Tradition und Moderne in Kolumbien: Das Neben- und Gegeneinander lyrischer Strömungen in den 20er Jahren 9783964562357

Estudio sobre la poesía colombiana de los años veinte.

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Tradition und Moderne in Kolumbien: Das Neben- und Gegeneinander lyrischer Strömungen in den 20er Jahren
 9783964562357

Table of contents :
Inhalt
Einführung
1. Kolumbien in den 20er Jahren
2. Ein Überblick über die kolumbianische Lyrik in den 20er Jahren
3. Die Lyrikschaffenden auf der Suche nach der Moderne
4. Einzelinterpretationen
Zusammenfassung
Bibliographie
Nachwort

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Hubert Pöppel Tradition und Moderne in Kolumbien

Editionen der Iberoamericana Reihe m Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 47

Hubert Pöppel

Tradition und Moderne in Kolumbien Das Neben- und Gegeneinander lyrischer Strömungen in den 20er Jahren

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1994

Gedruckt mit Unterstützung der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pöppel, Hubert: Tradition und Moderne in Kolumbien : das Nebeneinander und Gegeneinander lyrischer Strömungen in den 20er Jahren / Hubert Pöppel. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1994 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 47) zugl.: Bamberg, Univ., Diss ISBN 3-89354-847-5) NE: Editionen der Iberoamericana / 03

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

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Inhalt

Einführung 1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.1.5. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3.

Kolumbien in den 20er Jahren Politische und wirtschaftliche Entwicklung bis 1930 Wiederaufbau nach den " Krieg der Tausend Tage" Der Weg in die Kaffeewirtschaft und die Sonderstellung Antioquias Die gesellschafdichen Bedingungen des Wirtschaftsbooms Der Weg in die Krise Begriffliche Annäherung an die Situation in den 20er Jahren Das Bildungs- und Erziehungssystem Verfassungsrechtliche Grundlagen Die Bildungspraxis in den 20er Jahren Die Diskussion um die Reform des Schulwesens

2. Ein Überblick über die kolumbianische Lyrik in den 20er Jahren 2.1. Mündliche Lyriktradition 2.1.1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit traditioneller Volkspoesie 2.1.2. Mündlich tradierte Lyrik außerhalb des Korpus der traditionellen Volkspoesie 2.1.2.1.Die Rezeption des Werkes von Julio Flórez 2.1.2.2.Populäre Lyrik in Liederheften 2.2. Lyrik in Schulbüchern 2.2.1. Der Bestand an Lesebüchern für die Schulen 2.2.2. Bücher für den Spanischunterricht an den Grundschulen 2.2.3. Schulbücher der Sekundarstufe 2.3. Lyrik in den kommerziellen Printmedien 2.3.1. Lyrikbände und Anthologien 2.3.2. Zeitschriften, Zeitungen und Literaturbeilagen 2.3.3. Versuch einer statistischen Auswertung der Lyrikpublikation in Zeitschriften und Zeitungen 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2.

Die Lyrikschaffenden auf der Suche nach der Moderne Die polemische Konstitution eines einheitlichen Diskurses Angel Maria Céspedes und Eduardo Castillo Eduardo Castillo und José Eustasio Rivera Das poetologische Credo der Generación del Centenario Alternativen zum herrschenden Konsens

7 10 11 12 13 15 20 23 28 28 29 33 38 38 38 51 51 55 61 62 64 73 81 81 85 93 105 106 106 112 116 125

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3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3.

Panida Voces Von Voces zu Los Nuevos Los Nuevos Reaktionen auf Los Nuevos Die Interviews in El Tiempo. Lecturas Dominicales Die Umfrage in Santaféy Bogota Lyrikbände nach 1925

125 134 144 150 162 162 168 172

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.

Einzelinterpretationen Luis María Mora: Idioma nativo Julio Flórez: Mis flores negras Guillermo Valencia: Hay un instante... Eduardo Castillo: Difusión León de Greiff: Sonatina en re menor

178 178 186 192 202 210

4.6.

Luis Vidales: Cinematografía nacional

221

Zusammenfassung

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Bibliographie

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Nachwort

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Einführung Im Jahre 1928 hielt Daniel Samper Ortega, Mitglied der Academia Colombiana, an der Universität Salamanca einen Vortrag über "El movimiento intelectual de la hora presente en Colombia". Er gelangte dabei zu einer unbescheidenen These: "En resumen: creo que en Colombia se está presentando ahora el momento de la mayor y más importante actividad literaria que registre su historia."1 Nun melden sich seit einigen Jahren und Jahrzehnten in Kolumbien immer wieder Kritiker zu Wort, die diese Aussage deutlich konterkarieren. Juan Gustavo Cobo Borda sprach, in Bezug auf die Lyrik, von einer "tradición de la pobreza"2 und Gabriel García Márquez nannte die gesamte Literatur seines Landes gar einen "Betrug an der Nation"3. Natürlich böte sich zur Ehrenrettung Samper Ortegas die Behauptung an, die Literatur der 20er Jahre sei zwar besser gewesen als die, die sie beerbt hatte, aber eben doch nicht gut genug. Auf eine derartige Diskussion über die absolute Qualität von Literatur zielt die vorliegende Arbeit indes nicht ab. Das Mitglied der Akademie nimmt mit seiner Rede in Spanien deshalb eine so exponierte Stellung ein, weil er ansatzweise eine Methode der Literaturbetrachtung anwendet, die würdig ist, weiter verfolgt zu werden. Vor dem zitierten Satz hatte er es nämlich unternommen, ein breites Spektrum von parallel nebeneinander existierenden literarischen Richtungen vorzustellen: seine Kollegen von der Akademie, die Dichter aus der Gruppe La gruta simbólica (unter die er auch die Modernisten um Valencia subsumiert), die Autoren des Centenario sowie einige junge Schriftsteller (Los Nuevos). Betrachtet man nun die wichtigsten Veröffentlichungen, die sich in den letzten Jahren mit kolumbianischer Lyrik (bzw. Literatur) beschäftigten, dann kann der Eindruck entstehen, eine solche wie auch immer beschaffene Koexistenz innerhalb eines bestimmten Zeitraumes habe es eigentlich nie gegeben. Als noch immer beliebteste Form der Darstellung, insbesondere der Lyrik, gilt ganz offensichtlich die der Beschreibung von sukzessive aufeinanderfolgenden und sich ablösenden GeneratioVeröffentllcht In der Revista del Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosarlo, Heft 221, 1928, S. 61-64, hier S. 64. Cobo Borda, 1979 und 1980. Garcia Márquez, 1985 (Erstveröffentlichung 1960); diese Liste ließe sich verlängern mit den Beiträgen von Armando Romero: "Ausencia y presencia de las vanguardias en Colombia" (1982), wobei er das Schwergewicht auf "ausencia" legt, mit der Studie von Helena Araüjo, 1989, die Ihrem Durchgang durch die Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts den alten Ehrentitel Bogotás als "Atenas Suramerlcana" zugrunde legt, oder auch, aus dem Bereich der fiktlonalen Literatur, mit Ricardo Cano Gavlrla, 1981, und seiner Theorie von der Verschwörung durch das "Prytaneum".

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nen.4 Eine von diesem Verfahren abweichende Methode weisen bezeichnenderweise nur die Abschnitte der großen Geschichtskompendien auf, in denen die Autoren die Literatur besprechen, die innerhalb einer von politischen Ereignissen vorgegebenen Epoche entstand.5 Das Ziel dieser Studie ist es, an die später zu selten praktizierte Methode Samper Ortegas anzuschließen, sie jedoch in wesentlichen Punkten zu modifizieren. Es soll hier eine Querschnittanalyse vorgelegt werden, die sich auf den Bereich der Lyrik und auf einen relativ eng begrenzten Zeitabschnitt von zehn Jahren beschränkt.6 Gleichzeitig aber erfolgt eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes über die normalerweise von der Literaturwissenschaft ins Auge gefaßte Höhenkammliteratur hinaus, indem auch die Bereiche mündlich tradierte Lyrik/Volkslyrik sowie die in den Schulen gelesene Poesie mit in die Überlegungen einbezogen werden. Da zudem Fragen der Rezeption berücksichtigt werden, lautet eine erste Aufgabenstellung: Welche Art von Lyrik wurde von wem produziert, publiziert und rezipiert, und welche Beziehungen gab es zwischen den unterschiedlichen Lyrikkonzepten? Die 20er Jahre bieten sich aus zwei Gründen für die intendierte Untersuchung an. Zum einen machten in diesem Dezennium in vielen lateinamerikanischen Ländern Bewegungen, die der Avantgarde zuzurechnen sind, auf sich aufmerksam und konfrontierten das Publikum mit einer grundlegend neuen Form von Lyrik - ohne daß diese jedoch vermocht hätte, die alten Auffassungen gänzlich zu verdrängen. Zum zweiten wird dieses Jahrzehnt gerne als der Einbruch des 20. Jahrhunderts in Kolumbien angesehen, als der Zeitraum, in dem Kolumbien Anschluß an die durch Kapitalismus, Technisierung und gesellschaftliche Umwälzungen gekennzeichnete Moderne fand.7 Zusätzlich zu der genannten methodischen Vorgehensweise wird sich die Arbeit daher auch mit einer zweiten Fragestellung beschäftigen: Auf welche Weise nahmen die Autoren der 20er Jahre die Modernisierung der Gesellschaft wahr und wie setzten sie dies konkret in ihrem lyrischen Schaffen um? In diesem Zusammenhang kann es nicht darum gehen, die viel diskutierten Thesen von Hugo Friedrich über Die Struktur der modernen Lyrik? am speziellen Beispiel Kolumbiens zu bestätigen oder zu widerlegen, noch gar zu einer neuen Theorie 4

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Vgl. dazu die literatura colombiana de los últimos sesenta años (Sondernummer der Revista Iberoamericana, mit dem Schwerpunkt Lyrik S. 633-853), 1984, den zweiten Band des Manual de literatura colombiana, 1988, sowie zuletzt die Historia de la poesía colombiana, 1991. Vgl. Manual de historia de Colombia, 1982 (1. Auflage 1979), Band 2, S. 615-693, und Band 3. S. 447536, sowie Nueva Historia de Colombia, 1989, Band VI, S. 9-108; Cobo Borda, 1987, arbeitet mit unterschiedlichen Methoden: mit der Generationenabfolge sowie mit der Besprechung einzelner Autoren und von bestimmten Zeltabschnitten. Selbstredend werden dabei auch Vor- und Rückgriffe zugelassen. Vgl. dazu stellvertretend Uribe Cells, 1991, speziell seine Bewertungen S. 29-35. Friedrich, 1985: vgl. dazu die wohl als Gegenentwurf zu Friedrich zu verstehende Studie von Peter Bürger, 1992. Analog dazu geht es ebenfalls nicht u m die Diskussion einer Theorie der Avantgarde (etwa nach Bürger, 1987) oder um eine Neubewertung des Modemismus (etwa In Absetzung zu Gutiérrez Glrardot, 1983).

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der modernen Lyrik vorzudringen. Die bescheidenere Aufgabe wird es sein, aus dem Gesamtkomplex kolumbianische Lyrik im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne in den 20er Jahren heraus zu einem Verständnis dessen zu kommen, was damals unter moderner Lyrik verstanden wurde und wie dies aus heutiger Sicht zu bewerten ist. Im konkreten Aufbau der Arbeit spiegelt sich dies folgendermaßen wider: Das bewußt ausführliche erste Kapitel9 versucht, die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Kolumbien unter Rückgriff auf die Theorien Max Webers auf den Begriff der "partiellen Modernisierung" zu bringen. Die Darstellung des kolumbianischen Schulwesens soll darüber hinaus die Grundlagen für die Diskussion der Frage nach den Rezipienten von und deren Erwartungen an Lyrik schaffen. Überwiegend deskriptive Funktion kommt dem zweiten Kapitel zu. Es beschäftigt sich mit der ganzen Bandbreite des Spektrums der Lyrik, von Volkspoesie über Texte, die in Schulbüchern veröffentlicht wurden, bis hin zu den Gedichten in Zeitungen, Zeitschriften und Buchpublikationen. Die Aufgabe des dritten Kapitels wird in einer genaueren Analyse dieses letzten Ausschnittes aus dem Gesamtspektrum bestehen, mithin des Bereiches, dessen sich die Literaturwissenschaft normalerweise annimmt. Dabei steht nicht alleine die Überprüfung des damaligen Theorems vom Kampf der Generationen (der Generación del Centenario und Los Nuevos) im Mittelpunkt, sondern auch die Frage nach dem Einfluß der partiellen gesellschaftlichen Modernisierung auf die Lyrik. Das vierte Kapitel füllt eine schmerzliche Lücke in der bisherigen Beschäftigung mit der kolumbianischen Lyrik der 20er Jahre. Von wenigen Ausnahmen - die bekanntlich die Regel bestätigen - abgesehen, gibt es keine Publikationen mit ausführlichen Interpretationen von Einzelgedichten. Die Besprechung der ausgewählten sechs Werke öffnet das im dritten Kapitel vorübergehend eingeschränkte Spektrum wieder. Ferner sollen die Interpretationen wichtige Detailinformationen zutage fördern, die in die abschließende Thesenformulierung einfließen.

Im Gegensatz etwa zu der Mexikos, Argentiniens, Kubas, Perus oder Chiles kann nicht von einer profunden Kenntnis der Geschichte Kolumbiens In Jener Zelt ausgegangen werden, da speziell die deutsche Hlspanlstlk auch die damalige Literatur - unter Absehung von José Eustaslo Rlveras Roman La voràgine - bislang kaum zur Kenntnis genommen h a t

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1. Kolumbien in den 20er Jahren

Kolumbien durchlebte in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts einen in seiner bisherigen Geschichte beispiellosen Prozeß des Umbruchs und der Neuorientierung. Jazz und Fox-Trott, Tennis und Fußball, Bier und Kaugummi, Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge prägten nicht nur das Erscheinungsbild der Illustrierten, sondern griffen auch tief in das gewohnte Leben der Menschen ein. Industrien entstanden, Straßen wurden angelegt, die Städte wuchsen und veränderten ihr Gesicht. Die Verwaltungen wurden ausgebaut, die Wirtschaft florierte, der Kaffee wurde zum wichtigsten Exportprodukt und Auslandskredite flössen ins Land. Doch ebenso unübersehbar waren die negativen Auswirkungen dieser Entwicklungen und die weiterhin existierende Rückständigkeit. Das Proletariat, das in die Städte zog, lebte in tiefstem Elend. Unbeschreibliche Arbeitsbedingungen herrschten in den Bananenanbaugebieten und bei der Erdölförderung. Ein Großteil der Bauern auf dem Land war noch immer eingebunden in feudale oder semifeudale Strukturen. An den Erlösen des Kaffeehandels verdienten nicht die kleinen Produzenten, sondern die Zwischenhändler und Eigentümer der großen Handelsgesellschaften. Mehr als 70% der Bevölkerung waren Analphabeten und konnten deshalb an dem über Bücher, Zeitschriften und Zeitungen vermittelten Kulturleben nicht partizipieren. Viele Regionen des Landes blieben nur durch Maultierpfade zugänglich. Die staatlichen Verwaltungen vermochten die ihnen gestellten Aufgaben nicht zu bewältigen. Das formal demokratische Regierungssystem war in der Realität eine Einparteienherrschaft, gegründet auf Wahlbetrug, Klientelwesen und massiver Einflußnahme von Seiten der Kirche. Angesichts dieser Diagnose ist es nicht verwunderlich, daß die 20er Jahre in Kolumbien auch ein Jahrzehnt der Auseinandersetzungen über den einzuschlagenden Weg waren. 1926 wurde die konservative Zeitschrift Luz y Sombra gegründet, die dieser Situation in ihrem ersten Leitartikel Ausdruck verlieh: "Un grupo numeroso de jóvenes distinguidos, entusiastas defensores de su patria y de su fe, ha creído conveniente y oportuno presentarse hoy en la liza periodística. [...] Allí laborará en el campo común de los patriotas por el desarrollo de la riqueza pública, por el fomento de las industrias, por la propagación de los oficios y las artes, por los caminos y escuelas, por la morali-

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dad social y, en suma, por el honor patrio y por la dignidad personal del ciudadano."1 Für das andere Extrem in der Diskussion soll an dieser Stelle der Kommunist Luis Tejada stehen: "Muchos ciudadanos ilusionados creen que hoy empieza para el país una era de progreso efectivo. Es posible que así sea. Pero no faltará quien, demasiado retrasado tal vez o tal vez demasiado futurista, vea con cierto terror esa próxima inundación de progreso, que traerá sin duda un odioso e inconfundible sello norteamericano."2 Ein Kommunist warnte im Kolumbien der 20er Jahre vor den Folgen des Fortschrittes, während konservative Kreise diesem Fortschritt huldigten. Gleichzeitig gehörte Luis Tejada zu den Vordenkern einer neuen Auffassimg von Lyrik und wurde von einer Gruppe junger Schriftsteller, die sich und ihrer Zeitschrift den Namen Los Nuevos gaben, als geistiger Mentor angesehen, während Luz y Sombra erbitterte Polemiken gegen die neuen Literaturkonzepte veröffentlichte. Die Darstellung der wirtschaftlichen und politischen Lage des Landes sowie des Bildungssystems soll verdeutlichen, wie stark sich kulturelle und gesellschaftliche Interessen überlagerten und welche Bedeutung außerliterarische Einflüsse für die Lyrik hatten.

1.1. Politische und wirtschaftliche Entwicklung bis 1930 Drei Faktoren waren für die beginnende Industrialisierung Kolumbiens von entscheidender Bedeutung: Die nahezu explosionsartige Ausweitung des Kaffee-Exportes; der Ausbau des Verkehrssystems, insbesondere die intendierte Umstellung von kurzen Stichstrecken auf die zum ersten Mal als möglich erscheinende Verbindung der verschiedenen Wirtschaftszentren; die von den USA im Gegenzug zur Anerkennung der Abtrennung Panamas gezahlte Entschädigung und die Bereitschaft, in großem Umfang Kredite im Ausland aufzunehmen. All diese Veränderungen gingen einher mit Wandlungen auch im politischen Sektor und führten 1930 mit der Machtübernahme der Liberalen Partei zum Ende der seit 1885 währenden konservativen Herrschaft.

Carlos J . Infante: "Dios y Patria", ln: Luz y Sombra 1, 27.11.1926. "Meditaciones extravagantes acerca de la libertad y el progreso" (1922), ln: Tejada, 1977, S. 102-104.

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1.1.1. Wiederaufbau nach dem "Krieg der Tausend Tage" Als Rafael Reyes 1904 zum Präsidenten gewählt wurde, war das Land in nahezu jeder Hinsicht zerstört. Der "Krieg der Tausend Tage" (1899-1902) hatte nicht nur mehr als 100 000 Menschenleben gekostet (bei einer Bevölkerungszahl von etwa vier Millionen), auch die gesamte Wirtschaft lag am Boden: Das Papiergeld war durch die Kriegsemissionen der Zentralregierung wertlos geworden; die auch vor 1899 schon unzureichende Verkehrsinfrastruktur in weiten Regionen des Landes nun unbrauchbar; große Teile der landwirtschaftlichen wie auch der bescheidenen Manufakturproduktion waren zum Erliegen gekommen; die Exportwirtschaft existierte praktisch nicht mehr, und die Staatsschulden hatten astronomische Höhen erreicht.3 Die Konservative Partei hatte sich zwar an der Macht halten können, sah sich nun aber einer Vielzahl von bewaffneten Gruppen und lokaler Machthaber gegenüber, die ihren Einfluß nicht aufgeben wollten. Diese Situation nutzten die USA aus, um sich durch die Unterstützung der Separationsbewegungen in Panama 1903 die Oberhoheit über den zu bauenden Kanal zu sichern.4 Um angesichts dieser Lage eine effektive Regierungsarbeit gewährleisten zu können, löste Reyes den handlungsunfähigen Kongreß auf, bildete eine verfassunggebende Nationalversammlung und ließ sich von dieser sein Mandat auf zehn Jahre verlängern. Auf der anderen Seite räumte er den Liberalen Mitbestimmungsrechte ein und pflegte gute Kontakte zu den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, vor allem zur Wirtschafts- und Handelsoligarchie. Seine Wirtschaftspolitik war geprägt von dem Versuch, über vorsichtige Staatsinterventionen, über protektionistische Handelspolitik und mittels der Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur das Wiedererstarken der Klasse des Besitzbürgertums und daraus folgend Ansätze zu privaten Investitionen zu fördern. Das frühzeitige Ende der Regierungszeit von Reyes, des Quinquenio, kam 1909, weil er versuchte, baldmöglichst gute Beziehungen zu den USA aufzunehmen und einen Vertrag über die Panamafrage abzuschließen. Darin sah er die Chance, ausländisches Kapital für dringend benötigte Investitionen ins Land zu bringen. Doch sein pragmatischer Ansatz scheiterte an ideologisch-nationalistischen Grundsätzen der beiden in sich und miteinander zerstrittenen Parteien sowie an der sich formierenden Opposition der zu Reichtum und Einfluß kommenden Elite in Antioquia.5 Während der Übergangsphase bis zur Wahl eines neuen Präsidenten im Jahre 1910, die zusammenfiel mit den Feiern zum 100. Jahrestag der Ausrufung der ersten Republik am 20. Juli 1810, formierte sich eine neue politische Gruppierung: die 3

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Genauere Angaben über die wirtschaftlichen Kosten des Krieges s. Sanin Cano, 1977, "Administración Reyes" (1909), S. 79-88. Zur Rolle der USA In Panama s. Lael, 1987, S. 1-51; Lemaltre Román, 1989; López Michelsen, 1989, S. 145-157. Vélez Ramírez, 1989, S. 201-203, 212; Meló González, 1989, S. 218; Lael, 1987, S. 53-83.

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Republikaner. Obwohl diese Koalition kurze Zeit später auseinanderfiel und sich innerhalb der nächsten vier Jahre die alten Parteien reorganisierten, blieb das Jahr 1910 richtungweisend für die nächsten Jahrzehnte, denn im Gefolge der republikanischen Bewegung schloß sich eine Gruppe von Intellektuellen zusammen, die das kulturelle Leben der nächsten zwanzig Jahre entscheidend beeinflussen und aus deren Mitte eine ganze Reihe von Präsidenten bis hinein in die 50er Jahre hervorgehen sollte: La Generación del Centenario6.

1.1.2. Der Weg in die Kaffeewirtschaft und die Sonderstellung Antioquias In den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wurde die verschlafene, abgelegene und aufgrund der Geographie kaum zugängliche Provinz Antioquia zu einem der entscheidenden Vorreiter für die Modernisierung und Industrialisierung Kolumbiens. Ausschlaggebender Faktor für diese Entwicklung war die Ausweitung des Kaffeeanbaus und -Exportes.7 Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte ein vom Staat unterstützter Prozeß der Urbarmachung von bis dato brachliegenden Rächen begonnen, der, als colonización antioqueña bekannt, die heutigen Provinzen Caldas, Risaralda, Quindio sowie Teile von Antioquia und Tolima umfaßte. In den neu erschlossenen Gebieten war die Konzentration des Eigentums an Land geringer als im übrigen Kolumbien.8 Dies führte dazu, daß eine relativ hohe Zahl von kleinen Betrieben entstand, die sich durch eine kombinierte Produktionsweise von Subsistenzwirtschaft und Marktorientierung auszeichneten. Der Beginn des Kaffeeanbaus in Kolumbien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag aber zunächst auf den großen Gütern Santanders und Cundinamarcas. Erst als die Erfolge des Kaffee-Exportes offensichtlich geworden waren, wagten die neuen Eliten Antioquias und die Kleinbauern die notwendigen Investitionen.9 Die Die Frage, ob die centenaristas eine literarische, polltische oder Journalistische Gruppierung waren und wer dieser Bezeichnung zuzuordnen Ist, wird In dieser Arbelt noch häufiger auftreten: an dieser Stelle seien vorerst einige der wichtigsten Namen erwähnt: Eduardo Santos (Besitzer der Zeitung El Tiempo, Staatspräsident 1938-1942), Enrique Olaya Herrera (Präsident 1930-1934), Laureano Gómez (Präsident 1950-1953), Luis Cano (Besitzer von Et Espectador), Armando Solano, Luis Eduardo Nieto Caballero (beide Journalisten), Tomás Rueda Vargas (Schriftsteller), Luis López de Mesa (Mediziner und Soziologe) sowie, mit aller gebotenen Vorsicht, die Dichter Eduardo Castillo, Luis Carlos López, José Eustasio Rivera, Aurelio Martínez Mutis und Porfirio Barba Jacob. Die Rolle Antioquias für die Wirtschaft Kolumbiens zu Beginn des Jahrhunderts soll an dieser Stelle soweit als möglich anhand der vorliegenden Daten beschrieben werden: auf weltergehende Interpretationen, wie z.B. die besonderen wirtschaftlichen Fähigkelten der cmOaqueños, die Ihrer puritanischen Ethik, ihrer Herkunft von Basken oder J u d e n entspringen soll sowie auf andere psychologtstlsche oder mythische Erklärungsmuster kann nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Botero Herrera, 1984, S. 11-13; McGreevey, 1971, S. 183-195. Vgl. LeGrand, 1986, S. 40-50; Palacios, 1980, S. 175-185. Meschkat/Rohde/Töpper, 1980, S. 95-97.

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verfügbaren Zahlen unterstreichen diese Entwicklung eindrucksvoll: 1913 produzierten die Provinzen Caldas und Antioquia schon ein Drittel der kolumbianischen Ernte. Bis 1932 hatten sie die bis dahin führenden östlichen Provinzen mit ihren riesigen Kaffeeplantagen überholt.10 Von 1870 bis 1930 hatte sich die Zahl der an diesem Exportartikel partizipierenden Landbevölkerung in ganz Kolumbien von 5 000 auf 900 000 gesteigert und damit einen Anteil von 18% erreicht11; in Antioquia war dieser Prozentsatz, entsprechend der kleinbäuerlichen Struktur, mit Sicherheit um ein Vielfaches höher. Zum Ende der 20er Jahre wurden mit Kaffee 70-80% der gesamten Exporterlöse Kolumbiens erzielt.12 Parallel zum Ausbau der exportorientierten Kaffeewirtschaft war auch das Verkehrssystem Kolumbiens den neuen Verhältnissen angepaßt worden. Die Alternative zum kostenintensiven Transport über Maultierpfade waren kurze Eisenbahnstichstrecken aus den Kaffeeanbaugebieten hinunter zum Rio Magdalena, der die Verbindung zu den Karibikhäfen darstellte, bzw. nach der Öffnung des Panamakanals 1914 auch nach Buenaventura am Pazifik. Doch die notwendigen Verbindungen für eine am Binnenmarkt orientierte Industrialisierung waren nicht rentabel und lagen daher nicht im Interesse der privaten Eisenbahngesellschaften.13 Trotz dieser Lage14 hatte die Handelsoligarchie Medellins schon um die Jahrhundertwende begonnen, Kapital, vorwiegend aus dem Zwischenhandel mit Kaffee, in Industrieanlagen zu investieren.15 Zwei Bereiche hatten dabei besonderes Gewicht: die importsubstituierende Textilindustrie und die Verbrauchsgüterindustrie. Beide waren auf Massennachfrage und die Verfügung über Geld in breiten Schichten der Bevölkerung angewiesen, eine Voraussetzung, die nur in der Kaffeeregion aufgrund der spezifischen Produktionsweise gegeben war. Die Fabriken16 veränderten nicht nur das Lebensumfeld der neuen Klasse der Industriearbeiter17, sondern griffen auch tief in alte Konsumgewohnheiten ein: "Una lista parcial de las fábricas existentes en Medellín en 1916 nos da una idea de la naturaleza de los productos que estaban transformando los hábitos 10

Ocampo Gavlrla, 1989, S. 214; McGreevey, 1971, S. 196. Schätzungen von McGreevey, 1971, S. 198. 12 Tovar Zambrano, 1989, S. 11; Molina, 1974, S. 28f. 13 McGreevey, 1971, S. 256; Molina, 1974, S. 25. 14 Die Schwierigkelten, die notwendigen Maschinen für die Textllherstellung a u s England oder die Getränkeindustrie a u s Deutschland auf Maultieren über die Andenpässe zu bringen und sie In Medellin wieder zusammenzubauen, lassen sich a u s dem Verlust von 12 Millionen Goldpesos ersehen, den die CompaniaAnttoquefiade Tejtdos vor der Aufnahme der Produktion gemacht hatte; Payne, 1986, S. 133. 15 Zur Herkunft der Eliten und der Kapitalakkumulation s. Payne, 1986, S. 129-141, und McGreevey, 1971, S. 185-201; hingegen kommt Botero Herrera, 1984, S. 11-39.175-178, zu dem Ergebnis, daß der Beginn der Industrialisierung in Medellin dem Kaffeeboom vorausging und daher das Kapital vorwiegend aus dlverslflzlerten Aktivitäten der bereits existierenden Eilten resultierte; der Kaffee hätte In der Anfangsphase n u r die notwendige Nachfrage geschaffen. 16 Botero Herrera, 1984, S. 54-80; Payne, 1986, S. 133-137. ' 7 Bzw. Arbeiterinnen, denn In der Textilindustrie, wie auch In den meisten übrigen Berelchen, waren zu drei Viertel Frauen beschäftigt; Botero Herrera, 1984, S. 174. 11

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de consumo del público: seis fábricas de chocolate, dos de fósforos, tres de gaseosas, seis de cigarillos, una de hielo, ocho de velas y jabones, una de galletas y confites y dos laboratorios farmacéuticos junto con numerosos talleres grandes de mecánica y fundición."18 In den 20er Jahren hatte sich die Wirtschaftselite19 aus Antioquia in den meisten Industriesektoren die Vorrangstellung in ganz Kolumbien gesichert und Produktionsstätten in allen größeren Städten eingerichtet.20

1.1.3. Die gesellschaftlichen Bedingungen des Wirtschaftsbooms Bevor 1923 der massive Zufluß ausländischen Kapitals die Entwicklung einleiten sollte, die gemeinhin danza de los millones oder prosperidad a debe genannt wird, hatten die Vertreter der traditionellen Gesellschaftsordnung noch einmal vier Jahre Zeit, sich zu formieren. Die Präsidentschaftswahlen 1918 zeigten, daß das Land von einer umfassenden Modernisierung der Gesellschaft noch weit entfernt war. Zwei konservative Intellektuelle21 standen sich gegenüber und warteten auf die Entscheidung der Kirche, wer zu wählen sei. Der größte Dichter des Landes, Guillermo Valencia aus Popayán, wurde von dieser des zu engen Umgangs mit Liberalen, des Antiklerikalismus sowie der Freimaurerei beschuldigt und für nicht wählbar erklärt. Unterstützung fand Marco Fidel Suárez, der in ärmlichen Verhältnissen in Antioquia aufgewachsen und unter kirchlicher Obhut zum Humanisten erzogen worden war.22 Die Kommentare von Alvaro Salom Becerra dürften, wenn auch polemisch sehr überspitzt, der Situation in Bogotá zu dieser Zeit nahe kommen: "Y Colombia era una republiqueta teocrática, feudal y pastoril, gobernada desde 1885 - por el Ilustrísimo y Reverendísimo Señor Arzobispo Primado y por el no menos ilustre y reverendo partido conservador, que hacían lo posible y lo imposible por mantener el 'statu quo' y por detener el progreso nacional. [...] los conservadores ortodoxos habían lanzado - con la aprobación 18

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Payne, 1986, S. 137. Zu ergänzen wäre die 1906 gegründete Brauerei Cervecería Anttoqueña und die Immer größer werdende Rolle, die das Bier als Konsumartlkel spielte. Zur Wirtschaftselite s. Botero Herrera, 1984, S. 51-100. Ibid., S. 108-116; Informationen darüber, welche Industrien des Landes von nicht a u s Antioquia stammenden Geschäftsleuten gegründet wurden und welchen Anteil sie an der gesamten Industrieproduktion der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts ausmachten, sind n u r sehr schwer zu eruieren, da die Literatur sich nahezu ausschließlich auf die Entwicklung In dieser Provinz beschränkt; zum Norden des Landes s. u.a. Restrepo R./Rodriguez B., 1986, und Posada Carbo, 1986; für einen knappen Gesamtüberblick vgl. Mayor Mora, 1989, S. 318-323. Der liberale Kandidat wurde weder von den Liberalen selbst noch von den Resten der republikanischen Bewegung ernst genommen. Vega, 1985a, S. 90 und 139f.

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eclesiástica - la candidatura de Don Marco Fidel Suárez, teòlogo eminente, a quien la circunstancia de no ser hijo legítimo, le había impedido consagrarse exclusivamente al servicio de Dios. La fracción 'indoctrinaria y liberalizante' del partido conservador y el partido liberal, en masa, habían proclamado la candidatura del Maestro Guillermo Valencia, quien no conocía la ciencia del Estado, pero, en cambio, había escrito 'Anarkos', 'Cigüeñas blancas' y 'San Antonio y el Centauro'..."23 Beide Kandidaten gehörten also zu den höchsten Repräsentanten der kolumbianischen Kultur. Der eine, Suárez, war aus dem Kreis um Caro und Cuervo hervorgegangen24 und hatte sich als Philologe in die Politik hochgearbeitet; der andere, der Dichter Valencia, gehörte der Schule Sanín Canos an und hatte seit dem Tode José Asunción Silvas die unbestrittene Führungsstellung in der modernistischen Bewegung inne. Im Prinzip standen sich also nicht zwei politische Auffassungen gegenüber, sondern zwei literarische und philosophische Grundpositionen. Die riickwärtsgerichtete, humanistische, katholisch-neuscholastische Richtung behielt die Oberhand über den Ästhetizismus Valencias. Daß mit Marco Fidel Suárez ein Mann aus Antioquia den Präsidentenstuhl bestieg25, darf also keineswegs als Sieg eines neuen Denkens von Fortschritt und (Wirtschafts-)Liberalismus interpretiert werden, im Gegenteil: Die Kirche hatte eindrucksvoll bewiesen, daß sie in Kolumbien die Zügel noch fest in der Hand hielt. In die Regierungszeit des den USA wohlgesonnenen Suárez fiel die grundsätzliche Neuorientierung der kolumbianischen Außenwirtschaft. Das Handelsvolumen mit den drei europäischen Wirtschaftsmächten England, Deutschland und Frankreich sank während des Ersten Weltkrieges bis zur Bedeutungslosigkeit ab, weshalb 1919 drei Viertel aller Exporte und Importe mit den USA abgewickelt wurden.26 Daher hätte der Ratifizierung eines Friedensvertrages27 nichts mehr im Wege gestanden, denn die Wirtschaftsbeziehungen ließen die von den USA angebotenen 25 Millionen Dollar Entschädigungszahlung für die Abtrennung Panamas als sinnvoll erscheinen.28 Doch Washington schätzte die Gesetzgebung der kolumbianischen Regierung über die Eigentumsverhältnisse an den Ölvorkommen als verhängnisvoll für die eigenen

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Salom Becerra, 1981, S. 19f. Schütz, 1989, S. 36f; Arizmendl Posada, 1989, S. 213-216. Zum Ablauf der Wahlen vgl. Salom Becerra, 1980, S. 73f. Wählen durften laut Gesetz Männer, die des Schreibens mächtig waren, ein bestimmtes Einkommen nachweisen konnten und sich In die Listen eingetragen hatten: Wahlbetrug größten Ausmaßes war die Regel, vgl. Meló González, 1989, S. 228f und 238. Tovar Zambrano, 1989, S. 46f. Bereits 1914 war ein solcher Vertrag abgezeichnet worden; gegen die Inkraftsetzung wehrten sich Jedoch konservative Kreise des Senats In Washington, vgl. Lael, 1987, S. 107-167. Vgl. Vega, 1985a, S. 93; Lael, 1987, S. 136f.

17 Interessen ein.29 Kolumbien mußte nachgeben und die Ausbeutung der wichtigsten Ölquellen des Landes nordamerikanischen Konzernen überlassen.30 Erst 1922 wurde der Vertrag endgültig von den Parlamenten beider Länder gebilligt. In der Zwischenzeit hatte eine tiefe Wirtschaftskrise, hervorgerufen durch den Preisrückgang für Kaffee auf dem Weltmarkt, Kolumbien an den Rand des völligen Zusammenbruchs geführt. Die Staatsfinanzen, in hohem Maße abhängig von Import- und Exportzöllen, waren so zerrüttet, daß selbst die Gehälter der Angestellten nicht mehr ausbezahlt werden konnten.31 Die 20er Jahre begannen, und die Regierung Suárez endete mit einem Fiasko. Kolumbien war vom Kaffee und von den USA abhängig geworden. Nach einer kurzen Interimszeit traten die Konservativen 1922 mit Pedro Nel Ospina zur Präsidentschaftswahl an, einem Mitglied der Wirtschafts- und Finanzoligarchie aus Antioquia. Die Liberalen mußten mit ihrem Kandidaten General Benjamin Herrera wieder eine Niederlage verkraften, "que se atribuía a fraudes enormes cometidos en aldeas y veredas"32. Pedro Nel Ospina griff die grundlegenden Probleme des Landes sofort nach der Machtübernahme auf. Die Krise hatte gezeigt, daß das staatliche Interventionsinstrumentarium in der Wirtschaftspolitik völlig unzureichend war und daß die Handelsgesellschaften auf großen Teilen des teuer eingekauften Kaffees sitzengeblieben waren, weil die Verkehrsinfrastruktur noch nicht den modernen Ansprüchen genügte. Deshalb sollte mit den 25 Millionen Dollar Entschädigung endlich die Anbindung der bisher weitgehend isolierten Landesteile durch neue Eisenbahnlinien und Straßen in Angriff genommen werden. Mit der Auszahlung der ersten 10 Millionen Dollar im Jahre 1923 kam eine Expertenkommission der USA unter Führung von Edwin Walter Kemmerer ins Land, von der die Neuorganisation des gesamten kolumbianischen Finanzwesens und dessen Umstellung auf moderne, kapitalistische Bedürfnisse erwartet wurde. Die wichtigste Auswirkung der Empfehlungen der Misión Kemmerer war die Schaffung einer Zentralbank. Häufige Zusammenbrüche von Privatbanken und ein über Jahrzehnte dauerndes Chaos in der Geldpolitik, das durch frühere Reformen unter Núflez und Reyes nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte, hatten den Übergang zu einer Gesellschaft mit rationalen und verläßlichen Wirtschaftsstrukturen behindert. Die Staatsbank (Banco de la República) zentralisierte die Geldemission, die Kreditvergabe und die Aufsicht über die Wechselkurse. Auf diese Weise schwankte z.B. der 29

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"Nelther the Department nor Congress deslre In the sUghtest degree to lnterfere wlth the souvereign rights of Colombia In the dlsposltlon of her public lands, mines, or other property. It ls slmply deslred to make lt piain that the lnterests of American Citizens, In any property of whatsoever klnd, acquired wlthout notlce of llmltatlons or reservatlons, In good falth, must be protected by Colombia." Außenminister Lanslng (1919). zitiert nach Lael, 1987, S. 149. Die Ölförderreglon u m Barrancabermeja sollte In den 20er Jahren zu einem Zentrum von Arbeiteraufständen werden, ebenso wie das Bananenanbaugeblet von Santa Marta, das eine vom übrigen Land praktisch unabhängige Enklave der United Fruit Company war. Palacios, 1980, S. 203-206. Colmenares, 1989, S. 252; vgl. auch wieder Salom Becerra, 1980, S. 105.

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Dollarkurs von 1923 bis 1931 nur minimal zwischen 1,00 und 1,03 Pesos.33 Ausgehend von dieser Einrichtung führte die Regierung nun in rascher Folge weitere Reformen durch: Reorganisation des Bankensystems, Reform des Staatshaushaltes und des Steuerwesens, Gründung einer landwirtschaftlichen Kreditbank. Zudem rückte erstmals die Arbeiterfrage in einem umfassenden Gesetzesvorhaben in das Blickfeld durch die Schaffung der Oficina General del Trabajo.34 Auch wenn die staatlichen Interventionen in der sozialen Frage meist nur auf dem Papier standen und nicht an die Effektivität der Reformen des Finanzwesens herankamen, so hatte die Administration Ospina zumindest erkannt, daß dem Staat mit der Modernisierung der Wirtschaft neue gesellschaftspolitische Aufgaben erwuchsen. Immerhin war aus dem verschlafenen Bogotá, das 1870 lediglich 40 000 Einwohner gezählt hatte, eine Großstadt geworden, die zwischen 1918 und 1928 ihre Einwohnerzahl von 140 000 auf 280 000 verdoppelte.35 In den Städten wie auf dem Land begann das Proletariat, sich mit Streiks und Protesten Gehör zu verschaffen. 36 Der Schwerpunkt der Regierungsarbeit Ospinas lag jedoch auf der Bereitstellung der institutionellen Infrastruktur für die Verteilung und Nutzung des seit 1923 in nie dagewesenem Umfang nach Kolumbien fließenden ausländischen Kapitals. Die damals unglaubliche Summe von 200 Mio. US-Dollar wurde in den sechs Jahren von 1923-1928 als Kredit von Staat, Provinzen, Gemeinden und den Banken im Ausland aufgenommen; dabei machten die Entschädigungszahlungen Washingtons nur gut 10% aus.37 Hinzu kamen die stetig zunehmenden Erlöse aus dem Kaffee-Export durch die Ausweitung der Produktion und durch den inzwischen wieder ansteigenden Weltmarktpreis. Als der Tanz der Millionen einsetzte, begannen auch gleichzeitig die Verteilungskämpfe. Unstrittig war, daß das Kapital für die Verbesserung des Verkehrswesens verwendet werden sollte.38 Auch die Zusammenführung des bisher zerstückelten und rein exportorientierten Schienennetzes fand Konsens unter den Entscheidungsträgern. Doch die regionalen Differenzen ließen eine systematische Neuordnung und Anbindung der schon vorhandenen Strecken nur in geringem Umfang zu, wodurch ein großer Teil der Projekte sich letztendlich als Fehlinvestitionen erwiesen.39

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Palaclos, 1980, S. 263; Tovar Zambrano, 1984, S. 140. Vgl. Tovar Zambrano, 1984, S. 135-153. Tovar Zambrano, 1989, S. 18. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung In Kolumbien bis 1922 s. u.a. Urrutia, 1982, S. 221-225; Archila, 1989, S. 220-223. Diese und die folgenden Zahlen sind gerundete Werte, denn exakt abereinstimmende Daten sind selten In der Literatur; vgl. Bejarano Avila, 1989, S. 52-55; Tovar Zambrano, 1984, S. 61.156-158; Atlas, 1985, S. 112-114; Escorcla, 1983, S. 81-92. Etwa 60% der Investitionen der Zentralregierung entfielen auf diesen Bereich, davon alleine gut 80% auf den Eisenbahnbau, Tovar Zambrano, 1984, S. 171. McGreevey, 1971, S. 276.

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Auch die Provinzen, Städte und Gemeinden investierten große Teile des Kapitals in die Verbesserung der Infrastruktur.40 In Bogotá legte man neue Stadtviertel an, befestigte Straßen für die Benutzung durch Autos und konzipierte sie als Avenidas. Der Neubau von öffentlichen Gebäuden wurde ebenso vorangetrieben wie der Ausbau der Kanalisation und der Wasserversorgung. Medellin und Barranquilla gingen systematisch an den Aufbau moderner Stadtwerke und im ganzen Land entstanden repräsentative Bahnhöfe. 41 Bei einem solchen Ausmaß der Modernisierung nimmt es nicht wunder, daß die öffentliche Diskussion dem Thema Verkehr und Eisenbahn einen enormen Stellenwert einräumte. Zeitungen und Zeitschriften brachten regelmäßig Berichte über den Fortgang der Arbeiten an den Projekten, der Besuch des Flugpioniers Charles A. Lindbergh in Bogotá war landesweit ein Medienereignis, in Medellin erschien 1925 eine Illustrierte unter dem Titel La carretera al mar, und allerorts publizierte man Gedichte auf Straßen, Eisenbahnen und den Fortschritt wie jenes Sonett von José Félix Fuenmayor, in dem El automóvil verherrlicht wird: Genio en las polvorosas carreteras instantáneo fantasma en llano y monte pasas con arrebato, cual si fueras a aplastar la visión del horizonte. Continuo rayo en tus entrañas brota; y mantiene tu hierro estremecido, quemándote la sangre gota a gota tu corazón, de multiple latido. 4 2

Die Erfolge der Wirtschaftspolitik der Regierung und des massiven Einsatzes von ausländischem Kapital zeigten sich in einem allmählichen Anwachsen der industriellen Produktion, wenngleich diese, verglichen mit anderen Wirtschaftssektoren, noch immer auf einem geringen Niveau stand.43 Kolumbien war auch zum Ende der 20er Jahre alles andere als eine Industrienation nach europäischem Vorbild. In der am stärksten industrialisierten Region des Landes, Medellin mit umliegenden Ortschaften, waren 1929 lediglich 6000 Menschen in Fabriken beschäftigt, zum Großteil Frauen.44 Landesweit betrug der Anteil der Industriearbeiter/innen an der Gesamtarbeitsbevölkerung weniger als 5%.45 Durchschnittlich verdiente jeder Kolumbianer 40

Colmenares, 1989, S. 255. Uribe Celis, 1991, S. 156-166. 42 Veröffentlicht am 15.2.1927 In der Zeltung La De/ensa/Medellin. 43 'Todavía para 1925 la Industria sólo representaba el 10% del producto nacional", Bejarano Avila, 1989, S. 61. 44 Ibid.; Botero Herrera, 1984, S. 174, zählt für 1923 In den wichtigsten Industriebetrieben knapp 4000 Beschäftigte. 45 McGreevey, 1971, S. 298f; leider sind a u s seiner graphischen Darstellung der Beschäftigten In den Wirtschaftssektoren keine konkreten Zahlen abzulesen, auch geht er nicht spezifisch auf die 50 000 Beschäftigten Im Bereich der öffentlichen Bautätigkeit ein rTovar Zambrano, 1984, S. 170); die Zahl von landesweit 100 000 Beschäftigten In der Industrie, die Arlas, 1985, S. 118, nennt, sind vermutlich etwas 41

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nur 100 Dollar im Jahr.46 Das Land, wo noch immer drei Viertel der Bevölkerung lebte, wurde vom Wirtschaftsaufschwung und der danza de los millones nur insofern tangiert, als viele Arbeiter aufgrund des Lohngefälles in die Städte oder die öffentlichen Bauvorhaben abzogen. Selbst in Antioquia mit seiner agrarischen Mischstruktur von Subsistenzwirtschaft und Kaffeeanbau konnte die Masse der Kleinbauern gar nicht daran denken, mehr als die von der heimischen Industrie angebotenen Massenkonsumgüter (Textilien, Streichhölzer, Seife, Zigaretten, Bier, Erfrischungsgetränke etc.) zu kaufen. Ein Markt für weitergehende Industrialisierung existierte nicht. Luxusgüter und Erzeugnisse der Schwerindustrie (Autos, Eisenbahnen, Schienen, Maschinen) mußten weiterhin eingeführt werden.

1.1.4. Der Weg in die Krise Inmitten der Phase der hektischen Kreditbeschaffung auf dem Geldmarkt der Vereinigten Staaten wurde 1926, ohne liberalen Gegenkandidaten, Miguel Abadía Méndez zum neuen Präsidenten gewählt. Die unter Ospina nur aus Rücksicht auf regionale Empfindlichkeiten zu erklärende Aufsplitterung der Investitionen überschritt nun die Grenze zum Chaos.47 Die sozialen Unruhen, bedingt durch eine unzureichende Arbeits- und Sozialgesetzgebung, wuchsen und kulminierten 1928 im blutig niedergeschlagenen Streik der Bananenarbeiter von Santa Marta 48 Das Mißverhältnis zwischen aufgenommenen Schulden und dadurch geschaffener Wirtschaftskraft wurde immer offensichtlicher. Die Regierung nahm die unter Ospina begonnenen Reformen zur Rationalisierung der Verwaltung de facto wieder zurück, und Staatsämter verkamen zu Schalthebeln der Verteilung der Ressourcen nach politischen, persönlichen oder familiären Interessen:

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zu hoch gegriffen, denn auch die Zahlen der Fabriken, die dort genannt sind (200 In Bogotá, 117 In Medellin, 97 In Call, 26 In Manlzales, 13 In Perelra sowie 36 weitere In Tollma, wobei Barranqullla gar nicht erwähnt wird), lassen sich In der Literatur nicht verifizieren (Escorcla, 1983, S. 93f, zählt wie folgt: Antioquia 27 Fabriken, Atlántico 11, Cundlnamarca, offensichtlich mit Bogotá, neun größere Einrichtungen, Insgesamt 42, Im Rest des Landes noch 26 kleinere Betriebe). Der Übergang vom Handwerksbetrieb zur Fabrik scheint fließend gewesen zu sein. Palacios, 1980, S. 202. "El nombramiento como ministro de Obras Públicas del doctor Sotero Pafluela, u n cacique boyacense que provocaba la hilaridad del Congreso cuando se veía en la necesidad de explicar los más elementales detalles técnicos, revela hasta qué punto la danza de los millones se hundía en mezquinas transacciones de política provinciana", lbld. Die aufsehenerregendsten Albeltskämpfe fanden 1924 und 1927 In der Ölförderreglon von Barrancabermeja statt unter der Führung von Raúl Mahecha, der der Soziallstischen Revolutionären Partei (PSR) von Ignacio Torres Glraldo und Maria Cano nahestand (Urrutia, 1982, S. 226-231; Archila, 1989, S. 235f; Rodríguez, 1985, S. 130f). Ober die Ereignisse u m das Massaker In der Bananenregion von Santa Marta (Schätzungen über die Zahl der Toten schwanken zwischen 200 und 3000) gab es 1929 eine parlamentarische Untersuchung, angeregt von Jorge Ellecer Galtán (vgl. Galtán, O.J.); zur Bibliographie s. Vega, 1985b, S. 152, und LeGrand. 1989, S. 218; vgl. auch Urrutia, 1982, S. 232f, und Torres Glraldo, 1972, S. 118.

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"El gobierno actual [...] es un conglomerado de empleados de alta y baja categoría en quienes no alienta ningún deseo de más de seis pies de altura. No tenemos ahora una administración pública, propiamente entendida, sino un sistema para distribuir los fondos de la tesorería con pretextos más o menos legales."49 Noch vor der großen Weltwirtschaftskrise deutete sich das Ende des Aufschwungs in Kolumbien an. Die wenigen Jahre der prosperidad a debe und der Industrialisierung hatten nicht ausgereicht, die Wirtschaft zu stabilisieren und aus der direkten Abhängigkeit vom Kaffee zu befreien.50 Seit Beginn des Jahres 1929 flössen praktisch keine neuen Kredite mehr ins Land. Die öffentlichen Haushalte, noch immer in hohem Maße von Zöllen und Exportsteuern abhängig, waren in ihren Ausgabenansätzen von noch weiter steigenden Einnahmen ausgegangen und aufgrund der planlosen Investitionstätigkeit stark defizitär. Das Ausbleiben von irischen Krediten und ein leichter Rückgang des Weltkaffeepreises führten zu einem fast panikartigen Abbruch der öffentlichen Bautätigkeit und damit zu massiver Arbeitslosigkeit. Durch die weltwirtschaftlichen Ereignisse nach dem "Schwarzen Freitag" (Oktober 1929) wurde aus der hausgemachten Krise eine wirtschaftliche Katastrophe. Diese Wirtschaftskrise war eine Ursache für das Ende der konservativen Epoche. Doch sie allein bietet keine hinreichende Begründung für die Niederlage der bislang herrschenden Partei bei den Wahlen von 1930. Selbst die offensichtlichsten Zeichen dafür, daß das Regime abgewirtschaftet hatte (Niederschlagung des Aufstandes der Bananenarbeiter, Korruptionsfälle in Bogotá, die miserable Verwaltung der öffentlichen Baumaßnahmen, das Ignorieren der gesellschaftlichen Umbruchsituation, vor allem der Arbeiterfrage u.a.m.51). wären bei dem üblichen Wahlbetrug ohne Auswirkungen geblieben. Bei der Wahl am 9. Februar 1930 wurden 369 934 Stimmen für die Liberale Partei52 abgegeben und 453 943 für die Konservative.53 Es hätte also gemäß den Stimmzetteln noch immer einen konservativen Präsidenten geben können, wenn die Partei nicht mit zwei konkurrierenden Kandidaten angetreten wäre. Die Ereignisse, die zu dieser Spaltung geführt hatten, werfen ein bezeichnendes Bild auf die Lage Kolumbiens in den 20er Jahren, denn sie hängen eng mit der Rolle der Katholischen Kirche in der Gesellschaft zusammen. Ohne kirchliche Approbation hatte während der gesamten Herrschaftszeit der Konservativen niemand ein höheres Staatsamt erreichen können. Die Wahlen von 1918 hatten dies deutlich gezeigt. Damals war auch belegt worden, daß es den Kon49 50

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Alfonso López Pumarejo, Rede am 9.10.1928, zitiert nach Bejarano Avila, 1989, S. 71. S. dazu und zum Folgenden, Posada Posada, 1989, S. 77-88; Tovar Zambrano, 1984, S. 189-206; Palacios, 1980, S. 207-212. Vgl. die Auflistung bei Molina, 1974, S. 234-236. Zur Entwicklung der Liberalen Partei, Molina, 1974, passlm; speziell zur Wahl 1930, S. 222-243. Latoire Rueda, 1989, S. 283f.

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servativen möglich war, notfalls mit zwei Bewerbern anzutreten, ohne Gefahr zu laufen, von einem Liberalen übertroffen zu werden. In die mehr oder weniger öffentlich geführten Designationsverhandlungen 1929 ging die Konservative Partei gespalten in Militaristas, die Vázquez Cobo unterstützten, und in Civilistas, auf deren Präferenzliste u.a Guillermo Valencia stand. Als wieder Gerüchte um die eventuelle Freimaurerei Valencias auftauchten, wurde dem Erzbischof Perdomo eine Liste mit sieben Namen möglicher Kandidaten zugesandt. Die Antwort aus dem Bischofspalast lautete, "que entre los candidatos viables todos son católicos y que la autoridad eclesiástica acatará al escogido por las mayorías conservadores del Congreso"54. Seine wirklichen Präferenzen lagen jedoch bei Vázquez Cobo, während im Kongreß eine knappe Mehrheit sich für Valencia aussprach. Nun begann das eigentliche Desaster für Kirche und Konservative. Der bisher festgefügte Block der geistlichen Hierarchie löste sich auf: "El arzobispo de Medelh'n encarecidamente ruega al clero y a los fíeles que se apoye a Valencia de conformidad con las normas del Partido Conservador; monseñor Builes, obispo de Santa Rosa, lo secunda a fin de preseverar los sacrosanctos principios de autoridad, orden y disciplina; en cambio el obispo de Ibagué estima que es justo, equitativo y agradable a Dios sostener la candidatura Vásquez; para el obispo de Cali los votos de los católicos deben darse resueltamente por Vásquez" (ibid. S. 277). Inzwischen hatte Abadía Méndez, Gegner von Vásquez Cobo, Rom eingeschaltet und für Valencia Partei ergriffen. Das Resultat ließ nicht auf sich warten. Die Meinung des Vatikans wurde in Form eines Telegramms Perdomos an die Bischöfe kundgetan: "Papa comunícame es voluntad suya obispos colombianos obtengan unión católica y mándanos apoyar Valencia" (ibid.). Neue Kompromisse wurden gesucht: Beide sollten zurücktreten und einem Dritten Platz machen. Zwischenzeitlich hatte Rom Informationen eingezogen und hielt sich nun aus der Angelegenheit heraus, mit dem Ergebnis, daß Perdomo wieder die Seiten wechselte. Die konservativen Festungen gingen heillos zerstritten55 in die Wahl, die Valencia mit 27 000 Stimmen Vorsprung vor Vázquez Cobo gewann, aber mit 130 000 Stimmen gegen Olaya Herrera verlor. Der Regierungswechsel offenbarte die ganze widersprüchliche Entwicklung der vorangegangenen Dekade. Rasante wirtschaftliche Neuerungen trafen auf eine Gesellschaft, die darauf nicht vorbereitet war. Selbst das wirtschaftlich führende Antíoquia war gesellschaftlich geprägt von Klerikalismus und Konservativismus. 54 55

Ibid. S. 275: die folgende Darstellung hält sich an seine Ausführungen (Zitatbelege Im Text). "Nada queda por fuera de la apasionada y rencorosa refriega: desde Dios en las alturas y en Roma el Papa y el secretarlo de Estado, hasta aquí en la tlerTa con el nuncio, el arzobispo, los obispos y toda la grey, todo el clero regular y secular, con sus párrocos; se van unos contra otros, sin cuartel, en defensa de su candidato, esgrimiendo la Santa Cruz, pero todos acordes, eso si, en defender a Nuestra Santa Madre Iglesia y a sus fieles de las persecuciones religiosas que les acarrearla el triunfo del liberalismo" (Ibid., S. 278).

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Hellsichtig hatte schon 1914 León de Greiff mit dem Gedicht Villa de la Candelaria die Entwicklungen in der Stadt Medellin analysiert: Vano el motivo/ desta prosa:/ nada.../ Cosas de todo día. Sucesos/ banales./ Gente necia,/ local y chata y roma./ Gran tráfico/ en el marco de la plaza./ Chismes./ Catolicismo./ Y una total inopia en los cerebros.../ Cual/ si todo/ se fincara en la riqueza,/ en menjurjes bursátiles/ y en un mayor volumen de la panza.56 Kolumbien war eine Mischung aus Theokratie, Parteidiktatur und Demokratie, aus ländlicher Idylle und Erinnerung an die grausamen Kriege des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung wurde nicht in ihrer ganzen Bedeutung reflektiert und gestaltete sich dadurch ambivalent, denn der Industrialisierung entsprach kein moderner Staat, der sie zu verwalten, zu leiten und zu beherrschen wußte. Die alten politischen Strukturen blieben nach außen hin gleich und veränderten sich doch, unbesehen und unbeachtet. Die Wahlen von 1930 stehen paradigmatisch für dieses Phänomen. Jeder wußte, daß sich das Land zwischen 1918 und 1930 verändert hatte, doch keiner nahm es ernst. Die Konservativen waren sich der Notwendigkeit bewußt, beim Erzbischof von Bogotá das Plazet zu bekommen, doch dieses Vorgehen genügte nun nicht mehr. Das Undenkbare geschah: Die Kirche, in allem Parteiengezänk bisher allein standfest, unwandelbar und unfehlbar, selbst sie ließ sich von internen Diskussionen und Auseinandersetzungen ergreifen. Das Wechselspiel zwischen geistlicher und weltlicher Macht wurde auf die alte Weise durchgeführt - und scheiterte. Immerhin hatte die alte Clique so viel aus der Geschichte - oder aus modernen Ideen - gelernt, daß sie das Land nicht wieder in die Barbarei eines Krieges stürzte und die Macht friedlich übergab. Doch auch darin, in der Normalität des aufgeklärten, demokratischen Staates, wurde auf die alten Traditionen rekurriert: "En Bogotá, según un testigo, desde el amanecer del lunes los templos están colmados de gentes que van a pedirle a la misericordia divina que los proteja ya que, según la historia o la arraigada leyenda, el liberalismo persigue a la Iglesia. "57

1.1.5. Begriffliche Annäherung an die Situation in den 20er Jahren In den 20er Jahren fanden in Kolumbien fundamentale gesellschaftliche Umwälzungsprozesse statt, wobei gleichzeitig alte Traditionen und alte Normen weiterbestanden. Dieses Phänomen, das alle Sektoren der Gesellschaft umfaßte und sich in der 56 57

L. de Greiff, 1985, S. 27. Latorre Rueda, 1989, S. 283.

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Lyrikproduktion exemplarisch manifestierte, soll als partielle Modernisierung58 bezeichnet werden. Der hier eingeführte europäisch-soziologische Begriff der Modernisierung dient dabei als Folie, anhand derer die Phänomene der spezifisch kolumbianischen Entwicklungen, in ihrer Parallelität oder Unterschiedlichkeit zu Europa (bzw. des abendländischen Kulturraumes), zuallererst sichtbar werden. Modernisierung soll nicht als ein ausschließlich als wünschenswert erachteter Prozeß angesehen und Abweichungen davon verurteilt werden. Die Ambivalenz der Bewertung der Erscheinungen wird schon in der Definition des Begriffes selbst enthalten sein. Unter den Diagnostikern der Moderne scheint in der heutigen Diskussion über Modernisierungstheorien Max Weber der verläßlichste zu sein, denn "Max Weber ist unter den soziologischen Klassikern der einzige, der mit den Prämissen des geschichtsphilosophischen Denkens wie mit den Grundannahmen des Evolutionismus gebrochen hatte und gleichwohl die Modernisierung der alteuropäischen Gesellschaft als Ergebnis eines universalgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses begreifen wollte."59 Kennzeichen der modernen okzidentalen Gesellschaftsordnung ist für Weber das kapitalistische Wirtschaftssystem, dem eine "rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit" zugrundeliegt60. Diese rationale Organisation sei erst möglich geworden durch "die Trennung von Haushalt und Betrieb" und die "rationale Buchführung" unter "rechtliche[r\ Sonderung von Betriebsvermögen und persönlichem Vermögen" (S. 8). Diese alles umgreifende Wirtschaftsform könne jedoch nicht aus sich selbst entstanden sein, sondern sei bestimmt durch zwei ebenfalls spezifisch okzidentale Phänomene: "durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften" (S. 10), sowie durch "die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung" (S. 11). Rationalisierungsprozesse61 sieht Max Weber jedoch nicht nur in gesellschaftlichorganisatorischen Vorgängen am Werke, sondern auch in den einzelnen Subjekten: "Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Dispo-

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In seinem Vorwort zu einer Anthologie mit Texten Luis Tejadas charakterisiert J u a n Gustavo Cobo Borda den Journalisten mit Hilfe des Begriffes "modernización parcial" (Tejada, 1977. S. 29), ohne diesen Jedoch explizit auch auf die zeltgeschichtlichen Hintergründe anzuwenden. Habermas, 1985, Band 1, S. 207; vgl. auch Peukert, 1989, S. 5-10. Weber, 1947, S. 7 (Hervorhebung Im Original); die weiteren Zitate werden Im Text mit den entsprechenden Seltenzahlen belegt Rationalität Ist hier verstanden als Zweckrationalität (Weben "Soziologische Grundbegriffe", In: ders., 1976, S. 1-30, speziell S. 12f).

