through space, yet producing effects identical in some respects with those which would result from the undulations of such an ether“ (CW VII, 503). In diesem Fall dürfen wir eine Hypothese also nicht akzeptieren, nur weil sie einen gewissen empirischen Erfolg hat und wir uns keine Alternativen ausdenken können. Weder die Existenz der postulierten Entitäten noch ihre postulierten Interaktionen wurden durch unabhängige Belege nachgewiesen.

Heutige Relevanz für den wissenschaftlichen Realismus Die weitere historische Entwicklung und die moderne Rezeption dieser Debatte weisen eine gewisse Ironie auf. Einerseits bekam Mill natürlich Recht: Die Äther-Theorie wurde von der

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Physik wenige Jahrzehnte später aufgegeben. Licht wurde bald als ein Phänomen mit sowohl Teilchen- als auch Wellen-Charakter verstanden, das ohne einen Äther als Medium auskommt. Insofern war Mills Skepsis berechtigt, und Whewell war zu Unrecht von der Äther-Theorie überzeugt. Gleichzeitig gilt aber in der modernen Wissenschaftstheorie Whewells Erkenntnistheorie als die Siegerin der Mill-Whewell-Debatte. So hat beispielsweise Larry Laudan argumentiert, dass Whewells Erkenntnistheorie einen entscheidenden Wandel zum Ausdruck brachte, der sich in der Methodendiskussion der Naturwissenschaften im Verlauf des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereits vollzogen hatte (Laudan 1981b, v. a. Kap. 8). Die Wissenschaften beschäftigten sich zunehmend mit schwer zugänglichen Dingen und Vorgängen (dem sehr Kleinen, dem weit Entfernten, dem längst Vergangenen). Methoden wie die von Mill beschriebenen erschienen als ungeeignet, um Zugang zu solchen Bereichen zu schaffen. Stattdessen benötigten die Wissenschaften so etwas wie die von Whewell beschriebene hypothetische Methode. Was blieb anderes übrig, als Hypothesen über diese nicht direkt wahrnehmbaren Prozesse zu formulieren, die dann anhand ihrer deduktiven Konsequenzen überprüft wurden? Whewells Erkenntnistheorie spiegelte aus dieser Sicht den Fortschritt der wissenschaftlichen Methodenlehre wider, die sich Hand in Hand mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen selbst verbessert hatte. Aus dieser Sicht hatte Mill die Äther-Theorie aus den falschen Gründen abgelehnt, während Whewell sie aus guten Gründen akzeptiert hatte, auch wenn neue empirische Evidenz (speziell das Michelson-Morley Experiment) die Theorie im Verlauf der nächsten Jahrzehnte zu Fall brachte (siehe zum Beispiel die Verteidigung des Whewell’schen Ansatzes in Forster 2011). Konsequentialistische Theorien der Evidenz dominierten im 20. Jahrhundert. Es ist leicht, Verbindungen herzustellen zwischen Whewells Erkenntnislehre und Carl Hempels hypothetikodeduktivem Vorgehen (Hempel 1966), Poppers Falsifikationismus (Popper 2005), dem Schluss auf die beste Erklärung (Lipton 2004; Douven

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2022) oder der Bayesianischen Bestätigungstheorie (Lin 2022). Whewell’sche Themen wie neue Vorhersagen und Vereinheitlichung werden weiterhin rege diskutiert. Um zwei sichtbare Beispiele zu nennen: Peter Lipton (2004, Kap. 10) diskutierte den Status von neuen Vorhersagen im Rahmen des Schlusses auf die beste Erklärung; und Wayne Myrvold (2003) und Marc Lange (2004) diskutierten die Bedeutung von Vereinheitlichung im Kontext des Bayesianismus. Aber das grundsätzliche Problem der konsequentialistischen Erkenntnistheorien – in dem Sinn, dass wir Hypothesen anhand ihrer Konsequenzen beurteilen – bleibt bestehen. Mills Sorge über unbedachte Alternativhypothesen ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Eine der großen und viel diskutierten Schwächen des Schlusses auf die beste Erklärung ist beispielsweise das von Bas van Fraassen so benannte „bad lot“ Problem (Van Fraassen 1989, 143; ‚Lot‘ ist hier im Sinne eines ‚Warenpostens‘ zu verstehen, einer bestimmten Menge einer Ware: In einem schlechten Posten Strümpfe hat es besonders viele Paare mit Laufmaschen). Selbst wenn wir zugestehen, dass sich die Erklärungsstärke einer Hypothese zuverlässig feststellen lässt, und dass Erklärungsstärke ein Anzeichen auf Wahrheit ist, so ist es noch immer möglich, dass wir falsche Hypothesen akzeptieren. Denn wir bewerten ja nur diejenigen Hypothesen, die wir tatsächlich erdacht und in Betracht gezogen haben. Das Problem ist besonders bedeutungsvoll in der Debatte über den wissenschaftlichen Realismus. Dabei geht es um die Frage, ob unsere besten wissenschaftlichen Theorien eine von uns unabhängige Realität korrekt repräsentieren. Es gibt dazu zwei Grundintuitionen. Einerseits spricht der empirische und praktische Erfolg der Wissenschaften für den Realismus; andererseits wissen wir, dass sich viele durchaus erfolgreiche Theorie (die ptolemäische Astronomie, die Phlogiston-Theorie der Verbrennung, die klassische Physik) im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte dennoch als falsch erwiesen haben (Laudan 1981a). Eine führende Erklärung für diesen Umstand ist der Verweis auf das Problem der unbedachten Alternativhypothesen. P. Kyle Stanford (2006) zeigt anhand detaillierter

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Fallstudien aus der Geschichte der Genetik auf, dass während des 19. Jahrhunderts wiederholt Vererbungstheorien akzeptiert (und vehement verteidigt) wurden, deren Alternativen nicht erfunden oder nicht bedacht wurden. Dazu gehören die berühmten Vererbungstheorien von Charles Darwin oder August Weismann. Das Problem der unbedachten Alternativen soll hier erklären, weshalb immer wieder Erklärungsansätze aufgegeben werden mussten, die eigentlich sehr vielversprechend waren und vielleicht auch über Jahrhunderte einen Nutzen hatten: Sie waren eben die erklärungsstärksten Hypothesen in einer begrenzten Auswahl. Stanford argumentiert, dass dieses Problem unsere heutigen Theoretiker nicht weniger betreffe als die Theoretiker des 19. Jahrhunderts. Ob solche Argumente gegen den wissenschaftlichen Realismus letztlich überzeugen können, hängt wesentlich davon ab, wie die Schlussverfahren tatsächlicher wissenschaftlicher Forschung rekonstruiert werden. Stanford macht sein Argument stark, indem er die Genetik des 19. Jahrhunderts als eine Reihe von Schlüssen auf die beste Erklärung rekonstruiert – also ganz im Whewell’schen Geist. Man kann dagegen argumentieren, dass die Forschenden des 19. Jahrhunderts eher Mill’sche Ansprüche an akzeptable wissenschaftliche Theorien stellten (Novick/Scholl 2020). Sie verlangten, dass die Existenz von postulierten genetischen Partikeln durch andere Evidenz als ihre bloße Erklärungskraft nachzuweisen war und dass ihre kausalen Einflüsse in kontrollierten Experimenten demonstriert werden mussten. Da dieser Anspruch nicht erfüllt werden konnte, fanden die spekulativen Vererbungstheorien des 19. Jahrhunderts oft auch wenig Zuspruch. Umgekehrt lässt sich zeigen, dass die Forschenden, die im 20. Jahrhundert unsere heutigen Theorien erhärteten, auf die Erfüllung Mill’scher Standards bestanden: Sie konnten anhand der Differenzmethode die Rolle von Chromosomen und Nukleinsäuren in der Vererbung nachweisen. Es ist offen, welche dieser Interpretationen zutrifft, und wie weit sich ähnliche Analysen auf andere Wissenschaftszweige ausdehnen lassen. Augenfällig ist aber, dass hier die moderne

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Debatte über eine wissenschaftstheoretische Grundfrage direkt mit einem der zentralen Themen der Mill-Whewell-Debatte zusammenhängt.

Mill und die Wissenschaftsgeschichte Mill war der Ansicht, dass wissenschaftliche Schlussverfahren nur empirisch untersucht werden können: „Principles of Evidence and Theories of Method are not to be constructed à priori. The laws of our rational faculty, like those of every other natural agency, are only learnt by seeing the agent at work. The earlier achievements of science were made without the conscious observance of any Scientific Method; and we should never have known by what process truth is to be ascertained, if we had not previously ascertained many truths“ (CW VIII, 833). Mill zufolge ist eine philosophische Methodenlehre also auf der Grundlage bereits erfolgter Erkenntnisse zu konstruieren. Damit verknüpfte er das Projekt der Wissenschaftstheorie eng mit dem der Wissenschaftsgeschichte, ähnlich wie es Whewell auch tat. Mills Ansatz wird jedoch regelmässig vorgeworfen, er sei ungenügend in der Wissenschaftsgeschichte verankert. Dies würde eine gradlinige Erklärung dafür liefern, weshalb die Reichweite der von Mill beschriebenen Methoden angeblich gering ist: Seine Methodenlehre erfüllte den oben zitierten Anspruch der empirischen Verankerung nicht. Sie hatte einfach wenig damit zu tun, wie tatsächliche wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen worden waren. Der erste, der diesen Vorwurf erhob, war Whewell selbst. Mit seiner mehrbändigen History of the Inductive Sciences hatte Whewell unstrittig eine starke historische Grundlage für seine Philosophy of the Inductive Sciences geschaffen. Whewell konnte also mit Recht den Anspruch erheben, dass seine Philosophie der Naturwissenschaften auf einem detaillierten Studium der Wissenschaftsgeschichte fußte. Umgekehrt wissen wir von Mill, dass ihm diese Kenntnis fehlte. Wir erfahren in seiner Autobiographie, dass die Verfassung des System of

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Logic ganze fünf Jahre stockte, weil es ihm an wissenschaftshistorischen Fachkenntnissen mangelte. Ironischerweise war es die Erscheinung von Whewells zweibändiger Wissenschaftsgeschichte, die Mill schließlich den Anstoss dazu gab, das Kapitel in Angriff zu nehmen (CW I, 215–217). Wir wissen aus der Autobiographie auch, dass viele der wissenschaftlichen Beispiele, auf die sich Mill bezog, von seinem Bekannten Alexander Bain im Text eingefügt wurden. Mill schrieb, er habe viele der von Bain vorgeschlagenen Beispiele Wort für Wort übernommen (CW I, 255). Laut Whewell fehlte bei Mill der historische Nachweis, dass die diskutierten Methoden sowohl leistungsfähig als auch weit verbreitet waren. Whewell schrieb: „Who will carry these formulæ through the history of the sciences, as they have really grown up; and shew us that these four methods have been operative in their formation; or that any light is thrown upon the steps of their progress by reference to these formulæ?“ (Whewell 1849, 45). Mill blieb es dem Leser schuldig, die vorgeschlagenen Methoden auf eine große Menge sichtbarer und unzweifelhafter Episoden wissenschaftlicher Entdeckung anzuwenden (Whewell 1849, 46). Moderne Autoren schließen sich in der Regel dem Urteil an, dass Mills Wissenschaftstheorie aus historischer Sicht unglaubwürdig ist. In einem einschlägigen Beitrag zur Mill-Whewell-Debatte argumentiert zum Beispiel Laura Snyder, dass Mills Methoden nur auf unmittelbar beobachtbare Ursachen und Wirkungen angewendet werden können (Snyder 1997, 188). So interpretiert, erlauben die Methoden grundsätzlich keine Aussagen über genau die Entitäten und Prozesse, die normalerweise als die herausragenden Erkenntnisse der Wissenschaften gefeiert werden. Geoffrey Scarre (1998) bringt die akzeptierte Sicht in seiner Übersichtsarbeit zu Mills Theorien der Induktion und der wissenschaftlichen Methode schön zum Ausdruck. Mill habe Methoden zur Untersuchung von UrsacheWirkungs-Verhältnissen formuliert, die durchaus eine Rolle in der wissenschaftlichen Forschung spielen könnten. Aber in der Wissenschaft sei

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die Entdeckung neuer Entitäten und Prozesse die zentralere Aufgabe, und diese könne Mills Ansatz nicht erfüllen. Scarre schreibt, dass Mills Methoden mit ihrer theoretischen Schüchternheit und ihrem Verzicht auf Hypothesen nicht genügt hätten, um zentrale Erkenntnisse zu generieren. Mill besaß einfach zu wenig Erfahrung mit der tatsächlich praktizierten Wissenschaft: „[It] is hard to avoid the impression that Mill lacked the sophisticated grasp of the dynamic of the modern scientific enterprise which first-hand experience of research would have given him“ (Scarre 1998, 135–136). Scarre zufolge hätten Mills Methoden die großen Meilensteine der modernen Wissenschaften – er nennt die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik oder die Struktur der DNS – nicht ermöglichen können. Man kann aber umgekehrt argumentieren, dass Mills Wissenschaftsferne übertrieben wurde und dass seine Methoden durchaus eine glaubwürdige erste Beschreibung gängiger wissenschaftlicher Schlussverfahren sind. Zum einen war die Verbindung zwischen Mills Ansatz und der wissenschaftlichen Praxis von Anfang an gegeben. Unter den Büchern, die Mill zur Vorbereitung auf das Kapitel über Induktion las, war neben Whewell auch John Herschels Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (1830). Mills Methoden sind eine Systematisierung der Methoden Herschels, und Herschels Nähe zu den empirischen Wissenschaften steht nicht in Frage (Cobb 2012). In einem Brief an Herschel bezeichnete Mill seine Version der Methoden als „little more than an expansion & a more scientific statement of what you had previously stated“ (Brief vom 1. Mai 1843, zit. in CW VII, xlv). Dies ist vermutlich eine höfliche Untertreibung, da Mills Systematisierung der Methoden ein nennenswerter Beitrag war. Aber es belegt die direkte Verbindung von Mills Methodendiskussion zu Herschel und damit zur Forschungspraxis. Jüngere Arbeiten zeigen auch, dass Mills Beschreibung wissenschaftlicher Episoden relevante Aspekte korrekt erfasste. Aaron Cobb (2011) untersuchte beispielsweise Mills Darstellung von Faradays Entdeckung der elektri-

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schen Induktion. Er nahm einen dreifachen Vergleich vor zwischen Faradays eigenen Schriften, Mills Rekonstruktion der Episode (CW VII, 413–414) und Whewells Kritik an Mill (Whewell 1849, 49–50, vgl. auch Whewell 1837). Cobbs Befund war, dass sowohl Whewells als auch Mills Rekonstruktionen Stärken und Schwächen haben, dass Mills Darstellung aber keinesfalls einfach als falsch zurückzuweisen ist. Whewells Ansatz zielt besonders darauf ab, die Entwicklung des begrifflichen und theoretischen Rahmens zu verstehen, der Faradays Forschung anleitete. Hier ist besonders der theoretische Einfluss von Ampère zu nennen, den Mill nach Whewells Kritik vernachlässigte. Gleichzeitig empfiehlt sich aber Mills Ansatz in anderer Hinsicht. Er erlaubt uns nämlich, Faradays experimentelle Praktiken zu verstehen, anhand derer er zahlreiche ursächliche Einflüsse gesondert untersuchte. Hier gilt Faradays Aufmerksamkeit genau den Problemen der Umsetzung der Differenzmethode, die man nach Mills Methodenlehre erwarten würde. Faradays untersuchte die Einflüsse von Variationen in verschiedenen experimentellen Parametern auf die zu untersuchenden Phänomene. Andere Arbeiten zeigen, wie verbreitet die methodologische Tradition war, die Autoren wie Herschel und Mill im 19. Jahrhundert beschrieben. In einer fokussierten Fallstudie ließ sich beispielsweise zeigen, dass Mills vier Methoden des kausalen Schließens eine tragende Rolle spielten bei Ignaz Semmelweis’ Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers im Wien der 1840er Jahre (Scholl 2013). Dieser Fall ist aus wissenschaftstheoretischer Perspektive von besonderem Interesse, da er von vielen Autoren als Illustration zahlreicher Aspekte wissenschaftlichen Vorgehens verwendet wurde. So finden wir längere Diskussionen von Semmelweis’ Arbeit als eine Illustration der hypothetiko-deduktiven Theorienbestätigung bei Carl G. Hempel (1966) und des Schlusses auf die beste Erklärung bei Peter Lipton (1991; 2004). Der Fall wurde also als in vieler Hinsicht typisch für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beurteilt.

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Der Mill’sche Charakter von Semmelweis’ Schlussverfahren wurde weitgehend vernachlässigt. Jedoch finden wir bei Semmelweis fast den ganzen Mill’schen Methodenapparat. Wie unerkannt dieser blieb, zeigt nichts deutlicher als die Behandlung von Semmelweis’ numerischen Tabellen. Diese sind ein unübersehbares Element von Semmelweis’ Hauptwerk von 1861, Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers, wurden aber meistens nur aufgrund ihrer Fülle und angeblichen Redundanz kommentiert, und sie wurden in einigen Ausgaben des Werks gekürzt. Die Tabellen dienen allerdings dazu, mit Schlussverfahren wie der Methode der Übereinstimmung und der Methode der begleitenden Veränderungen zu untersuchen, ob das Kindbettfieber zum Beispiel mit den Jahreszeiten oder mit der Geburtenzahl zusammenhängt. Erst danach wird anhand der Differenzmethode, wiederum in Tabellenform, ein Zusammenhang mit der Handhygiene nachgewiesen. Mit einem viel weiteren Blickwinkel untersuchte Jutta Schickore (2017) in ihrer Monographie About Method Episoden der Schlangengiftforschung vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Die Methodendiskussionen der beteiligten Wissenschaftler zeigen die Bedeutung vergleichender Versuche, in denen die Veränderungen untersucht werden, die auf einen experimentellen Eingriff folgen. Verschiedene Autoren bezogen dabei unterschiedliche Stellungen zu methodologischen Kernfragen. Wie oft sind Experimente zu wiederholen? Wie weitreichend müssen die Umstände der Experimente variiert werden? Im 19. Jahrhundert schließlich kristallisieren sich gewisse heutige experimentelle Praktiken als Konsens heraus. Aus dieser Perspektive erkennen wir Mills Methoden als eine philosophische Reflexion über diese methodologische Tradition. Sie sind ein Versuch, die Bedingungen präzis zu fassen, unter denen vergleichenden Experimente zuverlässige Schlüsse erlauben. Zusammenfassend kann man sagen, dass Mill sicherlich kein passionierter Wissenschaftshistoriker war, dass es aber falsch ist, Mills Methoden als praxisfremd zu bezeichnen.

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Obwohl Mill selbst weder mit der Wissenschaftsgeschichte noch mit der wissenschaftlichen Forschung eng vertraut war, fußte sein Methodenapparat auf praxisnahen Einflüssen – allen voran auf Herschels Preliminary Discourse. Die jüngere Wissenschaftsforschung lässt wenig Zweifel daran, dass Herschel und Mill Methoden beschrieben, die in der wissenschaftlichen Forschungspraxis weit verbreitet waren.

Kritik an der Praktikabilität der „Method of Difference“ Auch wenn Mills Methoden eine gute oberflächliche Beschreibung weit verbreiteter wissenschaftlicher Praktiken bieten, bleibt es möglich, dass ihr Nutzen als Werkzeuge des Erkenntnisgewinns beschränkt ist im Vergleich mit anderen Schlussverfahren (zum Beispiel solchen, wie sie von Whewell beschrieben wurden). In der Regel werden zwei Probleme diskutiert. Erstens wird angezweifelt, dass sich die strengen Anforderungen der „Method of Difference“ in der Praxis einhalten lassen. Zweitens wird vorausgesetzt, dass sich die Methode – so sie denn überhaupt praktikabel ist – nur auf unmittelbar wahrnehmbare Ursachen und Wirkungen anwenden lässt. In der moderneren Literatur zu Mill wird häufig durchexerziert, auf wie viele Arten die von Mill formulierten Methoden zu Fehlschlüssen führen könnten. Diese Argumente finden sich beispielsweise und zum Teil in großem Detail bei Mackie (1974, Appendix über „Eliminative Methods of Induction“), Skorupski (1989, Kap. 6) und Scarre (1998). Zu diskutieren ist hier vor allem die „Method of Difference“, die Mill für besonders aussagekräftig hielt. Die grundsätzliche Schlüssigkeit der „Method of Difference“ wird kaum angezweifelt. Die Differenzmethode erfasst die weit verbreitete Intuition, dass in einem wissenschaftlichen Experiment gezielt einzelne Veränderungen einzuführen sind, um deren Auswirkungen zu untersuchen – unter Gleichhaltung aller weiteren Umstände. Die Frage ist allerdings, ob diese strenge Voraussetzung der Methode je in der Praxis erfüllt werden kann.

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Mills eigene Diskussion gibt wenig Hilfestellung zur Frage, wie man zwei Situationen finden oder erzeugen kann, die sich tatsächlich nur a) in der Gegenwart und Abwesenheit einer Wirkung und b) in einer ihrer vorangehenden Bedingungen unterscheiden. Er gesteht zunächst zu, dass zwei Instanzen, von denen wir wissen, dass sie diesen strengen Anforderungen genügen, im normalen Lauf der Ereignisse selten sind: „In the spontaneous operations of nature there is generally such complication and such obscurity, they are mostly either on so over­whelmingly large or on so inaccessibly minute a scale, we are so ignorant of a great part of the facts which really take place, and even those of which we are not ignorant are so multitudinous, and therefore so seldom exactly alike in any two cases, that a spontaneous experiment, of the kind required by the Method of Difference, is commonly not to be found“ (CW VII, 392– 393). Allerdings würden künstliche Experimente genau solche Instanzen beinahe als Selbstverständlichkeit erzeugen. In solchen Fällen geht die Veränderung in den Bedingungen, die der Wirkung vorangeht, auf unser eigenes Tun zurück und ist genau festgelegt („perfectly definite“, CW VII, 393). Mill bleibt jedoch eine überzeugende Begründung dafür schuldig, weshalb wir im Fall eines künstlichen Experiments in der Lage sind, die verlangten ähnlichen Instanzen zu erkennen. Seine Vorschläge sind vernünftig, aber letztlich unzulänglich: „We choose a previous state of things with which we are well acquainted, so that no unforeseen alteration in that state is likely to pass unobserved; and into this we introduce, as rapidly as possible, the phenomenon which we wish to study; so that in general we are entitled to feel complete assurance that the pre-existing state, and the state which we have produced, differ in nothing except the presence or absence of that phenomenon“ (CW VII, 393). Mill schlägt also zwei Strategien vor. Die erste ist, dass wir das System bereits gut genug kennen müssen, um beobachten zu können, ob relevante oder potenziell relevante Veränderungen während unseres Experiments auftreten. Dies ist jedoch ein hoher Anspruch, den wir möglicher-

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weise erst erfüllen können, wenn wir schon wissen, was wir eigentlich mit der „Method of Difference“ herausfinden wollen: nämlich welche Ursachen die untersuchte Wirkung beeinflussen. Mills zweite Strategie ist, dass wir die Veränderung rasch einführen müssen, sodass andere Veränderungen im gleichen Zeitintervall unwahrscheinlich sind. Er scheint sich vorzustellen, dass wir gezielte experimentelle Veränderungen gewissermaßen ‚einschmuggeln‘ können, bevor sich andere Umstände verändert haben. Damit macht er allerdings starke Voraussetzungen über die Zeitskala, auf der sich potenziell relevante Störer verändern. Es ist leicht vorstellbar, dass relevante Störer in physikalischen oder biologischen Systemen entweder sehr rasch variieren relativ zur Zeitskala unserer Interventionen oder dass die Störer zwar langsam variieren, dass es jedoch sehr viele davon gibt, sodass die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung in jedem gegebenen Zeitintervall doch wieder hoch ist. Es ist plausibel, dass gezielten Interventionen eine besondere epistemische Bedeutung zukommt. Aber Mill gelingt es nicht, diese philosophische Intuition stringent zu begründen. Es ist deshalb vielleicht wenig überraschend, dass Mill die Rolle der „Method of Difference“ für relativ beschränkt hielt. Mill war der Ansicht, dass die „Method“ in der Regel verwendet würde, um grundlegende Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu ergründen, dass der weitere Fortschritt der Wissenschaften danach allerdings deduktiv verlaufen würde. So bezweifelte Mill beispielsweise, dass man die Wirkung von Quecksilber auf einen Menschen direkt feststellen könnte, da es zu viele Störfaktoren gibt; vielmehr müsse ergründet werden, wie sich Quecksilber auf die einzelnen Bestandteile des Organismus auswirke, um dann mit der deduktiven Methode zu verfahren (CW VII, 434–463). Mill fasste die Differenzmethode hier also sehr konservativ auf. Man kann auch argumentieren, dass Mill in späteren Ausgaben von A System of Logic die Resultate der Methode nicht mehr als sicher, sondern zunehmend als provisorisch verstand (Ducheyne 2008).

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In der neueren Literatur gibt es interessante Versuche, den Schwächen der „Method of Difference“ zu begegnen. Beispielsweise argumentierte Lipton (2004, Kap. 8), dass die Differenzmethode – vielleicht nicht immer, aber zumindest häufig – im größeren Rahmen des Schlusses auf die beste Erklärung gesehen werden muss. Wir können selten beurteilen, ob Intervention und Kontrolle in jeder relevanten Hinsicht gleich sind, sodass wir nach Mills Darstellung zu einem kausalen Schluss berechtigt wären. Aber wir können stattdessen beurteilen, ob die zu erschließende Kausalbeziehung auch noch Erklärungstugenden aufweist: Würde sie wirklich existieren, wäre sie dann auch eine Erklärung einer grossen Menge von Phänomenen? Wäre sie Teil einer vereinheitlichten Erklärung? Lipton stimmt also zu, dass Mills Differenzmethode in den Wissenschaften weit verbreitet ist. Die Methode wird dann aber an eine in den Grundzügen Whewell’sche Erkenntnislehre assimiliert (vgl. auch Achinstein 1992). Der wissenschaftsinterne Methodendiskurs weckt aber Zweifel daran, dass Liptons Rekonstruktion angemessen ist. Wir haben bereits gesehen, dass Schickores Monographie About Method aufzeigt, wie die Aussagekraft und Voraussetzungen vergleichender Experimente über Jahrhunderte immer wieder neu diskutiert wurden. Eine besonders nennenswerte Periode ist dabei das 19. Jahrhundert, als die Vorstellung des ‚kontrollierten‘ Experiments speziell in den Lebenswissenschaften auftaucht und diskutiert wird (vgl. auch Schickore 2019). Eine Schlüsselfigur darin ist der französische Physiologe und Methodologe Claude Bernard, auf den der Begriff des Kontrollexperiments zurückgeht. Bernard argumentierte in seinem Klassiker der wissenschaftlichen Methode, der Introduction à l’étude de la médecine expérimentale (1865), dass sich die Hypothese ‚A verursacht B‘ nicht allein dadurch belegen lässt, die regelmässige Folge von B auf A aufzuzeigen. Es muss auch gezeigt werden, dass B ausbleibt, falls A unterdrückt wird. Bernard sprach in diesem Zusammenhang von „preuve“ und „contre-épreuve“, was man als Beweis und Gegenbeweis übersetzen kann (Bernard 1865, I.2.§VIII, 97). Bernard erkannte das Pro-

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blem, dass solche vergleichenden Schlüsse nur aussagekräftig sind, wenn weitere relevante Bedingungen gleich gehalten werden. Da die Phänomene der Biologie enorm variabel sind, versuchte er diese Bedingung unter anderem durch den geschickten Einsatz von Vergleichen zwischen mehreren, gleich zu behandelnden Versuchstieren oder an verschiedenen Teilen eines einzigen Versuchstiers zu erfüllen. Bernards Ansatz verspricht, auch dann zu funktionieren, wenn man gewisse experimentelle Bedingungen nicht kennt, geschweige denn bewusst kontrollieren kann. Wir sehen hier einen Versuch, Mills sehr strenges Ideal in eine praktikable Methode zu verwandeln (Scholl 2020). Dieser Versuch beruft sich allerdings nicht auf die Erklärungstugenden, die bei Lipton zentral sind. Historische Beispiele von Versuchen, die Differenzmethode gangbar zu machen, lassen sich leicht vervielfachen. So lässt sich beispielsweise argumentieren, dass Semmelweis durchaus Argumente und Evidenz hatte, um zu zeigen, dass sein klinisches Experiment aussagekräftig war. Zu diesem Zweck wusste Semmelweis die Logik des Kontrollexperiments scharfsinnig einzusetzen, wiederum ohne Rückgriff auf Erklärungstugenden (Scholl 2015). Ross und Woodward (2016) untersuchten, wie Robert Koch, einer der Begründer der Mikrobiologie, Differenzmethoden für die bakteriologische Forschung anpasste. Dies mündete in den noch immer rezipierten Koch’schen Postulaten zum Nachweis der Erreger von bakteriellen Infektionskrankheiten. Matthews (1995, Kap. 1–2) diskutierte eine ausgedehnte Debatte an der französischen Académie de médecine der 1830er Jahre. Auf der einen Seite der Debatte befanden sich Pierre Charles Alexandre Louis und anderen Vertretern der sogenannten ‚numerischen Methode‘, auf der anderen Benigno Risueño de Amador und andere Kritiker. Eine methodologische Kernfrage war, ob Vergleiche zwischen Patientengruppen, die unterschiedliche Behandlungen erfahren, aussagekräftig sind. Schließlich gibt es ja grosse und oft unbekannte Unterschiede zwischen den individuellen Patienten, aus denen die Gruppen bestehen. Die Befürworter der Methoden argumentierten, dass

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sich individuelle Unterschiede zwischen Patienten im Gruppendurchschnitt gegenseitig kompensieren würden. Die wissenschaftliche Praxis versucht hier also bereits, ein Problem der Differenzmethode zu lösen, das Mill kurz darauf noch als unlösbar bezeichnen wird. Fast überall, wo man genauer hinschaut, findet man im 19. Jahrhundert Versuche, die Differenzmethode für bestimmte Fachgebiete und Forschungsfragen gangbar zu machen. Mill wies also auf eine wesentliche Strömung des wissenschaftlichen Methodendiskurses hin, auch wenn seine eigenen Versuche, vergleichende Experimente zu rechtfertigen, der wissenschaftlichen Praxis hinterherhinkten. Es ist vermutlich typisch, dass die philosophische Methodenreflexion den Fortschritt wissenschaftlicher Methoden nicht vorantreibt, sondern lediglich kanonisiert (wie Laudan 1968 in einem noch immer lesenswerten Essay betonte).

Unbeobachtete oder unbeobachtbare Ursachen Eine gängige Sicht ist, dass Mills Erkenntnistheorie nur unmittelbar beobachtbare Ursachen (und Wirkungen) untersuchen kann. Snyder verglich beispielsweise die Anwendbarkeit der Mill’schen und der Whewell’schen Erkenntnistheorien auf eine Reihe wichtiger wissenschaftlicher Episoden. Ihr Urteil stellte das Problem der Beobachtbarkeit in den Mittelpunkt: „Whewell’s inductivism, unlike Mill’s, is able to yield theoretical hypotheses referring to unobservables such as molecules and light waves. […] I suggest that Whewell’s view of induction conforms more closely than Mill’s view to the practice of scientists such as Kepler, Newton, and Fresnel, who do attempt to discover laws involving unobservables“ (Snyder 1997, 159). Aus dieser Sicht ist eine Theorie wie die des Äthers nach der Mill’schen Erkenntnislehre grundsätzlich unzulässig, da sie sich nicht auf unmittelbar beobachtbare Prozesse bezieht. Es ist klar, dass, so konstruiert, nur Whewells Ansatz eine angemessene Beschreibung tatsächlicher wissenschaftlicher Entdeckungen liefern kann.

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Diese Leseweise ist nicht abwegig. In den früheren Ausgaben des Systems kritisierte Mill beispielsweise am Äther: „It can neither be seen, heard, smelt, tasted, nor touched“ (CW VII, 499 FN). Dies legt den Anspruch der unmittelbaren Beobachtbarkeit nahe. Wir sahen auch weiter oben, dass Mill im Zusammenhang mit kontrollierten Experimenten davon sprach, dass wir ein Experimentalsystem gut genug kennen sollten, damit keine Veränderungen „unbeobachtet“ bleiben würden (CW VIII, 393). Die Frage ist aber, was Mill genau unter Beobachtung verstand. In der heutigen Philosophie wird Beobachtung oft eng verstanden als ‚wahrnehmbar ohne Hilfsmittel‘. In den Wissenschaften selbst ist es allerdings üblich, Beobachtung und damit verbundene Begriffe breiter auszulegen, wie es Ian Hacking in seinem klassischen Essay „Do we see through a microscope?“ (1981) diskutierte. Etwas zu sehen oder zu beobachten kann in diesem Sinn auch bedeuten, dass wir es anhand geeigneter Hilfsmittel detektieren. Mill scheint sich in späteren Ausgaben des Systems dieser breiteren Bedeutung zu verpflichten. Er ließ beispielsweise zu, dass man Hinweise auf die Existenz des Äthers finden könnte: „The prevailing hypothesis of a luminiferous ether […] is not in its own nature entirely cut off from the possibility of direct evidence in its favour. It is well known that the difference between the calculated and the observed times of the periodical return of Encke’s comet, has led to a conjecture that a medium capable of opposing resistance to motion is diffused through space. If this surmise should be confirmed […] the luminiferous ether would have made a considerable advance towards the character of a vera causa“ (CW III, 499). Mit dem Ausdruck vera causa bezieht sich Mill auf eine methodologische Regel Newtons. Am Anfang des dritten Buchs der Principia erklärt Newton: „Causas rerum naturalium non plures admitti debere, quam quæ & veræ sint & earum Phænomenis explicandis sufficiant“ (Newton 1713, 357). Wir sollen demnach nicht mehr Ursachen zulassen, als sowohl wahr sind als auch hinreichend, um die ihnen zugeschriebenen

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­hänomene zu erklären. In seiner berühmten P Kritik der ersten Regel hielt Whewell den doppelten Anspruch nach Wahrheit und hinreichender Erklärung für überflüssig (so im zweiten Band der Philosophy of the Inductive Sciences, 1840, Teil II, Buch XII, Kap. 13, § 6). Seiner Analyse zufolge ergibt sich die Wahrheit einer Ursache genau daraus, dass sie hinreichende Erklärungen liefert im Sinne der Whewell’schen Erkenntnistheorie. Wie wir oben gesehen haben, hielt Mill hingegen beide Forderungen für notwendig. Eine postulierte Ursache muss nicht nur die ihr zugeschriebenen Phänomene erklären, sondern es muss sich auch unabhängige Evidenz für die Existenz der Ursache finden lassen. Wie im Fall des Äthers muss diese unabhängige Evidenz allerdings nicht aus der unvermittelten Beobachtung stammen, sondern sie kann auch auf indirekten Detektionsverfahren fußen. Weiter verlangt Mill nicht, dass nur Hypothesen über bereits bekannte (beobachtete oder detektierte) Ursachen formuliert werden dürfen. Es ist auch möglich, mit einer postulierten Ursache zu beginnen und erst im Anschluss Evidenz für ihre tatsächliche Existenz zu produzieren. Wichtig ist einzig, dass solche Evidenz gesucht wird, denn Erklärungskraft allein genügt nicht: „It is certainly not necessary that the cause assigned should be a cause already known; otherwise we should sacrifice our best opportunities of becoming acquainted with new causes. But what is true in [Newton’s] maxim is, that the cause, though not known previously, should be capable of being known thereafter; that its existence should be capable of being detected, and its connexion with the effect ascribed to it should be susceptible of being proved, by independent evidence“ (CW VII, 496). Mill verteidigte also den doppelten Anspruch des Newton’schen vera causa Standards: Eine zulässige ursächliche Erklärung musste nicht nur die Phänomene in einem zu diskutierenden Sinn erklären, sondern es musste sich auch die Existenz der Ursache anhand der Beobachtung oder eines angemessenen Detektionsverfahrens nachweisen lassen. Der Einfluss der Ursache auf ihre Wirkung war weiter anhand der von Mill formulierten Methoden des kausalen Schließens

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nachzuweisen. Mills Erkenntnislehre fordert hier mehr als die von Whewell. Aber sie verbietet weder die Bezugnahme auf unbeobachtbare oder unbeobachtete Prozesse noch die Formulierung von Hypothesen, in denen spekulative Ursachen vorkommen.

Abschluss Mills Methodenlehre ist leistungsfähiger, entwicklungsfähiger und aus wissenschaftshistorischer Perspektive plausibler, als gemeinhin kolportiert wird. Weil Mill Methoden hervorhob, die in vielen Wissenschaftszweigen verbreitet sind, bleibt seine Position auch relevant für die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie. Mills Methodenlehre stellte einen hohen Anspruch an wissenschaftliche Erklärungen. Anhand der von ihm formulierten Schlussverfahren muss aufgezeigt werden, dass mit geeigneten Mitteln nachweisbare Ursachen die Wirkungen haben, die wir ihnen zuschreiben. Dieser Anspruch ist strengerer als der von Whewells Theorie der Induktion, derzufolge sich Hypothesen indirekt, anhand bestimmter empirischer Konsequenzen bewähren können. Dieser Gedanke der konsequentialistischen Bestätigung von Hypothesen bleibt in heutigen Ansätzen weit verbreitet. Die daraus resultierenden erkenntnistheoretischen Probleme sind der Ausgangspunkt für die fortdauernde Debatte über wissenschaftlichen Realismus und Anti-Realismus. Es ist heute so diskutabel wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ob eine Theorie für wahr oder wahrscheinlich wahr gehalten werden sollte, weil sie erklärungsstark ist, die Phänomene vereinheitlicht oder zu neuen Vorhersagen geführt hat – sofern nicht alle Alternativen nachweislich unzulänglich sind. Nicht zuletzt um diesem Problem der unbedachten Alternativhypothesen zu entgehen, verneint Mill, dass sich Theorien ausschließlich anhand ihrer Konsequenzen bewähren können. Es bleibt für diese Debatte eine wichtige Frage, ob die tatsächliche wissenschaftliche Praxis eher Mills oder eher Whewells Ansatz entspricht.

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Zumindest die üblichen Einwände gegen Mills Methodenlehre greifen zu kurz. Beispielsweise mag Mill zwar kein passionierter Wissenschaftshistoriker gewesen sein, aber seine theoretischen Ansichten fußen auf den Ansichten von anderen Autoren, die sehr wohl eine plausible Nähe zur damaligen und historischen wissenschaftlichen Praxis hatten. Der Vorwurf, Mills Methodenapparat sei besonders fern von der Geschichte und Praxis der Wissenschaften, ist deshalb kaum haltbar. Auch die üblichen Einwände gegen die Praktikabilität und Reichweite der Mill’schen Methoden müssen in Frage gestellt werden. Es ist zwar korrekt, dass Mills Vorstellungen davon, wie vergleichende Experimente durchzuführen wären, in vieler Hinsicht nicht stichhaltig sind. Aber es ist auch klar, dass wissenschaftsintern durchaus erfolgreiche Bestrebungen existierten, vergleichende Methoden derselben Art gangbar zu machen. Mills Beschreibung und Rechtfertigung der Methoden war unvollständig, aber sicher nicht fehlgeleitet. Fragwürdig ist zuletzt auch die Unterstellung, Mill (als Erzempirist) habe nur unvermittelt beobachtbare Ursachen und Wirkungen zugelassen. Bei genauerer Lektüre gibt es kaum Indizien, dass Mill diese strenge Unterscheidung vornahm. Vielmehr scheint Mill auch indirekte Wahrnehmung anhand von geeigneten Detektionsverfahren zugelassen zu haben. Aus diesen Gründen sollte man den Mill’schen Methodenapparat nicht als einen Fehlschlag verstehen, sondern als ein wissenschaftstheoretisches und methodologisches Forschungsprogramm. Wie häufig diese Art von Methodenapparat in verschiedenen Wissenschaftszweigen tatsächlich zum Zug kommt, und welche Aspekte und welcher Anteil wissenschaftlicher Erkenntnisse damit erfasst werden können, bleibt eine offene Frage. Auffallend ist aber, dass viel von dem, was die Wissenschaftstheorie in den letzten zwei Jahrzehnten untersucht hat, an Mills methodologisches Programm erinnert: so zum Beispiel die sehr sichtbaren Arbeiten zum kausalen Schließen (Spirtes/Glymour/Scheines 2001; Woodward 2003) und zur Untersuchung von Mechanismen (Bechtel 2006; Craver/Darden 2013; Glennan 2017).

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Neben der Methodenlehre, die hier im Mittelpunkt stand, gibt es weitere Aspekte von Mills Denken, die für die moderne Wissenschaftsphilosophie relevant bleiben. So besteht eine enge Verbindung zwischen Mills Diskussion in On Liberty (s. Kap. III.13) über die Bedeutung des freien Meinungsaustausches (s. Kap. V.33) und der heute einschlägigen Ansicht, dass Wissenschaftlichkeit nicht durch die Verwendung bestimmter privilegierter Methoden gegeben ist, sondern durch die Existenz einer pluralistischen Forschungsgemeinschaft, in der die Möglichkeit der freien, kritischen Diskussion besteht (Oreskes 2019). Es ist eine interessante Spannung, ob und wie dieser Gedanke zu Mills Methodenlehre passt (vgl. u. a. Lloyd 1997; Staley 1999; Jacobs 2003). Schließlich scheint das System eben gerade rigorose Methoden und nicht Fehlbarkeit und Debatte in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Teil der Spannung fällt vielleicht weg, wenn man sich daran erinnert, dass Mill seine Methodenlehre nicht als aprioristisches, sondern als empirisches Projekt verstand. Dies lädt dazu ein, den Methodenapparat selbst als etwas zu verstehen, was durch Erfahrung und kritische Debatte wachsen kann – eben als ein Forschungsprogramm.

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Moralphilosophischer Diskurs

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Dieter Birnbacher

Wechselnde Konjunkturen Die Geschichte des Diskurses um Mills Moralphilosophie verläuft in einer Kurve wechselnder Konjunkturen. Phasen des Interesses und der überwiegend positiven Würdigung wechseln sich ab mit Phasen des Desinteresses und überwiegender Ablehnung. Im viktorianischen England war Mill der bekannteste Intellektuelle seiner Epoche – ungeachtet der Tatsache, dass er zu vielen Themen alles andere als zu seiner Zeit populäre Auffassungen vertrat. Allerdings galt das Interesse seiner Zeitgenossen weniger seiner Moralphilosophie als vielmehr seiner ökonomischen Theorie (s. Kap. III.15) und der in seinem System of Logic (s. Kap. III.17) enthaltenen Methodologie der induktiven Wissenschaften. Dagegen erregte der Kern seiner Moralphilosophie, die in seinem Essay Utilitarianism (s. Kap. III.12) dargelegte Version eines nicht-Bentham’schen Utilitarismus, weniger Aufsehen, als sich Mill erhofft hatte. Dazu trug nicht zuletzt bei, dass Mill bemüht war, seine Version des Utilitarismus in einer so konzilianten Form zu präsentieren, dass sie beim

D. Birnbacher ()  Professor em. für Praktische Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected]

Publikum wenig Anstoß erregte – im Gegensatz zu dem einige Jahre später erschienenen Essay zur Gleichberechtigung der Geschlechter The Subjection of Women (s. Kap. III.16). Diese Schrift, die in concreto ausbuchstabierte, welche Konsequenzen sich aus Mills Sicht aus dem Utilitarismus für einen zentralen Bereich der gesellschaftlichen Verhältnisse ergaben, wurde deutlich stärker als Provokation empfunden und stieß überwiegend auf empörte Ablehnung. Von den professionellen Philosophen erfuhr Mills Moralphilosophie in dem halben Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Utilitarianism teils konstruktive, teils herbe bis vernichtende Kritik. Während Henry Sidg­ wick (1907) Mills Ideen konstruktiv weiterentwickelte und Differenzierungen einführte, die bis in die Gegenwart hinein Bestand haben, war für Kritiker wie F. H. Bradley (Ethical Studies, 1927 [1876], Kap. 3) bereits die Kernidee des Utilitarismus, die Zurückführung aller gültigen Moralregeln auf das Prinzip der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung, unannehmbar. Mill hatte zwar eingeräumt, dass die für die Umsetzung des utilitaristischen Grundprinzips notwendigen Regeln der Sozialmoral (die ‚Sekundärprinzipien‘) weitgehend den geltenden Moralgrundsätzen entsprechen (s. Kap. V.32), hatte aber darauf bestanden, dass diese ihre Beglaubigung nicht aus sich selbst, d. h. aus ihrer intuitiven Evidenz, sondern aus ihrer Funktionalität für die g­esellschaftliche

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_43

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­ ohlfahrt beziehen und dass zumindest eiW nige der Grundsätze der geltenden Sozialmoral (wie die Ungleichheit der Geschlechter in Rechten und Lebenschancen) auf diesem Hintergrund dringend reformbedürftig sind. Ein Teil dieser Kritiken mutet aus heutiger Sicht anmaßend an, ein anderer Teil als verfehlt. Ein anderer Teil lässt sich nicht so leicht relativieren und nimmt viele Themen der späteren kritischen Debatte voraus. Anmaßend war die Sicherheit, mit der einige der Kritiker meinten, die zu ihrer Zeit gelebte – und aus heutiger Sicht in vielem stark zeitgebundene – Moral sei der schlechthinnige Maßstab, an dem sich ethische Richtigkeit messen lassen müsse („The moral consciousness is the touchstone of moral theories“, Bradley 1927, 110). Daneben wandte sich die Kritik – hier ist neben Sidgwick insbesondere auch John Grote zu nennen (An Examination of the Utilitarian Philosophy, 1870) – zugleich einigen der unverkennbaren neuralgischen Punkte von Mills Moralphilosophie zu, auf die sich die Kritik auch in der Hochphase der Debatte in den 1960er und 1970er Jahren fokussierte (vgl. Schneewind 1976, 41): zum einen auf Mills nur rudimentär explizierte Version eines ‚qualitativen‘ Hedonismus, bei dem in prononcierter Abgrenzung von Bentham die ‚höheren‘ und spezifisch menschlichen Formen von Lustgewinn höher gewichtet werden als die vom Menschen mit den höheren Tieren geteilten ‚niederen‘ Formen (s. Kap. V.29); zum anderen auf den von Mill im 4. Kapitel von Utilitarianism geführten ‚Beweis des Utilitarismus‘, der zeigen soll, dass es zum utilitaristischen Prinzip der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung keine vernünftige Alternative gibt. Beide Theoriestücke werden in Utilitarianism mit äußerster Knappheit abgehandelt. Dabei handelt es sich um einen Beitrag zu einer Zeitschrift für die gebildeten Schichten und nicht um eine philosophische Abhandlung. Die Stimme, mit der Mill in Utilitarianism spricht, ist primär die des Gesellschaftskritikers und Moralreformers, nicht die des Wissenschaftlers (vgl. Seth 1908, 473). Es ist vor allem diese Knappheit, die zu der Vielzahl und Vielfalt der seitdem vorliegenden Inter-

D. Birnbacher

pretationen und Kritikansätze geführt hat. Heute kann als Allgemeingut gelten, dass sowohl F. H. Bradleys Kritik an Mills Variante des Hedonismus (Bradley 1927, Kap. 3) als auch G. E. Moores Kritik an Mills ‚Beweis‘ (Moore 1903, Kap. 3) auf Fehlinterpretationen beruhen (vgl. Hall 1949). Bradley erneuerte Carlyles Missverständnis des Hedonismus als einer „Philosophie für Schweine“, indem er – allen gegenteiligen Beteuerungen Mills zum Trotz – ‚pleasure‘ im Sinne sinnlicher Lust verstand und den Hedonismus nicht nur in theoretischer Hinsicht für bankrott erklärte, sondern – diskreterweise mit einem griechischen Zitat – sogar als „Hurenphilosophie“ beschimpfte (Bradley 1927, 124). G. E. Moore missverstand Mills Plausibilisierung des kollektiven Hedonismus in seinem ‚Beweis‘Kapitel fälschlicherweise gleich als doppeltes Vergehen gegen die von ihm etablierten metaethischen Prinzipien, indem er Mill nicht nur den Versuch unterstellte, evaluative Aussagen aus deskriptiven deduktiv abzuleiten (und insofern eine „naturalistic fallacy“ zu begehen), sondern auch als Versuch, den Begriff ‚gut‘ zu definieren (und damit eine „definitional fallacy“ zu begehen). Beide Kritiken werden weder der Intention noch dem Duktus von Mills Argumentation gerecht. Wie schon Aristipp, Epikur und den philosophes der französischen Aufklärung dient Mill der Hinweis auf das ‚natürliche‘ Glücksstreben des Menschen als Argument für den von ihm vertretenen ethischen Eudämonismus. Aber Mill behauptet weder, dass sich ‚gut‘ durch ‚dem allgemeinen Glück dienlich‘ definieren lasse, noch dass sich aus der anthropologischen Aussage, dass Menschen nach Glück streben, deduzieren lasse, dass Glück ein Gut oder sogar das einzige Gut ist (s. Kap. V.35). Mills sogenannter ‚Beweis des Utilitarismus‘ soll ja nicht, wie Mill ausdrücklich feststellt, als strenger, logisch zwingender Beweis – als Beweis „in the ordinary and popular meaning of the term“ (CW X, 207) – verstanden werden, sondern als Plausibilitätsargument. Mill spricht im Zusammenhang seines ‚Beweises‘ zwar von „evidence“ (CW X, 236). Aber damit sind keine logisch hinreichenden Bedingungen gemeint, sondern Belege, ­Hinweise und Indizien bzw. in

43  Moralphilosophischer Diskurs

seinen eigenen Worten, „[c]onsiderations […] capable of determining the intellect either to give or withhold its assent to the doctrine“ (CW X, 208). Dazu gehört die Erwägung, dass es abwegig wäre, für etwas als letztes Gut zu plädieren, das nicht bereits als Gut und als Zweck des Handelns anerkannt ist. Das summum bonum, das als Grundlage einer universalistischen Moral dienen soll, muss etwas sein, was die überwiegende Mehrheit der Menschen unabhängig von jeder philosophischen Wertlehre wünscht bzw. für erstrebenswert hält (vgl. Kretzmann 1958, 241). In den Jahren zwischen 1900 und 1960 ist Mills Moralphilosophie kein vorrangiges Thema moralphilosophischer Auseinandersetzung. Einige der missverständlichen Passagen von Utilitarianism, wie insbesondere die häufig auf eine schlichte sprachliche Verführung zurückgeführte Analogisierung von „Sichtbarkeit“ („visibility“) und „Wünschbarkeit“ („desirability“, CW X, 235), waren als Übungsbeispiele, mit denen die Kritikfähigkeit von Erstsemestern herausgefordert werden konnte, populär. Es ist offenkundig, dass die von Mill postulierte Analogie schief ist: Dass etwas gesehen wird, zeigt, dass es sichtbar ist; dass etwas gewünscht wird, zeigt nicht, dass es wünschenswert ist; es zeigt lediglich, dass es gewünscht werden kann. Damit entlastete man sich allerdings von der Frage, welche Gründe ein ausgewiesener Logiker haben könnte, dennoch mit einer derart schiefen Analogie zu argumentieren. Auch in dieser Phase der Rezeption standen sich extrem gegensätzliche Deutungen gegenüber. Auf der einen Seite wurde Mills Moralphilosophie ein heilloser Eklektizismus vorgeworfen. Mill habe es insbesondere nicht vermocht, seine Loyalitäten gegenüber seinem Vater und Bentham mit seinen eigenen originären Gedanken in eine konsistente Einheit zu bringen. Stattdessen habe er – im Zwiespalt zwischen dem Utilitarismus seiner Jugendjahre und seiner späteren Orientierung an platonischen und stoischen Idealen (s. Kap. II.8) – die Widersprüche zwischen beiden unaufgelöst stehen gelassen. In diesem Sinn hatte scharfzüngig bereits William James über Mill geurteilt: „Mr. Mill’s habitual method of philo-

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sophizing was to affirm some general doctrine derived from his father, and then make so many concessions of detail to its enemies as practically to abandon it altogether“ (James 1890, 357). Die Erklärungen dafür variieren: Gelegentlich wird Mill unterstellt, die Unvereinbarkeiten zwischen den von ihm vertretenen Positionen bewusst ignoriert und lediglich rhetorisch verbrämt zu haben (Anschutz 1953, 3 ff.); gelegentlich wird die Wurzel des Übels in Mills Oberflächlichkeit gesehen, dem Unwillen, den Dingen auf den Grund zu gehen und der Unfähigkeit, sich zwischen unvereinbaren Positionen zu entscheiden (z.  B. Myrdal 1963, 162; Annas 1977, 181 ff.); oder ihm wird vorgeworfen, die Unvereinbarkeiten nicht einmal bemerkt zu haben: „He could abandon a doctrine the most completely when he thought he was defending it with the greatest warmth“ (Plamenatz 1958, 122). Auf der anderen Seite findet man aber auch die diametral entgegengesetzte Tendenz, Mill zu entlasten und die Blindheit im Auge des Betrachters zu verorten: „All the alleged fallacies of Mill’s essay [Utilitarianism] exist only in the minds of its critics“ (Raphael 1955, 344). Die Gegensätzlichkeit der Einschätzungen hat sich bis heute durchgehalten. Ihre Hochkonjunktur erlebte die Debatte von Mills Moralphilosophie in den 1960er und 1970er Jahren, in denen es zu einer Flutwelle (von „epidemischem Ausmaß“, Schneewind 1976, 35) von Beiträgen insbesondere zu Utilitarianism kam, teilweise verfügbar gemacht durch eine Reihe von Sammelbänden. Während in dieser Periode zunächst die ‚klassischen‘ Diskussionsthemen ‚Beweis‘, Revision des Hedonismus und der genaue Status von Mills Version des Utilitarismus (Regelutilitarismus, Handlungsutilitarismus oder etwas Drittes?) im Vordergrund standen, kamen seit den 1970er Jahren – entsprechend den Schwerpunkten der sozialphilosophischen Diskussion – weitere Themen hinzu. Mit dem Wiedererwachen der Frauenbewegung in den 1970er Jahren wurden Mills und Harriet Taylors Schriften zur Frauenemanzipation neu entdeckt und diskutiert. Einen großen Anteil daran hatte die Herausgabe und Kommen-

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tierung von Subjection of Women durch Alice S. Rossi (1970). Im Zuge der Infragestellung des ‚Wachstumszwangs‘ und der Zukunftsvergessenheit im Umgang mit den Naturressourcen erlebte zur selben Zeit Mills emphatische Zukunftsorientierung und seine Wachstumsskepsis eine Renaissance. Der epochemachende Bericht des Club of Rome Grenzen des Wachstums wurde 1972 durch das berühmte Mill-Zitat zum „stationary state“ (dem „Nullwachstum“ der Wirtschaft zugunsten des Naturerhalts und der menschlichen Vervollkommnung) eröffnet (CW III, 752– 757). Noch neueren Datums ist die kritische Diskussion von Mills ausgeprägtem Eurozentrismus und die damit zusammengehende Rechtfertigung des Kolonialismus (s. Kap. V.31), in den er als hoher Beamter der britischen Kolonialverwaltung für Indien verstrickt war und aus dem er den Hauptteil seines Lebensunterhalts bezog (vgl. Schultz 2017, 194 ff.). Mill war zu keinem Zeitpunkt bereit, den außereuropäischen Kulturen eine eigenständige moralische Respektabilität zuzubilligen. In On Liberty (s. Kap. III.13) werden die Bevölkerungen der Kolonien ausdrücklich Kindern und anderen Unmündigen gleichgestellt und ihnen die für die Individuen der westlichen Welt geforderten Freiheitsrechte vorenthalten: „Despotism is a legitimate mode of government in dealing with barbarians, provided the end be their improvement, and the means justified by actually effecting that end“ (CW XVIII, 224; s. Kap. V.31). Im Folgenden steht die bis heute anhaltende Diskussion um Mills Version des Utilitarismus im Vordergrund. Zunächst werden einige der Debattenpunkte behandelt, die sich auf die Interpretation von Mills häufig wenig eindeutigen Ausführungen beziehen. Danach wird ein Blick auf den Diskurs um die Frage geworfen, wie weit die Mill stets wieder vorgeworfenen Widersprüche seiner Konzeption tatsächlich oder nur vermeintlich bestehen. Am Ende steht ein Schlaglicht auf die Wertungen, die Mills Version des Utilitarismus in der neueren moralphilosophischen Debatte erfahren hat und erfährt. Strenggenommen sind diese drei Aspekte nicht voneinander zu trennen. Als Tendenzaussage lässt sich festhalten: Je ober-

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flächlicher die Interpretation von Mills häufig stark vereinfachenden Aussagen, desto wahrscheinlicher ist mit der Diagnose zu rechnen, dass sich Mills Theorie in Widersprüche verstrickt und desto geringer fällt die inhaltliche Zustimmung aus. Je subtiler die Interpretation, desto mehr scheinbare Widersprüche erweisen sich als auflösbar und desto eher ist eine insgesamt positivere Bewertung zu erwarten.

Perennierende Fragen der Interpretation: Die Ausgangslage Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass viele der von Mill in seiner Moralphilosophie in Anspruch genommenen Begriffe und Argumente ungenauer sind und weitergehende Interpretationsspielräume lassen, als dies von einem analytisch und systematisch denkenden Philosophen erwartet werden kann: 1) die in der Natur der Moralphilosophie liegenden sachlichen Grenzen, 2) die mit Mills Rolle als öffentlichem Denker verbundenen pragmatischen Faktoren, 3) die Schwierigkeiten Mills, die verschiedenen ‚Seelen in seiner Brust‘ in eine kohärente Position zu integrieren. 1. In vielen Fällen, in denen Mill vorgeworfen worden ist, er beziehe hinsichtlich konkreter moralischer Fragen eine zu unentschiedene Position oder beschränke sich auf die Formulierung allgemeiner Gesichtspunkte, ist dieser Vorwurf unberechtigt, weil er die begrenzten Möglichkeiten der Moral- und Sozialphilosophie verkennt, von sich aus konkrete Problemlösungen zu liefern. Häufig lässt Mill den Leser über die nach ihm ‚richtige‘ Lösung moralischer Konfliktlagen nicht im Unklaren. Häufiger jedoch lässt er bewusst Raum für die moralische Urteilskraft und erkennt die Existenz normativer Grauzonen an, in denen die Moralphilosophie allenfalls Tendenzaussagen, aber kein Patentrezept für den Einzelfall anbieten kann. Ein Beispiel für eine derartige ‚Grauzone‘, für die Mill ganz bewusst offenlässt, wie im Einzelnen zu entscheiden ist, ist die Frage, wie weit Verpflichtungen zum helfenden Eingreifen

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in Fällen gelten sollen, in denen mehr oder weniger selbstverständlich Pflichten zum Unterlassen entsprechender Schädigungen bestehen. Andere zu töten, zu verletzen oder zu betrügen, muss selbstverständlich gesetzlich verboten werden. Aber wie weit sind die Individuen verpflichtet, einzugreifen, wenn andere den Tod zu erleiden, körperlichen oder seelischen Schaden zu nehmen oder ihr Vermögen zu verlieren drohen? In diesem Fall beschränkt sich Mill darauf, eine allgemeine Abwägungsregel anzugeben und zu fordern, dass die Pflichten zum Tätigkeitwerden nicht so weit getrieben werden dürfen, dass sie die individuelle Freiheit zunichte machen (CW XVIII, 225). Eine andere Grenze, die nicht anders als durch eine Einzelfall- bzw. fallgruppenspezifische Bewertung gezogen werden kann, ist die für Mills Freiheitskonzeption zentrale Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Eindeutig ist Mill etwa in der Einordnung der Trunksucht in die private und der Einordnung der „Verstöße gegen den Anstand“ in die öffentliche Sphäre (CW XVIII, 283, 296; vgl. Crisp 1997, 184). Staat und Gesellschaft dürfen im ersteren Fall das Individuum nicht mit Zwangsmitteln davon abhalten, sich selbst zu schädigen, im zweiten dürfen sie Verstöße sanktionieren. Aber Mill gesteht zu, dass in vielen anderen Fällen diese Grenze nicht streng und ein für alle Mal gezogen werden kann. Lässt sich diese Grenze, wie Richard Wollheim (1973, 10 ff.) vorgeschlagen hat, danach ziehen, ob bei einem Verhalten, bei dem unklar ist, ob es der privaten oder der öffentlichen Sphäre zuzuordnen ist, die Gesellschaft ein moralisches Recht hat, das Individuum an dem Verhalten zu hindern? Oder handelt es sich dabei lediglich um eine geschmackliche Präferenz, die nach Mill nicht zum Gesetz für alle erhoben werden darf? Offensichtlich ist von dieser Unterscheidung keine Lösung zu erwarten. In vielen Fällen ist gerade kontrovers, ob die Missbilligung der Gesellschaft eine bloß geschmacklich-kulturelle oder eine moralische ist. So ist die Achtung der Sonntagsruhe und das Verbot des Essens von Schweinefleisch (Mills Beispiele) für die Angehörigen der jeweils betroffenen Glaubensrichtungen zweifellos mehr

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als eine Sache des Geschmacks. Sie werden sich jeweils ein Recht zuschreiben, andere auch dann an der Zuwiderhandlung zu hindern, wenn sie privatim geschieht. 2. Zu Interpretationsschwierigkeiten kommt es bei Mill vor allem auch wegen des Balanceakts, den er in seinen Schriften zwischen Wahrheit und Wirkung, Sachadäquatheit und strategisch-politischem Kalkül vollführt. Mill verstand sich als öffentlicher und politischer Denker. Nicht nur die Auswahl der von ihm bearbeiten Themen ist an sozialreformerischen Zielen orientiert, auch ihre Bearbeitung trägt vielfach politische Züge, vor allem durch das Offenhalten von Optionen und die Anpassung an die Auffassungen seines Publikums. Mill bemerkt in seiner Autobiography (s. Kap. III.11), dass er in der Zeit seines „jugendlichen Propagandismus“ keine Gelegenheit ausgelassen habe, seine Auffassungen „unters Volk zu bringen“. Aber der Tendenz nach trifft das Wort vom „jugendlichen Propagandismus“, mit dem Mill das vierte Kapitel der Autobiografie überschreibt, auf den ganzen Mill zu. Er nimmt in Kauf, Meinungen zu rechtfertigen, die er im Grunde nur schwer mit seinen Überzeugungen vereinbaren kann, um sein Publikum nicht zu verlieren und sein Anliegen zur Wirkungslosigkeit zu verurteilen. Viele von Mills Anpassungsbewegungen an die zu seiner Zeit herrschenden Vorstellungen dienen dazu, utilitaristische Ziele mit nicht-utilitaristischen Mitteln zu propagieren, im Wissen darum, dass diese Ziele, beim Namen genannt, bei der politischen Klasse seiner Zeit wenig Anklang finden würden. Was vielen Kritikern wie sträflicher Eklektizismus vorkommt, erscheint aus dieser Sicht als ein ‚pragmatisches‘ Werben um Gefolgschaft und Unterstützung bei den Gegnern des Utilitarismus für Ziele, die für Mill selbst utilitaristisch begründet waren, sich für andere aber mit sehr viel größerer Plausibilität aus ‚intuitiven‘, etwa naturrechtlichen, Prinzipien herleiteten ließen. Das ist in der Literatur ganz überwiegend auch so gesehen worden. Vielen Kommentatoren ist etwa aufgefallen, dass er in Subjection of Women für sein Thema hochgradig relevante Fragen wie Geburtenkontrolle und

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­ hescheidung ganz bewusst offenlässt (und das E in einem späteren Brief damit erklärt, dass er die Entscheidung darüber solange aufschieben wolle, bis Frauen darüber abstimmungsberechtigt seien), obwohl er beide Fragen, wie frühere Äußerungen zeigen, für sich längst geklärt hatte. Seine unorthodoxen Auffassungen in sexuellen und ehelichen Angelegenheiten im vollen Umfang offenzulegen, hätte der Sache der Emanzipation wohl mehr geschadet als genutzt (vgl. Ryan 1974, 25; Okin 1988, VIII). Dennoch ist Mill der Vorwurf nicht erspart geblieben, es in der Anpassung an Andersmeinende so weit zu treiben, dass sich dadurch die Konturen seiner eigenen Theorie im Nebel von Unbestimmtheit, Rhetorik und pathetisch vorgetragenen Tautologien zu verlieren drohen. Als einer für viele kann in dieser Hinsicht der Stoßseufzer von R. P. Anschutz gelten: „I should say that it is very hazardous to characterize offhand the precise position of Mill on any major philosophical topic“ (Anschutz 1953, 5). Am weitesten gehen diese Anpassungstendenzen in Mills nachgelassenem Essay zum „Theism“ (CW X, 429–489; s. Kap. IV.20), in dem er dem Gottesglauben sehr viel mehr abgewinnt, als man von einem überzeugten Atheisten erwarten sollte – bis hin zum Zugeständnis von übergesetzlichen Einwirkungen in den Naturverlauf (Benn 1906, 440) – vor allem wohl, um die christliche Mehrheit des viktorianischen England für seine Reformideen zu gewinnen. Auch wenn Mill der christlichen Religion längerfristig keine Zukunftschancen einräumt, hält er doch daran fest, dass das Christentum nicht nur historisch eine Schlüsselrolle in der Humanisierung der Gesellschaft gespielt hat, sondern bis auf Weiteres – zusammen mit humanistischen Kräften – auch weiterhin spielen soll. Allerdings ist zu bezweifeln, dass Mills Anpassungsmanöver ausschließlich strategischem Kalkül entspringen. Es entsprach auch der für ihn bezeichnenden erkenntnistheoretischen Maxime, sich möglichst alles zu eigen zu machen, was er bei seinen Gegnern an Wertvollem finden konnte. Integrativität ist bei Mill nicht nur ein politisches, sondern auch ein methodologisches Prinzip. Mills Biograf John Packe spricht tref-

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fend von dem Ideal einer „synthetic truth“ (Packe 1954, 246). Wie Mill in seinen Schriften zur Demokratie Wert darauf legt, dass die Auffassungen der parlamentarischen Minderheiten nicht schlicht‚ ‚unter den Tisch fallen‘ und vollständig unberücksichtigt bleiben, legt er Wert darauf, eine möglichst große Zahl von Gegenmeinungen zu Wort kommen zu lassen, nicht zuletzt, um die Schwachstellen der eigenen Position aufzudecken und gegebenenfalls zu korrigieren (s. Kap. V.33). Was er in On Liberty als soziale Utopie vertritt: Die Förderung der Vielfalt der geäußerten Meinungen, Perspektiven und Lebensformen ist für ihn auch als individueller Denker verbindlich – als Bedingung kritischer Selbstreflexion und Wahrheitsfindung. Was weiterhin zu Interpretationsproblemen beigetragen hat, ist, dass sich Mill, sobald es um konkrete moralische Fragen geht, weniger unmittelbar auf sein utilitaristisches Primärprinzip als auf weithin akzeptierte Prinzipien der Alltagsmoral beruft. So argumentiert er etwa in seinen Reden zur Gleichberechtigung nicht nur, wie man erwarten könnte, mit der langfristigen Nützlichkeit einer Mitsprache und Mitwirkung der Frauen in der Politik, sondern auch auf das Recht auf Selbstverwirklichung (s. Kap. V.30) und auf Gerechtigkeitsprinzipien (s. Kap. V.28) wie das Prinzip der Gleichbehandlung und das Prinzip gleicher Eigentumsrechte. Bradley hat Mills diesbezügliche Unbedenklichkeit als advokatischen Habitus kritisiert, „der vor Gericht angemessen sein kann, nicht aber in der Philosophie“ (Bradley 1927, 124). Das bedeutet zwar, dass Mill häufig aus argumentationspragmatischen Gründen auf mehreren Ebenen zugleich argumentiert, nicht aber, dass diese Argumentationsweisen im Widerspruch zu seinem Bekenntnis zum Utilitarismus stehen. Schließlich war Mill überzeugt, dass die Mehrzahl der alltagsmoralischen Prinzipien mit dem Utilitarismus vereinbar sind und als Sekundärprinzipien, die das Primärprinzipien implementieren, utilitaristisch legitimiert werden können. 3. Nicht zu leugnen ist jedoch, dass es Mill nicht durchweg gelungen ist, seine verschiedenen Loyalitäten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ein Beispiel ist seine

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g­ ezielte Umdeutung des Bentham’schen Hedonismus in einen an antiken Vorbildern orientierten Eudämonismus (s. Kap. II.8): Einerseits passt sich Mill mit seinem Bekenntnis zum axiologischen Eudämonismus, nach dem ‚pleasure‘ bzw. Glück das einzige intrinsische Gut darstellt, rhetorisch Bentham und seiner Schule an. Andererseits versteht er diesen Begriff jedoch, wie er in On Liberty klarmacht, im Sinne der „ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden Wesens“ (CW XVIII, 224). Zu diesen ‚ewigen‘ Interessen gehören für ihn gerade auch Interessen, die herkömmlich nicht ohne Weiteres mit ‚pleasure‘ oder Glück assoziiert werden, etwa Autonomie, Unparteilichkeit und Tugend – Interessen, die die Menschheit erst mit dem Erreichen eines höheren Bildungsstands, als er gegenwärtig gegeben ist, entwickeln soll und – wie er erwartet – entwickeln wird. Das hat zur Folge, dass Mill, wie Richard Wollheim (1973, 28) gesehen hat, gelegentlich so spricht, als seien die Bedingungen, die er von der Reifung der Menschheit erhofft, bereits realisiert. Es geht ihm nicht nur darum, dass Menschen glücklich werden – gleichgültig, ob durch „pushpin“ (ein Kinderspiel) oder „poetry“ (CW X, 113) –, sondern auch darum, dass sie sich in einem langfristigen Bildungsprozess so weiterentwickeln, dass sie ihr Glück zunehmend weniger in banalen ‚pleasures‘ wie ‚pushpin‘ als in anspruchsvolleren Befriedigungen und moralisch hochwertigeren Beschäftigungen finden.

Schwerpunkte der exegetischen Debatte: Mills Eudämonismus und der Status von Sekundärprinzipien Zwei in besonderer Weise klärungsbedürftige Themen von Mills Moralphilosophie sind zu Brennpunkten des exegetischen Diskurses geworden: die genaue Beschaffenheit von Mills ‚qualitativem‘ Eudämonismus (s. Kap. V.29) und die Frage, wie sich die Sekundärprinzipien, an denen sich moralisches Handeln in der Praxis orientieren soll (s. Kap. V.32), zum utilitaristischen Primärprinzip, dem Nützlichkeitsprinzip (s. Kap. V.35), verhalten.

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Zahlreiche Autoren haben darauf hingewiesen, dass Mills „looseness of phraseology“ (Sidgwick 1907, 93 FN) dazu führt, dass er nicht hinreichend differenziert zwischen ‚pleasure‘ als Zustand, ‚pleasure‘ als Gegenstand positiver Empfindungen oder Emotionen und ‚pleasure‘ als Quelle von Empfindungen oder Emotionen. Alle drei Arten von Entitäten können sprachlich mit ‚pleasure‘ bezeichnet werden. Aber der Genuss am Essen ist nicht dasselbe wie die Speise, die genossen wird, und beide sind verschieden von den Vorzügen der Speise als Quelle des Genusses. Vor allem als intentionale Gegenstände, etwa von Wünschen, sind die Unterschiede unübersehbar. Sich etwas zu essen zu wünschen, sich Essen als Tätigkeit zu wünschen und sich das Vergnügen oder die Befriedigung des Essens zu wünschen, sind verschiedene Dinge (vgl. Sidg­wick 1907, 45; Crisp 1997, 89). Jean-Claude Wolf und Roger Crisp, die unabhängig voneinander die akribischsten und zugleich wohlwollendsten Interpretationen Mills vorgelegt haben, haben allerdings überzeugend dafür argumentiert, dass Mills Eudämonismus zwar ein gutes Stück komplexer ist als Ben­ th­ams Hedonismus, dass diese Komplexität der Einheit seines Konzepts jedoch keinen Abbruch tut. Erstens versteht Mill ‚pleasure‘ nicht als bloße Empfindung: ‚Pleasure‘ kann eine Empfindung sein, muss es aber nicht. Die aus Tätigkeiten bezogene Befriedigung stellt sich in der Regel nicht als (begleitende) Empfindung dar, sondern ist der Tätigkeit als lustvolle Betätigung immanent (Crisp 1997, 85). Zweitens ist ‚pleasure‘ für Mill multifaktoriell bestimmt: Der eine Faktor ist Intensität und Dauer der Befriedigung (die ‚Quantität‘), der andere der intrinsische Wert der Quellen, aus der ‚pleasure‘ bezogen wird (die ‚Qualität‘) (Wolf 2012, 49 ff.). Das Ausmaß von ‚pleasure‘ wird durch beide Faktoren bestimmt. Der intrinsische Wert von ‚pleasure‘ trägt als solcher nur soweit zu dessen Ausmaß bei, als er zu einem Gegenstand von lustvoller Befriedigung wird. ‚Pleasure‘ heißt, dass man etwas genießt, dass etwas als ‚enjoyable‘ empfunden wird (Crisp 1997, 35). Zugleich ist das Ausmaß bestimmt durch den von Intensität und Dauer unabhängigen Qualitätsfaktor, der danach

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variiert, in welchem Ausmaß spezifisch menschliche Fähigkeiten wie Rationalität, Autonomie und Moralität an dem Lustgewinn beteiligt sind. Danach ist Mills Eudämonismus weder als rein hedonistisch noch als rein perfektionistisch – als welchen ihn David Brink (2013, 279) interpretiert – zu charakterisieren. Lustgewinn ist kein Gut, wenn an ihm keine der spezifisch menschlichen Fähigkeiten beteiligt ist. Aber auch spezifisch menschliche Vollkommenheiten sind für sich genommen kein Gut. Sie sind ein Gut nur so weit, als sie an lustvollen Zuständen oder Tätigkeiten beteiligt sind. Der von Mill vorgeschlagene Test des Urteils der Erfahrenen fungiert dabei lediglich als Kriterium und nicht als Definiens des mehrdimensionalen Maßstabs der utilitaristischen Folgenbewertung. ‚Pleasure‘ ist nicht dadurch definiert, dass es von den Erfahrenen vorgezogen wird, sondern durch intrinsische Qualitäten wie Vollkommenheit und Würde – von denen sich Mill sicher ist, dass sie de facto von den Erfahrenen den einfacheren Formen von ‚pleasure‘ vorgezogen werden. Bei keinem anderen Lehrstück von Mills Moralphilosophie werden die Interpretationen der Komplexität von Mills Konzeption so wenig gerecht wie bei der Explikation von Mills mehrdimensionalem Begriff von ‚pleasure‘. Bradleys und Richard Taylors Kritik, dass das qualitative Maß die Rede von einer Maximierung von ‚pleasure‘ unmöglich mache, da das Maximum notwendig die höchste Quantität von ‚pleasure‘ sei und Qualitäten keine Rolle spielten (Bradley, 1927, 119; Taylor 1984, 94) ist ebenso verfehlt wie Sidgwicks Auffassung, die qualitativen Merkmale einer Befriedigung müssten sich, wenn sich ein einheitliches Maß für ‚pleasure‘ angeben können lassen soll, in solche der Quantität auflösen lassen (Sidgwick 1907, 121). Maximiert werden kann auch eine mehrdimensionale Größe, sofern die Gewichtung der einzelnen Dimensionen feststeht (vgl. Sosa 1969, 165). So bemessen und bewerten wir ja auch im Alltagsleben etwa Gefühle nicht nur nach einer einzigen Dimension, sondern nach einer Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen, etwa Intensität, Dauer, Tiefe und hedonischer (freudiger oder leidvoller) Tönung.

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Allerdings ist Mill an den Missverständnissen um ‚pleasure‘ nicht ganz unschuldig. Mill hätte die Möglichkeit gehabt, für die Bemessung und Bewertung von ‚pleasure‘ ausdrücklich ein Maß einzuführen, dass von zwei Größen zugleich abhängt. Aber indem er die Qualität der Quantität von ‚pleasure‘ entgegensetzt, legt er Missverständnisse förmlich nahe. Gewöhnlich bemessen wir ja das Mehr und Weniger einer Eigenschaft oder eines Stoffs anhand der Quantität. Nach Mill ist aber eine höhere Quantität von ‚pleasure‘ nicht notwendig ein Mehr an ‚pleasure‘. Es kann auch ein Weniger sein, etwa wenn die höhere Quantität durch eine Minderung der Qualität erkauft ist. Bentham hatte sich diese Unklarheit erspart. Zwar definiert Bentham das Maß von ‚pleasure‘ ebenfalls mehrdimensional (vgl. Donner 2006, 121 f.). Aber bei Bentham sind die verschiedenen Dimensionen (etwa Intensität und Dauer) in der Quantität enthalten. Eine höhere Quantität ist bei Bentham in jedem Fall zugleich ein Mehr an ‚pleasure‘. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Mill nach dieser Interpretation den Qualitätsfaktor nicht nur in der Bewertung, sondern bereits in der Bemessung von ‚pleasure‘ berücksichtigt wissen will. Er könnte auch die Relevanz der Qualität auf die Bewertung beschränken und für die Bemessung ausschließlich die Quantität relevant sein lassen. In diesem Fall könnte er allerdings nicht mehr widerspruchslos einerseits sein Bekenntnis zum utilitaristischen Prinzip der Maximierung von ‚pleasure‘ aufrechterhalten und sich andererseits gegen Benthams axiologischen Hedonismus abgrenzen. Einen Widerspruch kann er nur vermeiden, wenn er die Qualität von ‚pleasure‘ für ihre Bemessung – und nicht erst für ihre Bewertung – heranzieht. Sind die Dimensionen der Quantität und der Qualität für Mill kommensurabel, sodass sich beide (sofern sie angemessen gewichtet werden) problemlos aggregieren lassen? Nach Crisp ist das nicht der Fall: Die Qualität werde von Mill der Quantität so weit vorgeordnet, dass er zwischen beiden implizit eine lexikografische Ordnung postuliert (Crisp 1997, 30 ff.). Danach kann die mindere Qualität einer ‚pleasure‘ grundsätzlich nicht durch eine höhere Quanti-

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tät aufgewogen werden. Von zwei ‚pleasures‘ ist diejenige mit der höheren Qualität ungeachtet ihrer Quantität stets vorzuziehen. Diese – an die aristotelische Eudaimonia-Lehre erinnernde – Interpretation gibt den perfektionistischen Anteilen von Mills Axiologie ein noch höheres Gewicht als die Standardinterpretation, nach der Quantität und Qualität gegeneinander abwägbar sind, ein so hohes Gewicht, dass Mills Axiologie kaum noch akzeptabel erscheint: Ein Leben mit ausschließlich ‚höheren‘ Freuden wäre unter allen denkbaren Bedingungen einem Leben mit weniger ‚höheren‘, aber dafür einigen ‚niederen‘ Freuden vorzuziehen. Aber auch diese Interpretation macht Mill nicht zu einem reinen Perfektionisten. Eine menschliche Vollkommenheit ist auch nach dieser Deutung für Mill nur soweit ein Wert, wie sie Bestandteil einer lustvollen Erfahrung oder Tätigkeit ist. Auch wenn sie nur in zweiter Linie zählt, darf die Quantität nicht einfach null sein. Eine alternative Deutung kann sich ebenfalls auf eine Reihe von Belegen in Mills Texten berufen, insbesondere auf Mills These, dass es nicht nur physisch, sondern auch metaphysisch unmöglich sei, etwas, was man für wünschenswert hält, nicht auch für lustvoll zu halten (CW X, 238). Diese Deutung fasst ‚pleasure‘ als das ‚innere Objekt‘ des Strebens auf und rekonstruiert Mills These, dass alle Menschen stets nur ‚pleasure‘ wollen, als zutreffend, macht es aber zugleich zu einer analytischen Aussage (z. B. Mandelbaum 1965, 231 f.; Warnock 1966, 26 f.). Danach ist das ‚metaphysisch unmöglich‘ in Mills Statusaussage als ‚logisch unmöglich‘ zu verstehen. Diese Interpretation erlaubt es zwar, Mills zunächst befremdlicher These einen Sinn abzugewinnen, dass etwas vorzuziehen heißt, es für in höherem Maße ‚pleasurable‘ zu halten. Wenn jeder Wunsch notwendig (u. a.) auf ‚pleasure‘ gerichtet ist, sollte der dringlichere Wunsch derjenige sein, der auf mehr ‚pleasure‘ gerichtet ist (vgl. Raphael 1955, 354). Darüber hinaus hilft diese Deutung bei der Erklärung der scheinbaren Unstimmigkeit, dass Mill einerseits der Meinung ist, dass alle Menschen ‚pleasure‘ erstreben (was wie eine schwache Form eines psychologischen Hedonismus

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klingt), aber zugleich daran festhalten will, dass Tugend oder Freiheit um ihrer selbst gewünscht werden können. Die Deutung von ‚pleasure‘ als ‚inneres Objekt‘ des Strebens behebt die Unstimmigkeit: Wenn jedes Streben ‚pleasure‘ inkludiert, dann auch dann, wenn Tugend oder Freiheit um ihrer selbst willen erstrebt werden. Das Problem dieser Deutung ist allerdings, dass der Begriff ‚pleasure‘ dadurch inhaltlich entleert und aller Trennschärfe beraubt wird. Vor allem wird er Mills Ansicht nicht gerecht, dass einige Menschen gerade nicht ‚pleasure‘ in dem anspruchsvollen Sinn wollen, in dem er diesen Ausdruck versteht, sondern dass sie die für den Menschen nicht spezifischen, rein instinkthaften Formen – wie die naturwüchsige Sexualität, die Mill in Subjection of Women durchweg als ‚animal instinct‘ abwertet – vorziehen (vgl. Crisp 1997, 74) oder sie anderen Werten – wie etwa Unterwerfung unter Autorität, aber auch dem Wohl ihrer Kinder oder der Gerechtigkeit – aufopfern. Es ist schlicht falsch, dass alle Menschen Mills anspruchsvolle Variante von ‚pleasure‘ wollen. Andernfalls müsste er sie nicht davon überzeugen, dass das Glück des Sokrates besser sei als das des Narren. Außerdem wäre, wenn die analytische Deutung zuträfe und es aus begrifflichen Gründen gar nicht möglich wäre, etwas anderes zu wollen als ‚pleasure‘, unklar, warum sich Mill bemüht, seinen ‚Beweis‘ ausdrücklich von einem strengen Beweis abzugrenzen. Dass Menschen einzig ‚pleasure‘ wollen, wäre sehr wohl ‚beweisbar‘ (vgl. Mandelbaum 1965, 231 f.). Versteht man andererseits ‚pleasure‘ in dem weniger anspruchsvollen Sinn von Benthams Hedonismus, hat man Mühe zu erklären, warum die höheren den niederen Formen von ‚pleasure‘ überlegen sein sollen. Crisp entscheidet sich angesichts des Dilemmas für die Kompromiss-Deutung, dass ‚pleasure‘ für Mill lediglich das innere Objekt von ‚desire‘ ist, dass ‚desire‘ aber das, was Menschen wollen, nicht erschöpft (Crisp 1997, 88). Nicht weniger umstritten als die Interpretation von Mills Gebrauch des zentralen Wertbegriffs ‚pleasure‘ ist die Interpretation des Verhältnisses, in dem die Sekundärprinzipien – die Mill zufolge weitgehend den

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g­ eltenden Regeln der Alltagsmoral entsprechen – zum Primärprinzip der kollektiven Nutzenmaximierung stehen, und damit die Einordnung seiner Version des Utilitarismus in die üblich gewordene Dichotomie von Regel- und Handlungsutilitarismus. Anders als die Debatte zur angemessenen Deutung des Begriffs ‚pleasure‘ weist diese Debatte einen erkennbaren Konvergenzpunkt auf: Mills Version ist weder ein Regelutilitarismus in dem von Roy Harrod (1936) geprägten Sinn, nach dem Handlungen ausschließlich durch feststehende Regeln gerechtfertigt werden, die ihrerseits durch das Primärprinzip gerechtfertigt sind; noch ist es ein Handlungsutilitarismus Bentham’schen Typs, bei dem die Sekundärregeln lediglich als „Faustregeln“ zur Abkürzung und Erleichterung der Kalkulierung der Handlungsfolgen dienen (vgl. Lyons 1965, 10 ff.). Am adäquatesten wird Mills Version stattdessen als Vorgänger der insbesondere von Richard Hare (1992) entwickelten Mehr-Ebenen-Konzeption verstanden, bei der auf der Ebene der Moralphilosophie Handlungen nach ihren je einzelnen Folgen beurteilt werden, die Normen der Sozialmoral jedoch so bestimmt werden, dass sie optimale Aussichten darauf bieten, das auf der Theorieebene ermittelte Nutzenmaximum in der gesellschaftlichen Praxis zu realisieren (vgl. Wolf 2012, 147). Eine wichtige Bedingung dafür ist, dass diese Normen so stabil internalisiert sind, dass sie nicht nur als ‚Faustregeln‘, sondern in bestimmten Situationstypen als verlässliche Entscheidungsgrundlage fungieren und eine Berufung auf das Primärprinzip nur dann notwendig wird, wenn es zwischen zwei oder mehr Sekundärprinzipien in ein und derselben Situation zu einem unauflösbaren Konflikt kommt (s. Kap. V.32). Mills implizite Mehr-Ebenen-Theorie lässt sich so rekonstruieren, dass auf der Theorieebene mithilfe des Primärprinzips – auf der Ebene des moralischen Gesetzgebers gewissermaßen – darüber entschieden wird, welche Handlungen moralisch richtig und moralisch falsch sind; dass hingegen auf der durch zeitliche, informationelle und kognitive Beschränkungen gekennzeichneten Praxisebene

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nach Regeln entschieden werden muss, die einen komplexen Folgenkalkül entbehrlich machen, deren Geltung und Befolgung sich aber aufgrund der historischen Erfahrung als unter Realbedingungen optimale Approximation an das ideale Maximum bewährt hat. Aus Mills Sicht ist die Moral funktional legitimiert, d. h. durch ihre Wirkungsweise unter den gegebenen anthropologischen und historischen Bedingungen. Sie soll die beste Gewähr dafür bieten, dass die Postulate der utilitaristischen Ethik unter Realbedingungen erfüllt werden. Auf diesem Hintergrund erscheint das Primärprinzip allenfalls zur Entscheidung von Dilemmafällen geeignet, in denen unklar ist, welches Sekundärprinzip Vorrang hat. Als Entscheidungsverfahren ist es in der Regel ungeeignet. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass seine durchgängige Befolgung dem, was es fordert, eher weniger gerecht wird als die Befolgung der – ihrerseits durch die Primärprinzipien begründeten – Sekundärprinzipien (Sidgwick 1907, 413). Der Vorschlag von J. O. Urmson (1953), Mills Utilitarismus als eine Form des Regelutilitarismus zu verstehen, ist in der nachfolgenden Debatte auf vielfältige Kritik gestoßen. Zwar spreche Mill überwiegend von kollektiven Praktiken und Institutionen und nicht von individuellen Einzelhandlungen, die – je nachdem, wie weit sie eine ‚Tendenz‘ haben, das allgemeine Wohl zu mehren oder zu mindern – nach dem Nützlichkeitsprinzip als richtig oder falsch ausgezeichnet werden sollen. Aber das heißt nicht, dass Mill meinte, dass der entsprechenden Praxis auch dann zu folgen sei, wenn die Befolgung eklatant schlechte Folgen erwarten lässt. Mills These, dass Sekundärprinzipien häufig konfligieren und immer dann, wenn zwischen ihnen keine eindeutige Rangordnung besteht (wie sie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten besteht) nach dem Primärprinzip entschieden werden muss, zeigt, dass zumindest in diesen Fällen das Primärprinzip die letzte Begründung für ‚richtig‘ und ‚falsch‘ liefern soll (Cupples 1972). Andererseits ist Urmson zugestanden worden, dass Mill in der Tat die Sekundärprinzipien der Alltagsmoral nicht bloß als ‚Faustregeln‘ mit bloß heuristischer Funktion

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versteht. Aber Mill distanziert sich von jedem ‚Regelfetischismus‘, der vorschreibt, in Situationen, für die ein Sekundärprinzip verfügbar ist (Beispiel Notlüge), diesem Prinzip auch dann zu folgen, wenn offensichtlich ist, dass das Befolgen das Primärprinzip verletzt. Vielmehr ist in solchen Fällen auf der Theorieebene abzuwägen zwischen den positiv zu bewertenden Folgen der einzelnen Regelverletzung und den negativ zu bewertenden langfristigen Folgen der Schwächung der Sekundärregel. Auf der Ebene der Sozialmoral ist dann die Sekundärregel mit einer passenden Ausnahmeklausel zu versehen (Mabbott 1956). Auch moralische Rechte und die ihnen entsprechenden ‚vollkommenen Pflichten‘ gelten nicht ausnahmslos (West 2013, 10).