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sition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensßhrung überhaupt abhängig."62 Für die Herausbildung dieser den Kapitalismus und den okzidentalen Rationalismus überhaupt bestimmenden Art von Lebensführung macht Max Weber in seinen bekannten Thesen über "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" die sich aus der neuzeitlichen Theodizee und speziell der calvinistischen Prädestinationslehre entwickelnde innerweltliche Askese verantwortlich.63 "Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist [...] geboren aus dem Geist der christlichen Askese. [...] indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. [...] Der siegreiche Kapitalismus [...] bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr."64 Nachdem der Geist des Kapitalismus einmal durch die Folgen der protestantischen Ethik hervorgerufen war, rationalisierte (entzauberte) er nach der Meinung Max Webers seine eigenen Wurzeln, machte sich selbständig und endete in "unaufhebbar tiefen Widersprüchen, in Antinomien"65. Den fraglos großen Errungenschaften der modernen Ordnung: wissenschaftlich-technischer Fortschritt, rationale Organisation von Staat und Wirtschaft, steht für ihn ein hoher dafür zu entrichtender Preis gegenüber: vor allem das Überhandnehmen der Bürokratisierung, die damit einhergehende Beschneidung der Chance des Einzelnen auf kreative Entfaltung und die "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit"66. Gerade der ohne die religiösen Grundlagen fortlebende "Entzauberungsprozeß, der in Europa dazu geführt hat, daß die religiösen Weltbilder eine profane Kultur aus sich entließen"67, läßt nun eine Übertragung der von Weber herausgearbeiteten Kate62 63 64 65 66 67

Weber, 1947, S. 12. Weber, 1947, S. 17-206.571-573. Ibid. S. 202-204. Peukert, 1989, S. 88. Weber, 1947, S. 571. Habermas, 1988, S. 9. Die Kritik von Habermas (besonders 1985, Band 1, S. 377-384) am Ratlonalltätsbe griff Webers führt Ihn über den Begriff des "kommunikativen Handelns" zum Konzept von System und Lebenswelt Der "Entzauberungsprozeß" bei Max Weber wird, vereinfacht ausgedrückt, bei Habermas zum Prozeß der Medlatlslerung, der Kolonisierung oder der Aufzehrung der Lebenswelt (Ibid.,

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gorien der Modernisierung auch auf eine gerade nicht protestantisch geprägte Kultur wie die kolumbianische als möglich erscheinen. Voraussetzung dafür ist, daß die essentiellen Bestandteile des Modernisierungsprozesses (Rationalisierung, Bürokratisierung, kapitalistisches Wirtschaftssystem sowie die von Habermas68 zusätzlich genannten Elemente: Durchsetzung politischer Zentralgewalten, Ausbildung nationaler Identitäten, Ausbreitung von politischen Teilnahmerechten, urbane Lebensformen, formale Schulbildung, Säkularisierung von Normen etc.) sich auch dort nachweisen lassen. Den Beweis dafür, daß die kapitalistische Wirtschaftsform bereits in Kolumbien Fuß gefaßt hätte, wollte Jorge Eliecer Gaitán 1924 in seiner Doktorarbeit über Las ideas socialistas en Colombia antreten, denn, so meint er, "Colombia no sólo es un país que tiene capitales, sino que se desarrolla económincamente bajo el régimen capitalista, en el sentido estricto y científico de la palabra."69 Gaitán geht im weiteren Verlauf seiner Arbeit sogar so weit, daß er die von ihm beschriebenen Residuen von Sklavenhalter- (in der Guajira, in den Llanos und im Chocó) und Feudalgesellschaft in Kolumbien unter dem Einfluß des Kapitalismus sieht. Solch weitgehende Interpretationen sind jedoch seinem Ansatz zuzurechnen, denn er wollte den Beleg liefern, daß Kolumbien gemäß den geschichtsphilosophischen Auffassungen des wissenschaftlichen Marxismus die Voraussetzungen für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erbringe. Ohne Zweifel aber lassen sich in den 20er Jahren deutliche Anzeichen dafür erkennen, daß das Land den Weg hin zur Modernisierung begonnen hatte: Industrialisierung, Herausbildung eines Proletariates, Exportwirtschaft, Urbanisierung, Rationalisierung des Staats- und Finanzapparates unter Ospina sowie die veränderte Rolle der Kirche bei der Besetzung der wichtigsten Staatsämter. In Bezug auf Kolumbien von einer partiellen Modernisierung zu sprechen bedeutet infolgedessen, daß sich die Prozesse der Rationalisierung und Säkularisierung nicht auf alle Bereiche erstreckten bzw. genauer, daß in den betroffenen Sektoren der Gesellschaft erfolgreich Widerstände dagegen mobilisiert werden konnten.70 Baldomero Sanín Cano bezeichnete 1928 sein Land in diesem Zusammenhang als "Una República fósil": "Así como hay especies fósiles que comparten el usufructu del suelo con otras que pertenecen a época más reciente de la vida terrestre o anfibia, así

68

69

Band 2. S. 171-293.447-488). Auf diese Thesen wird beim Komplex des kolumbianischen Schulsystems zurückgegriffen werden. Habermas, 1988, S. 10. Diese Elemente des Begriffes Modernisierung entnimmt er der funktlonallstlschen Weberrezeption In der Modernisierungsdiskussion seit den 50er Jahren. Galtän, 1963, S. 31. Damit soll nicht behauptet werden, daß In Europa oder den USA eine vollständige Modernisierung aller Lebensbereiche In den 20er Jahren oder später erfolgt sei; dies belegen die gegenwärtigen Thesen vom unvollendeten Projekt der Moderne (Habermas, 1990, S. 32-54) und der reflexiven Modernisierung In der Risikogesellschaft (Ulrich Beck, 1986).

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hay también en el reino político naciones cuya vida general parece, de un lado, resto de épocas antiguas, y de otro, una formación nueva dentro de influencias fácilmente explicables. Entre las entidades políticas de este género se cuenta proceramente la República de Colombia. En su estado actual se perciben juntas formas administrativas del tiempo de los patriarcas o de las primeras dinastías egipcias, mezcladas con procedimientos medievales, al lado de leyes prácticas más avanzadas que las de naciones europeas de la época actual, colocadas por el destino y por el esfuerzo de sus hijos en la más alta escala de las formas culturales."71

7 1

S a n t a Cano, 1 9 7 7 , S . 6 3 5 - 6 4 2 , Zltat S . 637f.

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1.2. Das Bildungs- und Erziehungssystem Paradigmatisch für den Prozeß der partiellen Modernisierung in den 20er Jahren stehen die Auseinandersetzungen um eine Reform des kolumbianischen Schulsystems und dessen Anpassung an die Erfordernisse der neuen Zeit. Für den hier unternommenen Versuch, das Spektrum der lyrischen Ausdrucksformen dieses Jahrzehnts zu beschreiben und zu erklären, bildet die Darstellung des Bildungswesens darüber hinaus eine grundlegende Voraussetzung: Der fehlende Zugang zu den Bildungseinrichtungen schloß einen großen Teil der kolumbianischen Bevölkerung automatisch vom schriftlich vermittelten Kulturleben (Zeitungen, Zeitschriften, Lyrikbände) aus, und für den kleineren Teil derer, die lesen konnten, stellten die in der Schule erlernten Lyrikformen ein prägendes Moment für die Rezeption von neueren Literaturkonzepten dar.

1.2.1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Zur Beschreibung des Erziehungswesens in den 20er Jahren ist ein Rückgriff auf die Anfänge der konservativen Epoche mit Rafael Núfiez und seiner Verfassungsreform von 1886 notwendig. Der Artikel 41 der Konstitution legte damals fest: "La educación publica será organizada y dirigida en concordancia con la Religión Católica [...]. La instrucción primaria costeada con fondos públicos será gratuita y no obligatoria." Ein Jahr später definierte das Konkordat mit dem Vatikan die Rolle der Kirche genauer: "En las universidades y colegios, en las escuelas y en los demás centros de enseñanza, la educación e instrucción pública se organizará y dirigirá en conformidad con los dogmas y la moral de la Religión Católica. [...] Por consiguiente, en dichos centros de enseñanza los respectivos ordinarios diocesanos [...] ejercerán el derecho, en lo que se refiere a la religión y la moral, de inspección y revisión de textos. [...] El gobierno impedirá que en el desempeño de asignaturas literarias, científicas, y, en general, en todos los ramos de instrucción, se propaguen ideas contrarias al dogma católico y al respeto y veneración debidos a la Iglesia."1 Die im Prinzip auf öffentliche Schulen und auf die Religion- und Moralerziehung eingeschränkten Befugnisse der Katholischen Kirche sollten sich im Laufe der Zeit aus rein praktischen Gründen zu einer nahezu unbeschränkten Monopolstellung des 1

Alle Zitate nach Jaramlllo Urlbe, 1982, S. 279.

29 Katholizismus im Erziehungswesen ausweiten. Da es keine Pflicht zum Besuch der öffentlichen Schulen gab, gründeten in der Folge vor allem Orden private Einrichtungen, die direkt kirchlicher Aufsicht unterstellt waren. Für die escuelas públicas schuf man auf lokaler Ebene Inspektionsgremien, denen der Pfarrer, der Bürgermeister und weitere Honoratioren angehörten.2Der/die Schullehrer/in wurde im Privatleben und im Unterricht überwacht, ob er/sie nicht gegen irgendeine Vorstellung der Kirche oder der Konservativen Partei verstoße. Der letzte zitierte Satz des Konkordates schließlich sicherte der Kirche, über Religion und Moral hinaus, ein Vetorecht für alle Lehrinhalte. Die Rolle des Staates dagegen beschränkte sich auf den rein administrativen Bereich. Mit diesem System hatte Núñez, unter der Federführung des "en grado sumo católico y ultramontano"3 Miguel Antonio Caro, in äußerst ambivalenter Weise das Bildungswesen - in Abgrenzung zu den vorangegangenen liberalen Gesetzen von 1870 - "modernisiert". Für den früheren Liberalen und religiösen Skeptiker Núñez gab es im Projekt der Zentralisierung und Befriedung des Landes keine andere Instanz als die Kirche, die von ihrer Akzeptanz bei der Bevölkerung her, durch ihre institutionellen und personellen Möglichkeiten und durch ihre pädagogischen Erfahrungen das Ziel einer moralischen Neuorientierung über das Erziehungssystem hätte verwirklichen können. Für Caro dagegen hatte die herausgehobene Rolle der Kirche keine pragmatischen, sondern dezidiert ideologisch-antimodernistische Hintergründe.

1.2.2. Die Bildungspraxis in den 20er Jahren Diese verfassungsrechtlichen und ideologischen Vorgaben für das Bildungswesen lagen den für die 20er Jahre geltenden Ausführungsbestimmungen und der Schulpraxis unverändert zugrunde.4 Im Primarschulbereich bestimmten die Gesetze eine Trennung zwischen Dorfschulen (escuela rural) und Schulen in Städten und größeren Agglomerationen über 5000 Einwohner (escuela urbana). In den escuelas rurales war vorgesehen, das Lernpensum innerhalb von drei Jahren zu absolvieren. Es bestand im wesentlichen darin, den Katechismus des Astete5 Silva Olarte, 1989, S. 78. Ibid.. S. 69. Die Bezeichnung "ultramontan", ein Begriff aus der europäischen Kirchengeschichte, der vor allem Im Kulturkampf in Deutschland für die nach Rom ausgerichteten Teile der Katholischen Kirche gebraucht wurde, mag zwar a u s historischer Sicht deplaziert erscheinen, trifft Jedoch Insofern, als sie die antimodemistlsche Intention heraushebt, die Papst Leo XIII. und die kolumbianischen Konservativen mit dem Konkordat verbanden. Ich folge hier im wesentlichen der Studie von Aline Helg, 1984. Seltenzahlen werfen im Text In Klammern angegeben. Der Katechismus des Jesuiten Caspar Astete stammt a u s der Zeit der Gegenreformation (1599) und hatte für die Schulen den Vorteil, auf dem System von Frage und Antwort aufgebaut zu sein (ibid., S. 45f und Anm. 56).

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durchzugehen, die wichtigsten Gebete und einige literarische Texte auswendig zu lernen, lesen und schreiben zu können und die vier grundlegenden Rechenoperationen zu beherrschen. In der Praxis fanden die Lehrerinnen (Lehrer erklärten sich selten für diese Aufgabe bereit bei 30 Pesos Lohn im Monat, der häufig genug nicht oder verspätet ausgezahlt wurde) bei ihrer Ankunft in der Gegend, in der sie unterrichten sollten, selten mehr als eine Hütte vor, die ihnen als Schulraum diente. Nur wenige von ihnen konnten eine Ausbildung in der Lehrerbildungsanstalt (escuela normal) nachweisen; zumeist beschränkte sich die Qualifikation auf den Abschluß der Primarschule oder auf ein bis zwei Jahre in der Sekundärschule. An Unterrichtsmaterialien stand ihnen vielfach das zur Verfügung, was sie selbst aus ihrer eigenen Schulzeit mitbrachten; manchmal gab es eine Tafel und Kreide, fast nie Hefte oder Stifte, und noch seltener kamen von der Zentralregierung in Bogotá gekaufte Schulbücher in den Dorfschulen an. Die Klassen hatten eine Stärke zwischen 50 und 80 Kindern, die nach Geschlechtern, aber natürlich nicht nach Jahrgangsstufen getrennt waren. Der Unterricht bestand, mit der durch häufige körperliche Strafen aufrechterhaltenen Disziplin, aus mündlichem Vortrag der Lehrerin und gemeinschaftlicher Wiederholung des Gesagten durch die Schülerinnen und Schüler - in allen Fächern. Selbst die Buchstaben wurden mit Hilfe von kleinen Gedichten gelernt.6 Es waren daher wenige, die nach der Schulzeit mehr als ihren Namen schreiben konnten. Alle hatten sie jedoch durch das Frage- und Antwortspiel des Katechismus eine Einführung in Religion und Moral erhalten. Für das Leben auf dem Land hatte die Schule damit ihre Funktion erfüllt und einige, deren Familien dies wollten und es sich leisten konnten, waren darauf vorbereitet, in der Stadt die escuela urbana zu besuchen (Helg, S. 41-47). Die öffentlichen Schulen in der Stadt genossen ein höheres Sozialprestige, was sich schon an dem besseren Lohn von 45 Pesos für die Lehrer/innen zeigt. Daher bestand hier knapp die Hälfte des Lehrkörpers aus Männern. Gut ein Drittel der Lehrer und über die Hälfte der Lehrerinnen hatten die escuela normal absolviert. Zudem war in den Städten die Wahrscheinlichkeit höher, daß von Zeit zu Zeit auf einige Lehrmittel zurückgegriffen werden konnte, die die Zentralregierung in Bogotá anschaffte. Am didaktischen und pädagogischen Grundansatz jedoch änderten diese besseren Möglichkeiten nicht viel. Das Pensum war im Prinzip nur auf sechs Jahre gestreckt und gegenüber den Landschulen um biblische Lektüre, ein wenig Geometrie und Geschichte sowie um Grammatik und Lektüre erweitert. Das fundamentale Konzept In selnen Confesiones literarias beschrelbt J u a n Cristóbal Martinez (1924) seine Erfahrungen ln elner Dorfschule: "La otra escuellta, de la que tengo mejores recuerdos, era regentada, porque hay que usar alguna palabra, por doña Mercedes Rueda. Ella sabía poco y enseñaba poco, pero en cambio daba muy buenos consejos. Cuando me fue a dar la primera lección de escritura, había tenido la franqueza de decirme: -Yo le enseño todas las letras menos las G, F, K, W y Q, porque esas no he podido escribirlas nunca, pero donde las Valenzuelas se las enseñan" (S. 167).

31 des Auswendiglernens unter Androhung und Anwendung von körperlichen Strafen war aber beiden Schultypen ebenso eigen wie die totale Überfüllung der Klassen. In größeren Städten, vor allem in den Zentren Bogotá, Medellín, Barranquilla und Cali, spiegelte sich die soziale Gliederung der Gesellschaft auch im Schulsystem wider. Stärker noch als in den kleineren Städten verlangten Wirtschaft und Verwaltung Arbeitskräfte, die entsprechend den Anforderungen ausgebildet sein sollten. Kinder von Arbeitern/innen und Handwerkern wurden also auf Schulen in ihren Wohnvierteln geschickt, die oft nur vier Jahrgangsstufen umfaßten. Sie absolvierten dort, je nach den Möglichkeiten der Familie, ein oder zwei Jahre. Die untersten Schichten der Bevölkerung konnten häufig selbst diese grundlegende Bildung nicht vorweisen. Die Mittelschichten von Händlern, Angestellten und Staatsbediensteten besaßen dagegen die Mittel, ihren Kindern zumindest den Abschluß an der öffentlichen Primarschule zu ermöglichen. Die Privatschulen waren den Eliten vorbehalten (S. 47-55). Daß die regionale oder lokale Wirtschaftskraft enorme Auswirkung auf die Schulbildung in den einzelnen Provinzen hatte, belegen die statistischen Daten. 1918 waren in Kolumbien 32,5% der Bevölkerung alphabetisiert, und 1922 besuchten 6,5% der Gesamtbevölkerung (dies entsprach 30% der Kinder zwischen sieben und 14 Jahren) die Schule. Schlüsselt man diese Zahlen nach Provinzen auf, dann ergibt sich eine deutliche Differenzierung. Eine weit über dem Durchschnitt liegende Alphabetisierungsquote wiesen Valle (mit der Provinzhauptstadt Cali), Caldas, Atlántico (Barranquilla) und Antioquia auf, nämlich zwischen 45 und 39%. Noch klarer kristallisieren sich die Unterschiede beim Anteil der Schulbesuche heraus; nur Caldas, Antioquia und Valle überschritten hier die Zahl von 10%. Mit deutlichem Abstand folgten Narifio und, schon unter dem Durchschnitt, Atlántico. Die östlichen Zentralprovinzen Cundinamarca (für Bogotá liegen keine gesonderten Zahlen vor), Boyacá und die beiden Santander kamen in diesen Ranglisten über Plätze im mittleren Feld nicht hinaus.7 In privaten Einrichtungen des Primarschulbereichs absolvierten etwa 5-7% der Schüler/innen ihre Grundschulausbildung, davon etwas mehr Mädchen als Jungen. Die meisten dieser Schulen waren an colegios angeschlossen, wurden von religiösen Gemeinschaften getragen, von denen viele Ende des 19. Jahrhunderts aus Frankreich nach Kolumbien gekommen waren, und befanden sich überwiegend in den größeren Städten. Auch hier ist wieder die Sonderstellung Antioquias zu beobachten: "Certains gros villages possédaient eux aussi leur 'colegio de la Presentación' où les filles de l'élite locale recevaient une éducation primaire plus orientée vers la religion et la morale" (Helg, S. 55). 7

Die Zahlen wurden von Helg (S. 30f) unkommentiert aus dem Zensus von 1918 und dem Bericht des Erziehungsministers an den Senat übernommen. Was unter "alphabetisiert" verstanden wurde und wie die Einstufung vorgenommen wurde, sagen sie nicht aus.

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Insgesamt läßt sich also für den Primarschulbereich die Tendenz erkennen, den Schülern/innen so viel Bildung und Moralerziehung zu vermitteln, wie sie nach der Einschätzung von Staat und Kirche unbedingt brauchten, die Schwerpunkte jedoch auf die Eliten zu verlegen. Nur 30% der Kinder im Schulalter besuchten die ersten drei Klassen, nur 7,5% davon die Klassenstufen vier bis sechs, und etwa ebensoviele absolvierten dieses Programm an Privatschulen. Im gesamten Sekundarbereich, einschließlich der Lehrerbildungsanstalten, schrumpfen diese Zahlen auf einen absoluten Wert von 30 000 Kindern im Jahre 1922. Nur die Kinder der Bildungsbürgerschicht, der alten Oberschicht von Landbesitzern und Funktionären sowie der neuen Klasse aus Handel, Finanz und Wirtschaft hatten Zugang zu diesen weiterführenden Bildungseinrichtungen. Alleine 20% besuchten die zum Teil altehrwürdigen colegios der Hauptstadt Bogotá, die gesamte Provinz Antioquia stellte knapp ein Viertel der Institute und der Schüler/innen. Da in Kolumbien eine Ausbildungsstätte für Lehrer/innen der Sekundarstufe fehlte und daher staatliche Schulen im eigentlichen Sinne nicht existierten8, verwundert es nicht, daß über 50% der colegios in der Hand von Ordensgemeinschaften waren. Weitere 40% wurden von kolumbianischen Laien geführt, meist Primarschullehrer/innen oder ehemalige Priesterseminaristen, "sans orientation libérale ou anticléricale définie, sans projet pédagogique déclaré, modérément catholiques [...], parfois plus intéresées par l'argent que par la pédagogie" (S. 61f). Die verbleibenden Einrichtungen waren entweder deutsche, englische und nordamerikanische oder dezidiert liberale Schulen, die das einzige Gegengewicht darstellten zur französischkatholischen Vorherrschaft der Schulorden (S. 58-63). Was Universitäten und höhere berufsbildende Schulen angeht (unter denen die 1881 gegründete Escuela de Minas in Medellin als Kaderschule für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich herausragte), so wurde ihnen im Zuge der Schulreform von 1886 jegliche Autonomie genommen. Bis zum Ende der 20er Jahre unterstanden die Fakultäten einzeln der direkten Aufsicht der Exekutive, im Einklang mit den Normen und dem Geist des Konkordates von 1887. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das gesamte Bildungs- und Erziehungssystem Kolumbiens in der Epoche der konservativen Herrschaft von 1886 bis 1930 darauf ausgerichtet war, den unteren sozialen Klassen ein Minimum an Schulbildung zu ermöglichen auf der ideologischen Grundlage von Katechismuswissen und mit dem pädagogischen Mittel des Auswendiglernens. Für eine kleine Schicht von Eliten standen zum Teil gut ausgerüstete und differenzierte Bildungseinrichtungen offen. Auch diese waren jedoch an eine grundsätzliche Übereinstimmung mit der katholischen Glaubens- und Sittenlehre gebunden und entsprachen in ihren Lehrplänen norAls öffentliche Schulen der Sekundarstufe galten solche Einrichtungen, In denen die Gebäude Staatseigentum waren. Mit der Durchführung des Unterrichtes wurden Jedoch Privatpersonen oder häufiger noch kirchliche Institutionen beauftragt (Ibid., S. 60).

33 malerweise nicht den Anforderungen, die die neuen Entwicklungen in Wirtschaft und Verwaltung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts an die Absolventen stellten. Der Einfluß dieses Systems auf die Produktion und Rezeption von Lyrik in den 20er Jahren ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Einmal ist hierbei der chronische Mangel an Unterrichtsmaterialien, speziell von Schulbüchern zu erwähnen. Im gesamten Bereich der öffentlichen Schulen und in besonderer Weise auf dem Land waren die Lehrer/innen darauf angewiesen, entweder auf allgemein bekannte Stücke zu rekurrieren (z.B. die Nationalhymne) oder auf Unterlagen aus der eigenen Schulzeit zurückzugreifen und mithin auf Texte, die zeitlich weit entfernt waren von den zeitgenössischen literarischen Entwicklungen. Zum anderen wurden die Kinder in ihrer Erwartungshaltung an Lyrik durch die Methode des unkritischen Memorierens von aus der Zeit vor der Jahrhundertwende stammenden Gedichten geprägt, die überdies häufig ideologisch stark eingefärbt9 waren. Für eine aktive Teilnahme an den Diskussionen über aktuelle und zeitgemäße Lyrik schuf die "normale" Schulbildung keine hinreichenden Voraussetzungen. Nur einer ganz kleinen Schicht von Intellektuellen gelang es, sich dieser Prägung zu entziehen und der Lyrik in Kolumbien neue Horizonte zu eröffnen. Dies geschah vor allem durch außerschulische Einflüsse wie Auslandsaufenthalte, autodidaktische Anstrengungen oder den Zugang zu literarischen Zirkeln. Eine weitere Auswirkung des defizitären Schulsystems kann nur hypothetisch behauptet werden, da naturgemäß direkte schriftliche Quellen dafür kaum vorliegen. Durch die hohe Zahl von Analphabeten oder in nur geringem Maß Alphabetisierten (je nach Kriterien zwischen 70 und über 80%) mußte der mündlichen Überlieferung von Volkslyrik in weiten Bevölkerungskreisen außerhalb der großen Städte und in den Randbereichen der Metropolen eine besondere Stellung zukommen. Aus diesem Grund soll im folgenden auch dem Komplex der poesía popular Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1.2.3. Die Diskussion um die Reform des Schulwesens Die Ineffizienz des alten Bildungssystems gab in den 20er Jahren Anlaß zu heftigen Diskussionen auf allen Ebenen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung. In der Debatte spielten dabei so viele Faktoren eine Rolle, daß die zugrunde liegenden Motivationen der Kontrahenten oftmals nicht mehr klar voneinander abzugrenzen sind. Stichwortartig seien hier einige aufgezählt: Der Versuch von Liberalen, den auf dem eigentlichen politischen Parkett nicht zu erreichenden Einfluß in anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen zu gewinnen10 (das zweite Standbein neben 9 10

Vgl. dazu den Abschnitt 2.2. über Schultexte. Silva Olarte, 1989, S. 83; In diesen Zusammenhang gehört schon die Gründung des Gimnasio Moderno durch Agustín Nieto Caballero Im J a h r e 1914, dessen erste Absolventen die Schule 1922 verließen.

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den pädagogischen Aktivitäten war die Vorherrschaft im Publikationswesen); parteiübergreifend regte die Diskussion über die "Degeneration der Rasse"11 zu vielfältigen Vorschlägen an, wie der beschworene Niedergang über Hygieneerziehung und Sportunterricht an den Schulen gebremst werden könnte; unabhängig davon fanden diese neuen Fächer auch über moderne europäische Pädagogikkonzepte Eingang in die (wenigen) Reformschulen, die im Verlaufe des Jahrzehnts gegründet wurden; neben den direkt aus Europa kommenden Ideen12 hatten vor allem bei der jüngeren Generation in den 20er Jahren die Nachwirkungen der Universitätsreform von Córdoba/Argentinien (1919) großen Einfluß; ebenfalls parteiübergreifend wurde die Notwendigkeit gesehen, das Schulsystem den veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten des Landes mit einer Rationalisierung der Verwaltung sowie einer Modernisierung der Lehrpläne und der Lehrangebote, insbesondere in den weiterführenden Bildungseinrichtungen, anzupassen13; die Kirche jedoch - mit dem Erzbischof von Bogotá an der Spitze - fürchtete14 um ihre nahezu unbeschränkten Einflußmöglichkeiten auf den Bildungsapparat, setzte die jeweilige konservative Regierung massiv unter Druck und verhinderte auf diese Weise, daß aus der Euphorie des Aufbruchs und aus den vielen Vorschlägen ein effizientes Reformgesetz hervorgehen konnte. Was zu dieser Zeit unter einer modernen Schule verstanden wurde, beschreibt Felipe Lleras Camargo anhand der Unterschiede zwischen La vieja y la nueva escuela. Die alte Schule charakterisiert er folgendermaßen: "Muros altísimos de considerable espesor atajan el aire y la luz [...]. Clases de más de media centena de alumnos muebles, que escuchan aburridos la explicación de nociones, que a ellos nada dicen, porque su actividad no toma parte en el descubrimiento y estudio de las verdades que el profesor expone con frialdad y aridez, sin que le interese el que sus discípulos piensen y asimilen 11

13

Ausgelöst wurde diese Debatte durch die Thesen des Mediziners Miguel Jiménez López (1916, In Buchform erschienen 1920: Nuestras razas decaen), wonach die Bewohner der Tropen - Im Gegensatz zu denen der gemäßigten Breiten - aufgrund verschiedener Ursachen einer sukzessiven Dekadenz unterworfen seien. Über hygienische Vorsorgemaßnahmen, bessere medizinische Betreuung u.a. könne dieser negative Prozeß verlangsamt aber nicht gestoppt werden; dafür sei eine "Blutauffrischung" - d.h. eine signifikante Einwanderung - durch "gesunde Rassen" erforderlich. Die Rassendiskussion entfernte sich sehr bald von der ausschließlichen Konzentration auf den medizinischen Bereich (Jiménez López e.a., 1920) und fand In den 20er Jahren Ihren Niederschlag In den Fragen über die Identität der Nation und über eine mögliche Dekadenz/Degeneration In der Literatur: auf diese Aspekte wird Im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingegangen werden. Hierbei Ist der Einfluß des Belglers Decroly auf das Gimnasio Moderno hervorzuheben (Urlbe Cells, 1991, S. 38; Helg, 1984, S. 1011). Urlbe Cells, 1991, S. 123-124. Die Polemik zwischen Daniel Arango Vêlez und Daniel Restrepo, S.J., vom Colegio de San Bartolomé (Arango Vêlez, 1925, S. 107-144) über Religionsfreiheit und das Konkordat zeigt, daß Jede Infragestellung eines Ihrer Interessensgeblete - und das Erziehungswesen war ein zentrales Interessensgeblet für die Kirche dieser Zelt - verbunden war mit der Furcht vor dem Zusammenbruch ihrer Oberhoheit In geistlichen und weltlichen Angelegenhelten: "Porque im católico no puede, sin apostatar, admitir la libertad de cultos, ni negar el derecho del culto católico a ser únicamente protegido. [...] deje de quejarse de que en Colombia el gobierno católico, guardián de los Intereses de u n pueblo católico, proteja el culto que la Iglesia católica, en nombre de Dios, enseña" (Daniel Restrepo, Ibid., S. 134).

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los conocimientos; lo importante es que aprendan el texto y que guarden el más estricto silencio..."15 Das Neue an den modernen Vorstellungen von Schule begann für Lleras Camargo schon bei der Architektur und hätte letztlich zur Schaffung einer neuen Gesellschaft führen müssen: "La escuela nueva funciona en el campo, el aire y el sol inundan las aulas y ponen una nota de vida y de alegría en el ambiente. El bullicio es enorme en los campos de juego, donde profesores y alumnos en sencilla confianza, se ejercitan en el sport, o comentan la última lección animadamente. [...] los discípulos investigan por cuenta propia, guiados por el maestro que los conduce y busca despertar su interés por las materias que estudian. [...] En la nueva escuela no se busca como fin único la adquisición de conocimientos, se quiere educar. [...] De allí saldrá una juventud fuerte de cuerpo y sana de espíritu [...] para llevar a cabo la misión sociológica y nacional que le corresponde." (Ibid.) Die Versuche, neue Konzepte in die kolumbianische Praxis umzusetzen, sollen am Beispiel der deutschen pädagogischen Mission von 1924-1926 veranschaulicht werden. In der Regierungszeit des Modernisierungen aufgeschlossenen Ospina16 wurde, nach langen Debatten und Auseinandersetzungen17, eine aus drei katholischen Pädagogen bestehende deutsche Expertenkommission nach Kolumbien geholt, die Entwürfe für ein neues Schulgesetz vorlegen sollte. Innerhalb des engen Rahmens, den ihr das Konkordat von 1887 einräumte, versuchte sie, einige grundlegende Neuerungen vorzuschlagen.18 Im Primarschulbereich war das, mit Blick auf die hohe Analphabetenquote des Landes, in erster Linie die Formel: "Schulpflicht bei freier Wahl des Schulortes". Dies wurde jedoch bei den Beratungen im Kongreß mit dem Hinweis auf die Verfassung abgelehnt. Noch größere Widerstände von Seiten kirchlicher und konservativer Kreise erfuhren die Pläne zur Reform der Sekundarstufe. Die Deutschen hatten in diesem Bereich an eine völlige Neuorganisation gedacht. Nach vier Jahren mit einem einheitlichen Lehrplan sollten die Schüler wählen können zwischen darauf aufbauenden technischen und berufsbildenden Schulen oder weiteren drei Jahren bis zur Hochschulreife (bachillerato) in einem humanistischen, naturwis15 16

17

18

Universidad, Heft 2, 10.3.1921, S. 34-36; Hervorhebungen im Original. Der größte Teil der ausländischen Missionen, die zum Zwecke der "racionalización del Estado" Ins Land geholt wurden, unterbreiteten Ihre Vorschläge in den J a h r e n 1922-1926. Neben der schon erwähnten Misión Kemmerer und der hier behandelten deutschen pädagogischen Mission handelte es sich dabei u.a. u m Experten für folgende Bereiche: Reform des Strafrechts (Misión Italiana), Militärreform (Misión Sulza) und Reform der medizinischen Fakultät (Misión Francesa); Urlbe Cells, S. 37-40. In diesem Zusammenhang kam es 1923 zu einem polltischen und diplomatischen Zwischenfall, als der päpstliche Nuntius Vlcenünl bei einer Feier im Colegio de San Bartolomé sich weigerte, den Erziehungsminister Arroyo Diez zu begrüßen (Urlbe Cells, 1991, S. 176; Helg, 1984, S. 97). Ich folge hier im wesentlichen Helg, 1984, S. 97-100.

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senschaftlichen oder wirtschaftlichen Zweig. Das Abitur und damit der Zugang zu den Universitäten sollte künftig auch für Mädchen möglich sein. Dem Staat, der bis dato nur einige formale Vorgaben für die offizielle Anerkennung des Abschlusses gegeben hatte19, wäre nach den Plänen der Kommission eine entscheidende Rolle zugewiesen worden: staatliche Abschlußprüfung, Inspektionen, je eine staatliche Schule für Buben und Mädchen in den Provinzhauptstädten und Aufbau einer Lehrerbildungsanstalt für die Sekundarstufe in Bogotá. Für die Kirche war jeder einzelne dieser Punkte unannehmbar. Die Aufspaltung des Abiturs in mehrere Zweige hätte die Abschaffung des klassischen Abschlusses bedeutet. Die Zulassung von Mädchen zur Universität bedrohte in ihren Augen die christliche Familie. Die aktive Rolle des Staates schließlich hätte letzten Endes ihre Vorherrschaft im Erziehungswesen in Gefahr gebracht. Trotz einiger Versuche, wenigstens Teile des Gesetzeswerkes zu retten, scheiterte die deutsche pädagogische Mission vollständig. Im Jahre 1928, unter dem Präsidenten Abadía Méndez, zog sich der Staat sogar völlig aus dem höheren Bildungssektor zurück: "El gobierno, inspirado en la Constitución de la República, en la doctrina sentada por la Santa Sede respecto a la libertad de enseñanza, aceptando el principio que el Estado no es docente y de acuerdo con la tesis filosófica de varios autores, entre otros la del padre Gastón Sortais, sacerdote jesuíta, sostiene la legitimidad de la abstención en la enseñanza secundaria."20 Im Zusammenhang mit der Entwicklung Kolumbiens in den 20er Jahren ist nicht so sehr der Inhalt dieser Verlautbarung des Erziehungsministeriums entscheidend, nämlich der Rückzug des Staates aus der höheren Bildung, sondern die Begründung. Neben die verfassungsrechtliche (das Erbe von Rafael Núñez) und die im weitesten Sinne theologische (mit dem Einfluß Miguel Antonio Caros), tritt nun auch noch eine philosophische Legitimation (allerdings die eines Jesuiten im Rahmen der von der Kirche geforderten neuscholastischen Philosophie). Die Regierung sah sich also gezwungen, ihre Entscheidungen in einem der neuralgischsten Bereiche der Gesellschaftsordung, zusätzlich zu den traditionalen Begründungszusammenhängen und dem Einsatz von reinen Machtmitteln, rational-wissenschaftlich zu rechtfertigen, selbst wenn oder gerade weil sich die zu rechtfertigenden Maßnahmen gegen eine Modernisierung richteten. Der Unterschied zur Vorgehensweise im wirtschaftlichadministrativen Sektor ist frappierend. Dort erforderte das Projekt der Modernisierung und Rationalisierung (wobei hierbei die Frage unerheblich ist, wie erfolgreich dieses Projekt letzten Endes in die Tat umgesetzt wurde) im Sinne der Misión Kem19

20

Dazu gehörten Dauer und Umfang der Unterrichtes, Einrichtung der Schulen sowie Mindestanforderungen an den Lehrplan (mit einer Liste der zu unterrichtenden Fächer), ohne direkte Interventionen In die Lehrtnhalte (Ibid., S. 60f). Memoria del Ministro de Educación Nacional 1928, zlUert nach Urlbe Cells, 1991. S. 137.

37 merer offensichtlich keinerlei Begründungsstrategien.21 Beide Phänomene unterstreichen die These, daß die 20er Jahre für Kolumbien zumindest partiell einen durchgreifenden Modernisierungsschub mit sich brachten. Sie zeigen jedoch auch, daß Teile des Rationalisierungspotentials dafür verwendet wurden, bedrohte lebensweltliche Kontexte22 vor dem Zugriff der Modernisierung abzuschirmen. Es wird sich im Verlaufe der vorliegenden Arbeit zeigen, daß auch auf dem Sektor der Lyrik alle Elemente der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen anzutreffen sind: unreflektierte Modernisierung, reflektierte Modernisierung, reflektierte Ablehnung der Modernisierung und unreflektierte Ablehnung der Modernisierung.

Zu den Diskussionen bei der Machtübernahme der Regierung Osplna s. besonders Tovar Zambrano, 1984, S. 135-137. i m Sinne von Habermas, 1985, Band 1, S. 107: "Die Lebenswelt Ist die vorgetane InterpretaUonsarbelt vorangegangener Generationen; sie Ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko". Zum Verhalten der Kirche In Bezug auf die Freiwilligkeit des Schulbesuches (und damit der Entscheidung der Familie über die Erziehung der Kinder) und Ihre eigene Vorherrschaft In diesem Sektor In der Abwehr einer versuchten Modernisierung, vgl. lbld, Band 2, S. 221 (Hervorhebungen Im Original): "Seit dem 18. Jahrhundert setzt eine Pädagogtslerung uon Erztehungspmzessen ein, die ein von Imperativen Mandaten der Kirche und der Familie entlastetes Blldungssystem möglich m a c h t [...] die Formallslerung der Erziehung [bedeutet) nicht n u r eine professionelle Bearbeitung, sondern die reflexive Brechung der symbolischen ReprodukUon der Lebenswelt." Gerade dieses Reflexivwerden gesellschaftlicher Reproduktlons- und Integrationsprozesse wollte die Kirche In Kolumbien In den 20er Jahren unter allen Umständen vermelden.

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2. Ein Überblick über die kolumbianische Lyrik in den 20er Jahren Vor dem Hintergrund der geschilderten Verhältnisse soll zunächst gezeigt werden, daß die Lyrik, deren sich normalerweise die Literaturwissenschaft annimmt (Höhenkammliteratur, aktuelle Tendenzen, neue Entwicklungen der Zeit), eine eher marginale Rolle spielte im Verhältnis zu traditionellen Gedichtformen - seien sie nun mündlich oder schriftlich überliefert. Um die Anteile der verschiedenen beriihrungslos nebeneinanderstehenden oder sich wechselseitig bekämpfenden Konzepte von Lyrik näher zu bestimmen, kommt zwei Fragen ein besonderes Gewicht zu: - Auf der Seite der Rezipienten: Welche Chancen hatten bestimmte Bevölkerungsgruppen, an den verschiedenen Ausdrucksformen von Lyrik zu partizipieren? - Auf der Seite der Produzenten: Wo, unter welchen Umständen und gegen welche Schwierigkeiten vermochten sie, ihre Werke der Öffentlichkeit vorzustellen?

2.1. Mündliche Lyriktradition Für mehr als 70% aller Kolumbianer/innen bestand in den 20er Jahren der einzige Zugang zur Lyrik über die mündliche Form, da sie nicht lesen konnten. Daraus jedoch sofort zu folgern, damit sei alleine die traditionelle Volkspoesie gemeint, wäre ein voreiliger Fehlschluß, denn einige Hinweise deuten darauf hin, daß auch im eigentlichen Sinne schriftliche Lyrik Eingang in die mündliche Überlieferung fand.

2.1.1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit traditioneller Volkspoesie Traditionelle Volkspoesie soll hier vorläufig als die kreative Rezeption ursprünglich aus Spanien stammender Lyrikformen (besonders der Romanze) in der mündlichen Überlieferung definiert werden. Kreative Rezeption (Transkulturation) bedeutet entweder eine direkte Übernahme oder die semantische Adaptation schriftlicher und mündlicher Vorlagen auf spezifische regionale und kulturelle Gegebenheiten (z.B.

39 Änderung geographischer Angaben) oder die Schaffung vollständig neuer Werke unter Beibehaltung der formalen Kennzeichen der bekannten Vorbilder.1 In dieser Arbeit kann nicht näher auf die bereits gut erforschten allgemeinen Prozesse der Herausbildung der mündlichen Tradition in Kolumbien eingegangen werden.2 Statt dessen wird der Versuch unternommen, aus der Art und Weise der Beschäftigung mit dieser Art von Literatur in den 20er Jahren Anhaltspunkte für eine genauere Bestimmung ihres Umfang und ihrer Bedeutung zu gewinnen. Um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Volksliteratur machte sich in besonderer Weise die von Victor E. Caro und Daniel Arias Argáez herausgegebene Kulturzeitschrift Santafé y Bogotá verdient.3 Der Artikel "Folk-lore colombiano" des Priesters Juan C. Garcia in der Maiausgabe 19244 zeichnet sich durch eine stupende Kenntnis der europäischen und lateinamerikanischen Forschungen zur Volkskultur aus und thematisiert - in etwas unsystematischer Weise - zwei für die vorgelegte Fragestellung wichtige Aspekte von poesía popular5. Zum einen unterscheidet er inhaltlich zwischen Gedichten (hier speziell décimas) "a lo divino" und "a lo humano", wobei er ein für ihn erstaunliches Übergewicht der weltlichen vor religiösen Themen konstatiert. Zum anderen erwähnt er an einigen Beispielen den Sitz im Leben der aktuellen Volkspoesie, besonders die Versammlung von Freunden und Nachbarn am Totenbett eines Verstorbenen: "No faltan [...] los aprestos de una comilona que se repite por dos días sucesivos, alternando con bailes y cantinelas que nada tienen de elegiaco" (S. 285). Ferner habe er im Gebiet des Unterlaufs des Magdalena die Gelegenheit gehabt, die Lieder dieser Region zu hören, als er "en compañía de un barquero cuya vena poética parecía inagotable" (S. 287) auf einem Schiff fuhr. Ein weiterer hervorragender Ort für die

Diese Kennzeichen sind vor allem: achtsllblger Vers, assonlerender Reim In den geradzahligen Zellen und vier- (copio) bzw. zehnzelllge (décimo) Strophen; vgl. Pardo Tovar, 1966, passim, besonders S. 33 und 43. Zu der komplexen Überlieferungsgeschichte der spanischen Romanzen (Stichworte dafür sind: romance culto, romancero moderno sowie deren Beziehungen zur mündlichen Romanzentradltlon In Spanien und Kolumbien) vgl. Beutler, 1969, S. 15-155, und Pardo Tovar, 1966, S. 57-68: zur Abtrennung lyrischer Kurzformen von den längeren Romanzen und deren Aufnahme und Bearbeitung In der mündlichen Tradition (mit der Vorrangstellung der vielzelligen copta), s. Pardo Tovar, 1966, S. 29-48. Santafé y Bogotá erschien zwischen 1923 und 1928 In 72 Nummern (soweit die Bestände der Biblioteca Luis Angel Arango In Bogotá vollständig sind) zum relativ hohen Preis von 0,25 $ Je Exemplar und In einer Stärke von bis zu 100 Selten. Sie richtete sich mit Ihren Beiträgen über Geschichte, Wissenschaft und Literatur eindeutig an ein Intellektuelles Publikum. Uneinheitliche Schreibweisen und Akzentuterungen werden übernommen. Er schließt damit an einen wenig ertragreichen Beitrag vom Oktober 1923 (Manuel José Forero: "Apuntes sobre el Folk-Lore de Colombia") an. Als zweiten Ausgangspunkt nennt er einen "articulo publicado por Menéndez Pldal sobre los romances de América" (S. 283): vgl. dazu Menéndez Pldal, 1972, S. 13-51, besonders den Artikel "Los romances tradicionales en América" (S. 13-45) von 1906, In dem er auf erste Diskussionen über Volkslyrik In Kolumbien eingeht (s.a. Beutler, 1969, S. 148-155). In OpposlUon zu poesia culta (S. 283).

40 Tradierung traditioneller Strophen seien schließlich Kinderspiele: "Quizás éste sea el medio más ordinario de inmortalizar una cantinela" (S. 286). Santafé y Bogotá hatte sich als Diskussionsforum über Volkskultur etabliert, und so setzte Enrique Otero D'Costa im Juni 1925 die Reihe fort mit "Apuntes sobre Demosofia colombiana". Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse: Misión Kemmerer im Jahre 1923, der Tanz der Millionen auf wirtschaftlichem Gebiet, Industrialisierung, Modernisierung und die zunehmende Abhängigkeit von den USA, ist die Begründung des Autors für sein Abrücken von dem bisher gebrauchten englischen Begriff Folklore bedeutsam: "Folk-lore llámase usualmente aquella ciencia que discurre sobre la poesía popular, así en su género de romances, coplas, refranes, etc., como en el de cuentos, consejas, ensalmos y otros variados matices. Los tratadistas, al verter esa palabra al español, tradúcenla por ciencia o saber popular, mas siguiendo la tradición de nuestra lengua, talvez seria más propio darle el nombre de demosofía. El cual, en una sola palabra, expresa castizamente la idea" (S. 297). Die in diesem Sprachpurismus - der rein griechische Ursprung des vorgeschlagenen Wortes ist Otero D'Costa keine Erwähnung wert - zum Ausdruck kommende Abwehr angelsächsischer und damit moderner Einflüsse findet ihre Fortsetzung bei der Bestimmung der Ursprünge der Volkslyrik: "Descendientes en lo espiritual de la Madre España, heredámos de ella la noble característica de pueblo cantor" (ibid.). Der Schwerpunkt seiner Arbeit (in diesem ersten Teil behandelt er vorwiegend die Romanzen) liegt infolgedessen auf einer Reflexion über den möglichen Weg von spanischen Traditionen in das kulturelle Repertoire des kolumbianischen Volkes vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Er läßt jedoch gleichzeitig einige Hinweise über zu seiner Zeit aktuelle Orte der Weitergabe der mündlichen Volkskultur einfließen. Er hätte als Kind, so sagt er, von "cierta buena vieja muy perita en estos ejercicios" (S. 299) die copla6 über die Bestrafung eines entlaufenen Negersklaven gehört: Era el negro cimarrón Y sin lástima ninguna Le cortaron la cabeza La echaron a la laguna...(ibid.)

Die Bedeutung alter Menschen bei der Überlieferung von Volksgut betont er an mehreren Stellen: Die Romanze über das Erdbeben von Honda im Jahre 1805 "aún recitan los viejos de la noble villa" (S. 303)7, und auch in den Llanos seien die Traditionen der "abuelos" noch lebendig (S. 305). Im letzteren Fall bleibt indes unklar, ob abuelos 6

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Die Gattungsbestlmmung Ist von mir; Otero D'Costa läßt offen, ob es sich um eine eigenständige copla oder den Teil einer längeren Romanze handelt. Gisela Beutler, 1969, S. 189f, möchte das Lied aufgrund der Strophenform der Redondilla nur unter Vorbehalt der elgenUlchen Romanzentradition zuordnen.

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tatsächlich die leiblichen Großeltern meint oder nicht eher die spanischen Vorfahren. In seiner Beschreibung der Vielfältigkeit der Aufführungssituationen von Volksliteratur rekurriert Otero D'Costa nämlich explizit auf das Siglo de Oro: "Vense todavía, en aquella feliz región de Colombia [i.e. el sur de Antioquia] [...] vagar por los cortijos en la época de Nochebuena, grupos de campesinos disfrazados de diablos, reyes, moros, caciques, princesas, ángeles, etc., representando autos y comedias sui-géneris, que nos hacen rememorar la peregrina carreta de las Cortes de la Muerte, que tan mal parados dejara a don Quijote y a su fiel escudero. [...] Guardándose tales costumbres tradicionales que perfuman el ambiente y lo pueblan de dulce poesía, de un grato sabor hogareño, no es extraño encontrar, tal como hoy se encuentra, en plazas y ferias, al trovador que guitarra al pecho canta sus propios versos haciendo propaganda al fruto de su rústico ingenio, traducido en ciertos pliegos sueltos nutridos con versos de su cosecha y que vende a la manera de romances de ciego. [...] Desgraciadamente estos troveros se han contagiado de la poesía moderna, así que, en lugar de dejar correr su tosca pluma tras su imaginación rica en sencillez y espontaneidad, se lanzan tras de ideas rebuscadas, agarran vocablos extraños a su léxico, frases almibaradas, imitan giros que han leído en la poesía de escuela sin haberlos asimilado, de todo lo cual resulta un nuevo y desastroso género de poesía" (S. 306f). Es zeigt sich hier sehr deutlich, daß die 20er Jahre tatsächlich als eine Zeit umwälzender Entwicklungen empfunden wurden. Der Autor beschreibt auf der einen Seite eine intakte Volkskultur, die noch vollständig auf mündliche Tradierung angewiesen war (von den Großeltern erlernte Geschichten und Lieder; Laientheater zu bestimmten, religiös geprägten Hoch-Zeiten des Jahres; halbprofessionelle Rezitation von Volkslyrik in den Llanos; zu ergänzen wären aus dem vorher besprochenen Artikel das spontane Singen der Bewohner der nördlichen Provinzen, Kinderspiele in Reimform sowie Totenkulte). Parallel dazu diagnostiziert er einen Prozeß, der deutlich in Richtung auf eine immer stärkere Verschriftlichung der poesía popular weist. Als symptomatisch erscheint dabei, daß er die Beispiele für diesen Prozeß gerade in der Region Antioquia/Caldas mit ihrer signifikant höheren Alphabetisierungsquote findet. Hier war offensichtlich ein Prozeß in Gang gekommen8, den Otero D'Costa eher intuitiv als mit einer klaren Begrifflichkeit beschreibt. Vier bestimmende Merkmale kristallisieren sich heraus: Der Sänger tritt auf Plätzen und Märkten auf und verläßt Im Vorwort zu seinem 1928 In Buchform erschienenen Roman La Marquesa de Votombó schildert Tomás Carrasquilla die Entwicklungen In dem kleinen Städtchen Antloqulas: "I...] helo ahí con su cabezera de traza y aire urbanos, con buenas construcciones, con palacio municipal, de materiales y estilo arquitectónicos, con planta eléctrica y tubería de hierro: con Gota de Leche [eine Art Kinderhort, H.P.], teatro y hospital; helo con prensa con gentes laboradoras y enérgicas, con ediles estudiosos y progresistas; helo ante u n a perspectiva de prosperidades más o menos cercanas, más o menos seguras" (Carrasquilla, 1984, S. 5).

42 mithin die ländliche Umgebung, durch die die Theateraufführungen der Bauern (zeitgleich und ebenfalls in Antioquia) gekennzeichnet sind; er trägt seine eigenen Werke vor und nicht die anonymen der mündlichen Tradition; neben die rein orale Kommunikationssituation Sänger-Hörer tritt nun ergänzend der Verkauf von pliegos sueltos und damit die Konstitution der Verbindung Schreiber-Leser; insofern der Sänger nicht mehr treuer Tradent ursprünglicher Volkslyrik ist, fließen in seine Gedichte auch Aspekte der poesía moderna ein, einer Lyrik also, die dem Dichter ein weiteres poetisches Repertoire zugesteht als die poesía popular, die lediglich "un espíritu abierto a la belleza, [...] ese don de Dios" (S. 307) erfordert. Die Vorlieben Otero D'Costas liegen deutlich bei der unverfälschten Volkslyrik, denn: "cuanto menos letrado sea el trovero, mejor, porque entonces el fruto, en su prístina pureza, dará todo el deleitoso perfume que destila el alma popular" (ibid.). Doch er mußte zur Kenntnis nehmen, daß der allgemeine Modernisierungsprozeß nicht halt machte vor bisher scheinbar so gesicherten Refugien der Tradition. Aus diesem Grunde erarbeitete er in seinem zweiten Artikel mit dem gleichen Titel im Märzheft 1927 von Santafé y Bogotá einen Kriterienkatalog, um Ursprüngliches von bereits Korrumpiertem zu trennen und um gesicherte Anhaltspunkte über die regionale Herkunft von kolumbianischen coplas zu finden. Ein Beispiel für die Vorgehensweise Otero D'Costas bei der Bestimmung von Volkslyrik wirft dabei ein bezeichnendes Licht auf sein nationales Selbstbewußtsein: Rio de la Magdalena no te muestres tan ufano, que lo que te dio el invierno te lo quitará el verano (S. 106).

Aus der namentlichen Nennung des Flusses Magdalena, zudem in der antiquierten femininen Form (statt río del Magdalena) würde er für kolumbianischen Ursprung plädieren, gäbe es nicht einen ähnlichen spanischen Text: Arroyo no corrás más mia que no has de ser eterno... que t'ha de quitá er berano lo que t'ha daito el ibierno (ibid.).

Der Schluß, den er aus dem Vergleich beider coplas zieht, ist verblüffend: "Por supuesto que la copla que canta nuestro pueblo es superiorísima a la española, por su naturalidad de expresión, como que la fraseología va límpida, cristalina, según el carácter popular, mientras que en el verso español va forzada, contrahecha, llena de sincopas para poder cumplir con la métrica. A veces hemos creído que tal copla es efectivamente originaria de Colombia, y que llevada a España por alguno de los marinos coloniales, hízola popular,

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viniendo al cabo de los años a presentarse como española, ataviada a su modo" (S. 107). Die Bedeutung von Otero D'Costa liegt weder in seinen Kriterien zur Bestimmung von Volkslyrik begründet noch in deren praktischer Anwendung. Sie besteht vielmehr in der Tatsache, daß er es für nötig befand, literaturwissenschaftliche Kriterien auszuarbeiten, und nicht das Textkorpus poesía popular als Ganzes akzeptierte. Es überlagern sich bei ihm spezifisch modernes Forschungsinteresse mit seiner besonders auf semantischem Gebiet zum Ausdruck kommenden Suche nach der Reinheit in der Tradition. Den von ihm als ursprünglich apostrophierten Texten ordnet er Begriffe zu wie "dulce poesía", "grato sabor hogareño", "prístina pureza" etc. Das ais Fremdeinfluß Postulierte wird dagegen konnotiert mit "desgraciadamente contagiado", "ideas rebuscadas", "nuevo y desastroso", "coplas metafóricas, culteranas" etc. Die beiden Artikel zusammengenommen offenbaren zudem eine Stufung in der Ablehnung von äußeren Einflüssen: Angelsächsische ("Folk-lore") und moderne Tendenzen ("poesía moderna") lehnt er gänzlich ab; in einem ersten Schritt hält Otero D'Costa diesen die spanischen Ursprünge entgegen ("Madre España"), die jedoch ihrerseits dem rein Kolumbianischen weichen müssen ("superiorísima a la española"). Als gleichberechtigt sieht er hingegen gesamtkolumbianische Texte und lokale Varianten an. Der Autor verfolgt in seinen Beiträgen eindeutig polemische Intentionen, die in methodischer Hinsicht Rückwirkungen auf die eigentliche Fragestellung nach dem Umfang und der Art von Volkspoesie in den 20er Jahren haben. Seine Zuordnung von relativ unverfälschter Volkslyrik (spanische Ursprünge ausgenommen) in ländlich strukturierten Gegenden und stärkerer Amalgamierung zu "coplas popularizadas" in den Mittelzentren der Kaffeeregion von Antioquia/Caldas dürfte zumindest tendenziell der damaligen Realität nahekommen, denn die soziologischen Daten über Bildungsstand, Gesellschaftssystem und Wirtschaftskraft (Verkauf von "pliegos sueltos") treten hier als unterstützende Elemente hinzu. Aus dem Schweigen Otero D'Costas zur Situation der poesía popular in den Ballungszentren (Bogotá, Medellín, Barranquilla, Cali) lassen sich jedoch keinerlei Hypothesen folgern. Weder bedeutet es notwendigerweise, daß sie dort nicht existierte - er Mitglied der Bildungselite von Bogotá, war möglicherweise von den Schichten ausgeschlossen, die sie tradierten noch muß es bedeuten, daß diese Kultur in seinem Sinne zu sehr mit "moderner" Lyrik vermischt war, um als Beispiel zu fungieren. Hatte Juan C. Garcia explizit ein Übergewicht weltlicher vor religiösen Texten festgestellt und war bei Otero D'Costa religiöse Thematik in den aufgeführten Gedichten höchstens in Andeutungen präsent, so konzentrierte sich Teodoro Domínguez del Río, C.M.F., im Januar 19279 in "Romances viejos" nahezu ausschließlich Der zweite Teil von "Apuntes sobre demosofia colomblana" (März 1927) trägt die Widmung "AI R.P. Teodora Dominguez del Rio, C.M.F.", ohne Jedoch auf dessen Beitrag einzugehen.

44 auf "los romances piadosos" (S. 2). Ohne erkennbares Konzept präsentiert er alte Romanzen aus dem kolonialen Santa Fe (Bogotá), aktuelle Weihnachtslieder (villancicos10), coplas, ein von "la memoria de la multitud" (S. 11) umgestaltetes Gedicht Rafael Pombos und Teile eines Mariengebetes. Im Gegensatz zur klar apologetischen Ausrichtung von Otero D'Costa zeichnet sich dieser Beitrag durch eine ambivalente Einstellung aus: "Fresca y pura, intensamente perfumada, de colores elementales y vivos, la poesía popular se presenta a las veces áspera en su contextura y hiere el oído y lo mortifica" (S. 2). Oder noch deutlicher: "Induzca el lector partiendo del fenómeno que hemos querido mostrar prolijamente, la triste fortuna del tesoro poético, y de manera señalada de los romances viejos confiados únicamente a la memoria de los pueblos" (S. 13). Im strengen Sinne ist die "ofrenda exigua" (S. 2) des Ordenspriesters keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Volkslyrik, doch sie bietet einen Zugang zu dem, was in den 20er Jahren in Teilen der höheren Bildungsschicht unter poesía popular verstanden wurde. Darüber gibt wieder am besten die Frage nach dem Sitz im Leben Auskunft, der bei Domínguez del Río zusammenfällt mit den Orten oder Gelegenheiten, an denen er seine Textbeispiele gesammelt hatte: "De labios de nuestros labradores he recogido" (S. 2); "De los conquistadores quedan aún raíces en el Valle de Tenza" (ibid.); "Harto desconchado ha llegado a nosotros" (S. 4); "Nadie ignora que suelen recitarse esta clase de romances las nueve noches siguientes a la defunción de los amigos" (ibid.); "Obligados como eran en Santa Fe los pesebres o nacimientos, debió de ser muy socorrido el tema de Nochebuena" (S. 5) etc. Diese Auswahl mag genügen, um die diffuse Vorstellung dieses Autors von Volkslyrik wiederzugeben. Im Prinzip rechnet er alle Verse, die er irgendwann einmal gehört hat (Mündlichkeit) und deren Autor er nicht positiv nachweisen kann (Anonymität), dieser Gattung zu. Dies gilt um so mehr, je weiter diese Traditionen lokal (Valle de Tenza) oder zeitlich (das alte Santa Fe) von ihm entfernt sind. Die im Verhältnis zu den gehäuften "wir haben gehört" wenigen konkreten Angaben zum Sitz im Leben der Volkslyrik stimmen mit denen aus den oben besprochenen Artikeln überein: Weihnachten, Totenkult, Kultur der Bauern und die Erzählungen und Rezitationen einer alten Frau (deren Status als mündliche Tradentin durch die Betonung ihrer Blindheit hervorgehoben wird). In den letzten Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs in Kolumbien - die kommende Krise warf schon ihre Schatten voraus - fand die Rückbesinnung auf die Volkspoesie ein bis dahin nicht gekanntes Interesse unter den Intellektuellen des Landes.11 Neben den Artikeln in Santafé y Bogotá erschienen 1927-1929 drei '0 11

Zur Entstehung der Gattung villancico und Ihrer Stellung Innerhalb der "poesía popular" s. Pardo Tovar, 1966. S. 71-78. Die Bibliographie zur Volkslyrik In Kolumbien von Merle Edwin Slmmons (1972, S. 129-156) belegt eindrucksvoll das Fehlen einer systematischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser

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Sammlungen von poesía popular, die von jeweils unterschiedlich stark ausgeprägten wissenschaftlichen Reflexionen begleitet waren. Der aus der Stadt Caldas bei Medellin stammende Dichter Ciro Mendía stellte in der Einleitung zu En tomo a la poesía popular (1927) die Lyrik des Volkes als einen deutlichen Gegenpart zur modernen Lyrik dar: "Dejemos, por un momento siquiera, la lectura de los grandes poetas; descansemos de ese pesado ritmo de los versos modernos; salgamos del estrecho y sombrío local de las escuelas novísimas y vamos, como quien sale al campo en busca de aire y salud, a la fresca llanura, olorosa y sana, de la poesía popular" (S. VII). Dieses Zitat und die weiteren Ausführungen Mendías im Vorwort geben im Prinzip keine Aufschlüsse über den Sitz im Leben und die Verwendungszusammenhänge der zeitgenössischen Volkslyrik.12 Sie verraten im Gegenteil vor allem etwas über die geistige Situation jener Jahre und über die Unsicherheit auch der Intellektuellen im Umgang mit modernen Entwicklungen. Die dreistufige Beschreibung dessen, was der Autor für den Moment hinter sich lassen will: die großen Poeten, die modernen Verse und die neuesten Schulen, erscheint merkwürdig ungenau. Nur vermutet werden kann, daß es sich um drei verschiedene Arten von Literaturauffassung handelt (große Dichter des letzten Jahrhunderts, wie z.B. Baudelaire, Verlaine und Poe, die Modernisten Lateinamerikas und die Avantgardebewegung); doch die rhetorische Fassung des Satzes läßt auch die Interpretation zu, daß drei Ausdrucksformen eines Phänomens bezeichnet werden sollen: das der schweren, engen und düsteren modernen Lyrik im allgemeinen. Die heile Welt des Landes und ihre Literatur steht dem - der Lyrik der Stadt - gegenüber mit frischer Luft und Freiheit, so wie es die copla ausdrückt, die Mendía im weiteren Verlauf des Vorwortes anführt: Cantar que va por la vida parece una mariposa, que en lugar de flor en flor, revuelta de boca en boca...

Die Verwirrung in Kolumbien über das, was die neuen Zeiten für die Menschen bringen, offenbart ein Vergleich des Zitates von Mendía mit den Konzepten Felipe Lleras' von moderner und veralteter Schule: In der alten Schule "[atajan] muros altísimos de considerable espesor el aire y la luz. [...] La escuela moderna funciona en el campo, el aire y la luz inundan las aulas y ponen una nota de vida y de alegría en el

Gattung vor 1920, ausgenommen die bei Menendez Pldal, 1972, erwähnten Arbelten; die größte Zahl der Einträge aus dem 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts bestehen aus Romanen, Reiseerzählungen oder anderen Schriften, In denen eine oder mehrere coplas eingestreut waren. im zweiten Teil der Sammlung erst geht er auf Gelegenhelten ein, bei denen coplas gesungen wurden, stehe auch die Kommentare bei Slmmons, 1972.

46 ambiente"13. Die beiden semantisch vollständig gegenläufigen Beschreibungen des Modernen und des Überkommenen bei Ciro Mendía ("el estrecho y sombrío local de las escuelas novísimas") und Felipe Lleras können nicht auf die unterschiedlichen Gegenstände der Reflexion - Lyrik und Schule - zurückgeführt werden. Sie bezeugen vielmehr eine tiefsitzende Verunsicherung angesichts der zeitgenössischen gesellschaftlichen Umwälzungen sowie eine Fluchttendenz hin zum Landleben, das als sicheres Refugium angesehen wurde. Genau dort wird die Volkslyrik verortet, und dies ist der Grund für das wachsende Interesse an dieser Art von Literatur in der zweiten Hälfte des dritten Jahrzehnts. Doch das Interesse trat gerade nicht im Zentrum des literarischen Lebens zum Vorschein, nämlich der Hauptstadt Bogotá, sondern in besonderer Weise im wirtschaftlichen Zentrum des Landes, in Antioquia. Denn wie Ciro Mendía stammt auch Antonio José Restrepo, der Herausgeber der zweiten Sammlung von Volkslyrik, aus dieser Provinz. Sein Buch De la tierra colombiana. El cancionero de Antioquia14 erschien kurze Zeit nach En torno a la poesía popular in Barcelona. Im Gegensatz zu Mendía, der den gesamten hispanischen Sprachraum abzudecken versuchte, nahm Restrepo nur coplas auf, die er in seiner Heimat zusammengetragen hatte. Zwei ausführliche Vorworte stehen dem kommentierten Textkorpus voran. Das erste ist der Neuabdruck einer Rede Restrepos in der Akademie über Volkslyrik, gehalten am 20. Juli 1911, also genau ein Jahr nach den großen Feiern des Centenario. Eingedenk des Nationalfeiertages forderte er damals: "Hay que formar y reunir el Cancionero nacional, señores académicos: esa obra hermosa contribuirá cual ninguna otra a dar cohesión perfecta a nuestra ya forjada nacionalidad" (S. 54). Diese große nationalintegrative Aufgabe findet im 1926 geschriebenen Vorwort zum Cancionero de Antioquia keine Erwähnung mehr. Restrepo beschränkt sich nun, 15 Jahre später, darauf, wehmütige Erinnerungen an die Vergangenheit zu evozieren: an seine Kindheit und Jugend, als er auf Tabakpflanzungen, in den Minen und auf den Bergen Antioquias die Gesänge der Arbeiter hörte, als er wandernden Musikanten begegnete, bei Tanzveranstaltungen oder Dorffesten die traditionelle Abfolge der verschiedenen Elemente der Volkspoesie studieren konnte oder Totenwachen beiwohnte und die merkwürdig fröhlichen Romanzen hörte, die dabei zum besten gegeben wurden. Mit den bezeichnenden Worten: "Como el mundo marcha, según dicen, el canto popular ha marchado también" (S. 64), geht Restrepo an eine systematische Ordnung von Tänzen, in die Volkslyrik eingebettet war, von Instrumenten, die sie begleiteten, und 13 14

Vgl. Kapitel 1.2.3. Slmmons. 1972, S. ISOf, und Capairoso, 1980, S. 171, geben für die erste Auflage das J a h r 1929 an; Leavltt/Garcia-Prada, 1934, kennen nur die dritte Auflage von 1930; Beuüer, 1969, zitiert nach der Ausgabe von 1955 und Oijuela, 1971, führt es nicht auf; Ich selber konnte nur die dritte und fünfte Auflage einsehen; das späte Erscheinungsjahr erscheint trotz der Aussage Restrepos, er habe das Buch von Mendia erhalten, als sein eigenes schon In Druck war, möglich, denn die erste mir bekannte Rezension (Jorge Mateus) erschien am 25.5.1929 In der Zeltschrift Cmmas. Das Vorwort Jedoch war bereits Im Dezember 1926 und die Erwiderung auf Mendia Im Oktober 1927 abgeschlossen.