Vermeintliche und reale Widersprüche in Mills Moralphilosophie Viele der Widersprüche, die Mills Moralphilosophie von der Kritik zugeschrieben worden sind, erweisen sich bei sorgfältiger Interpretation als lediglich vermeintliche Widersprüche, hervorgerufen durch Mills nonchalanten und gelegentlich tendenziös-persuasiven Sprachgebrauch. Allerdings kann Mill von einigen Widersprüchen – sowohl solchen innerhalb ein und derselben Schrift als auch zwischen verschiedenen Schriften –trotz aller exegetischer Anstrengungen nicht freigesprochen werden. In Widersprüche verstrickt sich Mill vor allem durch das, was man seinen intellektuellen Wankelmut nennen kann, sein Schwanken zwischen Positionen, die strenggenommen nicht miteinander kompatibel sind und bei denen er die semantische Kluft lediglich durch Rhetorik überbrückt. Die auffälligste semantische Kluft in Utilitarianism ist die zwischen einem Begriff von ‚pleasure‘, der es zu behaupten erlaubt, dass alle Menschen ‚pleasure‘ wollen und möglicherweise sogar, dass alle Menschen nur ‚pleasure‘ wollen, und Mills eigenem ‚angereicherten‘ Begriff, der dies nicht zu sagen erlaubt. Mill ist ja sehr wohl bewusst, dass keineswegs alle Menschen zu jeder Zeit – zumindest

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vorerst noch – ‚pleasure‘ in diesem Sinn wollen. De facto scheint die Mehrheit der Menschen damit zufrieden zu sein, diejenigen Bedürfnisse zu befriedigen, die Menschen mit anderen Säugetieren gemeinsam haben: Essen, Trinken, Schlafen, Gesellschaft, Sexualität, Schutz vor Gefahren durch die Natur und durch ihresgleichen. Zugleich muss gesagt werden, dass sich die Kritik überwiegend darin einig ist, dass Mill Entscheidendes dazu beigetragen hat, die Kluft, die herkömmlich zwischen unterschiedlichen Moralauffassungen gesehen worden ist, argumentativ aufzufüllen. Das gilt vor allem für seinen Versuch im letzten Kapitel von Utilitarianism, für die verschiedenen Ausprägungen des Begriffs der Gerechtigkeit plausibel zu machen (s. Kap. V.28), dass sie – entgegen der landläufigen Meinung – sehr wohl einer konsequenzialistischen, wenn nicht sogar einer utilitaristischen Rekonstruktion und Begründung zugänglich sind. Auch wenn diese Überbrückung nicht in allen Einzelheiten überzeugend ausfällt und Lücken – etwa in puncto Verteilungsgerechtigkeit – aufweist (vgl. Crisp 1997, 169), zeigt sie doch die Ergiebigkeit des Unternehmens, statt von den letzten Grundprinzipien von den mittleren Prinzipien der Moral auszugehen und zu fragen, wie weit sich auch die prima facie nicht-konsequenzialistischen und herkömmlich ‚intuitionistisch‘ begründeten Gerechtigkeitsprinzipien vor dem Hintergrund einer konsequenzialistischen Mehr-Ebenen-Konzeption als Sekundärprinzipien begründen lassen. Ähnliches wird man über denjenigen Teil seines ‚Beweis‘-Kapitels sagen können, in dem Mill – mit impliziter Berufung auf das Universalisierungsprinzip – die Kluft zwischen egoistischem und universalistischem Eudämonismus überbrückt: Wenn jemand anerkennt, dass für ihn sein eigenes Glück ein Gut ist, dann muss er konsequenterweise auch anerkennen, dass das Glück aller ein Gut ist – mag er auch unwillig sein, das Glück aller (und nicht nur sein eigenes Glück) zum Gegenstand eines Wunsches oder eines Strebens zu machen. Sobald er anerkennt, dass sein Glück nicht nur für ihn als Glücklichen, sondern objektiv ein Gut

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ist, kann er der Konsequenz nicht entgehen, dass auch das Glück anderer in diesem Sinne ein Gut ist. Einige Widersprüche innerhalb von Utilitarianism sind erst in der jüngsten Phase der kritischen Diskussion aufgedeckt worden. Auf einen davon haben insbesondere Fred Berger (1984, 105 ff.) und Roger Crisp (1997, 126 ff.) aufmerksam gemacht: Mill versteht einerseits diejenigen Handlungen als moralisch richtig, die das kollektive Nutzenmaximum herbeiführen. Solche Handlungen auszuführen, ist nach utilitaristischer Auffassung verpflichtend. Andererseits postuliert Mill jedoch im Gerechtigkeitskapitel von Utilitarianism dass wir genau zu denjenigen Handlungen verpflichtet sind, deren Unterlassen von der Gesellschaft und dem Gewissen des Handelnden zu Recht bestraft oder getadelt wird. Beides passt jedoch nicht zusammen: Strafen und Belohnen, Lob und Tadel sind individuelle und soziale Praktiken, die wie alle Praktiken dem Nützlichkeitsprinzip unterworfen sind. Es ist nicht ausgemacht und wohl eher fraglich, ob sie diesem genügen können, wenn jede Handlung, die weniger als das Nutzenmaximum herbeiführt und insofern moralisch falsch ist, bestraft oder getadelt werden kann. Es scheint zweifelhaft, dass eine derart strenge Praxis des Bestrafens und der Missbilligung im Sinne des Nützlichkeitsprinzips ist. Die Maximalforderung, so viel wie möglich für die Gemeinschaft zu opfern, würde die persönliche Freiheit und damit eine wichtige Dimension des individuellen Nutzens massiv beschneiden. Einen ähnlich grundlegenden Widerspruch hat in den Thesen von Subjection of Women Julia Annas (1977) diagnostiziert: Mill kündigt an, bei seinen Ausführungen zur Reform der rechtlichen und sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf jede Wesensbestimmung von Mann und Frau zu verzichten, solange nicht geklärt sei, wie weit die gängigen Wesensbestimmungen auf belastbaren anthropologischen Fakten beruhen statt auf überlieferten Rollenzuweisungen und interessegeleiteten Vorurteilen. Da der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, dass alles, was Philosophen und Wissenschaftler bisher über die ‚Natur‘ der Frau geschrieben haben,

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lediglich die sozialen Arrangements ihrer Zeit widerspiegelt, solle die ‚Natur‘ der Frau konsequent als Unbekannte behandelt werden. Auf der anderen Seite äußert sich Mill in diesem Essay jedoch ausführlich darüber, was aus der historischen Erfahrung über die besonderen Eigenschaften von Frauen zu entnehmen ist und sogar darüber, welche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau vor diesem Hintergrund als die ‚natürlichste‘ erscheint (nämlich die konventionelle, dass der Mann das Einkommen für die ganze Familie verdient und die Frau sich um Kinder und Haushalt kümmert). Mill scheint mit ‚gespaltener Zunge‘ zu sprechen. Einerseits soll die Redeweise von den ‚natürlichen Pflichten‘ der Frau als ideologische Leerformel entlarvt werden. Andererseits beruft er sich, um die traditionelle Rollenverteilung zu bekräftigen (und seine Leser nicht zu schockieren), doch wiederum auf Vorstellungen von der Natürlichkeit der konventionellen Geschlechterrollen (s. Kap. III.16). Einige Kommentatorinnen der Schriften Mills zur Gleichberechtigung, u. a. Susan Okin, halten diese Vorwürfe allerdings nur für teilweise berechtigt. Während Mills Kritik an Natürlichkeitskonzepten – nicht nur im Zusammenhang mit der ‚Natur der Frau‘ – seiner authentischen Auffassung entspreche (was durch seinen Essay „Nature“, CW X, 373–402, belegt werden kann; s. Kap. IV.20), seien seine scheinbar weitreichenden Zugeständnisse an den Zeitgeist lediglich pragmatisch motiviert. Sie seien als Ad-hominem-Argumente zu verstehen, die lediglich zeigen sollen, wie einseitig die gängigen Auffassungen von den beschränkten Potenzialen der Frauen seien und wie wenig sie den historischen Tatsachen entsprechen (Okin 1988, XII; s. Kap. VI.45). Neben den realen oder vermeintlichen Widersprüchen innerhalb einzelner Schriften Mills ist die Vereinbarkeit der in verschiedenen Schriften vorgetragenen Thesen ein weiteres Dauerthema der kritischen Diskussion. Die Frage der Vereinbarkeit stellt sich mit besonderer Schärfe insbesondere für das Verhältnis zwischen den Essays On Liberty und Utilitarianism, die – obwohl sie praktisch zur selben Zeit geschrieben wurden (der eine ist 1859 erschienen, der andere

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1861) – dezidiert unterschiedliche Prinzipien an den Anfang stellen und zur Grundlage der Argumentation machen: das Freiheitsprinzip, nach dem Staat und Gesellschaft sich aus allen Belangen der privaten Lebensgestaltung der Individuen heraushalten sollen (s. Kap. V.27), und das Nützlichkeitsprinzip, nach dem Moral, Recht und andere Institutionen so gestaltet werden sollen, dass das Glück aller Betroffenen maximiert wird (s. Kap. V.35). Der Konflikt verschärft sich dadurch, dass Mill das Nützlichkeitsprinzip nicht nur für soziale Normen gelten lässt, sondern – den Ausführungen über die „Lebenskunst“ (s. Kap. V.32) in seinem System of Logic zufolge – auch für die private Lebensführung. Wie hält es Mill etwa mit paternalistischen Eingriffen, also solchen, die in die Freiheit des Einzelnen eingreifen, aber – wie bei der Anschnallpflicht – ausschließlich zu dessen eigenem Wohl? Über weite Teile von On Liberty argumentiert Mill gegen paternalistische Eingriffe, zumindest wenn sie mit gesetzlichem Zwang einhergehen. Nach Utilitarianism erscheint es dagegen rechtfertigbar, wenn der einzelne in bestimmten Fällen zu seinem Glück gezwungen wird. In der Diskussion dazu findet sich ein ausgesprochen breites Spektrum von Sichtweisen. Auf der einen Seite stehen radikal inkompatibilistische Positionen wie die von Gertrude Himmelfarb, die sogar von „zwei Mills“ spricht (Himmelfarb 1974, XI), auf der anderen kompatibilistische (etwa Gray 1981; Schefczyk 2011), die die scheinbare Diskrepanz als auflösbar sehen, wenn man sie in den Theorierahmen einer utilitaristischen Zwei-EbenenKonzeption stellt. Mill argumentiert in On Liberty über weite Strecken so, als betrachte er die Entfaltung des Individuums und seiner Fähigkeiten als Selbstzweck und nicht nur als Mittel gesellschaftlicher Wohlfahrtssteigerung. Aber es finden sich doch einige Belege dafür, dass zumindest aus seiner Sicht hier kein wirklicher Widerspruch besteht. Mill geht vielmehr davon aus, dass Freiheit von staatlichen und gesellschaftlichen Zwängen (s. Kap. V.27) eine zentrale Bedingung sowohl des individuellen Glücks als auch des Fortschritts der Gesell-

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schaft (s. Kap. V.26) als ganzer ist. Individuelles Glück in Mills Sinn ist u. a. durch Autonomie charakterisiert, und Autonomie gedeiht am besten in einer freien Gesellschaft. Kollektives Glück in Mills Sinn ist abhängig von Fortschritten in Moral, Wissenschaft und Kultur, und diesen ist ebenfalls eine freie Gesellschaft zuträglicher als eine in Konventionen erstarrte. Im Fall von On Liberty können sich die Kompatibilisten zusätzlich darauf berufen, dass Mill hier ausdrücklich auf die Vereinbarkeit zwischen Freiheit und Nützlichkeit eingeht und sein Plädoyer für die individuelle Freiheit ganz bewusst nicht auf das Fundament „of abstract right, as a thing independent of utility“ stellt, sondern auf Nützlichkeit, verstanden als die „the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, 224). Damit ist nicht erwiesen, dass sich tatsächlich alle Freiheiten, die Mill in On Liberty postuliert, mit seiner Version des Utilitarismus rechtfertigen lassen. Die Unterordnung des Freiheitsprinzips als Sekundärprinzip unter das Nützlichkeitsprinzip erklärt aber zumindest einige der Postulate von On Liberty, bei denen es Mill für geboten hält, vom Freiheitsprinzip abzuweichen, wie insbesondere Mills – dem streng verstandenen Freiheitsprinzip widersprechendes – Verbot der freiwilligen Selbstversklavung (CW XVIII, 299). Unvereinbarkeiten mit seinem Utilitarismus sind auch einigen seiner wirtschaftstheoretischen Doktrinen bescheinigt worden (vgl. Birnbacher 2006). Als einer der schärfsten Kritiker in dieser Hinsicht hat sich insbesondere Gunnar Myrdal betätigt. Myrdal ist überzeugt, dass Mill den hohen Wert der individuellen Freiheit nicht aus utilitaristischen, sondern aus intuitiv-naturrechtlichen Gründen vertreten hat. Als Beleg dafür versucht er zu zeigen, dass sobald es um Fragen der gesellschaftlichen Organisation geht, Mill seinen Utilitarismus nicht konsequent durchhält. Ein Beispiel ist die Frage der Steuergerechtigkeit in den Principles of Political Economy (s. Kap. III.15). Mill übernimmt hier Adam Smiths Konzeption von Steuergerechtigkeit, nach der das Erwerbseinkommen proportional besteuert werden soll (s. Kap. V.39), ohne zu sehen, dass das mit dem

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utilitaristischen Prinzip der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung unvereinbar ist (Myr­ dal 1963, 122 f.). Unter der (von Mill geteilten) Voraussetzung des abnehmenden Grenznutzens des Einkommens wäre nach dem Utilitarismus eine progressive statt der von Mill geforderten proportionalen Besteuerung geboten. Für Myrdal ist diese Unstimmigkeit Folge eines bei Mill generell diagnostizierten Theoriedefizits. Statt die Prinzipien der Besteuerung systematisch aus ethischen Axiomen herzuleiten, werden sie – im Widerspruch zu Mills ansonsten vertretener Methodologie – schlicht als intuitiv gültig behauptet.

Einschätzungen von Mills Moralphilosophie aus utilitaristischer Sicht Die Tendenz, Mills Moralphilosophie Oberflächlichkeit und Inkonsistenz zu unterstellen, hat entscheidend dazu beigetragen, dass Mill über lange Jahre – und insbesondere in der ‚Latenzzeit‘ zwischen 1880 und 1960 – als zweitrangiger Denker eingeschätzt wurde. Gegenwärtig wird – zumindest innerhalb der utilitaristischen Tradition – Mills Weiterentwicklung des Bentham’schen Utilitarismus überwiegend als Theoriefortschritt bewertet, auch wenn wesentliche Klärungen und Differenzierungen erst von späteren dem Utilitarismus nahestehenden Denkern wie Henry Sidgwick, J. J. C. Smart, Richard Hare und Derek Parfit geleistet worden sind (Wolf 2012, 18). Die scharfe Kritik, die insbesondere das ‚Beweis‘-Kapitel von Utilitarianism provoziert hat, ist weitgehend durch eine positive Würdigung abgelöst worden, wenn auch mit der Einschränkung, dass Mill gelegentlich dazu neigt, die Komplexität der von ihm aufgeworfenen Fragestellungen zu unterschätzen und mit Suggestionen und Rhetorik zu arbeiten, wo man sich eine detailliertere und selbstkritischere Analyse gewünscht hätte. Gewürdigt wird zunächst Mills Idee, sein Grundprinzip nicht einfach axiomatisch zu postulieren, sondern mit einer Begründung zu versehen. Mill empfand es ja als eine der grund-

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legenden Schwächen von Benthams Philosophie, dass dieser für den Utilitarismus kein einziges positives Argument angab, sondern unmittelbar damit ansetzte, gegnerische Positionen anzugreifen. Von den Schwierigkeiten, die er sich damit auflud, ergibt sich die eine für jede ethische Grundlagentheorie, die andere für jede in Bezug auf die faktische Moral revisionäre Moralphilosophie: Erstens kann die gesuchte Begründung keine schlechthin zwingende Begründung sein. Zwingende Gründe, die eine bestimmte Ethik als einzige rational vertretbare auszeichnen, kann es für den Empiristen Mill nicht geben. Weder von wahrheitsverbürgenden Intuitionen noch von einer kantischen ‚praktischen Vernunft‘ ist eine Letztbegründung zu erwarten (Popkin 1950). Eine Begründung oberster ethischer Prinzipien kann stets nur eine Plausibilisierung sein, das Anführen von Gründen, die – in den Worten Mills – „are capable of determining the intellect either to give or withhold its assent to the doctrine“ (CW X, 208). Zweitens folgt aus der revisionären Anlage des Utilitarismus, dass er den faktisch geltenden Moralnormen und den ihnen zugeordneten vortheoretischen Intuitionen kritisch und nicht von vornherein affirmativ gegenübertritt. Wenn er die vorherrschenden moralischen Anschauungen bejaht, dann stets erst aufgrund einer kritischen Prüfung und nicht aufgrund einer wie immer gearteten Vorannahme ihrer Legitimität. Deshalb ist einer Begründung des Utilitarismus ein Weg verschlossen, der einer stärker rekonstruktiv angelegten Ethik offensteht, nämlich sich zugunsten ihrer Prinzipien auf bestehende moralische Überzeugungen und Intuitionen zu berufen. Zwar wird keine Begründung gänzlich ohne Berufung auf vortheoretische ‚Intuitionen‘ auskommen können. Aber diese ‚Intuitionen‘ müssen, soll der Utilitarismus sein kritisches Potenzial nicht einbüßen, primär auf der Ebene der ethischen Grundlagen und nicht auf der Ebene der moralischen Resultate ins Spiel kommen. Im Einzelnen haben sich viele Züge von Mills ‚Beweis‘ als tragfähiger erwiesen, als es in der Hochphase der Mill-Kritik in den 1960er und 1970er Jahren den Anschein hatte. Sein am häufigsten inkriminierter Satz – dass daraus,

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dass das Glück eines jeden Menschen für diesen ein Gut ist, folge, dass das allgemeine Glück ein Gut für das Aggregat aller Menschen ist – lässt sich als irreführende Formulierung der mehr oder weniger trivialen Wahrheit verstehen, dass wenn das Glück jedes Einzelnen ein Gut ist, die Summe des Glücks aller ebenfalls ein Gut ist. Zu einem Missverständnis kommt es lediglich dadurch, dass Mill die Konklusion so formuliert, als sei die Summe des Glücks für alle – im Sinne von ‚aus Sicht aller‘ – ein Gut. Aber das folgt nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Daraus, dass jeder sein eigenes Glück für ein Gut hält, folgt nicht, dass er deshalb auch das allgemeine Glück für ein Gut hält. Erst recht folgt nicht, dass das allgemeine Glück für ihn wünschenswerter ist als sein eigenes Glück und das Glück der ihm gefühlsmäßig Nahestehenden. Auf der anderen Seite besteht weitgehender Konsens darüber, dass sich Mill durch seine Ansichten über die Hochrangigkeit geistiger Werte gelegentlich zu wenig realistischen Einschätzungen über das anthropologisch Mögliche hinreißen lässt. Auch wenn man zugesteht, dass viel dafür spricht, dass im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts die individuelle Autonomie für das Glück der Individuen – und sein Fehlen für das Unglück der Individuen – zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und wahrscheinlich weiter gewinnen wird, muss es als gewagt und womöglich weltfremd gelten, mit Mill zu behaupten, dass, wo „not the person’s own character, but the traditions or customs of other people are the rule of conduct, there is wanting one of the principal ingredients of human happiness“ (CW XVIII, 261). Nach allem, was uns die Moralpsychologie lehrt, passt sich nach wie vor die Mehrheit der Menschen in ihrer Moral der Moral ihres jeweiligen Milieus an. Zu bezweifeln ist auch, dass – in Mills von Platon inspiriertem Entscheidungsverfahren zur Vorzugswürdigkeit verschiedener Arten von ‚pleasure‘ – sich die Erfahreneren primär für die höhere Qualität statt für die höhere Quantität entscheiden. Woher bezieht Mill seine Sicherheit in diesem Punkt? Bereits Bradley kritisierte die Sicherheit, mit der Mill davon auszugehen scheint, dass es in seiner Variante des

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Rawls’schen ‚Urzustands‘ zu einem Konsens über die wünschenswerteste Form von Glück kommt. Gerade bei denjenigen, die viele Arten von ‚pleasure‘ kennen, wäre doch vielleicht eher mit einer gewissen Vielfalt der Präferenzen zu rechnen (Bradley 1927, 120). Eine weitere problematische Voraussetzung des von Mill angegebenen Entscheidungsverfahrens ist, dass die für eine kompetente Beurteilung der ‚höheren‘ ‚pleasures‘ erforderlichen Voraussetzungen mit einer unparteiischen Würdigung der niederen Glücksformen möglicherweise nicht vollständig vereinbar sind. Mill setzt voraus, dass der Erwerb höherer Fähigkeiten ohne jeden Verlust möglich ist. Aber ist garantiert, dass Sokrates imstande ist, die Intensität der Emotionalität des Narren zu empfinden? In seinen harmonistischen Implikationen hinsichtlich der menschlichen Möglichkeiten scheint Mill nicht allzu weit von Karl Marx entfernt (McPherson 1982, 271).

Schluss Es erübrigt sich, an dieser Stelle auf die zahlreichen Kritiken an Mills Moralphilosophie näher einzugehen, die sich auf den Utilitarismus insgesamt und nicht speziell auf Mills Version beziehen. Die Kritikpunkte sind dabei seit den Anfängen des Utilitarismus in der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts bis heute im Wesentlichen die gleichen geblieben: 1) der Prinzipienmonismus, 2) die summative Aggregation des Nutzens und 3) das Maximierungsprinzip. Viele der Merkmale, in denen sich Mills Version des Utilitarismus von der Benthams unterscheidet, lassen sich als implizite Versuche verstehen, diesen Kritikpunkten Rechnung zu tragen. Der Prinzipienmonismus hat zur Kritik insbesondere dadurch herausgefordert, dass er neben der Norm der kollektiven Nutzenmaximierung kein eigenes und zusätzliches Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit gelten lässt und damit einen substanziellen Teil der Alltagsmoral nicht berücksichtigt. Es besteht Einigkeit darüber, dass auch das Gerechtigkeitskapitel

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von Utilitarianism – bei allen Verdiensten, die ihm zugesprochen werden – diese Lücke nicht ausfüllen kann. Auch eine Mehr-Ebenen-Theorie kann nicht ausschließen, dass sich aus einer Nutzenmaximierung radikal ungleiche und weithin als ‚unfair‘ beurteilte Nutzenverteilungen ergeben. Erst in neuerer Zeit ist der systematische Versuch unternommen worden, utilitaristische Prinzipien mit Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit in eine hybride Theorievariante zu integrieren (Trapp 1988). Eine Tendenz zu einer Mehr-Prinzipien-Variante des Utilitarismus weist nicht zuletzt auch Mills eigene Version auf, indem sie für die ‚qualitativen‘ Komponenten des Nutzens eine eigenständige, aber bei Mill fragmentarisch bleibende Axiologie intrinsischer Werte voraussetzt. Eine zweite Kritikrichtung zielt auf die für den Utilitarismus charakteristische Kombination eines konsequenzialistischen Pflichtprinzips mit einer rein summativen Nutzenaggregation ohne Berücksichtigung der in so gut wie allen gelebten Moralen als zulässig geltenden Abstufung der Pflichten nach der persönlichen Nähe und Ferne zu den Nutzenempfängern. Nicht nur Benthams, auch Mill Version des Utilitarismus geht von einer uneingeschränkten Unparteilichkeit der Nutzenbewertung aus. Schließt man das jeweilige Individuum selbst in den Kreis der Personen ein, denen man durch eigenes Handeln nutzen kann, lässt sich dieser Kritikrichtung auch der durch Bernard Williams (1979) bekannt gewordene Integritäts- und Entfremdungseinwand zuordnen: Indem der einzelne Handelnde verpflichtet wird, die Förderung des universalen Nutzens an die erste Stelle zu setzen, wird er seinen eigenen Werten und Loyalitäten und damit ein Stück weit auch seiner ureigensten Persönlichkeit entfremdet. Statt nach seinen persönlichen Wertüberzeugungen zu leben, verlangt ihm die utilitaristische Moral ab, seine moralischen Ressourcen primär auf das zu verwenden, was die Welt im Ganzen am dringend­ sten von ihm braucht. Damit ist bereits der dritte Standardeinwand gegen den Utilitarismus angesprochen, der Einwand der systematischen Überforderung des Individuums. Das Maximierungsprinzip, das Mill

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von Bentham übernimmt, scheint zusammen mit der Voraussetzung der vollständigen Unparteilichkeit der Nutzenbewertung einen moralischen Rigorismus zu implizieren, der das Individuum kognitiv wie motivational überfordert und in seinen Lebensmöglichkeiten einengt. Mills implizite Zwei-Ebenen-Theorie lässt sich so verstehen, dass sie diesen Einwand zumindest ein Stück weit entkräftet: Soweit Überforderung Widerstand provoziert, ist das Maximierungsprinzip zumindest auf der Praxisebene utilitaristisch dysfunktional. Auf der Ebene der Moral als gesellschaftlichem Sprachspiel muss es konsequenterweise auf ein System zumutbarer Forderungen heruntergebrochen werden. Darüber hinaus ist Mill, wie die Passagen zu den Hilfsplichten in On Liberty zeigen, zu sehr von der Bedeutung der individuellen Freiheit für das Lebensglück überzeugt, um sie außer in dringlichen Fällen durch übermäßigen moralischen Druck einzuengen. Mill kannte sowohl den moralischen Druck, den in seiner Kindheit sein Vater auf ihn ausübte, als auch den Druck der viktorianischen Konventionen zu gut, um nicht zu einem emphatischen Fürsprecher der individuellen äußeren und inneren Freiheit zu werden. Mills Version des Utilitarismus ist das Vorbild vieler Versionen geworden, in denen der Utilitarismus in der zeitgenössischen Ethik vertreten wird. Das gilt insbesondere für Versionen eines indirekten Utilitarismus, die Mills Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien aufgreifen und sie unter verschiedenen Benennungen („kritische“ vs. „intuitive“ Moralebene [Hare 1992], „ideale“ vs. „Praxis“normen [Birnbacher 1988]) weiterentwickeln. Indirekt ist dieser Utilitarismus insofern, als er sich nicht als Antwort auf die Frage versteht: ‚Was soll ich tun?‘, sondern auf die Frage: ‚Welche moralischen Regeln sollten gelten?‘ Danach ist der Utilitarismus eher eine Metanorm als eine unmittelbar handlungsleitende Norm. Er bezieht sich auf die Moral als ein soziales Regelsystem als Ganzes und hat nicht nur Normen – Gebote, Verbote und Erlaubnisse – zum Gegenstand, sondern u. a. auch Handlungsmotive und -dispositionen, Tugenden und Untugenden, moralische Einstellungen und Emotionen und moralische Wertüberzeugungen.

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Ein anderer Anknüpfungspunkt für viele moderne Versionen einer utilitaristischen Ethik ist Mills Idee eines ‚Beweises‘ des Utilitarismus im Sinne einer Plausibilisierung des Nutzenmaximierungsprinzip mithilfe von Prinzipien, die nicht ihrerseits an eine bestimmte normative Ethikkonzeption gebunden sind. So hat Richard M. Hare zu zeigen versucht, dass sich utilitaristische Prinzipien bereits aus dem Allgemeingültigkeitsanspruch ableiten lassen, wie sie für die neuzeitlich-aufklärerische Ethik kennzeichnend geworden ist. Danach besteht zwischen dem kantisch-universalistischen Ethikbegriff und der utilitaristischen Ethik eine unmittelbare begriffliche Verknüpfung (Hare 1973, 105 ff.) Andere Autoren gehen nicht so weit und halten Mills Ansatz für fruchtbarer, zwischen dem Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Normen und der utilitaristischen Ethik keine deduktive, sondern lediglich eine plausibilisierende Beziehung anzunehmen: Eine utilitaristische Ethik sollte nicht das letzte Wort, aber zumindest der Ausgangspunkt des moralischen Denkens sein (Singer 2013, Birnbacher 2016). Peter Singer (2013, 39) hat die dieser Herleitung zugrunde liegende Idee auf einen knappen Nenner gebracht: „Wenn ich akzeptiere, dass moralische Urteile von einem universalen Standpunkt aus getroffen werden müssen, akzeptiere ich, dass meine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen nicht einfach deshalb, weil sie meine Präferenzen sind, mehr zählen als die Interessen von irgendjemand anderem“.

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Diskurs des politischen Liberalismus

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Frauke Höntzsch

John Stuart Mills On Liberty (s. Kap. III.13) ist bis heute einer der zentralen Bezugspunkte des politischen Liberalismus. Wenige liberale Theoretiker nach Mill kommen ohne einen Verweis auf sein Denken aus – sei es, um an seine Überlegungen anzuschließen oder sich von ihnen abzugrenzen. Das gründet in dem Umstand, dass Mill, ganz unabhängig von der jeweiligen Bewertung, die sein Denken erfährt, den Ausgangspunkt eines neuen, modernen Liberalismus bildet (Gaus 1983; Turner 2017). Mill stellt angesichts des Aufkommens der sozialen Frage einerseits und der Historisierung des Denkens andererseits die Abstraktionen des klassischen Liberalismus in Frage und korrigiert die individualistische Lehre seiner Vorgänger, die auf naturalistischen Annahmen beruht, unter Rückgriff insbesondere auf sozialistische und romantische bzw. idealistische Überlegungen. Das Grundproblem, das Mill und im Anschluss viele seiner Nachfolger umtreibt, ist der Umstand, dass gleiche Freiheit durch die Garantie individueller Freiheitsrechte alleine nicht zu garantieren ist. Mit Blick auf die Infragestellung der Abstraktionen des klassischen Liberalismus lassen sich

F. Höntzsch (*)  Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

bei Mill zwei Dimensionen unterscheiden: Der Mensch ist ein soziales Wesen, wie Mill in Utiliarianism (s. Kap. III.12) ausführt, geleitet von „the desire to be in unity with [his] fellow creatures“: „The social state is at once so natural, so necessary, and so habitual to man, that […] he never conceives himself otherwise than as a member of a body“ (CW X, 231) und zugleich ein historisches Wesen, dessen Entwicklung sich nicht unabhängig von den ihn umgebenden historischen Umständen verstehen lässt: „The human beings themselves […] are not abstract or universal but historical human beings, already shaped, and made what they are, by human society“ (CW X, 307). Die Annahme der sozialen Verwiesenheit des Einzelnen führt zu einer inhaltlichen Korrektur der individualistischen Position des klassischen Liberalismus. Wie Gerald Gaus zeigt, steht Mill als erster in einer Reihe von modernen Liberalen, die versuchen, „to develop a theory of man that reconciles the pursuit of individuality with sociality and membership in a community“ (Gaus 1983, 3). Die Neuerung des modernen gegenüber den Konzepten des klassischen Liberalismus eines John Locke oder James Mill basiert bei aller Verschiedenheit der darunter zu fassenden Konzepte laut Gaus auf der erweiterten Vorstellung vom Menschen: „[I]ts conception of man is much more apt to stress mutual dependence over independence, co-operation over competition, and mutual appreciation over private ­enjoyment“ (Gaus

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_44

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1983, 7). Wie die Annahme der sozialen Natur zur inhaltlichen Korrektur führt, so bildet der Hinweis auf die historische und gesellschaftliche Gewordenheit des Menschen den Ausgangspunkt für die grundsätzliche Infragestellung der erkenntnistheoretischen (naturalistischen) Grundlagen des Individualismus. Allerdings ist diese Dimension der Infragestellung des abstrakten Individualismus in Mills Denken weit weniger ausgeprägt als die inhaltliche Dimension. Denn auch wenn historistische Annahmen vermittels Mills Auseinandersetzung mit Auguste Comte (s. Kap. II.4), aber auch idealistischen und romantischen Einflüssen (s. Kap. II.3, II.5) Eingang in sein Denken finden, bleiben sie angesichts der assoziationspsychologischen Ausführungen im letzten Buch von A System of Logic (s. Kap. III.17) „On the logic of the moral sciences“ weitestgehend ohne Konsequenz für seine erkenntnistheoretischen Grundlagen. Indem Mill die Annahme eines abstrakten Individuums durch die Annahme der sozialen Natur des Menschen korrigiert, stellt sich zugleich die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Zielen menschlicher Freiheit neu und in der Folge auch die Frage nach ihrer Konzeption: Die Korrektur des klassischen Liberalismus geht einher mit einer Neuausrichtung hinsichtlich moralischer Fragen einerseits, insbesondere der Frage nach der Ermöglichung eines (individuell unterschiedlich zu realisierenden) erfüllten Lebens, der Individualität (deren Konzeption Mill im dritten Kapitel von On Liberty darlegt und deren Ausbildung entsprechend Mills spezifischem Verständnis der utilitaristischen Moral dem Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft dient; s. Kap. V.30), und mit einer Neuausrichtung hinsichtlich ökonomischer Fragen andererseits, genau genommen der Frage nach den ökonomischen Voraussetzungen der Garantie gleicher Freiheit (so stellt Mill die Institution des Privateigentums zur Disposition [s. Kap. V.25], wenn er in den Principles of Political Economy [s. Kap. III.15], konstatiert, die Verteilung des Reichtums sei „a matter of human institution solely“ [CW II, 199] und zeigt sich entsprechend offen für sozialistische Ideen [s. Kap. IV.18]). Damit bewegt sich

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das Freiheitsverständnis notwendigerweise weg von einer rein negativ-individualistisch konzipierten Freiheit (s. Kap. V.27), die in der Folge mehr Einschränkungen erfährt als noch im klassischen Liberalismus – womit zugleich das Grundproblem des modernen Liberalismus und die Hauptkritik an ihm benannt sind: (Wie) Lassen sich Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen, die über die unmittelbare Garantie negativer individueller Freiheit hinausgehen? Mills Wirkung im Diskurs des politischen Liberalismus lässt sich vor diesem Hintergrund exemplarisch an verschiedenen Strömungen des Liberalismus veranschaulichen: Einerseits Strömungen, die ihm in der Grundausrichtung eines modernen Liberalismus folgen, denen er aber nicht weit genug geht und/oder die davon ausgehen, dass Mills Überlegungen auf (vor allem moralisch bzw. psychologisch) falschen Grundlagen beruhen; andererseits Kritiker, die die Vermischung zweier verschiedener Traditionen in Mills Denken bemängeln und ihn in der Folge entweder (aufgrund eines konstatierten Übergewichts der ‚falschen‘ Tradition) als Verfälscher der klassischen liberalen Lehre oder umgekehrt (auf Grund eines konstatierten Übergewichts anschlussfähiger Elemente) zugleich als Ausgangspunkt für eine Erneuerung des klassischen Liberalismus sehen. Die verschiedenen Einschätzungen lassen sich – vereinfacht – zwei Richtungen des politischen Liberalismus zuordnen: einerseits dem sozialen andererseits dem (neo)klassischen Liberalismus. Dabei kann man innerhalb von beiden diesen Richtungen noch einmal unterscheiden zwischen Positionen, deren Fokus eher auf moralischen und solchen, deren Fokus stärker auf ökonomischen Fragen liegt. Im Einzelnen kann Mills Wirkung im Diskurs des politischen Liberalismus verdeutlicht werden: einerseits an dem sozial-moralischen Liberalismus der britischen New Lib­ erals und John Deweys, die die bei Mill in ihren Augen nur begonnene Überwindung des klassischen Liberalismus vollenden wollen und die das Konzept der Freiheit um eine positive Dimension erweitern sowie dem sozial-ökonomischen Liberalismus eines John Rawls, der

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zwar Mills utilitaristische Grundlegung des Liberalismus kritisiert, aber an Mills ‚liberalen Sozialismus‘ anschließt, indem er die Garantie der Freiheit um die Garantie des ‚Werts der Freiheit‘ ergänzt; andererseits dem klassisch liberalen bis libertären Liberalismus zum einen in seiner ökonomischen Ausrichtung bei Friedrich August von Hayek, der Mill als Verfälscher der klassisch liberalen Lehre durch rationalistische, kontinentale Einflüsse sieht und zum anderen mit Blick auf die moralischen Grundlagen bei Isaiah Berlin, der zwar ebenfalls die rationalistischen Aspekte in Mills Denken kritisiert, aber die in seinen Augen für eine Weiterentwicklung eines klassisch-moralischen Liberalismus anschlussfähigen Aspekte betont – und die beide gleichermaßen den Wert der negativen individuellen Freiheit in den Mittelpunkt stellen, die es in ihren Augen gegen staatliche Eingriffe zum Zwecke der Ermöglichung des guten Lebens bzw. der Umverteilung zu verteidigen gilt. Alle genannten Autoren eint die Einschätzung, dass Mills Denken zwischen zwei Phasen des Liberalismus zu verorten ist. Der Unterschied liegt in der Bewertung: Während die einen sein Denken als Abkehr von der reinen Lehre verstehen, sehen es die anderen als Überwindung eines überkommenen Liberalismus; während die einen den klassischen Liberalismus bewahren/erneuern wollen, wollen die anderen ihn (vollends) überwinden. In der Rezeption aller Autoren steht die Frage nach der Tragfähigkeit bzw. Konzeption des Individualismus im Mittelpunkt. Während die affirmativen Lesarten den klassischen Individualismus bzw. seine Folgen mit Mill für korrekturbedürftig halten, geht es den kritischen Lesarten um die Verteidigung des wahren gegenüber einem (auch) bei Mill (durch den Rationalismus) verfälschten bzw. gefährdeten Individualismus. Querstehend zu den inhaltlichen Positionen unterscheiden sich die angeführten Ansätze darin, ob sie die (von Mill selbst nicht konsequent vertretene) Annahme der historischen Gewordenheit des Menschen als Vorläufer einer postmodernen Erkenntnistheorie, die mit der Infragestellung absoluter Wahrheit zugleich die Erkennbarkeit eines Wesen des Menschen als Grundlage politischer Ordnungs-

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entwürfe verwirft, fortführen (Dewey, Berlin und in Ansätzen Hayek) oder an der Vorstellung einer universellen, vernünftigen Natur des Menschen festhalten (New Liberals und in letzter Konsequenz auch Rawls). Die Vielfalt der inhaltlichen Rezeption des politischen Liberalismus Mills führt zugleich vor Augen, dass es den Liberalismus nicht gibt: Der zentrale Wert des politischen Liberalismus ist die gleiche Freiheit, wie sie aber zu verstehen und wie sie zu gewährleisten ist, darüber besteht ein andauernder Dissens. Der zentrale Streitpunkt liegt dabei weniger im Freiheitsverständnis selbst, sondern in erster Linie in der Frage nach ihrem Verhältnis zur Gleichheit, der eine je andere Funktion hinsichtlich der Garantie der Freiheit zugeschrieben wird. Liberale Theorien bewegen sich auf einem Kontinuum, auf dessen einen Seite der klassische Liberalismus bzw. Libertarianismus steht, der die Gleichheit auf die Garantie gleicher Freiheitsrechte beschränkt und jegliche darüber hinausgehenden Staatseingriffe ablehnt, und auf dessen anderen Seite liberale Ansätze fließend in sozialistische Ansätze übergehen, wenn die Betonung auf den (staatlicherseits zu gewährleistenden) sozioökonomischen Voraussetzungen gleicher Freiheit liegt. Mill steht nicht nur mit Blick auf die in diesem Zusammenhang meist angeführte Offenheit für sozialistische Ansätze (s. Kap. IV.18, VI.46) und den Kampf um die Gleichberechtigung der Frau (s. III.16, VI.45), sondern auch und besonders mit Blick auf sein Freiheitsverständnis aufseiten der Verfechter der Gleichheit.

Mill im sozial(-moralisch)en Liberalismus Ist die Rede von Mills Nachfolgern in der liberalen Tradition, werden zumeist vor allem, wenn nicht gar ausschließlich, die New Lib­ erals, wie Leonard T. Hobhouse, Thomas Hill Green oder John A. Hobson genannt – wohl auch, weil sie sich selbst als Vollender des Mill’schen Liberalismus verstehen. Die Position des New Liberalism lässt sich als „distinctively non-individualist“ verstehen, „insofar as it takes

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c­ommunity and common good seriously with­ out abnegating liberalism’s traditional devotion to the cultivation of individuality“ (Simohony/ Weinstein 2001, 1–2). Die New Liberals schließen vor allem an Mills These der gegenseitigen Angewiesenheit der Menschen aufeinander an. Zwar sind sie, wie Mill, auch an ökonomischen Reformen interessiert, wofür Hobhouse Mill ausdrücklich würdigt: „In middle life voluntary cooperation appeared to him the best […], but towards the close he recognized that his change of views was such as, on the whole, to rank him with the Socialists, and the brief exposition of the Socialist ideal given in his Autobiography remains perhaps the best summary statement of Liberal Socialism that we possess“ (Hobhouse 1994 [1911], 55); doch der Fokus der New Lib­ erals liegt auf der moralischen Erneuerung, wobei Mill ihnen hier nicht weit genug geht. Besonders deutlich wird das bei Hobhouse, der zwar einerseits auf die soziale Natur des Menschen bei Mill, auf „Mill’s social feeling“ (Hobhouse 2009 [1922], 23), rekurriert und ihn als Übergangsfigur zwischen klassischem und neuem Liberalismus sieht: „Mill had the qualities of a life-long learner, and in his single person he spans the interval between the old and the new Liberalism“ (Hobhouse 1994 [1911], 51), ihn jedoch in zentralen Punkten noch als „still dominated by the older individualism“ (Hobhouse 1994 [1911], 52) versteht, wohl auch um die eigene Position als Vollendung des bei Mill bereits Begonnenen darzustellen. Der entscheidende Unterschied zu Mill, und das ist in den Augen der New Liberals zugleich der Grund für die Überlegenheit ihres Ansatzes gegenüber demjenigen Mills, liegt im erweiterten Freiheitsverständnis: im Konzept der positiven Freiheit, verstanden im Sinn der Selbstbestimmung des Individuums, die im New Liberalism zum Ziel der Politik wird (Nicholls 1962, 122 f.). Den prägnantesten Ausdruck findet die positive Dimension der Freiheit bei T. H. Green: „[T]he mere removal of compulsion, the mere enabling a man to do as he likes, is in itself no contribution to true freedom. […] [T]he ideal of true freedom is the maximum of power for all members of human society alike to make the

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best of themselves“ (Green 1986 [1882, posthum], 199/200). Im Verständnis der neuen Liberalen kann der Schutz vor Übergriffen von außen alleine die Freiheit des Einzelnen nicht garantieren, weil der Mensch kein isoliertes Individuum ist, sondern seine Selbstentwicklung in der Interaktion mit anderen vollzieht: „The positive liberals in this period held a conception of society, not simply as a heap of atoms, but as a community of mutually interacting beings“ (Nicholls 1962, 122). Dieser „organic view of society“ (Hobhouse 1994 [1911], 61) hat Auswirkungen auch auf die Begründung individueller Rechte. Hobhouse hält fest: „An individual right, then cannot conflict with the common good, nor any right exists apart from the common good“ (Hobhouse 1994 [1911], 61). Das „common good“ drückt sich im „common will“ aus, dem zur Durchsetzung zu verhelfen, neben dem Schutz des Einzelnen, Aufgabe des Staates ist. Entsprechend wird der Bereich gerechtfertigten Zwangs ausgedehnt: „But we may not only restrain one man from obstructing another […] but we may also restrain him from obstructing the general will; and this we have to do whenever uniformity is necessary to the end which the general will has in view“; solcher Zwang ist gerechtfertigt, weil sonst die positiv verstandene Freiheit anderer Individuen eingeschränkt würde: „is coercion against coercion, differing possibly in form an method, but not in principle or in spirit“ (Hobhouse 1994 [1911], 70). Freiheit verstanden als Selbstbestimmung und politische Selbstgesetzgebung gehören in diesem Verständnis zusammen: „[T]he self-governing State is at once the product and the condition of the self-governing individual“ (Hobhouse 1994 [1911], 74). Das gegenüber dem klassischen Liberalismus geforderte Mehr an Staatstätigkeit ist so verstanden gerechtfertigt durch das Mehr an Freiheit, das es garantieren soll, indem es die Selbstentwicklung und -bestimmung des Einzelnen fördert und stellt kein Problem dar, solange das Volk sich selbst regiert. Zwar finden sich auch bei Mill neben dem negativen Verständnis zugleich Äußerungen wie „liberty consists in doing what one desi-

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res“ (CW XVIII, 294) und „[t]he only freedom which deserves the name, is that of pursing our own good in our own way“ (CW XVIII, 226) und damit Ansätze eines positiven Verständnisses, allerdings nur im individuellen, nicht im kollektiven Sinn. Zudem geraten diese Ansätze eines positiven individuellen Verständnisses in Widerspruch zu Mills assoziationspsychologischen Ausführungen zur Willensfreiheit im zweiten Kapitel von Buch VI des System of Logic (s. Kap. III.17): Die positive individuelle äußere Freiheit findet bei Mill keine Entsprechung in der inneren Freiheit, nicht im negativen Sinn (als Unabhängigkeit von psychologischen Mechanismen) und in Folge streng genommen auch nicht im positiven Sinn (als Willensfreiheit) und bleibt so gesehen unvollständig. Dagegen folgt Hobhouses Kritik an Mills Freiheitsprinzip, als vermeintlichem Ausdruck des klassischen Individualismus, einem die MillRezeption lange beherrschenden Missverständnis (bereits bei Stephen 1967 [1873], 28; später Anschutz 1953, 48): „We should frankly recognize that there is no side of a man’s life which is unimportant to society, for whatever he is, does, or thinks may affect his own well-being, which is and ought to be matter of common concern, and may also directly or indirectly affect the thought, action, and character of those with whom he comes in contact“ (Hobhouse 1994 [1911], 58). Das übersieht nicht nur, dass der Unterschied der Bereiche, wie die revisionistische Lesart beginnend mit John C. Rees (1998 [1960]) gezeigt hat, nicht auf der Betroffenheit als solcher, sondern der Art der Betroffenheit beruht, dass Mill also sowohl von Handlungen ‚affecting others‘ als auch von solchen ‚affecting the interest of others‘ spricht; es übersieht zugleich Mills komplexe Konzeption negativer Freiheit, die über ein rein individualistisches Verständnis hinausgeht und auch die soziale und politische Zusammenarbeit vor Willkür in Form sinistrer Interessen schützen möchte (Höntzsch 2010). Trotzdem Mill das negative Freiheitsverständnis so verstanden um eine soziale Dimension erweitert, rechnet auch der amerikanische

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Pragmatist John Dewey, der ebenfalls in der Reihe einer sozial(-moralisch)en liberalen Tradition steht, Mill noch dem alten Liberalismus zu. Auch Dewey zitiert zwar Mills Ausführungen zur sozialen Natur des Menschen (CW X, 231 ff.) und sieht darin einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem klassischen Utilitarismus: „The transformation is tremendous. It is no longer a question of acting for the general interest because that brings most pleasure or brings it more surely and easily. It is a question of finding one’s good in the good of others“ (Dewey/Tufts 1908, 295; vgl. auch 316); doch auch er versteht Mill, wie vor ihm die New Liberals, noch als Vertreter eines überkommenen Individualismus, dessen Voraussetzungen der Demokratie nicht länger dienen, sondern sie gefährden. Auch er sieht bei Mill lediglich den Versuch, die Abstraktion des Menschen im klassischen Utilitarismus zu überwinden und versteht, wie er in „Liberalismus und gesellschaftliches Handeln“ (2010 [1935]) darlegt, Mills lebenslangen Kampf, die Einflüsse Coleridges (s. Kap. II.3) und Comtes (s. Kap. II.4) mit den anerzogenen Lehren Benthams (s. Kap. II.2) zu vereinbaren, als „ein Symbol für die andauernde Krise von Überzeugungen und Handlungen, die in den Liberalismus hineingetragen worden ist, als die Notwendigkeit entstand, frühere Auffassungen von Freiheit mit drängendem Verlangen nach einer gesellschaftlichen Organisation zu verbinden“; das Problem der Erlangung der Freiheit stellte sich laut Dewey ganz neu, sowohl in moralischer Hinsicht als „ein Problem der Etablierung einer gesamten gesellschaftlichen Ordnung, die von einer spirituellen Autorität erfüllt ist, die sowohl das innere als auch das äußere Leben der Individuen nähert und ausrichtet“ (Dewey 2010 [1935], 167), als auch in ökonomischer Hinsicht als „Forderung nach einer Form gesellschaftlicher Organisation, die die wirtschaftlichen Aktivitäten einschließen sollte, sie allerdings in Diener der Entwicklung der höheren Fähigkeiten der Individuen verwandeln sollte“ (Dewey 2010 [1935], 168). Auch Dewey stellt Mills, in seinen Augen atomistischem, Verständnis der Gesellschaft bzw. der Demokratie, ein organisches Verständnis gegenüber.

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Das Problem der frühen Liberalen liegt in Deweys Augen in ihrer absolutistischen Haltung; wenn sie „ihre spezielle Interpretation von Freiheit als etwas, das der historischen Relativität unterliegt, entwickelt hätten, hätten sie es nicht als Doktrin eingefroren, die zu jeder Zeit und unter allen gesellschaftlichen Umständen anzuwenden ist“ (Dewey 2010 [1935], 170). In der hier anklingenden, historistischen Infragestellung überzeitlicher Wahrheiten (die sich in Ansätzen bereits bei Mill findet, hier aber ohne erkenntnistheoretische Konsequenz bleibt) liegt der zentrale Unterschied der Position Deweys zu Mills und zugleich zu derjenigen der New Liberals. Denn damit verbunden ist die Infragestellung der naturalistischen Grundlage des Individualismus: „Für ihn [Dewey] gibt es das menschliche Wesen nicht als ein feststehendes, unwandelbares Sein, und deshalb ist es für ihn auch nicht – weder in einem rationalistischen noch in einem empiristischen Erkenntnisverfahren – systematisierbar“, denn „da nach seiner Auffassung das In-der-Welt-sein vom Menschen fortwährend die handelnde Bewältigung von Situationen und Schwierigkeiten fordert, besteht die Aufgabe der Philosophie in der beständigen Überprüfung und Neuordnung dieses Handlungsvollzuges“ (Correll 1968, 69). Deweys Kritik an Mill geht entsprechend tiefer als diejenige der New Liberals, insofern sie die assoziationspsychologischen Voraussetzungen von Mills Denken adressiert und damit den Punkt, an dem Mill die Lehren seiner Erzieher in der Tat nicht überwindet. In Deweys Augen lag so auch Mills großer Fehler, wie er in Die Öffentlichkeit und ihre Probleme (2001 [1927]) ausführt, im „absolutistischen Charakter“ seiner Philosophie. Mill habe übersehen – und hier bezieht sich Dewey auf Mills Logic (VI. Buch, 7. Kap., 1) –, dass sich die Handlungen und Leidenschaften individueller Menschen, „was sie in concreto sind, ihre Überzeugungen und Absichten eingeschlossen, dem sozialen Milieu, in dem sie leben, verdanken; daß sie durch und durch unter dem Einfluß zeitgenössischer und überlieferter Kultur stehen“ und so waren „Mills wichtigste Sozialauffassungen trotz seines Horrors vor dem

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metaphysischen Absoluten, logischerweise, absolutistisch“ (Dewey 2001 [1927], 163/164; Herv. i. O.). Entsprechend Mills Herleitung der Gesetze der Gesellschaft aus denjenigen der „individuellen Menschennatur“ (Dewey 2001 [1927], 163; Herv. i. O.) hält Dewey das Problem bei Mill für falsch gestellt: Seine Staatstheorie suche nach kausalen Kräften, nach einer ursächlichen Tätigkeit anstatt nach Folgen. Darauf fuße eine irrtümliche Unterscheidung zwischen menschlichen Wesen und einem kollektiven unpersönlichen Willen (Dewey 2001 [1927], 31): „Die wirkliche Alternative zu den bewußten Handlungen von Individuen ist nicht das Handeln der Öffentlichkeit; es sind routinierte, impulsive und andere unreflektierte Handlungen, die ebenfalls von Individuen ausgeführt werden“ (Dewey 2001 [1927], 31). Aus der richtigen Beobachtung, dass alle Beschlüsse das Werk einzelner menschlicher Wesen sind, seien vollkommen falsche Schlüsse gezogen worden: „Kurz, unter dem Einfluß des Grundirrtums, das Problem des Staates beträfe kausale Kräfte, ist der Individualismus, als ein Ismus, als eine Philosophie hervorgebracht worden“ (Dewey 2001 [1927], 34). Zwar rekurriert Dewey in Die Öffentlichkeit und ihre Probleme auf die von Mill mit dem Freiheitsprinzip getroffene Unterscheidung verschiedener Arten von Interesse und Betroffenheit, diese sind jedoch, weil „[v]ereintes, kombiniertes, assoziiertes Handeln […] ein universelles Verhaltensmerkmal von Dingen“ ist (Dewey 2001 [1927], 43), kein Merkmal individuellen Handelns. Interesse und Betroffenheit sind Resultat assoziierten Handelns: „Manchmal sind die Folgen auf diejenigen begrenzt, die direkt an der Transaktion, welche sie hervorbringen, teilnehmen. In anderen Fällen gehen sie weit über die unmittelbar mit ihrer Hervorbringung Befaßten hinaus. Zwei Arten von Interessen und von Maßnahmen zur Regulierung der Handlungen werden also in Hinblick auf die Folgen erzeugt“ (Dewey 2001 [1927], 43). Auch für Dewey liegt in dieser Unterscheidung der Keim der Unterscheidung zwischen privat und

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öffentlich, diese aber entspricht in seinen Augen ausdrücklich nicht der Unterscheidung zwischen Individuellem und Sozialem (Dewey 2001 [1927], 27): „Es sind immer noch Individuen, die denken, wünschen und Zwecke setzen, aber was sie denken, ist die Folge ihres Verhaltens gegenüber dem Verhalten anderer und des Verhaltens anderer gegenüber ihnen“ (Dewey 2001 [1927], 35). Indem Dewey nicht nur die einseitig individualistische Position, sondern auch ihre naturalistischen Voraussetzungen verwirft, konzipiert er Individualität, anders als Mill (s. Kap. V.30), intersubjektiv: „Die Frage, wie Individuen dazu kommen, assoziiert zu sein, ist sinnlos. Sie existieren und operieren in Assoziation“ (Dewey 2001 [1927], 34–35) und: „Der Mensch ist also nicht nur de facto assoziiert, sondern er wird zu einem gesellschaftlichen Tier in der Fasson seiner Ideen, Gefühle und seines bewußten Verhaltens“ (Dewey 2001 [1927], 36; Herv. i. O.). Noch deutlicher wird das, wenn Dewey feststellt, dass „it is through association that man has acquired his individuality and it is through association that he exercises it. The theory which sets the individual over against the society, of necessity contradicts itself“ (zit. nach Westbrook 1993, 44). Auch bei Dewey folgt daraus ein positives Verständnis von Freiheit. In den Outlines of a Critical Theory of Ethics hält er fest: „[O]nly the good man, the man who is truly realizing his individuality, is free, in the positive sense of that word […]. The end of desire is activity; and it is only in fullness and unity of activity that freedom is found“ (Dewey 1975 [1891], 344); Demokratie als „eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 2011 [1916], 121) ist dafür die Voraussetzung. Ein rein negatives Freiheitsverständnis hält Dewey in der Konsequenz für verkürzt: „Other aspects of freedom, as the negative and the potential, are simply means instrumental to the realization of individuality, and when not employed toward this, their true end, they become methods of enslaving the agent“ (Dewey 1975 [1891], 344; vgl. auch Dewey 2008 [1922], 209–215).

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Mill im sozial(-ökonomisch)en Liberalismus Während die New Liberals und John Dewey den individualistischen Liberalismus in Anschluss an Mill vollends überwinden wollen und die Freiheit um eine positive Dimension erweitern, schließt Rawls an Mills Bemühen an, den gleichen individuellen Freiheitsrechten durch die Korrektur ihrer, auch in seinen Augen, negativen Effekte zur Durchsetzung zu verhelfen. Er folgt Mill in seiner grundlegenden (negativen) Konzeption der Freiheit, hält aber Mills Begründung der Freiheit für überholt; dabei führt die gewandelte Begründung zuletzt auch zu einem von Mills komplexer Konzeption negativer Freiheit abweichenden Vorschlag – in Form einer Ergänzung der Garantie der negativen Freiheitsrechte durch das Differenzprinzip. Rawls bezeichnet die eigene Position als „liberalen Sozialismus“ und betont eine „große inhaltliche Nähe“ zwischen Mills Prinzipien der politischen und sozialen Gerechtigkeit und seinen eigenen Gerechtigkeitsprinzipien, wie er sie in Eine Theorie der Gerechtigkeit (1979; engl. 1971), entwickelt: „Die Nähe geht meines Erachtens so weit, daß wir, was unsere jetzigen Zwecke betrifft, ihren wesentlichen Gehalt als ungefähr gleich ansehen dürfen“ (Rawls 1979, 388/389), aber er hält Mills utilitaristische Auffassung bzw. in erster Linie die „ganz spezifische[.] psychologische[.] Theorie des Menschen“, von der Mills Auffassung abhänge, nicht gleichermaßen für geeignet, die Werte der Gerechtigkeit und Freiheit zu begründen. Gilt Mills utilitaristische Theorie Rawls auch nicht als Form „der strengen klassischen Lehre“, sieht er doch seine Theorie der Gerechtigkeit als „Alternative zum utilitaristischen Denken im allgemeinen und damit zu allen seinen Schattierungen“ (Rawls 1979, 40); das – und das gilt in letzter Konsequenz auch für Mill, insofern er eine teleologische Theorie vertritt (Rawls 2008, 453), in der „das Gute unabhängig vom Rechten definiert wird“ (Rawls 1979, 43) – in Rawls Augen keine überzeugende Antwort bereithält, „warum die Verletzung der Freiheit einiger

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weniger nicht durch das größere Wohl vieler anderer gutgemacht werden könnte“ (Rawls 1979, 44; vgl. auch 239/240). Seine eigene Konzeption gründet in Abgrenzung zu Mill auf einer „normative[n] Konzeption der Person und der Gesellschaft“, diese „greift nicht auf biologische oder psychologische Merkmale zurück, sondern auf unser moralisches und politisches Denken und die entsprechende Praxis“ (Rawls 1979, 392, FN 7). Klingt diese Kritik oberflächlich betrachtet derjenigen Deweys verwandt, ist die Konsequenz doch eine völlig andere: Rawls verwirft weder den individualistischen Ausgangspunkt noch die Annahme vernünftiger, universalisierbarer Normen. Auch Rawls geht zwar von einer „soziale[n] Natur des Menschen“ aus, die sich „am besten als Gegensatz zur privaten Gesellschaft“ zeige (Rawls 1979, 567) und rekurriert in diesem Zusammenhang ebenfalls explizit auf Mills Darstellung des Menschen als soziales Wesen (Rawls 1979, 545); Individualität aber ist bei Rawls nicht intersubjektiv konzipiert: „Die Menschen haben gemeinsame letzte Ziele und betrachten ihre gemeinsamen Institutionen und Tätigkeiten als gut an sich. Sie brauchen einander als Partner in Lebensformen, die um ihrer selbst willen gewählt werden, und Erfolg und Freude der anderen sind notwendige Ergänzungen des eigenen Wohls“ (Rawls 1979, 567, Herv. d. Verf.; vgl. Rawls 2002, 472). Der Einzelne kann nicht alle seine Fähigkeiten realisieren und schon gar nicht alle menschlichen Fähigkeiten insgesamt; er ist insofern nicht nur ein soziales, sondern auch „ein geschichtliches Wesen“ – nicht im Sinne der historischen Gewordenheit des Menschen, sondern insofern, „daß die Verwirklichung der Fähigkeiten der zu einer Zeit lebenden Menschen die Zusammenarbeit vieler Generationen (oder sogar Gesellschaften) über lange Zeit hinweg verlangt“ (Rawls 1979, 569). Entsprechend dieser die individualistische Position nur ergänzenden, nicht aber substantiell korrigierenden Funktion spielt die Annahme der sozialen Natur wie des geschichtlichen Wesens des Menschen in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit anders als bei Mill keine zen-

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trale Rolle für die Konzeption und Begründung der Freiheit. Sein im Ergebnis sozialer Liberalismus bzw. ‚liberaler Sozialismus‘ ist rationalistisch begründet. Als Politischer Liberalismus (2021; engl. 1993), mit Blick auf den Pluralismus unvereinbarer Weltanschauungen, ohne „daß die Zustimmung zu dieser politischen Konzeption […] die Zustimmung zu einer umfassenden religiösen, philosophischen oder moralischen Lehre voraussetzt; vielmehr stellt sich die politische Konzeption selbst als vernünftige Konzeption ausschließlich für die Grundstruktur dar“ (Rawls 2021, 266). Doch auch wenn Rawls damit Änderungsbedarf am Zustandekommen seiner Gerechtigkeitsprinzipien einräumt und zu diesem Zweck die „Idee eines übergreifenden Konsenses vernünftiger und umfassender Lehren“ (Rawls 2021, 219) einführt, haben in seinen Augen doch die grundlegenden Ideale und Grundsätze der Konzeption der Gerechtigkeit Bestand (Rawls 2021, 46/47 FN 20). Die Grundsätze der Theorie der Gerechtigkeit aber basieren auf „der Theorie der vernünftigen Entscheidung“ (Rawls 1979, 31), die Konstruktion des Urzustandes setzt die Menschen als vernünftig voraus (Rawls 1979, 166), sodass die unter dem Schleier des Nichtwissens erarbeiteten Gerechtigkeitsprinzipien Ausdruck der vernünftigen Entscheidung der Vertragspartner sind. Während Rawls das Gute als das Vernünftige definiert, sodass in seiner „Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß der Begriff des Rechten dem des Guten vorgeordnet ist“ (Rawls 1979, 434), versteht Mill das Glück, wenn er es auch inhaltlich anders konzipiert als seine Vorgänger, nach wie vor als ein übergeordnetes Ziel (s. Kap. V.32, V.35). Dagegen wendet Rawls ein: „Die Unterordnung aller Ziele unter ein einziges verletzt zwar strenggenommen, nicht die Grundsätze der vernünftigen Entscheidung, kommt uns aber immer noch als unvernünftig oder eher als verrückt vor. Es entstellt den Menschen und unterwirft ihn einem seiner Ziele um der Systematik willen“ (Rawls 1979, 601). Aus dem Vorrang des Rechten vor dem Guten folgt notwendig auch ein abweichendes Verständnis hinsichtlich der Frage

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nach der Neutralität des Staates, die in Rawls’ Denken eine zentrale Rolle einnimmt, wohingegen politische Institutionen in Mills Augen – bei aller Neutralität mit Blick auf den Einsatz zwangsbewehrter Mittel – durchaus den Zweck verfolgen sollen, „to increase the sum of good qualities in the governed, collectively and individually“ (CW XIX, 390/391). Trotz der Kritik an der Begründung der Freiheit bei Mill bzw. entsprechend dem Umstand, dass Rawls’ Kritik hauptsächlich auf die klassischen Utilitaristen zielt (Rawls 1979, 51), ordnet er Mill in seiner Einführung in die Moralphilosophie (2002; engl. 2000) neben Kants Liberalismus und der eigenen Theorie der Gerechtigkeit dem „Liberalismus der Freiheit“ zu (Rawls 2002, 426, 471), der dadurch gekennzeichnet sei, „daß die Grund-Prinzipien dieser Theorie Prinzipien der politischen und bürgerlichen Freiheit sind, wobei diese Prinzipien Vorrang haben gegenüber anderen Grundsätzen, auf die man sich ebenfalls berufen kann“ (Rawls 2002, 426, FN3; Herv. i. O.) und den in seinen Augen die Kritik, eine liberale Gesellschaft existiere nur, um partikularen, privaten Zwecken der Einzelnen zu dienen, nicht treffe: „Natürlich gereicht es den Staatsbürgern zum Wohl, daß ihre Rechte und Freiheiten geachtet werden, doch deren Achtung ist etwas, was sie einander als gemeinsamen Zweck ihrer republikanischen Regierungsform schulden“ (Rawls 2002, 471). In diesem Zusammenhang nimmt Rawls eine eindeutige Abgrenzung Mills vom Liberalismus der klassischen Utilitaristen – Rawls nennt Bentham, James Mill und Sidgwick –, dem „Liberalismus der Glückseligkeit“, vor: Dessen „Grundprinzip ist das des summativ auf alle Individuen bezogenen größten Glücks. Wenn er mit den liberalen Freiheiten im Einklang steht, ist er ein Liberalismus der Glückseligkeit; doch wenn er mit diesen Freiheiten nicht in Einklang steht, ist er überhaupt kein Liberalismus“ (Rawls 2002, 471); die Garantie der Grundfreiheiten hänge hier also anders als im ‚Liberalismus der Freiheit‘ letztlich vom Zufall ab. Was nach einer in der Gesamtschau der verschiedenen Schriften zumindest ambivalenten Einordnung Mills durch Rawls klingt, ist

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dem Umstand geschuldet, dass Rawls sich zwar Mills Grundverständnis der Freiheit verpflichtet fühlt – Mills politische und soziale Theorie enthält laut Rawls die Prinzipien eines modernen und umfassenden Liberalismus, die Prinzipien der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit – ihre Umsetzung in Mills Ausformulierung aber in letzter Konsequenz nicht für gewährleistet hält, da sie auf fehlerhaften Grundprinzipien der Psychologie und in der Folge einer unzureichenden moralischen Theorie beruht (Rawls 2008, 453). Doch hat die geänderte Grundlage Auswirkungen auch auf die Konzeption der genannten Prinzipien. So weicht Rawls mit seiner Gerechtigkeitskonzeption, genaugenommen mit dem Differenzprinzip, von dem von Mill Geforderten deutlich ab (Skorupski 2015, 200–202). Rawls schlägt damit zugleich einen anderen Weg der Garantie der gleichen Freiheit vor. Die Besonderheit seiner Konzeption liegt darin, dass er die Kritik an der negativen Freiheit aufgreift – „Als Beschränkung der Freiheit selbst zählt manchmal, die Unfähigkeit, von Rechten und Möglichkeiten Gebrauch zu machen“ –, ohne daraus eine positive Konzeption abzuleiten – „Ich möchte mich stattdessen auf den Standpunkt stellen, daß diese Umstände den Wert der Freiheit beeinflussen“ – und trotzdem darauf zielt, die „Versöhnung von Freiheit und Gleichheit“ zu ermöglichen: „Doch der Ausgleich eines geringeren Wertes der Freiheit ist etwas anderes als ein Ausgleich für ungleiche Freiheit. Nimmt man die beiden Grundsätze zusammen, so ist die Grundstruktur so zu gestalten, daß der Wert des gesamten Systems der Freiheiten, das für alle da ist, für die am wenigsten Begünstigten möglichst groß wird. Das ist das Ziel der sozialen Gerechtigkeit“ (Rawls 1979, 232/233; Herv. d. Verf.). Rawls integriert mit dem „Wert der Freiheit“ die Garantie der positiven (sozioökonomischen) Voraussetzungen der gleichen Freiheit in seine Freiheitskonzeption, ohne dass daraus gleichermaßen substantielle Einschränkungen für die negative Freiheit folgen wie im Falle einer positiven Freiheitskonzeption, weil die negativen Freiheitsrechte in Form des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes lexikalischen Vorrang besitzen.

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Mill im klassisch(-moralisch)en Liberalismus Rawls trifft insofern die Kritik des klassisch­ (-moralisch)en Liberalismus, die besonders wirkmächtig von Isaiah Berlin in „Zwei Freiheitsbegriffe“ (2006a [1958]) formuliert wurde, weniger als die Vertreter eines sozial(-moralisch)en Liberalismus. Den Vertretern eines klassischen Liberalismus geht es, anders als den sozialliberalen Rezipienten, die auf unterschiedliche Weise die sozial-moralische oder -ökonomische Erweiterung der klassischen Lehre und damit des Konzepts gleicher Freiheit betreiben und Mill in der von ihm begonnenen Überwindung des abstrakten Individualismus bzw. der negativen Folgen einer rein individualistisch verstandenen Freiheit zu vollenden trachten, gerade um die Zurückdrängung dieser Aspekte des Mill’schen Denkens. Im Mittelpunkt steht dabei, entsprechend dieser Intention, nicht die Überwindung der individualistischen Position oder die Korrektur ihrer Folgen, sondern die Frage nach der ‚richtigen‘ Konzeption der individualistischen Position. So sehen Berlin und Hayek gleichermaßen die rationalistischen Elemente bei Mill als Gefahr für das klassisch liberale Freiheitsverständnis. Anders als Hayek betont Berlin aber die in seinen Augen anschlussfähigen Aspekte des Mill’schen Liberalismus und versucht ausgehend von Mill über Mill hin­aus und in gewisser Hinsicht auch gegen ihn eine Erneuerung des klassischen Liberalismus auf post-romantischer Grundlage. Auch Berlin sieht Mill als Kipppunkt – als Begründer des modernen Liberalismus (Berlin 2006b, 257), in dessen Denken die Gefahr einer Verfälschung der liberalen Lehre, aber zugleich die Chance ihrer Erneuerung aufscheint. Die Gefahr liegt für Berlin in der im Rationalismus angelegten Erweiterung des Konzepts der Freiheit um eine positive Dimension, die Chance in der Erneuerung der empirischen Grundlage des Liberalismus durch die Integration (post-) romantischer Elemente. Berlin folgt Mills historistischer Infragestellung des abstrakten Individualismus durch romantische Einflüsse, radikalisiert die individualistische Position je-

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doch durch die Zurückweisung einer rationalistischen Vorstellung der menschlichen Natur (und damit auch Mills Annahme der sozialen Natur des Menschen). Den Ausgangspunkt von Berlins Einschätzung Mills bildet die Annahme, dass Mill zwei Ideen bzw. zwei Freiheitsverständnisse vermischt habe: „Die eine besagt, daß jeglicher Zwang, insofern er menschliche Strebungen vereitelt, schlecht ist […]. Das ist die ‚negative‘ Konzeption der Freiheit in ihrer klassischen Form. Die andere Idee besagt, daß Menschen versuchen sollen, die Wahrheit zu entdecken oder einen bestimmten Charakter zu entwickeln, der Mill besonders zusagt – kritisch, originell, einfallsreich, selbstständig, unangepaßt bis zur Exzentrik usw. –, und daß es nur in freiheitlichen Verhältnissen möglich sei, die Wahrheit zu entdecken und einen solchen Charakter zu entwickeln“ (Berlin 2006a, 208). Berlin sieht Mill grundsätzlich als einen jener Liberalen, die Freiheit als Nichteinmischung verstehen, und damit als einen wichtigen Verfechter der negativen Freiheit (Berlin 2006a, 206/207) – deren Forderungen gleichwohl aus einem „individualistischen und durchaus umstrittenen Menschenbild“ erwachsen (Berlin 2006a, 208), das Berlin selbst zu überwinden trachtet. Doch er kritisiert zugleich Mills ‚Vorstellung eines bestimmten Charakters‘, sprich die Ansätze eines positiven Freiheitsideals, das in Konflikt zur negativen Freiheit gerät und das in der Konsequenz auf politischer Ebene zu einer Verknüpfung von negativer Freiheit und Selbstregierung führt – wenn auch nicht bei Mill. Kurz: Berlin beobachtet bei Mill die Tendenz zu einem positiven individuellen (nicht aber positiven politischen) Freiheitsverständnis, die es zum Zweck der Verteidigung negativer Freiheitsrechte zurückzudrängen gilt. Das Nebeneinander von Vielfalt und idealer Perfektion der menschlichen Natur in Mills Denken wurde auch von anderen Autoren kritisiert. So beschreibt John Gray in Two Faces of Liberalism Mills Ideal der persönlichen Entwicklung als zwischen zwei Philosophien gefangen: „Mill spent much of his life trying to reconcile his Enlightenment project of universal

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civilization with his post-Romantic suspicion that it endangered freedom and diversity“ (Gray 2000, 29). Gray sieht einen prinzipiellen Konflikt zwischen dem von Mill übernommenen Glauben der Aufklärung an eine universelle vernünftige Moral und seiner Forderung der Verschiedenheit der Lebensformen: „Mill favoured variety in forms of life; but he never doubted that the best life was the examined life – in modern terms, the life of autonomous individuals“ (Gray 2000, 61). Berlin teil diese Einschätzung, wenn er in „John Stuart Mill und die Ziele des Lebens“ (2006b [1959]) festhält: „Mills Ideal ist nicht originell. Es mündet in den Versuch, Rationalismus und Romantik zu verschmelzen: es ist das Ziel Goethes und Wilhelm von Humboldts – der umfassende, spontane, vielseitige, furchtlose, freie und doch rationale, selbstbestimmte Charakter“ (Berlin 2006b, 286). Berlin fokussiert jedoch in seiner Rezeption auf die in seinen Augen anschlussfähigen Aspekte in Mills Denken: „Nicht das rationale Denken oder die Herrschaft über die Natur unterscheidet seiner Ansicht nach die Menschen von der übrigen Natur, sondern vor allem die Freiheit zu wählen und zu experimentieren; unter all seinen Gedanken ist es dieser, der ihm dauerhaften Ruhm eingetragen hat“ (Berlin 2006b, 293). Entsprechend versteht Berlin Mill nach wie vor als Empiristen, „das heißt, er war überzeugt, daß sich Wahrheiten rational nicht anders als durch Beobachtung begründen lassen“ (Berlin 2006b, 272). Mehr noch nimmt er an, dass Mill überzeugt gewesen sei, „auch wenn er dies, soweit ich sehe, nirgendwo ausdrücklich sagt – […], daß es letzte, durch Erfahrung nicht korrigierbare Wahrheiten nicht gibt, jedenfalls nicht […] in der Sphäre der Werturteile und allgemeinen Lebensanschauungen“ (Berlin 2006b, 276; vgl. auch 279). Damit macht Berlin Mill postmoderner als er ist, auch wenn er einschränkt: „Er hält Endgültigkeit für unmöglich und gibt zu verstehen, daß sie auch nicht wünschenswert sei. Er beweist dies nicht. Strenges Argumentieren war nicht seine Stärke“ (Berlin 2006b, 275; vgl. auch 267). Berlin rezipiert Mill als Verfechter der Vielfalt, der das einseitige Menschenbild seiner Vor-

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gänger verworfen habe: „Gerade weil […] Mills Auffassung vom Wesen des Menschen nicht auf der Idee der Wiederholung des immergleichen Musters beruht, sondern auf der Einsicht, daß das menschliche Leben stets im Zeichen von Unvollständigkeit, Selbstverwaltung, Neuheit und Offenheit steht, sind seine Worte auch heute noch lebendig und für unsere eigenen Probleme relevant“ (Berlin 2006b, 275). Mills On Liberty ist, so Berlin in Political Ideas in the Romantic Age, in dieser Hinsicht „the best of all modern defences of political freedom“ (Berlin 2014a, 202). In Anschluss an Mill formuliert Berlin: „‚Freedom‘ is not a word denoting a human end but a term for the absence of obstacles, in particular obstacles which result from human action, to the fulfilment of whatever ends men might pursue. And the struggle for freedom, like the fight for justice, is a struggle not for a positive goal but for conditions in which positive goals can be fulfilled – the clearing of a space which, without ends which are worth pursuing in themselves, remains a vacuum“ (Berlin 2014a, 209). Auch mit dieser Konzeption des durch die negative Freiheit zu schützenden, hinsichtlich der mit ihr verfolgten Ziele völlig kontingenten, Raums (‚Vakuums‘) geht Berlins Rezeption über Mill hinaus. In Mills Denken vereinen sich Berlin zufolge Gedanken der Aufklärung und Gegenaufklärung, aus deren Widerstreit Berlin auch sein Konzept des Wertepluralismus gewinnt, wobei er selbst stärker der Gegenaufklärung zuneigt und hier insbesondere an Vico und Herder anschließt (Berlin 2014b, 13). Berlin verwirft die Idee universeller menschlicher Eigenschaften als Grundlage für eine geteilte Vorstellung vom guten Leben: „For Berlin, selfhood is a matter of invention rather than of the discovery of an individual nature, and the self-creation that occurs in choice-making is not the embodiment of an essential identity“ (Gray 2013, 68). Berlin löst Mills individualistische Position von jeder rationalistischen Festlegung (und zugleich von der Erweiterung um eine soziale Dimension) und grundiert sie stattdessen historistisch (Berlin 2014a, 280–285). Berlin vertritt so verstanden einen post-romantisch radikalisierten morali-

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schen Individualismus, aus dem die Vorstellung eines Wertepluralismus resultiert, die Berlin nirgends systematisch entwickelt hat, sondern vielmehr aus der ideengeschichtlichen Analyse gewinnt: „Forms of life differ. Ends, moral principles, are many. […] What is clear is that values can clash – that is why civilisations are incompatible. They can be incompatible between cultures, or groups in the same culture, or between you and me“ (Berlin 2013, 12). Pluralismus ist gleichwohl für Berlin ausdrücklich nicht als Relativismus misszuverstehen: „I think these values are objective – that is to say, their nature, the pursuit of them, is part of what it is to be a human being, and this is an objective given. […] [F]or all human beings must have some common values or they cease to be human, and also some different values else they cease to differ, as in fact they do“ (Berlin 2014b, 12; Herv. d. Verf.). Berlins Eintreten für die negative Freiheit erklärt sich aus dieser Konzeption eines objektiven Wertepluralismus: „[H]e injects value-conflict into the idea of freedom itself“ (Gray 2013, 13). Anders als Rawls (der vor dem Hintergrund seiner Konzeption eines Pluralismus vernünftiger umfassender Lehren an der Möglichkeit eines übergreifenden Konsenses hinsichtlich einer gerechten, in seinem Verständnis egalitären Gesellschaftsstruktur festhält) sind Wertkonflikte für Berlin gerade nicht vernünftig auflösbar: „Some among the Great Goods cannot live together. That is a conceptual truth“ (Berlin 2013, 14). Entsprechend der skizzierten Abweichungen von Mills Position und infolge der Kritik der Vermischung verschiedener Denkrichtungen dient Mills Denken Berlin nicht nur als liberaler Ausgangspunkt seines „agonistic liberalism, a liberalism of conflict and unavoidable loss among rivalrous goods and evils“ (Gray 2013, 42), sondern zugleich als Warnung vor einer dem modernen Liberalismus innewohnenden – mit dem Rationalismus verbundenen – Gefahr: „Innerhalb dieses Ideen- und Werterahmens jedoch nimmt Mill […] für das, was in seinen Augen die tiefsten und dauerhaftestes Interessen der Menschen sind, mit Nachdruck Wahrheit in Anspruch. Obwohl er seine Gründe aus

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der Erfahrung und nicht aus irgendeinem apriorischen Wissen ableitet, gleichen die Thesen selbst doch sehr stark denen, die die traditionellen Verfechter der Naturrechtslehre unter Berufung auf metaphysische Gründe verteidigten“ (Berlin 2006b, 276). Der auch in Mills Denken erkennbare Rationalismus bildet für Berlin den Ausgangspunkt für die positive Freiheit. In der mit der Vernunft verbundenen Vorstellung des ‚wahren‘ Selbst und einer entsprechenden ‚höheren‘ Freiheit sieht er die Gefahr, „Menschen oder Gesellschaften im Namen und zum Wohle ihres ‚wirklichen‘ Selbst zu drangsalieren, zu unterdrücken, zu foltern“, in der Annahme, dass das wahre Ziel des Menschen identisch mit seiner Freiheit sein müsse (Berlin 2006a, 213). In Mills Denken findet sich hierfür gleichwohl nur eine Tendenz, er bleibt für Berlin ein Vertreter negativer Freiheit, was sich auch mit Blick auf Berlins Einordnung Mills hinsichtlich der positiven politischen Freiheit zeigt. Auf politischer Ebene äußert sich der Gegensatz zwischen Vertretern negativer und positiver Freiheit laut Berlin in zwei unvereinbaren Haltungen gegenüber der Staatsgewalt: „Jene wollen die Staatsgewalt als solche eindämmen. Diese wollen die Staatsgewalt selbst in die Hand bekommen“ (Berlin 2006a, 249). Für Berlin besteht „zwischen individueller Freiheit und demokratischer Selbstregierung kein notwendiger Zusammenhang“ und er beruft sich hier auf Mill: „Der Despot, der seinen Untertanen soviel Freiraum läßt, ist vielleicht ungerecht, vielleicht fördert er die gröbsten Formen von Ungleichheit und kümmert sich kaum um Ordnung, Tugend oder Wissenschaft; aber sofern er die Freiheit seiner Untertanen nicht antastet oder zumindest weniger einschränkt, als andere Herrschaftssysteme dies tun, genügt er Mills Bestimmungen“ (Berlin 2006a, 210). So richtig es ist, dass Mill negative Freiheit und Selbstgesetzgebung nicht als notwendig aufeinander verwiesen versteht, so ist seine Position doch differenzierter und nähert sich dem, was im republikanischen Diskurs als „third concept of liberty“ (Skinner 2002) verstanden wird: einem Konzept von Freiheit als „non-domination“ (Pettit 1999).

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Denn auch wenn Mill Demokratie eher als Regierung für das Volk als durch das Volk konzipiert, ist die vollumfängliche Garantie negativer Freiheit in seinen Augen nur in einer repräsentativen Demokratie möglich. Selbst ein guter Despot könnte Mills Bestimmungen niemals genügen: „The nation as a whole, and every individual composing it, are without any potenzial voice in their own destiny. They exercise no will in respect to their collective interests. All is decided for them by a will not their own, which it is legally a crime for them to disobey“ (CW XIX, 400). Ein guter Despot könnte zwar ein gewisses Maß an Freiheit garantieren, doch nur solange sich die öffentliche Meinung nicht gegen ihn richtet: „Is he to defer to the nation? If so, he is no longer a despot, but a constitutional king; an organ or first minister of the people, distinguished only by being irremovable. If not, he must […] put down opposition by his despotic power“ (CW XIX, 402). Der Zwang zur Unterwerfung unter den Willen anderer, sei es in individuellen oder sozialen Angelegenheiten, bedeutet für Mill eine Verletzung der Gerechtigkeit, Unfreiheit und Schaden an der nach Fortschritt strebenden menschlichen Natur (s. Kap. V.26). Insofern trifft nicht zu, was Berlin vermeintlich mit Mill konstatiert: „Die Antwort auf die Frage ›Wer regiert mich?‹ ist logisch wohlunterschieden von der Frage ›Wie weit engen Staat oder Regierung mich ein?‹“ (Berlin 2006a, 210). Berlin formuliert mit dem Hinweis auf die rationalistischen Elemente in Mills Denken eine klassisch liberale Kritik, doch sieht er Mill nicht primär als Abweichler von der reinen Lehre, vielmehr betont er diejenigen Elemente, die er für anschlussfähig hält für eine Neubegründung des klassischen Liberalismus und der rein negativ verstandenen Freiheit. Der Unterschied zu den Vertretern eines klassisch-ökonomischen Liberalismus äußert sich dabei nicht nur in der Einschätzung der Rolle von Harriet Taylor (s. Kap. II.6): „[O]bwohl Harriet Taylor von der Möglichkeit einer endgültigen Lösung aller gesellschaftlichen Mißstände durch eine einschneidende institutionelle Veränderung (für sie: durch den Sozialismus) fest überzeugt war, mochte Mill selbst sich mit der Vorstellung von

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einem klar erkennbaren Endziel nicht zufriedengeben“ (Berlin 2006b, 279), auch ist für Berlin völlig klar: „Mill war ein englischer Empirist, kein französischer Rationalist und auch kein deutscher Metaphysiker“ (Berlin 2006b, 280).