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von Themen, die sie ansprach. Doch dies alles scheint Erinnerung. Vereinzelte genaue Daten bestehen aus Jahreszahlen des vergangenen Jahrhunderts. Kein Hinweis gibt Aufschluß über die aktuelle Situation der poesía popular oder auch nur der Provinz Antioquia in den 20er Jahren. Dem Leser des Werkes von Antonio José Restrepo bleibt nur die Spekulation darüber, warum er in die Vergangenheit zurückgeht und in das alte, damals abgelegene Antioquia. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage dürfte in dem bereits zitierten Satz zu finden sein: "el canto popular ha marchado también". Mit den Zeiten hat, so steht zu vermuten, auch die Volkslyrik sich geändert und zwar in eine Richtung, die Restrepo nicht (mehr) wahrnehmen will und die ihm nicht wert erscheint, für die Nachwelt überliefert zu werden. In dieser Beziehung wesentlich unvoreingenommener geht der kolumbianische Wirtschaftsattaché in Bolivien, Gustavo Otero Muñoz, in seinem Cancionerillo popular colombiano15 an dieses Problem heran: "Entre los cantos populares de autor anónimo, que constituyen la inmensa mayoría de los existentes, es preciso dar cabida a varios que, teniendo evidente paternidad culta, han merecido el honor de que el pueblo los prohije. Esos cantos popularizados deben considerarse como populares [...]. Tal acontece entre nosotros con una copla de don Rafael Pombo, que oyó también el señor Gutiérrez en las apartadas regiones de Tumaco, en una fiesta popular de gente semi salvajes. Héla aquí: Qué largas las horas son en el reló de mi afán; y que poco a poco dán alivio a mi corazón!" 1 6

Otero Muñoz hatte insofern keine Schwierigkeiten, diesen erweiterten Begriff von poesía popular einzuführen, als sein Interesse deutlich in die von Restrepo 1911 geforderte Richtung zeigt, nämlich Volkslyrik als genuinen Ausdruck des kolumbianischen Volkes zu verstehen. Doch im Gegensatz zu Restrepo, der behauptete, "los indios, como los negros de Africa, no tenían poesía ninguna al tiempo de la conquista"17, sieht er die coplas als ein Gemisch verschiedener Einflüsse auf die ursprünglich spanische Gattung an: "Los indios dieron su aporte de melancolía; los negros el suyo de sensualidad [...]; y las llanuras orientales y las montañas andinas engrandecieron de infinito aquella lírica y de profunda tristeza aquella música. [...] Las fuerzas universales de la Historia, al entrar en nuestra vida, se refundieron en un nuevo 15

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Der CanctonerUlo bildet das dritte Kapitel seines Buches La literatura colonial de Colombia (La Paz, 1928). Otero Muñoz, 1928, S. 262f (Hervorhebung Im Original); aus der Bibliographie von Slmmons, 1972, S. 141 ist zu schließen, daß die Quellenangabe sich auf Rufino Gutiérrez: Monografías, Bd. 1, Bogotá 1920, bezieht. Restrepo, 1930, S. 4 9 (aus der Rede von 1911).

48 sér nacional: del mismo modo que este sér, al entrar en la crítica histórica, se descompone en los elementos generadores que vinieron a constituirlo: tierra, raza y lengua" (S. 267). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Volkslyrik unter Maßgabe historischkritischer Methoden gerät für Otero Muñoz zu einer archäologischen Suche nach der Identität seines Volkes und seiner Nation. Den wissenschaftlichen Anspruch löst er leider nur partiell ein, denn die Gedichte in seinem Textkorpus stammen zum überwiegenden Teil aus schriftlichen Quellen, zu denen er überdies nur sehr ungenaue Angaben macht. Die wenigen nicht zitierten Beispiele fügt er aus seiner "experiencia directa sobre las formas vivas de la tradición" (S. 246) hinzu, ohne aber Hinweise zu geben, in welchen Regionen oder zu welcher Zeit er diese Erfahrung machte. In seiner Darstellung geht er von einer ungebrochenen Tradition der Volkslyrik aus, die in allen Teilen des Landes sich als noch lebendig präsentiert und keine Anzeichen von Krisensymptomen trägt. Von den besprochenen Autoren ist Otero Muñoz, trotz einiger Unzulänglichkeiten, derjenige, der am ernsthaftesten an die Erforschung der kolumbianischen Volkslyrik herangeht. Daher bietet sich seine systematisch geordnete Sammlung an, einige Merkmale der poesía popular darzustellen (ohne die manchmal fragwürdigen Zurechnungen zu bestimmten Kategorien einer Kritik zu unterziehen). Von den 372 Gedichten, die er anführt, sind weit über 90% in der Form der vierzeiligen copla gehalten, und dabei wieder die überwiegende Mehrzahl als 8-Silber. Die häufigsten Ausnahmen von dieser Norm finden sich bei den im Verhältnis zur Gesamtzahl wenigen Wiegenliedern (neun Gedichte, vorwiegend 6-silbige Vierzeiler) und Kinderreimen (16 Gedichte, vorwiegend 6- und 8-silbige, unstrophische Texte zwischen fünf und über 20 Zeilen in Romanzenform). Beide Gattungen weisen keine inhaltlichen Besonderheiten auf, die sie über die Funktion als Schlaflied, Abzählreim oder Kinderspiel hinausheben würden; als rekurrent kann allerdings in den meisten Beispielen die Erwähnung von Tieren oder Pflanzen bezeichnet werden: Unica, dosica, tresica, cuartana, color de manzana, la burra, la pez, contigo son diez (Nr. 17).

Religiöse Lieder sind mit der erstaunlich geringen Anzahl von 18 Texten vertreten. Sie thematisieren vor allem die Geburt Jesu und dürften ihren Sitz im Leben in der Feier von Weihnachten gehabt haben. Ebenfalls gering ist der Anteil von historischen, politischen oder patriotischen coplas, der die Zahl der religiösen nicht übersteigt. Daß sie wenig spezifische Akzente setzten, zeigen die Beispiele von Gedichten auf die beiden Parteien:

49 Ahora me voy parriba, me llevo mis dos condores, y en el alto pego un grito: Vivan los conservadores! (Nr. 46) Ahora me voy parriba, me llevo mis cinco ríales y en el alto pego un grito: Que vivan los liberales! (Nr. 47)

Nahezu 200 Einträge verzeichnet Otero Muñoz dagegen unter der Überschrift Amorosos. Gemeinsam ist ihnen das Sprechen von oder zu Frauen und die Behandlung von konkreten Lebensumständen: Me escribites una carta sabiendo que no sé leer; mandáme razón de boca que yo te contestaré (Nr. 96). Allá te mando esa carta escrita con el rocío; abríla, que está cerrada y aentro el corazón mío (Nr. 140).

Die für spontane Variationen offene Form der copla ermöglichte es dem Sänger, persönliche (wie in den Beispielen die Tatsache, daß er schreiben kann oder Analphabet ist), lokale und soziale Speziñka zu mischen mit allgemeingültigen Aussagen. Dies tritt am deutlichsten in den von Otero Muñoz als Sentenciosos y morales bzw. Jocosos y satíricos bezeichneten Strophen zutage (die zusammen etwa 80 coplas umfassen). In das folgende, gleichsam als Gerüst erscheinende, vorformulierte Gedicht brauchte der Vortragende nur seine je eigenen Erfahrungen oder Charakterzüge einzutragen: Pido que cuando me muera me entierren con mi..., por si acaso en la otra vida, (Nr. 322-324).

Die angeführten Konkretionen: "sombrero ... me coge algún aguacero"; "machete ... me pone alguno pereque"; "vigüela... se ocurre alguna rochela", reflektieren ein mehr oder weniger intaktes, wenn auch hartes und bisweilen konfliktreiches Landleben. Die Grundaussage jedoch, der Glaube an ein ungebrochenes Weiterleben nach dem Tod mit den im Leben beständig zu bewältigenden Problemen, war vermutlich nicht auf diesen Raum beschränkt. Gerade angesichts solcher Texte ist es bedauerlich, daß die Autoren der 20er Jahre die Städte und die neue Klasse der Lohnarbeiter/innen nicht in ihre Überlegungen und Forschungen einbezogen haben - weder positiv ein Weiterleben der Tradition bestätigend, noch ein solches verneinend. Nur über konkrete Textbeispiele bzw. über die Versicherung, daß es solche nicht gab, wären Aus-

50 sagen darüber möglich, wie bei der großen Masse der Bevölkerung die gesellschaftlichen Wandlungen ihren Widerhall in der traditionellen Lyrik fanden. Angesichts der Quellenlage bleibt daher nur die Vermutung, daß auch zum Ende des dritten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts viele verzweifelte kolumbianische Bauern solche Verse an Gott und an sich selbst richteten wie den folgenden, den Otero Muñoz der Gattung campesinas zuordnet18: Señor Dios que nos dejates sin maíz el año pasao, y nos volvés a fregar si no ponemos cuidao.... (Nr. 363).

Aus der Betrachtung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Volkspoesie19 (bzw. einer Beschäftigung, die mittels des Mediums Santafé y Bogotá oder von kommentierten Textsammlungen den wissenschaftlichen Anspruch prätendierte) können aufgrund des Fehlens von systematischer Feldforschung nur wenige Aussagen über den tatsächlichen Umfang und spezifische regionale Eigenheiten dieser Literaturgattung bei der Masse der kolumbianischen Bevölkerung gemacht werden. Jeder der besprochenen Autoren berichtete jedoch über seine persönliche Kenntnis von poesía popular, sei es aus seiner Jugend, aus Reisen im Land20 oder aus schriftlichen Quellen, so daß wir von einer relativ weiten und auch schichtübergreifenden Verbreitung auszugehen haben. Im weiteren Verlauf der Untersuchimg wird zu fragen sein, wie die von Otero D'Costa postulierte Krise der "reinen" Volkslyrik (durch das Einsickern von Schriftlichkeit in Form der "modernen Lyrik") zu bewerten ist. Es steht zu vermuten, daß erst das gesteigerte Interesse der Oberschicht seit der Jahrhundertwende, speziell seit etwa 1923, sowie die herausgearbeiteten ideologischen Hintergründe einiger Autoren die historisch schon immer gegebene Aufnahme von hoher Lyrik in die poesía popular als krisenhaft interpretierten. Auf der anderen Seite jedoch muß auch davon ausgegangen werden, daß die gesellschaftlichen Umbruchsprozesse der 20er Jahre (an erster Stelle sei hier die verstärkte Urbanisierung genannt) Auswirkungen 18

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An die knapp 30 Gedichte dieser Kategorie schließen sich noch acht an, die a u s Anlaß von Fiestas und bailes gesungen wurden. Hierbei wurden nur diejenigen behandelt, die sich direkt mit Volksliteratur beschäftigten. An weiteren zeitgenössischen Beiträgen zum Thema wäre u.a. noch Armando Solano zu erwähnen ("La melancolía de la raza Indígena", 1983, 118-141 (1927)), z.B. S. 122: "En cualquiera charla de tres maleteros boyacenses que velan en el corredor de u n a posada esperando que raye la aurora para coger camino, encontraréis [...] centenares de adagios, de comentarlos, de réplicas y de coplas [...]." Eine Quelle für die Rekonstruktion des Status der traditionellen Volkspoesie kann Im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgeschöpft werden, da sie erheblich weltergehender Untersuchungen bedürfte: die Zitation von poesía popular in literarischen Werken. Speziell böten sich hierbei die a u s heutiger Sicht bedeutendsten kolumbianischen Romane der 20er Jahre an: La vorágine von José Eustasio Rivera (1924) und La Marquesa de Votomi» von Tomás Carrasquilla (In Buchform veröffentlicht 1928). Es sei hier nur erwähnt, daß In beide Prosawerke Gedichte a u s der mündlichen Tradition der Llanos respektive Antloqulas aufgenommen wurden, a u s Gebieten also, die auch In der Forschung zu dieser Gattung besonders beachtet wurden. Daß die Aufnahme von Volkspoesle In Prosawerke kein Privileg der 20er Jahre darstellte, belegt der sehr populäre Liebesroman María von Jorge Isaacs (1867).

51 auf den Status dieser Literaturform im Übergang von einer überwiegend traditionalen zu einer partiell modernen Gesellschaft hatten.

2.1.2. Mündlich tradierte Lyrik außerhalb des Korpus der traditionellen Volkspoesie In diesem Abschnitt soll versucht werden, den Begriff der mündlich tradierten Lyrik über das sehr undifferenzierte und nicht klar zu bestimmende Korpus einer reinen traditionellen Volkslyrik hinaus zu beschreiben. Die Hauptfrage lautet dabei, wie stark und auf welchen Wegen nicht genuin volkstümliche Lyrikformen Eingang gefunden haben in die mündliche Tradition. Die direkte Vermittlung über moderne Medien kann hierbei für die große Masse der kolumbianischen Bevölkerung im Prinzip ausgeschlossen werden. Das Radio wurde erst gegen Ende der 20er Jahre in Bogotá eingeführt.21 Der Einfluß der Kinos war, wie später zu zeigen sein wird, eher indirekt, da sie bis 1929 nur Stummfilme präsentierten.22 Möglicherweise erlangte das Grammophon eine gewisse Breitenwirkung in Gaststätten der kleineren Städte oder in den Herrenhäusern der Metropolen und auf dem Land; wie weit jedoch tatsächlich die hier zu untersuchende Gruppe der Analphabeten direkten Zugang zu diesen Apparaten hatte (z.B. Bedienstete in den Herrenhäusern oder Bauern an Markttagen), und ob dadurch die Volkspoesie beeinflußt wurde, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

2.1.2.1. Die Rezeption des Werkes von Julio Flórez Ein Guillermo Valencia war durch seine öffentlichen Auftritte in Bogotá (bei der Rezitation seiner Gedichte im Teatro Colón, beim Begräbnis von Uribe Uribe, in seinen Wahlkämpfen etc.) und in seiner Heimat Popayán sicherlich auch den ungebildeten Bewohnern dieser Städte bekannt, die seine Reden und Gedichte nicht in den Zeitungen nachlesen konnten; für eine aktive Rezeption seiner Gedichte in ländlichen Gebieten gibt es aber keinerlei Hinweise. Die Umgestaltung von Gedichten Rafael Pombos und seine Aufnahme in den Kanon der poesía popular wurde von Domínguez del Río und Otero Muñoz erwähnt, doch die genauen Wege dieser Popularisierung lassen sich in den Quellen nicht nachvollziehen.23 Allein für den 1923 verstorbenen Julio Flórez ergibt sich aus verschiedenen Mosaiksteinen ein Gesamtbild. Einen ersten Hinweis liefert die spätere Führerin der sozialistischen Partei, Maria 21 22 23

Uribe Cells, 1991, S. 34. Alvarez Córdoba, 1989, S. 248. Zum populären Charakter vieler Gedichte Rafael Pombos s. Oijuela, 1960, S. 128-132.

52 Cano, mit ihrem Prosagedicht Julio Flórez von 1923. Aus Anlaß der von den Medien viel beachteten coronación des Dichters, der höchsten Ehrung eines kolumbianischen Lyrikers dieser Zeit, beschreibt sie in der Zeitschrift Cyrano mit ihrem romantischen, reich adjektivierten Stil die Bewunderung gerade einfacher Menschen für Julio Flórez und ihre persönliche Begegnung mit seinem Werk: "Sus rimas que anidar han podido en cabecitas infantiles, en cerebros sencillos de campesinos, como en la juventud apasionada, y dulces se han escapado de los labios temblorosos de los ancianos. Así los recibió mi corazón de niña de unos labios amados, marchitos por los años, embellecidos por la emoción."24 Luis Tejada begründet Julio Florez' Erfolg mit der Tatsache, daß er der "poeta ideal" sei, "el cantor simple y terrible que sabe interpretar en palabras sinceras los sentimientos más humanos, y, por lo mismo, más universales y eternos. [...] Sus versos no deben ser escritos ni leídos; sus versos sólo deben cantarse [...] como en la poesía primitiva, la única y verdadera poesía."25 Den Sitz im Leben dieser wahren Lyrik des Romantikers Flórez in den Liedern des Volkes schildert mit großem verbalen Aufwand Fernando de la Vega in einem Vortrag über "Tres poetas de Colombia": "No hay un solo colombiano, por ejemplo, que vagando por las soledades umbrías de nuestra abrupta cordillera, al oir en miserable choza el rasguero de una guitarra, acompañado de canciones melancólicas del poeta, no experimente sus fibras sacudidas y desgarradas por voces interiores; como tampoco habrá quien al recorrer antiguas ciudades costeñas - donde el azul del cielo resplandece de gloria - y escuchar al pie de entreabierta celosía los cantos de alguna serenata con coplas de Flórez, no enderece sus miradas al firmamento, obedeciendo a una vaga atracción del infinito."26 F. Restrepo Gómez schließlich prophezeit ihm die Unsterblichkeit in der zukünftigen Abfolge von Generationen und literarischen Moden: "Siempre será un poeta actual, si cabe la paradoja, y sus trovas sentimentales y melancólicas volarán argentinas a compás de nuestro clásico tiple o de la grave guitarra, en nuestros campos y en nuestras ciudades, en la opulenta sala del magnate [...] como en la sencilla cabaña del labriego feliz."27 24 25

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Cano, 1985. S. 11 (Erstveröffentlichung In: Cyrano, Medellin, 18.1.1923). "Julio Flórez", In: Tejada, 1989, S. 403; diese Crónica Ist undatiert und wurde erst 1929 In der Zeltschrift Sábado In Medellin veröffentlicht. In: Cromos, 26.8.1922: die beiden anderen Dichter sind Guillermo Valencia und Luis Carlos López. "Julio Flórez", In: Cromos, 9.2.1924.

53 Noch mehr als 20 Jahre nach seinem Tod, bei dem Versuch einer Neubestimmung seines Werkes, weiß der katalanisch-kolumbianische Kritiker Ramón Vinyes um die Aktualität von Julio Flórez: "Todavía hay elementos populares que lloran con 'Flores negras', que se emocionan con 'La araña', y que toman versos del gran poeta para expresar sus sentimientos, carentes ellos de palabras propias para expresarse."28 Doch kehren wir zurück zu den 20er Jahren. Wie war es möglich, daß Julio Flórez eine solch umfassende Popularität in allen Gesellschaftsschichten erlangte? Wie war es möglich, daß Jugendliche in den Bergen oder an der Küste, die nie eine Schule besucht hatten, in ihrem Liebeskummer Zuflucht nahmen zu diesen Strophen aus Mis flores negras: Oye; bajo las ruinas de mis pasiones, en el fondo de ésta alma que ya no alegras, entre polvo de sueños y de ilusiones brotan entumecidas mis flores negras. [...] Guarda, pues, este triste, débil manojo que te ofrezco de aquellas flores sombrías. Guárdalo; nada temas: es un despojo del jardín de mis hondas melancolías. 2 9

Sicherlich unterscheiden sich solche Zeilen von denen Guillermo Valencias durch die Verbalisierung elementarer Gefühle der Menschen - Armando Solano nennt es die Konsonanz von Poesie und der Melancholie des Volkes "con su íntima, con su insondable pena"30 -, doch dies allein beantwortet noch nicht die Frage nach den tatsächlichen Wegen, über die Mis flores negras oder La araña sich von Bogotá aus ausbreiteten. Zu den textimmanenten Faktoren kam bei Julio Flórez sein Auftreten in der Öffentlichkeit hinzu, das die Barriere zwischen Ober- und Unterschicht überwand. "Cantó dondequiera y a todo momento, como cumpliendo con un deber. [...] Y no fue la prensa la que le dio más notoriedad, sino las recitaciones de sus fecundos cantos prodigados con maravillosa liberalidad en las altas y las bajas esferas de la sociedad, en los salones, en los clubs, en las cantinas y cafés, donde todos se entusiasmaban y enternecían a las cadencias de sus rimas..."31 28

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30 31

"Julio Flórez y sus hijos", ln: Vinyes, 1982, Band 1, S. 447-449, hier S. 447 (Erstveröffentlichung In: El Mundo, IX, 1946). Flórez, 1988, S. 109f. Eine genaue Analyse des Gedichtes erfolgt Im Kontext der Interpretationen ln Kapitel 4. "Julio Flórez", ln: Solano, 1983, S. 223-226, hier S. 224 (der Artikel stammt a u s dem J a h r 1936). Hurtado, 1968, S. 83; das Zitat stammt von Luis Maria Mora, der, wie Flórez, Mitglied der Gruppe La Gruta Simbólica war. Restrepo Duque, 1971, S. 121, sieht die Bogotaner Gesellschaft der Zelt unterschieden in zwei Gruppen: "Los de la primera eran especies de oligarcas. Estudiosos de Nietzsche y de BarTés. Traductores de Verlaine. Admiradores de Víctor Hugo. Y en la otra, los proletarios, hablando con términos de hoy. Felices en un mundo de retruécanos y chascarrillos, dedicados a lo que se ha dado en llamar 'arte menor'."

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Daß er während des Bürgerkrieges kurze Zeit im Gefängnis saß, daß er der Zensur von Miguel Antonio Caro unterworfen wurde, daß sich um die Treffen mit seinen Freunden von La Gruta Simbólica auf Friedhöfen Legenden rankten und daß er unter Rafael Reyes zu einer langen Auslandsreise durch Mittelamerika und nach Europa gezwungen wurde (offiziell in diplomatischer Mission), machten ihn nur noch populärer.32 Julio Flórez suchte den Ruf des Bohemien, der im Teatro Colón in Bogotá die Massen ebenso begeisterte, wie er auf eleganten Festen und in schäbigen Lokalen (chicherías) kleinere Gruppen von Zuhörern/innen in seinen Bann zog. Doch um seine landesweite Bekanntheit in den 20er Jahren zu erklären, bedarf es noch der Erwähnung eines weiteren Aspektes seines Schaffens.33 Mit 14 Jahren war er in die Kunstschule von Alberto Urdaneta gekommen und hatte dort Bekanntschaft gemacht mit Malern, Bildhauern, Dichtern und Komponisten der Zeit vor der Jahrhundertwende.34 Aus diesen Verbindungen resultierte auch die Nähe seiner Lyrik zur Musik. Zwischen den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Beginn der Regierungszeit von Rafael Reyes verbrachte er seine Nächte im Zentrum von Bogotá in Cafés und Musikkneipen, wo sich Sänger, Komponisten und Dichter zusammenfanden, um alte bambucos zum besten zu geben und neue zu schaffen. Julio Flórez selbst begleitete seine Gedichte auf einer tiple, einer Art Gitarre, oder auf seiner Geige, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Musik zu Mis flores negras von ihm selbst stammte. Dieses Lied nämlich - und damit kommen wir wieder zu der Frage zurück, warum der Text auch in den abgelegensten Dörfern noch bekannt war - wurde nicht primär als Gedicht in der Form eines dodecasílabo de seguidilla tradiert, sondern in der musikalischen (und dramatischen) Form des pasillo. Seinen Siegeszug im Land begann es über Konzertreisen von Musikern aus diesem Kreis, durch Sänger, die es in der Hauptstadt hörten und in ihr Repertoire aufnahmen, oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda.35 Noch von seinem Altersruhesitz Usiacurí aus trat Julio Flórez, zusammen mit seinem Freund, dem Pianisten und Komponisten Emilio Murillo, in mehreren vielumjubelten Veranstaltungen im Lande auf. Die musikalische Begleitung, deren hohe Bedeutung in der traditionellen Volkslyrik schon zum Ausdruck kam, dürfte also für die Aufnahme in die mündliche Tradition einen der Textfassung ebenbürtigen Stellenwert gehabt haben. Die Rezitationen von Guillermo Valencias Anarkos vermochten aufgrund der Wortmächtigkeit dieses Gedichtes Begeisterungsstürme und Rührung zu erwecken, doch im Gegensatz zu 32

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S. u.a. Ortega Rlcaurte/Ferro, 1981; Carranza, 1986, S. 63-93; Rafael Maya, "Una revisión de Julio Flórez", In: Flórez, 1970, S. 391-403; Harold Alvarado Tenorio, "Prólogo", In: Flórez, 1988, S. 9-28; Martínez Mutis, 1973, passim. Man muß bedenken, daß Julio Flórez sich von 1905 bis zum Ende der Herrschaft von Rafael Reyes Im Ausland aufhielt, und danach In einem kleinen Dorf an der Atlantikküste (Uslacuri) bis zu seinem Tod 1923 als MUchbauer lebte. Restrepo Duque, 1971, S. 120-141; die folgenden Ausführungen stützen sich auf diesen Beitrag; s. dazu auch ders., 1972, passim. Die ersten Platten von Mis flores negras kamen 1915 (In Ecuador) und 1924 auf den Markt; sie können also nicht die primäre Ursache für die große Verbreitung sein.

55 Flores negras verblieben diese Reaktionen in einer überwiegend passiven Rezeptionshaitang: Anarkos war in der vorliegenden Form nicht singbar, und für eine Umgestaltung zu einem Lied entbehrte es der populären Themen und der sentimentalen Grundstruktur.36

2.1.2.2. Populäre Lyrik in Liederheften 1924 veröffentlichte der Verlag Bedout in Medellin (Herausgeber: C. Díaz Polo) die Colección de canciones y cuplés in einer Auflage von 3000 Exemplaren. Begleitet von Werbung für Kakao, Zigaretten und ein Hotel verspricht das Titelblatt, dieses 60seitige Bändchen sei "la más completa [colección] que ha circulado en Colombia"; und außerdem: "Este folleto es el mejor regalo que Ud. puede hacer a su novia o a su amiga". Die Aufmachung (der Preis wird nicht genannt) deutet auf ein Mittelschichtpublikum (möglicherweise gehobene Unterschicht) als Zielgruppe hin, das über zumindest bescheidene Einkünfte verfügte (Werbung für Verbrauchsartikel des täglichen Lebens), Anteil hatte am wirtschaftlichen Aufschwung ("Buen negocio hará, quien pida cantidades de este folleto"), aber dennoch nicht über die Lektüre bzw. das Singen von populären Texten erhaben war. Kriterien für die Textauswahl werden nicht angegeben und entsprechend vielseitig präsentiert sich das Büchlein: Neben Sonetten von Abel Marin oder Emilio Carrere finden sich ecuadorianische pasillos und portugiesische fados, anonyme Tänze und Lieder (z.B. Cielito lindo) und solche, die einen Autorennamen tragen (ohne daß jeweils genannt würde, ob sich die Autorenschaft auf den Text oder die Melodie bezöge). Obwohl zu vermuten ist, daß alle Stücke singbar sind, tragen sie weder Noten noch Griffe für die Gitarrenbegleitung - ob die Musik als allgemein bekannt vorausgesetzt wurde, muß offen bleiben. Eine inhaltliche Beschreibung der aufgenommenen Gedichte/Lieder ist sehr einfach zu treffen: Sie handeln nahezu ausnahmslos von Liebe und Sehnsucht. Auf metrischem Gebiet hingegen verrät das Heft keine spezifischen Vorlieben: 8-Silber wechseln sich ab mit vier-, sechs-, zehn-, elf- oder zwölfsilbigen Versarten und kombinierten Formen; neben 4-Zeilern gibt es 6-Zeiler oder unstrophische Reihen. Schon diese oberflächliche Darstellung macht deutlich, daß hier nicht die Rede sein kann von einer Sammlung traditioneller Volkslyrik. Auch bezieht sich der Anspruch auf Vollständigkeit, den der Herausgeber in durchaus kommerzieller Absicht erhebt, sicher nicht auf den Gesamtumfang der in der mündlichen Überlieferung gesungenen Lieder. Am wahrscheinlichsten ist, daß tatsächlich weit verbreitete Lieder und Tänze 36

Allerdings gab es eine Musikbegleitung zur Rezitation des wohl bekanntesten Gedichtes von Guillermo Valencia, komponiert von Guillermo Urlbe Holguln; s. Caro Mendoza, 1989, S. 276.

56 (speziell die mit bambuco bezeichneten) mit solchen zusammengestellt wurden, die prospektiv aufgrund ihrer populären Thematik einen Publikumserfolg versprachen. Im Hinblick auf den Problembereich Mündlichkeit-Schriftlichkeit verdient ein Stück besondere Aufmerksamkeit: Lejos de María. Monólogo basado en la novela de Jorge Isaacs von einem gewissen Andrés Votino. In 130 Zeilen werden die Gedanken und Erinnerungen von Efrain in der Zeit dargestellt, die zwischen dem Lesen des Briefes mit der Nachricht der tödlichen Krankheit Marias und der Abreise aus London liegt. Im Roman heißt es dazu nur lapidar: "Dos horas más tarde salía yo de Londres."37 In Votinos Gedicht verwünscht der Monologsprecher nach einer kurzen Einleitung das winterliche London (ciudad monstruo), das ihn fernhält von seiner teuren Heimat Kolumbien und von der kranken Geliebten. Immer wieder vermischen sich in der folgenden Erinnerung Naturbeschreibungen und Schilderungen der Liebesbeziehung: Oh, mi tierra caucana, D o el Zabaletas entre verdes frondas Arrastra su caudal de turbias ondas Tierra donde pasé mi edad temprana, Donde cuando era niño M e dió María sus primeros besos Sus ósculos de amor y de cariño! Crespas enredaderas D e tupido follaje [...]. 3 8

Aus der Vergangenheit wird er wieder in die Gegenwart zurückgeworfen und damit in ein Schwanken zwischen der Hoffnung, Maria noch lebend anzutreffen, und der Befürchtung, sie sei gestorben; eine Befürchtung, die ihren Ausdruck findet in der Beschwörung des schwarzen Todesvogels. Die bei einem Monolog leicht aufkommende Monotonie vermeidet der Autor durch häufige wörtliche Reden, Zitate, Ausrufe, Fragen und Satzfragmente, aber auch durch die Form der Silva mit ihrer unregelmäßigen Abfolge von sieben- und elfsilbigen Versen sowie ständig wechselnden Reimschemata. Bei der Frage nach dem Sitz im Leben dieses Gedichtes ist die Gattungsbezeichnung von Belang. Monólogo suggeriert eine dramatische Präsentation, wahrscheinlich mit Musikbegleitung (eine direkte Vertonung als cuplé ist nicht auszuschließen). Die Aufnahme der sentimentalen Thematik des Romanes María garantierte dabei den Erfolg, denn ganze Generationen von jungen Mädchen hatten über den Tod der Geliebten von Efrain Tränen vergossen. Doch dies gilt wiederum nur für diejenigen, die lesen konnten oder denen das Buch vorgelesen wurde. 37 38

Isaacs, o.J., S. 133. Auch wenn bei der Beschreibung von Pflanzen am Wasser Wortspiele mit; verde, fronda, onda, turbia, tupido, follaje naheliegen, so erinnert dieser zitierte Abschnitt doch sehr an die Zelle Rubén Darios: "del fondo verdoso de fronda tupida" (Leda, In: Darlo, 1982, S. 116); auch andere poetische Verfahren und semantische Eigenhelten weisen das Gedicht als Werk aus, das sich In die modernistische Tradition einreihen will.

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Für die mögliche Verbreitung von Lejos de Maria war nun der oben angesprochene indirekte Einfluß des Kinos maßgeblich. In Bogotá wurde 1912 ein Kino mit 3000 Plätzen eröffnet, und Medellin besaß schon seit 1910 ein großes Freilichttheater mit nächtlichen Filmvorführungen. Riesige Häuser kamen in den darauffolgenden Jahren hinzu (in Medellin eines mit 4000 Plätzen). In Sincelejo, Cali und Cúcuta erschienen, wie in Bogotá, Kinozeitschriften. Kino wurde zu einem Massenerfolg in den Metropolen und in kleineren Städten und Dörfern.39 Im Jahre 1921/22 entstand schließlich die erste große kolumbianische Filmproduktion: María. "La película obtuvo un enorme éxito de púbüco, no solamente en Colombia sino en los países de habla española, constituyéndose con ello en un modelo que nunca más ha podido ser alcanzado por ninguna otra película colombiana."40 Mittels des Filmes war der Roman von Jorge Isaacs in aller Munde41 und von daher ist die Frage nach dem Sitz im Leben des besprochenen Gedichtes - die Liedersammlung erschien 1924 - praktisch beantwortet. Gleichgültig, ob Lejos de María schon vorher geschrieben wurde oder erst nach 1922, die vorliegende Veröffentlichung steht mit dem Film im Zusammenhang. Ebenso gleichgültig erscheinen auch Spekulationen, wo das Werk de facto aufgeführt wurde: im Kinoraum selbst oder bei anderen Veranstaltungen; als gesichert darf angenommen werden, daß Díaz Polo es nicht (nur) als Lesestück in die Colección de canciones y cuplés aufgenommen hat, sondern als einen musikalisch-theatralischen Beitrag zur Maria-Euphorie im ganzen Land, der in die mündliche Tradition eingegangen war oder eingehen sollte. Ein Jahr nach Díaz Polo legte die Librería Clásica in Bogotá die Zeitschrift Lira poética auf mit dem Anspruch, dies sei "el mejor cancionero publicado hasta el día"42. Die "Selección escogida de coplas, poesías y canciones" erschien wöchentlich zum Preis von fünf Centavos43 und wurde bei Vorlage einer Serie von 12 Nummern in der Buchhandlung zu einem Band zusammengebunden. Lira poética gab sich insofern ein im Vergleich zur Colección aus Medellin seriöseres Erscheinungbild, als Werbung aus dem Inneren verbannt und auf die Einbandseiten beschränkt blieb. Kein fundamentaler Unterschied ist jedoch bei einem Großteil der aufgenommenen Texte zu erkennen: Auch hier wechseln sich Gedichte/Lieder kolumbianischer (Julio Flórez, Daniel Bayona Posada, Abel Marín, Ricardo Nieto u.v.a.) und lateinamerikanischer 39

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Alle Angaben nach: Alvarez Córdoba. 1989, passlm. 1910 hatte sich eine Italienische Gruppe kurzzeitig an der Atlantikküste niedergelassen und zeigte Filme In Barranqullla, Santa Marta und Ciénaga. Ibid., S. 241. Neuauflagen erschienen 1922 In Bogotá, Barcelona und New York (Leavitt/ Garcia-Prada, 1934); Maria gilt als einer der erfolgreichsten Romane überhaupt In Lateinamerika; McGrady (1987, S. 203) kennt nicht weniger als 50 Ausgaben bis 1900 und 150 bis zum Jahre 1967. Lira poética trägt kein Erscheinungsjahr; Im Katalog der Biblioteca Luis Angel Aiango In Bogotá Ist sie unter 1925 veraelchnet. Ob mehr als die In der Bibliothek vorhandene erste Serie von 12 Nummern erschien, war nicht zu eruieren. Der Tageslohn eines Arbeiters lag Im Durchschnitt etwas über einem Peso. Arbeiterinnen verdienten die Hälfte (Molina, 1974, S. 116; Urrutia, 1982, S. 230; Archila, 1989, S. 219).

58 Dichter (Rubén Darío, Leopoldo Lugones, Amado Nervo) mit Walzern, Tangos, Bambucos und anderen volkstümlichen Tänzen ab, ergänzt durch bekannte Schlager wie Oh solé mío sowie anonyme Texte und Kompositionen. Bedingung für die Aufnahme scheint wiederum allein die Thematisierung der Liebe in all ihren Variationen gewesen zu sein. In die Hefte flössen die Lieder aus den Repertoires berühmter Sänger und Gruppen ein, die in den aus dem Boden sprießenden Music-Halls und Tanzcafés zunächst den Mittel- und Oberschichten neue Rhythmen näherbrachten44 und durch landesweite Gastspiele große Popularität erlangten. Ein anonymes Gedicht zumindest verdient auch in dieser Sammlung besondere Aufmerksamkeit: El capote del paseo*5. In ihm erzählt eine Arbeiterin in der Stadt von ihrer Liebe zu einem von Frauen umworbenen Stierkämpfer, der sie jedoch nicht einmal wahrnimmt; erst an seinem Totenbett ist sie allein mit ihm. Für den Kontext der Volkspoesie bzw. der mündlichen Lyriktradition ist El capote del paseo deshalb interessant, weil es in einem aktuellen städtischen Ambiente situiert wird und weil, im Gegensatz zur traditionellen Volkspoesie, eine Frau die Stelle der Protagonistin einnimmt. Auch wenn weder dialektale oder umgangssprachliche Wendungen noch genaue Ortsangaben Hinweise auf die Herkunft des Textes geben, so besteht doch eine große Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei der Stadt um Bogotá (oder Medellin) handelt oder, selbst wenn das Gedicht nicht aus Kolumbien stammen sollte, im Kontext der 20er Jahre die erzählte Geschichte dort eine ausreichende Realitätsnähe besaß. Die Sprecherin bezeichnet sich selbst als "humilde obrerita", die in einem "taller de bordados" arbeitet, ihren Torero in einem "automóvil de lujo", begleitet von einer anderen Frau, vorbeifahren sieht und ihm in der "enfermería" im Sterben beisteht. Dem liegt eine städtische Gesellschaftsordung zugrunde, in der eine junge Frau gezwungen ist, sich ihren Lebensunterhalt als Arbeiterin in einem Betrieb mit mehreren Mitarbeiterinnen zu verdienen, und in der sie es wagen kann, ohne Begleitung die Stierkampfarena und im Anschluß daran den Schwerverletzten im Krankenhaus zu besuchen. Im Rahmen des hier ausgedrückten Selbstbewußtseins der Frau (sie stellt sich sogar mit dem heldenhaften Kämpfer auf eine Stufe, indem sie ihn zweimal als "diestro" bezeichnet, eine Eigenschaft, die sie für sich selbst in ihrer Arbeit ebenfalls reklamiert) erscheint auch die Erweiterung des formalen poetischen Repertoires der traditionellen Volkslyrik konsequent. Das gesamte 12-strophige Werk setzt sich zusammen aus drei klassischen, 8-silbigen coplas, fünf Strophen unterschiedlicher Länge (3-, 7-, 8- und 9-Zeiler) mit variierenden Verslängen (zwischen vier und neun Silben) und uneinheitlicher Reimfolge sowie vier kommentierenden pareados: Y aquel torero fue de quien me enamoré. 44 45

Vgl. Londoño/Londoño, 1989, S. 362-364. Lira poética. Serle I, Número 2, S. 16-18.

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Con otras triunfaba, y yo lloraba. Y cuando allí llegué, sin vida le encontré. Las otras se fueron y ni rezarle supieron.

Da jegliche textexterne Informationen fehlen (Name und soziale Herkunft des Autors oder der Autorin, Entstehungsort und Entstehungszeit, Verwendungszusammenhang, mündliche oder schriftliche Tradierung, Musikbegleitung, Rezeption etc.), lassen sich aus diesem singulären Beispiel keine generellen Rückschlüsse auf eine mögliche Umformung der traditionellen Volkslyrik in den 20er Jahren ziehen. Doch es ist frappierend, in dieser Textsammlung, parallel zu romantischen und/oder schwülstig überfrachteten Liedern populärer Sänger einer solch einfachen und unprätentiösen Sprache zu begegnen. Ein Vergleich mit einer Strophe eines willkürlich unter vielen anderen ausgewählten Beispieles mag die Differenzen verdeutlichen: Pero en la humilde obrerita no se fijó aquel torero, que se rifaban las hembras ante el brillo del dinero.46 Tienen tus ojos negros rayos de luz, son dos astros radiantes que brillan de infinito fulgor como las estrellas, üenen tus labios rojos calor y miel, y por esa tu gracia gentil tú eres mi ilusión. 4 '

Das Liederheft von Díaz Polo und Lira poética figurieren beide unter der Gattung cancionero, doch im Unterschied zum Cancionero Antonio José Restrepos und denen von Otero Muñoz und Ciro Mendía sind in ihnen nicht die Lieder und coplas der traditionellen poesía popular aufgezeichnet. Es handelt sich um kommerzielle, auf den aktuellen Geschmack und auf den massenhaften Gebrauch ausgerichtete Produkte, die in erster Linie auf ein des Lesens mächtiges Publikum angewiesen waren. Doch es ist mit hoher Sicherheit davon auszugehen, daß sich der Geschmack der Käufer dieser Medien nicht wesentlich von dem der Analphabeten in den Metropolen und in den aufstrebenden Mittelzentren Antioquias und anderer Provinzen unterschied. Die Texte wurden aus dem Repertoire erfolgreicher Musikgruppen und wahrscheinlich aus dem Bestand der gesungenen und rezitierten Lyrik in den Kneipen und auf der Straße ausgewählt. Ein großer Teil von ihnen hatte Eingang in die mündliche Tradition gefunden, wie dies am Beispiel von Julio Flórez nachgewiesen werden konnte. 46 47

Ibid., S. 16. Carmina, Ibid., S. 25; der Textautor wird nicht genannt, die Musik stammt von Calvo.

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Der ausführliche Durchgang durch die zeitgenössischen Quellen zur kolumbianischen Volkslyrik der 20er Jahre war unter der Fragestellung angegangen worden, welche Art von Lyrik unter der Mehrheit der Kolumbianer/innen, die nicht lesen und nicht schreiben konnten, produziert, rezipiert und tradiert wurde. Das Fehlen von systematischer Feldforschung legt dabei eine vorsichtige Formulierung der Ergebnisse nahe. Im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begann, nach wenigen vereinzelten Beispielen in früheren Zeiten, die Erforschung von traditioneller Volkslyrik mit Methoden, die einen wissenschaftlichen Anspruch erhoben. Dabei kristallisierte sich heraus, daß weder ein klar definierter Begriff des Forschungsgegenstandes, der kolumbianischen poesía popular, noch des Forschungsumfanges, also der sozialen und regionalen Verteilung sowie der historischen Herkunft, existierte. Die Texteditionen und die Diskussionen lassen dabei nicht nur auf unterschiedliche Erkenntnisinteressen der Autoren und Herausgeber schließen, sondern auch auf ein keineswegs homogenes Korpus der zeitgenössischen Volkslyrik. Wiederholte Hinweise auf das Eindringen von "moderner" Lyrik in die Volkspoesie sowie die Untersuchungen zur Rezeption des Werkes von Julio Flórez und der kommerziell ausgerichteten cancioneros aus Medellin und Bogotá belegen eine starke Tendenz zu neuen Formen und Ausdrucksweisen, die über die der traditionellen Volkslyrik inhärenten Variationen durch die orale Tradierung bzw. den regionalen Austausch hinausgehen. Die Rezeption von Mis flores negras und die gezielte, massenwirksame Lancierung von Lejos de Maria in der vorliegenden Form (als Lied) stellen dabei eine qualitativ neue Stufe dar im Vergleich zur Aufnahme z.B. von Gedichten Rafael Pombos in die Tradition, da diese zuerst eine Bearbeitung in die traditionelle copla-Form erfuhren. Im eigentlichen Sinne moderner Lyrik jedoch war dieser Weg einer Massenrezeption verschlossen, denn sie brach mit den notwendigen Voraussetzungen hierfür: mit der romantischen Liebesthematik und mit den auf Singbarkeit angelegten Formen. Das verstärkte Interesse für die traditionelle Volkslyrik unter den Intellektuellen resultierte aus den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen Kolumbiens in dieser Zeit, die vielfach als Umbruch oder Krise empfunden wurden und daher den Rückzug auf gesicherte Sitten und Gebräuche in alten Zeiten oder auf dem Land nahelegten. Gerade dies verhindert letzten Endes eine genauere Rekonstruktion der Veränderungen der Volkslyrik in den Zeiten einer partiellen Modernisierung: Diejenigen, die die traditionelle poesía popular erforschten, zeigten kein primäres Interesse für neuere Entwicklungen und diejenigen, die aus diesen Entwicklungen Profit zu schlagen suchten, hatten kein Interesse an einer wissenschaftlichen Erforschung. Auf diese Weise stehen moderne Marktstrategien und der (mit modernen, wissenschaftlichen Kriterien vollzogene) Rückzug auf das Alte parallel nebeneinander und lassen nur in Ausnahmefällen Berührungspunkte zum Vorschein kommen.

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2.2. Lyrik in Schulbüchern Während mündlich tradierte Lyrik potentiell die gesamte Bevölkerung erreichte, waren die Adressaten der in Schulbücher aufgenommenen Gedichte bereits in der Minderheit. Zwei Dritteln aller Kolumbianer/innen blieb der Zugang zu diesem Medium verschlossen. Doch auch der verbleibende Teil derer, die die Schule besucht hatten oder sie gerade besuchten, darf, wie gezeigt wurde1, nicht als homogene Gruppe angesehen werden. Die meisten Schüler/innen kamen nicht einmal über die zweite Klasse der Grundschule hinaus; die öffentlichen und privaten Sekundärschulen waren, besonders in den höheren Klassenstufen, einer winzigen Oberschicht vorbehalten, die nur wenige Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßte. Die Rolle der Lyrik und allgemein der Literatur in der schulischen Erziehung muß also differenziert gesehen werden: Für die große Masse der Schüler/innen bildete sie einen festen Bestandteil des Lese- und Schreibunterrichtes, während ihr in späteren Jahren ein relativ eigenständiger Status zukam durch die Fächer Literatura preceptiva und Historia de la literatura2. In allen Jahrgangsstufen war Lyrik jedoch eingebunden in die Erwartungen, die Kirche, Staat und Konservative Partei an die Schule stellten. Luis María Mora faßt sie - in einem Kommentar über ein Kinderbuch des Dichters Rafael Pombo - in fünf Schlagworten zusammen: "Dios, la Patria, la ciencia, la moral, la república"3. Und so träumt dieser konservative Reformer 4 denn auch von einer Schule, in der Lyrik als eine zentrale Trägerin und Vermittlerin dieses umfassenden Ansatzes fungieren kann: "Las tareas diarias empezarán con un himno. Nuestro gran poeta Rafael Pombo servirá como fiel intérprete a los niños. Tal será la primera oración de la mañana: ¡Oh Padre, cuánto es bello, El mundo que tú hiciste! N o hay templo, no hay palacio, N o hay sueño que su canto rivalice. ¿Por qué, por qué los hombres C o m o envidiosos tigres, Viven aborreciéndose El breve tiempo que en el mundo viven? [...] S. hierzu Kapitel 1.2. Zu dieser Ausdifferenzierung vgl. Ruano, 1925, S. IXf. Mora, 1922, S. 116; tn welchem Sinne Mora "ciencia" versteht und welchen Ort er Ihr In seinem Erziehungskonzept zuweist, geht aus seinen Artikeln In El alma nacional nicht hervor. Ibid., S. 105: "Por fortuna la escuela moderna no es el lugar desapaslble y triste de otras épocas en que resonaban sin cesar los azotes [...]. Ya ni la letra con sangre entra ni la labor con dolor, y no se pone, como antes, más cuidado en enderezar u n a planta o en engordar un caballo que en educar u n niño." Ob diese Aussagen Faktum oder Wunschvorstellung waren, soll dahingestellt bleiben.

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¡Oh Padre, cuánto es bello El mundo que tú hiciste! ¡Felices los que sepan Agradecerte, amarte y bendecirte!" 5

2.2.1. Der Bestand an Lesebüchern für die Schulen Die kolumbianischen Schulbücher mit ihrem Beitrag zur Vorstellung von Lyrik sind allem Anschein nach bisher weitgehend unerforscht. Von den Bibliographien zur kolumbianischen Literatur hat nur Héctor H. Orjuela in den Fuentes generales para el estudio de la literatura colombiana (1968) einige - bei weitem nicht alle - aufgenommen. Dies sind speziell Werke für den Unterricht der Preceptiva literaria/Retórica, der Historia de la literatura sowie Anthologien, betreffen mithin in erster Linie den Sekundarschulbereich und finden sich verstreut über mehrere Kategorien seiner Bibliographie. Von der Seite der Erziehungswissenschaften6 ist der Befund ähnlich negativ. Der folgende kommentierte bibliographische Überblick soll auch einige Zusatzinformationen über Erscheinungsjahr, Erscheinungsort, Auflagenzahl etc. geben, denn es wird sich zeigen, daß die Schüler/innen nur in Ausnahmefällen aktuelle Schulbücher zur Händ hatten, selbst wenn man von der bereits erwähnten Tatsache absieht, daß viele Lehrer/innen aus Mangel an von der Zentralregierung gestellten Lehrmitteln die Unterrichtsmaterialien aus ihrer eigenen Schulzeit verwenden mußten.7 a) Vom Ministerio de Instrucción Pública (bzw. Ministerio de Educación beschaffte Fibeln und Lektürebücher8:

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7

®

Nacional)

Ibid., 109f. Ich stütze mich hier wieder auf die Studie von Allne Helg. 1984, und Ihre ausführliche Bibliographie, In der keines der angeführten Werke auf eine genauere Auseinandersetzung mit den Schulbüchern schließen läßt: Silva Olarte, 1989, und Jaramlllo Urlbe, 1989, haben keine Jüngere Literatur eingearbeitet Eine Ausnahme stellte die Provinz Boyacá dar, In der Rafael Bemal Jiménez eine umfassende Schulreform anstrebte (s. Helg, 1984, S. 103-106) und dabei gratis an die Lehrer/Innen eine Zeitschrift (Cultura/Tunja: die erste Nummer erschien am 3.April 1927) verteilen ließ. Darin wurden Gesetzestexte, Dlskusslonsbelträge, Aufsätze zu pädagogischen Konzepten etc. veröffentlicht, aber auch literarische Texte abgedruckt, die Im Unterricht Verwendung finden konnten. Neben Autoren, die sich auch In den üblichen Schulbüchern finden (vor allem Rafael Pombo oder Victor Hugo), wagte es Bernal Jiménez, den Lehrem/lnnen aktuelle oder/und vergleichsweise "revolutionäre" Autoren/Innen an die Hand zu geben wie z.B. Gabriela Mistral, Rubén Dario, Paul Verlaine oder José Eustasio Rivera. Die Informationen sind den Beschafiungsllsten aus den Berichten des Ministers an den Kongreß (1921, 1925-1930) entnommen. Die Schwierigkeiten einer genauen Bibliographie lassen sich aus den häufig nur rudimentären Angaben ersehen, die die Berichte machten, z.B.: "Lector, Cortázar", oder "Libro 3", Restrepo Mejia".

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- Rodolfo D. Bernal: Libro de lecturas escogidas. 1939 erschien eine 17. (Bogotá, Librería Voluntad), gegenüber der 5. (1905, Bogotá, La Luz) nur leicht veränderte Auflage; das Erscheinungsjahr der ersten Auflage ließ sich nicht eruieren. Beschafft 1925-1928. - G. M. Bruño: Lecciones de lengua castellana. Curso elemental, curso medio, curso superior. Das untersuchte Exemplar des dritten Bandes (Paris, Procuraduría General, 1912; eine Neuauflage erschien 1923: Barcelona/Madrid, Administración Bruño) trägt den Namenszug des Besitzers und die Jahreszahl 1924. Beschafft wurden 1929 und 1930 die Bände 1-4, was auf eine mögliche Neuaufteilung des Pensums schließen läßt; möglich ist auch eine Vermischung von Lecturas und Lecciones de lengua, denn aus dem gleichen Verlag findet sich auf dem Rückendeckel abgedruckt das Gesamtangebot: Lectura y religión wird dabei von Lengua castellana unterschieden. - Justo V. Charry: Cartilla(s). Beschafft 1927 und 1929. - Roberto Cortázar/Antonio Otero Herrera/Francisco M. Rengifo: Nuevo lector colombiano. Sieger eines offiziellen Wettbewerbes für die Konzeption von neuen Schulbüchern 1911, erste Auflage 1913 (Bogotá, La Luz), beschafft 1926-1929; Orjuela, 1968, S. 248 kennt noch eine 30. Auflage von 1962. - Roberto Cortázar: Lector. Dieses Buch wurde 1921, 1925, 1926 und 1930 beschafft und ist vermutlich nicht identisch mit Cortázar e.a.; ich konnte jedoch keine weiteren Informationen darüber finden. - Carlos Jiménez: Método natural de escritura y lectura, 1924; beschafft 1925. - José Joaquín Ortiz: Lecturas selectas (En prosa y verso para los alumnos de las escuelas de Colombia). 1. Auflage 1905 (Bogotá, Librería Colombia), 6. Auflage 1908; beschafft wurde es noch in den Jahren 1921 und 1926-1930. - Antonio Otero Herrera: Lecciones de retórica y literatura, Bogotá (Arboleda y Valencia) 1913; beschafft 1928. Diese Werk ist der Gruppe der Bücher für die Sekundarstufe zuzuordnen (Texto adoptado oficialmente para el uso de las escuelas normales, also für die Lehrerbildungsanstalten). - Martín Restrepo Mejía: La escuela colombiana, 3 Bände. Beschafft wurden alle drei Bände 1930, nur Band 3 1926 und 1927. Ich konnte eine Auflage des 2. Bandes: Bogotá (La Luz) 1923, einsehen. Restrepo Mejía ging mit einem Elementarbuch als Sieger aus dem Wettbewerb von 1911 hervor (vgl. Cortázar e.a., 1913, S. VI); ob dies mit einem Teilband von La escuela colombiana oder mit Restrepo Mejía: Enseñanza de castellano. Libro II (Analogía y sintaxis), Medellín (Bedout) 1926, identisch ist, vermag ich nicht zu sagen. - Constanza Sanín de Díaz: Lector colombiano. Beschafft 1925-1929. - Gustavo Uribe Arango: Lectura sin cartilla. Beschafft 1928.

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b) Bücher für die Sekundarstufe - Juan C. García, Presbítero: Nociones de retórica. 1. Auflage 1914; 2. Auflage, unter dem Titel Nociones de literatura, Bogotá (Minerva) 1921 (mit einer Liste von zwischen 1848 und 1913 in Kolumbien erschienenen Lehrbüchern für die Sekundarstufe); 3. Auflage 1925. - B. Matos-Hurtado: Compendio de la historia de la literatura colombiana para el uso de los colegios y de las escuelas superiores de la República. 1. Auflage 1919; 2. Auflage Bogotá (Marconi) 1925. - Jesús María Ruano, S.J.: Lecciones de literatura preceptiva. 1. Auflage 1918, 2. 1919 oder 1920, 3. verbesserte 1927, 11. Auflage Bogotá (Librería Voluntad) 1956. - Ders.: Resumen histórico-crítico de literatura colombiana, Bogotá (Editorial Santafé) 1925 (vier Auflagen bis 1945). - Faustino Segura, Sacerdote de la Congregación de la Misión: Elementos de literatura preceptiva. Die erste Auflage erschien vermutlich 1906 unter dem Titel: Curso de literatura (vgl. Juan C. García), auch wenn Oijuela, 1968, S. 143, eine 1916 in Popayán erschienene Ausgabe als mögliche erste angibt. Eine überarbeitete 7. Auflage (Bogotá, Litografía Colombia, o.J.) verweist zur jüngsten Entwicklung in der Lyrik (die "ismos" nach dem Symbolismus) auf ein Buch von 1932. Oijuela (ibid.) kennt eine sechste Auflage (Cali) von 1946. Eine weitere Quelle für die Erforschung des Gebrauchs von Lyrik in Schulbüchern würden natürlich die Grammatiken darstellen. Da hier poetische Texte durchwegs allein illustrierenden Charakter haben, kann auf eine weitergehende Beschäftigung mit ihnen verzichtet werden. Der Vollständigkeit halber seien jedoch drei in den 20er Jahren verwendete Grammatiken genannt: 1928 wurde die Gramática castellana von Andrés Bello beschafft und 1929 Jorge Roas Curso elemental de gramática castellana. Die Gramática práctica de la lengua castellana von Emiliano Isaza (erste Auflage 1880) fungierte, obwohl vom Ministerium nicht gekauft, als Texto oficial de la Universidad nacional y de los Colegios en ella incorporados, y adoptado también en casi todos los demás establecimientos de enseñanza en Colombia (Titelblatt der 45. Auflage, London, 1920).

2.2.2. Bücher für den Spanischunterricht an den Grundschulen "El Libro de lectura debe disponerse con arreglo al método inductivo, en forma gradual y progresiva, que indique algunos rudimentos de análisis de la lengua castellana y exponga luégo nociones elementales de religión y moral, geografía, historia, artes y oficios, instrucción cívica y ciencias naturales. [...]

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La ultima parte de la obra consistirá en una selección de pasajes históricos y descriptivos y de poesías, que se refieran principalmente a Colombia y que sean de preferencia de autores nacionales."9 Wenn sie diesen Anforderungen des Erziehungsministeriums entsprachen, mußten sich die Lektürebücher zu Beginn des Jahrhunderts natürlich der nach der Verfassung und dem Konkordat letztlich entscheidenden Instanz stellen: der kirchlichen Approbation.10 Diese Faktoren führten dazu, daß die verwendeten Gedichte in allen Lesebüchern mehr oder weniger das gleiche Korpus umfaßten, wie ein exemplarischer Vergleich zweier kolumbianischer Werke zeigt. Ganz auf der Linie des Ministeriums stellten Cortázar/Otero Herrera/Rengifo11 hohe Ansprüche an eine universale Bildungsfunktion ihres eigenen Buches: "Cumple al libro de lectura en la escuela primaria la indispensable función de dar enlace a los diversos ramos de la enseñanza [...]. Viene a ser de este modo el lugar de cita donde se dan la mano las varias asignaturas para ayudarse, completarse y perfeccionarse mutuamente" (S. VlIIf). Innerhalb des Faches Spanisch verorteten sie es auf dem zweiten von drei Niveaus: "Tres grados se distinguen comúnmente en el arte de la lectura: el primero consiste en traducir fielmente en sonidos o palabras habladas los caracteres escritos (lectura mecánica); el segundo, en entender bien las ideas que los signos o palabras escritas representan (lectura ideológica)-, y el tercero, que supone los otros dos, consiste en interpretar por la modulación de la voz los sentimientos que expresa lo escrito (lectura estética). El presente libro se dirige a perfeccionar el primer grado, a obtener cuanto sea posible el segundo y a iniciar el tercero" (S. IX). Der Nuevo lector colombiano setzte voraus, daß die Kinder das Buch während des Unterrichtes zur Hand hatten, denn es ist reich illustriert und richtete sich mit Verständnis- und Grammatikfragen direkt an die Schüler/innen. Gleichzeitig enthält es häufig didaktische und methodische Hinweise für die Lehrer/innen sowie Anregungen zu weiterführenden Erläuterungen oder Exkursen. Im Gegensatz dazu präsentierte sich Rodolfo D. Bernais Libro de lecturas escogi12 das als reine Textsammlung - und kam damit der Realität vermutlich näher, da angesichts von fehlenden Lehrmitteln das methodisch-didaktische Repertoire im Vor9

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Ausschreibungstext des Wettbewerbes für Schulbücher Im Jahre 1911, zitiert nach: Cortázar e.a., 1913, S. Illf (Hervorhebung Im Original). "Somos de parecer que se sometan a la aprobación del Uustrislmo Señor Arzobispo de Bogotá, conforme a las disposiciones constitucionales y legales vigentes sobre la materia", Bescheid des Auswahlgremlums (Rafael Maria Carrasquilla, Hernando Holguín y Caro, Luis Tomás Fallón) des öffentlichen Wettbewerbes, lbld, S. V. Zitate und Verweise werden Im Text mit Seltenangaben aus der ersten Auflage (1913) angegeben. Ich zitiere nach der 17. Auflage, 1939, die gegenüber der 5. Auflage (1905) um das ausführliche Vorwort erweitert wurde; wann dieses hinzukam, konnte Ich nicht In Erfahrung bringen.