Mill im klassisch(-ökonomisch)en Liberalismus Den Vertretern des neoklassischen Liberalismus dagegen gilt Mill als Verfälscher der reinen liberalen Lehre, wobei sie diejenigen Elemente seiner Theorie, die sie als Abfall von der reinen Lehre verstehen, dem Einfluss Harriet Taylors (s. Kap. II.6) anlasten. Besonders zugespitzt hat das Ludwig von Mises formuliert: „John Stuart Mill ist schon ein Epigone des klassischen Liberalismus und, besonders in seinen späteren Jahren unter dem Einflusse seiner Frau, voll von schwächlichen Kompromissen. Er gleitet langsam in den Sozialismus über und ist der Urheber der gedankenlosen Vermengung liberaler und sozialistischer Ideen, die zum Niedergang des englischen Liberalismus und zur Erschütterung des englischen Volkswohlstandes führte“ (Mises 1927, 169). Der Unterschied zu Berlin hinsichtlich der Bewertung gründet nicht zuletzt im Fokus auf Mills ökonomische Schriften und dessen Hinwendung zum Sozialismus, für dessen Darstellung von Mises Mill durchaus würdigt (Mises 1927, 170). Mit Blick auf Mills Haltung zum Sozialismus differenzierter ist die Einordnung Mills durch von Mises Schüler Friedrich August von Hayek (Légé 2008, 202–203), der sich in zahlreichen Texten mit Mills Leben und Werk auseinandergesetzt hat (die 2005 in einem eigenen Band der Collected Works of F. A. Hayek [Bd. 16] gesammelt veröffentlicht wurden). Auch Hayek betont den Einfluss Harriet Taylors auf Mill, insbesondere was sozialistische Ideen betrifft (Hayek 2015b), und macht Mill, den „angeblich liberalen britischen Denker“ für eine „grundsätzliche[.] Konfusion“ verantwortlich: „In seinen ‚Prinzipien der politischen Ökonomie‘ schrieb Mill einen Satz, der die Grundlage für alle sozialistischen Ideen bildet: ‚Ist

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das Sozialprodukt erst einmal da, kann man damit machen, was man will‘“ (Hayek 1981, 38); trotzdem ordnet er Mill nicht dem sozialistischen Lager zu: „Mill indeed, while sympathizing with the ultimate aims of socialism, disagreed to the end with the concrete suggestions for the abolition of private property and particularly never ceased, […], ‚utterly [to] dissent from […] their declamations against competition‘“ (Hayek 2015a, 287). Hayeks Position ist nicht nur mit Blick auf Mills Haltung zum Sozialismus differenzierter, sondern mit Blick auf Mills Wirkung im Diskurs des politischen Liberalismus auch aufschlussreicher, weil er sich, wie er in Die Verfassung der Freiheit (2005 [1960]) einleitend festhält, durch die Probleme der Wirtschaftspolitik zu einer „umfassende[n] Neudarstellung der Grundprinzipien einer Philosophie der Freiheit“ veranlasst sah (Hayek 2005, 4). Wie Berlins so gründet auch Hayeks (wie das schon angeklungen ist) teils ambivalente Einordnung (Caldwell 2008) Mills in der Annahme, dass sich in Mills Denken zwei Traditionen vermischen: „Though he built on the foundation of a strong English tradition, the new structure that he erected upon it added more that derived from foreign than from native source“ (Hayek 2015a, 274). Die Unterscheidung einer englischen empirischen und einer kontinentalen rationalistischen liberalen Tradition ist zentral für Hayeks Liberalismus und auch für seinen Einschätzung Mills. Hayeks Ziel ist die Rückkehr zur reinen Lehre des Liberalismus, die er in der schottischen Moralphilosophie verkörpert sieht. Dabei wurde in seinen Augen die ursprüngliche Lehre infolge des Siegs der Bentham’schen Philosophical Radicals über die Whigs in England durch die Vermischung mit rationalistischen Elementen verfälscht (Hayek 2005, 70) – unter maßgeblicher Beteiligung John Stuart Mills. Das hindert ihn gleichwohl nicht daran, Mill immer wieder auch zustimmend zu zitieren (Légé 2008, 209). Die kritischen Passagen jedoch wiegen schwerer: Hayeks zentralen Kritikpunkt bildet die Umdeutung des Individualismus durch kontinentale Einflüsse. In „Wahrer und falscher Individualismus“ (1948) unterscheidet Hayek einen wahren anti-rationalistischen, evolutionä-

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ren von einem in seinen Augen falschen rationalistischen Individualismus: „Weil aber beide Theorien unter dem gleichen Namen bekannt geworden sind, und zum Teil weil die klassischen Nationalökonomen des neuzehnten Jahrhunderts und besonders John Stuart Mill und Herbert Spencer fast ebensosehr unter dem Einfluß der französischen und englischen Tradition standen, kam es dazu, daß allerlei Vorstellungen und Annahmen, heute als wesentliche Bestandteile seiner Lehre angesehen werden, die dem wahren Individualismus vollkommen fremd waren“ (Hayek 1948, 27). In Hayeks Augen hat der Umstand, dass Mill wie der von ihm beeinflusste spätere englische Liberalismus mindestens ebenso der kontinentalen wie der englischen Tradition angehören (Hayek 1948, 44), zu einem Abfall von der reinen Lehre und schlimmer noch: ihrer Verfälschung geführt. Weder der homo oeconomicus noch das laissez-faire seien ursprünglich Teil der britischen Überlieferung gewesen: „Der homo oeconomicus wurde neben vielem anderen, das eigentlich der rationalistischen nicht der evolutionären Überlieferung angehört, erst vom jüngeren Mill in die klassische Nationalökonomie eingeführt“ (Hayek 2005, 81). Auch der „Kultus einer besonderen und eigenartigen Individualität“ (s. Kap. V.30), „die in jeder Hinsicht das Ergebnis der bewußten Wahl des Einzelnen sein sollte“ (Hayek 1948, 41), der über den Einfluss von Goethe und Humboldt (s. Kap. II.5) auf Mills On Liberty gewirkt habe (Hayek 1948, 42), steht in Hayeks Augen einer erfolgreichen freien und wahrhaft individualistischen Gesellschaft im Wege. Nicht zuletzt sei nur „der Liberalismus englischer Prägung […] im allgemeinen der Zentralisierung, dem Nationalismus und dem Sozialismus feindlich gegenüber“ gestanden, „während der auf dem Kontinent vorherrschende Liberalismus alle drei Bewegungen begünstigte“ (Hayek 1948, 44). Erneuert und radikalisiert Berlin den moralischen Individualismus durch einen post-romantischen Empirismus, so restauriert und radikalisiert Hayek den ökonomischen Individualismus durch seinen ‚evolutionären Rationalismus‘, demzufolge die „Grundtatsache der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von einem

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Großteil dessen, worauf das Funktionieren einer Zivilisation beruht“ (Hayek 2005, 31; vgl. auch Hayek 2003, 15), nur die Annahme einer spontanen Entwicklung der Institutionen der Freiheit zulasse: „Obwohl die Freiheit kein Naturzustand ist, sondern ein Produkt der Zivilisation, ist sie nicht aus einem Plan entstanden“ (Hayek 2005, 68). Hatte Hayek zunächst eine rationalistische und eine anti-rationalistische, evolutionäre Position unterschieden, differenziert er diese Unterscheidung später in zwei „Kinds of Rationalism“ (1965; ausführlich in Recht, Gesetz und Freiheit, 2003 [1973, 1976, 1979]): den konstruktivistischen und den evolutionären Rationalismus. Der konstruktivistische Rationalismus/ rationale Konstruktivismus, den er mit Francis Bacon, Thomas Hobbes und vor allem René Descartes verbindet, „contended that all the useful human institutions were and ought to be the deliberate creation of conscious reason. […] It seems to me that the best name for this kind of naive rationalism is rationalist constructivism“ (Hayek 1965, 4). Dem setzt er die evolutionäre Betrachtungsweise eines David Hume und der schottischen Moralphilosophie, insbesondere Adam Smith entgegen, „who built up a true theory of society and of the role of reason in the growth of civilization“ (1965, 11), deren Grundannahme sei, „that even man’s capacity to think is not a natural endowment of the individual but a cultural heritage, something transmitted not biologically but through example and teaching-mainly through, and implicit in, the teaching of language“ (Hayek 1965, 4). Von seinem eigenen, auf diese Tradition aufbauenden Verständnis der Evolution grenzt Hayek die Auffassung ab, „die Evolutionstheorie bestehe aus ‚Entwicklungsgesetzen‘“ (Hayek 2003, 25): „Die angeblich durch Beobachtung gewonnenen, vermeintlichen Gesetze genereller Evolution haben in Wirklichkeit nichts zu tun mit der echten Evolutionstheorie, die den Prozeß erklärt. Sie entstammen völlig anders gearteten Vorstellungen des Historizismus eines Comte, Hegel und Marx und deren ganzheitlicher Beobachtung und postulieren als völlig rätselhafte Notwendigkeit, daß die Evolution

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einen gewissen vorherbestimmten Verlauf nehmen müsse“ (2003, 26). Gleichwohl Hayek darauf hinweist, dass das Ausmaß, in dem Sprache „determines our whole manner of thinking and our view and interpretation of the world is probably much greater than we are yet aware of“ (Hayek 1965, 4) und damit eine erkenntniskritische Position im Sinne des linguistic turn formuliert, ist doch auch in Hayeks Verständnis der Evolution eine ebenso rätselhafte Zwangsläufigkeit enthalten, die dem Ungeplanten einen normativen Vorzug einräumt und so den Status quo als Produkt der beschriebenen Entwicklung naturalisiert. Die „Zwillingsbegriffe Evolution und spontane Bildung einer Ordnung“ (2003, 25) bilden die Grundlage für Hayeks politischen Liberalismus. Anders als der rationalistische Individualismus teilt in Hayeks Augen „der wahre Individualismus nicht die egalitären Tendenzen der Gegenwart“ (Hayek 1948, 46). Insbesondere polemisiert Hayek gegen die Berufung der (konstruktivistisch-)rationalistischen Auffassung auf den Begriff ‚sozial‘, weil „die Berufung auf das ‚Soziale‘ in Wirklichkeit die Forderung enthält, daß der individuelle Verstand und nicht die von der Gesellschaft entwickelten Regeln die Handlungen der Einzelnen leiten soll“, wohingegen Hayeks sozial in dem Sinn versteht, „daß die Regeln das Ergebnis des unpersönlichen gesellschaftlichen Prozesses sind“ (Hayek 2005, 87). Entsprechend hält Hayek den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ im Verständnis einer austeilenden Gerechtigkeit, wie ihn Mill verwendet, ohne zu bemerken, dass diese Vorstellung „geradewegs in den vollen Sozialismus führt“, für inhaltlos (Hayek 2003, 214/215) bzw. in einer marktwirtschaftlichen Ordnung „völlig sinnlos“ (Hayek 1981, 38). Für Hayek sind materielle und rechtliche Gleichheit nicht nur unvereinbar: „Die Gleichheit vor dem Gesetz, die die Freiheit fordert, führt zu materieller Ungleichheit“ (Hayek 2005, 112); er hält die Unvereinbarkeit, die aufgrund ihrer politischen Auswirkungen ein wichtiger Ausgangpunkt für Mills Denken und auch des Sozialliberalismus bildet, auch keineswegs für problematisch: „Ungleichheit ist nicht bedauerlich,

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sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig. […] Gerade die Unterschiede in der Entlohnung sind es, die den einzelnen dazu bringen, das zu tun, was das Sozialprodukt erst entstehen lässt. Durch Umverteilung lähmen wir diesen Signalapparat“ (Hayek 1981, 38). Folgerichtig beschränkt Hayek Freiheit auf „Abwesenheit von Zwang“ (Hayek 2005, 14), gleichwohl auf einer anderen erkenntnistheoretischen Grundlage als Berlin. In den (konstruktivistischen) Rationalisten sieht er „fast mit Notwendigkeit Feinde der Freiheit. Für sie bedeutet Freiheit Chaos“, wohingegen für die Empiristen (bzw. evolutionären Rationalisten) „der Wert der Freiheit hauptsächlich in der Gelegenheit für das Entstehen des Ungeplanten“ beruht und das Funktionieren einer freien Gesellschaft „auf der Existenz solch frei gewachsener Einrichtungen“ (Hayek 2005, 81; Herv. i. O.). Anders als Berlin sieht Hayek Mill letztlich nicht als Vertreter einer so verstandenen klassisch(-ökonomisch)en liberalen Vorstellung. Und in der Tat positioniert sich Mill mit Blick auf das „Wesen politischer Institutionen“ wie so oft in der Mitte bzw. sieht sich als Synthetisierer zweier ‚half truths‘, wenn er zu Beginn der Considerations eine mechanische und eine organische Auffassung unterscheidet und konstatiert, dass keine von beiden völlig im Recht sei, sodass es gelte zu versuchen, „to get down to what is at the root of each, and avail ourselves of the amount of truth which exists in either“ (CW XIX, 375). Berlin und Hayek, als Vertreter einer klassischen Spielart des moralischen bzw. ökonomischen (Neo)Liberalismus, teilen die Kritik der Vermischung verschiedener Einflüsse bei Mill ebenso wie die Ablehnung der rationalistischen und Bevorzugung eines empiristischen Liberalismus klassischer englischer Prägung mit dem Ziel der Verteidigung negativer Freiheit. Doch während Hayek Mill als Verfälscher der reinen Lehre, gewissermaßen als Anfang vom Ende des wahren Liberalismus, sieht, zu dem (zum wahren Liberalismus) es zurückzukehren gelte, ist für Berlin bei Mill nicht nur die Gefahr einer Fehlentwicklung eines rationalistischen Liberalismus angelegt, er bildet zugleich den

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Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung eines post-romantischen, empirischen Liberalismus.

Anfang oder Ende des wahren Liberalismus John Stuart Mills Wirkung auf den politischen Liberalismus liegt in der Wende zu einem neuen, modernen, sozialen Liberalismus. Darin sind sich alle hier exemplarisch angeführten Autoren einig, während sich anhand der Bewertung dieser Wende zwei zentrale Strömungen ausmachen lassen: ein (neo)klassischer und ein sozialer politischer Liberalismus, deren unterschiedlichen Vertreter sich noch einmal anhand ihrer stärker ökonomischen oder moralischen Ausrichtung differenzieren lassen, für die sich in Mills Denken in beiden Fällen Anschlüsse finden lassen – in seiner Hinwendung zum sozialistischen und seiner Hinwendung zum romantisch-idealistischen Denken. So ergibt sich aus seinem Denken ein Panorama der möglichen Wege bzw. (je nach Perspektive:) Irrwege eines politischen Liberalismus. Indem Mill zwischen zwei liberalen Traditionen steht und zwischen ihnen zu vermitteln versucht, bildet sein Denken den Ausgangspunkt für verschiedene Diskursstränge des politischen Liberalismus, mitsamt der Argumente für die Konzeption, Begründung und Realisierbarkeit gleicher Freiheit, die auch heute noch die Debatten um diesen zentralen liberalen Wert bestimmen.

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Feministischer Diskurs

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Ausgerechnet Phillips gegen den Liberalismus „Furcht ist das Wesen der liberalen Geisteshaltung, die unzertrennliche und (sexistisch ausgedrückt) nörgelnde Gefährtin jener scheinbar grenzenlosen Zuversicht, mit der liberale Philosophen ihre Welt veränderten“, schreibt 1991 Anne Phillips (1995, 47), die wichtigste zeitgenössische feministische Demokratietheoretikerin, und sie geht sogar noch weiter und wirft John Stuart Mill Schizophrenie und Ängste vor. Mills Unterstützung für das Frauenwahlrecht (s. Kap. V.41) kollidiere mit seiner Furcht vor allzu mächtigen Regierungen (vgl. Phillips 1995, 46–47). Damit äußert sich ausgerechnet jene Denkerin deutlich distanziert gegenüber dem liberalen Konzept, die im Gegensatz zu vielen anderen Theoretiker:innen der vergangenen anderthalb Jahrhunderte starke Bedenken gegenüber klassisch (radikal-)feministischen Topoi hegt. Phillips pathologisiert Mill und weist zugleich zentrale, nicht-liberale Maximen des (Gegenwarts-)Feminismus scharf zurück. Im berühmten Engendering Democracy argumentiert

B. Holland-Cunz (*)  Professorin für Politikwissenschaft i.R., JustusLiebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected]

sie aus republikanischer Perspektive und kritisiert sowohl die Partizipations-, Diskurs- und Versammlungsverliebtheit der Neuen Frauenbewegung als auch die körperlose, abstrakte Subjektkonstitution des Liberalismus. Folgen wir Phillips, so ließe sich pointiert sagen: Sowohl klassischer Feminismus als auch klassischer Liberalismus erfüllen ihre demokratischen Versprechen nicht ausreichend; ersterer erzeugt eine pseudo-basisdemokratische Teilhabe in Ungleichheit, letzterer eine pseudogleiche Teilhabe keineswegs aller. Zwei Partizipationsangebote verstehen und geben sich demokratisch beispielhaft, versagen aber an ihrem jeweils eigenen Anspruch – das feministische Partizipationsangebot mit einem unregulierten Zuviel, das liberale mit einem realen Zuwenig. Mit dem Spiegel-Prinzip der Repräsentation beansprucht Phillips zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig politiktheoretisch hindurchsteuern zu können. Phillips unterstellt dem Liberalismus zwei weitere eklatante Defizite: 1) dass er gegenüber seinen intellektuell anspruchsvollen, komplex und brillant argumentierenden Kritiker:innen eine langweilige, um nicht zu sagen ‚lahme‘, selbstzufriedene Position einnimmt; selten erscheint er im direkten Vergleich klug und glänzend und unterzieht sich oft nicht einmal der Mühe gekonnter Erwiderung (Phillips 1995, 237–238); 2) dass er eine minimalistische Konzeption vertritt, sich selbst damit zu wenig

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_45

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a­bverlangt und Partizipation „nur noch als Geste“ (Phillips 1995, 255) inszeniert. Das summarische Urteil ist rigoros: Der Liberalismus ist politiktheoretisch dürftiger Common Sense, politisch eine selbstzufriedene Konstruktion und einer seiner Gründerväter eine pathologisch furchtsame Gestalt. Die Konturierung der Furcht als „nörgelnde[r] Gefährtin“ naiver liberaler Zuversicht stellt eine theoretische Provokation dar. Dass dieses durchgängig unfreundliche Urteil ausgerechnet von jener Politischen Theoretikerin stammt, die gegenüber dem Feminismus ihrer eigenen Zeit massive Einwände formuliert, wirkt einigermaßen kurios und erklärungsbedürftig. Phillips’ Selbstpositionierung als republikanisch reicht hier nicht aus, ist doch ihr Spiegel-Prinzip der Repräsentation ideen- und realgeschichtlich näher an Mill als am politischen Denken und Handeln des Feminismus seit den 1970er Jahren. Als eine der renommiertesten Demokratietheoretiker:innen der gesamten Feminismus-Geschichte wäre die Erwartung an Phillips und ihre Haltung gegenüber dem Liberalismus und einem ihrer bedeutendsten Vertreter eine gänzlich andere. Die Gründe für den anti-liberalen Affekt – trotz erkennbarer Nähe zum Liberalismus – müssen folglich tiefer liegen; sie liegen in den Tiefenstrukturen des feministischen Denkens selbst. Phillips’ Haltung darf als exemplarisch gelten: Trotz Nähe zum liberalen Denken kann sie auf seine Abwertung offenbar nicht verzichten.

Die feministische Rezeption Mills im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: die Alte(n) Frauenbewegung(en) und ihr Kampf ums Frauenstimmrecht Diese außerordentlich distanzierte Haltung lässt sich konstant durch anderthalb Jahrhunderte feministischer Ideengeschichte verfolgen, wenngleich die Rezeption meist zweischneidig ausfällt. Während die Person Mill für seine emphatische Anerkennung der Freundin/Frau Harriet Taylor Mill (s. Kap. II.6) von Feministinnen geradezu verehrt wird, der politische Kampf fürs Frauenstimmrecht durchgängig den zen-

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tralen Referenzpunkt bildet, ist die Rezeption des Werks, selbst der explizit geschlechterpolitischen Teile, eher überschaubar. Noch seltener wird die unmittelbare Verbindung von Freiheitstheorie und Geschlechteranalyse gesehen (s. Kap. 27) und die Freiheitsschrift selbst sogar noch seltener politiktheoretisch behandelt. Im Zentrum stehen der Stimmrechtskämpfer und der bewunderte, historisch seltene männliche Feminist. So finden sich Verweise auf Mill meist in der Literatur zur Frauenbewegungsgeschichte (vor allem bezogen auf die Stimmrechtskämpfe) und zur Frauengeschichte im viktorianischen England. Möglicherweise kaschiert die personale Anerkennung sogar die feministische Distanz zum liberalen Denken. Zur Erklärung dieses spezifischen Rezeptions­ tableaus lassen sich einige begründete Vermutungen anstellen, die sowohl real- als auch ideengeschichtlich inspiriert sind. Die geschlechterpolitische Analyse, wie sie in The Subjection of Women (Mill/Taylor Mill/Taylor 1991; s. Kap. III.16) geradezu idealtypisch entfaltet wird, betont – darin Mary Wollstonecraft, Olympe de Gouges und anderen frühen Feministinnen ähnlich – die abstoßenden Seiten sozial weiblicher Lebenslagen unter patriarchaler Herrschaft; sklavische Verhältnisse können und wollen keine klugen, tugendhaften, würdevollen Personen hervorbringen. Die Schrift erscheint jedoch zu einer Zeit, in der sowohl Europäerinnen als auch US-Amerikanerinnen um die Anerkennung ihrer gleichen Rechte kämpfen bzw. in die Hochphase dieser Kämpfe eintreten. Politisch willkommener und strategisch brauchbarer dürften deshalb jene Motive sein, die die schöne frauliche und/oder mütterliche Besonderheit als wichtigen staatsbürgerlichen Beitrag anpreisen; sie werden vom gemäßigten Flügel der Alten Frauenbewegung Deutschlands propagiert (vgl. Holland-Cunz 2003). Noch ausschlaggebender für die verkürzte Rezeption dürfte sein, dass eine solche Argumentation dem liberalen Denken insgesamt systematisch fremd ist, offenbart sich hier doch eine Polarisierung von zugesprochenen Rechten versus natürlichen Verdiensten. Der Liberalismus geht von qua Menschsein kodifizierten

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Rechten aus, der differenzfeministische Diskurs konstituiert ein spezifisches, der Gesellschaft dienliches Frausein (sei es biologisch oder sozial), das kodifizierbare Rechte gleichsam erst in zweiter Linie legitimieren soll. Selbst wenn retrospektiv unterstellt werden könnte, dass es sich bei letzterem um propagandistische, modern ausgedrückt um Marketing-Argumente handelt, bleibt der systemische Unterschied erheblich – und das differenzfeministische Denken über lange Zeit stark. Dass das Rezeptionstableau für den Feminismus so disparat ausfällt, liegt nicht zuletzt an einem grundlegenden Missverständnis über Mills Freiheitstheorie, ein Missverständnis, das keineswegs nur in der feministischen Politischen Theorie vorherrscht. Mills Freiheitskonzept wird üblicherweise unter die negative Freiheit rubriziert und unterliegt damit potenziell dem verkürzten Verständnis, nur die Freiheit von staatlichen Übergriffen zu meinen. Frauke Höntzsch (2010; 2011) arbeitet jedoch heraus, dass Mills Freiheitsvorstellung eine komplexe negative Freiheit konturiert, die das individuelle Verfolgen des eigenen Lebensplans, frei von staatlichen und gesellschaftlich-konventionellen Einund Übergriffen ermöglicht, was sowohl zum persönlichen Glück als auch zum Wohl aller beiträgt. Erst die Vielfalt der individuellen Lebenspläne, und seien sie dem ersten Blick noch so fremd, sichert den Fortschritt der Menschheit. Ein solcher Begriff von Freiheit geht weit über ein individualistisches, rationalistisches, antistaatliches Abwehr-Konzept hinaus und verknüpft Freiheit, Glück, Gemeinwohl und das Gute Leben zu einem hoch komplexen politiktheoretischen Gebilde (aus anderem Blick vgl. Holland-Cunz 2012, 25–37). Im internationalen Standardwerk zum Feminismus in Europa, in Karen Offens European Feminisms (2000), spielen Mill und sein Liberalismus eine zugleich wichtige und marginale Rolle. Offen (2000, xxiii, 87, 97, 223, 375, 404) würdigt mehrfach den Feministen und Stimmrechtskämpfer, widmet dem Werk allerdings nur einen bescheidenen, wenn auch aufschlussreichen Abschnitt innerhalb der 554 Seiten (Offen 2000, 84, 138–143, 215). Offens

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Fokus liegt auf The Subjection of Women, die Freiheitsschrift bildet aber immerhin den Hintergrund (Offen 2000, 139), aus dem sich der Mill’sche Standpunkt zur Frauenfrage unmittelbar herleiten lässt. Zu Recht hebt Offen (2000, 139) hervor, dass die Thesen aus On Liberty (s. Kap. III.13) über die jeder Gesellschaft nützliche Entfaltung aller Individuen direkt auf die Einsetzung aller Frauenrechte und -möglichkeiten übertragen werden können. Offen dokumentiert den politischen Aufruhr, den The Subjection of Women über Europa hinaus provoziert: die zahlreichen Reprints und Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen, vielfach von Feministinnen besorgt, ebenso wie die zahlreichen antifeministischen Texte gegen die Schrift (Offen 2000, 139–143). In heutiger Terminologie kann sie als veritables Diskurs-Ereignis identifiziert werden (zur besonderen Bedeutung Mills für die Politisierung der englischen Frauen vgl. Karl 2009, 106–120). Auch die deutsche Übersetzerin, die Frauenrechtskämpferin und Autorin Jenny Hirsch, wird von Offen (2000, 139, 153) namentlich erwähnt. Angelika Schaser (2006, 50) macht darauf aufmerksam, dass der Text in der sofortigen Übersetzung durch Hirsch „wie ein Fanal“ auf die in Deutschland erst vereinzelten Stimmrechtsforderungen wirkt. Margrit Twellmann (1976, 207–208, vgl. auch 207–231) hingegen vermerkt die 1876 geäußerte Skepsis Hirschs gegenüber einer zeitnahen Forderung des Wahlrechts; für den Lette-Verein argumentiert Hirsch für eine zunächst notwendige Bewährung der Frauen durch Beruf und Bildung, d. h. durch Leistung und Reife – eine Haltung, die sich lange in weiten Teilen der deutschen Frauenbewegung hält. Hannelore Schröder wiederum, die The Subjection of Women 1976 nach fast einem Jahrhundert für die deutschsprachige Neue Frauenbewegung wieder zugänglich macht, berichtet (Offen vergleichbar) von enthusiastischer Zustimmung für das Werk, u. a. durch Elizabeth Cady Stanton, während Monarchisten, patriarchale Ideologen und antifeministische Konservative weltweit sich gegen Mills Wünsche nach Verlag, Übersetzung, Verbreitung, Gerechtigkeit für seine Mitautorinnen und Aufnahme des Textes

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in die gesammelten Werke vehement zur Wehr setzten (Schröder 1991, 196, 169–171, 175–179, 182, 184, 188–201); die Mill-Forschung hat sich bekanntlich sehr lange höchst frauenfeindlich verhalten. Schröders heute in Vergessenheit geratene doppelte ideengeschichtliche Leistung – erneute Publikation sowie zahlreiche Hinweise zur Biographie- und Werkgeschichte – soll hier ausdrücklich genannt werden; in eigenen gesellschaftstheoretischen Überlegungen findet Mill hingegen nur als „sehr vereinzelter solidarischer“ Mann neben Condorcet und Hippel Erwähnung (Schröder 1983, 459). Was an dieser Stelle vor jeder weiteren Befassung angemerkt werden muss, ist die Tatsache, dass selbst die überschaubare feministische Mill-Rezeption nicht immer sorgfältig mit der gemeinsamen Autor:innenschaft von Mill und Taylor Mill (sowie Taylor) umgeht. Dies dürfte nicht zuletzt der Eigentümlichkeit geschuldet sein, dass On Liberty zwar mit einer herzerwärmenden Widmung an die kurz zuvor gestorbene Ehefrau beginnt (CW XVIII, 216), aber nur unter seinem Namen publiziert wird, obgleich es eine gemeinsame Arbeit ist (vgl. zur Autor:innenschaft der Werke Mills ausführlich Narewski 2008). In den anderthalb folgenden Jahrhunderten folgen demnach jene, die Mills Freiheitstheorie dezidiert ihm allein als Person zurechnen, nur seinem eigenen Versäumnis; das wiederum spiegelt sich in der folgenden Darstellung. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt in der gesamten internationalen Frauenbewegungsforschung als Hochzeit des Engagements. Nicht immer bildet der Kampf ums Frauenwahlrecht (zunächst) das Zentrum, denn nicht wenige Feminist:innen der damaligen Zeit vertreten die Meinung, dass Frauenbildung und eigenständige Existenzsicherung die vorrangigen politischen Etappen sein sollten, selbst wenn nicht (wie s. o.) eine Art Bewährungskonzept vertreten wird. Mills visionäre Kraft wirkt inspirierend, aber auch ein wenig verwegen, zu radikal, unrealistisch. In Deutschland folgt (zunächst) vor allem Eine der radikalen Haltung. Die fulminanten Streitschriften Hedwig Dohms ähneln in Klar-

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heit und Radikalität dem Mill’schen Werk, wobei Dohms Argumentationsstil deutlich sarkastischer ist. Dohm (1982) ehrt Mill in ihrem 1874 erstmals erschienenen Text Die wissenschaftliche Emancipation der Frau mit zahlreichen außerordentlichen Beschreibungen. Dohm führt aus, wie sehr England bei seinem Tod erschüttert und von seinen Verdiensten zutiefst überzeugt ist, hebt Mills Größe und seinen immensen Einfluss auf die Zeitgenoss:innen hervor, verweist auf Mills Kritik der Tradition und der Tyrannei der Mehrheit, zitiert ausführlich aus Mills Würdigung seiner Frau und verteidigt ihn emphatisch dafür (Dohm 1982, 3–4, 39–40, 43–46). Wie außergewöhnlich Dohms Anerkennung für Mill ist, lässt sich leicht dokumentieren: „Eine ganze Nation, Mill’s politische Gegner nicht ausgeschlossen, errichtet in Ehrfurcht dem Todten ein Monument zum Gedächtniß aller Zeiten“, schreibt Dohm (1982, 4) mit einem ihr sonst fremden Pathos. Weitere Darstellungen der Stimmrechtskämpfe in England finden sich in der zwei Jahre später publizierten, aus zwei Essays bestehenden gleichermaßen berühmten Schrift Der Frauen Natur und Recht, in der Dohm (1986, 58–59, 65–67, 98, 101–103, 107–109, 118–119, 143–159) u. a. mit ausführlichen Schilderungen englischer Parlamentsdebatten auf argumentative Absurditäten der Stimmrechtsgegner aufmerksam macht. Wie Wahlrechtskämpferinnen zwischen die ideologischen Fronten geraten können bzw. gepresst werden, pointiert Dohm (1986, 120–121) folgendermaßen: „So weisen also die Conservativen die Frauen ab, weil sie zu liberal, die Liberalen, weil sie zu conservativ stimmen würden“. Dohm sieht den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Stimmrechtskämpfer und dem Freiheitstheoretiker vor allem in der unbestrittenen Größe seiner Persönlichkeit. Dohms Schriften sind von einem freien, wirklich liberalen Geist durchdrungen, der sich keineswegs in allen Äußerungen der damaligen Bewegung nachweisen lässt. So konzentriert sich der Lette-Verein, dessen Schriftführerin/Sekretärin Mills deutsche Übersetzerin für mehr als anderthalb Jahrzehnte ist, vor allem auf Bildungsund ­ Erwerbsarbeitsfragen; Hirsch selbst darf

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dennoch als Verfechterin des Stimmrechts gelten (vgl. Mikota 2008). Welche nicht ganz unproblematische Rolle der Lette-Verein spielt, lässt sich bei einer anderen bedeutenden Feministin jener Jahrzehnte nachlesen: bei Clara Zetkin. Im Rahmen ihrer höhnischen Kritik an der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands kommt Zetkin (1971, 54–55) auf den Verein zu sprechen und zitiert ausführlich aus einer Denkschrift Lettes, in der er sich radikal von Mill distanziert und sich gegen die Stimmrechtsforderung ausspricht. Mills Standpunkt dient Lette als Kontrastfolie für die Wohlanständigkeit „seines“ Vereins – und Zetkin das wiederum als beschämende Illustration der reaktionären Haltung der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung. Zetkin, die im Namen der proletarischen Frauenbewegung spricht, agitiert zeitlebens für den gemeinsamen politischen Kampf aller Arbeiter:innen, die Vergesellschaftung der Reproduktionssphäre, das Engagement von Frauen in der Öffentlichkeit, die Integration der Frauenfrage in die sozialistischen Arbeiterparteien, die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung (Zetkin 1892). Das Plädoyer für eine Vergesellschaftung der Haus-, Erziehungs- und Sorgearbeiten unterscheidet Zetkins Position eindeutig von jener der Mills, die die häusliche geschlechtliche Arbeitsteilung nicht grundlegend infrage stellen, sondern sie, gleichsam als gute Liberale, dem privaten Aushandlungsprozess der Partner:innen überantworten. An genau diesem Punkt erweist sich der spezifische Wert der sozialistischen Theorie für den Feminismus; bis auf die zunehmende/zeitweilige institutionelle/ staatliche Bereitstellung von Erziehungsarbeit bleibt die Vergesellschaftung der Reproduktion bis heute ein Desiderat. Die entsprechenden Entwürfe Charles Fouriers, Robert Owens oder August Bebels erscheinen nach wie vor als verrückte Visionen. Zetkin steht mit ihrer Sympathie für solche Utopien sehr weit von den Mills entfernt, teilt aber den Kampf ums Frauenwahlrecht. Auch außerhalb Deutschlands lassen sich in diesen Jahrzehnten beträchtliche Unterschiede im feministischen Verhältnis zu Mill und/oder

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zum Liberalismus beobachten. Die Haltung der zwei prominentesten angelsächsischen Feministinnen unterscheidet sich mehr als nur in Nuancen. Stantons tiefe Befriedigung nach der Lektüre von The Subjection of Women (vgl. Schröder 1991, 196) kontrastiert mit der Haltung Emmeline Pankhursts, der Suffragette schlechthin und Mills Landsfrau. Pankhurst, im Todesjahr von Taylor Mill in eine engagierte liberale Familie hineingeboren, verlässt Mills Liberale Partei und wird zu deren Gegnerin (Pankhurst 2016, 335, 336, 339, 57). In ihren Lebenserinnerungen erwähnt Pankhurst (2016, 14–15, 20–22) eingangs Mills parlamentarische Arbeit zugunsten des Frauenwahlrechts und stellt ihre eigene Politisierung in diesen Kontext, polemisiert jedoch wenige Seiten später gegen jede Form feministischen parteipolitischen Engagements. Pankhursts Weg zu einer Ikone frauenpolitischer Radikalität resultiert aus ihren enttäuschenden Erfahrungen mit Parteipolitik und spiegelt damit gleichsam vor der Zeit eine klassische Haltung der Neuen Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Pankhursts Radikalität (2016, 62) irritiert selbst ihre US-amerikanischen Mitstreiterinnen, die, wie Stanton (2013) in ihrem berühmten Text „Who Are Our Friends?“ von 1868, vielmehr der Würdigung der parlamentarischen Arbeit Mills als der Störung von Versammlungen verpflichtet sind. Dass Mill selbst in Fragen der Freiheit eine radikale Position (wenn auch nicht eine radikale Strategie) verficht, sollte an dieser Stelle kurz rekapituliert werden. Sein in On Liberty entfaltetes Freiheitsideal beinhaltet bekanntlich die These, dass stark abweichende, der Konvention feindselige bzw. der Mehrheit befremdliche Haltungen den eigentlichen Fortschritt der Menschheit hervorbringen und jede Gesellschaft somit vor allem den Eigenbrödler:innen, den Abweichler:innen, den gleichsam Ungehörigen zu Dank verpflichtet ist, selbst wenn sie sie persönlich ablehnt. Die eigensinnige Verfolgung des persönlichen Lebensplans findet nur seine Grenze in der Freiheit und Ungefährdetheit anderer; keine andere Schranke ist legitim und jede andere Schranke ist dem Gemeinwohl abträglich. Es lässt sich selbstverständlich nicht

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seriös darüber spekulieren, ob Mill Stanton oder Pankhurst den politischen Vorzug gegeben hätte. Angesichts Mills geschlechter- und demokratiepolitisch treffender Topoi ist es rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert, dass feministische Denkerinnen, die zu jener Zeit radikale Freiheitstheorien entwerfen, sich in gänzlich anderen Theoriekontexten als dem Liberalismus bewegen. Zwei bedeutende seien skizziert: Helene Stöcker und Emma Goldman. Obgleich ihre Freiheitsemphase ähnlich erscheint, gehen sie diametral unterschiedliche Wege und haben nur die Differenz zu Mill gemeinsam. Stöcker ist enthusiastisch an Nietzsche orientiert und konturiert ein Freiheitsideal, dass sich dem Werden, Wachsen, Entfalten widmet. Auf den ersten Blick klingt dies nach einer großen Nähe zu Mill, doch drückt Stöcker (1908, 14) Freiheit im Nietzscheanischen ‚Werde, die du bist‘ sowie mit überbordendem differenzfeministischen Pathos, aber an keiner Stelle im liberalen Begriffsregister aus. Mills nüchterner menschenrechtlicher, gleichheitstheoretischer, bedingt utilitaristischer Imperativ der Entfaltung passt nicht zu Stöckers überhöhendem Differenzfeminismus, der das Besondere, Natürliche, EmotionalHerausragende des ‚Weib‘-Seins feiert. Doch ist ebenso bemerkenswert, dass Stöcker zu den Radikalen der Alten Frauenbewegung zählt: Sexualreform, sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte, Pazifismus und Stimmrechtskampf gehören in ihr politisches Portfolio. Emma Goldmans Ferne zu Mill ist anders gelagert, ihr Freiheitspathos ist klassisch anarchistisch bzw. anarcha-feministisch. Im Foucault’schen Sinne argumentiert Goldman (1977) ‚staatsphobisch‘ und setzt wie Mill auf die freie Entfaltung des Individuums, doch zeichnet sie das Bild eines geradezu faschistischen Klassenstaates, der durch autoritären Drill, Entfachung von Konkurrenzkampf und Kastenordnung, durch Erniedrigung, Unterwerfung und Knechtschaft jeglichen Wunsch nach Befreiung rigoros bekämpft. Goldman (1977, 76, 72, 77– 78) setzt dem einen explizit positiven Begriff von ‚Freiheit zu‘ entgegen, der mit Kropotkin an die Macht gegenseitiger Hilfe glaubt und die „freie[.] Assoziation befreiter Individuen“

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zum Ziel erklärt. Obgleich nicht wenige Aussagen zur individuellen Entfaltung wie ein Anklang an Mills Liberalismus wirken, dominieren bei Goldman Klassenkampf- und Revolutionsrhetorik – und diese Diktion wirkt so fern wie jene Stöckers, nur gleichsam am anderen politiktheoretischen Pol. Für die Tradierung der Frauenbewegungsgeschichte in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende in Deutschland und darüber hinaus muss nicht zuletzt auf die politische und publizistische Arbeit von Helene Lange und Gertrud Bäumer verwiesen werden, die, selbst Teil der Bewegung, zugleich wesentlich an deren und ihrer eigenen Historisierung und Heroisierung beteiligt sind. Hier darf Mill als Denker nicht fehlen (vgl. Lange 1914, 109), doch ist der Kontext von Mütterlichkeitspathos als staatsbürgerlichem Ideal, einer Skepsis gegenüber menschenrechtlichen, gleichheitsfeministischen und radikalfeministischen Positionen und gar einem affirmativen Bezug auf Ruskin (s. u. Milletts Polarisierung Mill versus Ruskin) durchdrungen (vgl. Lange 1914, 108–124). Angelika Schaser (2019) weist nach, wie stark das Bild der Alten Frauenbewegung bis heute von der Konstruktion durch Lange/Bäumer dominiert ist. Im Anschluss an Schaser ließe sich die These wagen, dass dies auch die Mill-Rezeption beeinflusst haben könnte.

Die feministische Rezeption Mills in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: kollektive Erschöpfung und isolierte Erneuerung In der Frauenbewegungsforschung besteht ein nicht unerheblicher Konsens darüber, dass die Verausgabung in den Wahlrechtskämpfen, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nach und nach Erfolge zeitigen, erheblich ist und zu einer Art kollektiver politischer Erschöpfung bei den Protagonist:innen führt. Besonders prominent vertritt diese These Kate Millett zu Beginn der second wave. Millett (1985, 117) verweist auf die langen und bitteren Kämpfe um das Frauenwahlrecht, die dazu

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führen, dass die Frauenbewegung nach seiner Erringung zusammenbricht. Millett (1985, 117) nennt die Kämpfe gar „eine schwächende Energieverschwendung über 70 Jahre hinweg“ und hat noch weitere sarkastische Bemerkungen parat. Diese innerfeministische Kritik steht beispielhaft für Milletts Klarheit, die durch keine Held:innen-Verehrung getrübt wird, selbst wo es um eines der bedeutendsten Ziele im ersten feministischen Jahrhundert geht. Auch Schröder (1991, 197) vertritt die These von der Erschöpfung. Gisela Notz (2011, 58–59) diskutiert mit Bezug auf Sabine Hering die Abwanderung der Aktivistinnen in die Parteien und Parlamente, wo sie als „Neulinge“ unsicher, unwillkommen und marginalisiert sind. Das Wahlrecht erscheint deshalb als „Pyrrhussieg“ (Hering, zit. n. Notz 2011, 58). Und dem fragwürdigen Sieg folgt dann der Untergang – des Feminismus, des Liberalismus, der Demokratie und schließlich der Humanität und Zivilisation. Im ersten Standardwerk über die Frauenbewegung in Deutschland zwischen 1894 und 1933 spricht Richard J. Evans (1976, 235–275) sogar von deren bitterem Ende, von ihrem Scheitern in der Weimarer Republik, das aus dem Wechsel vom liberalen in den nationalen und reaktionären Diskurs resultiert. Angesichts des aktuellen frauenpolitischen Standes ist Evansʼ Arbeit heute noch bedeutsamer als vor fast einem halben Jahrhundert. Nach dem Zivilisationsbruch beginnt 1949 die feministische Ideengeschichte neu, allerdings in ganz ungewöhnlicher Form. Denn einsam in der Mitte zwischen dem alten und dem neuen Feminismus, ohne die Zusammenhänge einer existierenden Bewegung oder einer diskursiven Gemeinschaft feministischer Denkerinnen, steht jene Philosophin, die die Theorie der Frauenbewegung wie keine andere in über zwei Jahrhunderten geprägt hat: Simone de Beauvoir, die isolierte Erneuerin. Die Einleitung von Das andere Geschlecht, 1949 erschienen, beginnt mit einem kursorischen Gang durch die Ideengeschichte, in der geschlechterpolitische Mythen von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquin bis zu Hegel, Marx und Lenin vermerkt werden, um die Kontinui-

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tät von Bildern der Unterordnung zu dokumentieren (Beauvoir 1992, 9–26). In dieser Liste erfahren nur ganz wenige eine freundliche Erwähnung, unter ihnen Mill als leidenschaftlicher Verteidiger von Demokratie und Gerechtigkeit für Frauen (Beauvoir 1992, 19). In den knapp 1000 Seiten des Werks findet Mill nur an zwei weiteren Textstellen Berücksichtigung: erstens im Kontext der Geschichte der geschlechterpolitischen Kämpfe, in denen Mills Parlamentsrede für das Frauenstimmrecht als Startpunkt der englischen Organisierung vermerkt wird und zweitens im selben Kapitel in einer gemeinsamen Nennung mit so bedeutenden Streiter:innen für Frauenrechte wie Christine de Pizan und Condorcet (Beauvoir 1992, 169, 184). Dass sich die Freiheitstheoretikerin Beauvoir nur auf den Stimmrechtskämpfer Mill, nicht aber auf den Freiheitstheoretiker Mill bezieht, liegt vermutlich an der philosophischen Verortung Beauvoirs im Existenzialismus, dessen Relation zum klassischen Liberalismus diskussionsbedürftig ist. Beauvoirs Politische Anthropologie unterstellt, dass 1) jedes menschliche Wesen zwischen dem Bedürfnis nach Weltbezug, Entwurf, Zielverfolgung, Größe und Transzendenz einerseits und der Furcht vor diesen Herausforderungen der Freiheit andererseits hin und her gerissen ist und dass 2) die patriarchale Kon­ struktion in Geschichte und Gegenwart diese beiden menschlichen Strebungen den Geschlechtern jeweils getrennt zuweist. Dadurch entstehen die bedeutsame männlich geprägte Welt mit ihren realen oder vermeintlichen Helden und die Sphäre der sozial weiblichen Häuslichkeit und Immanenz mit ihren engstirnigen, furchtsamen Bewohnerinnen. Die Ambivalenzen, die jedes menschliche Wesen zwischen Freiheit und Freiheitsangst durchleben und bearbeiten muss bzw. müsste, lösen sich in die sozialen Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit einseitig auf. Nicht beide Geschlechter durchleben konflikthaft beides, sondern je eine Seite wird je einem Geschlecht zugeschrieben. Damit verfehlen beide ihren menschlichen Auftrag, wie ihn der Existenzialismus versteht. Obgleich sich das gesellschaftspolitische Programm, das sich aus diesem Auftrag unmittel-

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bar ergibt (Bildung, eigenständige Existenzsicherung, Engagement in der Welt, Selbstvergessenheit in bedeutenden Aufgaben), vom Mill’schen kaum unterscheidet, sind doch die Fundamente beider ‚Programme‘ deutlich verschieden. Dies liegt nicht nur am Verhältnis zur kapitalistischen Ökonomie, die im klassischen Liberalismus bekanntlich affirmativer ausfällt als im Existenzialismus zu Zeiten Beauvoirs. Vor allem die ontologische Tiefe lässt sich deutlich unterscheiden. Mills Liberalismus reicht weniger klar mitten in eine Wesensbestimmung des Menschseins hinein als das in Beauvoirs Existenzialismus der Fall ist, wenn auch bei beiden Theoretiker:innen Fragen der äußeren Hindernisse zum Kern ihrer Freiheitskonzeptionen gehören. Beide stellen sich strikt gegen eine Tyrannei gesellschaftlicher Normen, die die radikal eigenen, individuellen Lebenspläne behindern oder gar zerstören können; beide bestehen auf der Bedeutung intellektueller Freuden, die für das Werden der Person zentral sind; für beide spielt der gesellschaftliche Kontext und die unmittelbare persönliche Umgebung für die Realisierung der eigenen Möglichkeiten eine gewichtige Rolle. Der Imperativ der Entfaltung wird in den Werken beider zum zentralen Motiv; die unbeirrte Realisierung selbst gewählter Aufgaben in der Welt geht weit über ein schlichtes Da-Sein hinaus. Es wäre deshalb zu einfach, die Differenzen in erster Linie mit der berühmten Formel ‚negative versus positive Freiheit‘ zu deuten, spielen doch in beiden Positionen sowohl die Freiheit von Hindernissen als auch die Freiheit zu Handlungsoptionen eine Rolle, wenn sie auch unterschiedlich austariert werden: bei Mill eher mit dem Fokus auf dem Pol der negativen, bei Beauvoir stärker auf dem Pol der positiven Seite der Polarität. In dieser Unterschiedlichkeit liegt freilich ein nicht unbedeutender Punkt verborgen, schließt doch Mills Entfaltungsimperativ ausdrücklich, bewusst und fundamental selbstschädigendes, dummes und falsches Verhalten ein, welches bei Beauvoir ausdrücklich, bewusst und wortreich verworfen wird. Bei Mill gehört es zum Kern der Freiheit, auch das Schädliche gegen die eigene Person (nicht jedoch gegen an-

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dere) wählen zu dürfen, bei Beauvoir gehört genau dies in keiner Weise zum Kern der Freiheit, sondern bedeutet gerade deren absolute Verwerfung. Damit wird der entscheidende Gegensatz offensichtlich: Bei Beauvoir nehmen die inneren Hindernisse, d. h. die bewusst und unbewusst freiheits- und selbstschädigenden Aspekte, eine sehr viel weiter reichende Rolle ein als bei Mill, der, ideenhistorisch gesprochen, nur eine erste Ahnung von ihnen vermitteln kann (vgl. auch Holland-Cunz 2012). Wenn demnach auf den ersten flüchtigen Blick die emphatische Freiheitstheoretikerin Beauvoir und der emphatische Freiheitstheoretiker Mill sich zu ähneln scheinen, offenbart doch der tiefergehende Blick fundamentale Verschiedenheiten, die schließlich erklären können, warum Beauvoir Mill ‚nur‘ für seinen geschlechter- und demokratiepolitischen Kampf würdigen mag, die freiheitstheoretischen Aspekte des Mill’schen Denkens aber nirgendwo zur Geltung gebracht werden. Ohne dass dieser Umstand in der feministischen Politischen Theorie reflektiert worden wäre, steht (auch) Beauvoirs Umgang mit Mill damit symptomatisch für die feministische Theorietradition. Mill wird gewürdigt, ja geradezu geliebt für sein persönliches Einstehen für die Freiheit von Frauen, seine prinzipiellen Überlegungen zum Freiheitsbegriff und die Elemente seiner Konzeption verlieren sich jedoch im Ungefähren. Ohne das Bewusstsein des existenzialistischen bias rekurriert die feministische Theorie seit 1949 auf Beauvoir. Dies gilt selbst dort, wo sich Theoretiker:innen wie Judith Butler oder Iris Marion Young aus gegensätzlichen Per­ spektiven einer Theoretisierung des ‚Frau-Seins‘ in patriarchalen Gesellschaften widmen: Butlers Fokus ist die auch material gedachte Kon­ struktion, Youngs Fokus das Denken der sozialen (Gruppenbezogenen) Differenz. Salopp formuliert: An Beauvoir kommt keine vorbei, ihren existenzialistischen Kern legt aber kaum eine offen (außer in Texten expliziter BeauvoirExegese). Es lässt sich begründet vermuten, dass diese seltsame Tatsache an der zeitlichen Sonderstellung des Werks liegt, an seiner schillernden ideengeschichtlichen Ambivalenz, die

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durch Isolation und Erneuerung zugleich bestimmt ist. Wie stark Das andere Geschlecht vom existenzialistischen Freiheitsverstehen affiziert ist, bleibt theoretisch un(ter)bestimmt, da der Text bis heute wie ein politiktheoretischer Steinbruch für die jeweils eigene Konzeption gelesen wird.

Die Mill-Rezeption im Feminismus des second wave: der Liberalismus Einzelner Als die Frauenbewegung nach Jahrzehnten des Schweigens im Laufe der 1960er Jahre in vielen Ländern weltweit wieder auf die Bühne der politischen Öffentlichkeit tritt, sind alle schriftlichen Quellen und praktischen Erfahrungen zunächst verschüttet, und die ersten Frauen, die sich artikulieren, scheinen in einen noch nie da gewesenen geschlechterpolitischen Raum zu treten. Überall auf der Welt dauert es (zum Teil viele) Jahre, bis die eigenen Wurzeln wiederentdeckt werden und sich die Gewissheit durchsetzt, keineswegs die Ersten zu sein, die sich der sogenannten Frauenfrage widmen, die sich für FrauenMenschenrechte einsetzen, die die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen in patriarchalen Gesellschaften leidenschaftlich anprangern. Die großen Werke von Simone de Beauvoir, Friedrich Engels oder August Bebel gelangen erst nach und nach auf die Lektürelisten feministischer Aktivistinnen; Gründungsdokumente wie die Texte von Olympe de Gouges oder Mary Wollstonecraft oder jener aus Seneca Falls werden erst nach Jahren (wieder)entdeckt und weit verbreitet. Die feministische Unwissenheit über die eigenen Erfolge und Niederlagen, die durchlittenen Kämpfe und das schon einmal gründlich Durchdachte ist – retrospektiv betrachtet – erschütternd. Allenfalls eine Handvoll Frauen hat damals gewusst, dass ein Politischer Theoretiker namens Mill gelebt hat, für seine Freiheitstheorie berühmt wurde und sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht einsetzte. Diese prägende Wahrnehmung der Aktivistinnen bleibt absolut gültig, obgleich Historiker:innen die er-

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innerungspolitischen Lücken heute zum Teil in Zweifel ziehen. Unter den ersten Theoretikerinnen der zweiten Welle des Feminismus finden sich zunächst vor allem angelsächsische Autorinnen. Die Arbeiten von Betty Friedan, Kate Millett, Shulamith Firestone, Robin Morgan, Germaine Greer und Juliet Mitchell erscheinen zwischen 1963 und dem Beginn der 1970er Jahre und prägen die feministische Theorie und Praxis bis weit in die 1980er Jahre; ideengeschichtlich ließen sie sich als ‚Gründermütter‘ des neuen Feminismus rubrizieren. Unter ihnen treten zwei Frauen besonders hervor: Friedan als Mitbegründerin der größten und lange Zeit einzigen liberalen Frauenorganisation NOW (National Organization for Women) und Millett als Wissenschaftlerin und Aktivistin (scholar activist), die sich 1969 mit Mills Werk befasst, zu einem Zeitpunkt also, als er den allerwenigsten überhaupt bekannt gewesen sein dürfte. Friedan ist Proponentin des liberalen, Millett des radikalen Feminismus. Friedans (1984a) Analyse des „Problems ohne Namen“, das in The Feminine Mystique untersucht wird, gilt als erster Text und Weckruf der Neuen Frauenbewegung weltweit. Eindringlich beschreibt Friedan die leere, unausgefüllte, unglückliche, ja psychisch krank machende Lebensrealität gut ausgebildeter, weißer Mittelschichtsfrauen in den Suburbs der USA – Frauen, die ihre Talente nicht entfalten können/ wollen, sich stattdessen ausschließlich mit den Hausarbeitsdiensten an Ehemann und Kindern befassen, den Versprechen auf dieses vermeintlich erfüllende Leben Glauben schenken und dann selbst nicht verstehen, warum sie so verzweifelt sind. Damit beleuchtet Friedan (1984a, 13–57), den Mills vergleichbar, die beklagenswerte (häusliche) Lage von Frauen und macht sie zum Ausgangspunkt einer notwendigen gesellschaftlichen Veränderung. Wie fast genau ein Jahrhundert zuvor wird auch hier ein eklatantes Desinteresse von (jungen) Frauen an der Welt beschrieben, ein Desinteresse, das der ‚Weiblichkeitswahn‘ ideologisch erzeugt und das das Außerhalb des engen familiären Kreises und der sich stets wiederholenden Hausarbeit betrifft.

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Trotz der Differenz eines ganzen Jahrhunderts wirken Mill und Friedan gesellschaftsanalytisch und zeitdiagnostisch ähnlich. Im Rückblick auf die Befreiungskämpfe seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Friedan 1984a, 58–71), zu denen Friedan explizit auf die verschüttete Arbeit von Eleanor Flexner verweist (Friedan 1984a, 282–283), spielt der Engländer Mill jedoch keine Rolle, Robert Owen und dessen Sohn Robert Dale Owen am Rande schon (Friedan 1984a, 66, 62). Friedan zollt ihnen und dem gemeinsamen Frauenbefreiungskampf von Frauen und Männern großen Respekt. Sie zieht zudem eine kreative Parallele zwischen Stantons Antrieb, aufgrund ihrer Lage in Seneca Falls eine Bewegung ins Leben zu rufen, und den vielen selbst interviewten Frauen, die alle der Meinung anhängen, nur Ehe, Kinder und VorortHaus garantieren ein ausgefülltes Leben, und die sich aus dieser Gefangenheit nur politisch-praktisch befreien könnten. Friedans (1984a, 202–243) Politische Anthropologie bewegt sich nahe an der existenzialistischen; indem sie u. a. auf Abraham Maslows Humanistische Psychologie rekurriert, teilt Friedan klassische existenzialistische Topoi wie die Vorstellung menschlicher Bedürfnisse nach Freiheit, Weltbezug, Zielformulierung, Transzendenz und Zukunftsgestaltung. Friedan (1984a, 224–243) verdeutlicht, dass Frauen von diesen Grundlagen menschlicher Existenz ausgeschlossen werden und die gesellschaftliche Lage Angst vor der Freiheit, Bequemlichkeit und Konformität erzeugt. Politiktheoretisch gesehen steht Friedan Beauvoir näher als Mill. Politisch gesehen sieht das jedoch anders aus. Im „Epilog“ berichtet Friedan (Friedan 1984a, 265–281) von der Gründung von NOW, jener feministischen Plattform für den gemeinsamen Kampf von Frauen und Männern, um den politischen Zumutungen an beide Geschlechter mit Aktionen, Konferenzen, Gesetzesinitiativen etc. zu begegnen. In Auseinandersetzung mit den Radikalfeministinnen der Frauenbewegung, die Friedan durchgängig als „Männerhasserinnen“ verunglimpft, schält sich die Politikvorstellung der liberalen NOW heraus, die bis heute klassische Anliegen der Zweiten Welle bearbeitet: für

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Lohngleichheit und alle anderen Formen ökonomischer Gerechtigkeit, gegen Gewalt gegen Frauen, für reproduktive Rechte und Freiheiten, gegen Rassismus, für die ausdrückliche Verankerung der Gleichheit in der Verfassung (trotz des zwischenzeitlichen Scheiterns des Equal Rights Amendment [ERA]). Dass NOW für eine Geschlechtsrollenrevolution streitet, wie Friedan den Kampf trotz Distanzierung vom radikalfeministischen Flügel nennt, steht nicht im Widerspruch zum liberalen Programm. Die scharfe Kritik an den Radikalen wird in Friedans (1984b) fast 20 Jahre später publiziertem berühmt-berüchtigten The Second Stage bekräftigt und erweitert. Das Buch ist noch sehr viel deutlicher innerhalb der liberalen Tradition verankert und plädiert für die absolute Wahlfreiheit über den eigenen Lebensweg. Friedan propagiert die im Feminismus bis dato vernachlässigte Bedeutung der Familie für die meisten Frauen, unterstreicht den gesellschaftlichen Wert von Sorgearbeit und das Bedürfnis von jungen Männern nach weniger starren Geschlechterrollen, besteht auf der Eigenständigkeit von Frauen als Kern der Frauenbefreiung und setzt auf eine gemeinsame, von Frauen und Männern gleichermaßen ersehnte Veränderung. Das zentrale Bild lautet, dass der Weiblichkeitswahn durch den feministischen Wahn abgelöst worden sei, der genauso wenig den Bedürfnissen und Lebensplänen von Frauen entspricht wie die Vorort-Existenz der College-Absolventinnen der 1950er Jahre. Der liberale Grundton des Textes spricht sowohl aus den weitreichenden Revisionen feministischer Forderungen als auch aus der vehementen Kritik am antiliberalen Tenor und Habitus des Feminismus der 1970er Jahre. Mill selbst hätte den Ton nicht besser treffen können; Friedan wird dafür weltweit feindselig angegriffen. Die Mill-Rezeption ist bei Friedan demnach nur eine indirekte, wenn auch eine mächtige, da Friedan eine der prominentesten Protagonistinnen der Neuen Frauenbewegung und eine der wenigen ‚echten‘ Liberalen im alten und neuen Feminismus ist. Angesichts der weit verbreiteten Ahnungslosigkeit über die eigene Geschichte ist es außerordentlich bemerkenswert, dass im zwei-

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ten Klassiker der Zweiten Welle nicht nur die Entwicklung des Feminismus eine nicht unerhebliche Rolle spielt, sondern sogar Mill hier ausführlich Erwähnung findet. Im zweiten, dem historischen Teil von Sexual Politics entwirft und periodisiert Millett (1985, 87– 308) die Geschichte von „Sexualrevolution“ und „Gegenrevolution“ und widmet innerhalb dieser Prozessbeschreibung Mill einen ganzen Abschnitt, in dem sie ihn mit dem Konservativen John Ruskin direkt kontrastiert (Millett 1985, 123–148). Milletts Darstellung der Sexualrevolution würdigt den Mut und die klare Analyse der Ersten, die sich an die Seite der Frauen und ihrer Befreiung wagten, unter ihnen an führender Stelle Mill (Millett 1985, 94). In der Gegenüberstellung von Mills The Subjection of Women und Ruskins Of Queenʼs Gardens sieht Millett die ganze viktorianische Epoche exemplarisch gespiegelt, die auf der einen Seite der zwei feindlichen Lager mit rationalen Darlegungen die Verkrüppelung, Knechtschaft und Unterwerfung von Frauen analysiert und revolutionäre Thesen entfaltet, auf der anderen Seite dagegen mit einer „ritterlichen“ Haltung die skandalöse Lage von Frauen mythisch, zwanghaft, senil ideologisch überhöht und rechtfertigt (Millett 1985, 123–127). Millett beschreibt Mills Arbeit als „durchdachte und beredte Darstellung der wirklichen Lage“ (Millett 1985, 127) und vergleicht den Text mit On Liberty; beide Werke werden vergleichbar „kraftvoll vorgetragen“ und zeigen „dieselbe großartig kontrollierte humanistische Entrüstung wie alle seine Aussagen über Sklaverei und Knechtschaft“. Mills Kritik an der viktorianischen Ehe, der Ergänzungstheorie der Geschlechter, der Naturalisierung von Herrschaft, der Konstruktion weiblicher Sexualität und Erziehung, der „häusliche[n] Sklaverei“, die u. a. durch „liebende[.] Unterwerfung“ erzeugt werden kann, verbindet sich mit bewegenden Beobachtungen über Haustyrannei, schlechte Erziehung für junge Männer, feudale Elemente in Familie und Gesellschaft (Millett 1985, 108, 130, 132, 137, 138, 142, 143). Mills Würdigung durch Millett ist dabei nicht frei von Kritik; hier wird nicht schlicht der Vor-

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kämpfer des Frauenwahlrechts belobigt und sein Werk kaum gesehen; Mills geschlechterpolitische Überlegungen werden auf den freiheitstheoretischen Kontext bezogen. Im Vergleich zu Engels wird Mill an nicht wenigen Stellen kaum geschont (Millett 1985, 148–172). So vermerkt Millett in ihrer ideen- und realgeschichtlichen Befassung etwa die Vernachlässigung der Familie durch Mill, jedoch der Sozialpsychologie durch Engels (Millett 1985, 91). Die an manchen Stellen amüsant ironische, bis heute zeitgenössisch anmutende Analyse des Mill’schen Werks dringt bis zum Kern seiner geschlechterpolitischen Erkenntnisse vor, besonders in der Interpretation des Frauenbildes und der weiblichen Lebensrealität, die durch die sklavische Erziehung den unfreien sozialen Charakter von Frauen hervorbringt. Sklavinnen können eben keine freien Menschen sein, sie sind ungewollt von Kleinmütigkeit, Selbstsüchtigkeit, Doppelzüngigkeit und Falschheit affiziert – nicht aufgrund ihrer Biologie oder ihres ererbten Charakters, sondern einzig aufgrund der erfahrenen Unterwerfung (Millett 1985, 145). Das klassische Doppelmotiv aller bedeutenden feministischen Theorien seit den 1790er Jahren wird freigelegt: Unfreie, würdelose Menschen können nicht frei und würdevoll denken und handeln; aber Unterdrückung kompromittiert beide: Herrscher und Beherrschte; nur echte Freiheit erzeugt menschliche Würde (vgl. Holland-Cunz 2018). Die exemplarische Kontrastierung von Mill und Ruskin endet schließlich mit einer Konfrontation. „In Mills Stimme hört man den Vorläufer der Revolution; bei Ruskin die sorgfältig formulierte Reaktion. Um 1860 war Ruskins verwirrte Galanterie in aller Munde, aber um 1920 trug Mills klare Stimme den Sieg davon“ (Millett 1985, 147–148). Zweierlei muss hier festgehalten werden: 1) Milletts positives Mill-Bild ist weit von Phillipsʼ unfreundlicher Beschreibung entfernt; 2) Milletts positives Mill-Bild kontrastiert eigentümlich mit einem radikalfeministischen Furor, der von Friedan problematisiert und scharf angegriffen wird. Dabei ist es keineswegs so, dass Millett ‚nur‘ den Kämpfer fürs Frauenwahlrecht sieht, auch der Freiheitstheoretiker kommt analytisch zur

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Geltung. Mills Liberalismus findet Zustimmung bei einer radikalfeministischen Denkerin, der von einer liberalen Feministin, die ihn nicht ausdrücklich würdigt, Anti-Liberalismus vorgeworfen wird: ein verschlungener Pfad. Bezogen auf die (Wieder-)Entdeckung Mills müssen zwei weitere Namen in jener frühen Phase des second wave angeführt werden: Alice S. Rossi und, bereits genannt, Hannelore Schröder, denen das Verdienst zukommt, in einer Zeit des allgegenwärtigen Anti-Liberalismus den Mill’schen Feminismus im Englischen und Deutschen neu zugänglich zu machen. Erst Jahre später erscheinen politiktheoretische Überblicksdarstellungen aus feministischer Sicht, die Mill in den Kanon der Denker über Frauen – von Platon bis Marx – ordentlich einsortieren (vgl. stilbildend Okin 1992 [zuerst 1979] und Coole 1993 [zuerst 1988]). Je stärker sich der Feminismus in den folgenden Jahren professionalisiert und akademisiert, desto lauter werden die Stimmen gegen den Liberalismus. Kaum eine bedeutende Denkerin, die nicht zugleich eine Kritikerin des liberalen Paradigmas ist: Carole Pateman, Nancy Fraser, Iris Marion Young, Seyla Benhabib, Chantal Mouffe, Martha Nussbaum. Wie prägnant die mehr als skeptische Haltung feministischer Theoretiker:innen gegenüber dem Liberalismus hervortritt, zeigt sich, wie eingangs dargelegt, ausgerechnet an Phillips, die keineswegs seine schärfste Kritikerin ist. In der dann folgenden postmodernen Phase verschärft sich die Abwehr noch weiter und geht oft so weit, den Liberalismus bestenfalls unter die summarische Moderne-Kritik zu subsumieren und damit unsichtbar zu machen. Liberalismus und Moderne verschmelzen zum einschneidenden Problemfall für die Postmoderne. Aber noch vor der Dominanz der Postmoderne werfen feministische Denkerinnen der liberalen Theorie bereits Gravierendes vor: • ein atomistisches, rationales, oft unausgesprochen männlich gedachtes Subjekt ohne körperliche Lokalisierung und personale Bindung/Gebundenheit/Interdependenz/Interaktion;

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• einen summarischen Universalismus ohne Differenzerfahrungen; • die Abstraktheit des staatsbürgerlichen Ideals von Freiheit und formaler Gleichheit; • dazu seine Nicht-Verwirklichung aufgrund einer minimalistischen repräsentativ-demokratischen Partizipation; • die Leugnung von herrschaftlich differenten Gruppen-Verortungen und -Erfahrungen; • die Dominanz von Eigeninteressen vor Gemeinwohlorientierung und Gespräch; • die unumstößliche, trennscharfe Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit einschließlich der daraus folgenden Nichtberücksichtigung innerfamiliärer Herrschaftsstrukturen; • die Präferenz des Rechten vor dem Guten. Etwas grobschlächtig ließe sich festhalten, dass feministische Theorie vor dem linguistic turn Republikanismus und Kommunitarismus nähersteht als liberalen Anschauungen. Bezeichnenderweise sind sich in einer weitreichenden Liberalismus-Kritik so unterschiedliche Bewegungsflügel wie ökofeministische Differenzdenkerinnen, Anarcha-Feministinnen und sozialistische Feministinnen einig; (viel zu) lange Zeit scheinen nur Parteifrauen aller Couleur in fast allen Ländern sowie staatlich berufene femocrats die einzigen feministischen Liberalen zu sein. Von den gerade genannten bedeutenden Denkerinnen, die das liberale Paradigma kritisieren, seien zwei beispielhaft ausführlicher betrachtet; sie sind insofern bemerkenswert, als es sich um Theoretikerinnen handelt, die dem liberalen Denken vergleichsweise positiv gegenüberstehen, dessen aus feministischer Sicht offenkundige Defizite dennoch ausführlich darlegen. Patemans The Sexual Contract (1991) verhandelt die Schwächen des Liberalismus u. a. an John Rawls, würdigt aber Mill und Harriet Taylor im Kontext der Überlegungen zum Patriarchalismus, der Unvereinbarkeit von Freiheit, Vertrag und Sklaverei sowie ausführlich in der Kritik des Ehevertrags als einer Form des Sklavenvertrags (Pateman 1991, 36, 74– 75, 119–124, 160–163). Pateman äußert je-

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doch zugleich Kritik an Mills Verteidigung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung, die im Widerspruch zu seinem freiheitlichen Denken stehe (Pateman 1991, 162). Auch Nussbaum (1999a; 2002) fundiert ihre Liberalismus-Kritik häufig mit Rawls, bezieht sich zustimmend auf Mill, kritisiert den Liberalismus, propagiert aber ausdrücklich einen liberalen Feminismus (Nussbaum 2002, 7–13). Diese Position mag irritieren, steht Nussbaum, vor allem durch die gemeinsame Arbeit mit Amartya Sen, doch für eine Politische Theorie des Guten, für eine übergreifende, allgemeine Konzeption des guten Lebens jenseits aller kulturellen Differenzen (Nussbaum 1999a). Nussbaum widerspricht dennoch dezidiert einer Vorstellung, die Feminismus und Liberalismus als füreinander unpassend erklärt und insistiert im Gegenteil darauf, dass der liberale Kern, die „Gleichwertigkeit aller Menschen“, feministisch fundamental sei und der Liberalismus nur um das Geschlecht als eine weitere „moralisch belanglose[.] Eigenschaft[..]“ ergänzt werden müsse (Nussbaum 2002, 9). Geschlecht hätte in der liberalen Systematik schon immer mitgedacht werden müssen, doch der Natur-Rekurs habe das verhindert (Nussbaum 2002, 9). Mill sei diese „grundlegende Inkonsistenz der liberalen Tradition“ schon 1869 bewusst (Nussbaum 2002, 9–10). Den ideengeschichtlichen Dreiklang – ein Liberalismus für den Feminismus, feministische Korrekturen für den Liberalismus, die Bedeutung Mills – baut Nussbaum (2002, 15– 89) in „Die feministische Kritik des Liberalismus“ tiefgreifend aus. Sie startet mit der Beobachtung, dass sich Feministinnen weltweit bei ihren politischen Anliegen auf liberale Topoi beziehen, die feministische Theorie seit Alison Jaggar jedoch nahezu eine Unvereinbarkeit von Feminismus und Liberalismus proklamiert (Nussbaum 2002, 15–17). Nussbaum (Nussbaum 2002, 22–23) nennt in diesem Text konkret drei Einwände, die Feministinnen üblicherweise gegen den Liberalismus vorbringen: Er sei zu individualistisch, zu rationalistisch und sein Gleichheitsideal sei

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zu abstrakt; deshalb empfehlen sich Feministinnen gegenseitig eher eine Orientierung an Sozialismus oder Kommunitarismus. Mit vielfältigen Bezügen auf Mills Politische Theorie argumentiert Nussbaum (Nussbaum 2002, 23– 71) gegen diese drei falschen bzw. falsch verstandenen Auffassungen: Selbst Kant und Rawls unterstellen Zugehörigkeiten, und Feministinnen sollten das liberale Plädoyer für Autonomie und eigene Zwecke keinesfalls verwerfen; vorgebrachte Kritikpunkte zur Abstraktheit der Gleichheit lassen sich direkt in den liberalen Diskurs einbauen, während identitätspolitische Feministinnen jedoch die zentralen Grundlagen eines Konzepts vom Menschsein, seines Kerns, seiner Würde preisgeben – Grundlagen, die für feministische Politik unverzichtbar sind; die im Feminismus unterstellte scharfe Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl stimmt für die Gesamtheit der liberalen Tradition nicht, zudem anerkennen viele die kognitiven Aspekte im Fühlen (letzteres eine wichtige Nussbaum’sche Position), während Feministinnen aufgrund ihrer historischen Analysen auf echte Vernünftigkeit und nicht auf Gewohnheiten und vermeintlich Natürliches setzen sollten. Letztlich verdeutlicht Nussbaum kaum verhohlen, dass vielen feministischen Denkerinnen eine informierte Vorstellung der Ideengeschichte seit der Antike fehlt – eine korrekte Beobachtung. Diesen unerfreulichen Nachweis erbringt Nussbaum explizit mit ihren Mill-Verweisen; sie führt damit einen berühmten Feministen des 19. Jahrhunderts gegen zeitgenössische akademische Feministinnen ins Feld und formuliert auf diesem Weg eine subtile ideengeschichtliche Beschämung. Mills Argumentation wird insbesondere beim Individualismusvorwurf vorgebracht. Nussbaum (2002, 34–42) weist nach, dass und wie Mill den monarchischen Grundton des liberalen Familienverständnisses erkennt, seine antiliberale Haltung etwa in Bezug auf Vergewaltigung in der Ehe sowie die persönliche Unterordnung der Frauen unter ihre Ehemänner. Nussbaum belegt des Weiteren, dass sich Mill der Tatsache vollständig bewusst ist, dass all diese Aspekte nicht ein Zuviel, ­sondern

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im Gegenteil zu wenig Liberalismus implizieren, da viele Liberale Frauen gerade nicht ­individualistisch in den Blick nehmen, d. h. den Kern des Liberalismus gerade nicht konsequent (u. a. bezogen auf die innerfamiliäre Lage der Einzelnen) zu Ende denken. „Wird eine Gruppe oder Person in dieser Weise behandelt, so läuft das den tiefsten Instinkten der liberalen Tradition zuwider“ (Nussbaum 2002, 38). Mill ist demnach für Nussbaum 1) der veritable Gewährsmann für das theoretisch falsche und politisch fatale Liberalismus-Verständnis des gegenwärtigen Feminismus, der seine eigenen Quellen nicht (gut) kennt oder philosophisch missversteht und 2) der veritable Gewährsmann für eine im Kern bereits angelegte Erneuerungsmöglichkeit des Liberalismus durch den Feminismus. Mill ist dies nicht nur aufgrund seiner Grundüberzeugungen zu Familie und Individualismus; Nussbaum (2002, 57– 58) führt sogar Mills persönliche Erfahrungen mit seiner rigiden, die Vernunft vor Bindungen und Gefühlen privilegierenden Erziehung an, die ihn bekanntlich krank machte. So steht nicht nur das Werk, sondern sogar die Person für die vorgetragenen Argumente. Noch gehaltvoller konturiert Nussbaum ihre Position eines von Mill inspirierten Feminismus in einem späteren Text, in dem Mill sogar für einen herrschaftskritischen, nicht biologistischen, radikalen Differenzfeminismus und eine queerfeministische Normalisierungskritik in Anspruch genommen wird (Nussbaum 2010). Die ausdrückliche Koppelung des Liberalismus an feministische Erkenntnisse und des Feminismus an liberale Topoi, zumal verbunden mit einem expliziten Mill-Rekurs, findet sich in der Ideengeschichte höchst selten und wird außerdem höchst selten so argumentativ überzeugend entwickelt. Nussbaums LiberalismusText stammt aus dem Jahr 1999 und reicht damit weit in das erste Jahrzehnt des linguistic turn hinein. Im gleichen Jahr erscheint ein weiterer wichtiger Nussbaum-Text, der den neuen ‚Star‘ des Feminismus, Judith Butler, aufs Schärfste angreift, wie es seitdem nie wieder eine gewagt hat (Nussbaum 1999b).

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Die (Nicht-)Rezeption Mills im Feminismus seit den 1990er Jahren: der Anti-Liberalismus des linguistic turn und der Identitätspolitik Nussbaums (2002, 7–13) innovative Konturierung eines internationalistischen liberalen Feminismus und ihre Butler-Kritik können den postmodernen Siegeszug innerhalb des akademischen Feminismus nicht aufhalten. Seit dem Erscheinen von Butlers Gender Trouble (1991; engl. 1990) werden – im Laufe der 1990er Jahre kontinuierlich zunehmend – sämtliche liberalen Topoi auf die Liste einer vernichtenden Moderne-Kritik gesetzt: • Humanismus und Universalismus sind herrschaftliche Androzentrismen; • Rechte-Diskurs und Repräsentation implizieren falsche Unmittelbarkeit; • Subjekt-Konstitution und autonome Subjektivität sind geradezu phantasmatische Vorstellungen; • Wahrheit, Wissenschaft, Objektivität, Neutralität, Abstraktion, Vernunft und Einheit verkennen ihren totalisierenden Kern; • Materie hat keine vordiskursive Existenz; • ontologische, anthropologische, strukturalistische, materialistische und essentialistische Denkmuster und sogenannte große Erzählungen sind unbedingt als unterkomplex, ja geradezu als dumm und gefährlich zurückzuweisen. Unter der Hegemonie von kulturalistischen, relativistischen, konstruktivistischen und idealistischen Konzeptionen verschwindet das ohnehin nie stark ausgeprägte liberale Denken nun nahezu vollständig aus der feministischen Theorie – das gilt bis zum heutigen Tag. Kritiken und Einsprüche wie jene Nussbaums befeuern diesen Prozess sogar noch, dokumentieren sie scheinbar nicht etwa das Problematische der anti-liberalen Haltung, sondern jene der (oft nicht mal liberalen) Kritiker:innen. Im summarischen Vergleich der beiden ‚Kritiklisten‘ (die hier nur kursorisch skizziert

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werden) – Feminismus versus Liberalismus und Postmoderne versus Moderne – fallen einige fundamentale Gemeinsamkeiten auf. Vergleichbar scharf werden vor allem Universalismus, Rationalismus, Humanismus und Gleichheitspostulat attackiert, was angesichts der ideengeschichtlichen Nähe von modernem und liberalem Denken nicht verwunderlich ist, aber den radikalen Einschnitt der postmodernen Theorieposition in die klassisch feministischen Anliegen offenbart. Mit der Abwendung von der Moderne verbindet sich in der feministischen Theorie der kommenden Jahrzehnte jedoch nicht nur die vollständige Marginalisierung des Liberalismus, sondern ebenfalls die Marginalisierung der anderen bedeutenden Theorieinnovation des 19. Jahrhunderts: des gesamten (historisch-)materialistischen Denkraums vom Sozialismus bis zum Anarchismus. Mit, seit und nach Butler wird eine radikale Entmaterialisierung zum zentralen Kennzeichen dessen, was sich selbst als avancierter Feminismus versteht. So wenig verkörperte Existenz eine Rolle spielen darf, so wenig stehen ökonomische Ungleichheiten im Zentrum der Analyse. Doch definiert sich dieser Feminismus selbst ausdrücklich als ‚links‘, progressiv, widerständig, emanzipatorisch. Butlers berühmte Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit und in der Folge an der materialen Bedeutung des biologischen Geschlechts (sex) sowie an den die Gesellschaft durchdringenden Strukturen der Heteronormativität verbinden sich mit einer tiefgreifenden Kritik an den Vertretungs- und Repräsentationsansprüchen des Feminismus für das Subjekt ‚Frau‘. Materiale Realitäten werden gesellschaftstheoretisch irrelevant gegenüber diskursiven Bezeichnungsund Selbstbezeichnungspraktiken von Individuen und Kollektiven; ‚Natur‘ wird gegenüber Kultur zur abgeleiteten Kategorie; Vernunft und makrohistorische Denkformen werden mit dem Verdacht des Totalitären belegt. Der linguistic turn stellt eine fundamentale Wende im feministischen Denken dar, eine radikale Zurückweisung aller bisher für relevant erachteten Topoi; selbst der Ende der 2000er Jahre zeitweilig ausgerufene material turn ändert an der

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kulturalistischen Hegemonie nichts (vgl. Holland-Cunz 2014). Im Gegenteil schreitet der Formierungsprozess dieser Denkströmung in den 2010er Jahren weiter voran. Im Kontext und in der Nachfolge dessen, was sich 1990 in Gender Trouble artikuliert, wachsen weitere Theorieelemente zum und im Zentrum der sich akademisch etablierenden Gender Studies heran: Neue Rassismuskritiken, Postkolonialismus und Intersek­ tionalitätstheorien, Queer Studies und identitätspolitische Texte vereinigen sich zu einem Amalgam, in dem vielfältige Opferanalysen jenseits des Zweiten Geschlechts advokatorisch und/ oder selbst-betroffen thematisiert werden. Diese Äußerungen verstehen sich als im Feminismus bislang nicht gedachte, innovative Herrschaftskritiken, die durch Butler und ihre Epigon:innen erstmals zur Sprache gebracht werden. In dieser Sicht wird die feministische Ideengeschichte zweier Jahrhunderte zum Vorwort; die Erringung des Frauenstimmrechts, die liberale Tradition sowie die ohnehin kaum ausgeprägte Mill-Rezeption erscheinen bestenfalls als Prolegomena. Das dramatische (Nicht-)Verhältnis zum Liberalismus als real- und ideengeschichtlich einflussreichem Strang der demokratischen Moderne lässt sich im gesamten Werk Butlers (und in der Folge an deren gesamter Rezeption) nachweisen. Nicht nur in Gender Trouble, auch in allen anderen Werken Butlers (1993; 2001; 2003; 2009; 2016 als exemplarische Auswahl) sind die wesentlichen Referenzen meist dezidiert anti-liberal: Foucault und Nietzsche (durchgängig); Beauvoir und Wittig (anfangs); Hegel (durchgängig); Adorno (zeitweilig); Freud (abnehmend); Spivak und Irigaray (immer wieder); Arendt (zunehmend); Althusser (zeitweilig); Lévinas, Lacan, Derrida (relativ kon­ stant). Die Butler-Rezeption ist allerdings philosophisch weit weniger gebildet als Butler selbst; viele ihrer diversen Quellen kommen in der scientific community der Butlerianer:innen erst gar nicht vor und werden durch extensive Butler-Verweise substituiert. Dennoch ist auch Butlers theoretische Homogenität bemerkenswert. Selbst in jenem Text, der

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inhaltlich am eindeutigsten auf liberale Theoriefragen verweist, in Butlers Auseinandersetzung mit der Versammlungsfreiheit (2016), findet sich keine Diskussion der liberalen Theorietradition. Thema ist die Performativität und Prekarität des Erscheinens, des Erscheinungsraums, der Erscheinenden. Zwei kleine Mill-Verweise finden sich hingegen in Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen: 1) im Kontext einer Diskussion von medizinisch diagnostizierten Störungen der Geschlechtsidentität, individueller Wahlfreiheit und Autonomie über den eigenen Körper (Butler 2009, 145–146) und 2) als studentische Lektüre in einem autobiographischen Text über die Philosophie als akademische Disziplin (Butler 2009, 377). Beide randständigen Verweise sind anekdotisch und illustrativ und in keiner Weise kon­ stitutiv für den argumentativen Gang. Zu Beginn dieser ideengeschichtlich dramatischen Entwicklung seit 1990 gibt es noch einige wenige Einwände gegen die radikale Postmodernisierung der akademischen feministischen Theorie – besonders klar artikuliert von Seyla Benhabib, die eine Position für hoch problematisch hält, die sich des Subjekts, seiner Identität und Autonomie, geschichtlicher Metaerzählungen von Emanzipation und Utopie sowie der Vernunft summarisch entledigt (Benhabib 1993). Benhabibs Kritik wird sorgfältig rezipiert, kann sich jedoch nicht durchsetzen. Einwände gegen die fast vollständige Entmaterialisierung des Feminismus können sich, trotz international beachteter Versuche (zentral Alaimo/Hekman 2008), ebenfalls nicht etablieren. Die postmoderne Hegemonie setzt sich in den universitären Gender Studies des Nordwestens durch und affiziert sogar zahlreiche geschlechterpolitische Kontexte; darunter fallen selbst klassisch liberale Felder wie Stellenzuschnitte, Gesetzesinitiativen, Begutachtungsverfahren, Antidiskriminierungsrichtlinien und Förderpolitiken. Dass eine solche Entwicklung und dominante Perspektive Widerspruch hervorrufen muss, ist wiederum nicht verwunderlich. Was ideengeschichtlich allerdings ausgesprochen irritiert, ist die Tatsache, dass dieser Widerspruch

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so lange auf sich warten ließ. Erst in der zweiten Hälfte der 2010er Jahren mehren sich weltweit Stimmen, die der anti-liberalen Dominanz innerhalb des Feminismus im globalen Norden entschieden entgegentreten. Exemplarisch stehen dafür hierzulande die intellektuellen Einsprüche gegen zahlreiche ‚Denkverbote‘, wie sie in den universitären Gender Studies eskalierend zu beobachten sind. Mit einem entsprechenden Aufmacher befeuert EMMA im Juli 2017 eine bis heute anhaltende scharfe Debatte (vgl. u. a. Linkerhand 2018; Vukadinović 2018; Amelung 2020; Kostner 2022; Vukadinović 2023). Alle hier publizierenden Kritiker:innen kommen selbst aus der Geschlechterforschung verschiedener Fächer, dem aktivistischen feministischen Umfeld, den Queer Studies und ihrem politischen Aktivismus sowie der wissenschaftlichen und/oder journalistischen Publizistik. Die Einwände richten sich gegen das postmoderne ‚Begriffsgetöse‘ Butlers und ihrer Apologet:innen, deren vermeintlichen Antirassismus und faktischen Antisemitismus, das unkritische Verhältnis zum Islam und die scheinbar progressive Überwindung des second wave-Feminismus, an dessen Stelle repressive Identitätspolitiken treten, die im Gestus der Herrschaftskritik selbst wissenspolitische Herrschaft ausüben und sämtliche finanziellen, gutachterlichen und deutungspolitischen Ressourcen der Gender Studies majorisieren bzw. okkupieren. Vor allem die vermeintlich progressive und vermeintlich theoretisch-komplexe Selbstinszenierung wird, darin Nussbaums Polemik vergleichbar, analysiert. Im postmodernen Theorie-Habitus verbirgt sich inhaltlich oft das Gegenteil dessen, was auf der textlichen Ebene zum Ausdruck zu kommen scheint. Vojin Saša Vukadinović (2020) nennt diesen dominanten Zirkel „pseudofeministischen Mainstream“ und untersucht dessen narzisstische Kränkung in Bezug auf öffentliche Sichtbarkeit sowie die extrem repressiven Opfer(selbst)mythisierungen. Obgleich die Gruppe der Gender-Studies-kritischen jüngeren Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen sich selbst nicht dem Liberalismus zurechnen würde, stützt doch der Impuls ihrer Kritik eine weitreichende Re-Liberalisierung

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des Feminismus an den Hochschulen weltweit. Ohne selbst Liberale zu sein, verhelfen sie modernen liberalen Werten zu neuem Glanz.