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sprechen von Texten und gemeinsamem Nachsprechen und Auswendiglernen bestand. Konsequenterweise ist dem Buch ein nahezu vierzigseitiger Aufsatz vorangestellt, der sich mit dem Problem der Rezitation literarischer Texte beschäftigt. Lectura wird dabei ausschließlich auf die orale Äußerung reduziert; die individuelle Begegnung eines Lesers mit dem Text bleibt ausgeschlossen: "En la enseñanza de esta materia se debe atender a tres cosas: al cultivo de los órganos de la voz, al desarrollo progresivo de la mente del niño, para que comprenda y vea bien claro las ideas al través de las palabras, y a ponerlo en actitud de sentir lo que lee y darle la expresión conveniente. De aquí la clasificación de la lectura en mecánica, ideológica y estética" (Bernal, S.7). Auch Bernal baute sein Libro de lecturas auf eine vorausgegangene Alphabetisierung (lectura mecánica im Aufriß von Cortázar e.a.) auf und richtete sich daher frühestens an die zweite Klasse. Eine gewisse graduelle Steigerung der Anforderungen intendierte er mit der Grobgliederung in einen ersten Teil, der die lectura ideológica umfaßte, und einen zweiten mit der lectura estética. Prosa und Lyrik trennt er dabei strikt und gibt auf diese Weise die Aufgabe der Auswahl und der abwechslungsreichen Gestaltung des Unterrichts an die Lehrer/innen weiter. Die beiden jeweils am Ende eines Teils stehenden Blöcke mit lyrischen Werken bezeichnet er unterschiedlich: In den fábulas sollten die Schüler/innen vor allem zum Textverständnis hingeführt werden, während die poesías das ästhetische Empfinden weiter vertiefen sollten. Eine sich wechselseitig ausschließende Abgrenzung der beiden Grade lehnt er jedoch im Vorwort ab: "El estar dividido este libro en dos partes [...] no quiere decir que la una contenga solo ideas y la otra solo sentimientos, sino que en la primera, sin desatender las facultades morales y estéticas del niño, se atiende preferentemente a las facultades intelectuales, y viceversa" (Bernal, S. 4). Zu beachten ist an diesem Zitat, daß er die moralischen und ästhetischen Fähigkeiten auf eine Ebene stellt und abhebt von den intellektuellen. Moral und Ästhetik sind für ihn Bereiche, die intuitiv erfaßt, vor allem aber nach vorgefertigten Schemata gelernt werden (Katechismus des Paters Astete sowie die preceptiva literaria), aber keiner intellektuellen, diskursiven Überprüfung standhalten müssen. Eine moderne Ausdifferenzierung nach den Rationalitätssphären eines autonomen praktisch-ethischen und eines ästhetischen Diskurses13 sieht er also nicht vor. Die Literatur an den Schulen 13

Als Grundmuster einer solchen Ausdifferenzierung dienen die drei Kritiken Immanuel Kants mit Ihren Fragen nach dem Wahren, dem Guten, dem Schönen (und Erhabenen). Doch war es gerade die deutsche Philosophie, die In Kolumbien herber Kritik ausgesetzt w a r "La fllosofia germánica con las nebulosas y caprichosamente absurdas teorías de Kant, Schopenhauer, Hegel, y Hartmam [sie!], siguen engañando Incautos" (José Mana Ruano: "La literatura del dia", ln: Revista del Colegio Mayor d e Nuestra Señora clel Rosario, 1924, S. 289-294, hier S. 290). Die Grunddifferenz besteht darin, daß die SubJektphUosophle mit der scholastischen (und neuscholastischen) Auffassung bricht, das Wahre, Gute und Schöne als metaphysische Seinseinheit zu fassen und dem Seienden direkte Teilhabe am Sein

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hatte einen umfassenden, explizit sozialintegrativen Auftrag im Sinne der herrschenden Gesellschaftsordnung zu erfüllen. Daher unterscheiden sich die fábulas und die poesías zwar im Schwierigkeitsgrad, nicht jedoch in der grundsätzlichen Ausrichtung der durch sie jeweils vermittelten Inhalte: persönliche Lebensführung, staatsbürgerliche und christliche Pflichten. Die Einbettung dieser Inhalte in die Form eines Gedichtes erleichterte dabei das Erlemen der Texte. Der unbestrittene Meister in der kindgerechten Formulierung eingängiger Merksätze war Rafael Pombo14. Ohne seine Gedichte kam in dieser Zeit kein Schulbuch aus, und so druckte auch Rodolfo D. Bernal nicht weniger als sechs fábulas von ihm ab15, die den Schülern/innen den rechten Weg weisen sollten: Preguntó al gato Mambrú el lebrel Perdonavidas: - Pariente de Misifú, ¿Qué secreto tienes tú para vivir siete vidas? Y Mambrú le contestó: - Mi secreto es muy sencillo, pues no consiste sinó en frecuentar como yo el aseo y el cepillo.1®

Während die fábulas im allgemeinen im Alltagsleben der Kinder angesiedelt waren (Vermittlung von Lebensweisheiten und Verhaltensratschlägen17), legten die von Bernal ausgewählten poesías ihr Schwergewicht auf die Themenbereiche Religion und Vaterland. Dementsprechend ist auch der Anteil kolumbianischer Autoren in diesem Abschnitt größer als bei den allgemeingültigen Fabeln. Als Beispiel seien hier

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zuzusprechen. In der Ästhetik konnte für die neuscholastisch geprägten Schulbuchautoren daher n u r die vollkommene Harmonie Ins Blickfeld rücken, während das Erhabene, das Komische oder gar das Häßliche nicht mehr mit den vorhandenen Kategorien zu fassen waren. Die bis heute umfassendste Studie zu Rafael Pombo hat Héctor Hugo Oijuela 1960 vorgelegt; zu den Fabeln s. darin S. 191-228. Zu einer kaum von diesem abweichenden Würdigung seines Werkes gelangte in Jüngerer Zelt Carmen de Mora (1987; mit einer leicht aktualisierten Bibliographie, die speziell weitere Arbeiten Oijuelas berücksichtigt). Es sei darauf hingewiesen, daß in der vorliegenden Untersuchung nicht das lyrische Werk von Pombo (und anderer Dichter des 19. Jahrhunderts) im Vordergrund steht, sondern dessen Rezeption und Interpretation Im Kontext der in den 20er Jahren verwendeten Schulbücher. In diesen findet die von Oijuela und Mora herausgearbeitete skeptische Phase Pombos keinen Niederschlag. Andere Autoren sind u.a.: Ricardo Carrasquilla, José Manuel Marroquln, Tomäs de Irlarte, Andrés Bello, J u a n Eugenio de Hartzenbusch, Cayetano Fernández und, als Vertreter des Siglo de Oro, Calderón. Las stete vidas del gata: Bemal, 1939, S. 211. Im Horizont der von Miguel Jiménez López ausgelösten Diskussion über Hygieneunterricht an den Schulen erwuchsen In den 20er Jahren solchen Fabeln durchaus reformorientierte Funktionen: In der Diktion Max Webers könnte das Beispiel des reinlichen Mambrú als Vorbild filr eine rattanale Lebensführung bezeichnet werden, die Jedoch nicht auf die Berufsldee ausgreift, sondern Im privaten und häuslichen Kontext verortet wird.

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einige Ausschnitte aus dem Langgedicht La bandera colombiana von José Joaquín Ortiz wiedergegeben18: ¡Oh! ¡salve a tí, magníñca y sublime, ungida con la sangre de los bravos muertos en la pelea! [...] ¡Oh! ¡de la patria la bandera es santa! [...] Cuando lanzar un pueblo Dios dispone en la espléndida senda de la historia, da la señal de marcha; y en la mano de sus caudillos pone el pendón que ha de guiarlo, cual un día mandó sobre Jacob la parda nube, que, flotando en el aire, fue en el desierto misteriosa guía; [...] Y cuando crió a Colombia generoso, rasgó un jirón de iris radioso que tras la tempestad alegra al mundo, y lo entregó a Bolívar; y Bolívar de triunfo en triunfo, lo llevó de donde Orinoco se lanza al mar profundo a donde el Potosí su nivea cumbre en la región del firmamento esconde. [...] pronto a dejar el mundo, se envolvió en la bandera colombiana, y con amor profundo pronunció lleno de esperanza el nombre del que murió por libertar al hombre.

Ein solches Gedicht, gespickt mit syntaktischen Inversionen, geographischen Angaben, Anspielungen aus der Geschichte und der Bibel, mußte natürlich die Schüler/innen der Grundschule überfordern. Doch auswendig gelernt konnte es als eine große Erzählung über die eigene Nation, ihre Helden und das Wirken Gottes in ihrer Geschichte fungieren. Darin genau lag der Erziehungsauftrag der Primarschule. Sie sollte nicht zu eigenständigem und kritischem Denken hinführen, sondern das Projekt von Rafael Núñez und Miguel Antonio Caro umsetzen, das Land zu einigen unter der geistig-moralischen Führung der Katholischen Kirche. Die Aufgabe, dieses Projekt durch ein Repertoire fest eingewurzelter Symbole abzusichern, oblag auch der Lyrik. Didaktisch wesentlich geschickter gehen Cortázar/Otero Herrera/Rengifo dieses Ziel an. Deutlich ist bei ihnen zu spüren, daß sie eine kindgerechte Präsentation der Texte intendieren; sie weisen die Lehrer/innen sogar an, auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Schüler/innen Rücksicht zu nehmen, um sie nicht zu überfordern: "Es difícil señalar el momento de utilizar la lectura: nunca sea antes de que las facultades del niño se hayan vigorizado lo suficiente para que se dé cuenta 18

Bernal, 1939, S. 401-406; an anderen Autoren wären u.a. zu nennen: Miguel Antonio Caro, Gregorio Gutiérrez González, José Eusebio Caro, Julio Arboleda, Jorge Isaacs, Diego Fallón, Rafael Núñez und wieder Rafael Pombo, die großen Dichter (und Politiker) des 19. Jahrhunderts also; unter den ausländischen Vertretern ragen heraus: Gaspar Núñez de Arce, José María de Heredla, Andrés Bello und Fray Luis de León.

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de lo que lea, siquiera sea con el auxilio del maestro. Festinar el desarrollo puede ser frustrarlo" (Cortázar e.a., S. VIH). Diese Einbeziehung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse darf jedoch nicht als Beleg dafür genommen werden, daß die Texte in aufklärerischer Funktion angewendet werden sollten. Im Gegenteil: Es geht ihnen um eine erfolgreichere Vermittlung der alten Erziehungskonzepte, nicht um neue Konzepte. Auch bei Cortázar e.a. sprechen die Gedichte eigentlich für sich selbst: ¡ Adelante, valientes muchachos! Suenen cajas y trompas y cachos! Bata el viento los rojos penachos; Vista al frente, y al hombro el fusil! ¡Adelante, cachorros intrépidos! Rataplán, rataplán, rataplín. [...] ¡Adelante marchad, veteranos! Pero nunca enrojezca esas manos Cara sangre de amigos y hermanos En interna sacrilega lid. Guardad toda la furia y la pólvora Contra el que ose la Patria invadir. Y entonces sí, Rataplán, rataplán, rataplín.

Solch militaristische Töne, nach heutigen Vorstellungen nur schwer vereinbar mit einem Lesebuch für die zweite oder dritte Klasse20, haben ihre Wurzeln in der kolumbianischen Erfahrung mit den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts. Doch auch Ideen, die eher dem 20. Jahrhundert zuzuordnen sind, finden sich im Nuevo Lector: "La formación de la mujer es parte importantísima de la educación patria. Hay, por eso, en el cuerpo de esta obra lecturas de interés preferente para las niñas" (ibid., S. XI). Ein Beispiel dafür ist das, wieder von Rafael Pombo verfaßte, Gedicht Las Flores (ibid., S 34): Dios para las muchachas Hizo las flores, Esos son sus confites De mil colores; Y es más brillante En su pelo una rosa Que un buen diamante. Para escoger sus trajes Las señoritas Miren cómo se visten Las florecitas. Naturaleza 19 20

Rafael Pombo: La revista militar, Cortázar e.a., 1913, S. 32f. Mora, 1922, S. 170, führt dieses Gedicht ebenfalls an Im Kapitel Himno Nacional y cantos patrióticos mit dem Kommentar "De esta manera es como se retlempla desde la escuela primarla en ardiente crisol el acero del patriotismo. Asi es como se preparan los ciudadanos del futuro."

70 Es la mejor modista De la belleza.

So, wie die Jungen auf eine gesellschaftlich festgelegte Rolle eingestimmt wurden (im zitierten Beispiel der Militärdienst), bereitete dieses Gedicht auch die Mädchen auf eine spezifische Aufgabe vor, nämlich sich schön zu machen, ohne zu hohe Ansprüche zu stellen ("más ... que un buen diamante"). Ein wenig subtiler, aber sicherlich ebenso wirksam, vermittelte es gleichsam ein Schönheitsideal, das auf die Lyrik selbst zurückfiel: Gott schuf die Natur, und die Natur ist das Vorbild der Schönheit; also kommt die Schönheit von Gott. Hatten die Schüler/innen den Dreischritt einmal internalisiert (durch das Auswendiglernen bekamen das erste Wort, "Dios", das letzte, "belleza", sowie das mit diesem im Reim verbundene, "Naturaleza", besonderes Gewicht), dann lag für sie eine Übertragung dieses Konzeptes auf die Literaturästhetik beinahe zwangsläufig auf der Hand: Lyrik, per se die der Schönheit verpflichtete Literaturgattung, mußte in einer auf solche Weise geprägten Erwartungshaltung als mimetische Abbildung der Natur (bezieht man die anderen Beispiele mit ein, auch der offiziellen Lesart der Realität und der Geschichte) verstanden und gleichzeitig mit religiösen Implikationen verbunden werden, seien sie nun thematisiert (im religiösen oder quasireligiösen Gedicht) oder nur konnotiert (göttliche Inspiration des Dichters). Gegenentwürfe von moderner (kritischer, antimimetischer, dunkler etc.) Dichtung fehlten in den untersuchten Schulbüchern gänzlich, so daß die Kinder keine Möglichkeit bekamen, anhand von Alternativen zu einer eigenen Meinung oder ästhetischen Anschauung zu gelangen. Lectura ideológica darf daher getrost als Oberbegriff über die in den 20er Jahren in den Primarschulen Kolumbiens verwendeten Lesebücher gebraucht werden - in der heutigen Bedeutung des Wortes Ideologie -, und er darf sowohl für die in den Gedichten weitergegebenen Inhalte als auch für die Art der abgedruckten Lyrik selbst gebraucht werden. Die herausgearbeitete Tendenz war jedoch keineswegs ein Privileg kolumbianischer Schulbuchautoren. In den Jahren 1929 und 1930 beschaffte das Ministerium Lehrbücher des Spaniers Bruño, die sich in ihrer Ausrichtung nicht wesentlich von einheimischen Werken unterschieden. Sein curso superior (3er año) der Lecciones de lengua castellana21 ist grob unterteilt in gramática und trozos selectos (prosa und versos). Eines der ersten Übungsbeispiele im Grammatikteil lautet folgendermaßen:

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Das untersuchte Exemplar (Paris 1912) trägt außer dem Namen des Besitzers noch den Stempel der Procuraduría de los Hermanos Cristianos Medeüín und wurde von der Procuraduría General (dieses Schulordens) zentral von Frankreich aus vertrieben. Die freres des Ecoles chréttennes (gegründet von Jean-Baptlste de la Salle) leiteten In Kolumbien Einrichtungen der Sekundarstufe in Antioqula, Cundlnamarca, Tollma, Barranquilla und Cartagena sowie - dies dürfte der Grund für das Ministerium gewesen sein, die Bücher Bruños zu kaufen - die Lehrerbildungsanstalt für Primarschulen (escuela normall In Bogotá (Helg, 1984, S. 64f).

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"La religión nos ofrece cuantas garantías de verdad podemos desear. Ella además nos impone una ley suave, pero recta, justa, benéfica; cumpliéndola, nos asemejamos á los ángeles; nos acercamos á la belleza ideal que para la humanidad puede excogitar la más elevada poesía (Balmes)" (S. 13). Lyrik wird hier explizit die Aufgabe zugeordnet, die ideale Schönheit auszudenken, die sich prädisponiert in der Welt der Engel findet. Der Mensch kann sich dieser Welt annähern, indem er in der von der Religion vorgegebenen Wahrheit bleibt und deren Gesetze (im Sinne von kirchlicher Morallehre und im Sinne der neuscholastischen Naturrechtslehre22 - im Gegensatz zum positiven Recht und autonomer Moral) befolgt. Das der Dichtung zugeordnete Verb ("excogitar") beläßt ihr keineswegs die Freiheit eines kritischen Denkens oder einer Schaffung von neuen Wahrheiten (wie dies "imaginar" implizieren könnte), sondern bindet sie im Gegenteil zurück an einen homogenen Diskurs, der von der Theologie und der christlichen Philosophie beherrscht wird. Die Gedichte zu Beginn der Textsammlung des Buches können in gewisser Weise als Ausfaltung dieser Grundsätze gelesen werden. Die ersten zwölf Titel lauten: Dios (García de Quevedo), La presencia de Dios (Juan Meléndez Valdéz), La Fe (Federico Baiart), Acercarse á Dios (Manuel Ossorio y Bernard), Oda á la Ascensión (Fr. Luis de León), Traducción del Magníficat (Fr. Diego González), En las riberas del río de Babilonia (Psalm 137, Jáuregui), La Sagrada Eucaristía (Cervantes), Prosperidad aparente de los malos (Juan Meléndez Valdés), Maravillas de la creación (Núfiez de Arce), Bienaventurados los que creen (Antonio de Trueba), Los ojos del Niño Jesús (Ubeda). Neun dieser zwölf Stücke hat der Schüler, dem die Lecciones einst gehörten, angestrichen; von den verbleibenden über 40 Gedichten tragen nur ein Dutzend solche Zeichen. Dies ist als ein Hinweis zu werten, daß in den Schulen23 vorzugsweise - in diesem Buch fehlen natürlich patriotisch-kolumbianische Texte - religiöse Lyrik gelesen wurde. Eine Auseinandersetzung mit der Technik fand nicht statt: Die erste Strophe des nicht angestrichenen und daher mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Unterricht verwendeten Gedichtes La locomotora (S. 37 lf) von Ventura Ruiz Aguileras (1820-1881) lautet: ¡Paso á la rauda Locomotora! ¡Paso, que es la hora De partir ya! De fuego y humo, Penacho airoso, 22

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Die Neuscholastik kann seit dem Konkordat von 1887 quasi als offizielle Staatsphilosophie bezeichnet werden und hatte Ihr Zentrum Im Colegio de Nuestra Señora del Rosarlo In Bogotá mit seinem Direktor Rafael Maria Carrasquilla, s. dazu Betancur, 1933, S. 62-73, Sierra Mejia, 1977, S. 116-119; ders., 1989, S. 211-214; Vêlez R., 1987, passlm; Tóvar González, 1988, bes. S. 320-336, Urlbe Cells, 1991, u.a. S. 99f. Die Tatsache, daß wir es hier mit einem von einem Schulorden vertriebenen Schulbuch zu tun haben, widerlegt die Aussagen nicht, da der kirchliche Einfluß Ja alle Bereiche des Schulwesens beherrschte.

72 Ciñe al coloso La frente audaz. - ¿A dónde irá? ¡Más allá, más allá, más allá!

Im Kontext des technischen Fortschritts und des massiven Ausbaus der Verkehrswege in Kolumbien ließ sich "más allá"24 nicht mehr metaphysisch-transzendental deuten. Wie La locomotora erlitt auch Madrid y el campo (S. 372) das Schicksal der Nichtbeachtung. Sein Autor, Bretón de los Herreros (1796-1873), arbeitete darin die Vorzüge des Lebens auf dem Land heraus, um in der jeweils letzten Zeile einer Strophe zu dem Schluß zu kommen: "Pero en un coche es mejor", oder: "Pero Madrid es mejor". Im Gegensatz dazu mußten die Schüler/innen La canción de la madre rezitieren, ein Schlaflied, in dem die Mutter das von den Unbilden der Natur (Kälte, Sturm, Regen) beunruhigte Kind tröstet: Y ya en la pradera Los grillos no cantan; [...] Duerme y no te asusten El viento ni el agua, Que mientras el niño durmiendo descansa, Su madre y los ángeles El sueño le guardan. 25

Während sich also um sie herum die Welt - in Medellin mit Händen greifbar - veränderte, gaukelten solche und ähnliche Texte den Kindern eine heile, ländliche, in traditionale Werte und Problemstrukturen eingebettete Welt vor. Die wenigen realitätsnäheren Texte, die Bruño in seine Lecciones aufnahm, wurden einfach ausgeblendet. Im großen und ganzen jedoch zeigt das Werk, daß Kolumbien keinen Sonderweg beschritt, was die Lyrik in Schulbüchern angeht. Die neuscholastische, antimodernistische Ausrichtung der damaligen Kirche prägte es so deutlich wie die kolumbianischen Produktionen. Für die 30% der Kolumbianer/innen, die die Primarschule besuchten oder besucht hatten, ist also festzuhalten: Die Schüler/innen bekamen einen eng begrenzten Kanon von Dichtern des 19. Jahrhunderts präsentiert, ergänzt von Autoren des Siglo de Oro, der in das Konzept von Kirche und Konservativer Partei paßte und den Kindern ohne Zugang zu anderen Informationsquellen ein einseitiges Bild von Lyrik vermittelte. Letzten Endes sollte sich ein unreflektiertes System aus Religion, Moral, vaterländischen Pflichten und festgefügten Lyrikbzw. Literaturkonzepten stabilisieren, in dem alternative Entwürfe nur noch als Störfaktoren wahrgenommen werden konnten.

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Der Besitzer des untersuchten Exemplars hat dankenswerterweise das J a h r seines Schulbesuches aufgezeichnet: 1924, das zweite Jahr der danza de los millones. Antonio de Trueba; Bruño, 1912, S. 376.

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2.2.3. Schulbücher der Sekundarstufe "Triste es decirlo; más triste aún ver y palpar que el arte literario marca hoy un rebajamiento degenerador capaz por sí solo de aniquilar su noble origen y aristocrática constitución, lo que equivaldría a destruir la misma esencia del arte, toda su natural razón de ser. [...] Todas las literaturas occidentales abren las hojas de sus libros a las influencias, malsanas en su mayor parte, de los modernistas de fines del siglo XIX y de los pornográficos de lo que va del siglo XX. "26 Der spanische Jesuitenpater Jesús María Ruano, der diese Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen Lyrik abgab, verfaßte 1918 und 1925 ein dem Pensum der Sekundarstufe entsprechendes Doppelwerk mit einem Band über Literatura preceptiva und über kolumbianische Literaturgeschichte. Bedenkt man die in dem Zitat geäußerte Einstellung zur modernen Lyrik und die Tatsache, daß seine Bücher über Jahrzehnte hinweg Verwendung in den kolumbianischen Schulen fanden, so läßt sich der Einfluß ermessen, den Ruano - und andere Autoren, die sich auf eines der beiden Fächer spezialisierten - auf ganze Generationen von Schülern/innen und deren Vorstellung von Poesie (bzw. Literatur im allgemeinen) hatte.27 Dies gilt um so mehr, als er in der Sekundarstufe die staatstragende Elite von Wirtschaft, Politik und Kultur erreichte. Mit der ersten Auflage von Lecciones de literatura preceptiva führte Ruano eine neue Methode der Literaturvermittlung in Kolumbien ein, die er "estudio analíticointuitivo" nannte. Er setzte sich damit ausdrücklich von den Autoren der bis dahin gültigen Lehrbücher ab: "Los autores de esos libros dan la definición, trazan en seguida las divisiones y subdivisiones de lo definido, asientan luego las reglas, condiciones y salvedades, las confirman con cortitos ejemplos [...]. Y ¿qué resulta? Un joven alumno, de no vulgares dotes intelectuales por cierto, nos confesaba ingenuamente, que la asignatura se le hacía pesada e ingrata. Ya se ve, ¡tántas arideces tenía que aprender de memoria!"28 Er selbst dagegen wollte den umgekehrten Weg einschlagen: Dem Jugendlichen sollte zuerst ein Text präsentiert werden, den er intuitiv erfassen und analysieren

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j e s ú s María Ruano: "La literatura del día", In: Revista del Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosario, 1924, S. 289-294, hier S. 289f. Vgl. die bibliographischen Angaben oben 2.2.1.; noch vierzig Jahre später kam das Fach preceptiva literaria selbst zu - zweifelhaften - Ehren durch den Nadalsten Jotamario: Das Gedicht Santa Librada College widmete er u.a. "al profesor varela, de preceptiva y contraceptiva literaria": später heißt es über Ihn: "el profesor de literatura/ que no había leído a Jacques prévert/ ni a bretón/ nos enseñaba a rimar como fray luis/ de león/ y nos decía/ que la marta'/ era casi una poesía" (zitiert nach Panero, 1981, S. 199-206, hier S. 199 und 202). Mit letzterer Behauptung, daß der Roman Maria von Jorge Isaacs der Gattung Lyrik nahestehe, konnte sich der Lehrer - zumindest In Teilen - auf Ruano (1956, S. 190) beziehen. Die Zltatlon folgt der elften Auflage, 1956, hier S. 7 (Hervorhebungen Im Original).

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sollte, damit er immer die Schönheiten und die Harmonie vor Augen hätte. Erst in einem zweiten Schritt, nach dem selbständigen Erforschen von Regelmäßigkeiten und poetischen Konzepten, käme die systematische Zusammenfassung: "poco trabajo le costará levantar la carga de mandar a la memoria las definiciones, cualidades, reglas y ejemplos de la preceptiva literaria" (ibid.). Wie Cortázar/Otero Herrera/Rengifo intendierte auch der Jesuitenpater mit der moderneren pädagogischen Methode keineswegs einen fundamentalen Wandel in den Lehrinhalten.29 Die Methode diente allein dazu, das Ziel schneller, effektiver und gründlicher zu erreichen; der Gedanke, daß die Schüler/innen durch die Konfrontation mit den Texten zu anderen als den vorgegebenen Konzepten von Literatur kommen könnten, lag nicht im Vorstellungsbereich von Ruano. Seine Zielformulierung läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "No queremos que nuestros discípulos [...] salgan del primer curso de literatura con una serie solamente de conocimientos teóricos, siquiera sea bien entendidos y asimilados. Eso es poco: pretendemos que cuantos sientan en sí la vocación, tan seguida en el presente siglo, de cooperar en verso o en prosa a la labor civilizadora de la prensa, encuentren en este libro los fundamentos primeros para bien escribir; y deseamos que todos, literatos y negociantes, escritores y lectores, puedan servir a su religión y a su patria por lo menos con la lectura inteligente de toda buena producción literaria, [...]" (S. 10). Doch selbst diese Aussagen scheinen im kolumbianischen Kontext nicht ausgereicht zu haben. Der Direktor des Colegio de Nuestra Señora del Rosario, Rafael María Carrasquilla, unternahm es daher in einer langen Rezension, die ungewohnte Methode abzusichern unter Berufung auf unbezweifelbare Autoritäten: "Advierte V.R. en su docto prefacio, y lo confirma con la práctica en el libro, que después de la inducción que sube, hay que emplear la deducción que desciende a la práctica; en seguida del análisis que divide, la síntesis que recompone; en pos de la intuición que ve, la razón que explica los fenómenos; lo cual quiere decir, en la jerga que usamos los catedráticos de filosofía cristiana, que V.R. se vale del método analítico-sintético, el enseñado por Aristóteles, practicado por los grandes maestros de la edad media: Durando, Alberto Magno, Tomás de Aquino; olvidado por ergotistas y decadentes de los siglos XIV y XV, renovado por los insignes escolásticos del renacimiento: Victoria y Soto, Suárez y Lugo; muerto con la filosofía de Bacón y

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Die übrigen untersuchten Autoren (Otero Herrera, 1913: Garcia, 1921; Segura, o.J.) lassen Jegliche methodische Experimente vermissen. Am deuUlchsten zeigt sich dies bei Segura. Jedes Kapitel folgt gleichermaßen dem Aufriß: Definition; nähere Bestimmung, Regel, Ausnahme von der Regel oder Unterscheidungen; Beispiele. Die literarischen Texte werden so gänzlich zu Illustrierendem Beiwerk eines vorgegebenen Systems degradiert

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Descartes y resucitado en el tomismo nuevo, principalmente por Mercier y demás autores ilustres de la Universidad de Lovaina."30 Die angeführten Zitate deuten bereits Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lehrbücher für die Sekundär- und Primarstufe an. Ein fundamentaler Unterschied besteht in der Reflexionsstufe, auf der sich die Schüler/innen mit Literatur beschäftigen sollten. Während die Primarstufe in erster Linie darauf ausgerichtet war, den Kindern mittels literarischer Texte, die sie auswendig lernten, unbewußt gesellschaftliche Werte und Normen zu vermitteln, lag für die Jugendlichen der höheren Schichten der Schwerpunkt auf einer reflektierten Beschäftigung mit der Literatur selbst. Doch auch diese Beschäftigung hatte eine deutliche systemintegrierende und -stabilisierende Funktion und bewegte sich innerhalb eines neuscholastisch-philosophisch abgesicherten Rahmens. Eine wissenschaftliche Analyse (die Auseinandersetzung mit konkreten Texten) war nur bis zu dem Punkt vorgesehen, an dem sie zu bereits vorformulierten Ergebnissen kam (zum System der preceptiva literaria). Die bei Ruano alternierenden induktiven und deduktiven Elemente verhinderten, daß die Schüler/innen aus dem geschlossenen Kreis ausbrechen konnten, zumal er die Texte einer restriktiven Auswahl31 unterworfen hatte (wovon das Zitat aus dem Jahre 1924 Zeugnis ablegt). Die Kapitel über die Lyrik32, "esta principal parte de la literatura" (S. 182), beginnen mit einer neuerlichen Explikation der Methode, bevor Ruano ein erstes Beispiel anführt: "Para lograr concepto claro e intuitivo de lo que es la poesía, y deducir luego la definición, los caracteres, la excelencia, el objeto y divisiones de ésta, del alto cielo precioso dón al hombre concedido; vamos a leer reflexivamente una composición, que, a juicio de autorizados críticos, es inspirada poesía. Su autor es el literato colombiano José María Rivas Groot:

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"Lecciones de Literatura", ln: Revista del Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosarlo, 1919, S. 135-147, hier S. 136-137. Einige zitierte Dichter/Innen aus Kolumbien: José Maria Rivas Groot, José Eustasio Caro, Max Grillo, Gregorio Gutiérrez González, Joaquín González Camargo, José Joaquín Ortlz; a u s Spanien oder anderen lateinamerikanischen Ländern: Zorrilla, Bécquer, Heredla, Fray Luis de León, Amado Nervo, Gertrudis Gómez de Avellaneda u.v.a.m.; Segura, o.J. gab natürlich vorwiegend kolumbianische Belsplelgedichte, u.a. von Miguel Antonio Caro, Julio Arboleda, José Joaquín Casas, Antonio Gómez Restrepo, Manuel und Rafael Pombo, Ricardo Carrasquilla, Luis María Mora; zumindest In der überarbeiteten Fassung tauchen Jedoch auch sporadisch José Asunción Silva und Guillermo Valencia auf. Das Gesamtwerk behandelt zunächst allgemein die Grundsätze der Ästhetik, des Stils und der Rhetorik, bevor es auf die drei literarischen Gattungen (s. S. 181): Poesía (unterteilt ln poesía lírica, poesía épica, poesía dramática und novela y cuento). Oratoria sowie Didáctica literaria (wissenschaftliche Arbeiten, Historiographie, Presse und Briefe) näher eingeht

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CONSTELACIONES [...] LAS CONSTELACIONES-;Oh soñador, escúchanos! ¡Escúchanos, poeta! Escucha tú que en noches de oscuridad tranquila nos llamas, mientras tiemblan con ansiedad secreta la súplica en tu labio y el llanto en tu pupila. [...] Es triste ver la lucha del terrenal proscrito, es triste ver el ansia que sin cesar le abrasa; el ideal anhela, requiere lo infinito, crece, combate, agítase, llora, declina y pasa. [...] EL HOMBRE-¿Todo es olvido y muerte? [...] ¡No, estrellas compasivas! Hay eco a todo canto; al decaer los pétalos espárcese el perfume; y como incienso humano que abrasa un fuego santo al cielo va el espíritu si el cuerpo se consume" (S. 182f).

In der anschließenden Analyse folgert Ruano aus diesem Gedicht eine umfassende Definition von Lyrik. Nur der inspirierte Dichter, nicht "el vulgo", könne "en forma sensible la belleza ideal" ausdrücken, "que contempló en su mente". Diesen Vorgang nennt er "creación, esto es, una manifestación de la belleza oculta en las obras de Dios" mit dem Ziel, "deleitar con el placer puro de la belleza. Claro, que también instruye, haciendo ver la tendencia humana a lo infinito y a la inmortalidad; pero esto no es porque directamente lo pretenda el poeta, sino porque la belleza será siempre esplendor de la verdad." Poesie ist also für Ruano "la creación de la belleza en la mente, y su manifestación sensible por medio del lenguaje armónico y artístico" (S. 183-185).

Ruano wendet sich damit gegen die primäre Erziehungsfunktion von Lyrik, wie sie in den Schulbüchern für die Primarschule institutionalisiert war. Doch auch gegen die Vorstellung des "l'art pour 1'art" grenzt er sich ab. Die ideale Schönheit könne nur insofern vom Dichter geschaffen werden, als sie in Gottes Schöpfung immer schon vorgängig vorhanden sei.33 Und denen, die "han tomado la poesía por negocio de puro solaz y pasatiempo, por un juguete bueno para ocupar las horas de ocio"34, hält er den tieferen Nutzen der Poesie entgegen: "Es útil y bueno y conveniente para que los pueblos no se tornen bárbaros; es conveniente, bueno y útil para que el hombre, que no es sólo materia, advertido por esa voz alce los ojos a ver algo [...] que le prometa días mejores después de los malos días de la tierra."35 Die Vorstellung von Lyrik, die die Lecciones de literatura preceptiva den Schülern/innen mit auf ihren Lebensweg gaben, verband somit zwei verschiedene 33

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Vgl. auch das angeführte Zitat von Fray Luis de León (Los Nombres de Crista), S. 186: "porque poesía no es sino una comunicación del aliento celestial y divino." S. 187, Zitat aus der Poética general von Milá y Fontanals. Ibid., Zitat von José Joaquín Ortlz.

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Ebenen: Lyrik öffnet punktuell den Blick auf die absolute Wahrheit und die absolute Schönheit; die Schau der Wahrheit und der Schönheit ihrerseits führt zu einem moralischen und zivilisierten Leben. Die äußere Verfassung der Schönheit vermochten die Lehrbücher der preceptiva literaria bis ins kleinste Detail zu bestimmen mit Hilfe der - für die Gattung Lyrik traditionellen Regeln der spanischen Verslehre. Dichter wie Rezipienten wurden dadurch auf eine gemeinsame Basis zuriickgebunden, denn: "Poética es el conjunto de reglas que guían al poeta en la composición, y al lector en la apreciación de las obras poéticas"36. Preceptiva literaria bildete die normative Grundlage für einen möglichen Diskurs über Lyrik. Einer der Schulbuchautoren spricht die damit implizierte Aufteilung der Rationalitätssphären und ihres Geltungsanspruchs sogar direkt an: "El fin de la ciencia es la verdad, el del arte la belleza, el de la industria la utilidad. [...] La Preceptiva tiene un fin estético, que es hacer apreciar las cualidades de los buenos autores; y un fin práctico, que es enseñar a manejar el idioma."37 Innerhalb des Rahmens der von allen Autoren gewählten Textbeispiele - religiöse, vaterländische, romantische (im Sinne der entsprechend ausgewählten kolumbianischen Romantik), klassische Dichtung - kollidierte dieser Anspruch nicht mit dem übergreifenden: dem Bezug auf die direkt zugängliche Wahrheit. Die Herausbildung einer modernen, antimimetischen und auf sich selbst bezogenen Lyrik jedoch - in Kolumbien ist dieser Zeitpunkt mit der Durchsetzung der sogenannten Dekadenzlyrik des modernismo gegen Ende des 19. Jahrhunderts anzusetzen - mußte zu erheblichen Verwerfungen in der bislang relativ festgefügten Literaturszene führen. Formen des postmodernismo schließlich und gar das Aufkommen der Avantgardeliteratur in den 20er Jahren, verbunden mit der gesellschaftlichen Umbruchsituation, ließen die Konflikte38 in voller Schärfe zutage treten. Die Schulbücher aber blieben die gleichen: ein Hort der Tradition und der Lehre vom guten Schreiben. Deutlicher noch als in den Büchem über preceptiva literaria schlägt sich diese Tendenz in den kolumbianischen Literaturgeschichten für den Gebrauch an den Schulen nieder: "Y porque [...] la rama literaria de más rica y depurada savia que brota del común tronco hispano es la colombiana, más justo y razonable es que el hijo de Colombia admire, siquiera sea en compendioso Resumen, la riqueza litera-

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Segura, o.J., S. 114. Garcia. 1921, S. 20. Die sich daraus ergebenden spezifischen Konflikte und Polemiken werden in Kapitel 3 behandelt werden.

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ría que posee su Patria, y se estimule con tal estudio, a seguir por su parte, honrando y engrandeciendo las glorias culturales de su lengua y raza."39 In dem Teil seines Resumen histórico-crítico de literatura colombiana, der sich mit der neueren Lyrik beschäftigt, läßt Jesús María Ruano keinen Zweifel daran, welche Dichter seine Gunst finden: "Como en España, dos manifestaciones bien marcadas se presentan al estudio de la literatura. La tradicional clásico-romántica, remozada por la parnasiana, clara en ideas, escultural, elegante en la forma, y la modernista, soñadora y confusa, caprichosamente ideal y rítmica" (S. 162). Bei der konkreten Ausgestaltung dieser Sympathieverteilung mußte der spanische Jesuit in Schwierigkeiten geraten, wollte er nicht einen großen Teil der Dichter einfach unterschlagen oder allgemein anerkannte Autoren einer vernichtenden Kritik unterwerfen. Er behalf sich daher mit einer blumigen und zugleich subtilen Beschreibung der Dichter und ihrer Werke. Über den nicht-modernistischen José Joaquín Casas heißt es da: "Es un contemporáneo, poeta de alta, religiosa y robusta lira, y literato de cuerpo entero. Es todo un caballero de las edades medias, y como tal, creyente fervoroso, noble en sus sentires, cortés en su trato, enamorado de todo lo bello: Dios, Patria, naturaleza, arte" (S. 164). José Asunción Silva, Wegbereiter der "escuela de VERLAINE y MALLARME" in Kolumbien, "no rompe a capricho los moldes del arte métrica tradicional; aumenta él, divide y entremezcla las clases de versos conocidos dándoles ritmo nuevo" (S. 172). Solchermaßen durch die Interpretation in die Tradition aufgehoben, kann Silva ebensowenig gefährlich werden wie Guillermo Valencia, der "no podía menos de profesar el arte helénico; pero le impresionan los fulgores y ritmos musicales simbolistas, y adopta, a sabiendas unas veces, inconsciente otras, los modos nuevos de los decadentes. Pero nada de nebulosidades en Valencia, nada de dislocaciones de expresión" (S. 173). Gemäß der Devise: "Was nicht sein darf, ist auch nicht', sprach Ruano damit den großen Modernisten die Originalität und die Intentionalität ab, ohne durch Textbeispiele (was seine analytisch-intuitive Methode erfordert hätte) den Schülern/innen die Gelegenheit zu geben, diese Behauptungen zu überprüfen. In einem kleingedruckten Kommentar desavouierte er zusätzlich noch die Nachfolger dieser Dichter aus dem Kreis um Baldomero Sanín Cano: "Fascinados por las innovaciones de Silva y aguijados por los triunfos de Valencia, muchos jóvenes pusieron los ojos ávidos de inspiración en las novedades de Verlaine y Rubén Darío; mas faltos de la savia vital de los genios, tan sólo han logrado producir hojas que se secan apenas brotan, y no 39

Ruano, 1925, S. X, Hervorhebung Im Original.

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frutos de razonadas letras. Sólo aquellos que no han apartado sus ojos de la previa formación clásica han logrado conquistar duradera fama" (S. 176). Nur die vorausgehende und durchtragende klassische Bildung garantiere also, laut Ruano, den literarischen Erfolg - und es klingt wie ein gutgemeinter Ratschlag an die Schüler/innen. Als in diesem Sinne "buenos poetas" (182) gelten ihm Alfredo Gómez Jaime, Ricardo Nieto, Aurelio Martínez Mutis, Angel María Céspedes, José Eustasio Rivera, Miguel Rasch Isla und eine ganze Reihe weiterer Dichter. Der einzige Autor, der so grundlegend gegen seine Konzepte verstößt, daß er ihn auch mit allem interpretatorischem Aufwand nicht mehr empfehlen kann, ist Luis Carlos López, der "no sale, con toda su facilidad, de su manía por escribir versos ramplones y hasta a veces cínicos" (S. 183). In der abschließenden Liste all jener Dichter, über die er sich noch kein Urteil erlaubte, weil sie gerade erst die literarische Bühne betreten hatten, fehlen diejenigen, die sich im Erscheinungsjahr des Lehrbuches, 1925, um die Zeitschrift Los Nuevos gruppierten: León de Greiff, Rafael Maya, Luis Vidales, Rafael Vásquez u.a. Sie mußten ihm bekannt sein, denn einige von ihnen konnten bereits auf viele Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften verweisen40. Ihre Nichterwähnung bedeutet daher, daß sie in seinen Augen einen nochmaligen Bruch (nach den Modernisten und Luis Carlos López) mit der Tradition symbolisierten, der als so gravierend empfunden wurde, daß die Ausgrenzung das einzige Mittel der Auseinandersetzung mit ihnen darstellte. Worin dieser Bruch bestand, ob in literaturintemen Faktoren oder in politisch-gesellschaftlichen, bleibt auf diese Weise unklar. Auf jeden Fall wollte Ruano die Jugend des Landes - i.e. die Jugend der Eliten - vor einer Begegnung mit diesen neuesten Tendenzen schützen. Der abschließende Ausblick auf die Zukunft der kolumbianischen Lyrik ist denn auch von einem pessimistischen Unterton bestimmt: "Temible es, eso sí, que de seguirse escribiendo y leyendo algunos engendros literarios y malas traducciones extranjeras que se publican estos días en periódicos y revistas, se empañe no poco el cielo espléndido de las letras colombianas" (S. 184).41 Seit den großen Reformen von Rafael Núñez und Miguel Antonio Caro hatte die Schule den Auftrag, unter der Oberhoheit der Katholischen Kirche und ihrer antimodernistisch-neuscholastischen Tendenzen, einen grundlegenden Beitrag zur Identitäts40 überdies hatte er auch Riveras 1924 erschienenen Roman La vorágine gewürdigt oder Gómez Jaimes Aues viajeras von 1923; er war also mit den aktuellen Tendenzen vertraut 41 Das zweite Im J a h r e 1925 erschienene Lehrbuch zur Geschichte der kolumbianischen Literatur (MatosHurtado: Compendio de la historia de la literatura colombiana), bricht u m die Jahrhundertwende mit Autoren wie Julio Ftórez, José Maria Rivas Groot, Enrique Alvarez Henao oder Diego Urlbe ab (sie alle starben zwischen 1914 und 1923). Allerdings sind seine Zukunftsprognosen ein wenig optimistischer: "SI es verdad, que nuestra literatura no está aún perfectamente caracterizada y que en nuestros modernos escritores se nota un afán de independencia y de originalidad, es de presumir que en época no muy lejana, será u n a de las más Importantes de la América del Sur" (S. 222).

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und Nationbildung Kolumbiens zu leisten. Angesichts der regionalen Zersplitterung des Landes und der ständigen Bürgerkriege im 19. Jahrhundert widmete sich das Bildungssystem diesem Projekt durch sozial gestaffelte Zielvorgaben, die Aline Helg (1984) auf die kurze Formel gebracht hat: Civiliser le peuple et former les élites. Für die Lyrik in den Schulbüchern bedeutete dies konkret: An den Primarschulen wurde sie gänzlich funktionalisiert durch die patriotische und christlich-moralische Ausrichtung der Lehrpläne; erst in der Sekundarstufe, die den Eliten des Landes vorbehalten war, rückte eine Reflexion über die Lyrik selbst in den Mittelpunkt. Auch dort jedoch bestand das Pensum im Prinzip darin, grundlegende Kenntnisse - nun über die Lyrik in Form von Regeln und Literaturgeschichte - zu vermitteln, um die Jugendlichen auf ihre spezifischen Aufgaben vorzubereiten. Sie sollten die noch nicht von modernen Entwicklungen gebrochene, allein die Schönheit repräsentierende und damit direkt auf Gott verweisende Lyrik als Autoren oder Rezipienten tradieren. Ohne schon auf die tatsächliche Situation des zeitgenössischen Literaturmarktes vorzugreifen, erscheint das Vorhaben in den 20er Jahren bereits bis zu einem gewissen Grad anachronistisch. Ruanos kolumbianische Literaturgeschichte liest sich in diesem Zusammenhang über weite Strecken wie ein Versuch, in einem aussichtslosen Rückzugsgefecht schon verlorenes Terrain wiedergutzumachen. Darüber hinaus erwuchs der Schulbuchlyrik in den intellektuellen Kreisen der Zeit ein Gegner durch die Verfechter der reinen und unverfälschten traditionellen Volkslyrik. Otero D'Costa bezeichnete sogar die in den Schulen gelehrte, aber nicht wirklich assimilierte Lyrik als "poesia moderna", die verantwortlich zu machen sei für "un nuevo y desastroso género de poesia"42. Im Prinzip spricht er sich damit gegen die Schule selbst aus und die mit ihr notwendig verbundene Aufzehrung des lebensweltlichen Kontextes. Eine auch nur annähernd einheitliche Beschreibung des Begriffes von "moderner Lyrik" existierte offensichtlich nicht in den gesellschaftlichen Gruppen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Alternativen aufzuzeigen. Je nach ihren spezifischen Interessen fanden die Autoren das - abzulehnende - Moderne im Grenzbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Otero D'Costa), in schweren, engen und düsteren Gedichten (Mendia) oder - auf sehr diffuse Art und Weise - innerhalb der modernistischen Schule (Ruano). Diese bereits komplexe Gemengelage von Reflexionen und Stellungnahmen zur Modernisierung in der Lyrik wurde nun ihrerseits überlagert von den Entwicklungen auf dem Lyrikmarkt.

42

Vgl. Kapitel 2.1.1.

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2.3. Lyrik in den kommerziellen Printmedien Allen Gedichten, die in Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften mit primär (zumindest jedoch auch) kommerzieller Ausrichtung1 publiziert wurden, ist gemeinsam, daß sie sich an ein sehr kleines, überwiegend städtisches Publikum richteten, das über Geld, Muße und die notwendigen Bildungsvoraussetzungen verfügte, um an diesem Segment des kulturellen Sektors zu partizipieren.

2.3.1. Lyrikbände und Anthologien In den Jahren zwischen 1920 und 1930 erschienen etwa 130 Bücher2, die dem Bereich "kolumbianische Lyrik" zuzurechnen sind.3 Bei der Frage, was die herangezogenen Bibliographien unter "kolumbianische Lyrik"4 verstehen, ist eine einheitliche Vorgabe zu erkennen: Als Werke kolumbianischer Lyrik gelten solche Veröffentlichungen, die Gedichte kolumbianischer Autoren5 umfassen bzw. von Kolumbianern angefertigte Übersetzungen fremdsprachiger Dichter/innen. Diese Beschränkung schließt einen wichtigen Aspekt im Gesamtkontext der Lyrik in Kolumbien in den 20er Jahren aus: Gedichte spanischschreibender ausländischer Autorinnen und Autoren. Tatsächlich erschienen in Kolumbien zumindest zwei Anthologien bei Ediciones Colombia6: Los poetas de América: Julio 1

Genaue Abgrenzungen zwischen den drei untersuchten Berelchen lassen sich selbstverständlich nicht treffen, denn natürlich hatten auch Schulbuchautoren und -Verlage kommerzielle Interessen und Im Prinzip mußten auch Publikatlonsformen einbezogen werden, die Im Abschnitt über die Volkslyrik bereits behandelt wurden (pliegos sueltas oder cancioneros). 2 Unter Büchern verstehe Ich selbständige Veröffentlichungen und schließe damit z.B. Sonderdrucke von Zeitschriftenbeiträgen aus. Mehrere Auflagen eines Lyrikbandes im Verlaufe der 20er Jahre wurden n u r einmal gezählt Die genannte Zahl Ist erschlossen a u s den Bibliographien von Leavltt/Garcia-Prada, 1934, und Oijuela, 1968 und 1971, wobei Ich auch solche Werke einbezog, die Prosa und Lyrik umfassen. 3 Bei der Gattung "Roman" Ist der Umfang der publizierten Bücher wesentlich geringer; hier liegt die Zahl bei etwa 30. Dabei wurde allerdings weder das umfangreiche Werk des Im Ausland lebenden Autors von Trivialromanpn José María Vargas Vila berücksichtigt noch wöchentlich oder monatlich erscheinende Reihen, wie z.B. Repertorio Selecto. Diese Zeitschrift gab Ihren Lesern zum Preis von 10 Centavos "una colección de obras cortas, originales de los mejores autores del mundo" an die Hand, "en formato còmodo para el bolsillo y a u n precio que se halle al alcance de todos" (Editorial des ersten Heftes, 6.7.1926). Die Palette der Schriftsteller reichte von Kolumbianern über Spanler (Bécquer, Valle Inclán, Clarín) und Lateinamerikaner (Lugones, Ugarte, Nervo) hin zu fremdsprachigen Autoren/innen wie Wilde, Flaubert, Lagerlöf, Tolstoi oder Rilke. Zur Kommerzialisierung der Literatur In den 20er Jahren am Beispiel des Romans s. Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 471-477. 4 Bei Leavltt/Garcia-Prada, 1934, umfaßt die Bibliographie die gesamte kolumbianische Literatur. ^ Im Untersuchungszeltraum gelang es keiner Dichterin, In den von Männern beherrschten Lyrikmarkt einzudringen. Edictones Colombia gab unter der Direktion von Germán Arclnlegas seit 1925 monatlich ein eigenständi6 ges Buch unterschiedlicher Gattimg (Lyrik, Essay, Roman, Erzählung, philosophische Abhandlung, Literaturkritik, Reden, cuadros de costumbres, crónicas und leyendas) zum Preis von 2,50 Pesos pro

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Herrera y Reissig, Leopoldo Lugones y Enrique González Martínez (1925), und Poemas de Gabriela Mistral, Juana de Ibarbourou, Delmira Agustini y Alfonsina Storni (1926). Ordnet man nun die in die Bibliographien aufgenommenen Werke nach ihrem Erscheinungsort, so kann die Hauptstadt Bogotá als das Zentrum des Lyrikmarktes bezeichnet werden mit 50% aller Veröffentlichungen. Danach folgen, mit 25%, Editionen ausländischer Verlage (vorwiegend spanische, aber auch italienische, französische, nord- und südamerikanische sowie ein deutscher). Die verbleibenden 25% entfallen, zu gleichen Teilen, auf die Provinzen Antioquia/Caldas (Medellin und Manizales) und das übrige Land (Barranquilla, Cartagena, Cali etc.). Auf den ersten Blick mögen diese Zahlen Rückschlüsse auf Dichterbiographien in dieser Zeit nahelegen, etwa in der Art: Die Autoren mußten, wenn sie aus der Provinz stammten, sich in den verschiedenen literarischen Zirkeln und Zeitschriften Bogotás einen Namen machen, bevor sie einen Verlag fanden, der ihre Werke publizierte. Häufig war dies dann die Grundlage für ein Stipendium, einen konsularischen Auftrag oder eine ähnliche Aufgabe, die ihnen einen Auslandsaufenthalt ermöglichte - sofern sie nicht eigene Mittel zur Verfügung hatten. Beispielhaft für eine solche Karriere steht José Eustasio Rivera (1889-1928). In Neiva geboren, studierte er in Bogotá und wurde von der Regierung nach der Publikation seines Gedichtbandes Tierra de Promisión nach Peru, Mexiko, ins kolumbianisch-venezolanische Grenzgebiet7 und nach Havanna geschickt. Doch ganz so schematisch, wie hier unternommen, dürfen die statistischen Angaben nicht inteipretiert werden. Die Europareise - speziell die nach Paris - die noch für die Gruppe um Baldomero Sanín Cano 8 (Guillermo Valencia (1873-1943), José Asunción Silva (1865-1896), Victor M. Londoño (1870-1930), Max Grillo (18681949)) obligatorisch war, nahm offensichtlich bei den jüngeren Autoren an Wichtigkeit ab: Der aus Popayán stammende Rafael Maya (1897-1980) lernte den alten Kontinent erst 1953 kennen, nachdem er 1935 den Posten eines Konsuls in Spanien abgelehnt hatte; León de Greiff (1895-1976) kehrte nach der Veröffentlichung von Tergiversaciones (1925 in Bogotá) zunächst wieder nach Antioquia zurück; von den bedeutenden Lyrikern der Gruppe Los Nuevos ging nur Luis Vidales (1904-1990) noch in den 20er Jahren nach Paris, nachdem er einige Jahre in der Hauptstadt gelebt und seinen ersten Gedichtband publiziert hatte.

Halbjahr bzw. von 5 Pesos Jährlich heraus. Das Projekt nimmt Insofern eine Zwischenstellung zwischen Publikationsreihe und Zeitschrift ein, als dem veröffentlichten Werk ein redaktioneller Teil, Et Suplemento, folgte, der Werbung, Gedichte, Vorabdrucke und Rezensionen umfaßte. Die Erfahrungen dieser Reise verarbeitete er In seinem Roman La vorágine. Die umfangreichste Untersuchung zu dieser Gruppe Ist bis heute Maya, 1961, die auch, ausführlich dokumentiert, auf die Attacken von Luis Maria Mora und Tomás Carrasquilla gegen den aufkommenden Modernismus eingeht.

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Auch bei den Dichtern, die vom Alter her zwischen den Vertretern der modernistischen Bewegung und den drei Letztgenannten liegen9, weichen die Einzelbiographien zum Teil erheblich von dem präsentierten Schema ab: Porfirio Barba Jacob (1883-1942) verließ 1905 seine Heimat Antioquia und Kolumbien, ohne je am literarischen Leben Bogotás teilgenommen zu haben; Luis Carlos López (1879-1950) aus Cartagena hat nur einmal kurz die Hauptstadt besucht und vertrat Kolumbien als Konsul in München, nachdem sein literarisches Werk praktisch abgeschlossen war; Eduardo Castillo (1889-1938), einer der einflußreichsten Literaturkritiker seiner Zeit, der die europäischen Entwicklungen wie kaum ein anderer verfolgte, lebte bis zu seinem Tod in Bogotá. Der große Anteil von Publikationen kolumbianischer Lyrik im Ausland resultiert daher vorwiegend aus Werken älterer Autoren10 (Alfredo Gómez Jaime, Julio Flórez, Antonio Gómez Restrepo, Guillermo Valencia, Jorge Isaacs u.a.), während tendenziell die Werke der jüngeren Dichter in Bogotá verlegt wurden. Für die Bestimmung des Grades der Wahrnehmung von neuen literarischen Strömungen in Europa böte sich im Prinzip eine Untersuchung der von kolumbianischen Autoren veröffentlichten Übersetzungen fremdsprachiger Dichter an. Dabei vermitteln aber die Buchpublikationen nur ein sehr ungenaues Bild dessen, was in der Bildungselite des Landes in den 20er Jahren gelesen und diskutiert wurde. Guillermo Valencia präsentierte 1929 seine Nachdichtungen einer französischen Übertragung von alten chinesischen Gedichten (Catay) und Antonio Gómez Restrepo gab im gleichen Jahr in Rom die Cantos de Giacomo Leopardi traducidos en verso castellano heraus. Ebenfalls nicht die zeitgenössischen Entwicklungen spiegelten die Traducciones (1929) des bereits 1921 verstorbenen Diego Uribe wider. Alleine Ismael Enrique Arciniegas' 1925 erweiterte Traducciones poéticas11 ließen eine solche Aktualisierung erwarten. Doch der konservative Direktor der Zeitung El Nuevo Tiempo beschränkte sich auch in den 37 neuen Übersetzungen auf Dichter der Romantik und des Symbolismus wie Victor Hugo, Lord Byron, Eugenio de Castro, Heinrich Heine oder Emile Verhaeren. Eine Bemerkung Guillermo Valencias in der Vorrede zu Catay macht deutlich, daß die Erwartung, in diesen Übersetzungsbänden die neuesten Entwicklungen widergespiegelt zu finden, enttäuscht werden mußte: "Inútil sugerir que este trabajillo no va destinado a cubistas, ultraístas, dadaístas ni futuristas".12 Die Autoren der Avantgarde - bzw. solche, die man diesen Bewegungen zurechnete wurden von den kolumbianischen Dichtern, die sich mit Übersetzungen beschäftigten, totgeschwiegen. Die wenigen jüngeren Lyriker, die sich produktiv mit ihnen aus9

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Sie werden bisweilen In d e r Sekundärliteratur pauschal der Generación del Centenario zugerechnet. Der Anteil von Werken nicht m e h r lebender Autoren lag. Je nachdem, ob die zu Beginn d e r 20er J a h r e verstorbenen J u l i o Flórez, Abel Fariña u n d Diego Urlbe miteinbezogen werden, zwischen 10% u n d 20%. Weder Leavltt/Garcia-Prada, 1934, noch Oijuela, 1971, erwähnen eine erste Auflage von 1919, f ü r die Antonio Gómez Restrepo ein Vorwort geschrieben h a t t e u n d die 9 0 Gedichte umfaßte; möglicherweise Ist diese nie In Buchform veröffentlicht worden, obwohl die Ausgabe von 1925 (erschienen In Paris) d a r a u f Bezug n i m m t Valencia, 1929, Prólogo.

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einandersetzten, waren dagegen noch auf der Suche nach ihrem eigenen Stil und hatten kein Interesse, sie zu übersetzen, denn sie waren ihnen, wenn gewünscht, in der Originalsprache (zumeist Französisch) zugänglich. Ein breiteres Publikum von Lyrikrezipienten, das nicht französisch lesen konnte und keinen Zugang zu den kleinen literarischen Zirkeln hatte, mußte mit vereinzelten Erwähnungen solcher Strömungen in Zeitungen und Zeitschriften vorlieb nehmen, ohne sich daraus eine genauere Vorstellung bilden zu können. Auch die in jener Zeit erschienenen Anthologien13 griffen generell auf bewährte und anerkannte Autoren zurück und schlössen damit Stimmen aus, die gegenüber der vorherrschenden Lyrik eine zu auffällige Alternative darstellten. Inwieweit dies auch für einen weiteren Zweig des Büchermarktes galt, nämlich den Importen von Lyrikbänden aus Spanien, Argentinien, Mexiko oder anderen lateinamerikanischen Ländern, läßt sich nur sehr schwer feststellen, denn in den Zeitungen und Zeitschriften wurde vorwiegend für kolumbianische Bücher sowie für Zeitungen und Zeitschriften geworben. Aus diesen Anzeigen wird jedoch deutlich, daß im Prinzip alle Publikationen beschafft werden konnten14, wenn sie nachgefragt wurden. In welchem Umfang dies der Fall war, ließ sich nicht eruieren. Die Preise für ein gebundenes Buch lagen erheblich über denen von Zeitschriften und über denen der Reihe Ediciones Colombia und entsprachen mit etwas mehr als einem Peso ungefähr dem Tageslohn eines normalen Arbeiters.15 Es steht daher zu erwarten, daß die Verlage, die häufig identisch waren mit denen, die auch Zeitschriften herausgaben, nur relativ kleine Auflagen auf den Markt brachten. Doch für die tatsächliche Auflagenhöhe gibt es weder in den Gedichtbänden selbst noch in den zeitgenössischen Rezensionen noch in der Sekundärliteratur oder den Bibliographien Angaben - mit einer einzigen Ausnahme: Simon Latinos (Carlos H. Pareja) Canciones Humildes. Versos pasados de moda (1930). Auf der Innenseite des Umschlages wird ausdrücklich festgestellt: "Del libro 'Canciones Humildes' se imprimen 13

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Einschließlich der für den Gebrauch an Schulen und Universitäten konzipierten Textsammlungen wurden In den 20er Jahren etwa ein Dutzend Anthologien publiziert (vgl. vor allem Oijuela, 1966, besonders die Kommentare S. 82-98, und Jaramlllo Agudelo, 1991, S. 546-562), von denen Jedoch keine eine solche Bedeutung erlangte, daß sie denen a u s dem vorangegangenen Jahrzehnt Ihre wegweisende Position hätte streitig machen können (José Vargas Tamayo, 1919, Neuauflage 1924; Eduardo de Ory, 1914; Francisco Caro Grau, 1914, 3. Auflage 1920). Die Würdigung der neueren Entwicklungen In der kolumbianischen Lyrik blieb der Anthologie von Otero Muñoz, 1930, vorbehalten. So z.B. die Angebote der Zeitschrift Universidad (Heft 146, 10.8.1929, S. 174 und 176), Nosotros a u s Buenos Aires zum Preis von acht Dollar Jährlich zu liefern, Amanta a u s Lima für sechs Dollar, Monde (Paris) für 5,50 Dollar, Repertorio Americano aus San José (ohne Preisangabe) und Cultura Venezolana (Caracas) für fünf Dollar. In Universidad, Nr. 101 vom 29.9.1928 wurde Manuel Brtceño: El virrey Solts. Romancero (1928), und Laureano Gómez: Interrogantes sobre el progreso en Colombia (1928) für einen Peso angeboten. Die aus Spanien importierten Romane von Benito Pérez Galdós waren mit $ 1,20 etwas teurer. Alfredo Gómez Jaimes Aues viajeras kostete 1,20 Pesos (Juventud, 4.7.1923, S. 74). Angesichts der schlechten sozialen Lage der Arbeiter/innen und angesichts einer stetig steigenden InflaUon im Gefolge des "Tanzes der Millionen" bei unzureichender Lohnanpassung, dürfte also für einen Arbeiterhaushalt ein Buch die Stellung eines absoluten Luxusartikels gehabt haben - unabhängig von der fehlenden Schulbildung.

85 solamente 100 ejemplares", ohne daß daraus Rückschlüsse auf die normale Auflagenhöhe gezogen werden könnten. Alle diese Hinweise deuten darauf hin, daß Gedichtbände auf dem gesamten Lyrikmarkt nicht die alleine entscheidende Rolle spielten. Die Veröffentlichung eines solchen Buches wurde vielmehr in den Zeitschriften zum Anlaß genommen, Vorabbesprechungen und Rezensionen abzudrucken, dem jeweiligen Dichter eine oder mehrere Seiten für seine Gedichte einzuräumen, ihn in Interviews zu seinem politischen und poetologischen Standort zu befragen und sein Werk in die ständig laufenden Diskussionen und Polemiken einzubeziehen. Dies alles geschah jedoch unter der Voraussetzung, daß er sich schon vorher einen Namen gemacht hatte, sei es durch persönliche Präsenz in der Hauptstadt und in den Zeitungsredaktionen oder durch Publikationen in den großen Zeitschriften und Literaturbeilagen. Die Adressaten der Lyrikbände bestanden aus der winzigen Schicht der Literaturschaffenden selbst und aus der schmalen Schicht von Rezipienten, die sich den Luxus eines Buches leisten konnten und wollten. Der einzige Lyrikband, der aus diesem geschlossenen Zirkel auszubrechen vermochte, dürfte wohl Suenan Timbres (1926) von Luis Vidales gewesen sein. "Picada por la curiosidad, la gente hizo larguísimas colas ante la Librería Camacho Roldán y Tamayo. Quería saber cómo es una poesía acusada de no ser poesía, ni prosa, sino gemianía, como se escuchaba en el parlamento, en los corrillos, en la esfera dispensadora de la cultura tradicional del país."16 Der Verkauf fand also nur in einer einzigen Buchhandlung statt und der Band war nach wenigen Tagen vergriffen - um erst nach 50 Jahren eine zweite Auflage zu erfahren. Bezeichnend für den Sitz im Leben der hohen Lyrik Kolumbiens dieser Zeit ist, daß es einer Verurteilung im Parlament bedurfte, um die Leserschicht über die herrschende Klasse der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Oligarchie hinaus auszuweiten.

2.3.2. Zeitschriften, Zeitungen und Literaturbeilagen Nahezu unübersehbar bietet sich die Flut von kolumbianischen Periodika aus den 20er Jahren dem Betrachter dar.17 Das Erziehungsministerium verwies 1929 stolz auf neun große Zeitungen und 15 Zeitschriften alleine in Bogotá, im ganzen Land seien 16

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Luis Vldales In einem Interview mit Isaias Pena Gutlerrez, 1985, S. 269-282, Zitat S. 271f. Vgl. auch ähnliche Aussagen bei Marie Estrlpeaut, 1985, S. 81. Als Beispiel solch einer Lyrik, die unter dem Verdacht stand, keine zu sein, soll hier eines der kürzesten Werke aus Suenan Timbres stehen: SuperCtencta. "Por medlo de los mlcroscoplos/ los mlcroblos/ observan a los sablos" (Vldales, 1986, S. 83). Entsprechend ausschnitthaft und verküret sind daher die Darstellungen In den Zeitschrlftenblbllographlen bzw. -Studien von Engleklrk, 1961/1963, und Carter, 1959 bzw. 1968.