Person versus Werk: Die zwei Aufmerksamkeiten für Mill in der Ideengeschichte des Feminismus und ein Plädoyer für ‚mehr Mill‘ Dass selbst diejenigen international rezipierten Denker:innen, die weder (wie Nussbaum) Butler-kritische Neoaristoteliker:innen noch (wie etwa Gayatri Spivak oder Karen Barad) Postmodernist:innen und Butler-Apologet:innen sind, dem Liberalismus bestenfalls indifferent gegenüberstehen, kennzeichnet die Lage der feministischen Theorie in den vergangenen Dekaden. Ob Iris Marion Young, Vandana Shiva, Chantal Mouffe oder Nancy Fraser: Keine fundiert ihre Theoriekonzeption im klassisch liberalen Denken. Sie sind, wie Young und Shiva, dem Differenzparadigma oder, wie Mouffe und Fraser, dem linken Flügel des Feminismus zuzurechnen. Der Marginalisierung des Liberalismus steht bestenfalls die Würdigung des Stimmrechtskämpfers Mill gegenüber, dessen Anteil am Fortschritt der Frauenbefreiung in zahlreichen Einführungen und Überblicksdarstellungen explizit gewürdigt wird (vgl. neben den bereits genannten Arbeiten exemplarisch Osborne 2001 und Gerhard 2009). Was jedoch, wie eingangs gesagt, äußerst selten geschieht, ist die analytische Verknüpfung von Mills Freiheitstheorie mit seiner Analyse der Frauenunterdrückung und seinem praktischpolitischen Kampf fürs Frauenstimmrecht. Wie Ringo Narewski (2008; 2011) nachweist, bleiben Mills Liberalismus und sein Feminismus rezeptionsgeschichtlich fast immer unvermittelt nebeneinander stehen, obgleich sie systematisch zusammengehören. Rezeption und Würdigung finden in zwei getrennten scientific communities statt und beziehen sich jeweils nur auf den ‚halben‘ Mill. Dies hat nicht nur eine quantitative ‚Halbierung‘ zur Folge, sondern blockiert eine tiefgreifende qualitative Anerkennung. Unter der Würdigung der mutigen Person verschwimmt

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das radikale Werk – eine zweischneidige Art der Anerkennung. Erstaunlich irrelevant bleiben Mills Schriften außerdem – trotz zahlreicher Anknüpfungspunkte, bezogen auf eine Kritik der Natur von Weiblichkeit – im wissenschaftstheoretischen und -soziologischen sowie im naturtheoretischen und -politischen Denkraum, der sich namentlich mit Carolyn Merchant, Evelyn Fox Keller, Sandra Harding und Donna Haraway verbindet. Dass also Mill seit Beginn der 1990er Jahre zum wiederholten Mal in der feministischen Ideengeschichte aus dem Kanon herausfällt, hat systemische Gründe. Einige zeigten sich im Gang der Darstellung: Eine universalistische, humanistische, rationalistische Perspektive steht in scharfem Kontrast sowohl zu jeder Variante postmoderner, identitätspolitischer Einlassung als auch im Gegensatz zu allen Spielarten differenzfeministischer Theorie (von konservativ bis radikal) sowie zum gesamten Strang des sozialistischen Feminismus. In einem Tableau feministischer Taxonomien, in dem Gleichheits- und Differenzdenken einerseits und klassische Politische Theorien wie Liberalismus, Sozialismus, Postmodernismus und Radikalfeminismus andererseits miteinander gekreuzt werden müssen, findet sich Mill im Feld des liberalen Gleichheitsdenkens wieder und damit auf vergleichsweise einsamem, wenn auch noch nicht gänzlich verlorenem Posten. Vielleicht ist auch das eingangs angeführte (Vor-)Urteil, Liberalismus sei eine furchtsame, wenig kreative, kaum inspirierte, langweilige, unterkomplexe Politische Theorie, ein feministisches Essential, das über anderthalb Jahrhunderte stets aktualisiert wird, um damit einen spezifischen Flügel des Feminismus schwächen zu können: einen Flügel, der 1) weder sozialistisch noch konservativ, weder postmodern noch radikal agiert; 2) weder Mütterlichkeit noch Weiblichkeit als das bessere Menschsein zelebriert; 3) dessen praktische Ziele stets auf einen politischen Realismus und Reformismus gerichtet sind; 4) dessen Akteur:innen die realpolitischen Alltagsmühen nicht scheuen, statt sich in weitreichende Utopien zu versenken. In diesem Sinne würde ein liberaler Feminismus

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tatsächlich von kaum einer historischen Persönlichkeit so treffend verkörpert wie von Mill. Nicht Furcht leitete ihn, sondern unermüdliches Einstehen für seine freiheitstheoretischen Überzeugungen. Warum aber ausgerechnet die heutige postmoderne Hegemonie die Mills nicht ausdrücklich zu wichtigen Quellen erklärt, bleibt angesichts des anti-essentialistischen Naturbezugs schwer verständlich. Falls dies nicht in schlichter Unkenntnis begründet ist, ließe sich vermuten, dass der postmoderne Theorie-Habitus avancierter und eleganter wirkt als die liberale Haltung, die sogar Phillips wenig ambitioniert erscheint. Auch für die ‚Naturfrage‘ dürfte Phillips’ pejorative Einschätzung aufschlussreich sein. Wenn Natur und Notwendigkeit argumentativ nicht zur Verfügung stehen, müssen die geschlechterpolitischen Aspekte einer Politischen Anthropologie sich der Kultur und der Freiheit zuwenden. Damit steht die Beteiligung am und die Verstrickung ins Beherrschtwerden unmittelbar auf dem analytischen Programm. Statt sich dieser unangenehmen Frage, wie sie Beauvoir paradigmatisch bearbeitet, zu stellen, ist es bequemer, die Integrität der Fragenden selbst infrage zu stellen. Furcht, Langeweile und mangelnde theoretische Ambition sind als Anwürfe bestens geeignet, die entsprechende Position grundlegend zu desavouieren. Die Vermutung liegt nahe, dass die Verwandtschaft und Attraktivität des Liberalismus für einen starken, demokratiepolitisch erfolgreichen Feminismus so groß sein könnte, dass ein zeitgenössischer Feminismus das liberale Denken abwerten muss, um sich selbst zu adeln. Nur so ist zu erklären, warum Mill bizarrerweise des mangelnden politischen Muts bezichtigt werden kann. Der Liberalismus wird zum eigentlichen Gegenspieler eines postmodern affizierten Feminismus. Ist der Feminismus also tatsächlich im Kern anti-liberal, wie eingangs vermutet? Die Hypothese muss leider bedingt bejaht werden. Die Ideengeschichte verdeutlicht, dass das Insistieren biologisch und sozial weiblicher Menschen auf der rigorosen Realisierung eigener Lebenspläne offensichtlich nur einen klein(ere)en Teil

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des feministischen Referenzrahmens darstellt, so irritierend diese Feststellung sein mag. Die beunruhigende These liegt nahe, dass die uneingestandene, zu wenig selbstkritisch bearbeitete Kompliz:innenschaft mit der patriarchalen Herrschaft eine Denkblockade für echtes Freiheitsdenken darstellt. Und dann stellt Mills Kritik des Konformismus und der Tyrannei der Mehrheit gerade keine Inspiration für feministisches Denken, sondern ein tabuisiertes vermintes Analysefeld dar. In der durchgängig spärlichen Mill-Rezeption hat es kaum Akzentverschiebungen gegeben. Seit über 150 Jahren steht Mills Politische Theorie im Schatten seines persönlichen Wahlrechtskampfes. Angesichts der massiven Verengungen des feministischen Denkens heute, die an nicht wenigen akademischen Orten zu Denkverboten gegen jeden klassischen Topos des second wave geführt haben, ist ‚mehr Mill‘ eine feministische politiktheoretische Notwendigkeit. Nussbaums (2002, 10, 9) Plädoyer im Anschluss an Mill, die Realisierung der eigenen Lebenspläne mit der „Hochschätzung von Fürsorge und Liebe“ zu vereinbaren, weist in die zwingend einzuschlagende Richtung, könnten doch auf diesem Wege die klassischen Bindungs- und Differenzkonzepte des Feminismus mit dem liberalen Denken Mill’scher Provenienz versöhnt werden. So wie freie Menschen nicht ungebunden leben können, gelingt Bindung nicht ohne eine selbstbestimmte innere Haltung. ‚Mehr Mill‘ braucht es außerdem bezogen auf die vermeintlich progressiven identitätspolitischen Herrschaftskritiken, die nach außen den Kern universeller menschlicher Würde preisgeben (vgl. Nussbaum 2002, 50–52) und nach innen Feminismus im Namen des Feminismus homogenisieren und majorisieren. Wo Pluralität, Gedankenfreiheit und anerkennender Diskurs fehlen, ist liberaler intellektueller Geist untergegangen. ‚Mehr Mill‘ wäre schließlich gegen die scheinkomplexe, pathetische, künstlich heroisierende postmoderne Diktion eine wünschenswerte sprachliche Ernüchterung, die auch den zahlreichen Aktivist:innen überall auf der Welt, die nach wie vor ganz traditionell gegen Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung kämpfen, entgegenkäme.

45  Feministischer Diskurs

Gegen viele akute Fehlentwicklungen hilft somit nur ein (neuer) liberaler Feminismus, von Mills furchtlosem Denken und Handeln affiziert. Es wäre an der Zeit, dass – mit Millett gesprochen – Mills klare Stimme mal wieder einen Sieg davonträgt, da die Reradikalisierung der feministischen Theorie heute paradoxerweise nur vom Liberalismus ausgehen kann. Ausgerechnet der Staatsfeminismus darf nicht der einzige zeitgenössische liberale Feminismus sein.

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Ökonomischer Diskurs

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Joachim Starbatty

Es gibt in den modernen europäischen Geisteswissenschaften nur wenige Gelehrte, auf deren Zugehörigkeit so viele Wissenschaften Anspruch erheben können, wie es bei John Stuart Mill der Fall ist (Leopold v. Wiese 1961, 343). Eine einheitliche Grundhaltung philosophischer Herkunft prägt seine ökonomischen Aussagen. Sein Denken und Handeln wird von zwei Motiven beherrscht – seiner unbedingten Wahrheitsliebe und seinem Verlangen, die menschliche Wohlfahrt zu fördern, insbesondere das Elend der ‚Labouring Poor‘ zu beenden. Obwohl Mill allseits Beachtung und Anerkennung erfahren hat, sind doch zwei Punkte noch nicht vollständig geklärt: War Mill bei seiner offenkundigen Sympathie für Sozialismus und eingeschränkt für Kommunismus ein evolutionärer Sozialist, wie Schumpeter (1965, 651) meint, und war er schließlich noch ein Utilitarist?

Das prägende Umfeld John Stuarts ökonomisches Denken haben, wie sein Leben und Wirken insgesamt, erstens der Vater, James Mill, und dessen Mitstreiter, Je-

J. Starbatty (*)  Professor em. für Volkswirtschaftslehre, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

remy Bentham, zweitens seine Vertraute und spätere Ehefrau, Harriet Taylor (s. Kap. II.6), und drittens die soziale Not der arbeitenden Klasse geprägt. Der Vater übernahm von Anfang an die Erziehung seines Sohnes; er war geistiger Rohstoff in dessen Händen. Bereits der 3-Jährige wurde von ihm in die altgriechische Sprache eingeführt. Mit zwölf Jahren konnte sich der Sohn an die schwierigsten Wissensgebiete wagen. Er widmete sich vornehmlich der Philosophie, Logik und den Staats- und Sozialwissenschaften. Seine Beiträge auf diesen Gebieten waren wegweisend. Seine utilitaristische Weltsicht übernahm er von seinem Vater und von Jeremy Bentham. Aus Anhänglichkeit zu ihnen bekannte sich Mill zu dieser Wirtschaftsphilosophie bis an sein Lebensende. Mill übersteht das erzieherische Experiment seines Vaters nicht ohne Erschütterung. Eines Tages, so schrieb er, erwachte ich aus diesem Dasein auf wie aus einem Traum (CW I, 136). Ein Jahr lang überschatteten dunkle Wolken sein Leben. Er las Goethe, Wordsworth und Saint-Simon, die so ernsthaft vom Herzen und von Schönheit sprachen wie sein Vater vom Verstand und vom Nutzen. Als er diese Phase überwunden hatte, war er ein anderer geworden. Nach seiner Erweckung lernte er die verheiratete 22-jährige Harriet Taylor kennen. Zwischen ihnen herrschten sogleich Einverständnis und Zuneigung. Harriet Taylor verließ ihren

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7_46

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Mann jedoch nicht. Erst zwei Jahre nach dessen Tode (1851) heiratete Mill die Frau, deren unvergleichliche Seelengröße zur bestimmenden Quelle seines Glücks und seiner geistigen Entfaltung wurde (CW I, 181–200). Zwei Miniaturen Harriet Taylors – in dem von F. A. von Hayek herausgegebenen Band John Stuart Mill und Harriet Taylor (1951, 129) – zeigen ebenmäßige Züge, eine hohe Stirn, verträumte und doch aufmerksam in die Ferne blickende Augen, einen vollen Mund und ein energisches Kinn. Es ist ein Gesicht, das Sanftheit und aber auch Entschlossenheit ausstrahlt. Harriet Taylor schrieb lyrische Gedichte und kämpfte zugleich voller Mut gegen gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile an. Mill sagte über Harriet Taylor, dass sie ihn die Düsternis der sozialen Not und einer mitleidlosen Umwelt deutlicher als früher zu sehen gelehrt habe (CW I, 203). Das von George Frederick Watts gemalte Mill-Portrait – es hängt in der National Gallery London – zeigt einen empfindsamen Menschen, aus dessen Gesicht man lesen kann, dass ihn das Elend und Leid um ihn herum bekümmert, ja niedergedrückt haben. Wer hat nicht auch heute noch bei der Lektüre von Charles Dickens Mitleid mit Kindern, die als Waisen in Arbeitshäusern bis zur Erschöpfung arbeiten mussten und doch Hunger litten. Wenn sie vor bigotten Erziehungsexperimenten, vor Demütigung und Erniedrigung davonliefen, so entkamen sie doch ihrem unerbittlichen Schicksal nicht: Armut, Demütigung, Erniedrigung.

Ausweg für die „dismal science“ Die Ökonomie der damaligen Zeit konzentrierte sich darauf, die Gesetze der Verteilung aufzudecken und das Elend der Arbeiterklasse zu erklären, ließ aber wenig Hoffnung auf Besserung. Die während Mills Zeit herrschende Ökonomie war durch Robert Malthus und David Ricardo geprägt worden (s. Kap. II.10). Malthus’ Bevölkerungsgesetz war ihr Fundament: Da die Bevölkerung schneller wachse, als die Erde an Nahrungsmitteln bereitstelle, könne an der Tafel der Natur nicht für jeden ein Gedeck aufgelegt

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werden. Die Ökonomen sahen keinen Ausweg aus dieser Bevölkerungsfalle. Staatliche finanzielle Besserstellung der armen arbeitenden Bevölkerung – ‚Labouring Poor‘ – führe bloß dazu, dass mehr Kinder geboren würden, die aber verhungern müssten. Daher lehnt Ricardo staatliche Umverteilung zugunsten der Armen strikt ab: „Die Armengesetze dienen nicht, wie es die Gesetzgebung in wohlwollender Weise beabsichtigte, dazu, die Lage der Armen zu heben, sondern die der Reichen wie die der Armen zu verschlechtern“ (Ricardo 1972, 90). Wenn in Malthus’ und Ricardos düsterer Welt Ökonomen der Politik nur den Rat geben konnten, den Armen das Heiraten zu verleiden und sexuelle Enthaltsamkeit zu predigen, wenn sie sonst aber nichts zu sagen hätten, sollte man die Ökonomie eine trostlose Wissenschaft – „dismal science“ – nennen. So taufte sie der Historiker Thomas Carlyle. Er spottete: „Die politische Ökonomie wirft ihr philosophisch politisch wirtschaftliches Senkblei in das Meer der menschlichen Leiden. Wenn sie uns dann mitgeteilt hat, wie tief und unendlich groß der Abgrund ist, bietet sie uns als einzigen Trost, dass der Mensch nichts dagegen tun kann, außer dabei zu stehen und neugierig das Wetter zu beobachten und dem Spiel der natürlichen Gesetze zuzusehen“ (Carlyle o. J., 113).Dass die Ökonomie gar nichts zu sagen hatte, war nicht ganz korrekt. Ricardo warb als Abgeordneter im Unterhaus dafür, die Zollgrenzen für importiertes Getreide zu öffnen, damit das erhöhte Angebot an Getreide die Preise für landwirtschaftliche Produkte drücke und so das Realeinkommen der ‚Labouring Poor‘ anhebe. Ricardo hat als unabhängiger Abgeordneter im Unterhaus unentwegt für die Abschaffung der Kornzölle plädiert; doch wusste er, dass das ‚landed interest‘ – quer durch die großen Parlamentscliquen – das Unterhaus dominierte. Daher schlug er nicht die gänzliche Beseitigung der Kornzölle vor, sondern befürwortete zunächst Übergangsmaßnahmen. Ricardos parlamentarische Wirkung bei der Behandlung der Korngesetze hat H. J. Braun (1984) untersucht. Für Mill war die Lage nicht hoffnungslos. Er sah in einer anderen Verteilung dessen, was

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Arbeit und Natur hervorbrachten, den Schlüssel zur Verbesserung des Loses der ‚Labouring Poor‘. Der Satz, bei dem sich die Geister scheiden, lautet: „Distribution of wealth […] is a matter of human institutions only. The things once there, mankind, individually or collectively, can do with them as they like“ (CW II, 199). „Der angeblich liberale Denker John Stuart Mill“, so urteilt F. A. von Hayek, habe in seinen Principles of Political Economy (s. Kap. III.15) den Satz geschrieben, der die Grundlage für alle sozialistischen Ideen bilde: „Ist das Sozialprodukt erst einmal da, kann man damit machen, was man will“ (Hayek 1981; s. Kap. VI.44). In der Tat wäre das der Beginn aller verteilungspolitischen Konfusionen. Aber das ist nicht das, was Mill will. Er schaut vielmehr mit Hoffnung auf eine Zeit, in der die Verteilung des Reichtums nicht mehr von der Geburt, sondern vom Prinzip allgemein akzeptierter Gerechtigkeit abhänge (CW II, 209 ff.; dazu Höntzsch 2018). Daher unterscheidet er in seinen Principles zwischen den Gesetzen der Produktion des gesellschaftlichen Wohlstands und denen der Verteilung. Die Gesetze der Produktion entsprächen dem Charakter physikalischer Wahrheiten: „There is nothing optional or arbitrary in them“ (CW II, 199). Die Verteilung des Wohlstands sei hingegen das Ergebnis gesellschaftlicher Vereinbarung. Welche praktischen Resultate aus der Wirkung von Verteilungsregeln erwüchsen, müsste freilich durch Beobachtung und Überlegung entdeckt werden gleich irgendeiner anderen physikalischen oder geistigen Wahrheit. Werde über die Umverteilung die Kapitalbildung gemindert und damit die Investition in Arbeitsplätze gekürzt, so würde auf Zukunftskonsum verzichtet – „whether they like it or not.“ Mill schreibt (CW II, 201): „Society can subject the distribution of wealth to whatever rules it thinks best; but what practical results will flow from the operation of those rules must be discovered like any physical or mental truth by observation and reasoning“. Damit bricht aber nicht, wie Thomas Sowell, einer der besten Kenner der klassischen politischen Ökonomie, folgert, Mills ursprüngliche Unterscheidung in sich zusammen (Sowell

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1974, 96 f.). Mill erweitert vielmehr den politischen Aktionsradius, ohne jedoch die jeweilige Regierung aus den Zwängen der politischen Ökonomie zu entlassen. Es ist Aufgabe der Politik, überkommenes Unrecht, beispielsweise früheres Bauernlegen und dessen Absicherung durch ein parteiisches Parlament, zu korrigieren. Mill warnt an verschiedenen Stellen seiner Principles vor der Illusion, dass man den Pelz waschen könne, ohne ihn nass zu machen. So sind für ihn alle Modelle zur Loslösung der Löhne von der Kontrolle durch Angebot und Nachfrage Versuche, Inkompatibilitäten miteinander zu vereinbaren (CW II, 343). Er will nicht denen etwas wegnehmen, die es sich auf freien Märkten erarbeitet haben, sondern Menschen am Rande der Gesellschaft in die Lage versetzen, durch Übereignung von landwirtschaftlicher Nutzfläche oder durch Gründung von Genossenschaften und industriellen Kooperationen, sich selbst ein auskömmliches Einkommen zu erwirtschaften (CW III, Buch V, Kap. IX).

War Mill ein „evolutionärer Sozialist“? Wenn die Ökonomen nichts Besseres zu bieten hatten, als die Bevölkerung zu sexueller Enthaltsamkeit aufzurufen, um die nahende demographische Katastrophe aufzuhalten, dann war die Schlussfolgerung der Sozialisten naheliegend: Versucht nicht das kapitalistische System im Einzelnen zu verbessern, sondern stürzt es gänzlich um, damit aus seinen Trümmern eine neue, eine sozialistische Welt erwachse. Dauerte einen mitleidigen Menschen das Los der Arbeiter und folgte er in theoretischer Hinsicht Ricardo, so konnte er sich schnell im sozialistischen Lager wiederfinden. Auch Mill hatte Sympathien für sozialistische Ideen (s. Kap. IV.18). Er selbst bekennt, dass ihn Harriet Taylors Einfluss (s. Kap. II.6) einem gemäßigten Sozialismus näher gebracht habe (CW I, 203). So sieht es auch Schumpeter (1965, Bd. 1, 651): „Rein gefühlsmäßig wirkte der Sozialismus auf Mill immer anziehend“. Sein Gemüt wehrte sich gegen die Vorstellung, dass die einen, bevorzugt durch Geburt und ­ Herkunft,

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ihren Reichtum genießen konnten, während die ‚Labouring Poor‘ schuften und dann noch darben mussten. Eine solche Welt war nicht das, wovon Mill träumte. Er hatte nach seiner Erweckung viel Sympathie für die Arbeiterklasse. Er wollte die Gesellschaft zum Besten der Arbeiterklasse verändern. Er hatte aber keine klar umrissenen Pläne für das sozialistische Morgen. Schumpeter (1965, Bd. 1, 650) sieht ihn daher eher als einen evolutionären Sozialisten, der verschiedene Einstellungen zum Sozialismus durchläuft. Er öffnete sich bereitwillig, sagt Schumpeter, den sozialistischen – in erster Linie französischen – Ideen. Zu nennen wären Fourier, Saint-Simon, Proudhon und Cabet (Schumpeter 1965, Bd. 1, 651). Aber dem gelernten Ökonomen blieben die Schwächen dieser Entwürfe nicht verborgen, die später Karl Marx als ‚Utopischen Sozialismus‘ klassifiziert hat im Gegensatz zu seinem Entwurf des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘. Das war natürlich auch eine Abgrenzung und Aburteilung seiner Gegner auf der internationalen sozialistischen Weltbühne. Dabei war Marx’ Konzept ‚wissenschaftlich‘, solange er den seinerzeitigen Kapitalismus analysierte, aber ‚utopisch‘, was die sozialistische Zukunft nach der proletarischen Weltrevolution anging. Mill unterscheidet in den Chapters on Socialism (s. Kap. IV.18) zwei Ausprägungen der sozialistischen Welt von morgen: „There are, in the first place, those whose plans for a new order of society, in which private property and individual competition are to be superseded and other motives to action substituted, are on the scale of the village community or township and would be applied to an entire country by the multiplication of such self-acting units; of this character are the systems of Owen, of Fourier, and the more thoughtful and philosophic Socialists generally. The other class, who are more a product of the Continent than of Great Britain and may be called the revolutionary Socialists, propose to themselves a much bolder stroke. Their scheme is the management of the whole productive resources of the country by one central authority, the general government“ (CW V, 738). Mills vorsichtige Distanzierung von den ihm sympathischen sozialistischen Konzep-

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ten nennt Schumpeter das erste Stadium, das Mill als evolutionärer Sozialist durchläuft. Doch habe sich Mill nicht von seiner sozialistischen Passion gelöst. Er habe niemals beabsichtigt, den als Endresultat des menschlichen Fortschritts verstandenen Sozialismus zu verurteilen. Diese Gewissheit nennt Schumpeter (1965, Bd. 1, 651) das zweite Stadium des evolutionären Sozialisten. Er identifiziert noch ein drittes Stadium: Mill habe schließlich geglaubt, dass sich der Fortschritt dermaßen beschleunigt habe, dass das sozialistische Endziel schneller in Sicht käme, doch hätte er zugleich hartnäckig jede Tendenz des kapitalistischen Systems geleugnet, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verschlechtern oder deren Anteil am Sozialprodukt zu mindern (Schumpeter 1965, Bd. 1, 651). Zu diesem dritten Stadium gehöre auch seine hartnäckige Zurückweisung der Idee des revolutionären Übergangs zum Kommunismus, wobei er, wie Schumpeter meint, sein Argument in erster Linie auf die ihm unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten der Wirtschaftsverwaltung gründete (Schumpeter 1965, Bd. 1, 651). Schumpeter gibt keine Belegstellen für seine Auffassung an. Sie ist wohl irrig, da Marx selbst zunächst bloß die Herrschaft der Eliten austauschen will. Die Kapitalisten sollten ja weiter tätig bleiben, nur nicht mehr für den eigenen Profit, sondern zum Wohle der Arbeiterklasse. Auch Schumpeters Hinweis, dass sich Mills Lehre nicht unwesentlich vom deutschen Revisionismus, den Eduard Bernstein vertrete, unterscheide, bleibt unbefriedigend. Schumpeter sagt selbst über Bernstein, dass sein Angriff auf die Marxsche Analyse sich als sehr viel schwächer erwies, als man aus seinen Wirkungen auf die Partei und das breite Publikum schließen könnte: „Er war ein bewundernswerter Mensch, aber kein tiefgründiger Denker und im Besonderen kein Theoretiker“ (Schumpeter 1965, Bd. 2, 1078). Und da ist Mill doch von einem anderen Kaliber. Insofern hilft Schumpeters Hinweis hier nicht weiter. Auch wenn Schumpeters Klassifizierung letztlich unbefriedigend bleibt, so gibt sie doch Hinweise, welche Wege man gehen muss, um zu erkennen, ob man in Mill einen evolutionä-

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ren oder überhaupt einen Sozialisten vor sich hat. Die ihm vorschwebenden und damals bekannten sozialistischen Entwürfe sahen vor, dass die Menschen nicht mehr für den eigenen Profit, sondern für das Gemeinwohl tätig seien. Dies setzt voraus, dass über den Einsatz von Arbeit und Kapital nicht mehr individuell, sondern kollektiv entschieden wird. Diese Grundidee ist allen sozialistischen Entwürfen gemeinsam. Ein kollektives Organ entscheidet über die Organisation und die Verteilung der Früchte der Arbeit. Wenn aber das Einkommen nicht mehr nach individuellen Bemühungen zugemessen wird, wie kann dann sichergestellt werden, dass Individuen nicht versuchen, es sich auf Kosten anderer Leute Fleiß gut gehen zu lassen? Bereits Aristoteles hat dieses Phänomen angesprochen: Wenn alle Verantwortung trügen, trüge in Wahrheit niemand Verantwortung, da sich der eine auf den anderen verlasse (Aristoteles 1879, 157, 159). Dieses von Aristoteles gegen die Kinder-, Weiber- und Besitzgemeinschaft in Platons Staat vorgebrachte Argument hat Thomas Morus in seiner Utopia aufgegriffen und gegen ein Gemeinwesen gerichtet, in dem die Güter gemeinschaftlich erstellt und verteilt werden: „Mir dagegen scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ (Morus 2016, 45). Wenn Güter kostenlos und unbegrenzt zur Verfügung stehen, ist es aus individueller Sicht rational, die eigenen Anstrengungen gering zu halten. In Utopia wird das Problem durch Überwachung, Disziplin und im äußersten Fall durch Zwangsarbeit sichergestellt. Da gibt es keine Ausnahmen, und jeder ist gut beraten, die Disziplinvorschriften zu beachten (Starbatty 2016a, XLIV–L). Mill kennt diesen Einwand: „The objection ordinarily made to a system of community of property and equal distribution of the produce, that each person would be incessantly occupied in evading his fair share of the work, points, undoubtedly, to a real difficulty“ (CW II, 203–204).

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Mill leugnet also nicht, mit einem ernsthaften Problem konfrontiert zu sein. Doch als Kenner des industriellen Arbeitslebens, der landwirtschaftlichen Produktion und der Staats- und Verwaltungstätigkeit entgegnet er, dass solche Probleme auch in der kapitalistischen Welt Englands zu lösen wären. Auch hier würden viele Arbeiten und Tätigkeiten bei festen Löhnen und Einkommen erledigt. Im Sozialismus würden die Arbeiter nicht von Individuen, sondern vom Kollektiv entlohnt. Sie würden auch wie sonst beaufsichtigt, nicht bloß durch Einzelpersonen, sondern von der Gemeinschaft, die nun die Positionen der Landlords und der Fabrikherren einnehmen würde. Wenn nun einige wenige es darauf ankommen ließen, durch Arbeitsverweigerung oder durch nachlässige Arbeit auf Kosten anderer zu leben, so gebe es im Sozialismus hinreichend Möglichkeiten, ein solches Verhalten zu unterbinden (CW II, 207 f.). Im Sozialismus wäre ein solches Verhalten auch weniger stark ausgeprägt als sonst üblich, da die Arbeiter wüssten, dass sie nicht für ausbeuterische Fabrikherren oder Landlords arbeiteten, sondern für die Gemeinschaft und selbst davon profitierten, wenn sie ordentliche Arbeit ablieferten. Mill geht also davon aus, dass sich die Arbeitsmoral im Sozialismus und im Kommunismus generell hebe und die allgemein erwartete Verhaltensänderung in Richtung ‚Free Rider‘ für eine sozialistische Gesellschaft nicht zutreffen müsse, da die Menschheit eines größeren Maßes an Gemeinschaftssinn fähig sei, als sein Zeitalter gewohnt sei anzunehmen (CW II, 205). Das Bild, das Mill offensichtlich für sein sozialistisches Gemeinwesen vorschwebt, ist das einer stationären Wirtschaft: Die Landwirtschaft ist der ausschlaggebende wirtschaftliche Teil; die Produktivität landwirtschaftlicher Ressourcen entscheidet über das Überleben der Menschheit; die industrielle Fertigung ist noch handwerklich geprägt, und Verwaltung und Organisation des gesellschaftlichen und politischen Lebens ändern sich im Zeitverlauf kaum. Solange wir es mit einer solch stationären Welt zu tun haben, gilt, dass sie sich so gestalten lässt,

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wie Mill sich das vorstellt: Jeder übt die tradierte Tätigkeit aus. Er weiß, dass er das, was er heute tut, auch morgen tun kann und eventuell auch tun muss. Eine solche Gesellschaft kommt ohne Märkte aus. Thomas Morus hat in seiner Utopia gezeigt, wie der MagazinMechanismus in einer stationären Gesellschaft den Preismechanismus ablöst: Die Bedürfnisse der Gesellschaft ließen sich über die Magazin-Bestände erfassen; sinke der Bestand bei bestimmten Produkten unter das langfristige Niveau, liege er dagegen bei anderen darüber, so wisse das zuordnende und zuteilende Kollektiv, dass und inwieweit landwirtschaftliche und industrielle Produktion an die geänderte Bedürfnisstruktur angepasst werden müssten. In einer nicht-stationären arbeitsteiligen Wirtschaft, wo sich Nachfrage- und Angebotsstrukturen oft ändern, ist der Magazin-Mechanismus überfordert. Der Preismechanismus ist unverzichtbar, um die jeweiligen Knappheiten anzuzeigen. Das Zusammenspiel von natürlichem Preis und jeweiligem Marktpreis sagt den Produzenten, wie, wo und was sie mit Gewinn produzieren können. Dann ändert sich natürlich auch die Lohnstruktur, um die Arbeitskräfte in die Verrichtungen zu lenken, die jetzt neu in das Spiel der Marktkräfte getreten sind. Dann gilt aber Mills Argument nicht mehr, dass sich die Lohnstrukturen bei einem Systemwechsel in Richtung einer sozialistischen Produktionsweise kaum ändern würden. In einer von der landwirtschaftlichen Produk­ tivität abhängigen Volkswirtschaft – ob kapitalistisch oder sozialistisch – gilt natürlich auch das Malthus’sche Bevölkerungsgesetz. Gerade bei Mills Annahme eines steigenden Einkommens bei gemeinschaftlicher Verantwortung droht auch im Sozialismus die Geißel des Hungertodes, weil die nun vermehrt geborenen Kinder nicht mehr versorgt werden können. Diese Besorgnis wäre begründet, sagt Mill, wenn es in einer sozialistischen oder kommunistischen Welt keine Motive gäbe, die sexuelle Enthaltsamkeit zu überwachen. Der Kommunismus sei gerade der Zustand der Dinge, indem man erwarten könnte, dass die öffentliche Meinung mit höchster Intensität eine selbstsüchtige

J. Starbatty

sexuelle Unmäßigkeit verurteilen würde. Wenn eine solche Missbilligung nicht ausreichen sollte, könnten Strafen irgendwelcher Art sexuelle Enthaltsamkeit erzwingen. In einer kommunistischen Gesellschaft ließen sich leicht die dazu geeigneten Maßnahmen ausfindig machen (CW II, 206). Mill gibt zu erkennen, dass er sogar drastische Maßnahmen zur Überwachung sexueller Enthaltsamkeit für angebracht hielt. Im Vergleich zur Gefahr einer Bevölkerungszunahme ist für Mill die faire Aufteilung der gemeinschaftlichen Arbeit ein weit schwieriges Problem (CW II, 207). Thomas Morus hat die Frage, wer macht bei Gemeineigentum die Schmutzarbeit oder erledigt andere ungeliebte Arbeiten, so beantwortet, dass Arbeitswillige aus anderen Ländern angeworben und Zwangsarbeitern die übelsten Verrichtungen aufgebürdet werden. Zur Zwangsarbeit werden in Utopia vornehmlich diejenigen verurteilt, die gegen die utopische Arbeitsdisziplin verstoßen haben (vgl. hierzu Starbatty 2016a, XLIV–XLVIII). Dieser Notwendigkeit stellt sich Mill in seinem Plädoyer für den Sozialismus nicht. Für schwierig hält er die Ausarbeitung fairer Entlohnungssysteme für einfache und komplizierte sowie für verantwortungsvolle Arbeiten und Routinetätigkeiten. Der Vorschlag, die Arbeit nach einem rotierenden System zuzuteilen, scheint ihm wenig geeignet, da diese Form der Arbeitsteilung die gesamtwirtschaftliche Produktivität mindere. Auch gäbe es Unzufriedenheit und Widersprüche, wenn die Arbeiter zu ungeliebten Tätigkeiten oder zu solchen herangezogen würden, zu denen sie wenig geeignet wären, während andere die Arbeit verrichteten, für die sie Neigung und Begabung zeigten (CW II, 207). Mill selbst bleibt die Antwort schuldig, sondern vertraut darauf, dass der allgemeine Vorteil bei Gemeineigentum, den die ‚Labouring Poor‘ im Vergleich zum geltenden Zuteilungs- und Entlohnungssystem genießen könnten, Misshelligkeiten in den Hintergrund treten ließen und auch für gesellschaftlichen Frieden sorgte. Mill mahnt, nicht zu vergessen, dass die Gesellschaftssysteme Sozialismus und Kommunismus nur in unserer Vorstellungswelt existierten und dass sich leichter Schwierigkeiten als zukünftige

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Möglichkeiten zu deren Behebung ausdenken ließen. Auch beginne die menschliche Vorstellungskraft gerade erst, sich im Detail auszumalen, wie man mit solchen Problemen umzugehen habe (CW II, 208). Das ist keine schlüssige Antwort, sondern bloß Mills Erwartung, dass sich im Sozialismus, wenn man ihn praktiziere, schon geeignete Wege zur Behebung solcher Schwierigkeiten finden ließen. Diese positive Sicht auf ein sozialistisches oder kommunistisches System ist geprägt durch die soziale Umwelt, die Mill Tag für Tag vor Augen hatte: Die größten Einkommensanteile fielen denen in den Schoß, die überhaupt nie gearbeitet hätten; danach würden die belohnt, deren Tätigkeiten bloß nomineller Natur seien, bis schließlich die Vergütung in dem Maße zusammenschrumpfe, wie die Arbeit schwerer und unangenehmer würde, bis zuletzt die ermüdendste und aufreibendste körperliche Arbeit noch nicht einmal mit Sicherheit auf eine Entlohnung rechnen könne, die genügend Mittel zum Kauf der notwendigen Mittel zur Existenzsicherung bereitstelle (CW II, 208). Mill folgert daraus: „[I]f this or Communism were the alternative, all the difficulties, great or small, of Communism would be but as dust in the balance“ (CW II, 208). Doch lässt es den Ökonomen Mill, der jeden Kieselstein umdreht und von allen Seiten betrachtet, damit nicht bewenden. Um einen fairen Vergleich zustande zu bringen, müssten wir den Kommunismus in seiner Bestform mit dem Regime individuellen Eigentums konfrontieren, nicht, wie wir es vorfänden, sondern wie es sein könnte. Bisher sei dem Privateigentum noch kein fairer Prozess gemacht worden (CW II, 209; s. Kap. V.25). Die gesellschaftliche Umwelt, die wir jetzt vorfänden, sei nicht diejenige, die entstanden wäre, wenn die Institution Privateigentum und der darauf gründende Wettbewerb eine faire Chance gehabt hätten. Die sozialen Einrichtungen in Europa, so Mill, hätten ihren Anfang von einer Eigentumsverteilung genommen, die nicht das Ergebnis gerechter Entscheidungen oder erwerbsmäßiger Aneignung gewesen wären, sondern das Ergebnis von Eroberungen und Gewalt. Obwohl sich im Zeit-

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ablauf diese Ausgangssituation gewandelt habe, zeige das heutige System noch immer starke Spuren des gewalttätigen und räuberischen Beginns. Das traf natürlich in hohem Maße auf das damalige England zu. Unter einer gerechten Einkommensverteilung bei Privateigentum versteht Mill, dass jedes Individuum die Früchte seiner Arbeit und Abstinenz ernten könne; unter Abstinenz, dass Individuen auf die Möglichkeit, ihr Einkommen zu konsumieren verzichten und stattdessen gegen Zinszahlung an andere abtreten, die daraus ihrerseits Arbeitskräfte beschäftigen und bezahlen, deren Arbeitserträge ihnen dann zugutekommen. Schließlich kommt Mill zu dem Ergebnis, dass bei einem Vergleich zwischen Kommunismus und einer auf Privateigentum gründenden Gesellschaft zwei Bedingungen realisiert sein müssten, ohne die weder die eine noch die andere Form erfolgreich sein könne: Eine dieser beiden Bedingungen sieht eine umfassende Erziehung und Bildung vor, die andere eine strikte Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung. Wären diese Bedingungen erfüllt, werde es weder in der einen noch in der anderen Gesellschaft Armut und Erniedrigung geben. In diesem Fall, so folgert Mill, wäre der Sozialismus nicht die einzige Zuflucht gegen die Übel, die auf der Menschheit lasteten; die Wahl zwischen ihnen sei eine Frage komparativer Vorteile. Doch könne man bei einem Vergleich noch keine endgültige Antwort geben: „We are too ignorant either of what individual agency in its best form, or Socialism in its best form, can accomplish, to be qualified to decide which of the two will be the ultimate form of human society“ (CW II, 208). Im Vorwort zur dritten Auflage der Principles traut sich Mill, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Seine kritischen Einwände gegen die besten sozialistischen Entwürfe dürften nicht als eine Verurteilung des Sozialismus unter dem Blickwinkel eines endgültigen Resultats menschlichen Fortschritt missverstanden werden. Was für ihn wirklich zähle, sei, dass die Menschheit im Allgemeinen und die Arbeiterklasse im Besonderen für eine sozialistische Welt noch nicht vorbereitet seien. Ihre gegenwärtige ext-

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rem mangelhafte Fitness für alle möglichen Zwecke, ob es nun um die Anforderung an ihren Intellekt oder ihre Tugend gehe, sei offenkundig. Es scheine ihm, dass das große Ziel sozialer Verbesserung die Menschheit auf eine Gesellschaft vorbereiten sollte, die ein Höchstmaß persönlicher Freiheit mit einer gerechten Verteilung der Früchte der Arbeit vereine, welche die gegenwärtigen Eigentumsgesetze noch nicht einmal vorgeben, realisieren zu wollen (CW II, xciii). Doch muss man Mill entgegenhalten, dass eine sozialistische Ordnung unter diesen Bedingungen für ihn nicht realisierbar erscheint, während er vernachlässigt, dass eine auf Privateigentum gründende Ordnung immerhin existiert, wenn auch höchst unvollkommen. Mill diskutiert höchst sorgfältig, ob das für ihn höchste Gut, die Freiheit (s. Kap. V.27), im Kommunismus gewahrt bleibt. Er sieht die Gefahren der Unterordnung von Individuen unter einen gemeinsamen Willen; er weiß um die niederdrückende Kraft der öffentlichen Meinung. Aber er will den kommunistischen Entwurf gegen Einwendungen verteidigen, die stark übertrieben seien. Als entscheidendes Argument führt er immer wieder an, dass im Vergleich zur jetzigen Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse eine kommunistische Ordnung geradezu ein Hort der Freiheit sei. Die Einschränkungen im Kommunismus fielen kaum ins Gewicht im Vergleich mit den Bedingungen, unter denen die Mehrheit der menschlichen Rasse heute leben müsste. Der Großteil der Arbeiter habe in England wie in den anderen europäischen Staaten keine freie Wahl bei ihrer Beschäftigung oder ihrem Aufenthaltsort. Sie wären praktisch abhängig von strikten Regeln und vom Willen anderer, wie sie es in einem System kurz vor wirklicher Sklaverei wären. Er fügt hinzu: „[T]o say nothing of the entire domestic subjection of one half the species, to which it is the signal honour of Owenism and most other forms of Socialism that they assign equal rights, in all respects, with those of the hitherto dominant sex“ (CW II, 209). Auf Mills Befürchtung, dass die menschliche Rasse schwerlich zu dem kulturellen Niveau erzogen werden könnte, um einen funktionieren-

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den Sozialismus oder Kommunismus zu begründen, gibt der Praktiker der proletarischen Revolution, Lenin, eine aufschlussreiche Antwort: Die höhere Phase der Entwicklung des Kommunismus habe nicht die heutige Arbeitsproduktivität und nicht den heutigen Spießer zur Voraussetzung (Lenin 1917, 102). Aber ohne Zwang und Kontrolle werde es nicht gehen: „Bis die höhere Phase des Kommunismus eingetreten sein wird, fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesellschaft und seitens des Staates über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsumtion“ (Lenin 1917, 102 f.). Lenin schildert dann, wie er sich die kommunistische Zukunftsgesellschaft vorstellt und über welche Möglichkeiten sie zur Einhaltung der Arbeitsdisziplin verfügt. Ein umfassender Erziehungs- und Bildungsprozess, wie Mill es für nötig hält (s. Kap. V.24), bis die Arbeiter den Willen, etwas Gemeinsames zu schaffen und ihm zu dienen, verinnerlicht hätten, ist dann nicht mehr erforderlich. Verletzungen der Arbeitsdisziplin werden im real existierenden Kommunismus genau so streng geahndet wie in Morus’ Utopia – mit Zwangsarbeit. Wie lautet nun das Urteil? War Mill Sozialist? War er ein evolutionärer Sozialist, wie Schumpeter meint? Er war weder das eine noch das andere. Sozialist war er nicht, dann hätte er sich eigene Gedanken über die Ausgestaltung der sozialistischen Gesellschaft machen müssen. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, die gängigen Einwände gegen den Sozialismus mithilfe seines ökonomischen Sachverstandes zu entkräften. Sein Hauptargument war: Im Vergleich zum derzeitigen Stand der Arbeiterklasse ist jede Form des Sozialismus ein Ort der Freiheit. Er war aber auch kein evolutionärer Sozialist, falls das spezifizierende Beiwort irgendeinen Sinn haben sollte. Eine gedankliche Fortentwicklung sozialistischer Konzepte lässt sich bei Mill nicht feststellen. Es klingt vielleicht paradox, aber das ist wohl die Formel, die am ehesten den Ökonomen und den Menschen Mill beschreibt: Er war kein Sozialist, sondern ein Sympathisant des Sozialismus. Mill, der Ökonom, konnte kein Sozialist sein, aber Mill, der Mensch, fühlte sich zum

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Sozialismus hingezogen, weil er die Arbeiterklasse von dem Joch, das sie unter den Arbeitsbedingungen im damaligen England zu tragen hatte, befreien wollte. Und hier war wohl Harriet Taylor die treibende Kraft. Er sagt selbst, dass er nicht von seinem Wege abgekommen sei, doch habe sie ihn bewegt, mutiger und zugleich vorsichtiger auf dem von ihnen als richtig erkannten Weg fortzuschreiten (CW I, 199).

War Mill noch ein Utilitarist? Mill ist mit dem Konzept des Utilitarismus groß geworden. Es war für ihn selbstverständlich, dass die Menschen sich nach Abwägung des Für und Wider an dem für sie höchsten Nutzenzugang orientierten. Platon und Aristoteles sahen dagegen die Erfüllung menschlichen Strebens in der Arbeit für die Polis; im Christentum sollten die Menschen ein gotterfülltes Leben führen; im Merkantilismus sollten sie sich in den Dienst des jeweiligen Herrschers stellen. Ob die Menschen den an sie herangetragen Forderungen gerecht wurden, steht auf einem anderen Blatt. Die utilitaristische Konzeption sieht den Menschen nicht als Instrument einer übergeordneten Weltanschauung, sondern als ein Individuum, das nach eigenen Interessen handelt (Höffe 1975, 9 ff.). Das ist einerseits eine positive Beschreibung des Menschen, so wie er sich in der Wirklichkeit verhält, andererseits folgt daraus, dass er auch berechtigt ist, im Rahmen allgemein akzeptierter Regeln seinen Interessen nachzugehen. Das Utilitarismus-Konzept ist individualistisch angelegt. Wie passt das zu Mills Vorliebe für sozialistische oder kommunistische Konzepte, wo der Einzelne sich in das Gemeinwesen einordnet, um es zum Blühen zu bringen? Für die Arbeiterklasse liegt für Mill die Antwort auf der Hand: Im geltenden System – kurz vor der wirklichen Sklaverei – hätte sie keinerlei Wahlmöglichkeit. Sie könnte bloß gewinnen, da ein steigendes Einkommen ihnen bisher verwehrte Wahlmöglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verschaffe und sie darüber hinaus in den gemeinschaftlichen Gremien ihre Stimme einbringen und so auf ihre

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Umwelt einwirken könnten. Dagegen würde die herrschende Klasse ihren Reichtum und ihren Einfluss verlieren, die ihnen aber nicht durch eigene Erwerbstätigkeit zuteil geworden wären, sondern das Erbe früherer Eroberungen und parteiischer Gesetze wäre. Wäge man nun den Nutzen, den die Arbeiterklasse aus der Umwandlung des Gesellschaftssystems ziehe, gegen den Verlust der führenden Klasse ab, so sei der gesellschaftliche Nutzenüberschuss nach Änderung des Gesellschaftssystems offenkundig. Daraus könnte man schließen, dass nach Mills Auffassung eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaftsform mit dem Konzept des Utilitarismus vereinbar wäre. Zur Charakterisierung des Utilitarismus wird gewöhnlich ein Satz von Jeremy Bentham zitiert: „Prejudice apart, the game of pushpin [ein Kinderspiel mit Nadeln, Anm. d. Verf.] is of equal value with the arts and sciences of music and poetry“ (Bentham 1825, 206; vgl. auch Harrison 1987, Bd. I, 226). Konservative Denker im zeitgenössischen England stießen sich an der Reduktion menschlicher Motivation auf ein Lust-Unlust-Kalkül. Wenn das Heroische, die Pflichterfüllung, das Schöne sich auflösen ließen in Gratifikationswerte, was hob dann das Leben des Menschen über das von Schweinen hinaus, die ebenfalls in der Lage seien, Kartoffeln, Eicheln oder Trüffeln nach ihrer Wertigkeit zu unterscheiden? Daher spricht Thomas Carlyle von der „pig philosophy“(Carlyle 1850, 528 ff.). Natürlich ist diese Polemik eine drastische Vergröberung der utilitaristischen Ethik, denn neben den rein sinnlichen umfasst das hedonistische Kalkül auch geistige Freuden (s. Kap. V.29). Auch ist Benthams Absicht keineswegs eine Herabsetzung höherwertiger ethischer Motive oder Vorlieben, sondern will sagen, dass niemand Individuen vorschreiben könne, was sie schön finden sollten. Benthams Satz ist von allgemeiner niemals bestrittener Gültigkeit, wenn man ihn lateinisch fasst: ‚De gustibus non est disputandum‘. Die Einstellung von Menschen, soweit sie sich an allgemeingültigen Regeln halten, kann nicht von einer Instanz, die für sich das letzte Urteil in Anspruch nimmt, infrage gestellt werden.

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Mit dem individuellen Recht auf freie Entscheidung geht einher, dass wir nicht die Motive oder Vorlieben von Individuen zu beurteilen haben, sondern die Konsequenz ihrer Handlungen. Dieser Satz hört sich harmlos an, ist aber von zentraler ordnungspolitischer Bedeutung. Adam Smith liefert dafür in seiner Theory of Moral Sentiments ein anschauliches Beispiel. Ein Bauer möchte seiner Tochter die Einheirat in höhere Gesellschaftsreise ermöglichen, indem er ihr eine stattliche Mitgift verschafft. Er wandelt Brachland in Ackerland um und reichert aus der zusätzlichen Ernte die Mitgift seiner Tochter an. Er orientiert sich an seinem individuellen Nutzen, doch kommt die höhere landwirtschaftliche Ausbeute der Allgemeinheit zugute. Ein zweites – aktuelles – Beispiel. Wenn aufgrund äußerer Umstände die Nachfrage nach Mietobjekten größer als das Angebot ist, so werden Anbieter wahrscheinlich die Preise für Mietobjekte anheben. Dies wird dann oft von der Öffentlichkeit und besonders von Politikern als Mietwucher gebrandmarkt. Doch entsprechend der utilitaristischen Auffassung müssten die Konsequenz des Anstiegs der Mietpreise geprüft werden: Würden wegen gestiegener Rendite zusätzliche Mietobjekte erstellt, so sei die freie Preisbildung dem behördlichen Preisstopp vorzuziehen, da dann das zusätzliche Angebot unterbliebe. Damit gilt, dass sich die Verfolgung individueller Interessen für die gesamte Volkswirtschaft positiv auswirken kann. Hier lässt sich auf einen bekannten Satz von Adam Smith verweisen: „Verfolgt er (der wirtschaftlich Tätige) sein eigenes Interesse, so fördert er das der Gesellschaft in der Regel weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu fördern beabsichtigt. Ich habe niemals gesehen, dass diejenigen viel Gutes bewirkt hätten, die sich den Anschein gaben, um des Gemeinwohls willen Handel zu treiben“ (Smith 1923, 235 f.). Aus diesem Satz kann man erkennen, wie auch die zentrale Maxime des Utilitarismus – ‚The greatest happiness of the greatest number‘ – Wirklichkeit wird (s. Kap. V.35). Aus wirtschaftlicher Sicht wird dieser Maxime entsprochen, wenn über ein institutionelles

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Arrangement die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden. Die Individuen müssen darauf rechnen können, dass ihre wirtschaftlichen Aktivitäten belohnt werden. Ein weiterer berühmter Satz von Adam Smith drückt das so aus: „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Bäckers […] erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse“ (Smith 1923, 19). Der Markt ist die Institution, wo sich die gegenseitigen Interessen treffen und Produkte und Dienstleistungen aufeinander abstimmt werden. Die sich dort ergebenden Preise signalisieren den jeweiligen Produzenten die Knappheit der von ihnen angebotenen Güter und Dienstleistungen. Wenn sich die Nachfrage und damit die Preisrelationen ändern oder wenn neue Produkte oder neue Produktionsverfahren marktwirksam werden, versuchen Wirtschaftssubjekte ihre Produktion umzustellen, weil die erzielten Erlöse nicht mehr mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. So wird – ohne jegliches politisches Dazutun – die Produktion in die jeweils erforderliche Richtung gesteuert. Dabei wissen die Akteure zunächst nicht, ob ihre Entscheidungen vom Markt belohnt werden. Wirtschaftliches Handeln vollzieht sich unter Unsicherheit. Die Marktergebnisse signalisieren den wirtschaftlich Tätigen, ob sie richtig gehandelt haben. Der hier skizzierte ‚Trial and Error-Prozess‘ gibt die Auffassung der englischen Klassiker von der Allokation der Produktionsfaktoren wieder. Auch wenn sie den wahren Wert oder natürlichen Preis von Gütern nicht genau bestimmen konnten, wussten sie doch, dass Abweichungen von Marktpreis und natürlichem Preis Arbitrage-Bewegungen in die Richtung auslösen, wo der Marktpreis über dem natürlichen Preis lag und umgekehrt (Starbatty 2016b, 70 ff.). Diese vollziehen sich solange, wie Wanderungen den Akteuren noch einen Nettovorteil versprechen, Die Klassiker vertrauten also darauf, dass bei Diskrepanzen zwischen Marktpreis und natürlichem Preis Änderungen von Angebot und Nachfrage für ein neues Gleichgewicht sorgten. So war für sie der Markt die passende Institution, um dem Ziel ‚The greatest happiness of the greatest number‘ näher zu kommen.

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John Stuart Mill kannte natürlich diese Zusammenhänge. Darum ist es erstaunlich, dass er seine Erkenntnis nicht auf die Funktionsweise einer sozialistischen Ordnung übertragen hat. Auch hier musste es, gerade wenn sie, wie er unterstellt, produktiver als das gegebene wirtschaftliche System arbeitete, Änderungen der Nachfragestruktur und der Kombination von Produktionsfaktoren auftreten. Mill räumt ein, dass sich ein endgültiges Urteil über die Vorteilhaftigkeit des einen oder andere Systems erst fällen lasse, wenn man mehr über die jeweilige Funktionsweise wissen. Das Phänomen, dass sich die Produktionsstruktur nach der Entwicklung der Nachfrage richtet, hätte Mill aber wissen können und wissen müssen. Es ist erstaunlich, dass dies gerade Mill als dem präzisesten unter den englischen Klassikern entgangen ist. Statt die Notwendigkeit der Erziehung der Arbeiterklasse zu betonen, hätte er sich auf die Ausbreitung und Nutzung des Wissens in den jeweiligen Systemen konzentrieren müssen. Mills Fixierung auf die Spaltung der Gesellschaft in Klassen im zeitgenössischen England und deren Überwindung im Sozialismus/Kommunismus ließ ihn übersehen, dass der von ihm abgeleitete Nutzenüberschuss sich auflöst, wenn sich die Produktion nicht mehr an den Bedürfnissen der ‚Labouring Poor‘, sondern an den Präferenzen der jeweils verantwortlichen Obrigkeit ausrichtet. Das Lob der Freiheit (s. Kap. V. 27) in den Principles entspricht Mills Auffassung, wie er sie in seinem Essay On Liberty (s. Kap. III.13) zum Ausdruck gebracht hat. Alle Einwände gegen Sozialismus und den Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit wehrt Mill wieder mit seiner Einstellung ab, dass es ihm nicht um die Freiheit derjenigen gehe, die ohne Arbeit die Vorzüge der Freiheit genössen, sondern um die die Erlangung der Freiheit für die Arbeiterklasse, die bisher von diesen Segnungen ausgeschlossen wäre, die ihnen im Sozialismus zuteil würden. Das ist gewissermaßen Mills Axiom. Diese Fixierung verwehrt ihm zu prüfen, wie sich eine sozialistische oder kommunistische Welt auf Dauer entwickeln könnte. Seine Kenntnis über das hoch kultivierte China

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hätte ihm wahrscheinlich neue Perspektiven aufgezeigt, wenn er sie auf ein sozialistisches Gemeinwesen übertragen hätte: Weise Männer hätten ihr bestes Wissen jedem Mitglied der Gemeinschaft eingeprägt, und diejenigen, die sich das meiste davon angeeignet hätten, nehmen die Ehren- und Machtstellen ein. Doch habe sich China nicht fortentwickelt, weil Abweichungen von diesen Weisheitsregeln gesellschaftlich geächtet wurden (CW XVIII, 273). Mill hätte sich eingestehen müssen, dass auch die Obrigkeit einer perfekten sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft hätte darauf achten müssen, Abweichungen vom gewählten Weg strikt zu untersagen. Die Grundlage des von Mill postulierten Nutzenüberschusses nach dem Versuch des Systemwechsels entfällt, wenn die Arbeiterklasse Wahlmöglichkeiten zwischen Alternativen nicht wahrnehmen kann und ihr so Nutzenzuwächse entgehen. Sozialistische Systeme sind generell stationär, da nicht Individuen über die Verwendung von Produktivkräften entscheiden, sondern die jeweilige Obrigkeit für den Produktionsaufbau verantwortlich ist. Diese nimmt die Vorteilhaftigkeit neuer Kombinationen von Produktivkräften oft nicht wahr, weil sie nichts davon weiß oder nicht wahrnehmen will, da sich dies nicht ohne Friktionen vollzieht. Kann Mill vor diesem Hintergrund noch als Utilitarist gelten. Die Kritik von Thomas Carlyle am utilitaristischen Konzept, es sei eine Philosophie für Schweine, wird gerade Mill, der sich an Harriet Taylors Seite für die Besserung des sozialen Lebens und als Mitglied des britischen Unterhauses für die Emanzipation der Frau einsetzte, schmerzlich getroffen haben. Er hat der Gefährdung des Utilitarismus, zu einer Philosophie der Plattheit und des flüchtigen Genusses zu verkommen, dadurch zu begegnen versucht, dass er die Pflichterfüllung, das Streben nach Tugend, als das wahre utilitaristische Ziel herauszustellen trachtet: „[The utilitarian doctrine] maintains not only that virtue is to be desired, but that it is to be desired disinterestedly, for itself“ (CW X, 235). Mit dieser Interpretation hat er zwar denen, die sich an der ‚pig-philosophy‘ stoßen, den Wind aus den ­ Segeln

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g­ enommen, zugleich aber den Utilitarismus zur Leerformel werden lassen; denn nun kann man uneigennützig seinem Eigennutz dienen, während man ihn eigennützig mindern kann. In diesem Sinne schreibt auch Schumpeter: „Wenn wir über die Befriedigung der einfachsten Begierden sehr weit hinaus gehen, nähern wir uns der Gefahr, die Erwartung von ‚Lust‘ mit allen nur möglichen Motiven zu identifizieren, sogar mit dem mutwilligen Erdulden von Leid, was die Lehre selbstverständlich zur leeren Tautologie macht“ (Schumpeter 1965, Bd. 1, 183). Der Begriff ‚Nutzen‘ ist zur Worthülse geworden, die mit jedem beliebigen Inhalt aufgefüllt werden kann. Mill versucht auch, die utilitaristische Ethik mit der christlichen auszusöhnen: „In the golden rule of Jesus of Nazareth, we read the complete spirit of the ethics of utility. To do as one would be done by, and to love one’s neighbour as oneself, constitute the ideal perfection of utilitarian morality“ (CW X, 218). Wenn Edgar Salin daraufhin die utilitaristische Ethik darin endigen sieht, „dass sie ihre eigene Lehre als Bibel, ihre Naturgesetze als Götzen in den Tempel einsetzt, aus dem sie mit Mühe den wahren Gott vertrieben hat“ (Salin 1967, 91), so tut er Mill Unrecht. Mill will nicht Christus aus dem Tempel vertreiben, sondern dem Utilitarismus einen anderen höheren Sinn und damit eine neue Legitimationsgrundlage geben. Auch Nietzsches Ausbruch gegen Mills „Gemeinheit“, die den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen wolle, kann diesen nicht treffen (Nietzsche 1966, 670). Nietzsche übersieht oder will vielleicht nicht sehen, dass Tausch auf Freiwilligkeit beruht. Alle anderen Formen des Leistungsaustausches sind dann privilegiengestützt. Heroische Formen der Aufopferung sind nicht ausgeschlossen, da jedes Individuum darüber entscheiden kann, ob es sein Tun eigennützig einsetzen oder für die Gemeinschaft oder einen anderen Menschen verströmen will. Die Konfusion, ob man eigennützig sein individuelles Glück mindern oder uneigennützig mehren kann, löst sich auf, wenn man sich vom Begriff des Eigennutzes löst und stattdessen auf Wahlmöglichkeiten abstellt. Es gilt, dass Men-

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schen solange in ihren Bemühungen um einen Wohlfahrtsgewinn fortfahren, bis sie durch Arbitragebewegungen keine Nettovorteile mehr erzielen können (Starbatty 1989). Bei dem Zusammenspiel von natürlichem Preis und Marktpreis ist dieses Arbitrage-Phänomen schon aufgetaucht. Ricardo hat über Arbitrage an der Börse sein Vermögen gemacht. Er hat sich aus dem Erlös Landgüter gekauft. Er hätte sein erworbenes Vermögen aber auch für mildtätige Zwecke verwenden können. Jeder Teilnehmer an der Börse versucht, Arbitragegewinne mitzunehmen. Ob er sich später am angehäuften Reichtum erfreut oder am Glück der von ihm Beschenkten, ist zweitrangig. Dieses ArbitragePhänomen ist im realen Leben allgegenwärtig – in Flughäfen oder in Kaufhäusern, kurz überall, wo sich Schlangen bilden, suchen Akteure solange nach der kürzesten Schlange, bis die Schlangen um ungefähr gleich lang sind. Wenn einer von sich sagt, ich stelle mich bewusst an der längsten Schlange an, dann wechseln andere zu der kürzeren Schlange, bis es wieder zu einem Arbitrage-Gleichgewicht kommt. Natürlich gibt es im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben komplexere Situationen oder die Konsequenzen von Arbitrage-Bewegungen lassen sich ex ante nicht klar abschätzen, aber das Prinzip bleibt: Arbitrage- Bewegungen finden solange statt, wie Akteure annehmen, dass Nettovorteile winken. Dies gilt für Egoisten wie Altruisten. Wenn ein Altruist sich davon ausschließen will, so handelt er nicht altruistisch, sondern verzichtet auf einen Nettonutzen, den er für andere verwenden könnte. Altruistisches Handeln ist nicht durch Irrationalität gekennzeichnet, sondern dadurch, dass man den Nutzen seines Nächsten mehren will. Insofern gibt es im wirtschaftlichen Leben keinen Unterschied zwischen der Mehrung eigenen oder fremden Nutzens, wohl aber bei der Verwendung des erzielten Überschusses. Wenn wir darauf abstellen, dass Individuen ArbitrageVorteile nutzen, dann müssen wir nicht zu so merkwürdige Konstruktionen Zuflucht nehmen, dass man eigennützig sein Glück mindern kann und umgekehrt. John W. N. Watkins (1978, 204) hat Mill den Vorwurf gemacht, es sei nur

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zu bekannt, dass er anstatt mit dem Utilitarismus zu brechen, den traurigen Versuch gemacht hätte, Glück und Eigennutz mithilfe seiner Unterscheidung zwischen höheren und niederen Freuden zu vereinen. Dieser Vorwurf geht ins Leere. Wenn wir den Utilitarismus als eine Philosophie auffassen, nach der jeder nach seiner Fasson selig werden kann, so hat sich Mill vom Utilitarismus insofern entfernt, als er die Arbeiterklasse einem umfassenden Bildungsund Erziehungsprogramm unterziehen will, um sie reif für den Sozialismus zu machen. Die Kernbotschaft des Utilitarismus lautet vielmehr: Schafft geeignete Rahmenbedingungen, damit Aktionen, die Arbitrage-Vorteile wahrnehmen, in Richtung des Gemeinwohls wirken. Dies ist genau die Philosophie, die individuelle Freiheit sichert und die Umkehrung des von Watkins vermuteten Zusammenhangs. Nur wenn Menschen Arbitrage-Vorteile wahrnehmen können, ist ein Leben in Freiheit möglich.

Was bleibt von John Stuart Mill? Mill war kein Sozialist; aber er hat für den Sozialismus britischer Sozialisten – der Marxsche Kommunismus war ihm dagegen immer unheimlich – geworben, um die Arbeiterklasse aus ihrem sozialen, psychischen und materiellen Elend herauszuholen. Die Gegenargumente waren für ihn bloß Staub in einer Waagschale. Er hat seinen ökonomischen Sachverstand bemüht, um die Einwände gegen den Sozialismus zu entkräften. Seine Fixierung auf die in seinen Augen geradezu skandalöse Einkommensverteilung hat ihn das zentrale Problem jeder arbeitsteiligen Volkswirtschaft übersehen lassen: Woher wissen die zentralen Organe um die Bedürfnisse der Arbeiterklasse, wie stimmen sie Angebot und Nachfrage aufeinander ab und wie wollen sie umwälzenden technischen Fortschritt in die bestehende Produktionsstruktur integrieren. Auch die bereits von Aristoteles aufgeworfene Frage, wer kümmert sich um das Gemeinwohl, wenn alle verantwortlich sind, wird von ihm nicht beantwortet. Es ist erstaunlich, dass der allseits gebildete Mill nicht die utopischen Entwürfe

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von Thomas Morus oder Tommaso Campanella kennt, in denen sorgfältig herausgearbeitet wird, welche institutionellen Vorkehrungen eine Gemeinschaft, die nicht auf das Eigeninteresse zählen kann, braucht, damit das erwünschte gemeinsame Wohl zustande kommt: Behördliche Disziplinvorgaben haben die Individuen so im Griff, dass sie, wenn sie ausbrechen wollten, faktisch aus der Gemeinschaft ausgeschlossen würden. Mill hofft darauf, dass die individuelle Arbeitsmoral besser würde, weil die Arbeiter wüssten, dass sie für sich und nicht für einen Ausbeuter arbeiteten. Schließlich gibt er diese Hoffnung auf; er glaubt nicht mehr, das Wollen der Arbeiterklasse soweit formen zu können, dass für sie die Arbeit für das Gemeinwohl in den Mittelpunkt ihres Lebens rückte. Er skizziert eine Alternative zum Sozialismus: Auch das Zusammenspiel von Privateigentum und Wettbewerb würde die Arbeiterklasse besserstellen, falls die politisch Verantwortlichen für geeignete institutionelle Rahmenbedingungen sorgten. Der Mill von heute würde sich vermutlich am ehesten dem ordoliberalen Kreis um Walter Eucken, der die auf privatem Eigentum gründende Macht gesetzlich zügeln will, zugehörig fühlen. Politikern von heute, die mit dem Slogan ‚Wer hat, der gibt‘ für ihre Politik werben und ein Hochsteuerpaket aus Vermögensabgaben, Vermögenssteuer, höherer Erbschaftssteuer und höheren Spitzensteuersätzen schnüren wollen, würde Mill ins Stammbuch schreiben (s. Kap. V.39): Zwar stünde es ihnen frei, in die Einkommensverteilung nach ihrem Belieben einzugreifen, doch müssten sie die Konsequenzen aus der Umverteilung durch Beobachtung und Überlegung herausfinden gleich irgendeiner physikalischen oder geistigen Wahrheit: Wenn die Umverteilung die Kapitalbildung schmälere, ginge das zulasten der zukünftigen Erwerbstätigkeit – whether they like it or not. Was hat Mill der Ökonomie von heute zu sagen? Der Mill-Kenner, Neil de Marchi (1989, 290), kommt in seinem Essay über die Wirkung Mills auf die politische Ökonomie zu dem Schluss, dass sein größter Einfluss wohl darin gelegen habe, andere zu ermutigen, so wie er es selbst über Harriet Taylors Einfluss

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auf sich selbst sagte, kühner und zugleich vorsichtiger vorwärts zu streben. Ob seine Botschaft die Ökonomie von heute noch erreicht, ist zweifelhaft. Sie versucht sich – nach Alfred Marshalls Umbenennung der „Political Econ­ omy“ in „Economics“ – auf eine Stufe mit den Naturwissenschaften zu stellen, um ebenfalls klare und eindeutige Ergebnisse zu liefern. Das ist nicht der Weg, den Mill weisen würde. Zu so klaren Ergebnissen, wie die Physiker oder andere Naturwissenschaftler präsentieren könnten, wäre die politische Ökonomie nicht in der Lage. Für Mill ist es undenkbar, in seinen Überlegungen nicht auch auf die Kenntnisse benachbarter Disziplinen zu bauen, um Einfluss auf die Politik nehmen zu können. In seiner Autobiographie schreibt er über seine Principles, es sei nicht bloß „a book merely of abstract science, but of application. It treated Political Econ­ omy not as a thing by itself, but as a fragment of a greater whole, a mere department of Social Philosophy, and so interlinked with all the other branches that its conclusions, even in its own peculiar province, that of Wealth, are only true conditionally, subject to interference and counteraction from causes not directly within its domain“ (CW I, 242). Er warnt vor Leuten, „who knew nothing but political economy (and therefore knew that ill)“ (CW I, 242). Wer einen Blick auf die praktische Politik wirft und Parlamentsdebatten insbesondere zum internationalen Handel auswertet, muss erkennen, dass Ökonomen, die nicht über den ökonomischen Tellerrand zu blicken vermögen, weder verstanden würden noch Einfluss ausüben könnten.

Literatur Aristoteles: Politik, griechisch und deutsch. Leipzig 1879. Bentham, Jeremy: The Rationale of Reward. London 1825. Braun, H. J.: Wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungsprozesse in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1984. Carlyle, Thomas: Der Chartismus. In: Ders.: Heldentum und Macht. Schriften für die Gegenwart. Leipzig o. J., 23–129.

J. Starbatty Carlyle, Thomas: Latter-Day Pamphlets, Chap. VIII: Jesuitism. London 1850. Harrison, Ross: Bentham, Jeremy (1748–1832). In: The New Palgrave. A Dictionary of Economics, Bd. I. London/Basingstoke 1987, 226–229. Hayek, F. A. von (Hg.): John Stuart Mill and Harriet Taylor – Their Friendship and Subsequent Marriage. London 1951. Hayek, F. A. von: Ungleichheit ist nötig. In: Wirtschaftswoche vom 6. März 1981. Höffe, Otfried: Einführung in die utilitaristische Ethik. München 1975. Höntzsch, Frauke: Steuern zum Wohle aller. John Stuart Mills sozialistische Reform des Privateigentums. In: Sebastian Huhnholz (Hg.): Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute. Baden-Baden 2018, 209–231. Lenin, W. I.: Staat und Revolution [1917]. Frankfurt a. M. o. J. Marchi, Neil de: John Stuart Mill. In: Joachim Starbatty (Hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. I. München 1989, 266–290. Morus, Thomas: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia [1518, 3. Aufl.]. Übersetzung von Klaus J. Heinisch. In: Joachim Starbatty (Hg.): Über Thomas Morus’ Utopia. Hildesheim/Zürich/New York 2016, 1–127. Nietzsche, Friedrich: Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, Werke in sechs Bänden, Bd. VI. Hg. von K. Schlechta. München/Wien 1966. Ricardo, David: Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung [1817]. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Fritz Neumark. Frankfurt a. M. 1972. Salin, Edgar: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart, 5. Aufl. Tübingen/Zürich 1967. Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde. Göttingen 1965. Smith, Adam: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes [1786], 5. Aufl. Jena 1923. Sowell, Thomas: Classical Economics Reconsidered. Princeton 1974. Starbatty, Joachim: Variation zu einem alten Thema: das Arbitrage-Phänomen. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 38 (1989), 9–24. Starbatty, Joachim: Ein Ökonom in Utopien. In: Ders.: Über Thomas Morus’ Utopia. Hildesheim/Zürich/ New York 2016a, XXXVII–LXI. Starbatty, Joachim: Die englischen Klassiker der Nationalökonomie. Lehre und Wirkung, 2. Aufl. Stuttgart 2016b. Watkins, John W. N.: Drei Auffassungen menschlicher Freiheit. In: Ders.: Freiheit und Entscheidung. Tübingen 1978, 198–214 Wiese, Leopold von: Mill, John Stuart. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 7. Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1961, 343–346.

Personenregister

A Addison, Joseph, 309 Adorno, Theodor W., 257 Ampère, André-Marie, 370 Aquin, Thomas von, 174, 421 Aristipp, 380 Aristoteles, 24, 26, 36, 55–57, 59, 60, 108, 134, 174, 178, 180, 254, 256, 260, 265, 316, 355, 421, 439, 443, 447 Augustinus, 421 Aurel, Mark, 59 Austin, Charles, 248 Austin, John, 4, 31, 57, 201, 270 Austin, Sarah, 4 B Bacon, Francis, 56, 174, 175, 178, 411 Bagehot, Walter, 130, 146, 321, 322, 324, 325, 354 Bain, Alexander, 30, 171, 179, 180, 270, 346, 369 Bäumer, Gertrud, 420 Bayes, Thomas, 367 Beauvoir, Simone de, 421–424 Bebel, August, 419, 423 Benhabib, Seyla, 430 Bentham, George, 4 Bentham, Jeremy, 4–6, 15–20, 23–25, 32, 42, 55, 59, 61, 64–66, 69, 71, 73, 74, 76, 93, 99, 115, 124, 156, 168, 209, 224, 241, 267–269, 271, 274, 275, 277, 279, 280, 285, 289, 291, 295, 301, 308–310, 313, 332, 338, 341, 345–348, 352, 355, 379–381, 385–387, 392–394, 401, 405, 410, 435, 443 Bentham, Samuel, 4 Berkeley, George, 178 Berlin, Isaiah, 259, 261, 262, 399, 406–410, 412 Blanc, Louis, 189, 190, 250 Bonaparte, Napoléon, 33, 196 Bradley, Francis Herbert, 379, 380, 384, 386, 393 Brentano, Franz, 24 Burke, Edmund, 51, 129 Butler, Joseph, 332

Butler, Judith, 422, 428–430 Byron, George Gordon, Baron, 349 C Cabet, Étienne, 250, 438 Campanella, Tommaso, 447 Cantillon, Richard, 79, 80 Carey, Henry Charles, 143, 149 Carlyle, Thomas, 75, 94, 95, 200, 236, 256, 380, 436, 443, 445 Chapman, Henry S., 145 Chapman, John, 36 Chrysipp, 58 Cicero, Marcus Tullius, 60, 267 Coleridge, James Taylor, 23 Coleridge, Samuel Taylor, 6, 16, 20, 23–26, 64, 73, 94, 95, 254, 401 Comte, Auguste, 20, 26, 29–33, 90, 92, 93, 145, 179, 196, 201, 207, 209, 224, 331, 332, 334, 335, 398, 401, 411 Condillac, Abbé Étienne Bonnot de, 80 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas, Marquis de, 253, 418, 421 Considerant, Victor, 189 D Darwin, Charles, 210, 368 d’Eichthal, Gustave, 29, 30, 201 Demosthenes, 56 Descartes, René, 366, 411 Dewey, John, 241, 398, 399, 401–404 Dohm, Hedwig, 418 Dumont, Pierre Etienne Louis, 93, 95 Dworkin, Ronald, 250 E Ellis, William, 248 Engels, Friedrich, 247, 423, 425 Epikur, 59, 265, 314, 380

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 F. Höntzsch (Hrsg.), Mill-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05930-7

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450 F Faraday, Michael, 370 Ferguson, Adam, 253, 341 Fichte, Johann Gottlieb, 26 Fonblanque, Albany, 19 Fourier, Charles, 189, 190, 239, 250, 419, 438 Fox, Robert Barclay, 171 Fox, William Johnson, 42 Fraser Rae, William, 143 Freud, Sigmund, 192 Friedan, Betty, 423–425 G Gaus, Gerald, 397 Goethe, Johann Wolfgang von, 6, 37, 90, 407, 410, 435 Goldman, Emma, 420 Gomperz, Theodor, 122, 172, 192 Gossen, Hermann Heinrich, 152 Gouges, Olympe de, 416, 423 Gray, John, 406 Green, Thomas Hill, 399, 400 Grote, George, 31, 47, 57–59, 380 Grotius, Hugo, 270 Guizot, François, 31, 197, 224 H Habermas, Jürgen, 324 Hamilton, Sir William, 65, 67, 71, 72 Hardy, Thomas, 9, 41 Hare, Richard, 76, 388, 392 Hare, Thomas, 51, 133, 134, 354, 355 Harrod, Roy, 388 Hartley, David, 25, 268, 271, 277, 308, 310, 311 Hayek, Friedrich August von, 41, 116, 136, 141, 200, 219, 220, 399, 406, 409–412, 437 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 26, 180, 236, 411, 421 Hempel, Carl, 367, 370 Herder, Johann Gottfried, 26, 254, 407 Herodot, 56 Herschel, John, 364, 370, 371 Hippel, Theodor Gottlieb von, 418 Hirsch, Jenny, 417, 419 Hobbes, Thomas, 63, 230, 411 Hobhouse, Leonard T., 399–401 Hobson, John A., 399 Hodgskin, Thomas, 235 Hohfeld, Wesley Newcomb, 270 Horaz, 55 Horkheimer, Max, 256 Humboldt, Wilhelm von, 4, 19, 35–40, 125, 228, 244, 253–256, 284, 407, 410 Hume, David, 79, 81, 82, 159, 175, 209, 210, 214, 236, 341, 345, 346, 348, 411 Hunt, Henry, 11 Hutcheson, Francis, 277

Personenregister J James, William, 381 Jesus, 59, 335, 446 K Kant, Immanuel, 23–25, 36, 100, 102, 104, 105, 109, 136, 175, 180, 262, 267, 270, 346, 392, 395, 405, 427 Keynes, John Maynard, 215, 217 Kleisthenes, 57 Koch, Robert, 373 L Lange, Helene, 420 Lassalle, Ferdinand, 247 Lenin, Wladimir Iljitsch, 421, 442 Locke, John, 25, 66, 79, 81, 91, 119, 236, 241, 397 Longe, Francis, 149 Louis, Pierre Charles Alexandre, 373 Lukács, Georg, 257 Lukrez, 56 M Mackintosh, James, 65, 76 Malthus, Thomas Robert, 79, 83, 142–144, 146, 149, 152, 215, 238, 239, 256, 436, 440 Marmontel, Jean-François, 6, 94 Marshall, Alfred, 215, 448 Marshall, James Garth, 73 Marx, Karl, 79, 128, 192, 213, 215, 217, 218, 235, 236, 238, 247, 250, 256, 257, 393, 411, 421, 438, 447 Maslow, Abraham, 255, 424 Mill, James, 3–7, 9, 15, 19, 20, 24, 26, 32, 55, 56, 61, 65, 91–97, 142, 152, 179, 200, 206, 224, 230, 241, 254, 268, 269, 277, 291, 301, 307, 308, 310, 313, 338, 352, 355, 356, 381, 394, 397, 405, 435 Millar, John, 253 Millett, Kate, 420, 423, 425, 433 Mises, Ludwig von, 247, 409 Mitford, William, 57 Molesworth, William, 20, 31 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de, 328, 356 Moore, George Edward, 106, 181, 275, 380 Morus, Thomas, 439, 440, 442, 447 N Newman, Francis William, 143 Newton, Isaac, 365, 366, 374, 375 Nietzsche, Friedrich, 256, 420, 446 Nozick, Robert, 109 Nussbaum, Martha, 167, 257, 260, 427, 428, 430, 432

Personenregister O Owen, Robert, 189, 190, 193, 239, 248, 250, 419, 424 P Paley, William, 64, 66, 76, 209 Panaitios, 60 Pankhurst, Emmeline, 419, 420 Parfit, Derek, 392 Pateman, Carole, 426 Perikles, 57 Pettit, Philip, 262 Petty, William, 79, 81, 82 Philosophical Radicals, 5, 19, 20, 55, 57, 64, 74, 142, 156, 248, 275–277, 279, 352, 410 Pizan, Christine de, 421 Place, Francis, 25, 356 Platon, 33, 45, 55–57, 59, 60, 91, 131, 178, 267, 355, 381, 393, 421, 439, 443 Popper, Karl, 367 Proudhon, Pierre-Joseph, 438 Pufendorf, Samuel von, 270 Q Quesnay, François, 79, 80, 217 Quine, Willard Van Orman, 173 Quintilian, 55 R Rathbone Jr., William, 354 Rawls, John, 109, 110, 122, 247, 324, 393, 399, 403– 406, 408, 426, 427 Rey, Pastor Louis, 206 Ricardo, David, 4, 79, 83, 84, 142–146, 149, 150, 152, 213, 215, 216, 218, 237, 338, 341, 436, 437, 446 Risueño de Amador, Benigno, 373 Roebuck, John Arthur, 7, 248 Rousseau, Jean-Jacques, 26, 128, 208, 255, 256, 327 Ruskin, John, 420, 425 S Saint-Simon, Henri de, 30, 189, 201, 435, 438 Say, Jean-Baptiste, 84, 152, 215, 216 Schleiermacher, Friedrich, 55 Schmitt, Carl, 326 Schumpeter, Joseph, 256, 342, 435, 437, 438, 442, 446 Scrope, George, 144 Sedgwick, Adam, 55, 65, 66, 71 Semmelweis, Ignaz, 370, 373 Senior, Nassau William, 144, 146 Sidgwick, Henry, 67, 68, 71, 72, 76, 274, 275, 278, 379, 386, 392, 405 Smart, J. J. C., 392 Smith, Adam, 4, 79–84, 116, 142, 145, 147, 148, 152, 217–219, 235, 236, 243, 291, 338, 339, 341, 345, 346, 348, 391, 411, 444

451 Sokrates, 55, 56, 59, 265, 316, 387, 393 Spencer, Herbert, 276, 410 Stanton, Elizabeth Cady, 417, 419, 420, 424 Stoa/Stoiker, 58, 60, 381 Stöcker, Helene, 420 T Tacitus, 55 Taylor, Harriet, 3, 6–9, 30–32, 41–45, 48, 50, 89–91, 96, 114, 137, 141, 142, 155, 166, 168, 171, 182, 202, 205, 207, 208, 210, 243, 249, 271, 277, 329, 355, 381, 409, 416, 418, 419, 426, 435– 437, 443, 445, 447 Taylor, Helen, 7, 9–11, 42, 44, 89, 155, 166, 187, 205, 210, 331, 418 Taylor, John, 3, 6–9, 42, 141 Taylor, Richard, 386 Thornton, William Thomas, 10, 75, 149 Thukydides, 55, 57 Tocqueville, Alexis de, 20, 47–52, 113, 201, 224, 227, 230, 256, 321, 352 Turgot, Anne Robert Jacques, 79, 97, 253 U Urmson, James O., 388 V Vaux, Clotilde de, 31, 32 Vico, Giambattista, 407 W Wakefield, Edward Gibbon, 290 Ward, William G., 307–309, 311 Weber, Max, 130, 134, 209, 256, 323, 329, 355 Weismann, August, 368 Whately, Richard, 174, 178 Whewell, William, 64–74, 76, 143, 149, 176, 180, 181, 361, 364–371, 373–375 Williams, Bernard, 394 Wollstonecraft, Mary, 156, 416, 423 Wordsworth, William, 6, 24–26, 95, 349, 435 X Xenophon, 59 Y Young, Iris Marion, 422 Z Zetkin, Clara, 419