86 es 285 gewesen.18 1927 erschienen 37 Tageszeitungen, 10 davon in Cundinamarca (Bogotá) und fünf in Antioquia.19 Noch beeindruckender nehmen sich die Zahlen bei Monsalve20 aus: Alleine in der Hauptstadt wurden, nach seiner Aufstellung, im Verlaufe der 20er Jahre 110 Periodika publiziert, in Antioquia 51. Darin schließt er täglich, wöchentlich oder monatlich erscheinende Blätter mit ein, kurzlebige Illustrierte und Literaturzeitschriften ebenso wie Fachzeitschriften für Medizin, Theologie, Jura und Industrie oder amtliche Veröffentlichungen. Lyrik wurde, vielleicht mit Ausnahme einiger weniger wirklich spezialisierter, in allen diesen Publikationen abgedruckt, ob es sich nun um Schriften höherer Schulen wie die Revista del Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosario handelte, um von der Industrie mitfinanzierte wie La carretera al mar oder um Lecturas, die Revista mensual ilustrada der Congregación del Corazón de Jesús. Hätten die Auflagenzahlen der großen Zeitungen aus den 30er Jahren, die etwa für El Tiempo 30 000 Exemplare angeben, an Sonntagen sogar 50 000, und für El Espectador immerhin noch 15 00021, auch in den 20er Jahren Gültigkeit gehabt, dann müßte die Lyrikdiskussion eine relativ breite, nicht nur die Elite umfassende Öffentlichkeit erreicht haben. Doch dies war, wie Baldomero Sanín Cano feststellte, nicht der Fall: "Si en Bogotá viven de ordinario doscientas mil personas (de las cuales el 45 por ciento apenas vegetan, y de más de 10 por ciento solo puede decirse que existen), si en Bogotá hay doscientas mil almas, el número de ventas de los diarios debería de ascender a veinte mil ejemplares. La cifra de ventas, como es notorio, es muy inferior, porque en Bogotá, como en Madrid de España, hay que añadir al tanto por ciento de analfabetos ordinarios una crecida cifra de analfabetos que saben leer y escribir, para mayor escarnio."22 Als eine der seriösesten Wochenzeitschriften zur Mitte der 20er Jahre kann Patria angesehen werden.23 Sie führte als Untertitel die Gattungsbezeichnung Revista de ideas und umriß das in ihr behandelte Themenspektrum wie folgt: "Finanzas - asuntos sociales - revistas políticas - literatura - crítica - agricultura - asuntos científicos letras extranjeras - noticias mundiales - glosarios - deportes - notas sociales etc." Obwohl sie sich weltoffen, modern und aufgeschlossen gab, mutet es ein wenig provinziell an, daß sie sukzessive in vielen Ausgaben ihre eigenen Abonnenten (560 z.B. in 18 19 20

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Memoria del Ministro de Educación, 1929, zlüert nach Urlbe Cells, 1991, S. 123. Santos Calderón, 1989, S. 132. Monsalve, 1927, S. 911-922. Dieses monumentale Werk über Colombia cafetera, herausgegeben In Barcelona, hatte den Rang einer offiziellen Informationsschrift Kolumbiens für ausländische Investoren, Handelspartner und Regierungen lnne. Cobo Borda, 1989, S. 54. Baldomero Sanin Cano In einem Artikel der Zeitschrift Universidad, Nummer 100 (1928), zlüert nach: J u a n Gustavo Cobo Borda: "Sanin Cano: el oficio de lector", ln: Sanin Cano, 1977, S. 17-33, hier S. 20. Ihr Direktor war Armando Solano, und sie erschien zum Preis von 10 Centavos zwischen Oktober 1924 und September 1925 ln 50 Nummern - falls die Bestände der Biblioteca Luis Angel Arango vollständig sind. Mitarbeiter waren nahezu alle Mitglieder der sogenannten Generación del Centenario.

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Bogotá, 70 in Medellín) auflistete, nach Städten geordnet. Die Gesamtzahl der Dauerbezieher des Blattes überstieg also im ganzen Land nicht oder nur knapp die 1000. Die durch viele Illustrationen, farbiges Hochglanzpapier, Modeseiten und ständige Meldungen über die Ereignisse in der High-Society sich kommerzieller präsentierende Wochenzeitschrift Cromos dürfte einen etwas breiteren Stamm von Lesern/innen besessen haben, denn von den untersuchten Publikationen erschien alleine sie pünktlich und ohne Unterbrechungen über den gesamten Zeitraum zwischen 1920 und 1930 hinweg.24 Doch auch sie hatte einen klar einzugrenzenden Adressatenkreis25, nämlich die vermögende bürgerliche Ober- und Mittelschicht. Wie stark umkämpft der kommerzielle Zeitungsmarkt war und welch große Schwierigkeiten die Herausgeber hatten, in andere gesellschaftliche Schichten einzudringen, mögen die Beispiele einiger kurzlebiger Wochenblätter für Kunst und Literatur verdeutlichen: 1922/23 brachte es Alma de Artista unter ihren Direktoren Alejandro Galarza de la Torre und Ramón Martínez Zaldúa auf 25 Nummern. Martínez Zaldúa versuchte sich 1923 noch zweimal als Herausgeber bzw. Chefredakteur: Von Mundial existieren in der Biblioteca Luis Angel Arango gerade zwei, von Juventud immerhin noch fünf Nummern. Galarza de la Torre gab 1925 nach sechs Ausgaben von Minerva wieder auf. 26 Alle diese Hefte sowie viele andere ähnliche Zeitschriften zum Preis von fünf Centavos legten ihr Schwergewicht auf Literatur.27 Doch keine von ihnen konnte sich längerfristig durchsetzen. Offensichtlich zum Scheitern verurteilt war auch das Wagnis von Luis Gómez Corena, Sancho mit einer Auflage von 5000 Exemplaren auf den Markt zu werfen. Nur zwei Nummern aus dem Jahr 1925 finden sich in den Archiven von diesem Periódico de propaganda comercial, político, literario y de información general. Die wirtschaftliche Lage und das Bildungsniveau weiter Kreise der Bevölkerung schränkten den Rezipientenkreis ein, insbesondere für vorwiegend literarische Zeitschriften. Nur einige Illustrierte, Zeitschriften mit weiter gefaßtem Themenspektrum oder solche, die bestimmte Nischen besetzten28, konnten sich auf dem Markt halten. 25

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ihr Direktor war während der 20er Jahre Luis Tamayo; Cromos wurde 1916 gegründet. Ein deutliches Indiz für die Feststellung des Leserkreises sind die Werbeanzeigen, die sowohl bel Patria als auch bel Cromos als sehr dezent bezeichnet werden können und vorwiegend Banken empfahlen, eine Institution also, die zur damaligen Zelt nur Geschäftsleute und wohlhabende Privatpersonen Interessierte. In Bezug auf die Lebensdauer der jeweiligen Zeitschriften bin Ich - angesichts des Fehlens genauer Bibliographien - allein auf die Bestände der Bibliotheken angewiesen, so daß diese Aussagen mit einem gewissen Unslcherheltsfaktor belastet sind. In diesen Publikationen war der Anteil an Werbung etwas höher (ebenfalls für Banken, aber auch für Künstlerbedarf, für Schuh- und Bekleidungsgeschäfte der gehobenen Kategorie, für Fotostudios, Juwellere und Konditorelen). Dazu rechne Ich regionale Periodika wie Colombia (von Antonio J . Cano In Medellin herausgegeben, 300 Nummern bis 1922), auf einen bestimmten - Intellektuellen - Leserkreis beschränkte wie Santajé y Bogotá (Bogotá, 72 Nummern zwischen 1923 und 1928, Herausgeber: Victor E. Caro und Raimundo Rivas) sowie solche, die In bestimmten aktuellen polltischen Fragen Partei ergriffen, z.B. In der Frage der Schul- und Untversltätsreform Universidad (Germán Arclnlegas). Nischen besetzten natürlich auch Reihen wie Repertorio Selecto mit wöchentlichen Kurzromanen oder Veröffentlichungen zur - Im weitesten Sinne des Wortes - Volkslyrik (s. 2.1.).

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Der Vergleich einiger kleinerer Publikationen aus den Jahren 1922/23 und 1925 läßt erahnen, wie stark die wirtschaftlichen Umwälzungen in dieser Zeit der Misión Kemmerer alle Bereiche der Gesellschaft betrafen. Crepúsculos und Alma de Artista verdienen noch, als reine Literaturzeitschriften bezeichnet zu werden, da sie im Prinzip ausschließlich literarische Texte, vor allem Lyrik veröffentlichten, ohne - mit Ausnahme einiger Werbeanzeigen - direkt auf aktuelle politische oder wirtschaftliche Entwicklungen einzugehen. Atenas Ilustrada, die von Umfang, Ausstattung und Preis vergleichbare Revista semanal de artes y literatura, stellt dagegen in ihrer ersten Nummer schon auf der zweiten Seite, unter der Rubrik Nuestros hombres de progreso, den Bankdirektor José D. Dávila vor: "Don José Domingo Dávila, caballero de nuestra alta sociedad, ha sido siempre el factor más decisivo en todo movimiento de progreso. Gerente de varias casas comerciales y de diversos bancos ha sabido impulsar al país por senderos de progreso, imprimiéndole caracteres únicos y grandes, que le abren el campo a un futuro ubérrimo y feliz."29 Die Präsentation von wichtigen Männern aus Politik, Wirtschaft und Kultur war ein so fester Bestandteil des Blattes, daß Textbeispiele von Lyrikern beinahe den gleichen Stellenwert erhielten wie die genauen Bilanzzahlen von Dávilas Bank. Der Herausgeber von Atenas Ilustrada, Luis José Correa, führte die Leser/innen auf der folgenden Seite in die Gedichte des Schwerpunktautors der Nummer ein mit der Überschrift "Andrés E. de la Rosa, Literato", wie um anzudeuten, daß es auch "Politiker" oder "Wirtschaftsattaché" hätte heißen können: "El doctor De la Rosa continuó adornando el clásico florón de la literatura hispana con los frutos de su genio, avivado por la influencia de su elevada estirpe y la óptima nobleza de su espíritu. [...] Su patria lo envió a Colombia para que la representara en el Cuerpo Diplomático, como glorioso emisario de sus ritos literarios."30 Die Kunst- und Literaturzeitschrift verwandelte sich unter der Hand durch die Parallelsetzung von Autoren und Managern sowie durch das Layout, das jeden freien Raum unter einem Gedicht mit Werbeanzeigen auffüllte, zu einem treuen Reflex der wachsenden Macht der Wirtschaft. Literatur war nicht mehr so selbstverständlich, daß sie ein solches Blatt alleine hätte tragen können. Cromos leistete es sich, ein einzelnes Gedicht auf einer Seite mit Schnörkeln im Satz zu verschönern und mit Jugendstilbildern zu umrahmen, denn diese moderne Illustrierte hatte Erfolg wegen 2 9

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A t e n a s Ilustrada, 30.1.1925, S. 2: die Grenzen zwischen Werbeanzeigen u n d d e m redaktionellen Teil mit Berichten ü b e r personelle u n d geschäftliche Entwicklungen In den großen Firmen des Landes sind In diesem Blatt häufig k a u m noch w a h r n e h m b a r . Ibid., S. 3; In Heft 3 (18.2.1925, S. 48) wird der spanische Wirtschaftsattaché In Kolumbien mit einer Formulierung beschrieben, die der zitierten sehr n a h e kommt: "[...] o c u p a lugar preferente en n u e s t r a diplomacia por s u s Indiscutibles dotes de talento e Ilustración, que lo caracterizan como el m á s alto emisario de las gloriosas tradiciones de s u país."

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ihrer Aufmachung und ihrer Vielfalt, in der Literatur nur einen, wenn auch wichtigen Bestandteil ausmachte. Eine reine Literaturzeitschrift dagegen mußte sich öffnen für den nun entscheidenden Sektor der Gesellschaft - die Wirtschaft -, um Erfolg zu haben. Wie stark die Funktion von Lyrik in Frage gestellt war, belegen auch zwei gesellschaftspolitische Kampfblätter der Jahre 1925 und 1926. Im ultrakonservativen - aber auf wirtschaftlichem Gebiet fortschrittsfreundlichen - Luz y Sombra reichte der Abdruck von Werken der klassischen Autoren (Rafael Pombo, Miguel Antonio Caro, José Joaquín Casas u.a.) nun nicht mehr aus. Paradoxerweise propagierten die Dichter dieser Zeitschrift in ihrem Versuch, mittels Gedichten gegen moderne Strömungen zu polemisieren, gerade die Abwendung von der Tradition. Dies gilt insbesondere für die verwendete Semantik, in die die neuesten Moden aus dem Sport, der Musik und des Lebensstils der Bogotaner Oberschicht - speziell der Frauen - einflössen: Es lema para ser una elegante, el tennis, el cricket y la raqueta; gastarse taxitax; ser bien pedante, tener certificado de coqueta. [...] concurren al sport del "Magdalena" y bailan al compás del Jazz maleante. 3 1

Luz y Sombra kann als die verspätete Reaktion auf Los Nuevos, die Zeitschrift von Luis Vidales, León de Greiff, Rafael Maya und den Brüdern Alberto und Felipe Lleras Camargo angesehen werden. Deren umfassendes Konzept einer politischen Einflußnahme schloß zwar auch die Literatur mit ein, jedoch nicht im Sinne einer platten Propagandaliteratur. Einige Dichter unter ihnen suchten Wege hin zu einer neuen Lyrik, die sich grundsätzlich und nicht nur in der Wortwahl von der traditionellen unterschied. Die Gedichte in dieser Zeitschrift sollten also weder die Funktion eines verschönernden Zierates erfüllen noch die einer direkten Polemik, noch sollten die anderen Teile des Blattes dazu dienen, im Schwinden begriffene Verkaufserfolge von reiner Literatur auszugleichen. Die Lyrik von Los Nuevos sollte einen eigenständigen Beitrag leisten zum Gesamtprojekt der Modernisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen. Daß die angestrebte Umsetzung dieses ehrgeizigen Projektes scheiterte, ist ein weiterer Beleg für die hier vertretene These einer partiellen Modernisierung Kolumbiens in den 20er Jahren.32 In den Tageszeitungen schlug sich die veränderte Rolle der Lyrik in den 20er Jahren in der Einführung der Suplementos nieder. Obwohl bereits zwischen 1903 und 1915 31 32

Perico Metralla: Las nuevas, In: Luz y Sombra, Nr. 2, 4.12.1926, S. 29. Die zentrale Rolle von Los Nuevos In der zeitgenössischen Lyrlkdtskusslon und Ihre Stellung In der "n-adltlon von Zeitschriften, die eine Erneuerung der Literatur Intendierten (Ponida, Medellin. 1915, und Voces, Barranqullla, 1917-1920), wird Im folgenden Kapitel ausfuhrlich besprochen.

90 El Nuevo Tiempo sonntags eine Literaturbeilage herausgegeben hatte33setzten sich diese Sonderformen einer Literaturzeitschrift endgültig erst seit 1923 mit den Lecturas dominicales von El Tiempo durch und zwar in der Form, wie sie bis auf den heutigen Tag Bestand hat.34 Eduardo Santos hatte seit 1913 aus El Tiempo durch den Einsatz der modernsten Druckmaschinen und eines gewinnorientierten Managements die größte und einflußreichste Zeitung des Landes gemacht.35 Es kann daher nicht auf reinem Zufall beruhen, daß die Lecturas Dominicales erstmals am 13.5.1923 auf den Markt gebracht wurden, zwei Monate, nachdem die Misión Kemmerer in Bogotá eintraf. Diesem fundamentalen Einschnitt in die Veröffentlichungspraxis von Literatur in Zeitungen müssen wirtschaftliche Ursachen zugrunde gelegen haben, die eine Umstrukturierung des gesamten Lyrikmarktes notwendig machten. Die komplexen Prozesse, die schließlich die Ausgrenzung von Literatur aus dem Mantel der Tageszeitung36 und letztendlich auch die Einrichtung spezieller Redaktionen zur Folge hatten, hängen eng mit den Tendenzen zusammen, die bei den Zeitschriften diagnostiziert wurden: Die Literatur, speziell die Lyrik, verlor sukzessive ihren bisherigen Status als selbstverständlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, in enger Beziehung zu den Sektoren Politik und Religion. Diesem Legitimationsverlust konnte sie in zweifacher Weise entgegenwirken. Entweder versöhnte sie sich mit der Wirtschaft, dem aufstrebenden Machtzentrum innerhalb der Gesellschaft, und mit den neuen Lebensstilen. Dies geschah paradigmatisch in Cromos. Oder sie beschritt den entgegengesetzten Weg, indem sie sich mittels spezialisierter Publikationen als autonomer Sektor auf dem Markt konstituierte. Diese Publikationen räumten, im Gegensatz zu den gescheiterten Projekten Alma de Artista und Crepúsculos, dem Diskurs über die Literatur - der nicht dogmatischen Literaturkritik, wie sie insbesondere Baldomero Sanin Cano propagierte37, aber auch den Rezensionen eines Eduardo Castillo - einen ebenbürtigen Stellenwert zu den Primärtexten ein. 3 3

Vgl. dazu Santos Calderón, 1989, S. 114f; Engleklrk, 1961, S. 47-48; Carter, 1968, S. 76; die damalige Funktion eines solchen Blattes spiegelt das bei Carter angeführte Zitat aus El Cojo Ilustrado wider: "El Nuevo Tiempo Literario es para sus redactores, todos ellos, en el afán todo amargura de la lucha política, un remanso tranquilo lleno de sombra, en donde se oye silenciosa armonia del arte, y en donde asoman a la superficie como flores de agua, las pensativas corolas de las rimas." Die zweite Epoche von El Nuevo Tiempo Literario begann 1927. 34 Dies gilt für die liberalen El Espectador und El Tiempo, El Nuevo Tiempo (konservativ) stellte sein Erscheinen zwei Jahre nach der Machtübernahme der Liberalen ein. 35 Gutiérrez Villegas, 1984, S. 43-60; Santos Calderón, 1989, S. 116. 36 TODOS LOS JUEVES reclame usted con la edición ordinaria de EL ESPECTADOR el suplemento literario Ilustrado. Todo ejemplar vale sólo CINCO CENTAVOS" (8.10.1925, S. 7 und häufiger). Nicht nur die Literatur, auch andere kulturelle oder gesellschaftliche Bereiche wurden der Spezialisierung unterworfen durch Páginas für die Frau, für das Kino, für das Auto etc. (vgl. Urlbe Cells, 1991, S. 511). 37 "Para el critico la verdad no existe: su oficio es comprender, y, en u n caso de arrogancia: explicar" (Sanin Cano, Ensayos, 1942, S. 103), zitiert nach: J u a n Gustavo Cobo Borda: "Sanin Cano: el oficio de lector", ln: Sanin Cano, 1977, S. 17-33, hier S. 21. Als Randbemerkung sel auf die frappierende Ähnlichkeit dieser DefinlUon mit der Max Webers einer "verstehenden Soziologie" hingewiesen: "Soziologie [...1 soll heißen: Eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (Weber, 1976, S. 1).

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Der Prozeß der Ausdifferenzierung läßt sich sehr deutlich an El Espectador (Bogotá)38 verfolgen. Die Sonntagsausgaben des Jahres 1921 hatten auf der ersten Seite als Aufmacher ein Gedicht oder andere literarische Texte. Mitte des Jahres 1922 bekam die sonntägliche "Seite der Frau"39 einen neuen Namen; sie war nun zuständig für Literatur, Mode und Verschiedenes. Gleichzeitig jedoch druckte El Espectador in den normalen Ausgaben in unregelmäßigen Abständen Gedichte ab, zwischen den politischen Meldungen und Kommentaren. Bei einigen literarischen Großereignissen40 wurde auch 1923 noch auf die Tradition zurückgegriffen, Gedichte als Schlagzeilen auf der ersten Seite zu plazieren. 1924 begann sich jedoch in den Sonntagsausgaben eine immer stärkere Tendenz zu einer separaten Behandlung der Literatur in einem Feuilleton abzuzeichnen, die schließlich im November zum Suplemento literario ilustrado führte. Vermutlich um der Konkurrenz mit Lecturas Dominicales auszuweichen, wählte El Espectador den Donnerstag als Erscheinungstag seiner zwölfseitigen Beilage, erst 1928 wurde sie der Zeitung am Sonntag beigegeben. Ein kurzer Überblick über ein beliebiges Heft 41 aus dem Jahre 1925 belegt, daß das Themenspektrum weit über die Literatur hinausging und den gesamten kulturellen Sektor abdeckte: Das Titelblatt zeigt eine Karikatur zum Karneval und zwei Bilder des Polarforschers Amundsen; die Eindrücke Gabriela Mistrals von einer Reise nach Florenz, die etwa die halbe Seite einnehmen, werden auf der nächsten Seite und gegen Ende des Heftes weitergeführt. Jeweils eine halbe Druckseite oder etwas mehr nehmen eine Erzählung über "Los Aviadores" (S. 2), die "Mensaje a la juventud de América Latina" von Manuel Ugarte (S. 4) (darunter, als Seitenfüller, zwei Propagandagedichte von Wladimir Majakowskij), ein Artikel über "Literatura popular y alta literatura" (S. 10), der Bericht über Interviews mit französischen Schriftstellern (S. 10 und S. 12), eine philosophisch-moralische Betrachtung des Jazz (S. 11) sowie eine Bewertung des literarischen Lebens in Spanien im ersten Halbjahr 1925 (S. 12) ein. Eine ganze Druckseite beanspruchen ein Interview mit Paul Claudel (S. 5) und die Erinnerung an wichtige Persönlichkeiten (der Mediziner Charcot und der Erfinder der Eisenbahn, Stephenson) aus Anlaß eines Jubiläums (S. 9). Prosa und Lyrik vermischt bringen zwei Spezialseiten: Die dritte Seite handelt über den Karneval mit zwei Erzählungen und zwei Gedichten (von Joaquín Güell und Manuel Machado), die fünfte wurde den Redakteuren der Zeitschrift Los Nuevos zur Verfügung gestellt (neben einem Artikel von Felipe Lleras Camargo über Gewerkschaften 38

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40

41

Dte 1887 von Fidel Cano In Medellin gegründete liberale Zeltung eröffnete 1915 eine Dependance In Bogotá unter der Leitung von Luis Cano; die von Gabriel Cano In der Hauptstadt Antloqulas weitergeführte Redaktion wurde 1923 geschlossen: vgl. Santos Calderón, 1989, S. 110f. 115f. Eine Literaturzeltschrift von Frauen für Frauen, Letras y Encajes, wurde seit 1926 In Medellin herausgegeben; s. Engleklrk, 1961, S. 56f. Dazu gehörten z.B. die coronación Julio Florez' Im J a n u a r 1923, oder der Besuch von Francisco Vlllaespesa In Kolumbien, gleichfalls zu Beginn des Jahres 1923 (aus diesem Anlaß stellte G. Castañeda Aragón eine kolumbianische Sondernummer von Cervantes, der Madrider Zeitschrift Vlllaespesas zusammen). Es handelt sich u m die Nummer 4999-44 vom 24.9.1925.

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finden sich dort Gedichte von Julio Posada und Otto de Greift). Nur die beiden Mittelseiten waren gänzlich für Lyrik reserviert, nämlich für 24 Sonetos amorosos von Alfonsina Storni. Vergleicht man die drei wichtigen Literaturbeilagen der 20er Jahre: El Nuevo Tiempo Literario, Lecturas Dominicales und El Espectador. Suplemento literario ilustrado, so lassen sich einige gemeinsame Grundzüge konstatieren. Sie alle versuchten, ihren Lesern einen Querschnitt der aktuellen Kulturtendenzen zu präsentieren mit einem erstaunlich hohen Anteil an eigenen Berichten, Übernahmen von ausländischen Zeitschriften und Textbeispielen aus dem internationalen Kulturgeschehen. Gleichzeitig wollten sie zeitgenössischen kolumbianischen Schriftstellern ein Forum bieten, ihre Werke zu veröffentlichen und sie kritisieren zu lassen. Selbstverständlich spielten dabei ideologische Hintergründe eine Rolle: El Nuevo Tiempo bevorzugte natürlich eher konservative Autoren, während El Espectador sich auch des als revolutionär angesehenen Flügels von Los Nuevos annahm und El Tiempo in den aufschlußreichen Interviews unter dem Titel "Una hora con..." über Jahre hinweg alle wichtigen Intellektuellen des Landes nach ihren politischen und literarischen Ansichten befragte. Doch angesichts der fortschreitenden ideologischen Aufspaltung des politischen Spektrums - beispielhaft repräsentiert durch Los Nuevos - zeichneten sich die drei Feuilletons auch durch eine gewisse Toleranz aus: Der konservative Eduardo Castillo durfte sich im Suplemento literario ilustrado monatelang in der Kolumne "Evocaciones y recuerdos de la vida literaria"42 in den guten alten - literarischen - Zeiten ergehen, während El Nuevo Tiempo Literario unter anderem informative Artikel über den Dadaismus, den Surrealismus oder die russische Revolutionsliteratur brachte - ohne jedoch besonderen Wert auf Textbeispiele zu legen. Alle diese Entwicklungen dürfen indes nicht verallgemeinert werden. Die Umbruchsituation der 20er Jahre war ja gerade gekennzeichnet durch Überlagerungen verschiedenster Ansätze auf allen Ebenen, wobei die Zeitungen und ihr Umgang mit Literatur keine Ausnahme bildeten. Die konservative La Defensa aus Medellin beispielsweise publizierte in den Jahren 1925-1927 kein Supplement. Für diese Zeitung gab es keinen Zweifel an der sozial- und nationalintegrativen Funktion von Lyrik, die zu bestimmten Anlässen ihren Ausdruck fand in Sonderseiten innerhalb der normalen Ausgabe. Am Tag vor den Feiern des Unabhängigkeitstages 1926 (19.7.) war eine solche Página patriótica geplant, doch angesichts des nationalen Kongresses kolumbianischer Protestanten in Medellin sah sich das Blatt zu Modifikationen und zu einer engagierten Verteidigung der Katholischen Kirche gezwungen - im Kontext der geplanten Veröffentlichung patriotischer Gedichte: "Teníamos preparada para hoy una bella edición patriótica alusiva a la fiesta clásica de mañana, pero ante la recia campaña que hemos tenido que librar con valor en defensa de las creencias católicas de Antioquia, amenazadas hoy 42

Gesammelt veröffentlicht In: Castillo, 1973.

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por la audacia del protestantismo que pretende sembrar la simiente del error en el corazón mismo de este cristianísimo Departamento, no pudimos realizar aquel anhelo de glorificar una vez más en nuestras páginas a los fundadores máximos de la República. Mas al librar estas jornadas por la integridad del catolicismo en Colombia, le ofrendamos a los héroes de la epopeya magna un grandísimo tributo, porque desde las avanzadas de la trensa estamos defendiendo con entereza la religión de nuestros padres, que es parte de la Patria misma." Ein Vergleich mit El Espectador läßt die Spannbreite der Zeitungslandschaft um die Mitte der 20er Jahre deutlich werden: Zum Día de la Raza publizierte das Suplemento auf der ersten Seite (8.10.1925) einen kritischen Artikel von Miguel de Unamuno, in dem dieser den spanischsprachigen Ländern im Hinblick auf eine neue Hispanität den Gebrauch der Intelligenz empfiehlt: "Sólo la inteligencia puede salvarnos"; daneben findet sich eine Karikatur, in der zwei Affen - als deutliche Anspielung auf die Theorien Darwins - sich unterhalten: "Mono primero. - Diz que van a celebrar con mucha pompa la fiesta de la raza. Mono segundo. - Y ya verás cómo ni se acuerdan de nosotros. ¡Ingratos!" Hier hat jegliche Art von nationaler, hispanischer oder religiöser Selbstbestätigung einem kritisch-rationalen Diskurs Platz gemacht, zu dem die Lyrik der Zeit in der Einschätzung von El Espectador offenbar nichts Entsprechendes beizusteuern hatte.

2.3.3. Versuch einer statistischen Auswertung der Lyrikpublikation in Zeitschriften und Zeitungen Für das Projekt einer möglichst umfassenden Betrachtung der kolumbianischen Lyrik in den 20er Jahren dürfte eine statistische Untersuchung hilfreich sein, die sich an der Frage orientiert: Wie oft vermochten bestimmte Autoren ihre Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren? Um mögliche Entwicklungen und Verschiebungen in der Veröffentlichungspraxis festzustellen, werden die beiden Zeiträume 1920-1924 und 1925-1929 getrennt ausgewertet. Wie bei jeder statistischen Untersuchung ergeben sich natürlich eine Vielzahl von methodischen Problemen, die von der Auswahl der Zeitschriften bis zu der Frage reichen, welche Gedichtveröffentlichung als Eintrag aufzunehmen sei. Zwei Sonderseiten mit Werken eines Dichters in Lecturas Dominieales hatten selbstverständlich ein ungleich höheres Gewicht in der Literaturszene der Zeit als ein einzelnes Gedicht in einer kurzlebigen und auflagenschwachen Zeitschrift oder ein solches, das als Seitenfüller in der Provinzzeitung La Defensa in einer Spalte mit Gesellschaftsnachrichten publiziert wurde. Eine letztlich befriedigende Lösung für diese

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Schwierigkeiten kann die Bestandsaufnahme nicht bieten: Die Entscheidung für die Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Autors mußte von Fall zu Fall nach Kriterien getroffen werden, die sich entsprechend der Zeitung/Zeitschrift veränderten. Grundsätzlich jedoch fließt eine Veröffentlichung nur mit einem Eintrag in die Statistik ein, auch wenn sie mehrere Gedichte umfaßt. Eine zweite Einschränkung betrifft den Zeitschriftenbestand. Nur von Cromos existiert eine Sammlung, die eine nahezu vollständige Auswertung gewährleistete (nur etwa zehn fehlende Hefte bei einem Gesamtumfang von über 500 Heften in zehn Jahren). Alle anderen Organe deckten entweder nur einen Teil des Untersuchungszeitraumes ab oder/und wiesen zum Teil erhebliche Bestandslücken auf. Die Bedeutung der vorliegenden Auswertung ist daher in ihrer illustrierenden, bis zu einem gewissen Grad sogar repräsentativen Funktion innerhalb der Gesamtuntersuchung zu sehen. Sie erhebt jedoch keinen Anspruch darauf, alleine ein Bild der kolumbianischen Lyrik der 20er Jahre zeichnen zu können. Das zugrundeliegende Korpus umfaßt folgende Zeitungen und Zeitschriften aus Bogotá und Medellin, von denen jeweils mehr als fünf Hefte ausgewertet werden konnten: - El Espectador (Bogotá), 1921-1928 (bis 1924 Sonntagsausgaben der Zeitung, seit 1924 Suplemento, ca. 220 Ausgaben), 500 Einträge - El Tiempo. Lecturas Dominicales (Bogotá), 1923-1928 (ca. 250 Ausgaben), 600 Einträge - La Defensa (Medellin), 1925-1927 (vorwiegend Sonntagsausgaben), 100 Einträge - El Nuevo Tiempo Literario (Bogotá), 1927-1929 (ca. 110 Ausgaben), 4 0 0 Einträge - Colombia (Medellin), 1920-1922 (70 Ausgaben), 100 Einträge - Sábado (Medellin), 1920-1923 (100 Ausgaben), 2 5 0 Einträge - Cromos (Bogotá), 1920-1929 (ca. 500 Ausgaben), 500 Einträge - Universidad (Bogotá), 1921-1922; 1928-1929 (70 Ausgaben), 100 Einträge - Cyrano (Medellin), 1921-1922 (20 Ausgaben), 33 Einträge - Crepúsculos (Bogotá), 1923 (13 Ausgaben), 75 Einträge - Alma de Artista (Bogotá), 1923 (25 Ausgaben), 65 Einträge - Santafé y Bogotá (Bogotá), 1923-1928 (75 Ausgaben), 100 Einträge - Patria (Bogotá), 1924-1925 (50 Ausgaben), 100 Einträge - Minerva (Bogotá), 1925 (6 Ausgaben), 25 Einträge

Für die Jahre 1920-1924 wurden damit 11 Zeitungen oder Zeitschriften ausgewertet, für 1925-1929 neun, wobei die Anzahl der Einträge aus der zweiten Hälfte des Jahrzehnts höher ist.43 Die Statistik ordnet jedem/r Autor/in in den beiden Fünfjahreszeiträumen zwei Zahlen zu: die Summe der aufgenommenen Veröffentlichungen und, in Klammern, Dies Ist insbesondere darauf zurückzuführen, daß Je zwei Drittel der Einträge aus Lecturas Domtntcales und dem Suplemento Uterarto sowie die von El Xuevo Ttempo Ltterario aus diesem Zeltraum stammen.

95 die Anzahl der Publikationsorgane44, in denen der/die Dichter/in veröffentlichte. Auf diese Weise sollen ein größerer Bekanntheitsgrad berücksichtigt und Ausreißer, verursacht durch die besondere Vorliebe eines Herausgebers zu einem Autor, relativiert werden: Kolumbianische Autoren45 1920-1924

1925-1929

Summe

Rafael Maya Rafael Vásquez Eduardo Castillo Ismael E. Arciniegas Miguel Rasch Isla León de Greiff José Umaña Bernal

34(7) 11(4) 20(7) 3(1) 24(6) 13(4) 14(5)

31(8) 47(6) 37(6) 52 (5) 16(7) 23 (5) 21(5)

65 58 57 55 40 36 35

Guillermo Valencia Luis Vidales Julio Flórez José Eustasio Rivera Luis Carlos López

10(7) 6(3) 16(6) 8(4) 4(3)

17(7) 21(2) 4(3) 10(7) 6(4)

27 (11) 27 (3) 20 (7) 18 (9) 10 (5)

(10) (7) (9) (6) (9) (7) (7)

Ausländische, spanischschreibende Autoren/innen Emilio Carrere Juana de Ibarbourou Alfonsina Stomi Gabriela Mistral Leopoldo Lugones José Santos Chocano Rubén Darío

11(5) 13(6) 12 (5) 13(7) 8(4) 19(7) 10(4)

60 (5) 33 (4) 32 (4) 30 (6) 34 (5) 22 (7) 15 (5)

71 46 44 43 42 41 25

(6) (8) (7) (10) (7) (11) (8)

Die Liste der kolumbianischen Autoren birgt, aus heutiger Sicht, einige Überraschungen. Nicht die großen Dichter Guillermo Valencia, León de Greiff, Rafael Maya oder Luis Vidales teilen sich die ersten Plätze, was die Gedichtveröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften angeht, vielmehr tauchen in der Häufigkeitsstatistik auch Namen auf, die nahezu vergessen sind wie Rafael Vásquez, Miguel Rasch Isla oder José Umaña Bernal. Allerdings bedürfen die vorliegenden Zahlen noch einiger Erläuterungen und Differenzierungen, um wirklich aussagekräftig zu sein. Der kolumbianische Dichter, der nach dem vorliegenden Korpus die meisten Gedichtveröffentlichungen aufzuweisen hat, Rafael Maya, erreichte nach Guillermo Valencia und José Santos Giocano auch die weiteste Publikationsbreite (zehn von 14 Zeitschriften) und die ausgeglichenste Verteilung über den Untersuchungszeitraum 44

45

Die Zahl In Klammern bei der Gesamtsumme Ist von Doppelungen (d.h. eine Veröffentlichung z.B. In Cromos 1923 und 1928) bereinigt Bis zum Trennungszeichen (...) wird die tatsächliche Rangfolge eingehalten: danach folgen nur noch bekanntere Autoren unter Auslassung einiger anderer, denen heute keine entsprechende Bedeutung mehr zugesprochen wird, wie z.B. José Joaquin Casas, Ricardo Nleto, Ciro Mendla, Jorge Mateus, Manuel Briceno, Roberto Llévano, Dmltri Ivanovltch u.v.a.m.

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hinweg. Dies ist um so erstaunlicher, als er relativ jung war (1898 geboren) und bei Los Nuevos mitarbeitete, sich damit in gewisser Weise gegen das Establishment stellte. Möglicherweise war letzteres der Grund dafür, daß sich der Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen von Cromos (23 von 1920-1924) auf Lecturas Dominicales und das Suplemento von El Espectador verlegte. Andererseits waren oder galten er und seine Gedichte - trotz der Mitarbeit bei Los Nuevos - als konservativ, was ihm auch den Weg in weniger experimentierfreudige Publikationsorgane öffnete (Patria, Santafé y Bogotá, El Nuevo Tiempo etc.). Eines der zentralen Themen seiner Lyrik, die Liebe zur Natur, kam vor allem bei Cromos durch Illustrationen zum Tragen, die genau auf das jeweilige Gedicht abgestellt waren. Zur Lektüre von Psalmo läßt der Zeichner den Betrachter einen Blick durch drei gotische Bögen hindurch auf fliegende Tauben und auf die Spitzen einiger Bäume werfen. Die Weite der Natur, hier verbunden mit dem religiösen Aspekt der Auferstehung Christi, trägt in diesem Text eine gewisse Tendenz zum Eskapismus (vgl. vor allem die letzte Strophe), die bereits bei Felipe Lleras Camargos Konzept einer neuen Schule und bei Ciro Mendías Verortung der poesía popular offensichtlich wurde: He abierto la ventana y he aspirado el aroma de las rosas que lleva entre su seno la mañana. Palomas jubilosas paran el vuelo entre la flor temprana de los almendros de olorosa nieve [...]. ¡Alegría ¡¡Alegría! Sáca al balcón los líricos pendones y festóna la vía, que ya llega, cercado de un grupo fraternal de corazones, Jesús resucitado. [...] Asómate, Alma mía, a este risueño despertar del mundo, y aunque la fuerza del dolor te abruma cláma con todo el ánimo: ¡Alegría! 4 6

46

Cromas, 3.6.1922. Die Textbelsplele In diesem Abschnitt sollen einen ersten Eindruck von der In den 20er Jahren publizierten "hohen Lyrik" geben; sie stammen vorwiegend von Autoren, die Im weiteren Verlauf der Arbeit nicht mehr ausführlich besprochen werden. Die Bedeutung, die Ihnen Jeweils die spätere KrlUk zumaß, mag daher aus einigen bibliographischen Angaben erschlossen werden. Zu Rafael Maya sind dabei, über die In den Bibliographien von Fahay, 1966, S. 373-380, und Jiménez Panesso, 1989, S. 105f, angefahrten hinaus u.a. folgende Arbelten erwähnenswert: die Spezlalausgabe der Zeitschrift Boletín Cultural y Bibliográfico. Heft 1, 1982 (mit Beiträgen von Martán Góngora, Salazar Valdés, Caparroso, Castillo Muñoz, Santo und Duarte French; In der Bibliographie: Maya, Homenaje a) sowie Romero, 1966; Sanln Echeverrl, 1974 (Interview mit Rafael Maya); Piotrowskl, 1981; Gómez Hoyos, 1982; nicht berücksichtigt sind hier Bemerkungen in Kompendien, Literaturgeschichten oder umfassenderen Arbeiten.

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Die Bedeutung von Eduardo Castìllo im Literaturmarkt der 20er Jahre wird durch die Anzahl und die Verteilung seiner Gedichtveröffentlichungen unterstrichen, doch sie beschränkte sich keineswegs darauf. Unermüdlich schrieb er in allen großen Zeitungen und Zeitschriften Rezensionen, Nachrufe und Erinnerungen an Autoren, machte europäische Dichter durch Übersetzungen und Kommentare in Kolumbien bekannt und gebrauchte seinen Einfluß in den Redaktionen, um jungen Autoren Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen. Ob die hier angeführten 57 Nennungen tatsächlich ausschließlich eigene Gedichte betreffen, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, da häufig Nachdichtungen und Übersetzungen nicht oder nur ungenau gekennzeichnet waren; würde man diese jedoch alle mit einschließen, so stünde Eduardo Castillo unangefochten an der Spitze der vorliegenden Statistik. Von der späteren Forschung relativ unbeachtet blieb Rafael Väsquez.47 In den 20er Jahren fanden aber seine modernistischen, oft Themen aus der Antike aufnehmenden Sonette48 viel Anklang in den großen Blättern. In Universidad erschien 1921 ein Gedicht von ihm, das einen eher spielerischen Umgang mit dieser Gattung hätte erwarten lassen: Tiznes/ rientes,/ fuentes, /cisnesV/ De esos/ sabios/ labios..7 ¡besos!// Y una/ luna/ viste// rara/ cara/ triste!49

Von solchen Experimenten mit der Form, die bei anderen Autoren auf einen ironischen Unterton schließen lassen würde, ist im späteren Werk nichts mehr zu spüren. Die Tatsache, daß auch er in der Zeitschrift Los Nuevos (in Heft 1) publizierte, ändert an der geäußerten Einschätzung wenig, denn bereits in Heft 4 stellte Manuel Garcia Herreros fest, daß weder er noch Rafael Maya oder Miguel Rasch Isla in der Lage seien, die zukünftige Lyrik zu bestimmen.50 Rafael Väsquez gehörte, zusammen mit José Umana Bernal51, zu den jüngeren Autoren, die die ästhetische Revolution des 47

48

49 50

Einer der wenigen späteren Kommentare zu Ihm lautet: "Rafael Väsquez es el principe de los sonetos semplternos" (Ismael Enrique Mejia, In: Väsquez, 1952/53, S. 3): Ardila, 1984, S. 324f fuhrt einige Textbeispiele an; im Gegensatz zu Miguel Rasch Isla und José Umana Bemal, die Je mit einem Beispiel vertreten sind, wurde keines seiner Werke In die Sammlung der 100 angeblich besten kolumbianischen Gedichte von Echavarria, 1989, aufgenommen: 1952 erschien mit Unterstützung des Erziehungsministeriums eine Anthologie seines Gesamtwerkes, danach geriet er In Vergessenheit, a u s der Ihn auch die etwas ausführlichere Erwähnung durch Caparroso (1960, S. 133-135) Im Rahmen einer Arbelt über Los Nuevos nicht herausführte, ebensowenig die pflichtschuldige Bemerkung anderer, die über Los Nuevos schrieben, daß er mit dieser Zeitschrift In Verbindung stand. Sein erster Gedichtband, Anforas, erschien 1927 In New York, vgl. dazu die Rezension von Antonio Cesar Gal tan, In: Cromos, 3.3.1928. El desqutte de Pierrot In: Universidad, 10.3.1921. "Las letras en Colombia", In: Los Nueuos. 27.7.1925. José Umana Bemal fand In der Literaturkritik der folgenden Jahrzehnte etwas mehr Beachtung als Rafael Väsquez; vgl. Rafael Maya, Einführung In: Umana Bernal, 1951 (und häufiger); Jorge Montoya Toro, Einführung In: Umana Bemal, 1953/54; Jaramlllo Angel, 1966; Nestor Madrld-Malo, Einführung In: Umana Bemal, 1973; MeJla Duque, 1976b (= Einführung In: Umana Bemal, 1976); sowie die Neuabdrucke von zeitgenössischen Rezensionen oder Kommentaren In: Castillo, 1965, S. 127-129; Nleto Caballero, 1984, S. 425-428; auch Ihm widmen verschiedene Aufsätze über Los Nuevos einige bescheidene Abhandlungen, so z.B. wieder Caparroso, 1960, S. 132f, oder C h a n y Lara, 1984, S. 670-673.

98 Modernismus der Jahrhundertwende rezipiert hatten, aber nichts entscheidend Neues daraus entwickelten, sondern im Gegenteil bei den klassischen Formen der Romanze, der décima und eben des Sonetts stehenblieben: Tremendo ruge, oh Cíclope, tu gran dolor lejano. Bien que él retumba estéril ante el Olimpo inmoto. Qué pueden ni tu orgullo ni tu esperanza? En vano contra el azul inhóspite tu voluntad se ha roto. Supèrstite en la roca, tú emerges de lo ignoto lanzando, como un trueno, tu apòstrofe al arcano. Pero impasible siempre y a su ambición remoto sobre tu duelo inmenso gravita el ancho Urano. Gigante es tu tormento bajo el Cénit tranquilo. Más grande que tú nunca fue el Hércules del Nilo. Cifró en la tuya el hombre su aspiración primera. ¡Viejo titán del Cáucaso, cuya pujanza en vilo portara igual que al Atlas otro mundo, quisiera laudar tu fuerza trágica, como el potente Esquilo! 52

Auch der etwas altere Miguel Rasch Isla läßt sich in diese Reihe der Bewahrer der anerkannten Schreibweise einordnen, allerdings geht er sogar noch häufig hinter den Modernismus zurück. Sein religiös-getragenes Werk La Vision, vollständig in dreizeiligen Elfsilbern abgefaßt, fand die begeisterte Zustimmung der kolumbianischen Literaten, die die Aufrechterhaltung der Tradition auf ihre Fahnen geschrieben hatten: Luis María Mora, José Joaquín Casas, Victor E. Caro, Ismael Enrique Arciniegas, Max Grillo, Eduardo Castillo, Antonio Gómez Restrepo, Aurelio Martínez Mutis und viele andere53; von Jorge Zalamea dagegen wurde es gnadenlos verrissen als "pedestral para su pequeña vanidad, para su pequeño egoísmo"54. Mit Rafael Vásquez, José Umaña Bernal und mit einer langen kolumbianischen Tradition verbindet ihn die Vorliebe für das Sonett, die ihn so prägte, daß Luis Eduardo Nieto Caballero sogar behaupten konnte: "Rasch Isla es casi una máquina de hacer sonetos"55: Quién tuviera, pastor, como tú tienes, honda paz, tierna fe y alma sencilla; quién, como tú, sembrara la semilla en los surcos de Dios para dar bienes. Quién pudiera, en tus místicos edenes, el lirio ser que en los altares brilla; 52 53

54 55

Prometeo, in: Cromos, 13.8.1927. S. dazu die zweite Auflage des Buches, 1926, mit Rezensionen und Zuschriften an den Autor im Anhang. "El pequeño visionario", in: Los Nuevos, Heft 3, 11.7.1925. Vorwort zu: Rasch Isla, 1953/54, S. 3; zu Rasch Isla konnte ich, außer zeitgenössischen Artikeln bzw. deren Nachdrucke (z.B. Nieto Caballero, 1984, 411-414 (Rezension von 1921), Villegas, 1929, S. 157160) kaum weitere Literatur finden; relativ ausführlich Ist Jedoch Jaramlllo Meza, 1954, S. 43-74.

99 quién llevara la carne sin mancilla, sin hiél la vida y sin dolor las sienes! Pastor: yo que he olvidado la profunda ciencia de la oración y que persigo la luz para orientar mi alma errabunda, busco tu amparo y tu piedad mendigo, para que Dios, que en su bondad te inunda, me perdone mirándome contigo. 5 6

Während diese drei Dichter eine relativ gleichmäßige Verteilung ihrer Gedichtpublikationen über verschiedene Zeitschriften aufweisen, trifft auf Ismael Enrique Arciniegas die Aussage zu, daß er sich praktisch selbst veröffentlichte in seinem eigenen Blatt: El Nuevo Tiempo Literario. Ohne diese 38 Einträge (sowie neun aus Cromos) würde er in der Statistik nicht auftauchen. Bei ihm gilt gleichzeitig eine ähnliche Einschränkung wie bei Eduardo Castillo: Seine Bedeutung für die Lyrik der 20er Jahre liegt eindeutig in seiner Herausgebertätigkeit und in Übersetzungen, wobei auch bei ihm nicht immer mit letzter Sicherheit festzustellen war, ob ein unter seinem Namen gedrucktes Gedicht auch wirklich von ihm stammt oder nicht doch eine Nachdichtung darstellt. Unverkennbar dagegen ist der Stil von León de Greiff. Diese Unverwechselbarkeit hob ihn aber offensichtlich so stark aus der Masse der zeitgenössischen kolumbianischen Dichter heraus, daß ihn die großen Blätter Cromos, El Tiempo und El Nuevo Tiempo, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mieden - sei es nun, weil er keinen Publikumserfolg versprach oder weil den Herausgebern diese Art von Lyrik mißfiel. Auf die Zahl von 36 Veröffentlichungen kommt er daher nur dank El Espectador, Universidad und der Zeitschriften aus Medellin, seiner Heimat. Was die relativ geringe Anzahl an Veröffentlichungen einiger heute als bedeutend angesehener Dichter der 20er Jahre angeht, so lassen sich dafür leicht Erklärungen finden: Guillermo Valencia und Julio Flórez galten unter den Zeitgenossen unstrittig als die größten Lyriker des Landes. Doch Julio Flórez starb bereits 1923 - daher die 16 Einträge im ersten Fünfjahreszeitraum -, und es gab keine neuen Werke mehr von ihm. Die Medien legten aber Wert darauf, aktuelle Produktionen zu drucken, die Guillermo Valencia zumindest von Zeit zu Zeit lieferte, obwohl er seine berühmten Gedichte schon zehn, 20 oder gar 30 Jahre vorher geschrieben hatte. Bemerkenswert ist, daß er von fast allen untersuchten Zeitungen und Zeitschriften akzeptiert wurde, trotz seiner politischen Aktivitäten. Julio Flórez dagegen stand im Ruf, ein populärer Dichter, fast ein Volksheld zu sein, was ihm die Pforten zu Universidad, Patria oder Santafé y Bogota verschloß.57 A un pastor de almos, In: Santajé y Bogotá, April 1928. In Santqfá y Bogotá wurde zwar über Volkspoesie diskutiert, doch Julio Flórez traf offensichtlich den Ton zwischen poesía popular und poesía culta, der Ihn den Intellektuellen aller Couleur suspekt machte, seien es nun die Verteidiger der reinen Volkslyrtk oder die Verfechter des Modemismus, auch wenn sie seine Popularität uneingeschränkt anerkannten.

100 Luis Carlos López, der humoristische Dichter aus Cartagena, hatte bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit dem strengen und ernsten Modernismus gebrochen. Dies gilt jedoch nur für die inhaltlichen Aspekte seiner Lyrik; auf formalem Gebiet kultivierte er, wie so viele andere Kolumbianer - ob Modernisten oder nicht - vorwiegend das Sonett. Wie nahezu alle Dichter seiner Epoche schloß er sich darüber hinaus von Zeit zu Zeit einer ganz spezifischen Tradition an, nämlich Gedichte für die Alben von jungen Mädchen aus gutem Hause zu schreiben, die anschließend in Zeitschriften veröffentlicht wurden - im folgenden Beispiel sogar begleitet von einer Photographie der so Geehrten und mit einer Jugendstilumrahmung verziert: Un soneto. Album de la señorita Mercedes del Carmen Garcia M e dice usted: - "Escríbame un soneto". Y para complacerla necesito salir, c o m o Argensola, del aprieto.... - ¡ Vamos, ya tengo un mal cuarteto escrito! Y haré de sopetón otro cuarteto, pues añorando el rostro tan bonito que luce usted, como quien salta un seto, salto.... ¡y m e importa este cuarteto un pito! Parecerá difícil que pudiera, principiando un terceto, a la ligera finalizar el último terceto. Pero sólo al pensar en su mirada, noche oscura hecha flor, de una plumada le digo a usted: - ¡Aquí tiene el s o n e t o ! 5 8

Die relativ geringe Bedeutung von José Eustasio Rivera in der Zeitungslandschaft bezieht sich nur auf sein lyrisches Schaffen. Nach der Veröffentlichung von Tierra de Promisión 1921 wurde es ruhig um den Dichter Rivera. Sein Ruhm, der bei seinem Tod 1928 zu unzähligen Nachrufen und homenajes führte, beruhte in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts vorwiegend auf dem Roman La vorágine. Die extremste Verteilung an Gedichtveröffentlichungen unter allen Autoren hat Luis Vidales. In 23 von 27 Fällen war es El Espectador, der es wagte, seine Lyrik dem Publikum anzubieten; El Tiempo und Sábado vervollständigen die Liste.59 ErinCromos, 4.6.1921. Zu Luis Carlos López erschienen Im Verlaufe der letzten Jahrzehnte eine Vielzahl von Beiträgen (vgl. die Bibliographien In: Alstrum, 1986b, 225-234, López, 1988, S. 247-249, u n d Espinosa, 1989b, S. 91-94; darin noch nicht aufgenommen die Arbelten von Alstrum, 1989, und Zubiria, 1989), die sich auf die Fragenkomplexe konzentrieren, Inwieweit López noch dem Modernismus zuzurechnen Ist (Espinosa), ob er als Vorläufer einer Antlpoesle Im Sinne Nicanor Parras angesehen werden kann (Alstrum) oder ob sein Abweichen von der Norm In erster Linie auf sein Leben In der Provinzstadt Cartagena zurückzuführen Ist (s. besonders Colón, 1981). Nicht berücksichtigt sind dabei Textbeispiele In Rezensionen und der Sonderfall der Artikelserle des "Nueveclto escritor" In Patria, 1925, auf die bei der Besprechung von Los Nuevos eingegangen wird.

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nerte León de Greiff mit seinem Humorismus und in der Aufrechterhaltung des Reims zumindest noch entfernt an Luis Carlos López, so brach Luis Vidales mit allem, was vorher als Lyrik gegolten hatte. Einen solch offensichtlichen Modernisierungsschritt akzepierte die kolumbianische Öffentlichkeit - repräsentiert durch die Printmedien - nicht. Dennoch, sieht man von den wirklichen Extremfällen ab, in denen ein Dichter mehr als zwei Drittel aller Veröffentlichungen in einer Zeitung plazierte (Ismael Enrique Arciniegas und Luis Vidales), bzw. dem der explizit konservativen La Defensa und El Nuevo Tiempo Literario60, kann man in den 20er Jahren von einer relativ hohen Toleranzgrenze der Redakteure in den Zeitschriften und Feuilletons sprechen. Der Drang, die neuesten lyrischen Entwicklungen des Landes präsentieren zu können, scheint im allgemeinen stärker gewesen zu sein als parteipolitische Vorbehalte und eine gewisse Skepsis gegenüber den jungen Dichtern. Für diese Interpretation spricht, daß progressiv einzuschätzende Blätter wie Universidad oder El Espectador keine Berührungsängste hatten vor Autoren wie Guillermo Valencia, und eine konservative Intellektuellenschrift wie Patria León de Greiff akzeptierte. Die Neugier auf das, was unter modemer Dichtung verstanden wurde, läßt sich auch belegen durch die Tatsache, daß die großen Namen des vergangenen Jahrhunderts: Rafael Núñez, Miguel Antonio Caro, Rafael Pombo, Jorge Isaacs, José Asunción Silva u.a. nur zu bestimmten Anlässen - an Gedenk- oder Feiertagen etwa publiziert wurden, in der Statistik jedoch keine Rolle spielen. Diese sich ihnen bietende Chance, einer breiten Leserschicht61 bekannt zu werden, mußten die jungen Schriftsteller mit einer gewissen Anpassung an die Lesererwartungen erkaufen. Gefordert war ein Wiedererkennungseffekt der neuen Lyrik, der sich am ehesten mittels formaler Kriterien realisieren ließ: Verwendung des Sonetts, zumindest jedoch des Reims, ohne notwendigerweise auf die Formenvielfalt des Modernismus zu rekurrieren. Blieb dieser Rahmen gewahrt, war auch die Publikation praktisch gesichert. Welche weitergehenden inhaltlichen und ästhetischen Forderungen erhoben wurden und ob die Autoren diese als Einschränkung erfuhren - sich ihnen also intentional unterwarfen -, wird im Verlaufe der Arbeit zu klären sein. Die Vermutung, in den 20er Jahren habe in den Zeitungen und Zeitschriften des Landes ein relativ homogener lyrischer Diskurs vorgeherrscht, unterstützt die Statistik der ausländischen, spanischschreibenden Autoren/innen. Die Spitzenstellung des Spaniers Emilio Carrere - er war in seinem Werk stark von Rubén Darío und Paul

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In beiden Blättern Ist die Bilanz für die drei heute als führend angesehenen Dichter von Los Nuevos, León de Greiff, Luis Vidales und Rafael Maya, vernichtend; n u r ein einziges Gedicht von Rafael Maya konnte Ich In der Zeltung Ismael Enrique Arciniegas' entdecken. Breite Leserschicht ist natürlich im Rahmen dessen zu verstehen, was bereits über das Leserpublikum gesagt wurde.

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Verlaine beeinflußt - ist dabei irreführend, denn er verdankt sie vor allem El Nuevo Tiempo Literario (mit 50 Einträgen). Die drei Frauen aus dem Süden des Kontinents (Delmira Agustini folgt mit etwas größerem Abstand), der Peruaner José Santos Giocano und der Argentinier Leopoldo Lugones bieten mit ihrer nahezu gleichmäßigen Akzeptanz bei allen Blättern und nahezu gleichen Anzahl an Gedichtveröffentlichungen quasi das Grundmuster für den Konsens der Lyrikauffassung in den Printmedien.62 Sie repräsentieren eine Dichtung, die noch eindeutig aus modernistischen Quellen schöpft, sich jedoch schon partiell von dieser Richtung gelöst hat und versucht, neue Wege einzuschlagen. Für die Anziehungskraft, die der klassische Modernismus zu dieser Zeit noch ausübte, steht Rubén Dario. Die Zahl der Publikationen seiner Gedichte übertraf die jedes bereits verstorbenen kolumbianischen Dichters und war etwa genauso hoch wie die von Guillermo Valencia, dem noch schreibenden Vertreter des kolumbianischen Modernismus. Die Liste der spanischschreibenden, nichtkolumbianischen Autoren ließe sich natürlich beliebig verlängern: die Brüder Machado, Francisco Villaespesa, Amado Nervo, Julio Herrera y Reissig, Enrique González Martínez, Juan Ramón Jiménez etc. Auch mit der Publikation von spanischen und lateinamerikanischen Autoren/innen wollten die Zeitschriften und Zeitungen also die aktuellen Entwicklungen verfolgen. Sie verzichteten daher auf Dichter des Siglo de Oro oder der spanischen Romantik, doch gleichzeitig konnten sie sich nicht entschließen, die wirklichen Neuerer der Zeit abzudrucken: Nur vereinzelt finden sich Gedichte von Pablo Neruda, José Luis Tablada, Jorge Luis Borges oder Greguerías von Ramón Gómez de la Serna; Vallejo (mit Ausnahme eines poetologischen Artikels), Girondo oder Huidobro blieben den kolumbianischen Lesern/innen de facto unbekannt. Es gab Artikel über Avantgarde, aber so gut wie keine Originaltexte. Die letzte Gruppe von Gedichten aus dem untersuchten Korpus - Übertragungen aus Fremdsprachen63 - läßt sich, mit einigen Modifikationen, als Bestätigung der bisher gefundenen Ergebnisse ansehen. Sieht man von punktuellen Präsentationen Wladimir Majakowskijs und Guillaume Apollinaires ab, so brachten die Zeitungen und Zeitschriften praktisch keine Beispiele aus dem Schaffen der europäischen Avantgarden und deren Umfeld. Als der Vertreter der zeitgenössischen nichtspanischen Gegenwartslyrik mußte den kolumbianischen Lesern/innen ohne Zugang zu anderen Informationsquellen Gabriele D'Annunzio erscheinen (er kommt in der Statistik auf 17 Einträge). Er steht stellvertretend für ein äußerst diffuses Dichterbild, das sich aus den Quellen des übersteigerten Ästhetizismus, spätromantisch-modernistischen Vorstellungen eines über der gesellschaftlichen Moral erhabenen Künstlers, einer gleich63

Dies wird noch unterstrichen d u r c h die bereits erwähnten Anthologien In d e r Reihe Edlctones Colombla. Neben Ismael Enrique Arclnlegas u n d E d u a i d o CastlUo m a c h t e vor allem der Dichter Nicolas Bayona Posada als Übersetzer auf sich a u f m e r k s a m .

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wohl politisch wirksamen Lyrik (oder eines politisch wirksamen Lyrikers) bei zunehmender Aufspaltung des gesellschaftlichen Spektrums speist. Die Grundlagen für dieses im Kolumbien der 20er Jahre sehr widersprüchliche und eigentlich schon überholte Konglomerat (Schlagworte dafür sind Fin de siècle, Boheme, Modernismus, Dekadenzlyrik etc.) suchten die Periodika in dem Land, das für die Elite des Landes, nicht zuletzt durch den Einfluß der vielen Schulorden, noch immer das Zentrum der Kultur darstellte: Frankreich64. Etwa die Hälfte aller Übersetzungen stammen aus dem Französischen, und die Phalanx der Autoren wird angeführt von den bereits klassischen Dichtern des letzten Jahrhunderts und ergänzt von solchen, die den Symbolisten und Parnassiens nachfolgten: Verlaine, Hugo, Samain, Baudelaire, Verhaeren, Sully-Prudhomme, Musset, Mallarmé 65 etc. Neben D'Annunzio vermochten nur der Brasilianer Olavo Bilac und der Portugiese Eugenio de Castro, sich von der Anzahl der Publikationen her in diese Reihe zu stellen.66 Die führende Stellung der USA in der Wirtschaft und ihr Einfluß auf andere kulturelle Bereiche (Sport, Lebensstil, Konsumgewohnheiten) fand dagegen keinen Niederschlag in der Rezeption von Lyrik. Unter den Übersetzungen aus dem Englischen entsprach der Gesamtanteil der Angloamerikaner (Poe, Whitman, Longfellow) in etwa dem der Briten (Kipling, Wilde, Lord Byron), doch keiner von ihnen konnte die Vorherrschaft der französischen Dichter auch nur entfernt gefährden. Die als marginal anzusehende deutsche Lyrik - selbst in der Bildungselite beherrschten nur sehr wenige die deutsche Sprache - repräsentierten Heine, Goethe und Schiller. Es fallt auf, daß viele der genannten Autoren in den 20er Jahren nicht mehr lebten. Anders als bei kolumbianischen, lateinamerikanischen oder spanischen Dichtern/innen legten die Periodika - oder die Übersetzer - bei den fremdsprachigen offensichtlich nicht das Kriterium der Aktualität an, sondern das der bereits bestätigten allgemeinen Bedeutung und das des Einflusses auf die zeitgenössische kolumbianische Lyrik. Der in diesem Kapitel intendierte erste Zugang zu einem Gesamtüberblick über die kolumbianische Lyrik der 20er Jahre, der im Prinzip der sozialen Schichtung der Gesellschaft folgte, zeigte bereits in Grundzügen auf, wie sehr in dieser Zeit Tradition und Moderne nebeneinander existierten: traditionelle Volkspoesie in der mündlich weitergegebenen Lyrik, die überlieferte staatstragende und sozialintegrative Lyrik in den Schulbüchern sowie die vorwiegend modernistische, sich aus symbolistischen und parnassischen Quellen speisende Lyrik in den Büchern, Zeitschriften und Zeitungen auf dem kommerziellen Lyrikmarkt. Gleichzeitig wurde auch deutlich, daß es 64

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Diese Feststellung gilt mit den oben gemachten Einschränkungen, daß Paris nicht mehr das erste Ziel einer Auslandsreise für die Jungen Dichter war und daß natürlich Spanien und die übrigen lateinamerikanischen Länder sich alleine aus sprachlichen Gründen einen höheren Anteil am Lyrikmarkt zu sichern vermochten. In absteigender Rangfolge In der Statistik zählte Ich für sie zwischen 13 und vier Veröffentlichungen. Mit sieben bzw. fünf Einträgen.

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zwischen diesen drei Bereichen Wechselbeziehungen gab, die sich um den Begriff der modernen Lyrik kristallisierten: In Randbemerkungen bedauerten Autoren, die über die traditionelle Volkslyrik schrieben, das Einsickern sogenannter moderner Tendenzen, und gleichfalls aus Randbemerkungen in den Schulbüchern geht hervor, daß das in diesen gezeichnete vereinheitlichte Bild nicht mehr der Realität entsprach. Auf dem schriftlichen Lyrikmarkt hingegen hatte sich der Modernismus und der Spätmodernismus die Vorherrschaft erobert. Nur einige wenige Publikationsorgane richteten den Blick zurück auf die Zeit im 19. Jahrhundert, als Bogotá der Ehrentitel Atenas Suramericana verliehen worden war mit Dichtern wie den beiden Caro, Pombo, Isaacs, Fallón oder Núfiez sowie den großen Humanisten und Grammatikexperten. Ebenso punktuell machten die Periodika darauf aufmerksam, daß in Europa und anderen lateinamerikanischen Ländern die avantgardistischen Strömungen zum Kampf gegen den zur bloßen Rhetorik verkommenen Modernismus angetreten waren. Unter der Oberfläche dieser Harmonie, die die Statistik suggeriert, wurden jedoch erbitterte Auseinandersetzungen um die Lyrik geführt, die als Spiegelbild der Veränderungen in einer Zeit der sich zumindest partiell modernisierenden Gesellschaft gelesen werden können.

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3. Die Lyrikschaffenden auf der Suche nach der Moderne Für die Autoren ergaben sich seit etwa 1915 und speziell in den 20er Jahren mehrere Konfliktlagen, die sie zu bewältigen hatten. Sie mußten zum einen in ihrer eigenen Lyrik auf die sich verändernden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen reagieren. Zum anderen fühlten sie sich eingebunden in eine Gruppe von Intellektuellen, die sich jedoch nicht primär durch ein bestimmtes Literaturkonzept definierte, sondern durch den Begriff der generación1. Dies implizierte beständige gruppeninterne Diskussionen über den Stellenwert und die Konzepte der je aktuellen Lyrik sowie den Zwang, zu einem für alle tragbaren Konsens zu kommen, insbesondere wenn eine andere Gruppe oder Generation von Dichtern sich anheischig machte, abweichende Konzepte zu präsentieren. Die Hauptkontrahenten in den 20er Jahren stellten dabei Dichter der sogenannten Generación del Centenario, die sich um das Jahr 1910 im Gefolge der Unabhängigkeitsfeiern zusammengefunden hatte2, und die, die sich um die Zeitschrift Los Nuevos gruppierten.3 Im Gegensatz zur Vorgehensweise europäischer oder lateinamerikanischer Avantgardedichter schrieben die kolumbianischen Autoren der 20er Jahre keine oder nur sehr vage Manifeste, aus denen sich der jeweilige literarische Standort ablesen lassen könnte. Die Frage nach der Lyrik war bei ihnen immer eingebettet in persönliche Beziehungen und mehr noch in die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge. Für eine Annäherung an das, was sich damals in der Literaturszene abspielte, bieten sich daher zwei grundverschiedene Formen der Auseinandersetzung - fast könnte man sagen: der Suche nach der eigenen Identität - an, nämlich öffentlich in Zeitungen und Zeitschriften ausgetragene Polemiken zwischen den Mitgliedern der Generación E s wird steh zeigen, daß die GeneraUonenelntellung n u r ein bedingt taugliches Kriterium z u r Klassifizierung der Lyrik darstellt, obwohl sie sich a u c h In Kolumbien bis in die Jüngste Zelt großer Beliebtheit e r f r e u t D a sie von den zeitgenössischen Autoren selbst s t a m m t , werde Ich sie aber als grobes Raster verwenden. Die Mitglieder dieser G r u p p e h a t t e n In Ihrer Mehrheit die Kandidatur des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Restrepo u n t e r s t ü t z t u n d t r a t e n politisch f ü r einen Ausgleich zwischen Konservativen u n d Liberalen ein. Die schematlschste Definition, die ich finden konnte, s t a m m t von E d u a r d o Carranza a u s dem J a h r e 1984 (In der Einleitung zu Nieto Caballero, 1984, S. 5-12, hier S. 11): "La forman quienes tenían veinte a ñ o s en 1910." Durch diese Beschreibung h a t C a r r a n z a keine Probleme, einen Luis Carlos López a u s Cartagena oder Porfirio B a r b a J a c o b a u s Antloqula, die nie dem eigentlichen Zirkel in Bogotá angehörten, der Gruppe zuzuschlagen. D a r ü b e r h i n a u s waren natürlich in den 20er «Jahren a u c h noch die politischen u n d literarischen G r u p p e n a u s der Zeit vor u n d u m die J a h r h u n d e r t w e n d e wirksam: a u s der modernistischen Bewegung Guillermo Valencia, Victor M. Londoño u n d Max Grillo: a u s d e m Kreis der H u m a n i s t e n Marco Fidel Suárez: von der Gruta Simbólica J u l i o Flórez u n d Luis María Mora.

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del Centenario und neue Zeitschriften, die sich bewußt in der einen oder anderen Weise gegen die herrschende Lyrik (und gegen die politischen Verhältnisse) stellten.

3.1. Die polemische Konstitution eines einheitlichen Diskurses "No sé de otra época colombiana en que la polémica literaria se hubiese desatado con tanto despliegue de erudición, de ingenio y de virulencia como en la del Centenario."4 Tatsächlich scheint für Autoren wie José Eustasio Rivera, Eduardo Castillo und Angel María Céspedes die Gattung der Polemik - in der Form einer längerfristigen, sich über mehrere Beiträge erstreckenden und persönliche Anwürfe implizierenden öffentlichen Auseinandersetzung - seit 1918 eine Möglichkeit geworden zu sein, ein ideologisches Auseinanderstreben der eigenen Gruppe zu verhindern und Angriffe von außen abzuwehren. Diese These setzt voraus, daß der Generación del Centenario Begriffe wie Innen- und Außenperspektive zugeschrieben werden können. Es wird sich zeigen, daß - zumindest in einem Fall - die Art und Weise der Versöhnung am Ende der erbitterten verbalen Kämpfe diesen Schluß nahelegt. Zwei Polemiken verdeutlichen dabei in exemplarischer Weise die Suche nach dem gesellschaftlichen Status der Lyrik innerhalb der Generación del Centenario zu Beginn der 20er Jahre.

3.1.1. Angel María Céspedes und Eduardo Castillo5 Zwei grundverschiedene Persönlichkeiten standen sich bei diesem Streit im Jahre 1918 gegenüber. Céspedes, 1892 geboren6, war ein weitgereister junger Mann, der in Europa und den USA studiert und schon mit 20 Jahren diplomatische Posten bekleidet hatte. Castillo dagegen, der als häßlich galt, zurückgezogen mit einer Maus und einer Taube lebte und dem Drogenabhängigkeit nachgesagt wurde7, mußte sich seinen Lebensunterhalt als Sekretär von Guillermo Valencia oder als Kritiker in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften verdienen. Während der eine also die Welt der Kultur außerhalb Kolumbiens aus eigener Anschauung kannte, las sich der andere diese Welt für das Bogotaner Publikum an. Was indes ihre künstlerische Ausrichtung angeht, so unterschieden sie sich nicht. Beide waren geprägt vom Modernismus und Javier Arango Ferrer: '"El Centenario' o la generación polemista", In: Pérez Silva, 1982, S. 153-159, hier S. 153. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Autoren erschien 1918 unter dem Titel Duelo Lírico In Buchform und wurde später zweimal, zuletzt von Pérez Silva, 1982, neu herausgegeben; alle Belege folgen dieser Veröffentlichung. Er war damit drei Jahre jünger als Castillo (und n u r drei Jahre älter als León de Grelff; dies zeigt, daß die Bezeichnung "Generation" nicht schematisch auf das Alter bezogen werden darf) und daher zu dem Zeltpunkt, als sich die Gruppe zusammenfand, erst 18; allerdings hatte er bereits 1908 bel juegos florales In Bogotá den ersten Preis gewonnen und sich damit einen Namen als Wunderkind gemacht Vgl. Luque Muñoz, 1989, S. 49-64.

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dem Kult der Schönheit der Jahrhundertwende, beide hatten sie das Idealbild eines etwas widersprüchlichen, kolumbianisch-katholisch-aristokratischen Lyrikers internalisiert, das Castillo einmal so beschrieb: "Profeso el aristocratismo radical de Nietzsche, y odio cordialmente las democracias enemigos del arte y blasfemas de la belleza. [...] mi catolicismo es una manera de ser aristócrata. [...] Por eso soy católico, pero católico nietzscheano."8 In dieses Umfeld hinein lancierte eine Koalition aus Liberalen und Konservativen die Präsidentschaftskandidatur von Guillermo Valencia, der großen Figur der zeitgenössischen Lyrik, gegen die Mehrheit der Konservativen, die Marco Fidel Suárez an die Macht bringen wollte. Für Céspedes bedeutete dieser Abstieg Valencias in die unreine Welt der Politik und des Pöbels Verrat an der gemeinsamen Sache, an der "misión sagrada que Apolo nos confía" (S. 163). In weit ausholenden Alexandrinern tat er diese seine Meinung in der Zeitung El Nuevo Tiempo zu Beginn des Jahres 1918 öffentlich unter dem Pseudonym "Un poeta oscuro" kund: ¡Oh Poeta, las almas te escuchan. Hábla. Impéra! Echa atrás, con un gesto, tu oscura cabellera, Como la de un felino soberbio sobre cuya Cerviz pasa una mano femenina, la tuya, Y desatando en ondas el verso hecho de lumbre, Haz flotar sobre el pueblo, como desde una cumbre, La noche en tu melena, y en tu palabra el día! La turba está en silencio y tu ademán espía. [...] Tus labios se entreabren - y bajo el cielo en calma Es perceptible el vuelo tremente de cada alma Hacia el festín de olvido que apréstanle tus labios -; Tu mano se alza, - y odios, rencor, codicia, agravios, Prosaicos apetitos, sectarias divisiones, Todo lo que marchita pueblos y corazones, Todo lo que condenan, Moisés cantor, tus tablas, Al gesto de tu mano se desvanece. - ¡Y hablas! Hablas... Pero, ¿qué vértigo te invade? ¿Eres el mismo? [...] La copa en que esperaba gustar la turba ansiosa El vino que consuela de la terrena prosa, Hé ahí que se la tiendes mendicante y vacía En busca de políticos sufragios... ¡Oh ironía! Maestro, los neófitos venidos de muy lejos A escucharte, se quedan mirándote, perplejos. ¿"Candidato"? ¿Es posible? ¿Tan poco y tinto anhelas? ¿Así de alto te arrastras? ¿Así de bajo vuelas? [...] después de haber sido Aguila del Parnaso, sesgando el vuelo al solio, Pretendas ser ahora ganso del Capitolio! (S. 161-163)

"Una hora con Eduardo Castillo", In: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 13.6.1926

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Céspedes geht in seiner Apologie der politischen Enthaltsamkeit eines Dichters sehr geschickt vor, indem er das ganze Vokabular des Modernismus ausschöpft, immer wieder Anspielungen auf das Werk Valencias selbst einfließen läßt ("Tu mano se alza"; in Anarkos, dem bekanntesten Gedicht des Angegriffenen, heißt es: "Alza el brazo [...] calla sus labios la soberbia tropa") und ihn sogar wörtlich zitiert mit seinem vieldiskutierten Ausspruch aus Leyendo a Silva: "Sacrificar un mundo para pulir un verso" (S. 162)9. Nicht genug damit, verwendet er auch die typisch modernistischen Verfahren, mittels religiöser Metaphern die Dichtung einer besseren, höheren, von der Realität geschiedenen Welt zuzuordnen, inkompatibel mit der anderen, der politischen ("Que en un solo cerebro Verlaine y Thiers no caben" S. 163). Berührungspunkte dürften sich, laut Céspedes, nur ergeben, wenn der Poet sich herabläßt, die plebs, die dabei in Quasianbetung erstarrt, temporär an seiner Welt teilhaben zu lassen. In einem Land, in dem sich die Dichter in der Präsidentschaft ablösten und wo José Asunción Silva die Hauptperson von De sobremesa, José Fernández, den Plan von einer Präsidentschaftskandidatur hatte träumen lassen10, waren die Konflikte um die politische Betätigung eines Lyrikers bekannt. Céspedes brauchte nicht erst lange die Argumente systematisch vorzutragen und geordnet wiederzugeben. Er wollte Stimmung machen gegen die Kandidatur Valencias und für den Dichter Valencia. Deshalb wählte er die poetische Form für seinen Beitrag, um von Anfang an zu verdeutlichen, von welcher Warte aus er seine Position zu bestimmen gedachte, wobei er sicherlich nicht zufällig die Form des alejandrino pareado hernahm, in der Valencia selbst Leyendo a Silva verfaßt hatte. Nur einen Monat später erschien die Antwort: "A un poeta oscuro", doch nicht vom Dichterfürsten selbst, sondern von Eduardo Castillo.11 Weit davon entfernt, auf die Fragen und Vorwürfe von Céspedes einzugehen, setzte er zu einer scheinbaren Offenlegung der Motive des jungen Kollegen an und beschuldigte nun seinerseits ihn, die große Sache verraten und verkauft zu haben: ¿Mas qué? Según parece la gloria no te basta y vendes tus canciones en pública subasta. Sin duda una voz íntima te dijo que la suerte acosa a los que cantan de balde hasta la muerte; que siempre perseguidos entre el mundano enjambre tienen por sola herencia la desnudez y el hambre, ya que en su mesa (¡triste ceguez de la fortuna!) 9

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Zu den Gedichten Valencias s. Espinosa, 1989a, S. 37-44 bzw. 73-84. Vgl. Insbesondere den Tagebucheintrag vom 10. Juli und die anschließende Diskussion der Freunde, Silva, 1970, S. 168-182. Eine erste Fassung wurde, unter dem Pseudonym Luis Paredes, In La Patria publiziert, das vollständige Gedicht mit dem Namen des Verfassers zwei Wochen später (Pérez Silva, 1982, S. 172, Anm. 2). In der mir vorliegenden Fassung aus dem Boletín Cultural y Bibliográfico sind einige Druckseiten vertauscht; Castillos Antwort reicht dabei von S. 166-170 und endet auf S. 172. Dazwischen steht die zweite Seite der Erwiderung von Céspedes (mit der Abfolge: S. 172, 171, 173-175 und 176), die zeitlich zwischen der vorläufigen und der endgültigen Antwort Castillos In El Nueix> Tiempo erschien.

109 siempre el menú compónese de estrellas y de luna - viandas de buen aspecto mas poco sustanciosas - (S. 166).

Aus diesem bereits klassischen Schicksal des hungerleidenden, von den Massen verkannten Dichters ausbrechen zu wollen, unterstellt Castillo Céspedes. Er hätte "sin odio - ¡eso es lo triste!" (S. 167) seine Angriffe gegen "el hombre/ único, el armonioso tribuno cuyo nombre/ es como el sacro símbolo de nuestras esperanzas," (ibid.) gestartet mit dem Ergebnis, "que eres el trovero del candidato cuyo/ partido se halla en pugna con el partido tuyo" (ibid.). Im Endeffekt könne Céspedes das Anliegen, das er vorgetragen hat, nämlich die Aufrechterhaltung der reinen, puren, unverfälschten Lyrik, gar nicht vertreten, denn er gehöre nicht mehr zu den der Welt entrückten und nur nach Schönheit und Humanität strebenden Poeten: Cantor de los salones burgueses, no te plugo - aunque a tus ratos eres discípulo de Hugo ser el poeta cósmico por cuya boca austera habla, solloza y grita la Humanidad entera, sino el trovero dandy que alegra las reuniones mundanas con la música de sus recitaciones [...]. Y no es que se te niegue talento... Estás de moda. Es chic que en el bautismo lo mismo que en la boda, en la velada fúnebre lo mismo que en la fiesta, deleites los oídos con tu verbal orquesta. [...] ¡Y luégo, presumes de poeta! (S. 167f)

Die Absicht Castillos ist offensichtlich. Er wollte die Diskussion vom eigentlichen Anlaß, der Kandidatur Valencias, zu einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und Céspedes verlagern. Valencia sollte aus der Schußlinie genommen werden, um ihn zu schützen. Gleichzeitig veränderte er die ursprüngliche Ausrichtung der Anliegen von Céspedes. Ihm ging es nicht um den (idealistischen) Konflikt zwischen Poesie und Politik, ein Konflikt, für den die traditionelle Dichtersprache noch ein ausreichendes lexikalisches Repertoire anbot. Er stellte die Frage: Wie kann der Dichter in einer bürgerlichen Welt überleben, ohne sich selbst untreu zu werden? Dabei mußte - nolens volens - die sich modernisierende Umwelt einen erheblich stärkeren Einfluß auch auf die Sprache gewinnen. Das tägliche Brot des Dichters - implizit meint er damit sein tägliches Brot besteht seiner Meinung nach aus Sternen und dem Mond, doch er nennt dies nun "menu" und setzt zugleich zu einer einigermaßen banalen Erklärung der Metapher an: Dieses Gericht bestehe aus wenig nahrhaften Lebensmitteln. Céspedes hält er vor, sich vom kosmischen Poeten zum "dandy" entwickelt zu haben, und es sei "chic", ihn bei Familienfesten zu Rezitationen einzuladen und dafür zu bezahlen. Seine "cantares" bezeichnet er an anderer Stelle als "gayas pirotécnicas" (S. 167). Solche Begriffe stechen deutlich aus dem überkommenen modernistischen Pomp heraus, dessen sich Céspedes bedient hatte und auf den auch Castillo sich ganz überwiegend

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stützte. Sie haben bei ihm die Funktion, den Graben hervorzuheben, der sich auftut zwischen dem "cantor de Anarkos", dem "apóstol", dem "hijo de las Musas/ ungido por el genio" (S. 168) und seinen Adepten und Nachfolgern, denen er sich selbst zurechnet. Erst im letzten Teil des Gedichtes scheint der Verteidiger Valencias zum eigentlichen Kern der Auseinandersetzung zu kommen. Statt jedoch nun wirklich zu einer Apologie anzusetzen, unterläuft er ein weiteres Mal die Diskussion, indem er Céspedes einen bezahlten Auftrag durch Valencias Gegner Marco Fidel Suárez - "el amo a quien adulas/ [...] atado a las ideas de un dogma ya caduco" (S. 169) - unterstellt. Para él - único agente de la celeste gracia con privilegio en este país - la Democracia es la herejía magna y es la impiedad suprema, un yerro a todas luces digno del anatema [...] (S. 169).

Die Verteidigungsstrategie Castillos offenbart das gesamte Dilemma, in dem sich Kolumbien an der Schwelle zur gesellschaftlichen Modernisierung befand. Ein latent undemokratischer Dichter, der sich selbst als katholischen Aristokraten nietzscheanischer Prägung bezeichnete, mußte gegen einen befreundeten Dichter angehen, der die politischen Ambitionen des damaligen Dichterfürsten mißbilligte. Für den Dichterfürsten Valencia konnte Castillo nur dessen Ruhm und dessen Fähigkeiten als Dichter in die Waagschale werfen sowie Präzedenzfälle aus der kolumbianischen Geschichte. Um diese schwachen Argumente auszugleichen, desavouierte er den Kritiker und den politischen Gegner gleichermaßen. Dem Kritiker Céspedes unterstellte er, die gemeinsame Sache aus Geldgier zu verraten und mit dem politischen Gegner zu kollaborieren. Dieser wiederum, Suárez, wurde als undemokratisch und als zu katholisch diffamiert. Die Unterschiede zwischen Valencia und Suárez reduziert Castillo auf diese Weise auf die Unterschiede zwischen scholastischem Katholizismus und aristokratischem Katholizismus. Erscheint schon diese politische Situation als paradox genug, so wird dies noch überboten dadurch, daß der Streit eigentlich entflammt war an der Frage nach dem Status der Lyrik als poésie pure und dem Status des Dichters als unbefleckten Sohnes der Musen in seinem Elfenbeinturm. Als die Polemik in eine zweite Runde eintrat, zeigte sich, daß Castillos Methode der Ablenkung Erfolg hatte. Céspedes12 nahm den Fehdehandschuh auf, übte kleinliche Kritik am Schreibstil Castillos und ließ sich zu persönlichen Angriffen hinreißen: En tu conducta asoma, si no el penacho, al menos La nariz de Cyrano.13 [Hablas] De Kefas (Cefas, quieres decir; tu ortografía Muestra quién es tu brújula); 12

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In dieser ersten Erwiderung änderte er das Versschema. Zwar behielt er den Alexandrinervers bei, ordnete ihn nun Jedoch in Vierzeilern an als quebrado mit dem Relmschema ABAB. Anspielung auf die bekannt große und unschöne Nase Castlllos.

Ili De la Agora (un anciano que insultas te diría Que Agora es voz esdrújula)... (S. 171.173).

Zwar versucht er, sein eigentliches Anliegen nochmals vorzutragen, doch nun tut er dies nicht mehr mit der vorher gepflegten modernistischen Sprache. Er argumentiert jetzt unter Berufung auf Autoritäten. Er wägt eine Meinung mit der anderen ab, formuliert Ergebnisse, legt diese Castillo vor und bittet ihn, Stellung zu nehmen. Dabei bleibt notwendigerweise die Übereinstimmung von Form und angestrebtem Ziel auf der Strecke. Die im ersten Beitrag mit erlesenen Worten und Wendungen mehr suggerierte als prosaisch ausgesprochene These, das höchste Gut sei die Schönheit in der Dichtung, wird nun ohne Ausschweifungen, mit nahezu alltagssprachlichem Wortschatz und politischer Rhetorik dargeboten: ¡La política a un lado! ¡Todo para las musas! Eso dije y aún digo. Tú de echar por atajos políticos me acusas. ¿Hablas soñando, amigo? ¡La política! ¡Vamos! ¿Imito yo tu ejemplo? ¡Soy aún de los otros! (S. 174)

Erst nachdem der Streit endgültig auf die Ebene persönlicher Beleidigungen abgesunken war, intervenierten die Freunde der beiden aus der Generación del Centenario. Joaquín Güell fand in seinem Aufruf zum Frieden sofort zum gemeinsamen Nenner zurück, der alle einte: die Lyrik des Modernismus: "El verso es vaso santo; poned en él tan sólo un pensamiento puro", clamó un hijo de Apolo. [...] Hermanos en el arte: cése la escaramuza: el plectro sólo brinde sus cuerdas a la Musa. [...] Vuestra estirpe es divina, vuestra cuna de seda: el albo cisne olímpico, los dos flancos de Leda (S. 189).

Das Zitat aus José Asunción Silvas Gedicht Ars führte wieder an den Beginn der Auseinandersetzung. So, als ob in den letzten 25 Jahren nichts geschehen sei, reichte allein die Nennung des olympischen Schwanes und Ledas aus, die Kontrahenten an ihre eigentliche Aufgabe zu erinnern, nämlich den Musen zu singen. Miguel Rasch Isla ließ es sich zudem nicht nehmen, in einem Sonett unter dem Titel La tregua de Dios die zweite nie in Zweifel gezogene Gemeinsamkeit anzusprechen - den christlichen Glauben. Gemäß der Bogotaner Tradition mußte die Versöhnung bei einem großen Fest auf dem Land besiegelt werden.14 Als Zeugen fungierten die übrigen Mitglieder der 14

Acht Jahre nach diesem Ereignis - aus Anlaß der Wahl von Miguel Abadía Mindez und demzufolge mit anderen Teilnehmern - fand wieder ein solches Fest statt, von dem die dichterischen Beiträge schriftlich überliefert sind (Tlsnes, 1979). Im Kontext der Im vorangehenden Kapitel besprochenen Volkslyrik Ist dabei interessant festzustellen, daß bei beiden traditionelle achtsllblge décimas zum besten gegeben wurden (bei dem Treffen 1926 ausschließlich, bei der Versöhnung 1918 nur am Rande). Auch die

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Gruppe (von der Presse Luis Cano, Eduardo Santos und Luis Eduardo Nieto Caballero sowie die Dichterkollegen José Eustasio Rivera, Joaquín Glieli, Miguel Rasch Isla u.a.), einige Politiker sowie Intellektuelle, die den centenaristas nahestanden (z.B. Max Grillo). Den Tenor der in dieser Feier deklamierten Gedichte bestimmten wieder Castillo und Céspedes selbst: ¿qué importa que nuestro íntimo pensar sea diverso? en la belleza santa se reconcilia todo (Castillo, S. 193). El duelo mismo que termina sella Nuestra unión en un solo apostolado, Que con lema distinto, hemos luchado Tú por la musa, y yo... ¡también por ella! (Céspedes, S. 194)

Noch im gleichen Jahr 1918 wurde die Polemik in Buchform veröffentlicht, "con orgullo por la literatura nacional", wie es schon der Bericht über die Versöhnungsfeier in der Zeitung El Gráfico ankündigt (S. 192). Wenn es möglich war, den so intensiv geführten Streit der beiden Dichter in so kurzer Zeit nicht nur zu schlichten, sondern sogar als neues Beispiel des Weltranges der Lyrik in Bogotá herauszuheben15, dann stellt sich die Frage, welche Funktion diese fünf langen Gedichte innerhalb des losen Zusammenschlusses von Intellektuellen hatten, die sich Generación del Centenario nannten. Eine weitere Polemik, die drei Jahre später dem Zeitungspublikum Bogotás präsentiert wurde, gibt nähere Aufschlüsse.

3.1.2. Eduardo Castillo und José Eustasio Rivera Im Januar 1921 hatte José Eustasio Rivera endlich seinen lange versprochenen Band mit Sonetten unter dem Titel Tierra de Promisión herausgegeben.16 Quasi als Belohnung dafür - seine einflußreichen Freunde von der Generación del Centenario hatten sich für ihn eingesetzt17 - durfte er den angesehenen Literaturkritiker und -historiker

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Mitglieder der Oberschicht des Landes rekurrierten also, vor allem, wenn sie sich nicht explizit als Dichter betrachteten, auf die überlieferten und gängigen Formen der dichterischen Sprache, wenn der entsprechende Anlaß eine solche gebot. Nieto Caballero (1984, S. 527) griff In seiner damaligen Würdigung den Spruch von der "Atenas Suramerlcana" wieder auf, wenn er schreibt: "Algo digno de Atenas y de nuestro idealismo". Von der Presse wurde das Ereignis gefeiert, insbesondere da diese Publikation zusammenfiel mit der des Bandes von Miguel Rasch Isla: Para leer en la tarde (vgl. die Besprechungen In Cromos, 22.1., 26.2., und 9.4.1921 sowie die von Luis Eduardo Nieto Caballero In El Espectador, Neuabdruck In: ders., 1984, S. 409-415; wesentlich kritischer dagegen J u a n Lozano y Lozano In der ersten Nummer von Universidad, Februar 1921; zu den Angaben der übrigen Rezensionen s. die Bibliographie In der Festschrift Rivera, 1988). Eine kritische Ausgabe von Tierra de Promisión gab der Jesuit Herrera Molina 1972 heraus (Neuabdruck 1988 In Riveras Obra literaria). Rivera gehörte der Generación nicht seit 1910 an, sondern stieß erst Im Verlaufe der folgenden Jahre zu der Gruppe, die sich In den Cafés und den ZeltungsredakUonen Im Zentrum von Bogotá regelmäßig traf (zu diesen tertulias, deren Haupt Luis Eduardo Nieto Caballero war, s. Castillo, 1973, S. 101-106).

113 Antonio Gómez Restrepo bei einer diplomatischen Mission zu den Feiern des Unabhängigkeitstages nach Peru begleiten.18 Am 21. September 1921, Rivera befand sich noch außer Landes, druckte Gil Blas ein zuerst von einer peruanischen Zeitschrift veröffentlichtes Interview mit dem Dichter ab19, das für erhebliche Unruhe unter den Intellektuellen Bogotás sorgte. Nach diesem Text soll Rivera in Lima behauptet - zumindest jedoch nicht energisch genug dementiert - haben, daß in Kolumbien nur wenige peruanische Dichter gelesen würden, daß die kolumbianische Gegenwartslyrik durchgehend der Tradition des Parnaß verpflichtet sei, daß Silva vor allem seines Freitodes wegen in Kolumbien verehrt würde, daß Luis Carlos López eher als Krämer denn als Dichter bekannt sei, während der konservative José Joaquín Casas unterschätzt werde, daß der anonyme Kritiker Lope de Azuero 20 zwar Valencia und Rasch Isla angegriffen, Castillo und Abel Marin sogar "pulverisiert", ihn jedoch gelobt hätte, daß Castillo drogenabhängig sei u.a.m. Als Rivera im November nach Bogotá zurückkehrte, hatte sich die Empörung über diese Aussagen schon in solch heftigen öffentlichen Attacken gegen den Dichter Bahn gebrochen, daß ein einfaches Dementi, das Interview hätte so nie stattgefunden, nicht mehr reichte, um die Gemüter zu beruhigen.21 Er geriet zwischen zwei Fronten: Von seinen Freunden aus der Gruppe der centenaristas hatte es Eduardo Castillo übernommen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und von außerhalb des Kreises hatte Manuel Antonio Bonilla eine ganze Artikelserie publiziert, die das Interview nur zum Anlaß nahm, zu einer Generalkritik von Tierra de Promisión auszuholen. Die zweite Auseinandersetzung, die nahezu ausschließlich den Gedichtband zum Inhalt hat, würde an dieser Stelle zu sehr ins Detail führen22, weshalb im Rahmen der Frage18

Rivera hatte, nach einer kurzen Zelt als Pädagoge, J u r a studiert und strebte die diplomatische Laufbahn an, für die Ihn diese Ausbildung und seine dichterische TäUgkelt prädestinierten (zur Person Rivera können noch heute die Arbelten von Neale Silva, 1960, und Charrla Tobar, 1963, als Standardwerke gelten, wobei Insbesondere Neale Silvas Biographie durch die umfassende Einbeziehung von Quellen besucht). 19 pérez Silva, 1989, S. 78-84. Zu den Hintergründen des Interviews vgl. Neale Silva, 1960, S. 184-217. 20 Seit November 1920 publizierte Lope de Azuero, den Nieto Caballero (1984, S. 4101) 1921 "un critico magistral e Incógnito" nannte, seine Meinung zu einer Reihe von Dichtem In Gtt Blas. Pérez Silva (1979) hat als Beispiel für die sich daraus entwickelnden Polemiken die Auseinandersetzung zwischen don Lope und Guillermo Valencia neu ediert, wobei er für den aus Medellin stammenden Tomás Márquez als Urheber der Artikelserle plädiert (Neale Silva, 1960, S. 178f, hält dies Jedoch für unwahrscheinlich). Im Jahre 1921 war das Inkognito allerdings noch nicht von der Öffentlichkeit enträtselt (Charrla Tobar, 1963, S. 1 lOf, behauptet hingegen. Rivera hätte gewußt, daß es sich u m Tomás Márquez handelte), und eine Theorie lautete, daß Marco Fidel Suárez selbst dahinterstehe. Vgl. zum Artikel Lope de Azueros über Rivera auch Herrera Molina, 1973, S. 12. 21 S. das Interview von El Espectador mit Rivera nach dessen Rückkehr Im November 1921, Pérez Silva, 1989, S. 90-93. 22 In den Beiträgen Bonillas - die unter den Pseudonymen Atahualpa Pizarro und Amérlco Marmol erschienen (Pérez Silva, 1989, S. 152-228 und 267-305) - Ist bereits die Handschrift des späteren Verfassers der Orientaciones Itterarlas. Lecciones de preceptiva literaria (Bonilla, 1938) spürbar. Seine großen Vorbehalte aus dem Jahre 1921 hinderten Ihn Jedoch nicht daran, 1935 einen Artikel zu veröffentlichen, der voll des Lobes für Rivera Ist (Pérez Silva, 1989, S. 337-355). Er bleibt sich aber Insofern treu, als er alle darin besprochenen Gedichte bereits 1921 als die noch am besten geschriebenen In Tierra de Promisión eingeschätzt hatte. Unter den Untersuchungen zum einzigen

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Stellung nach den Lyrikkonzepten der Gruppe nur die Polemik innerhalb der Generación del Centenario betrachtet werden kann.23 Castillo geht in seiner ersten Reaktion in verschiedenen Schritten vor. Einen Teil der (angeblichen) Aussagen Riveras entschuldigt er, denn dessen "cultura mental es una deplorable deficiencia" (S. 86). Was er nicht entschuldigen kann, ist "la intención maligna de algunas de sus frases, tendientes a empequeñecer a sus compañeros para poder destacar mejor su propia personalidad y mostrarse a sí propio como la figura más representativa de las letras colombianas actuales" (ibid.). Als Grund dafür meint er, das übermäßige Lob ausmachen zu können, das die Öffentlichkeit Tierra de Promisión gespendet hatte. Darin gäbe es zwar einige gelungene Sonette, doch im Prinzip beschränke sich Rivera auf das bloße Handwerk: "Para el señor Rivera, la versificación es una especie de juego de puzzle. Sólo que en vez de menudas piezas de cartón se sirve de un léxico opulento y pleno de colorido. De esa manera ha llegado, en sus producciones, no pocas veces, a una rara perfección estructural. [...] Por mi parte prefiero, lo que Arturo Rimbaud llamaba un vers délicieusement faux exprés a las impecables producciones de los parnasianos. La estrofa, tal como hoy nos agrada, debe tener la ligereza sutil de algo que se mueve, que se agita, que vive, que no está cerrado en una concreción definitiva, para que así el lector pueda agregarle algo de su parte, colaborar en ella" (S. 87).24 Statt nun nochmals zu sagen, das ganze Interview in Lima wäre falsch wiedergegeben worden, und die Streitpunkte zu klären, ging Rivera Ende November seinerseits in die Offensive. Nicht die Einzelheiten interessierten ihn bei seiner Antwort, er rechnete mit dem Literaturleben Bogotás insgesamt ab: "Todavía creemos en nuestra condición sobrenatural de poetas y artistas, y convencidos de que, literariamente, somos ciudadanos principalísimos de la Atenas Suramericana, la de Caro, Cuervo, Isaacs, Fallón, Pombo, se nos ocurre pensar que, desaparecidos ellos, hemos surgido para reemplazarlos, sin que el cambio le menoscabe a Bogotá la soberanía mental de otros tiempos" (S. 95f). Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, legte er auch gleich den Finger auf das System, das dieses gesteigerte Selbstwertgefühl perpetuierte: "[...] tú me aplaudes para que yo te glorifique; aquél me admira para que lo ensalce; éste me pondera para que lo endiose, y de esta suerte aislados de la

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Gedichtband Riveras sind besonders hervorzuheben: Münk Benton, 1954; Herrera Molina, 1972 und 1973; Benso/Gennero, 1972; Anington, 1981 (zu den weiteren Arbelten über Rivera vgl. die bereits aufgeführte Bibliographie In der Festschrift Rivera, 1988). Pérez Silva, 1989, S. 84-150; alle folgenden Zitate aus der Polemik werden Im Text selbst belegt. Neben Rimbaud stützt er sich dabei auch auf Verlaine als Vertreter der modernen Lyrik.

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realidad, en el ocio poético, inventamos una especie de beatitud lírica y vivimos en ella orondos, despreciativos, inmortales" (S. 96). Castillo sei einer derer, die in den Zeitungen und Zeitschriften so vorgingen, ein "gerente de la celebridad" (S. 98). Er selbst hätte sich nie als der erste Dichter des Landes ausgegeben, er sei sich bewußt, daß er erst am Anfang stehe; er habe nur ein Buch herausgegeben, was die Kritik daraus mache, dafür könne er nichts. Beide Autoren haben hier im Eifer des Gefechtes einen Bruch mit der Tradition beschrieben, den sie in einer wohlüberlegten öffentlichen Rede wohl nicht so ungeschützt zugestanden hätten. Beide räumen ein, daß die Literatur der Zeit am Ende einer Epoche stehe und daß es notwendig sei, über die augenblickliche Verfassung der Lyrik nachzudenken. Castillo plädiert dabei für eine postparnassische Lyrik, in der nicht mehr die Perfektion des Verses das oberste Kriterium darstelle; Rivera dagegen greift das Umfeld des Literaturmarktes an, der sich noch immer der Illusion hingebe, in den guten alten Zeiten zu leben, in denen sich Bogotá das Diktum von der Atenas Suramericana verdient hätte. Ein Umdenken und eine Modernisierung in der Lyrik wollen also beide, doch sie merken dabei nicht, daß die Rezepte, die sie andeuten, ebenfalls schon vergangenen Zeiten angehören. Castillos Rückgriff auf Rimbaud oder Verlaine mag in der kolumbianischen Situation, da Valencias Ästhetik des Perfektionismus in der Form die Szene bestimmte, revolutionär gewesen sein25, doch im Prinzip geht er damit nicht über Silva, Darío und andere Repräsentanten des Modernismus hinaus. Rivera, dessen Abhängigkeit von Santos Chocano alle Kritiker heraushoben, grenzt sich und das Bogotá seiner Zeit von den großen Namen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ab, ohne Alternativen anzubieten. Wenn er einmal konkret wird, dann führt diese Spur direkt wieder zur Auseinandersetzung des Jahres 1918 zurück: "[...] tanto me place escribir una estrofa como trepar una línea en la escala de los hombres que quieren ser útiles a la sociedad y a la patria, mediante el trabajo y la corrección cívica. Ni paraísos artificiales, ni halagos del mundo bohemio, ni éxitos en las veladas, ni laureles implorados figuran en mi carrera" (S. 99). Ebenso wie die Polemik zwischen Castillo und Céspedes, so artete auch die zwischen Castillo und Rivera im Laufe der Zeit zu einem Austausch von Beleidigungen, persönlichen Anwürfen und kleinlichen Streitereien aus. Von Riveras Haltung in Peru, seinen diplomatischen Ambitionen und den Kritiken Lope de Azueros verlagerte sich die Diskussion immer stärker hin zu der Frage, wer von den beiden bewanderter in französischer Literaturgeschichte sowie französischer und spanischer Verslehre sei, 25

Die Tatsache, daß Castillo das große Vorbild Valencia sein Leben lang verteidigte, unterstreicht, daß er sich In der polemischen Auseinandersetzung zu Aussagen verstieg, die er in dieser Radikalität sonst nicht vertrat (vgl. dazu die Würdigung der poetischen Werke des Meisters, Castillo, 1965, S. 47-50; sowie die Erzählungen über seine Zusammenarbeit mit Ihm. Castillo, 1973, S. 129-219).

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auf wen der Vorwurf des Plagiats zutreffe, wer wann welchen Literaturpreis gewann oder ablehnte etc. Beinahe kindisch wirkt es heute, wenn in den letzten Beiträgen das Problem in den Mittelpunkt rückte, ob der häufige Gebrauch der Synärese in Tierra de Promisión legitim sei oder nicht. Doch obwohl sie dabei unterschiedliche Positionen bezogen, begaben sie sich mit solchen Debatten wieder auf festen Boden und fanden einen gemeinsamen Nenner, der zu Beginn verlorenzugehen drohte. Wenn Rivera den Literaturbetrieb hinterfragte und Castillo die Lyrik des Parnaß, dann stellten sie wechselseitig das Lebenswerk des anderen zur Disposition und gleichzeitig die gemeinsamen Traditionen. Dies durfte, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht geschehen: Der Konflikt wurde seiner eigentlichen Sprengkraft beraubt und auf dem Niveau einer Debatte über preceptiva literaria angesiedelt. Gruppenintern konnte auf diese Weise ein Streit ausgetragen werden, ohne Gefahr zu laufen, an Tabus zu rühren. Denn wäre die Polemik auf der einmal begonnenen Ebene weitergeführt worden, dann wäre nach außen hin das Bild der Generación del Centenario als innerhalb eines selbstgesetzen Rahmens einheitliche und nach Einheit strebende politische und literarische Richtung zerbrochen. Für die Lyrik hätten die Ansätze von Rivera und Castillo bedeutet, daß der Weg geebnet worden wäre für Dichter, die nicht mehr nach vorgegebenen Mustern schreiben wollten, und die sich von dem Zwang befreien wollten, in die Literaturszene Bogotás integriert zu werden.26 Diese Thesen stellen eine sehr weitgehende Interpretation der besprochenen Auseinandersetzungen dar. Deshalb soll versucht werden, diese in den weiteren Kontext des literarischen Umfelds einzubetten. Es wird ersichtlich werden, daß die Polemiken in der Tat eine integrative Funktion innerhalb der Generación del Centenario erfüllten.

3.1.3. Das poetologische Credo der Generación del Centenario Beinahe 30 Jahre nach diesen Ereignissen beschrieb Miguel Rasch Isla die Uterarischen Diskussionen im Kreis der Intellektuellen, dem er sich zugehörig fühlte: "Me atrevo a asegurar que no hubo antes, ni ha habido después, en Colombia, otro núcleo de poetas, que, como el nuestro, tuviera más orgulloso preocupación y empeño en realizar una obra de escrupulosa y severa belleza. Nuestra preocupación por la gallardía de la forma, la claridad de la expresión, la nítida emisión de la idea o del sentimiento, la musicalidad y fluidez del verso y hasta por las simples reglas de la gramática, llegaba a extremos casi maniá26

Zu einer zeremoniell umrahmten Versöhnung kam es zwischen Castillo und Rivera nicht, denn die Polemik wurde nicht auf Intervention der anderen Mitglieder der Gruppe abgebrochen, sondern endete, als Rivera wegen des Todes seines Vaters nach Hause gerufen wurde.

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ticos. Era común, por lo tanto, que un adjetivo, una rima, una sinéresis, un acento rítmico o una palabra poco castiza, diera pie a largas discusiones que, a la postre, nos servían a todos para poner en claro puntos dudosos relacionados con la creación artística, y al autor, cuando menos, para introducir, en su trabajo, alguna provechosa modificación."27 Ungeachtet der Frage, was Generation oder Gruppe im einzelnen bedeuten mag und wie angemessen die Begriffe sind, war den Intellektuellen dieser Bewegung doch eines gemeinsam. Sie hatten in ihrer Jugend innerhalb von zehn Jahren drei traumatische Ereignisse der kolumbianischen Geschichte erlebt: den Krieg der Tausend Tage, die Abtrennung Panamas und die Diktatur von Rafael Reyes. Als sie seit 1910 die öffentliche Bühne betraten, fühlten sie sich deshalb, so unterschiedlich sie auch einzelne Akzentuierungen vornahmen, in den politischen Grundüberzeugungen einig: Der Gegensatz zwischen Liberalen und Konservativen darf nie wieder zum Krieg führen und die Integration des Landes als Nation muß vorangetrieben werden. Diese Konstanten führten zu einem umfassenden und von (nahezu) allen akzeptierten gesellschaftlichen Diskurs, den Jorge Zalamea, einer der schärfsten Kritiker der Generation, aus der Rückschau des Jahres 1933 so beschreibt: "No hubo entonces sentimiento que no se simulara y exhibiera: patriotismo, amor, desinterés, culto de la belleza, humanitarismo, pacifismo, adhesión a la cultura y a la ciencia, cuanto engrandece a los hombres pareció descender en formas de fuego sobre los espíritus, pero no para aposentarse en ellos y manifestarse en obras de realidad, sino para exhibirse en discursos, manifiestos, versos y artículos que eran como certificados de nobleza que se expidieran a sí mismos los directamente interesados. Y se dio entonces el espectáculo intolerable de una república a la que precipitaba por la ladera contraria a la cima de su destino una clase directora que, al decir de sus corifeos, era la más patriótica, pura, cultivada y desinteresada de cuantas hasta entonces pariera la Nación."28 Auch Rivera hatte in seiner ersten Erwiderung auf Castillo dieses große Schauspiel der Heuchelei angegriffen, das insbesondere den Lyrikmarkt durchdrungen hatte. Potemkinsche Dörfer aus Lobeshymnen, positiven Rezensionen und dem Filz der Zeitungsredaktionen waren für ihn dort aufgebaut worden, wo konkrete Beispiele für die aktuelle Bedeutung der Lyrik in Bogotá fehlten. Am Leben erhalten wurde dies alles durch die Integration von Dichtern und ihren Werken, die eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den von Zalamea herausgearbeiteten Zielen der Bewegung zumindest nicht öffentlich negierten. Auf diese Weise bildete sich im Laufe der Zeit 27

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Miguel Rasch Isla: "Quien file don Lope de Azuero?", In: Et Espectador Dominical 12.12.1948, zitiert nach: Neale Silva, 1960, S. 163. "De Jorge Zalamea a la Juventud colombiana", zitiert nach: Zalamea, 1978, S. 19-56, hier S. 23f.

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ein Kanon heraus, über den an prominenter Stelle in den Zeitungsredaktionen Eduardo Castillo wachte. Eine genauere Bestimmung dieses Kanons bereitet nun, wie bereits die statistische Auswertung der Anzahl von Publikationen andeutete, einige Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu den Schulbuchautoren legten die Zeitungen eben keinen zu erfüllenden Kriterienkatalog vor, denn dies hätte dem obersten Ziel der Integration widersprochen. Als deutlichstes Zeichen dafür kann gewertet werden, daß die heftigen Angriffe Castillos gegen Céspedes und Rivera nicht aus ihrem poetischen Schaffen resultierten; das kleinliche Silbenzählen begann erst sekundär im Verlaufe der Polemik selbst mit der Absicht, die Gegner wieder innerhalb des herrschenden Diskurses anzusiedeln. Auch Castillos Rezensionen bieten keine direkten Anhaltspunkte. Sie können es auch gar nicht, wenn die These von seiner prinzipiell integrativ ausgerichteten Literaturauffassung zutrifft. Noch bei der Auseinandersetzung mit León de Greiff ist der Versuch spürbar, ihn für das System zu retten. Ein Artikel über Tergiversaciones beginnt so mit dem überflüssigsten aller Sätze in Buchbesprechungen und endet mit einer Wertung, die vor allem Castillos eigenem Anspruch an Lyrik entspricht: "No resulta fácil bordar un comentario critico en torno de Tergiversaciones [...]. Sólo podrán gustar de él los lectores para quienes el arte es un rito eleusino, únicamente accesible a una exigua minoría de iniciados."29 Zwischen diesen im Prinzip inhaltslosen Aussagen sucht er nach Schulen und Autoren, denen er die ungewohnten Gedichte zuordnen könnte. Dies nun, die Intention, Schulen und lyrische Strömungen als Vorbilder heranzuziehen, stellt in der Tat die einzige Möglichkeit dar, den lyrischen Kanon der Generación del Centenario einigermaßen zu fassen. Die kolumbianische Tradition bot dafür eine nur eingeschränkte Auswahl. Ende 1926, mehr als ein Jahr nach dem Erscheinen von Los Nuevos, publizierte Cromos vier Gedichte des ansonsten eher unbekannten Gonzalo Restrepo Jaramillo unter dem Titel: Escuelas literarias. Zwar fehlt der bestimmte Artikel, doch es liegt nahe, bei der Lektüre der Sonette30 an die vier einzig existierenden literarischen Schulen zu denken: Clásica Ama el idilio pastoral, la clara voz de la fuente y el canoro trino, y culto rinde al cántico divino del majestuoso exámetro en el ara. [...] 29

"León de Grelfl", ln: Castillo, 1965, S. 121-125, Zitat S. 121 und 125. Diese Kritik erschien am 7.2.1925 In Cromos; sechs Tage vorher hatte er ln EI Tiempo. Lecturas Dominicales ln einer anderen Besprechung zu diesem Buch die Leser aufgerufen, verständnisvoll zu sein, auch wenn die Gedichte "han ofendido vuestros prejuicios literarios, herido, con sus caprichos fonéticos, las rutinas de vuestro oído." Auch die Form des Sonettes gehört ln den Gesamtzusammenhang des Kanons. Nicht umsonst prägte das Sonett die von der Kritik 1921 gefeierten Erstlingswerke von Rivera und Rasch Isla.

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y cifra son de su ideal querido la blanda musa del feliz Horacio y las soberbias cláusulas de Homero.

Parnasiana Y, frisos milenarios que vencerán edades, luciendo como un faro sobre las tempestades, serenamente se alzan los mármoles de Heredia. Romántica Rompió los viejos moldes su férvida locura y al cielo alzó los giros de su volar potente, [...] Y floración potente de su incansable jugo nutrió el laurel eterno del fuerte Víctor Hugo y los claveles moros de don José Zorrilla. Modernista [...] y entre insidiosos cantos de sirenas, hacia el altar de la futura Atenas nadan los cisnes de Rubén Darío. 3 1

Diese Alternativen standen den jungen Autoren der 20er Jahre und denen des Centenario zu Verfügung. In Kolumbien waren sie vertreten durch Miguel Antonio Caro (Klassizismus), Guillermo Valencia (Parnaß und Modernismus) sowie José Eusebio Caro, Rafael Pombo und Julio Flórez (Romantik). Der von Eduardo Castillo immer wieder herausgehobene französische Symbolismus muß, auch ohne einheimische Leitfigur, hinzugerechnet werden, doch damit erschöpfte sich das Repertoire. Mit diesen Vorlagen32 konnten die Dichter spielen, sie wechselweise austauschen und eigene Akzente setzen. Bedenkt man die Gedichte, die sie in den Schulen und insbesondere im Colegio del Rosario lesen mußten, dann kann man davon ausgehen, daß für viele der Modernismus, Verlaine oder Rimbaud eine Befreiung und Neuentdeckung darstellten, die sie sich zunächst einmal aneigneten.33 Wenn sie die "neuen" 31

Cromos, 20.11.1926. 32 Eme ähnliche Vorbildfunktion erfüllte die Sammlung von 14 Sonetten (Las capitales de Colombia, In: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 18.1.1925), die Jeweils eine Provinzhauptstadt besangen. Eine genaue Analyse der Texte würde graduelle Unterschiede zwischen den Dichtern M.A. Carvajal, Torres Duran, Herrera, Mesa Ortlz, Gutiérrez Calderón, M. Carvajal, Moreno Garzón, Pérez Amaya, Velásquez, Glraldo, de Castro, Bonilla, Rivera, Maya zutage fördern, doch dies beanspruchte Et Tiempo nicht Hier sollte die Zusammengehörigkeit des ganzen Landes seinen Ausdruck finden durch die gemeinsame Form des Sonettes und durch einen poetischen Konsens, der deutlichen Vorrang vor dem Je persönlichen Stil eines Autors hatte. Dabei war es dann lrTelevant, daß José Eustasio Rivera und Manuel A. Bonilla nebeneinanderstanden, die noch drei Jahre zuvor erbitterte Polemiken ausgetragen hatten, oder daß mit Rafael Maya ein Vertreter von Los Nuevos seine Heimatstadt Popayán besang, solange er es In einem zumindest ähnlichen Tonfall tat wie die anderen: "Ciudad materna, valle gentil, Edén de amores:/ en ti, como en u n cuento, mujeres encantadas/ perfuman desde el «-a»? celoso de las flores". Diese Erfahrung machte auch Luis Vidales, der selbst mit seinen modernistischen Erstlingswerken Im Colegio del Rosarlo Anstoß erregte (Vidales, 1986, S. 21).

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Einflüsse umgesetzt und einige Gedichte verfaßt hatten, brauchten sie nur noch in die Redaktionen der Zeitschriften und Zeitungen zu gehen oder in eines der Künstlerlokale34, und mit ein wenig Glück wurde ihr Werk abgedruckt. Das übrige: eine lobende Erwähnung, ein kurzer Vorspann vor dem Gedicht, eine ganze Seite in Cromos oder in einer der großen Zeitungen, das Vorwort im Buch, die Rezensionen etc., wurde dann von denen erledigt, die Zalamea despektierlich "corifeos" nannte.35 Die Presselandschaft und die Bereitschaft der Generación del Centenario, die die Presse beherrschte, alle zu integrieren, die sich zur Dichtung berufen fühlten, hatte natürlich den kontraproduktiven Effekt, daß sich in grundsätzlichen Fragen kaum noch Reibungspunkte und Anstöße zu Neuerungen ergaben. Wären sie aus dem allgemeingültigen Kanon ausgeschert, hätten die Autoren riskiert, den bereits erworbenen Ruhm wieder zu verlieren. Zusätzlich wurde die diffuse und eher rückwärtsgerichtete Literaturauffassung gestützt durch das große Projekt der Befriedung und Integration des Landes, dem sich keiner entziehen konnte und wollte. Bei aller Betonung der Autonomie der Kunst und des Abstandes, der zwischen Lyrik und Politik besteht, waren die persönlichen Beziehungen zwischen Politikern, Journalisten und Dichtern der Generation so groß, daß sie sich, auf dem je eigenen Feld, gemeinsam dieser nationalen Aufgabe verpflichtet fühlten. Die Dichtung, die diesem Patriotismus entsprach - ohne dabei in die schwülstig-patriotische Lyrik der Schulbücher zurückzufallen -, war dieser spätromantisch-postmodernistisch-ästhetizistische Kanon. Mit ihm sollte das einheitsstiftende Symbol aus der Vorkriegszeit weitergegeben werden: Bogotá, die Atenas Suramericana. Die gesellschaftliche Funktion der Lyrik beschreibt Castillo in einem Vortrag im Jahre 1918 über "La poesía y los poetas jóvenes de Colombia"36 ziemlich genau. Er stellt sich die konkrete Frage, wie zeitgemäß die Dichtung für ein Land sei, das sich auf dem Weg der Modernisierung befindet. Damit reagierte er auf den immer lauter werdenden Vorwurf, "de que el país está lleno de poetas, de parásitos que consumen sin producir, de cigarras inútiles que, en la república de hormigas laboriosas, no se ocupan sino en cantar, confiadas en que hay quien trabaje por y para ellos" (S. 101). Er hielt dagegen, daß - wenn die Qualität der Dichtung gewahrt bliebe - die Dichter wichtige Aufgaben zu erfüllen hätten:

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Anschaulich beschreibt J u a n Cristóbal Martínez (1924) das literarische Umfeld und seine Aufnahme In die einflußreichen Kreise, s. besonders S. 129ff und 171ff; auch Castillo begann häufig die Präsentation neuer Dichter, Indem er erzählte, wie er sie kennenlernte: s. u.a. Castillo, 1965, S. 113, und vor allem 1973, seine "Evocaciones y recuerdos de la vida literaria" a u s der Beilage von El Espectador (1926/27). Roberto Llévano und Carlos López Narváez weisen nicht zu Unrecht darauf hin, daß eine Gesamtausgabe der Werke Eduardo Castillos nahezu unmöglich erscheint Sie schätzen seine verstreuten Schriften allelne In Prosa auf über 500 Artikel, ohne Übersetzungen (Castillo, 1965, S. 7f). Dabei war Castillo nur eine der Koiyphäen, neben Luis Eduardo Nieto Caballero, Armando Solano und anderen. Castillo, 1965, S. 99-108. Angesichts der Härte der Polemik mit Céspedes überrascht es ein wenig, daß er In den einleitenden Sätzen Lob für dessen Sprache findet (S. 99).

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"Ellos son la sal de la tierra; ellos cantan por todos los que son mudos y se ciernen sobre el polvo mundanal en las alas de su inspiración por todos los que pegados a ese polvo, sienten la noble necesidad del vuelo; [...] penetran con ojos clarividentes las sombras del futuro, sorprenden los secretos más profundos de la naturaleza y a veces, en la conquista de las verdades científicas, su portentosa intuición ha tenido mayor eficiencia que los métodos pacientes y la minuciosa experimentación de los sabios" (S. 102). Dabei deutet er die mögliche Funktion des Dichters als Staatsmann nur an und wird erst wieder konkret, wenn er der Lyrik die Aufgaben zuschreibt, das kulturelle und moralische Niveau des ganzen Volkes zu heben und die Traditionen des Landes weiterzutragen (S. 104). Für ihn sind die Thesen einiger "pensadores modernos" (S. 106) unsinnig, die der Poesie voraussagen, daß sie in der Zukunft untergehen würde zugunsten der Prosa, die den "infinitas complejidades del pensamiento moderno" (ibid.) angemessener sei. Sein Argument: Die Lyrik "responde a una íntima tendencia de la naturaleza humana" (ibid.) durch ihre innere Verfassung, die sich in Reim, Rhythmus, Metrum und Vers ausdrücke. Diese Thesen, verfaßt, als sich der umfassende, gesamtgesellschaftlich wirksame Modernisierungsschub erst langsam abzeichnete, belegen das Bestreben der Intellektuellen, nicht auf der Schwelle einer unreflektierten Ablehnung der Modernisierung stehenzubleiben. Sie versuchten, noch in der Apologie der gewohnten Art, Gedichte zu schreiben, traditionelle Argumente (Moral, kulturelles Niveau, Tradition) und moderne Ansätze (wissenschaftlicher Fortschritt, soziale Verantwortung) zu integrieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Funktion der Polemiken unter den Dichtern der Generación del Centenario noch einmal neu. Knapp zehn Jahre nach seinem Streit mit Céspedes äußerte sich Castillo schriftlich zu den damaligen Ereignissen.37 Angezogen von der Schönheit und der Perfektion der Verse und entrüstet über den Angriff auf Valencia, die lebende Verkörperung der literarischen Tradition, identifizierte die Gruppe aus dem Café Windsor den Autor. Die Gegenmaßnahmen scheinen aber von Castillo alleine ausgegangen zu sein. Es klingt nämlich wie eine nachträgliche Rechtfertigung seines Handelns, wenn er die Frage diskutiert, ob seine Reaktion nicht erst alles hochgespielt hätte - und dies dann verneint mit dem Hinweis auf die außerordentliche Qualität des Gedichtes von Céspedes, das auf jeden Fall das Interesse der Öffentlichkeit geweckt hätte. Differenzen im Hinblick auf die Poetik spielten in der Polemik also von Anfang an keine Rolle, sondern nur die Tatsache, daß Céspedes die Öffentlichkeit angesprochen hatte. Dessen Anliegen nennt Castillo vieldeutig "causa", während er selbst für "el más grande y admirado de nuestros poetas" gekämpft hätte (S. 109). Selbst so lange Zeit danach behält er die damalige Taktik bei: Er unterläuft und verdunkelt den eigentlichen Streitpunkt des Gegners und unterstellt ihm eine Handlung, nämlich Kritik am 37

Castillo, 1973, S. 101-112.

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Lyriker Valencia, von der er sicher sein kann, daß sie auf allgemeine Ablehnung stößt. Der Grund dafür kann nur darin liegen, daß er der Ansicht war, Céspedes hätte ein oder mehrere Tabus berührt. Für ihn persönlich war natürlich Valencia als Dichter und Politiker ein solches jeglicher Kritik entzogenes Tabu, doch dies reicht wohl nicht aus, die Polemik zu erklären. Castillo verteidigte gegen Céspedes nicht nur den Autor von Ritos sondern auch die Generación del Centenario und ihre spezifische Konstitution. Eines ihrer konstitutiven Elemente war, sich nicht festzulegen und keine wirklich unterscheidenden Kriterien anzuwenden. Auf den Fall Céspedes angewendet: Die politische Tradition des Landes hatte viele Dichterpräsidenten hervorgebracht, diese Karriere war damit positiv sanktioniert; andere Richtungen, wie die des politisch enthaltsamen Literaten, des Bohemien, des armen Poeten, der sein Geld als Journalist verdient, des Dichters im Elfenbeinturm, der poésie pure etc. mußten jedoch im Sinne der allumfassenden Integration ebenfalls akzeptiert werden, denn auch für sie gab es Präzedenzfälle. Für die Generación del Centenario waren diese ihr inhärenten Widersprüche kein Problem, solange kein Dichter sich einer politischen Wahl stellte. Falls dies aber geschah, durften die unterschiedlichen Auffassungen nicht thematisiert werden, zumindest nicht öffentlich. Céspedes' Vorstoß wurde ein Problem, weil er interne Angelegenheiten nach außen trug, sich einseitig festlegte und damit die Krise erst auslöste. Das von Castillo gewählte Wort "causa" mit seinen forensischen Implikationen kommt damit dem Eigentlichen sehr nahe. Nur weigerte er sich, den nun notwendig gewordenen klärenden Diskurs zu führen. Er zog Céspedes in den langen Auseinandersetzungen wieder in ungefährlichere Gewässer und der Öffentlichkeit präsentierte man anschließend eine Versöhnungsfeier sowie einen Gedichtband. Wie dies möglich war, warum Céspedes sich der Gruppendisziplin wieder unterwarf und keine eigenen Wege beschritt, auch das verrät Castillo, wohl ohne es zu wollen: "el joven vate no había recibido hasta entonces sino agasajos y caricias. Poeta mimado por nuestra sociedad elegante, había sido hasta ese instante el cantor niño a quien todo el mundo adula y lisonjea" (S. 109). Er dagegen, Castillo, hätte "ya la epidermis curtida" (ibid.) durch die vielen Schläge, die ihm zugefügt worden waren. Aufgrund seiner Erfahrung in öffentlichen und internen Auseinandersetzungen fühlte er sich berufen, dem jungen Kollegen zu zeigen, wie weit er gehen durfte und wann die Toleranzgrenze erreicht wäre. Céspedes mußte sich fügen, denn es gab für ihn in Bogotá keine Alternativen, wollte er auch weiterhin Erfolge als Dichter feiern. Der erfahrene Kritiker - der jugendliche Dichter: In dieses Verhältnis versuchte Castillo, in der Polemik auch seine Beziehung zu José Eustasio Rivera zu bringen. Er erreichte damit zweierlei: Zum einen legitimierte er seinen Anspruch, die angeblichen oder tatsächlichen Verfehlungen des Gegners verurteilen zu können, und zum anderen zeigte er einen Weg auf, diese Fehler zu entschuldigen: als jugendliche Entglei-

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sungen nämlich. Die Verfehlungen Riveras lagen für Castillo auf der gleichen Ebene wie die von Céspedes. Er hatte es in Peru nicht geschafft, das selbstgeschaffene Bild der Generación del Centenario - überspitzt ausgedrückt: ihre Lebenslüge - als der würdigen Tradentin des alten Glanzes der Kulturhauptstadt Bogotá zu vermitteln. Mehr noch: Verschuldet oder nicht, hatte er es zugelassen, daß die Brüche in diesem Bild im Ausland und in der kolumbianischen Öffentlichkeit sichtbar wurden. Konkret warf er ihm vor, sich nicht an die bewährte Methode gehalten zu haben, mit der der Schein gewahrt werden konnte. Diese Methode, die er selbst perfekt beherrschte, bestand darin, alle kolumbianischen Dichter grundsätzlich zu feiern, ihre Werke zu preisen und gleichzeitig sich selbst zurückzunehmen. Negativurteile waren zwar erlaubt, aber nur im Detail und wenn nach außen hin sichergestellt war, daß der Autor oder das Gedicht innerhalb des Kanons einen Platz hatte. In einem seiner Beiträge zu Rivera praktizierte Castillo genau diese Vorgehensweise.38 In Bogotá waren Gerüchte aufgetaucht, daß Rivera und Rasch Isla in die Akademie berufen werden sollten. Castillo befand sich nun in einem Dilemma. Die Generación del Centenario hielt nicht viel von Akademien und um dies auszudrücken, beruft er sich zu Beginn auf den Maitre Renard, Armando Solano, der diese Institution ein "asilo obligado de la mediocridad ilustre y de la senilidad impotente" genannt hatte. Gleichzeitig war die Versuchung zu groß, auch dort mit zwei Mitgliedern der eigenen Gruppe Einfluß zu gewinnen, als daß er die Chance dazu ungenutzt verstreichen lassen wollte. Castillo ändert also die Blickrichtung und gratuliert der Akademie zu ihrer (möglichen) Wahl und zu ihrer Orientierung hin auf neue Perspektiven. Erst dann stimmt er das obligate Loblied auf die beiden Dichter an: "han creado su obra dentro de las más severas normas clásicas y ambos sobresalen, entre los portaliras de su generación, por la pulcritud y el exquisito aliño de la forma". Mit dieser Aussage hatte er sie sowohl in den Normenkanon der eigenen Literaturauffassung integriert, als auch den Ansprüchen der Akademie Genüge getan, denn diese "repugna hondamente al espíritu juvenil". In dieses Umfeld der Harmonie und der Übereinstimmung kann er nun seine Kritik einbringen. Für ihn selbst seien beide Autoren zu wenig innovatorisch und hingen zu sehr den überkommenen Modellen an. Um jedoch wirklich Neuerungen in der Lyrik vollbringen zu können - wie Dario dies getan hätte -, bräuchte ein Dichter Talent und Genie. Da geniale Anlagen aber selten seien, hätten Rivera und Rasch Isla gut daran getan, sich an "las normas eternas" zu halten und an "las leyes que nos han dejado los legisladores del Parnaso". Damit hatte er sein Ziel erreicht: Interne Konflikte der Generación waren als solche deutlich gekennzeichnet worden. Die Öffentlichkeit mußte den Eindruck haben, der Streit um eine Mitgliedschaft in der Akade-

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"Los nuevos Inmortales" (über Rivera und Rasch Isla), In: Cromos, 28.3.1925. Der Titel des Artikels bezieht sich übrigens nicht auf die Zeitschrift Los Nuevos, die erst einige Monate später erschien.

124 mie und Meinungsverschiedenheiten um Lyrikauffassungen39 seien sekundär angesichts der allgemeinen Übereinstimmung in den gemeinsamen lyrischen Grundlagen. Die nationale Integration war für die Generación del Centenario das oberste Gebot, ob in der Politik, in der Wirtschaft oder der Kultur. Sie strebte dezidiert eine umfassende Modernisierung an, doch gleichzeitig war ihr Harmoniebedürfnis so groß, daß sie Modernisierung nur als die Verbindung von Altem und Neuem denken konnte. Gerade die in den vorgestellten Polemiken ausgetragenen Konflikte innerhalb der Gruppe der Lyriker des Centenario spiegeln die Suche nach einem Konsens wider: die Suche nach einem Weg zwischen der notwendigen Modernisierung und der Ablehnung einer radikalen Modernisierung.

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Wenn Castillo In dem Artikel von seiner Präferenz für Dichter spricht, die überkommene Normen sprengen, dann war keineswegs eine Vorliebe für Avantgardedichtung oder auch n u r Tendenzen in diese Richtung gemeint Er kritisierte damit lediglich ein weiteres Mal die Tendenz, Jedes formal perfekt gebaute Gedicht bereits als herausragende Leistung zu bewerten.

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3.2. Alternativen zum herrschenden Konsens1 Die Alternativen zur Vorgehensweise und den Konzepten der Generación del Centenario entwickelten sich in Kolumbien schon lange vor den 20er Jahren in der Provinz und mündeten schließlich im Jahre 1925 mit der Gründung der Zeitschrift Los Nuevos in Bogotá in eine direkte Konfrontation. "Provinz" ist in diesem Zusammenhang eigentlich eine zu abwertende Bezeichnung, denn de facto handelte es sich dabei um die wirtschaftlichen Zentren Medellin und Barranquilla, in denen 1915 Panida und 1917-1920 Voces für erhebliches Aufsehen im Publikationsmarkt sorgten. Diese drei Zeitschriften mit den sie tragenden Gruppen von Intellektuellen stehen in Kolumbien für den Versuch, der Modernisierung literarischen Ausdruck zu verleihen.2

3.2.1. Panida Will man Eduardo Castillo Glauben schenken, dann wirkten die zehn Ausgaben der Zeitschrift auf das aufstrebende Industriebürgertum Medellins im Jahre 1915 wahrhaft revolutionär: "Los buenos burgueses de Medellin fruncen todavía el entrecejo y se estremecen de santa indignación cuando algún mal intencionado les recuerda los juveniles desplantes y las amables locuras de los trece Panidas. [...] trece nefelibatas - como hubiera dicho Darío - locos de azul, de ensueño y de harmonía, paradójicos, petulantes, románticos, melenudos y aficionados, como Alcibíades, a cortarle la cola a su perro para 'epater les bourgeois'."3 "Konsens" bezieht sich natürlich n u r auf die von der Generación del Centenario beherrschten Medien: ausgesprochen konservative Blätter, Schulbücher und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - der gesamte Komplex der Volkslyrik und der populären Lyrik (Julio Flórez), die ja ebenfalls Alternativen darstellten, sind dabei explizit ausgeklammert. Die hier erfolgte vorläufige Engführung auf literarische Modernisierung bedeutet keineswegs, daß insbesondere bei Los Nuevos - die politischen Implikationen außer acht gelassen werden. "El libro de León de Grelfl", in: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 1.2.1925. Als bisher einzige Zeltschrift dieser Zeit erfuhr Panida eine vollständige Neuauflage in Faksimiledruck (Herausgegeben von Colcul tura, o.J.). In der Sekundärliteratur schlug sich diese Wertschätzung bislang nicht nieder. Panida taucht zumeist im Zusammenhang mit Arbelten zu Los JVuems oder zu einzelnen Mitgliedern der Gruppe (León de Grelff, Fernando González, Ricardo Rendón) auf. Als Beispiele seien hier angeführt: Caparroso, 1960, S. 125; Bronx, 1975, S. 37; Roca Lemus, 1976, S. 96; Mejla Duque, 1976a, S. 19f; Arango Ferrer, 1978, S. 280; Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 488; Charly Lara. 1984, S. 637; Henao Hldrón, 1988, S. 46, u.v.a.m. Stereotyp wird die Zeitschrift mit zwei oder drei Sätzen als wichtiges Ereignis herausgestellt, doch eine eingehende Untersuchung steht noch aus (selbst bel Romero, 1985, 36-38, der Panida zumindest eine Zwischenüberschrift einräumt, umfassen die Aussagen zur Zeitschrift selbst nur einen Absatz sowie eine Literaturangabe; etwas ausfuhrlicher ist dagegen mit einer Seite Escobar Calle, 1990, S. 4, sowie die Einführung in die Neuauflage von J u a n Luis Mejla A.; bezeichnend für den ambivalenten Umgang mit Partida sind auch die Zeitschriftenbibliographien: Bei Carter, 1968, S. 76f, taucht sie gar nicht auf und Engleklrk, 1961, S. 52, kann sie nicht eingesehen haben, denn er führt als Autor u.a. Luis Vidales auf, der 1915 gerade elf Jahre alt war.

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Es klingt in diesem Zitat sehr viel Sympathie für die jungen Autoren an, die damals in der Hauptstadt Antioquias als Bürgerschreck aufgetreten waren. Sie waren nicht die genialen Erfinder einer frühen und eigenständigen Avantgarderichtung, sondern vollzogen in weiten Teilen nur die längst überfälligen Neuerungen in der Literaturszene einer Stadt, die auf wirtschaftlichem Gebiet den Rest des Landes bereits überflügelt hatte, die gesellschaftlich jedoch noch weitgehend von katholischem Konservativismus geprägt war: "El ingenio de aquellos intelectuales más o menos románticos se dirigía a la acentuación de lo que visto a través de las nuevas inquietudes aparecía ridículo y estrecho. El aldeanismo empezaba a estallar en esos círculos."4 Die Bedeutung von Panida liegt darin, daß sie in ihrem Bestreben, die Idylle aufzusprengen, den Blick nicht nach Bogotá ausrichtetete und das Beispiel der gerade an Einfluß gewinnenden Generación del Centenario imitierte.5 Die 13 Ponidas6 versuchten, eigene Wege einzuschlagen und eigene Traditionen zu finden7, mit denen sie ihre Rebellion begründeten. Das erste Heft begann nicht, wie sonst üblich, mit einer Vorstellung der Redaktion und mit einer Begründung, warum diese neue Publikation notwendig sei, sondern mit einem Text von José Enrique Rodó: "Alaben otros ¡oh poeta! la perfección de tus ánforas cinceladas. Yo prefiero decirte que tu verso sabe hacer pensar y hacer sentir; que tu poesía tiene un ala que se llama emoción y otra ala que se llama pensamiento." Bereits diese wenigen Zeilen des Uruguayaners müssen im kolumbianischen Kontext der Zeit als so etwas wie ein indirektes Manifest gelesen werden. Der Parnaß und die klassisch-klassizistische Tradition werden zwar nicht direkt verabschiedet, aber zumindest in ihrer beherrschenden Stellung hinterfragt. Mit dem Zitat stellten die Panidas der Lehre von der Perfektion in der Form zwei zumindest ebenbürtige Elemente einer neuen Poesie zur Seite. Das erste, die Betonung des emotionalen Aspektes von Lyrik, verfocht in Bogotá vehement auch Eduardo Castillo, doch bei den jungen Autoren aus Antioquia liegt es näher, an Abel Farina als geistigen Vater dieser Idee zu denken, denn "Farina, en tanto que correcto traductor y gran divulgaMejia Duque, 1976a, S. 19f; neben Ponida bezieht er In diese Einschätzung Tomás Carrasquilla und Efe Gómez ein. Vgl. auch das Gedicht Villa de la Candelaria, mit dem León de Grelff das Medellin von 1914 charakterisiert hatte (s.o. 1.1.4.). Gleichwohl wurden die Bogotaner Entwicklungen beobachtet und positiv aufgenommen; In einem Kommentar zur Zeitschrift Cultura, ein Organ der Gruppe der centenaristas zu dieser Zelt, schreiben die Herausgeber: "[...] la verdad que encierra y sugiere la enunciación del símbolo de estas dos palabras, de que CULTURA es Índice exponencial: ATENAS SURAMER1CANA" (Heft 5, S. 128). Die meisten von Ihnen haben sich später von der Kunst und der Literatur abgewandt, so daß Ihre Namen heute weltgehend unbekannt sind. Nationale Geltung erlangten n u r León de Grelff als Lyriker, Ricardo Rendón als Karikaturist und Fernando González als Philosoph und Essayist. Wie gefährlich es damals In Medellin war, vom Lektürekanon der Schulen abzuweichen, wird belegt durch die Tatsache, daß Fernando González von der Schule relegiert wurde (1911), well er "con verdadera pasión obras de Voltaire, Victor Hugo, Kant y sobre todo Nletche [sie!]" las (Brief des Paters Enrique Torres, S.J., an dessen Vater; Henao Hidrón, 1988, S. 34); Luis Tejada entging diesem Schicksal 1915 an der Escuela Normal nur knapp - er hatte den Emüe von Rousseau studiert; seine Abschlußarbelt über moderne Erziehungsmethoden wurde später Jedoch abgelehnt (J. G. Cobo Borda: "Luis Tejada", In: Tejada, 1977, S. 17).

127 dor del Simbolismo y de la literatura francesa e inglesa, fue sin duda el maestro de Los Panidas y Los Nuevos"8. Das zweite Element, das, was Rodó "pensamiento" nennt, sollte sich in den zehn Jahren zwischen 1915 und 1925 zu einem vielzitierten Schlagwort in der (Literaturtheorie von Los Nuevos entwickeln: die Suche nach neuen Ideen, Prinzipien, Ideologien und letztendlich in der Lyrik zur poesía de ideas. Allerdings ist es, wie bei den centenaristas, sehr schwierig, das Literaturkonzept von Panida genau zu definieren. Zu vielfältig sind die präsentierten Autoren9, die eigenen Werke und die poetologischen Einlassungen. Diese letzteren bestehen zum großen Teil aus Zitaten meist europäischer Schriftsteller am Ende eines jeden Heftes und weisen auf das Bestreben hin, die Anliegen der modernen Literatur und der modernen Lyrik zu verstehen: "Sólo necios pedantes o retóricos sin buena fé puden sostener aún que el Arte es la imitación de la naturaleza" (Juan Turganeff, Heft 1, S. 15). "Cuando el simbolismo agotaba todas las fantásticas bellezas verbales, la poesía de Jammes se apareció como una muchacha desnuda en el rocío de una mañana verdadera. Una vez más, un poeta descubría la naturaleza [...]" (de Gourmont über F. Jammes, Heft 2, S. 31). "Nombrar un objeto es suprimir las tres cuartas partes del gozo del poema, que consiste en la alegría de adivinar poco a poco" (Mallarmé, Heft 2, S. 32). "Para mí, el Trinomio del Arte Latino en Europa, lo forman hoy estos tres nombres: D'Annunzio, en Italia; Maeterlinck, [...] en Francia; y, Valle-Inclán en España; [...] él, ha logrado hacer, con lingotes de viejo oro español, el más bello sagrario a la modernidad" (Vargas Vila über Valle-Inclán, Heft 6, S. 96). Der lateinamerikanische Modernismus erfuhr zudem eine gesonderte Behandlung in einem dreiteiligen Kommentar des Spaniers Andrés González-Blanco mit seiner zentralen These:

Escobar Calle, 1990, S. 3; Fariña (Antonio Maria Res trepo R ) beeinflußte mit seiner Dichtung (seine Obras completas erschienen postum 1926-1927 In Medellin) nicht n u r speziell die Gruppe der Panidas und somit Indirekt Los Nuevos, sondern eine ganze Generation von Jungen Intellektuellen a u s Antloquia. In der Zeltschrift Cyrano schrieb Maria Cano am 9.10.1921 einen Nachruf auf Fariña im typischen Stil Ihrer Phase als Prosadichterin: "El maestro se ha ido. Mis ojos han permanecido secos, mas mi ser todo se h a conmovido con temblor sagrado. Inquieta mi alma se agitaba. Una callada voz pareció llenarla. Hubiera querido, silenciosa, humilde, seguir sus huellas luminosas" (Cano, 1985, S. 15). Eine Würdigung durch Ponida findet sich im dritten Heft, S. 47f, wo die Herausgeber neben der Sensibilität Fariñas seine "rebeldía de incomprendido" unterstreichen "y la obscuridad que (para los más) hay en la mayor y acaso mejor parte de su obra". Sie stellen ihn dabei in die Tradition der "poetas malditos" Poe, Rimbaud und Baudelaire. Ein kleiner Ausschnitt der veröffentlichten Autoren (In Prosa und Lyrik) mag genügen, u m die Breite des Spektrums zu charakterisieren: A. France, F. Jammes, R. de Gourmont, P. Verlaine, S. Mallarmé, M. Barrés, Omar Chajjam, A. Schopenhauer, P. Altenberg, O. Wilde, £ A Poe, J . Benavente, F. Villaespesa, Azorin, R. del Valle-Inclán, M. Machado, J.R. Jiménez, R. Dario sowie von den Kolumbianern G. Valencia, J.A. Silva. A. Fariña und A.J. Cano.

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"El modernismo ha sido en América, más aún que en España, arte decadente, enfermo, que inocula de su virus todo cuanto toca. [...] Cagliostros de la modernidad, se ha podido llamar a la mayoría de estos poetas americanos, como Nietzsche llamó a Wagner. [...] Hoy el gusto ha reaccionado contra ellos y las cosas liberarías se enveredan por cauces más amplios y más humanos. Apenas hay hoy un decadentista rezagado, que aparece como un espectro y pasa como un relámpago."10 Den 13 Partidas präsentierte sich die moderne Kunst vielfältig und widersprüchlich: Der Modernismus hatte sich erschöpft und wirkte gleichwohl weiter; der Symbolismus stellte noch immer eine Herausforderung dar, doch gab es in Europa Bewegungen, die als Neuentdeckung der Natur interpretiert wurden; den Weg zurück zur mimetischen Kunstauffassung versperrte aber das Bewußtsein, in modernen Zeiten zu leben; die Dekadenzlyrik und der Kult der Schönheit waren gleichermaßen anziehend und schon obsolet geworden. Konfrontiert mit der Realität der Industriestadt, ergab sich für die jungen Künstler daraus ein negativistisches - ja nihilistisches - und chaotisches Weltbild, das seinen Niederschlag fand in der einzigen wirklichen Selbstdarstellung der Gruppe: "El fastidio ha presidido nuestros actos. Jamás en el ocaso de ningún día nos hemos sentido satisfechos, que siempre bajo la aparente superficialidad que nos decora, corre un líquido amargo y nos rodea un halo de desdén. A veces trocamos en lucha de primitivos ese marasmo, y ya es un delirio el que rige nuestra voluntad, quien fecundiza el pensamiento, y entonces no es la esterilidad contemplativa de antes, sino una ubérrima floración de lyses monstruosos; manifestaciones enfermizas, degeneradas, pero más bellas; y es su cortejo obligado la grotesca grey de los zaheridores impotentes; y la grita de los ignaros es como un lejano acompañamiento de tambores y trompas para una sinfonía beethoviana."11 Aus diesen Aussagen lassen sich ohne Zweifel Traditionselemente wie spätromantischer Weltschmerz, Abkehr von einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft, Elitebewußtsein, Streben nach Schönheit etc. herauslesen, Elemente also, die auch die Generación del Centenario in Bogotá leiteten. Doch während nun die Intellektuellen der Hauptstadt auf die modernen Ausdifferenzierungsprozesse und Komplexitätssteigerungen tendenziell mit der Doppelstrategie von Toleranz und gleichzeitiger Reduktion auf die große nationalintegrative Aufgabe reagierten, offenbart die Zeitschrift Panida ein solches gemeinsames Grundanliegen nicht. Die jungen Künstler wollten "las expresiones locales y las grandes corrientes de la literatura mundial" 12 zusammenführen. Daraus ergab sich notwendigerweise eine Vielfalt (Parnaß, Symbolismus, 10 11 12

"Los poetas de América ", Heft 7, S. 97f; Heft 8, S. 113-115; Heft 9, S. 129f; Zitat Heft 8, S. 115. "Nosotros", Heft 7, S. 111. J u a n Luis Mejía A. In der Einleitung zur Faksimileausgabe, o.S.

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Modernismus, Spätromantizismus und eigenständige Verbindungen), die sie jedoch nicht mehr in einen umfassenden ideologischen Interpretationsrahmen stellten, sondern als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen präsentierten. Die beiden Bewegungen hatten auf diese Weise gegenläufige Tendenzen: In Bogotá sollte belegt werden, daß wirtschaftlicher Fortschritt mit generell konservativen gesellschaftlichen und literarischen Konzepten (Atenas Suramericana) vereinbar sei, solange diese sich vorsichtig reformierten. In Medellin wirkten durchaus vergleichbare Texte in einer wirtschaftlich prosperierenden, doch gesellschaftlich und literarisch überwiegend konservativen Umgebung per se revolutionär. Es lassen sich aber auch - neben den "estruendosas fiestas que escandalizaban a los apacibles parroquianos"13 beim Erscheinen eines jeden Heftes - zumindest einige intendierte Akzentverschiebungen innerhalb der Literatur- und Kunstauffassung von Panida erkennen, die einen Prozeß einleiteten, der in der Folge in Kolumbien zum erbitterten Kampf zwischen zwei Generationen hochstilisiert wurde. Auf formalem Gebiet scheinen die Ausgaben der Zeitschrift zunächst ganz im Rahmen des Üblichen zu stehen. Etwas mehr als ein Drittel aller Gedichte, die die Merkmale von Vers und Strophe aufweisen, sind in Sonettform abgefaßt, was in etwa dem Durchschnitt der Medien in Bogotá entspricht.14 Allerdings - und hier zeigt sich, daß die jungen Autoren in Medellin die formalen Neuerungen des Modernismus stärker rezipierten und weiterführten als ihre Kollegen in Bogotá - überrascht der hohe Anteil an Prosagedichten in Panida. Im Prinzip könnte man sogar davon sprechen, daß hier die Gattungsunterschiede verwischt werden. Nur wenige Prosatexte - die drucktechnisch herausgehobenen Stücke am Ende eines jeden Heftes ausgenommen sind eindeutig als Drama, Erzählung, Literaturkritik oder Essay zu identifizieren. Die Mehrzahl zeichnen sich durch eine, häufig thematisierte, Zwischenstellung aus. Unter der Überschrift Almas Humanas finden sich stark von Nietzsche beeinflußte poemas15, die sich aus philosophischen Gedankensplittern und kleinen Aphorismen16 13 ibid. 14 Einigermaßen repräsentativ erscheint dabei die von G. Castañeda Aragón 1923 herausgegebene Sondernummer unter dem Titel Cervantes zu Ehren von Francisco Villaespesa, In der von Julio Flórez über Luis Maria Mora, Eduardo Castillo und Rafael Maya bis hin zu León de Grelff das gesamte Spektrum vertreten war; darin hatten Sonette einen Anteil von knapp 50 Prozent. Auch bei anderen Zeitschriften (Alma de Artista, Atenas Ilustrada etc.) waren es zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Gedichte. Allerdings gab es auch Extreme, wie z.B. die Nummer vier von Juventud, In der n u r Sonette veröffentlicht wurden. 15 Der Autor schrieb unter dem Pseudonym Helena de Mala"; Heft 2, S. 17-19, Heft 4, S. 49f, Heft 5, S. 65f. Über "almas" heißt es dort z.B.: "Humanas son, y 'demasiado humanas', porque son flacas, y del exceso de flaqueza viene su humanidad" (S. 17). El poema de la vida (S. 18) handelt vom Wein als der Essenz des Lebens. Hier findet sich ein Vers, der, vorausgesetzt es wurde bewußt eingesetzt und resultierte nicht aus einem Fehler des Setzers, ein wahrhaft revolutionäres Element in die kolumbianische Literatur einführte: das ironische Spiel mit Druckzeichen: "Todos olvidan tu sapiencia, todos olvidan tu bondad, y a todo$ das la alegría, tabernero." Das Peso- bzw. Dollarzeichen hätte hier informationstragende Funktionen, wenn man von der Intentlonalltät des Autors ausgehen könnte. Im Kontext von Panida mit seiner Aufwertung der Karikatur durch die Arbeiten von Ricardo Rendón besteht zumindest

130 zusammensetzen, von denen je einer eine Strophe und je eine inhaltlich zusammengehörige Gruppe ein Gedicht bilden. Ausgehend von dieser spezifischen Form versuchte Fernando González17 mit einer stark an den Zarathustra angelehnten Sprache ("Esa es poco más o menos la doctrina del gran ermitaño, mi amigo Zarathustra", S. 124), die Philosophie Friedrich Nietzsches für das zeitgenössische Kolumbien zu aktualisieren.18 "Cuán innumerables son los caminos por los cuales puede ir nuestra vida! Innumerables son los senderos que desde el instante presente conducen al futuro... Cierto es que no puedes escoger entre ellos, que el pasado fija tu camino venidero; pero cierto es también que tú ignoras cual será esa tu senda. [...] Para mí la vida tiene ese encanto de ser una posibilidad infinita, un infinito quizá" (S. 93). Hier kommen deutlich die sich abzeichnende Überkomplexität der modernen Gesellschaft und die daraus resultierenden neuen Kontingenzerfahrungen für den einzelnen Menschen zum Ausdruck. Fernando González und Panida wollten diese nun nicht auf ein religiöses oder philosophisches System reduzieren, doch auch der modernistische Weg einer quasireligiösen Kunstauffassung scheint für sie nicht mehr gangbar. Den unendlichen Möglichkeiten entspricht bei ihnen, zumindest in Ansätzen, eine verstärkte Ausdifferenzierung der literarischen Gattungen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Neubesinnung auf die Form des Prosagedichtes an Bedeutung. Einer kleinen Auswahl von Prosasonetten Remy de Gourmonts (S. 103) stellten die Herausgeber daher auch einen erklärenden Text des Autors voran, der speziell auf die Gattungsfrage Bezug nimmt: "Sonetos en prosa, esta manera tampoco os ha escandalizado, acostumbrada como estáis a la magnífica libertad de la poesía inglesa, que no tolera que se

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die Möglichkeit, daß damit graphische Gestaltungsmerkmale auch Eingang gefunden haben In die Texte. Well es aber, soweit Ich die Quellen überblicke, Im Untersuchungszellraum einen einmaligen Einzelfall darstellt, möchte Ich das "$" nicht ungebührlich überlnterpretleren. Heft 5, S. 75f; Heft 6, S. 93; Heft 7, S. 108f; Heft 9, S. 123f; Heft 10, S. 139f. Diese Texte fanden 1916 Eingang In sein Buch Pensamientos de un uiejo, mit dem In Kolumbien erstmals nach dem Positivismus und der In Bogotá offiziell gelehrten Neuscholastik eine neue philosophische Richtung Ausdruck fand, wenngleich sie auch damals In der Hauptstadt nicht rezipiert wurde. Zu Femando González existiert heute. Insbesondere nachdem ihn die Nadalsten der 60er Jahre zu Ihrem Mentor auserkoren hatten, eine umfangreiche Literatur; s. zuletzt, mit einer allerdings nicht vollständigen Bibliographie, Henao Hldrön, 1988, und die "Homenaje" der Zeltschrift Universidad de Medellin von 1989. In der Zeitschrift Voces (1977, S. 221-237) publizierte Enrique Restrepo 1918 eine kritische Untersuchung über den Einfluß Nietzsches auf die Jungen Autoren In Antloqula. Darin kommt zum Ausdruck, wie stark diese, selbst Im Rahmen des Nletzscheflebers der Zelt seit der ersten Phase der Rezeption durch Sanin Cano, Silva und Valencia, Ihren Blick auf den Dichter und Stillsten Nietzsche ausrichteten und Ihn als Vorbild für eine literarische Erneuerung ansahen. Im Unterschied zur Generación del Centenario, die den deutschen Philosophen zur Bestätigung ihrer ästhetisch-aristokratischen Ausrichtung zitierten, versuchte Fernando González, zu einer produktiven Beschäftigung mit seinem philosophischen System durchzustoßen (wobei er sich aber, nach der Meinung von Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 480-482, In seinem anarchlsUschen Konzept und der Oberbetonung des Ich zu sehr von diesem entfernte).

131 aprisione su pensamiento detrás de los barrotes de la cárcel silábica. No es el verso libre, que sigue sus reglas particulares, sino la cadencia de la prosa, sometida a una disciplina, la que puede quizás hacer una nueva forma de poesía" (ibid.). Einige von den jungen Dichtern standen offensichtlich kurz davor, den Schritt vom Prosagedicht zum freien Vers zu wagen, wie im ersten Heft bereits ein Experiment des Autors belegt, der seine Texte mit C.R. Pino unterzeichnete. Seine Elegía angesichts des Todes von Eloísa gliedert sich in sieben Strophen unterschiedlicher Länge (zwischen vier und acht Verse). Die Trauer, die alle Dinge der Umgebung erfaßt, scheint eine Ordnung der Verse durch Reim und Metrum zu verhindern. Alleine die Vielzahl von Wiederholungsfiguren, Binnenreimen und Vokalhäufungen verhindern das Chaos, das zeitgenössische Leser/innen durch die unregelmäßige Abfolge von zwei- bis elfsilbigen Zeilen empfunden haben mußten: El agua de la alberca lloró, porque ya no copiaría más tu cuerpo Y los cisnes del lago. Oh! los cisnes del lago, blancos como los que cuidaba Berenice, lloraron en sus rítmicos nadares parábolas extrañas (S. 3)

Die sechs Punkte am Ende einer jeden Strophe taten ein übriges, das Gedicht im Jahre 1915 zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis zu machen, denn sie offenbaren nicht, ob sie als Visualisierung der Tränen fungieren oder der unbegrenzten, alle Worte übersteigenden Trauer Ausdruck geben sollen. Zudem werden die Personifizierungen der Trauer von Strophe zu Strophe gewagter. Die Quelle, die ein Lied, und der Garten, der Blätter weint, liegen noch im Bereich von traditionellen Metaphern. Doch wenn in der ersten zitierten Strophe (im Gedicht ist sie die fünfte) nicht mehr die Zisterne weint, sondern das ruhige Wasser Tränen vergießt, dann ist mit dem Bild das Wasser auf sich zurückgeworfen und auf diese Weise die Vereinsamung charakterisiert, die es nun erfährt, da es nicht mehr als Spiegel wirken kann. Auch die Schwäne, jenes Symbol des Modernismus, beweinen Eloísa. Sie weinen "parábolas extrañas". Damit scheinen sie auf die Fragen einzugehen, die sie Rubén Darío in Prosas Profanas gestellt ("y el cuello del gran cisne blanco me interroga") und in Cantos de vida y esperanza nicht ausreichend beantwortet hatten ("¿Qué signo haces, oh Cisne, con tu encorvado cuello"19). Aber die Leser/innen erfahren nicht,

19

Dario, 1982, S. 8 6 bzw. 108.

132 welche seltsamen Tränen die Schwäne weinen, denn Pino schließt mit der letzten Strophe den Kreis der Trauernden, indem er die zweite wiederholt. Mit Elegía setzten die Panidas der modernistischen Dichtung kein Ende. Sie drehten dem Schwan nicht den Hals um, wie dies Enrique González Martínez 1910 vorgeschlagen hatte20, sondern lasen aufmerksam die Werke der Modernisten und deren Kritiker, imitierten ihren Stil, fügten neue Einflüsse hinzu und weiteten auf diese Weise das eigene dichterische Repertoire. Von Pino, der im ersten Heft in freien Versen geschrieben hatte, findet sich im vierten ein modernistisches Sonett, das durch die Betonung von "cincelé" sogar Anklänge an die Tradition des Parnaß erkennen läßt: Este ducal soneto que cincelé en la hora sangrienta y bochornosa de una tarde estival, vale lo que una joya por la rima sonora y las rojas mayúsculas de factura real (S. 55).

In Heft sechs (S. 84f) schließlich versucht er sich an einem Danklied auf die ehemalige Kolonialmacht in der Sprache der Zeit der Eroberung: España Madre nuestra é Señora: Las tus fijas de Indias se permiten agora Una fabla decirte muy cortés é sonora Por que tú bien la tengas agora como otrora.

Die Vielfalt der Gattungen und Formen21, die die Autoren von Panida produzierten und veröffentlichten, spiegelt auf der einen Seite die Suche nach Neuem wider. Auf der anderen Seite aber ist sie auch Zeichen für die Unsicherheit und das Fehlen eines klaren Konzeptes. Beispielhaft für dieses Phänomen ist die Rezeption der kolumbianischen Modernisten im neunten Heft. Von Guillermo Valencia publizierte Panida ein 1915 verfaßtes und qualitativ nicht sehr hochstehendes Gedicht in achtteiligen Neunsilbern, das mutmaßlich als Gelegenheitsgedicht anläßlich einer Hochzeit entstand: Que en tenue lluvia caigan pétalos de orquídeas raras y azahar para mullir la esquiva senda hacia el país que hay más allá.... en cuyo cielo - azul y rosa se ostenta el brillo matinal que siempre anuncia un sol que llega, nunca el dolor del que se va. 2 2

20 21

22

Tuércele el cuello al cisne de engañoso plumaje", zitiert nach: Londoño Palacio, 1984, Band 2, S. 28. Als Oberblick seien hier einige Gattungsbezeichnungen In den Oberschriften und Unterüberschriften genannt Historia, Elegía, Cuento, Balada, Memorias, Poema, Autobiografía, Fragmento, Rimas, Palabras, Paradas, Epistolario, etc.

Mis votos. S. 132f.

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Die damit ausgedrückte optimistische, feierliche, auf eine glückliche Zukunft ausgerichtete Stimmung steht in merkwürdigem Widerspruch zur sonst in Panida vorherrschenden Düsternis und Unbestimmtheit. Doch dem Namen Valencia mußte Rechnung getragen werden mit einer aktuellen Produktion. Bei dem bereits verstorbenen José Asunción Silva hatten die Herausgeber freie Hand. Sie wählten Futura (S. 141f) aus dem Zyklus Gotas amargas: Es el siglo veinticuatro En una plaza de Francfort Por donde pasa el tren más rápido De Liverpool para Cantón.

Auf diesem Platz im futuristisch anmutenden Frankfurt verehrt die Menge mit Wagnermusik und Kanonendonner den vier Jahrhunderte zuvor proklamierten einzigen Gott auf seinem Sockel: "Sancho Panza,/ Ventripotente y bonachón". Der Begleiter des Don Quixote, schwerfällig, gutmütig und einfältig, wie er hier geschildert wird, symbolisierte für Silva und Panida die kolumbianische Moderne. Silva verstand darunter noch die bürgerliche Schicht Bogotás vor dem Krieg der Tausend Tage; für die Panidas waren daraus in Medellin die Industriellen und die Beamten geworden, die die Modernisierung vorantrieben, ohne zu wissen oder wahrnehmen zu wollen, was sie damit in Bewegung setzten. Valencia sah den Himmel blau und rosa, bei Silva schweift der Blick von der Statue zum "cielo ya sin color". Eingedenk dieses Gegensatzes griff León de Greiff, dessen späterem Wirken vor allem die heutige Beachtung von Panida zu verdanken ist, den Modemismus auf als um im Bild Silvas zu bleiben - Don Quixote der kolumbianischen Lyrik, der gegen die Windmühlen der verkrusteten Gesellschaft und der Literaturkritik ankämpft: Músicos, rápsodas, prosistas, poetas, poetas, poetas, pintores, caricaturistas, eruditos, nimios estetas; románticos o clasicistas, y decadentes, - si os parece pero, eso sí, locos y artistas los Panidas éramos trece! [...] Ilustres críticos - ascetas serios, solemnes metodistas, tribu de vacuos logotetas!: andad al diablo! - si os parece -: nosotros, - Bárbaros sanchistas! los Panidas éramos trece!23

23

Balada trivial de los 13 Panidas (1916, aufgenommen In Tergiversaciones, 1925), zitiert nach L. de Greiff, 1985, S. 61-63.

134 3.2.2. Voces24 Die Ballade León de Greiffs über die 13 Pani das erschien 1918 in der Doppelnummer 19/20 der Zeitschrift Voces in Barranquilla, die die vornehmlich junge Literatur in Antioquia vorstellte. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Panida bzw. Medellin und Voces gingen aber noch weiter. In der ersten Nummer (10.8.1917) schrieb Ramón Vinyes einen Artikel über Aloysius Bertrand und sein Werk Gaspard de la Nuit; bereits 1918 tauchte erstmals bei León de Greiff die Figur des Gaspar auf, der im zwischen 1918 und 1925 verfaßten Zyklus von Prosagedichten als Gaspar von der Nacht zum fiktiven Autor wurde.25 Für León de Greiff entwickelte sich Voces im Laufe der Zeit zu einer sicheren Publikationsmöglichkeit, die Nummer 56 (20.2.1920) war ihm nahezu ausschließlich gewidmet. Eine ähnliche Aufmerksamkeit erfuhren in Heft 53 (20.1.1920) die Autorinnen, die an einem Frauenwettbewerb für Erzählungen in Medellin teilgenommen hatten. Im Heft 22 (30.4.1918) beschäftigte sich Ramón Vinyes mit Tomás Carrasquilla, und in der gleichen Nummer berichtete Elisabeth Forster-Nietzsche über "El origen de 'Así hablaba Zarathustra'". Diese Koinzidenz hat tiefere Ursachen, denn in Antioquia wurde Nietzsche nicht nur von den jungen zeitgenössischen Autoren besonders stark rezipiert - wie Enrique Restrepo in Heft 25 kritisch vermerkte -, der deutsche Philosoph hatte für die Intellektuellen aus dieser Provinz schon immer eine Herausforderung dargestellt. Erst durch die Lektüre und die Übersetzungen von Baldomero Sanín Cano waren Silva und Valencia in Bogotá überhaupt in Kontakt gekommen mit Texten aus dem Zarathustra, und Tomás Carrasquilla behauptete von sich selbst, jahrelang alle erreichbaren Bücher Nietzsches gelesen und studiert zu haben, um ihn fundiert kritisieren zu können - eine Handlung, die weder die begeisterten Dichter des Modernismus noch die entsetzten Vertreter der Neuscholastik nachahmten.26 Trotz dieses regen Austausches an Gedankengut darf Voces nicht auf eine Ebene mit Panida gestellt werden. Während in Medellin junge Künstler sich in einem Café trafen und versuchten, gegen das Establishment zu rebellieren, scharten sich die Mitarbeiter der Zeitschrift in Barranquilla um den damals bereits 35-jährigen Ramón Vinyes. Fünf Jahrzehnte bevor er als "sabio catalán" durch García Márquez in Cien años de soledad in die Weltliteratur einging, hatte Enrique Restrepo ihn in seiner 24

Im Unterschied zu Panida existiert von Voces keine vollständige Reproduktion. Um so höher Ist die verdienstvolle Arbelt von Germán Vargas einzuschätzen, 1977 zumindest eine Anthologie wichtiger Texte mit einer einleitenden Studie und einer kurzen Inhaltsangabe aller 60 zwischen 1917 und 1920 erschienenen Hefte zusammengestellt zu haben. Ich selbst konnte nur etwa 30 Nummern direkt einsehen, eine vollständige Sammlung fand Ich weder In Bogotá noch In Medellin. 25 ¡jag B u c h erschien 1937 unter dem Titel Prosas de Gaspar. Cuarto Mamotreto. 26 Siehe zur Nietzsche-Rezeption In Kolumbien u.a. Maya, 1961, S. 31-67 und 129-149 (mit der Beschreibung der Auseinandersetzung zwischen Carrasquilla und Grillo); Sanín Cano: "Nietzsche y Brandes", in: ders., 1977, S. 139-143; "Mi filosofia", ibid., S. 695; "José Asunción Silva", In: ders., O.J., S. 133-137; "Recuerdos de J.A. Silva", ibid., S. 289-293; sowie die Jeweiligen Vorworte in den Anthologien von J u a n Gustavo Cobo Borda; ferner: Sanin Cano: "Mentes excelsas Influidas por el Cristo", ln: El Espectador. Suplemento literario Ilustrado, 17.4.1925; Max Grillo: "A propósito del epistolario de Federico Nietzsche", ln: ders., 1927, S. 275-283, und Rusker, 1962, S. 276-278 und 324.

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Buchhandlung auf die Probe gestellt und erfahren, daß er tatsächlich alle Bücher gelesen hatte27: "Aumentó mi sorpresa cuando vi que no sólo sabía, sino que sabía mucho y muy a fondo. Seguí luego averiguando por obras de diversos autores, clásicos y modernos, que no existían en su estante, y quedé maravillado de la cultura que pude adivinar en el guasón de enantes."28 Unter der geistigen Führung des Katalanen, der selbst nie als Direktor der Zeitschrift firmierte29, erreichte Voces eine Bandbreite an Themen und an präsentierten Autoren, die die Gruppe der 20-jährigen aus Medellin nie hatte vorweisen können. Auf philosophischem Gebiet reichte sie von Nietzsche über Herbart, Kant, Dewey und Fichte bis zur Neuscholastik bei Miguel Antonio Caro. Kunst- und Literaturtheorie hatten darin ihren Platz, aber auch Berichte über ausländische Literaturwissenschaftler (z.B. Karl Vossler) und eigene Literaturkritik. Der Bereich des Dramas - bei Panida nur durch ein kleines Stück für ein Marionettentheater von Benavente abgedeckt - rückte durch Ramón Vinyes ebenso verstärkt ins Blickfeld wie die deutschsprachige Literatur (Hebbel, Hofmannsthal), ohne daß dadurch neuere Entwicklungen in Frankreich (André Gide), England (Chesterton), Spanien (Valle Inclán) und in vielen anderen Ländern vernachlässigt worden wären. Die kolumbianische Literatur- und Geistesgeschichte machte natürlich den größten Teil der Zeitschrift aus, doch der Schwerpunkt lag nicht auf der bloßen Publikation aktueller Werke; Voces bemühte sich um Hintergrundinformationen zu den historischen Wurzeln (mit Beiträgen zu Núñez, Caro, Valencia) und um Beiträge zum literarischen Umfeld (Baldomero Sanín Cano, Antonio Gómez Restrepo, Félix Restrepo, Marco Fidel Suárez). Daneben war es Vinyes ein vorrangiges Anliegen, den Austausch mit den übrigen lateinamerikanischen Literaturen und Kulturen zu pflegen, denn: "Nada se ha hecho en Colombia hasta ahora, para lograr un completo intercambio intelectual con las demás naciones americanas de habla española."30 All diese hier nur angedeuteten Aspekte zeigen deutlich, daß es Voces nicht um eine jugendliche Rebellion ging, sondern darum, den Horizont des gesamten kolumbianischen Kulturlebens zu erweitern, um der Realität der Maxime La Rochefoucaulds, mit der jede Ausgabe der Zeitschrift überschrieben war, entgegenzuwirken: "Les esprits médiocres condamnent d'ordinaire tout ce qui passe leur portée." Voces verdammte nicht, sondern diskutierte, wägte ab und suchte nach Kriterien für die 27

28 29

30

Zu Vinyes s. das Vorwort von Jacques Gllard, In: Vinyes, 1982, Band 1, S. 9-104. Die Beschreibung: "El viejo que habla leído todos los libros" verwandte García Márquez bereits 1954 für den Katalanen: Ibid., S. 10. "Una hora con Enrique Restrepo", In: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 26.9.1926. Dies taten von Heft 1-12 Julio Gómez de Castro und danach Hipólito Pereyra (Héctor Parlas): weitere Mitarbeiter waren u.a. der Philosoph Julio Enrique Blanco aus Barranqullla, der in den USA und Deutschland studiert hatte, der Dichter Gregorio Castañeda Aragon aus Santa Marta, der Dichter und Journalist José Félix Fuenmayor aus Barranquilla sowie der Katalane José Maria López Pico. Heft 24, 31.5.1918, zlUert nach: Voces, 1977, S. 410 (Hervorhebung im Original).

136 Beurteilung von Literatur, die nicht von "presiones politiqueras y los pequeños prejuicios parroquiales"31 abhingen. Diese Offenheit verhinderte, daß die Herausgeber ein Manifest formulierten oder einer speziellen Richtung das Wort redeten. Wenn sie denn ihren Standort bestimmten, dann taten sie dies eher in Form eines negativen Manifestes: "Voces no es una revista sistemáticamente iconoclasta. Voces tiene criterio propio y un gran amor por el arte. [...] Voces ha protestado contra los señores que le daban a la política un excesivo nombre literario; contra los críticos incomprensivos y cerrados; contra los que han levantado cenáculo para un intercambio de elogios; [...] contra los poetas de palabra muerta, sin vibración, los de las casitas blancas, los de los fulgores, los de los perros fieles, los de las terneras, los de esta nueva bucólica amorosa sin un destello ni un verdadero fulgor; contra los que llaman snobismos a lo que va más allá de su limitadísimo círculo de conocimientos."32 Voces pflegte, ähnlich wie die Generación del Centenario in Bogotá, eine ausgesprochene Toleranz in Bezug auf neue (und alte) literarische Konzepte. Doch im Gegensatz zur Hauptstadt mußte diese Toleranz nicht durch formale Restriktionen und politisches Wohlgefallen erkauft werden. In Barranquilla wurden Kunstwerke toleriert und vorgestellt, die in der Regel den qualitativen Ansprüchen der Zeitschrift, wenn auch nicht notwendigerweise dem Geschmack der Mitarbeiter entsprachen.33 Auf diese Weise konnte es in Voces zu einer ersten Auseinandersetzung mit den Literaturen der Avantgarde34 in Kolumbien kommen. Um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, die selbst Ramón Vinyes mit diesen neuesten Schulen hatte, soll zunächst anhand zweier Beispiele das Spektrum der Lyrik in der Zeitschrift aufgezeigt werden. ¡Arriba el ancla! Cruje el maderamen, sacude un viento fuerte, hinchándolo, el velamen; a un golpe de timón la nave sesga, y el bauprés, como un índice 31 32 33

Heft 2. 20.8.1917. Ibid., S. 404. Heft 25. 10.6.1918, Ibid., S. 411 (Hervortiebungen Im Original). Vgl. dazu den Hinwels der Redaktion In Heft 34/35, 20.9.1918, Ibid. S. 415. Unter Avantgarde verstehe Ich die europäischen und lateinamerikanischen Autoren und Bewegungen, die in Kolumbien mit den Begriffen "escuelas novìslmas", "lsmos", "futurismo" oder "vanguardia" bezeichnet wurden. Es Ist hier nicht der Ort, die lange Debatte darüber, wie Avantgarde definiert werden kann und welche Autoren als Avantgardedichter gelten, neu aufzuarbeiten und zu bewerten. Für den lateinamerikanischen Bereich hat die Diskussion seit einigen Jahren neuen Auftrieb bekommen und wird, dank einiger Symposien, Sammelbände, Quellensammlungen und Bibliographien (u.a. Veranl, 1986; Osorlo Tejada, 1988; Vldela de Rlvero, 1990; Wentzlaff-Eggebert, 1991b; sowie die Bibliographien Wentzlaff-Eggebert, 1991a, und Forster/Jackson, 1990) weitergeführt werden. Mein eher bescheidener Beitrag wird es sein, die Rezeption der Avantgarde In Kolumbien zu verfolgen sowie anhand von Textbelsplelen und weiterführenden Hintergrundinformationen die kolumbianische Lyrik der Zelt mit den Avantgarden zu vergleichen.

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misterioso señala el inñnito. El ansioso aleteo de un pañuelo anima el marco azul de una ventana como ensayando un imposible vuelo. Huye el barco; y la Isla se va quedando atrás... ¡La Isla! [...]

Die Insel in diesem einfach Poesías überschriebenen Gedicht José Félix Fuenmayors35 war das tropische Paradies aus Früchten, Palmen und Strand. Doch es muß wie "la novia de un día" (6. Strophe) zurückbleiben, wenn das Schiff in eine ungewisse Zukunft aufbricht. Ein wenig Nostalgie schwingt in dieser ersten Strophe mit, ein wenig Romantik und ein wenig Abenteuerlust angesichts der Unendlichkeit, in die hinein die Segelstange wie ein geheimnisvoller Zeigefinger deutet. Die Vergangenheit kann der Dichter in langen Strophen ausmalen und beschreiben; über das, was kommt, gibt es noch nichts zu sagen. Fuenmayor skizzierte hier seine eigene Gegenwart: Einen Weg zurück zum gesicherten Refugium der Insel gab es ebensowenig wie den in eine imaginäre ländliche Schäferidylle, den andere einschlugen. Er mußte sich als Dichter den neuen Herausforderungen stellen und trat die Flucht ins Unbekannte an. Doch die Sprache verrät, daß er nicht bereit war, den Anker ohne Rückversicherung zu lichten, denn weder Lexikon noch Syntax gehen Hand in Hand mit dem Aufbruch zu neuen Ufern. Auf formalem Gebiet ist der Bruch mit dem Alten ebenso zögernd. Immer wieder tauchen, ohne festgelegtes Muster zwar und von nichtreimenden Versen unterbrochen, Vollreime auf. Die Metrik verrät noch deutlicher, daß der Autor Halt suchte. Liest man nämlich die ersten beiden Zeilen als einen Vers, dann erschließt sich das Gedicht als eine klassische Silva mit unregelmäßiger Abfolge von sieben- und elfsilbigen Versen. Fuenmayor liefert hier ein durch und durch traditionelles Werk, das keine Verbindung zur Avantgardedichtung aufweist. Die gleiche Diagnose trifft auch auf La selva que pasa von Eduardo Vasco zu: Una ola de oscuro pesimismo nuestro ambiente traspasa, y Kant y Zarathustra y el Abismo van minando las fuentes de una raza enantes domadora de los montes, emperatriz de yunque y de la maza y Colón de interiores horizontes. Esta generación ya no combate como la de hace un siglo por la gloria; ésta quiere obtener por el rescate lo que aquélla alcanzó por la victoria.36

35 36

Heft 12, 30.11.1917, Voces, 1977, S. 121-124. Heft 41, 20.11.1918; dieses Gedicht wurde von Germán Vargas nicht In die Anthologie aufgenommen.

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Die regelmäßigen Vollreime verleihen dem Gedicht eine Strenge, die in diesem Fall mit dem ausgesagten Inhalt korreliert. Der Blick zurück in die Geschichte war für Vasco keine Nostalgie, sondern normative Notwendigkeit angesichts der Realität, die ihm entgegentrat. Nicht nur einfacher Pessimismus bestimmte seine gegenwärtige Umgebung, sondern "una ola de oscuro pesimismo". Die Ursachen dafür konnte er ohne Probleme identifizieren. Es waren die Philosophen, die direkt ins Verderben führten: Kant und Nietzsche. Früher, meinte er, wäre alles besser gewesen, da hätten körperliche Arbeit in Haus und Hof sowie die kriegerische Tätigkeit im Kampf um den Sieg den Ton angegeben. Was Vasco in diesen wenigen Zeilen des längeren Werkes verdichtet, ist ein mit dem Begriff der Rasse ummäntelter Blut- und Bodenmythos, der in Schulbüchern oder konservativen Zeitschriften gang und gäbe war, bei Voces jedoch überrascht. Andererseits aber verdeutlicht das Gedicht wieder, wie eng Neuaufbrüche und regressive Tendenzen damals in Kolumbien beieinander lagen. In gewisser Weise hatte León de Greiff mit seinen ungewohnten Werken die Avantgarde bereits angekündigt, doch die Radikalität dessen, was aus Europa, Chile oder Mexiko in die Buchhandlung von Ramón Vinyes in Barranquilla gelangte, ging noch weit darüber hinaus. Llama loca Cantemos esta noche sobre las montañas Veo pasar los aeroplanes Puntos en el horizonte que van a dormir en la luna Tengo sed Dadme a beber todas las cabelleras rubias En el silencio se escuchan huir los recuerdos como caza a la desbandada Es inútil correr tras de ellos ¿Quién podrá cogerlos? Nadie ha podido parar su marcha Brilla el sol La vida es buena Tu recuerdo canta en mi reloj [...]•"

Mit viel gutem Willen hätten traditionell geschulte Ohren in Kolumbien auch hier in den Zeilen 8-16 Anklänge an eine Reimfolge heraushören können, aber sicherlich war eine solche Herangehensweise nicht die primäre Intention Huidobros. Fehlende Interpunktion, freier Vers, kurze, abgehackte, parataktisch aneinandergereihte Sätze, unverbundene Metaphern, sparsamster Gebrauch von Adjektiven, all dies charakterisiert dieses Gedicht. Um die Frustration der überkommenen Lesererwartung noch weiterzutreiben, vermischte der Autor altbekannte lexikalische Bestandteile der lyrischen Sprache ("luna", "recuerdo", "noche", "dormir" etc.) mit neuen, technischen 3 7

Vicente Huldobro: Poema, Heft 42, 30.11.1918, Voces, 1977, S. 255.

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Begriffen wie "aeroplanos" und neuen, nur mit erheblichem Aufwand zu entziffernden Metaphern. Sogar religiöse Gefühle tangierte er, indem er eines der sieben Worte Jesu am Kreuz ("Tengo sed") mit metaphorisch sublimierten sexuellen Anspielungen konfrontierte. Zwar gab es für solche Verfahren bereits Vorbilder bei den Modernisten, aber die banden sie jeweils ein in eine durch die Form nachvollziehbare Synthese. José Juan Tablada trieb schließlich die Zertrümmerung der Tradition auf die Spitze: RUIDOS Y PERFUMES (EN UN JARDIN) UNA TORCAZ cuú-cú cuú-cú cuú-cú UN PAJARO luí iluí-iluí luí-luí. EL ANGELUS tin-tán-tin-tán-tin. [glú-glú-glú glu-glu] LA FUENTE UN TRAJE DE SEDA frú-frú frú frú UN ABANICO frrrrt UN SUSPIRO EL ANGELUS tin-tán-tin-tán-tin UNA RISA ji-ji-ji-ji EL TACONEAR DE LOS CHAPINES TOC TOCTOC TOC TOC TOCTOC TOC Olores de gasolina EL AUTO TABACO Y RESEDA teff... teff... teff... 39

Die Wirkung eines solchen Gedichtes auf die damaligen Leser/innen muß ungeheuer gewesen sein. Tablada verzichtete auf alles, was einen Wiedererkennungseffekt hätte hervorrufen können. Er eliminierte nicht nur Vers und Reim, sondern auch Verben, Adjektive und Syntax. Neben Substantiven (sowie Artikeln und Konjunktionen) läßt er alleine noch Onomatopöie und Sprachbilder zu. Doch mit ein wenig Phantasie offenbart sich das Werk als kleine Geschichte: 38 39

Dieser "Vers" steht Im Original vertikal. Heft 52, 10.1.1920, Ibid. S. 363.

140 Ein Garten, in dem verschiedene Vogelarten beheimatet sind, liegt nahe bei einer Kirche, die, vermutlich um die heiße Mittagszeit, zum "Engel des Herrn" ruft. Beim Springbrunnen, dessen Wasser hoch in die Luft steigen, setzt sich eine reiche Frau auf eine Bank, fächelt sich Luft zu und seufzt - die Glocken läuten noch immer. Ein Gespräch zweier sich Liebender findet statt - jemand lacht. Die Frau läuft die Treppe auf die Straße hinab, wo ihr der Geruch von Benzin entgegenschlägt; der Mann an ihrer Seite raucht, doch sie nimmt auch die Düfte des Gartens mit sich. Das Auto wartet schon, beide fahren ab. Hinter dem Gedicht verbirgt sich also die Beschreibung einer banalen Begebenheit, die - die vagen Hinweise laden dazu ein - beliebig weitergesponnen, ausgeschmückt oder in anderer Form erzählt werden kann. Tablada belastete diejenigen, die sich auf die Geschichte einließen, nicht mit inhaltsschweren Metaphern wie Huidobro, er spielte mit der Sprache und bot eine Möglichkeit an, alte Themen aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Ramón Vinyes meldete, bei aller Toleranz, die er aufzubringen in der Lage war, Skepsis an: "Damos a conocer las últimas teorías en arte y las obras de los nuevos teóricos. Futurismo. Cubismo. Vibrismo. Nunismo. [...] ¿Serán flor de un día las nuevas doctrinas? ¿Traerán una profunda revolución en el arte? Delante de las nuevas escuelas hagámosnos comprensivos y no neguemos terminantemente. [...] Encogerse de espaldas o sonreír con aires de superioridad es facilísimo. Aferrarse a la tradición también. Lo difícil es la ductilidad del comprender."40 Er machte es sich nicht leicht, Kriterien dafür zu finden, die neue Lyrik zu verstehen. Sein Artikel "Poetas Futuristas"41 über Paul Dermée, Luciano Folgore und Guillaume Apollinaire erweckt den Eindruck, als meditiere Vinyes nach einer ausführlichen Lektüre der ihm zugänglichen Werke über den Sinn von revolutionären Umbrüchen in der Lyrik. Jeder Neuansatz, meint er, sei wichtig und hilfreich, sofern er nicht um seiner selbst willen geschehe. Keine Schule oder Theorie habe ein Monopol auf die Schönheit und durch keinen Autor der Weltliteratur sei bisher die Gesamtheit der Schönheit realisiert worden, heiße er nun Hugo, Verlaine oder Mallarmé, Dante, Shakespeare oder Homer. Es mutet eigentümlich an, daß er die moderne Lyrik und die Avantgarden auf der Basis der "belleza" beurteilt, doch wenn er davon spricht, daß jede wirkliche Neuerung dazu beiträgt "un valor nuevo a las cosas" zu geben, "un nuevo aspecto, un nuevo sentido" (S. 58), dann rückt die Schönheit, die er anspricht, 4 0

41

Einleitung zu Heft 42, 30.11.1918, das vollständig der europäischen Avantgarde (einschließlich V. Huidobro) gewidmet war. Zitat: Ibid. S. 417. Heft 27, 30.6.1918, Ibid. S. 53-64; zu diesem Zeltpunkt gebrauchte er die Begriffe "Futurismus" u n d "Avantgarde" als Synonyme. Wie bereits Nelson Osorlo Tejada, 1982, S. 24, feststellte, wurde Marlnettl In Voces offensichtlich bewußt ausgeklammert u n d n u r einmal In diesem ersten Artikel ganz beiläufig erwähnt, so beiläufig, d a ß Osorlo Tejada diese Nennung sogar übersehen hat.

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in die Richtung der Wahrheit, die Lyrik in ihrer unterschiedlichen Verfassung ausdrückt. Für ihn stellt der britische Humor, den Mallarmé in die französische Literatur eingeführt hätte, die gemeinsame Grundlage der neuen Dichter dar. Dann jedoch differenziert er: "No sentimos ninguna admiración por Guillaume Apollinaire. Lo sabemos un malabrista de la fantasía, un rebuscador de rarezas, un original por la originalidad. [...] Paul Dermée y Luciano Folgore salvan al futurismo porque en el fondo de la embrollada combinación métrica encontramos la serenidad de la poesía, como un puro estanque de agua azul bajo la frondosidad malévola de las zarzas" (S. 61). Im Prinzip stellt die Ernsthaftigkeit, mit der Vinyes die Avantgardebewegungen auf ihre dichterische Substanz hin untersucht, einen Glücksfall in der frühen Rezeptionsphase in Kolumbien dar, auch wenn er seine eigenen Vorlieben und Hoffnungen nicht verschwieg: "No nos equivocaríamos en mucho si profetizáramos que Paul Dermée llegará a poner puntos y comas en sus versos, y que Luciano Folgore se simplificará depurando e intensificando sus visiones" (S. 63).42 Trotz aller Skepsis blieben die Mitarbeiter der Zeitschrift nicht unbeeindruckt von den neuen Modellen. In der Dezemberausgabe 1918 (Heft 43/44/45) versuchte sich der damalige Direktor Hipólito Pereyra (Héctor Parias) am ersten avantgardistischen Gedicht Kolumbiens; er selbst nannte es "mi primera composición nunista".43 ¡ A R A Ñ A DE MIS DESEOS! a PIERRE ALBERT-BIROT, Director de "Sic" de Paris y a JOSE JUAN T A B L A D A Hipólito Pereyra Besar tus labios! Sorber tus ojos, ojos, ojos! ¡Como tu carne temblaría entre mis brazos! ¡Como tus nervios vibrarían electrizados! Los pezones enrojecidos, imanes de mis labios...! (Mis deseos suben, suben hasta el cielo donde no te hallan y bajan a la tierra a buscarte...>) Si tuviera dinero para comprarte ¡Darte lujos exóticos y perfumes enervadores! Morder - fresas - zumo de fresas - ¡vivas! lirio! Lirio despierto, dormido! despierto! lirio! Dormir! Dormir!

Im Sonderheft 42 über die Avantgarden erweiterte Voces das Spektrum der Autoren und der Bewegungen (Apollinaire, Dermée, Folgore, PlerTe Albert-Blrot, Pierre Reverdy, Max Jacob, Lino Cantarelll, Vicente Huldobro sowie die Richtungen des Futurismus, Kubismus, Vlbrlsmus, Nunismus), ohne zu grundlegend neuen Erkenntnissen zu kommen. Unter Bezug auf seine früheren Ausführungen meinte Vinyes: "Hoy podríamos repetir lo mismo." Leider nahm es Germán Vargas nicht In seine Sammlung auf.

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Soweit der Text. Das Werk selbst ist eine drucktechnische Meisterleistung, denn der Betrachter erkennt zunächst die Umrißskizze einer großen, dicken Spinne. Das Kopfbruststück des Tieres bildet die Überschrift mit der Widmung und dem Autorennamen. Die lange, in Klammern gesetzte Mittelzeile des Gedichtes umfaßt den Hinterleib, wobei das abstrakte Zeichen ">" eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger wiedergeben soll, der, nachdem der Vers aus dem Kopf hervorgegangen war, wieder auf ihn zurückverweist. Die kurzen Ausrufe in der ersten und der letzten Zeile entsprechen den klauenförmigen Mundwerkzeugen, die übrigen acht Verse den Beinen, die nicht geradlinig, sondern vielfach geknickt und gebogen dem Kopf entwachsen. Die vorletzte Zeile, mithin das erste Laufbein an der linken Seite, spaltet sich zum Ende hin dreifach auf, wie um die Behaarung der gesamten Spinne anzudeuten - auf der rechten Seite erfüllt diese Funktion die dreifache Wiederholung des Wortes "ojos". Im Unterschied zum Gedicht von José Juan Tablada, wo mit der Treppe und dem Springbrunnen nur Teile des Werkes als Textbilder angelegt sind, fließt bei Pereyra selbst der Titel und sein eigener Name mit in die Gesamtzeichnung ein. Der "eigentliche" Gedichttext beschreibt nun aber keineswegs das Objekt Spinne, das er formt, ja er nimmt noch nicht einmal direkt Bezug darauf - wieder im Gegensatz zu Tablada, der in der gleichen Ausgabe mit Talon Rouge44 den Schuh einer Frau bildlich darstellte und ihn thematisierte. Das lyrische Ich projiziert in die Spinne seine eigenen Liebes- bzw. Sexualphantasien, die ersten Zeilen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Doch sie setzen nicht eigentlich den Liebesakt gleich mit dem Aussaugen des Opfers durch die Spinne. Die Spannung und Erregung der Frau rührt nicht von der Gewalt her, die ihr möglicherweise angetan wird, und auch nicht von einem Gefühl, den Fängen nicht entrinnen zu können; nur die vibrierenden Nerven könnten als eine Anspielung auf ein Spinnennetz gelesen werden. Die unendlichen Wunschvorstellungen des Mannes lassen sich nicht realisieren, das sagt der zentrale Vers aus, sie werden wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt. Dort finden sie sich konfrontiert mit dem alltäglichen Problem des Geldmangels. Die modernistische Lösung, eine Frau mit Luxusgütern zu umgeben, um sie zu erobern, muß also fehlschlagen. Es folgt die Flucht in eine fast surrealistisch anmutende45 Traumwelt - oder das Eingeständnis, alles sei nur ein Traum gewesen: "Morder", "¡vivas!" - Anspielung auf die Spinne; "zumo de fresas" - Blut; "lirio" - weiß, Unschuld; "Dormir!" - Schlaf, Vergessen, aber auch Tod. Ein zweiter Interpretationsversuch könnte den Mittelvers - den Hinterleib der Spinne - als Orgasmus verstehen, an den sich ein unruhiger Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen anschließt. Das Werk mit seinen unabgeschlossenen Sät44 45

Voces, 1977. S. 298. Zu diesem frühen Zeltpunkt (1918) kann der Einfluß der Theorien Freuds nicht mit Sicherheit behauptet werden; eine emsthafte Beschäftigung mit ihnen Ist erst Im Verlaufe der 20er J a h r e nachzuweisen (Urlbe Cells, 1991, S. 22, 112 und 194).

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zen, Ausrufen und Metaphern ist offen für viele Auslegungen. Doch die Frage, warum Pereyra seinem Versuch das Bild einer Spinne gab, dürfte letztlich intratextuell nicht zu klären sein. Ein Gedicht, das das Wort "araña" im Titel führte, mußte in Kolumbien eine bestimmte Assoziation wecken. Der "Autor von La araña" und Julio Flórez waren Synonyme im ganzen Land und in allen Bevölkerungsschichten. Im Exil in Caracas hatte Flórez mit La araña seine Verzweiflung und Wut darüber zu Papier gebracht, daß sein Land ihm die Ehrung der "coronación"46 verweigert hatte. Im Gedicht haßt er sie, die scheußliche, perverse, grausame, häßliche Spinne mit den behaarten Beinen und dem schwarzen Kopf "entre las hojas del laurel marchitas/ de la corona veja,/ que en lo alto de mi lecho suspendida,/ un triunfo no alcanzado me recuerda." Und dennoch tötet er sie nicht, denn sie wird ihm zur Begleiterin in der Erinnerung und vergegenwärtigt ihm die Vergänglichkeit: En los días amargos en que gimo, y las quejas de mis labios se escapan en forma de blasfemias, alzo los tristes ojos a mi corona vieja, y encuentro allá la araña.47

Julio Flórez erfand die Spinne als das Symbol des Scheiterns, des Selbstmitleides und der unerfüllt gebliebenen Wünsche; Pereyra schloß an dieses Symbol an, doch die Wünsche, denen er in ARAÑA DE MIS DESEOS Ausdruck gab, zielten nicht ab auf den Lorbeerkranz. Er spielte mit der Tradition der Dichterkrönungen, er spielte mit den Assoziationen der Leser/innen, er spielte mit Worten und mit dem Druckbild. Daß er es nicht wirklich ernst meinte mit seinem ersten Versuch einer Avantgardedichtung, zeigt sich daran, daß er ihm nichts mehr Gleichwertiges folgen ließ. Für einige Jahre verschwand die Avantgarde in Kolumbien praktisch in der Versenkung. Voces hatte den Grundstein gelegt für eine aktive Rezeption der neuen Bewegungen, doch der Literaturbetrieb zeigte kein Interesse daran. Die Zeitschrift selbst war kein Organ der Avantgarde, sie war, in den Worten von Nelson Osorio Tejada, ein Paradebeispiel für Publikationen des Übergangs, "que sin romper con el Modernismo procuraban un remozamiento y buscaban alternativas nuevas para la creación poética."48

47 48

Sie wurde Ihm erst 1923 zuteil, nur wenige Wochen vor seinem Tod. Flörez, 1988, S. 76-79. Osorio Tejada, 1982, S. 24.

144 3.2.3. Von Voces zu Los Nuevos Mehr als fünf Jahre lagen zwischen der letzten Nummer von Voces (April 1920) und dem ersten Heft der Zeitschrift Los Nuevos (Juni 1925). Während dieser Zeit hatte der Humanist Marco Fidel Suárez als Präsident abdanken müssen, der Industrielle Pedro Nel Ospina war an die Macht gekommen, erste Reformen zur Rationalisierung des Staatsapparates und der Wirtschaft waren eingeleitet worden, massive Kapitalzuflüsse aus dem Ausland hatten für einen Wirtschafts- und Bauboom gesorgt, sozialistisches und kommunistisches Gedankengut hatte bei kolumbianischen Intellektuellen und bei Gewerkschaften Fuß gefaßt. Bereits 1921, also noch zu Zeiten der Regierung von Marco Fidel Suárez, hatte Universidad, die Zeitschrift von Germán Arciniegas, die spürbaren Umwälzungen thematisiert: "La transformación de factores sociales, económicos e ideológicos ha sido, en el presente lustro, más trascendental que en el decurso de todo el siglo que le precedió."49 Arciniegas' Projekt war es, mit Universidad eine Bühne zu schaffen, auf der sich die führenden reformorientierten Figuren des Landes (Baldomero Sanin Cano, Ramón Vinyes, Miguel Jiménez López, Luis López de Mesa) mit den jungen Autoren (León de Greiff, Rafael Vásquez, Germán Pardo García, Felipe Lleras Camargo, u.a.m.) austauschen sollten. Zwei Faktoren verhinderten jedoch, daß die Zeitschrift (zumindest in ihrer ersten Epoche 1921/22) in einem ähnlichen Ausmaß von seiten der politischen und kulturellen Oligarchie als revolutionär angesehen (und damit wirksam) wurde, wie dies später mit Los Nuevos geschah: Einerseits beschränkte sie sich zu sehr auf die Diskussion um die Schul- und Universitätsreform im Gefolge der Ereignisse von Córdoba und deren Rezeption in anderen lateinamerikanischen Staaten. Den zweiten Faktor versuchte Luis Tejada in seinem Antwortbrief auf die Bitte um Mitarbeit zu beschreiben: "Parece que los que empezamos a escribir e intentamos empezar a pensar en este último lustro, no hemos logrado imprimir todavía un rumbo definido a nuestras inquietudes. En realidad, nos agitamos dentro de una mezcolanza loca, dentro de un pandemónium pintoresco, que no carece sin duda de vitalidad inicial, pero que es perfectamente confuso. [...] amigo mío, es necesario decidirse, a no ser que se opte por un término medio, que sería en este caso cierto escepticismo benévolo, equidistante de los dos extremos del problema."50 Die beiden Extreme benannte er mit den Schlagworten Tradition und Revolution, oder personalisiert mit den Namen Maurras und Lenin. Dem Revolutionär Tejada 49 50

Miguel Jiménez López: "Los que surgen", Leitartikel des ersten Heftes von Universidad, 24.2.1921. Universidad, Heft 30, 9.3.1922; zitiert nach: Tejada, 1989, S. 311.

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erschien Universidad zu wenig eindeutig, zu kompromißbereit, zu sehr auf der Suche nach einem Ausgleich befindlich. Für ihn war die Zeit noch nicht reif: auf politischem Gebiet für den kommunistischen Umsturz, auf literarischem Gebiet für etwas wirklich Neues. Klare Konzepte für einen Bruch mit der Tradition in der Lyrik waren in diesen Jahren tatsächlich nicht zu erkennen. Während in Lima 1922 Trilce für Aufsehen sorgte, war das kurze Aufflackern eines Interesses für Avantgardeliteratur in Barranquilla51 in Bogotá höchstens am Rande wahrgenommen worden. Cromos glaubte offensichtlich, der Spuk sei bereits vorbei, noch bevor er die Hauptstadt überhaupt erreicht hatte: Ultrafuturismo De los aborígenes hasta nuestros días, Cuantos en hispanis cantaron poesías No trovaron nunca más que tonterías. Versos sin destellos y sin calorías, Notas sordas, frías, Silentes, sombrías, Sin timbre vibrátil en las armonías. Tan sólo en mis versos hay eucaristías! ¡Yo soy el Mesías! Yo soy el Maestro, Porque yo demuestro Que en el tiempo nuestro, [... soy] ¡¡¡El astro del estro!!! ¿Por qué? Porque extirpo todo clasicismo Y romanticismo Y aun el modernismo, Y hasta el futurismo. [...] A fin que en íntima y oculta harmonía Grite cada sílaba: -¡Viva la anarquía, Con la dinamita de la poesía!52

So sehr sich Alejandro Mesa Nicholls, der Autor dieses Werkes, auch mühen mag, sich selbst als die Verkörperung des lyrischen Messias, Anarchisten und Propheten darzustellen, es will ihm nicht recht gelingen. Weder, daß er die Zwölfsilber mit Sechssilbern zu brechen versucht, noch andere metrische Variationen im weiteren Verlaufe des Gedichtes können verleugnen, daß er der Tradition anhängt, die er abzulösen gedenkt. Vinyes hatte zwar seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die "Futuristen" zur Interpunktion zurückfinden mögen, doch von den ausgesuchten Reimfolgen und den hinlänglich bekannten Adjektiven hatte er nicht gesprochen. Es bleibt nach der Lektüre des 'Manifestes' des Ultrafuturismo unklar, wie eine "íntima y oculta harmonía" die Anarchie ausrufen könnte. Cromos schließlich trug auch mit der

52

Ramón Vinyes veröffentlichte bezeichnenderweise einen neuen Artikel über Avantgarden, diesmal über sowjetische Autoren, Im J a h r e 1922 nicht In Universidad In Bogotá, sondern in der kleinen Zeitschrift Caminos der Hafenstadt an der Karibik (Vinyes, 1982, S. 119f). Cromos, 10.6.1922.

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Illustration dazu bei, daß die Aussagen des Dichters von den Lesern/innen nicht allzu ernst genommen würden. Sechs junge Frauen und Männer, die Lyra in der Hand, von Seidengewändern umgeben, streben, zwei von ihnen auf einem Pferd sitzend, der aufgehenden Sonne am Horizont entgegen. Der Boden ist mit Blüten übersät, ein griechischer Tempel erhebt sich an der Seite und am Himmel sind noch die letzten Strahlen von Mond und Sternen zu sehen. Mit kitschigem Jugendstil, der alle Elemente einer pompösen, rhetorischen und klassizistischen Lyrik in sich vereinte, sollte mit dieser Zeichnung dem Einzug der Avantgarde in Kolumbien entgegengewirkt werden. Selbst die konservative Zeitung La Defensa sah sich genötigt, sogenannte "versos futuristas" abzudrucken. Nocturno von Rin-Rin53 schildert das nächtliche Medellin, in dem Männer sich über Politik unterhalten, während in einem nahegelegenen Park die Frösche quaken: Sólo turba la calma de la noche el animado speak de unos señores que hablan de sutilezas de política, tema de palpitante actualidad. [...] Y las ranas, las ranas del distrito la emprenden con un tema geométrico. Los señores cro-cro-cro. Los señores cro-cro-cro. Los señores cro-cro-cro.

Da bei La Defensa von einer tiefverwurzelten Antipathie gegen den "Futurismus" auszugehen ist, kann dieses Gedicht nur als Parodie gelesen werden: Das englische Wort "speak" denunziert die Männer als Anhänger der Modernisierung. Das, was sie besprechen, hat demzufolge den gleichen Wert wie das Quaken der Frösche, nämlich keinen. Der Autor hat von den neuen Theorien immerhin gelernt, daß diese Aussage wirkungsvoll dargestellt werden kann, wenn er den einen oder anderen Neologismus und onomatopoetische Verfahren einfließen läßt.54 Mindestens bis 1925 dauerte diese Phase an, in der von der Avantgarde nicht mehr als einige Schlagwörter und Versatzstücke bekannt waren oder zumindest nicht öffentlich bekannt gemacht wurden. Erst danach, parallel zur Auseinandersetzung mit Los Nuevos, besannen sich die Intellektuellen aller politischen und literarischen Richtungen auf eine ernsthafte Beschäftigung mit dem, was außerhalb Kolumbiens an La Defensa, 13.6.1925; das Pseudonym, das Ich nicht zu entschlüsseln vermochte, Ist offensichtlich eine Anspielung auf ein populäres Gedicht von Rafael Pombo. Ein weiteres Beispiel für eine solche partielle Rezeption der avantgardistischen Verfahren stellt das Sonett Siglo XX von A. Ortlz Vargas dar, ebenfalls In Cromos veröffentlicht (3.3.1923): "Siglo de fox trots, cubismo y estragos/ de revoluciones en germen y en brote,/ mientras Sancho Panza pasea por Chicago/ caballero andante sobre Don Quijote.// Rascacielos nuevos de estructura recia,/ rubls made ln Germany', chales de New York,/ y en la compra-venta los fHsos de Grecia/ Junto a un motociclo no tienen valor.// Siglo de usureros, cambistas y estrellas/ de cines de moda, sabiamente bellas/ que gastan en drogas mil duros al m e s ; / / Máquinas parlantes, ruidos Infinitos/ de cien mil usinas y gritos y gritos/ de los que trituras con tu solidez."

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Neuerungen propagiert wurde; Neuerungen, die über eine Neuinterpretation des Symbolismus und eine Weiterführung des Modernismus hinausgingen.55 Angesichts dieser Diagnose verwundert es nicht, daß der - obgleich bereits 1924 verstorbene - Vordenker und Mentor von Los Nuevos, Luis Tejada56, in einem mit "El Futurismo" überschriebenen Artikel diese Situation bedauert. "Es raro que en Colombia no se tenga todavía una idea precisa sobre lo que es el futurismo literario. También es cierto que a pesar de nuestra decantada curiosidad intelectual, ni los libros futuristas, ni las revistas futuristas, ni aun el eco siquiera del movimiento futurista llega hasta aquí, o si llega vagamente, no le hemos prestado atención" (S. 269).57 Allerdings trug er selbst auch nichts dazu bei, dieses Vakuum nachhaltig zu füllen, denn seine Neugier richtete sich nicht auf die externen Einflüsse, sondern auf autochthone Entwicklungen. Mit dem später nicht mehr in Erscheinung getretenen Juan Francisco Arboleda wollte er einen kolumbianischen Futuristen entdeckt haben, der mehr Talent hätte als Tablada: "[...] no posee conocimientos de ninguna clase, ni profundos ni superficiales; no ha oído nombrar en su vida a Guillermo Apollinaire y su revolucionarismo literario es perfectamente inconsciente" (ibid.). Wenn diese Behauptung richtig war, dann hätte das Gedicht Despedida, das der Autor zum Tode seines Vaters verfaßt hatte, in der Tat eine andere Qualität als der oben besprochene Versuch von Hipólito Pereyra. Arboleda hätte dann aus eigenem Antrieb mit dem bis dato herrschenden, Reim, Perfektion im Metrum und grammatikalische Korrektheit vorschreibenden Diskurs gebrochen.

57

in den mir zur Verfügung stehenden Quellen klafft nach den Beiträgen von Ramón Vlnyes eine Lücke von mehreren Jahren, ausgenommen einige Erwähnungen und Textbelsplele von Ramón Gómez de la Serna. Weitere Stationen der Rezeption der Avantgarden waren dann: F. Vela: "Qué es el superrealismo ". In: El Espectador. Suplemento literario ilustrado, 2.4.1925; B. Sanln Cano: "Marlnettl", In: Indagaciones e Imágenes, 1926 (Sanln Cano, 1977, S. 209-211): L. Rodrlguez-Embll: "El Dadaísmo y nuestra época", ln: El Nuevo Tiempo Literario, 23.7.1927; J . Silva Valdés, Rezension: "Indice de la nueva poesía Iberoamericana por Guillermo de Torre", ln: El Espectador. Suplemento literario ilustrado, 1.9.1927; A. Alvarez Lleras: "La sinceridad y los cánones de la literatura vanguardista", ln: El Nuevo Tiempo Literario, 11.11.1927; C. Vallejo: "La poesía nueva'", ln: El Espectador. Suplemento literario Ilustrado, 24.11.1927; G. del Valle: "Guillermo de Torre", ln: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 4.3.1928, u.v.a.m. In den Jahren 1928 und 1929. Luis Tejada, 1898 ln Antloqula geboren, hatte vielfache Beziehungen zu den reformorientierten und revolutionären Kräften ln Kolumbien. Mütterlicherseits war er mit den Canos verwandt, die als Herausgeber von EI Espectador Ihren Schwerpunkt gerade nach Bogotá verlegten; Maria Cano, seine Tante, repräsentierte ab 1925 die erste gewerkschaftlich orientierte sozialistische Massenbewegung Kolumbiens. Sein Vater, der Reformpädagoge Benjamin Tejada, wirkte u.a. ln Calarcá. der Heimatstadt von Luis Vidales. Luis Tejada selbst arbeitete als Journalist ln Medellin, Barranqullla und Perelra (eine Stadt, die wie Calarcá In der aufstrebenden Kaffeeregion Im Süden Antloqulas lag), bevor er 1921 nach Bogotá ging. Das Gesamtwerk von Luis Tejada findet sich ln zwei sich ergänzenden Bänden, Tejada 1977 (zur Biographie vgl. das Vorwort von J u a n Gustavo Cobo Borda, S. 15-31; dieser Sammelband enthält auf den Selten 255-366 sein Libro d e Crónicas von 1924) und 1989 (mit einer umfangreichen, wenn auch nicht ganz vollständigen Bibliographie S. 407f). Tejada, 1989, S. 269-271; der Beitrag erschien ln EI Espectador, Medellin am 16.11.1920; es wird deutlich daß er sein Wissen allein a u s Voces schöpft, denn er nennt als Autoren der Avantgarde (auch er setzt Futurismus damals mit der Gesamtbewegung gleich) Gulllaume Apollinaire, Max Jacob und José Luis Tablada sowie als führende Zeitschriften, wie Vlnyes, Nun und Sic aus Paris.

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A b a n d o n é m i patria segunda. Volver hacia m i patria primera. [...] Vi salir m i bello cuerpo de m i h u m i l d e c h o z a y allí el repique de c a m p a n a s Tin talán, tin talán. Y o era u n a paloma blanca de alas doradas. [...] V o y rezándole con campanillas a m i corazón muerto que era algo de piedra (S. 2 6 9 0 -

In der Bewertung dieser kleinen Geschichte der Seele, die auf den Körper zurückschaut, den sie gerade verlassen hat, kommt Tejada zu einigen Kriterien, die für ihn wichtig werden in Hinblick auf eine zukünftige Lyrik. Das Gedicht sei synthetisch, denn es schaffe Emotionen durch "imágenes rápidas, invisiblemente asociadas". Den Versen läge, auch wenn oder weil sie nicht korrekt gebaut seien (im Sinne der preceptiva literaria wäre zu ergänzen), eine diskrete Musikalität zugrunde. Den Lesern/innen schließlich weist er die Aufgabe zu, den grammatikalischen Bruch zwischen der ersten und der zweiten Zeile selbst aufzuheben. Unabhängig davon, ob im Kontext der europäischen und lateinamerikanischen Avantgarden nun Despedida der Rang eines gewagten Experimentes zukommt oder nicht, hebt es sich in Kolumbien doch deutlich ab von der sonst üblichen wohlformulierten Trauerrhetorik und -metaphorik.58 Die Frage der Neuorientierung der kolumbianischen Literatur beschäftigte Tejada nicht als Literaturkritiker, sondern als Intellektuellen, der das gesamte politische, gesellschaftliche und kulturelle System des Landes verändern wollte. Auf Marco Fidel Suárez, den Repräsentanten des alten Regimes und der Atenas Suramericana, richteten sich konsequenterweise die heftigsten Attacken seiner crónicas. Der Beitrag, der mit einiger Berechtigung als sein poetologischer Grundsatzartikel bezeichnet werden kann, heißt daher "La gramática y la revolución"59. Obwohl Lyrik darin nur am Rande erwähnt wird, macht er stärker als die Aufsätze über Rubén Darío oder jeden anderen Dichter60 die Weiterentwicklung der am Beispiel von Despedida herausgearbeiteten Kriterien deutlich.

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Vgl. unter vielen anderen Luis Maria Mora, Anima rerum, In: Mora, 1929, S. 89: "Cuando el hombre a su término se Inclina/ Las cosas le abren su intimo sentido,/ Llegan nuevos acordes a su oído/ Y el ojo nuevos mundos adivina.// (...) El patrio amor en su ascensión avanza;/ (...] Y de otra nueva vida la esperanza/ En las sombras enciende sus estrellas." Tejada, 1977, S. 322f. V¿. u.a. "Rubén Dario, R.I.P.", ln: Tejada, 1977, S. 163f: "Luis Carlos López", Ibid., S. 174f; "León de Grelfl", In: Tejada, 1989, S. 355f; "Tres escritoras antloqueñas" (über Maria Eastman, Maria Cano und Fita Urlbe), Ibid. S. 391-393; ferner die Artikelserie über seine Freunde in Medellin, die kurz vor der Präsentation von Arboleda entstand, ibid., S. 247-260; über Guillermo Valencia erschien am 12.12.1922 ln El Espectador, Medellin, ein Artikel (übernommen von El Soi, einer Zeitimg, die Luis Tejada und José Mar gegründet hatten), den die Herausgeber ihm zuschrieben.

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Tejada setzt mit der Beobachtung von Marco Fidel Suárez ein, daß in der Praxis der Journalisten und Literaten die Grammatik zu wenig geachtet werde und daß sich dahinter der Geist der Rebellion verbergen könnte. Er tröstet ihn jedoch: Es handle sich nicht um eine bewußte Eliminierung der Grammatik, sondern schlicht darum, daß die Schreiber nicht genügend in dieser Materie bewandert seien: "es seguro que si nuestros periodistas y literatos supieran la gramática, no la quebrantarían" (S. 322). Im Gegensatz zu Suárez bedauert er nicht, daß der Grammatik nicht Genüge getan werde, sondern daß keine Ansätze dafür vorhanden seien, die alten Regelwerke abzuschaffen: "No puede eliminar la gramática, una generación que no tiene ideas nuevas, ni experimenta sensaciones nuevas; porque toda conjunción imprevista de palabras, que se salga de los moldes gramaticales, significa la existencia de una idea nueva, o al menos, acusa una percepción original de la vida, de las cosas. Por eso en las épocas de intensa agitación espiritual, en los momentos de revolución, cuando todo se subvierte o se destruye, la gramática salta hecha pedazos, junto con las instituciones milenarias" (S. 323). Im nachrevolutionären Rußland sei genau dies geschehen, doch in Kolumbien "todo el mundo escribe o trata de escribir correctamente, ciñéndose en lo posible a las reglas clásicas. [...] Por eso nuestra literatura es la más retrasada, la menos inquieta, vigorosa y fecunda del Continente" (ibid.). Neue Ideen und eine revolutionäre Grundeinstellung sind für Tejada also unabdingbare Voraussetzung für eine avantgardistische Literatur. Die äußeren Kennzeichen einer solchen Lyrik, die sich auf der Höhe der Zeit befände, treten hinter dieses Grundanliegen zurück. Doch auch ihrer nahm er sich an in "Los Versos"61. Gedichte müßten, plädiert er dort, ein bißchen entstellt, häßlich und unharmonisch sein, sie bedürften einer überraschenden Idee, oder eines ungewohnten Bildes. Beinahe beschwörend fordert er, nicht nur der überfrachteten Rhetorik, sondern auch der Verlaineschen Musikalität den Hals umzudrehen. "¿Hasta cuándo nos van a dar los poetas su música cansada de cascabeles, la terrible música monótona de los sonetos y de los cuartetos, la música intonsa de todos los metros correctos, que nos hace pensar con pavor en las recitaciones de las escuelas y de las veladas literarias en que se dicen epopeyas atroces?" In ganz Kolumbien, diesem von Grund auf konservativen Land, in dem niemand die Herausforderungen der Zukunft oder auch nur der Gegenwart wahrnahm und dessen Dichter die Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre, wenn sie sie überhaupt registrierten, höchstens belächelten, gab es für Tejada mit Luis Vidales einen einzigen 61

Tejada. 1977, S. 282f.

150 Lyriker, der seinen Vorstellungen entsprach.62 In seinen Gedichten fand er die von ihm postulierte "poesia de ideas, sobria y sintetica" (S. 159). Die Konfrontation von solchen Begriffen, Gedanken oder Vorstellungen mit den kleinen Dingen des Alltags bewirke den spezifischen Humor der Dichtung von Luis Vidales. Diese Verfahrensweise war in den Augen Tejadas kein Selbstzweck, sondern die Bedingung der Möglichkeit, in der modernen Welt ein Gefühl für die Unendlichkeit zu bewahren.63 Das lyrische Kunstwerk diente in dieser Konzeption nicht mehr dazu, wie dies zur gleichen Zeit noch die Schulbuchautoren postulierten, die Schönheit der Schöpfung Gottes abzubilden, oder, gemäß der modernistischen Poetik, in eine schöne Sonderwelt zu flüchten; der Dichtung kam hier die Aufgabe zu, die konkrete Lebenswelt der Menschen zu thematisieren, ohne in affirmative Kunst abzugleiten; ihr wurde aufgetragen, mittels der "ideas" Alternativen aufblitzen zu lassen, doch ohne sie im Sinne einer umgreifenden Ideologie auszuformulieren64; die humoristische Konfrontation oder Brechung sollte dabei vorschnelle Identifikationen verhindern, ohne jedoch den potentiellen Ausgriff auf das Wesen der Dinge, auf die Universalität, auf die Wahrheit und auf die Transzendenz aufzugeben. Tejada bestimmte mit seinen Ausführungen zur Dichtung das Verhältnis von Kunst und Leben neu. Er plädierte für eine Annäherung von Literatur und Lebenswelt, doch er reservierte für den Dichter die notwendige Distanz, die Kritik an der traditionalen Lebenswelt, ihrer Umformung im Zuge der Modernisierung und ihrer Umformung im Zuge möglicher neuer, gesellschaftlich wirksamer Ideologien noch gewährleisten sollte.65

3.2.4. Los

Nuevos

Trotz der Vorboten der vorangegangenen zehn Jahre - Panida, Voces, Universidad, Luis Tejada, Publikationen von León de Greiff und Luis Vidales - traf das erste Heft von Los Nuevos66 die Elite der Hauptstadt offensichtlich unvorbereitet an. Plötzlich 62 "Un poeta nuevo", ibid. S. 158f; die Beschreibung Kolumbiens stammt a u s dieser crónica. ® 3 Vgl. Ibid. S. 159: "{.••] no hay humorismo sino en la comparación de Ideas, o de serles de Ideas, confrontándolas entre sí o asociándolas a pequeñas cosas de manera que determinen u n contraste trascendental, que al encerrarlas dentro de u n leve marco vulgar, nos den sin embargo una sensación de Infinito; así, al tocar las menudas cosas cotidianas, el poeta no pierde su situación eminente, su punto de vista universal y esencial." 64 In diesem Sinne war Tejada selbst, obwohl er sich als Kommunist bezeichnete, nie ein Kämpfer für die Ideologie um der Ideologie willen; er richtete seinen Blick immer zuerst auf die kleinen Details und auf die scheinbar unwichtigen Dinge des Alltags, um sie dann in den größeren Zusammenhang zu stellen. Dajnit hebt sich die Dichtungsauffassung Tejadas zumindest teilweise von einem der grundlegenden Kennzeichen der Avantgardekunst ab, wie sie Peter Bürger beschrieben hat, nämlich vom Versuch der Avantgardisten, die Kunst In eine neue, alternative Lebenspraxis zu überführen, wobei Kunst und Lebenswelt zusammenfallen sollten; Bürger, 1987, S. 63-75, und häufiger. ®® Von Los Nuevos erschienen zwischen Juni und August 1925 fünf Hefte mit einem Gesamtumfang von 165 Selten (von denen Ich das letzte Heft mit 20 Seiten Umfang nicht einsehen konnte). Als Direktor der Zeitschrift fungierte Felipe Lleras Camargo, als Redaktionssekretär Alberto Lleras; die weiteren Mither-

151 sah sie sich einer Gruppe67 von jungen Intellektuellen gegenüber, die sich nicht in die alten Zirkel integrieren wollte und sich als neue Generation mit neuen Ideen präsentierte, ohne jedoch eine einheitliche politische oder literarische Konzeption vorzustellen: "No vamos a lanzar un manifiesto ni a formular un programa. Diremos, simplemente, la razón de nuestra revista. [...] Cada generación lleva consigo sus ideas y preocupaciones, las cuales le imprimen determinado impulso a la vida nacional y constituyen el fondo ideológico de un país en determinado momento de su evolución. Estas ideas y preocupaciones logran imponerse, ayudadas de un lado, por las conquistas alcanzadas anteriormente e involucradas sustantivamente a la ética nacional y de otra por el impulso inicial que lleva consigo todo movimiento ideológico nuevo. [...] La Revista, por sí misma, no tendrá orientación ni carácter alguno. No queremos decir con esto que sea un órgano ecléctico, en el sentido filosófico del vocablo, ni que pretenda hacer surgir los principios de la misma contradicción. Será, simplemente, un índice de las nuevas generaciones, o para usar una imagen apropiada, una especie de aparato de resonancia que recoja el eco del pensamiento nacional. [...] Una concepción mecánica de la vida está sustituyéndose a la concepción racional. Los apetitos bastardos han desterrado al espíritu. Todo pide una restauración de los principios. Hay que proclamar de nuevo la tabla de los valores intelectuales y morales."68 Dieses Manifest, das keines sein sollte, liest sich aus heutiger Perspektive eher wie ein Kompromißpapier der verschiedenen Strömungen innerhalb von Los Nuevos denn als revolutionäres Programm, das die erregten Reaktionen in den Publikationsorganen Bogotás rechtfertigen würde. Mit ihren Beiträgen zu den im Untertitel genannten Bereichen "Política, Critica, Arte, Literatura, Asuntos Sociales" intendierten die jungen Intellektuellen aber eine grundsätzliche Neuorientierung innerhalb der führen-

68

ausgeber waren: Rafael Maya, Germán Arclnlegas, Elíseo Arango, José Enrique Gavilla, Abel Botero, Jorge Zalamea, Leön de GreliT, Francisco Umafia Berna], José Mar, M. García Herreros, C.A. Tapia y S. und Luis Vidales. Im Jahre 1950 veröffentlichte Jorge Zalamea In seiner Zeitschrift Crítica (Heft 45, 1.9.1950; s.a. Zalamea, 1978, S. 591-608) eine Anthologie wichtiger Texte a u s Los Nueuos. Zur eigentlichen Zeitschrift müssen die Selten hinzugerechnet werden, die El Espectador. Suplemento literario Ilustrado Jede Woche seit Anfang September bis Mitte Oktober der Redaktion von Los Nuevos zur freien Verfugung einräumte (die Bestände der Biblioteca Nacional und der Biblioteca Luis Angel Arango a u s diesem Zeltraum sind vielfach durch ausgeschnittene Selten beschädigt, doch zumindest sechs Ausgaben von "El glosarlo de Los Nuevos" blieben erhalten). Aus der Sekundärliteratur sind hervorzuheben: Maya, 1944b, S. 109-116; Caparroso, 1960: Mejla Duque, 1979, S. 53-67; Cobo Borda, 1980, S. 73-82; Charry Lara, 1984; Fajardo, 1991. Nahezu alle Kommentatoren beschäftigen sich auch mit der Frage, ob Los Nuevos als Gruppe, Generation oder Schule zu bezeichnen sei; die Diskussion darüber erscheint mir so wenig fruchtbar, daß Ich sie auf sich beruhen lassen möchte. Leitartikel von Heft 1, 6.6.1925, S. lf; zuletzt neu abgedruckt In: Osorio Tejada, 1988, S. 156f.

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den Schichten des Landes. In der Rückschau behauptete Luis Vidales sogar: "Estábamos demoliendo una fortaleza, un viejo país, una sociedad ochocentista, en los momentos en que la historia comenzaba su obra de pica contra todo lo vigente".69 Das in dieser Aussage behauptete Resultat des Wirkens der Gruppe kann mit Blick auf die weitere Geschichte Kolumbiens und seiner Literaturentwicklung mit guten Gründen bezweifelt werden70, doch immerhin gingen Los Nuevos auf einigen Gebieten weiter als ihre Vorgänger in Medellin und Barranquilla. Besondere Bedeutung kam dabei den politischen Anliegen zu. Bereits auf den Seiten nach der Selbstdarstellung ging Felipe Lleras Camargo daran (S. 3-5), den Bankrott der bisherigen Politik zu konstatieren und das Anliegen der Generación del Centenario zu kritisieren, die beiden Parteien des Landes ideologisch aufeinander zuzuführen. Das Dogma der Toleranz hätte dazu geführt, daß keine Alternativen und keine neuen Ideen mehr vorhanden wären. Er sieht nun den Zeitpunkt gekommen, das politische Spektrum erneut aufzuspalten durch die Propagierung der beiden möglichen Extreme: des Sozialismus und eines neuen Konservativismus. Die einen (Felipe Lleras Camargo selbst, José Mar, Luis Vidales, Jorge Zalamea, León de Greiff u.a.) richteten ihren Bück auf die Universitätsreform, auf die Oktoberrevolution und auf erste sozialistische Gruppen in Kolumbien, die anderen (Eliseo Arango, Augusto Ramírez Moreno71, mit gewissen Einschränkungen auch Rafael Maya 72 ) rezipierten Maurice Barrés und Charles Maurras und optierten für einen reaktionären, katholisch-konservativen Kurs.73 Die Lyrik ist in Los Nuevos - verglichen mit Panida - im Verhältnis zu den anderen Gattungen (politische Artikel, Literaturkritik, Theater, literarische Prosa) eindeutig unterrepräsentiert. Sie umfaßt nur etwas mehr als 10% des Gesamtumfangs der Zeitschrift74 und stammt - im Unterschied vor allem zu Voces - ausschließlich von Autoren aus dem weiteren Kreis der Herausgeber.75 Andere Dichter finden in Kritiken oder in den Gedichten selbst Erwähnung, wobei sich bei einer Aufzählung (in repräsentativer Auswahl) Frankreich als das Zentrum des Interesses herauskristallisiert: Villon, Quevedo, Byron, Verlaine, Baudelaire, Rimbaud, Laforgue, Keats, Shelley, Dario, (alle in Texten von León de Greiff), Tagore, Altenberg, Jammes, Claudel, Samain, Wilde u.v.a.m. Diese Liste zeigt, daß eine umfassende Auseinandersetzung mit den Avantgardebewegungen weder durch den Abdruck von Originaltexten noch in anderer Form 69 70

72

73 74 75

Luis Vidales: "Vicisitudes de un poeta tomapellsta", in: Vidales, 1976, S. 195-202, Zitat S. 196f. Wie dies z.B. Gutiérrez Girardot, 1982, S. 488f, und Cobo Borda, 1980, S. 73-77 tun. Diese beiden bildeten zusammen mit Silvio Villegas und José Camacho Carreño die ultrarechte Bewegung Los Leopardos. Vgl. seine Prosagedichte in Heft 2, S. 53-61, von denen viele mit einem Spruch von Barrés überschrieben sind. Vgl. Ramírez Moreno: "La orientación reaccionarla de la Juventud", Heft 1, S. 18-20. Wobei Prosagedichte der literarischen Prosa zugeschlagen werden. Auf den Sonderfall des Spaniers/Katalanen José Pérez Domenech, der In Heft 3, S. 89-91, zwei Gedichte publizierte, werde ich welter unten zu sprechen kommen.

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stattfand. Bei der Lektüre der Zeitschrift kann der Eindruck entstehen, daß die Herausgeber und Autoren weder das Manifest des Surrealismus von 1924 noch Trilce, Fervor de Buenos Aires oder die Zeitschrift Martín Fierro gekannt haben. Zumindest die Arbeiten von Ramón Vinyes mußten jedoch zum Allgemeingut geworden sein innerhalb der Gruppe76, so daß vermutlich weniger die Unkenntnis als vielmehr eine ablehnende Haltung der Avantgardelyrik gegenüber ihr Schweigen dazu bestimmte.77 Merkwürdigerweise existiert auch keine von den Autoren formulierte spezifische Standortbestimmung, wie die neue Literatur auszusehen hat, die ihnen vorschwebte. Die veröffentlichten Gedichte scheinen ohne vorgängige Vermittlung im eigenen Kontinent oder im eigenen Land auf der französischen und europäischen Tradition zu fußen. Selbst Manuel García Herreros korrigiert mit seinem Beitrag "Las letras en Colombia"78 dieses Bild nicht grundlegend. Er läßt darin die französische Lyrik seit der Romantik bis zur Avantgarde (diese aber, ohne auf einzelne Dichter einzugehen) Revue passieren, nennt kurz den Namen Huidobro und streift in einem Satz Proa und Martín Fierro79, um dann langatmig festzustellen, daß die kolumbianische Dichtung nicht über die Romantik, über Deskription und den Reim hinausgekommen sei. Nach Dutzenden französischer Autoren erwähnt er aus der kolumbianischen Literaturgeschichte nur Jorge Isaacs sowie als aktuelles Beispiel José Eustasio Rivera. In der anschließenden Einzelbetrachtung zu zeitgenössischen Dichtern kritisiert er an Rafael Maya und Rafael Vásquez, daß ihre Werke auch zwanzig Jahre zuvor hätten geschrieben werden können bzw. daß die Inhalte ihrer Bücher schon so bekannt seien, daß man sich nicht die Mühe zu machen brauche, diese zu öffnen. Noch vernichtender fällt sein Urteil über Miguel Rasch Isla, Ricardo Nieto und Alfredo Gómez Jaime aus, die nicht in Los Nuevos veröffentlichten. Worin seine persönlichen Vorstellungen von einer Lyrik bestehen, die der "vida moderna" (S. 121) entspräche, bleibt eher im Dunkeln. Er will weder den Avantgarden das Wort reden noch gegen Reim und Metrum angehen. Doch für seine postulierte neue Lyrik, in der "sensibilidad e inteligencia" (S. 120) zusammentreffen und in der die erweiterten Wahrnehmungsmöglichkeiten in der modernen Zeit ihren Niederschlag finden sollten, zeigt er keine Beispiele auf. Das einzig wirklich Konkrete, das er anbietet, sind die Forderungen nach Eklektizismus (als Steinbruch dafür stellte er

7

® León de GrelfT hatte bel Voces veröffentlicht, Vinyes selbst schrieb In der ersten Nummer von Los Nuevos einen Beitrag über russische Literatur (S. 22f) und Luis Tejada hatte sie zur Grundlage seiner eigenen Bewertung des "Futurismo" gemacht Erat am 8.10.1925 beschäftigte sich Jorge Zalamea - sehr ablehnend - auf der Sonderselte von El Espectador ("Critica de Los Nuevos") mit dem Manifest von Andre Breton; bezeichnenderweise hatte er den Artikel in Barranqullla verfaßt. 77 Diese Interpretation vertritt auch Mejia Duque, 1979, S. 67. 78 Heft 4, S. 115-127. 7 ® Vgl. dazu Cobo Borda, 1980, S. 76: "Para tratar de sincronizar a las nuevas promociones con lo que pasaba en Latinoamérica les menciona a Huidobro y les cita Proa y Martin Fierro [...]. Pero todo en vano."

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die französische Lyrik der vorangegangenen 80 Jahre hin) und nach "ideas, ideas, ideas" (S. 125f). Die Dichter von Los Nuevos wollten sich also weder in die Avantgardebewegung einreihen noch ein gemeinsames Lyrikkonzept entwerfen oder gar eine Schule bilden, noch wollten sie zu erkennen geben, auf welche kolumbianische Tradition sie sich stützten.80 Ihre politischen Anliegen, so disparat sie auch waren, formulierten sie in expliziter Absetzung von den centenaristas\ bei ihren poetischen Grundsätzen mochten sie die wie auch immer geartete Verbindung zu den parallel zu ihnen schreibenden Lyrikern nicht offenlegen. Einen Grund dafür deutet Rafael Maya in seiner Würdigung der eigenen Gruppe an: "Este grupo, si bien representó un rompimiento político y literario en relación con los centenaristas, pues en política volvió a las afirmaciones extremas, como reacción contra el sincretismo anterior, y en el campo intelectual amplió considerablemente el radio de la creación artística, permaneció, no obstante, fiel a ciertas escuelas del siglo pasado, como el simbolismo y el parnasianismo franceses, por una parte, y de otro lado, a la tendencia clásica, profundamente modificada por lo que hubo en el modernismo de más próximo a esta escuela."81 In ihrer Gesamtheit (León de Greiff und Luis Vidales ausgenommen82) konnten die Lyriker von Los Nuevos gar nicht Front machen gegen ihre Zeitgenossen, seien es nun die Modernisten um Valencia oder die centenaristas um Castillo und Rivera, denn sie standen ihnen viel zu nahe; die Punkte jedoch, in denen sie sich unterschieden, vermochten sie nur mit so vagen Schlagworten wie "ideas", "moderno" oder "sensibilidad" zu beschreiben, ohne daraus eine Theorie aufbauen zu können; gegen die Schulbuchlyrik aufzubegehren, die den jungen Autoren kurz zuvor noch auf dem Weg zum bachillerato präsentiert worden war, wäre lächerlich gewesen, denn diese hatten ihre älteren Dichterkollegen bereits überwunden. Ihr Rückgriff auf Frankreich schließlich, mit den gleichen Autoren, die parallel zu ihnen auch Eduardo Castillo propagierte, wurde von aufmerksamen Kritikern als das entlarvt, was es war: als ein Rückzug auf die klassischen Modelle:

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81 82

Vgl. dazu den Vortrag von Jorge Zalamea: "La literatura en Colombia", In: El Tiempo. Lecturas Dominicales, 22.8. und 29.8.1926, In dem er den Versuch, eine nicht-nationale Literatur zu schaffen, als eine der Gemeinsamkelten der Autoren von Los Nuevos darstellte. Dem widerspricht zumindest teilweise seine Lobeshymne auf Silva und Valencia sowie die Wertschätzung für die Gruppe lim Baldomero Sanin Cano, die auch Rafael Maya (21.3.1926), Felipe Lleras (1.8.1926) und Alberto Lleras (29.8.1926) In Interviews In der gleichen Sonntagsbeilage ausdrückten. Maya, 1944b, S. 112f. Leon de Greiff veröffentlichte In Los Nuevos zwei mit Prosas de Gaspar überschrlebene Prosagedichte (Heft 1, S. 6-8) und Poema equivoco del Juglar ebrio (Heft 2, S. 49-52), Luis Vidales das Prosastück Los Jantaches (Heft 2, S. 61-63) sowie das Gedicht: A Luis Tejada, elegía humorística (Zalamea nahm es ln die Anthologie von 1950 auf, daraus schließe Ich, daß es ln Heft 5 erschien).

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"En temas de literatura la revista tiene el propio espíritu de imitación de las escuelas franceses; las orquestaciones musicales de Verlaine de Samain, de Arthur Raimbaud [sie!]; el colorismo de los artistas prerrafaelistas; la literatura de los perfumes y de las joyas que domina la escuela inglesa con Walter Pater y Oscar Wilde. No encontramos la "emoción nueva" en las páginas de esta revista de Juventud."83 Wie groß die Ähnlichkeit zwischen manchen Gedichten aus Los Nuevos und solchen von Lyrikern der Generación del Centenario war, mag ein Vergleich belegen: Bajo la dulce calma de serena tarde sin sol, el valle silencioso oye la voz del Angelus, que llena mi alma de reposo, Y ansio difundirme dulcemente como esa luz que desde la colina de la insonora fuente las aguas ilumina.84 Esta noche el paisaje soñador se niquela con la blanda caricia de la lumbre lunar; en el monte hay cocuyos, y mi balsa que riela va borrando luceros sobre el agua estelar. [...] Apoyado en el remo, avizoro el vacío, y la luna prolonga mi silueta en el río; me contemplan los cielos [...]. 85

Beide Gedichte beschreiben eine abendliche bzw. nächtliche Landschaft, in der sich das schwache Licht im Wasser spiegelt. Die Atmosphäre der jeweiligen Szene wird durch entfernte akustische bzw. visuelle Eindrücke eher verstärkt als unterbrochen. Das lyrische Ich steht alleine inmitten der Natur und versucht, direkten Kontakt mit ihr zu gewinnen. Bei Pardo García will es sich in sie hinein auflösen, das etwas distanziertere Ich von Rivera, dem beständig seine objektive und beschreibende Dichtung vorgehalten wurde, versucht, die Leere der Nacht zu erkunden. In beiden Texten vermag die Natur, Sinneseindrücke wahrzunehmen, wenn das Tal das Läuten der Angelusglocken hört und die Himmel den Bootsfahrer betrachten. Die weiteren Gemeinsamkeiten, wie der Gebrauch von Alliterationen, festen Vers- und Reimformen und beschreibenden Adjektiven, überwiegen eindeutig die eher marginalen Differenzen (z.B. assonierender bzw. konsonantischer Reim, Enjambement bei Pardo García), insbesondere da sich diese Unterschiede innerhalb des von der traditionellen 83

84 85

Silvio Villegas: "Reflexiones lnactuales', Heft 3, S. 86-88, hier S. 87. Der Artikel wurde übernommen aus Villegas' Zeltung In Manlzales. Germán Pardo Garcia: Atardeceres en el campo. Ibid. S. 84f José Eustasio Rivera: Esta noche el paisaje (1. Gedicht des ersten Teils; Kritischen Ausgabe, Herrera Molina, 1972, S. 114).

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Poetik bereitgehaltenen Repertoires bewegen. Nichts ist hier zu spüren von einer lyrischen Revolution, mittels derer das erste Gedicht das zweite endgültig überwinden könnte. Nichts läßt auch bei Pardo García erkennen, worin die neue "poesía de ideas" besteht. Genausowenig vermochte José Umafla Bernal mit seiner aufzählenden Beschreibung von Joyeles, dem Modernismus etwas grundsätzlich Neues hinzuzufügen: Para el arco noble de la frente clara el sereno encanto de una perla rara; [...] Guardando celosos el tibio secreto sangrantes rubíes de tono discreto, Y en la línea excelsa de los remos finos en áureas ajorcas topacios divinos. 86

Unter den stärker der Tradition verhafteten Autoren von Los Nuevos war es vor allem Rafael Maya, der - nicht nur in seinen Prosagedichten - einige innovatorische Aspekte einbrachte: Conversábamos. Una diafanidad cristiana circundaba tu faz, como esa tibia atmósfera de ámbar que rodea a las dulces imágenes de los muros ilustres.87

Wie um das in Kolumbien bis dahin noch äußerst ungewohnte Fehlen des Reimes etwas auszugleichen, legt er in dieser in Strophen unterteilten Silva besonderen Wert auf den jeweils letzten Vokal. Überhaupt scheint Maya hier die Grenzen der überlieferten Formen ausreizen zu wollen. Die vorgeschriebenen Silbenzahlen von elf und sieben erreicht er nur, indem er die Verse beinahe willkürlich abbricht, ohne Rücksicht auf syntaktische oder gedankliche Einheiten zu nehmen. Es liegt der Schluß nahe, daß das erste Wort dieser Strophe, "conversábamos", die Leser/innen auf eine der lyrischen Prosa verwandte Sprache vorbereiten soll, ohne daß Maya dabei in Alltagssprache verfiele. Die folgende Satzperiode bedürfte nicht der Anordnung in Zeilen, um als ausgesprochen dichterisch zu wirken. Typisch modernistische Vokabeln wie "ámbar" verknüpft er zu Alliterationen, die meisten Substantive sind von ausschmückenden Adjektiven begleitet - in den beiden letzten Versen in chiastischer Stellung, um die mit i beginnenden Schlußwörter herauszuheben -, ohne daß das Gefühl aufkommt, die Verbindung "dulces imágenes" trage einen ironischen Unterton. Gewissen Freiheiten in der Form legt der Dichter also eine traditionelle lexikali86

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Heft 4, S. 136. Interior, H e f t l . S . 24.

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sehe Ausstattung zugrunde, deren Verständnis er jedoch erschwert durch metaphorische Elemente wie die "diafanidad cristiana", die nicht ganz zusammenfällt mit den Heiligenscheinen auf den Fresken in den Barockkirchen Bogotás und seiner Heimatstadt Popayán, die er als Erklärung anfügt, sondern auch ein verklärtes Lächeln oder klare Gedanken bei der Unterhaltung mit einschließt. Maya verlangte von seinem Publikum einige zumindest graduell höhere intellektuelle Anstrengungen als der Pardo García jener Zeit oder Rivera, und bisweilen präsentierte er sogar den damals revolutionären freien Vers. Aber die moderne Zeit und die neuen Ideen fanden in seinen Werken keinen Ausdruck. Er verkörperte, in den Worten von Gutiérrez Girardot, "la sociedad colombiana [que] se resistía, con gestos progresistas, a su transformación."88 Generell kann also angesichts dieser Diagnose nicht von einer Modernisierung der Dichtung in Los Nuevos gesprochen werden. Die verleugneten oder zumindest nicht offengelegten Traditionen waren zu sehr verwurzelt, um am Gesamtbild der kolumbianischen Lyrik der Zeit mehr als nur marginale Veränderungen zuzulassen. Doch bei Los Nuevos gab es auch eine Minderheit, die sich an anderer Stelle Gehör verschaffte. Die Zeitschrift Patria, ein Organ der Generación del Centenario, gab einem unter dem Pseudonym "El nuevecito escritor" schreibenden jungen Autor, "uno de los más apasionados miembros de la nueva generación", die Gelegenheit, sich zu äußern - als Zeichen der Toleranz seiner eigenen Generation, wie Luis Eduardo Nieto Caballero in seinem kurzen Vorwort anmerkte.89 Für die Frage, wer hinter dem Pseudonym steht, gibt es im Text zwei vage Hinweise. Zum einen werden im Verlauf der Artikelserie alle wichtigen Personen aus dem Kreis genannt und charakterisiert, mit Ausnahme von Eliseo Arango, José Mar und Luis Vidales. Zum anderen finden sich immer wieder Gedichte eingestreut, die mit "Vidalitas" überschrieben sind, angeblich als Reminiszenz an die gleichnamige populäre Liedform in Uruguay.90 Doch die radikalen Unterschiede zur allgemein üblichen Lyrik legen es nahe, Luis Vidales als deren Urheber zu vermuten, denn außer ihm war im Jahre 1925 wohl niemand in der Lage, solche Texte zu verfassen. Möglicherweise handelte es sich um ein Gemeinschaftsprojekt der drei Genannten, die die politischen Extrempositionen bei Los Nuevos besetzten und in Patria noch pointierter proklamierten als die Gesamtgruppe, oder aber Luis Vidales hatte es alleine übernommen, seiner "Generation" ein schärferes Profil zu geben. 88 89

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Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 509. Das Zitat Ist ebenfalls aus diesem Vorwort. Die sieben Beiträge erschienen wöchentlich zwischen dem 23.7.1925 (Heft 43) und dem 3.9.1925 (Heft 49). Dem letzten Artikel wurde eine von "Morsamor" (vermutlich Identisch mit "El nuevecito escritor") unterzeichnete Anthologie mit Werken von Autoren aus der Gruppe beigegeben. Soweit Ich die Sekundärliteratur überblicke, wurde "El nuevecito escritor" bislang noch nicht kommenUert; Cobo Borda, 1980, S. 74f, geht nur auf einen Artikel Armando Solanos In Patria (Heft 42, 16.7.1925) über "La nueva generación" ein, auf den Alberto Lleras In Heft 4 (27.7., S. 131-135) von Los Nuevos eine Erwiderung veröffentlichte. Diese Erklärung findet sich Im Beitrag vom 27.8.1925.

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Der Beitrag über "La poesía de Los Nuevos"91, der in der Zeitschrift Los Nuevos fehlt, bringt nun in Patria die Standortbestimmung mit folgenden Elementen: Der Bezug auf die Avantgarden durch die Zwischenüberschrift "La poesía ultraísta"; die Abrechnung mit der alten Lyrik; die Prinzipien der neuen Lyrik; Beispiele. "El nuevecito escritor" machte bei seiner Vergangenheitsbewältigung keine Unterschiede zwischen den zeitgenössischen modernistischen bzw. postmodernistischen Dichtern und deren Vorbildern: "Guillermo Valencia y Victor Londofio nos tienen aburridos. Ya no queremos la perfección parnasiana. José Eustasio Rivera nos ahoga en la opulenta vegetación de sus descripciones terribles. Rasch Isla nos es perfectamente odioso. Solo a un poeta de la generación del Centenario ha podido ocurrirle traernos vejeces inspiradas en el autor de los Gritos de Combate y más atrás en el Creador del Infierno."92 Gegen die Lyrik, die noch Regeln gehorcht, stellt er ein neues Programm: "La poesía es lo que ha venido a enseñarnos Pérez Domenech en conferencias rotundas. Nada de oropel, de vaguedades, de fastidioso amor, de palabritas llorosas a la beldad esquiva. Hoy todo eso se desencarna para que la verdad aparezca [...] desnuda. De manera breve, sin medida que haga de los versos un enjambre de niñas de primera comunión, sin el sonsonete que corta la respiración, obliga a alzar la voz o languidece con los mismos intervalos, se hacen hoy maravillas. Se sugiere y se grita, se condensa, se arrojan a la cesta las palabras inútiles." Der Katalane Pérez Domenech hatte aus Barranquilla Gedichte für Los Nuevos nach Bogotá mitgebracht, unter anderem das seinem Freund Ramón Vinyes gewidmete Mayo en el trópico'. En el trópico, Mayo es una ingenua ironía del calendario. Un cuento piadoso de abuela para los que suspiran por una primavera. [...] El paisaje desbordado vocifera. La médula zumba como una abeja ebria.93

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93

Heft 47, 20.8.1925; alle folgenden Zitate stammen a u s diesem Beitrag. Der letzte Satz bezieht sich auf Rasch Isias Buch La utslön, in dem die zeitgenössischen Kommentatoren Verbindungen zu Nüfiez de Arce und Dante erkennen wollten. Los Nuevos, Heft 3. S. 90.

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Im Vergleich zu den Gedichten Pardo Garcías, Umaña Bernais und Mayas wagt sich Pérez Domenech in formaler Hinsicht und in seinen Ausdrucksmöglichkeiten etwas weiter. Der unvollständige zweite Satz der ersten Strophe gerät ihm beinahe zu einer überraschenden Metapher, auch wenn sie nicht durch besondere Kühnheit besticht. Diese erreicht er zwar in der Beschreibung der vor Hitze und Trockenheit überbordenden Landschaft (er läßt sie brüllen), doch fügt er, wie aus Angst vor der eigenen Courage, im letzten Bild das ausgleichende und das Verständnis erleichternde "como" ein. Pérez Domenech ist durchaus zuzutrauen, daß er, ob nun in Spanien oder in der Buchhandlung von Ramón Vinyes in Barranquilla, einige Werke und Manifeste der Ultraisten gelesen hatte und sein Wissen in Bogotá an "El nuevecito escritor" weitergab, auch wenn er nicht alle ihre Forderungen94 selbst erfüllte. In den programmatischen Sätzen aus Patria gibt es durchaus Ähnlichkeiten zu den bekannten vier Punkten bei Borges: Reduktion der Lyrik auf die Metapher; Streichung der unnötigen Adjektive; Abschaffung des ornamentalen Beiwerks und des Bekenntnis- oder Predigtstils; Synthese von zwei oder mehreren Bildern zu einem.95 Doch nach der Vermittlung - vorausgesetzt, Pérez Domenech kannte dieses Manifest - lag das Schwergewicht in "La poesía de Los Nuevos" eindeutig auf dem Kampf gegen alle rhetorischen Ausschmückungen und den überlieferten Pomp, während die Metapher, "el elemento primordial" (ibid.) bei Borges, nicht mehr explizit auftaucht. In seinen Beispielgedichten wendet sie "El nuevecito escritor" zwar an, doch ihre Bedeutung bleibt hinter den tagespolitischen Anspielungen und ironischen Wendungen zurück. Ein ganzes Buch des Generals Jorge Martínez L. (L.- "ele" - steht im Gedicht für "látigo") über die Eisenbahnen im Norden des Landes faßt er, wie er sagt, in einer Strophe zusammen. Seine Inteipretation richtet sich dabei gegen die konservative Fortschrittsideologie, die allein den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur im Auge hat, und gleichzeitig, durch die Nennung des antiken Malers Apelles, gegen den allgegenwärtigen Hellenismus in der Kunst der "Regeneración", also des politischen Systems seit Caro und Núñez. En la espalda de la bestia rugiente cayó el ramal de esa ele, de ese látigo, y la Regeneración quedó sin rieles... Resucitara Apeles nos pintaría ese cuadro. 9 6 94

95 96

vgl. dazu Jüngst den Aufsatz über Guillermo de Torre und den spanischen Ultraismus von López de Abiada, 1991. Hier gekürzt, s. Ibid. S. 93. Caducidad y síntesis, Heft 47, 20.8.1925. Ohne Kenntnis der genauen Hintergründe und des Werkes von Martínez müssen einige der Anspielungen kiyptlsch bleiben; das Gedicht war, wie die meisten anderen In die Artikel eingestreuten Verse, für die aktuelle polltische Propaganda bestimmt

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In diesem Werk wird ansatzhaft deutlich, was Luis Tejada unter "poesía de ideas" verstanden hatte: Der Autor spielt hier mit verbrauchten Metaphern ("bestia rugiente" für Eisenbahn) und konfrontiert sie mit neuen, zwei- oder mehrfach verschlüsselten und codierten ("L." des Namens, "L." als Abkürzung von "látigo", "L." als Graphem, das zerbricht - als Martínez auf die Eisenbahn einschlägt? - und den Traum von der Schiene beendet); er spielt mit der Sprache und er spielt auch mit der Gelehrsamkeit der Humanisten und der Modernisten, indem er Apelles einfügt. Mit der Nennung dieses Namens gibt er dem Gedicht eine Wende, weil er von der Ebene des Buchstabens auf die des Bildes (auch "cuadro" trägt zumindest eine doppelte Bedeutung: das gemalte Bild und die Anspielung auf die beliebte Literaturgattung der cuadros de costumbres) abschweift. Nahezu jedes Element in diesen wenigen Zeilen könnte als Humor, Ironie, Sarkasmus oder Freude am Spielen gesehen werden: die r-Alliteration, die Abfolge von "esa", "ele", "ese", die Gegenüberstellung von "Regeneración" und "Resucitara". Doch diesem Spiel liegt ein ernstes Anliegen zugrunde. "El nuevecito escritor" versucht, die Sprache als bedeutungstragendes und bedeutungsschaffendes Element über die reine Beschreibung, über die Ornamentik seiner Zeitgenossen und die sattsam bekannten Bilder und Vergleiche hinaus auszuloten. Dabei ist ihm nicht nur sein politischen Anliegen wichtig, sondern auch die Form. Der Verweis auf die "Vidalitas" im Süden Lateinamerikas, eine "copla" zu Beginn des Artikels vom 3.9.1925 sowie die bewußt deformierte und kaum noch zu erkennende Romanzenform dieses Gedichtes97 belegen eine Beschäftigung mit volkstümlicheren und ungekünstelten Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Gattung Lyrik. All dies erweckt den Eindruck, als ob "El nuevecito escritor" sich nicht, wie Rafael Maya, mühsam und vorsichtig von traditionellen Formen entfernen wollte, sondern im Gegenteil sich ihnen mit einem neuen Instrumentarium von der anderen Seite, vom freien Vers und von der ungebundenen Sprache wieder näherte. Die Beiträge des "nuevecito escritor" und einige seiner Beispielgedichte belegen, daß in Kolumbien im Jahre 1925 Ansätze vorhanden waren, die Lyrik zu modernisieren - sei es nun auf dem Wege der Rezeption der von außen kommenden Avantgarden oder über die Entwicklung einer eigenständigen, den Avantgarden nahestehenden Bewegung oder durch die Herausbildung einer vom modernistischen Pomp befreiten politischen Lyrik oder alleine dadurch, daß die so gerne gepflegte Rhetorik radikal beschnitten worden wäre. Doch "El nuevecito escritor", wer auch immer dieses Pseudonym gewählt hatte, vertrat die Meinung einer Minderheit, selbst innerhalb der kleinen Gruppe von Los Nuevos. Seine Anregungen erhielten noch einmal Unterstüt"Hemos vuelto al romance, pero desarticulando, restableciendo el prestigio al hiato, la cacofonía, las muletas para los versos cojos y todo lo prescrito por la generación del Centenario", schreibt er kurz vor dem Gedicht Bewußt gelehrt und kunstvoll nahm 1928 Manuel Brlceño die Romanzentradition in El virrey SoUs. Romancero auf: "La vida así, como se ve,/ trescientos veinte años atrás,/ sin el más leve malestar/ se deslizaba en Santa Fe;/ mas como dicha no hay sin fin/ lo cierto es que una ocasión/ vino a turbar esa quietud/ alguna extraña relación/ de extraordinaria magnitud [...]" (S. 21).

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zung, als im folgenden Jahr der Gedichtband Suenan Timbres von Luis Vidales erschien. Ähnlich wie Tergiversaciones von León de Greiff im Frühjahr 1925 wurde aber auch er zur Kenntnis genommen, kritisiert und vergessen, ohne Schule zu machen. Die Zeitungen und das Publikum begnügten sich mit den vorsichtigen Neuerungen eines Rafael Maya und eines Germán Pardo García oder wandten sich wieder den althergebrachten Konzepten zu, wie sie Guillermo Valencia, Luis María Mora, Eduardo Castillo, Alfredo Gómez Jaime, Juan Lozano y Lozano, Manuel Briceño, Ricardo Nieto u.v.a.m. in ihren Publikationen zu dieser Zeit und in den folgenden Jahren präsentierten, nun jedoch immer häufiger mit einer klaren Absetzung gegen die neuen Entwicklungen. Unbeeindruckt von alledem warnten die Schulen weiterhin vor den Gefahren des Modernismus; die einfachen Bauern und Arbeiter, die vom Bildungssystem ausgeschlossen worden waren, fuhren fort, ihre coplas und Lieder von Julio Flórez zu singen.

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3.3. Reaktionen auf Los

Nuevos

Wenngleich die punktuelle und partielle Modernisierung, die Los Nuevos der kolumbianischen Lyrik brachte, auch keine Kreise zog, so hatte die Zeitschrift zumindest einen grundlegenden Erfolg. Nach 1925 sahen sich viele Dichter und Kritiker gezwungen, Stellung zu nehmen zu dem, was nun nicht mehr hinter vordergründigen Polemiken versteckt oder durch Nichtbeachtung unterschlagen werden konnte. Los Nuevos wuchs die Funktion eines Katalysators zu, der eine groß angelegte, wenn auch im Endeffekt wenig produktive Diskussion über den Stellenwert der zeitgenössischen Lyrik und den geistesgeschichtlichen Standort des Landes im Jahre 1925 in Gang setzte.

3.3.1. Die Interviews in El Tiempo. Lecturas Dominicales Kurz nachdem die Zeitschrift Los Nuevos ihr Erscheinen eingestellt hatte, begann El Tiempo in seiner Sonntagsbeilage, den Integrationsfiguren der intellektuellen Elite des Landes ganz bestimmte, stereotyp wiederholte und nur in der Formulierung variierende Fragen zu stellen: Gibt es neue Ideen und Ideologien? Brauchen wir neue Parteien? Erleben wir gerade eine Dekadenz? Was halten Sie von der Auseinandersetzung zwischen den Generationen? Wie bewerten Sie die derzeitige Literatur? Welche Epoche der kolumbianischen Literatur ist oder war für Sie die herausragende?1 "Ideas" und "decadencia" kristallisierten sich im Laufe der Zeit als die beiden zentralen Begriffe in den Interviews heraus.2Armando Solano hatte dabei das Maß gesetzt, an dem sich alle Nachfolgenden zu orientieren hatten: "¿Cómo se le ocurre a usted, si no es por un exceso de benevolencia para con nuestros compatriotas, preguntar si hay en este país movimientos o corrientes de ideas, o lo que es lo mismo, grupos de hombres desinteresados, de intelectuales puros, de gente de estudio, unidos por una intención de propaganda, o solamente de contemplación ideológica? [...] la filosofía, la prosa, la 1

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Hinzu kamen noch persönliche Fragen über Publikationen, derzeitige Tätigkelten, polltische Aktivitäten etc. des Befragten. Die Serie der Interviews erstreckte sich über mehr als zwei Jahre von Ende 1925 bis zum Beginn des Jahres 1928. Ein Markenzelchen dieser Kolumne unter dem Titel "Una hora con ..." stellten die Karikaturen Ricardo Rendóns dar, der statt eines Photographen den Interviewer begleitete. Die Niederschriften waren entweder gar nicht oder mit Pseudonymen und Kürzeln gezeichnet, wie z.B. "E.S." (Eduardo Santos), "El Caballero Duende" (Eduardo Castillo) oder "Noel Amacorva". Vgl. z.B. "Una hora con Ricardo Hinestrosa Daza", 8.3.1927: "[...] decido Interrogar al doctor Hlnestrosa Daza sobre tópicos de actualidad: - Cree usted, como algunos pesimistas, que hay decadencia en nuestra literatura?"

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poesía tropicales, o son de una penosa exuberancia, o de una imitación raquítica, simiesca. [...] nuestra vida sigue gobernada en todos sus órdenes por ideas antediluvianas. [...] La literatura de vanguardia no tiene lectores aquí, ni a título de curiosidad. Las leves partículas de buen gusto y de amor al arte que hay en Bogotá, nada pesan ante la densa y tenaz ignorancia de los pueblos, que no aceptan otra poesía que la que se puede cantar con acompañamiento de tiple."3 Natürlich handelt es sich bei diesen Aussagen um polemische Zuspitzungen, die der Centenarist Armando Solano später relativiert, als er auf das Verhältnis zwischen der neuen und den alten Generationen - insbesondere auf die Verdienste der eigenen - zu sprechen kommt. Doch er stellt sich mit seinen Ausführungen zu den Intellektuellen in den Tropen in eine Tradition, die in den vorangegangenen fünf Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit von sich reden gemacht hatte und ohne die die anderen Interviews nicht zu verstehen wären. Eine Richtung in der Diskussion um die Schulreform4 stützte sich auf die Thesen des Mediziners Miguel Jiménez López, der in seinem 1920 publizierten Bändchen Nuestras razas decaen behauptet hatte, die Menschen in den Tropen wären zum einen aus klimatischen Gründen denen aus den gemäßigten Breiten unterlegen und zum anderen zusätzlich einem Prozeß der fortschreitenden Degeneration bzw. Dekadenz ausgesetzt. Da nur in den gemäßigten Breiten sich eine Kultur über längere Zeit hinweg auf hohem Niveau stabilisieren könnte, forderte er damals nicht nur kurzfristige Reformen wie Hygieneerziehung, Sportunterricht, Abschaffung der chicherías und eine verbesserte Ernährung für breite Bevölkerungsschichten, sondern auch eine massive Einwanderungspolitik zum Ausgleich für den biologischen Niedergang der "Rasse". Der pessimistischen Ausrichtung von Jiménez López stellte in einer großen Konferenz über dessen Arbeit der Soziologe Lucas Caballero seine optimistische Sicht der Zukunft entgegen.5 Angesichts der modernen Zeiten stünden Kolumbien große Fortschritte bevor, wenn die Eliten des Landes in der Lage wären, die politisch-institutionellen und die infrastrukturellen (vor allem das Schulwesen) Voraussetzungen weiter zu verbessern.

"Una hora con Armando Solano", zitiert nach der Fassung Solano, 1983, S. 340-353, Zitat S. 342 und 348; das Interview erschien vermutlich an einem der ersten beiden Sonntage Im November 1925, denn Im Gespräch mit Antonio José Restrepo (15.11.1925) wird darauf verwiesen. Als Anmerkung am Rande verdient das Weltbild dieses führenden Journalisten des Landes eine gewisse Aufmerksamkeit Bogotá Ist für Ihn das Zentrum mit einigen wenigen denkenden Menschen. Der Rest Kolumbiens - und zu den "pueblos" müssen wohl auch Medellin und Barranqullla gerechnet werden - wird als dumpf und hinterwäldlerisch dargestellt. Vgl. dazu Abschnitt 1.2. "Octava conferencia". In: Jiménez López e.a., 1920, S. 291-329.

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Diese Lesart der Rassendiskussion griff 1922 Luis Maria Mora in El alma nacional auf 6 und führte sie, gestützt auf seine konservative Geschichtsbetrachtung, weiter in Richtung auf umfassende kulturpolitische Forderungen. Nach dem Niedergang zum Ende der spanischen Kolonialherrschaft hätte sich in Kolumbien aus den drei Rassen (Weiße, Indios und Schwarze) eine Nation geformt, zusammengehalten durch das Band der gemeinsamen Sprache und der gemeinsamen Religion. Aus ihr sei nicht nur im vergangenen Jahrhundert Bogotá als Atenas Suramericana hervorgegangen, auch heute noch sei eine weitere Entwicklung für die Kultur abzusehen, basierend auf den ökonomischen Entwicklungen in Antioquia und eingedenk der konstitutiven Elemente, aus denen sich die Weltsicht der Schülerinnen und Schüler zusammensetzen müßte: Nation, Vaterland, Sprache und Religion. Im Gegensatz zu dieser politisch reaktionären, aber zukunftsoptimistischen Interpretation der Gegenwart differenziert Daniel Arango Vêlez in seinem Plädoyer für einen gemäßigten Sozialismus aus dem Jahre 1924 zwischen wirtschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen: "Pero en otros géneros artísticos - muerto Julio Flórez y exceptuando Victor M. Londoño - sólo nos restan pésimos imitadores y óptimos plagarlos; [...] Ya no nos interesan como en otros tiempos las cosas del espíritu: sólo los ferrocarriles, las carreteras, los inalámbricos, los cables aéreos, los oleoductos, los pozos de Barranca, las grandes industrias, llaman nuestra atención, y todo esto es precisamente característico de la última etapa evolutiva de las sociedades."7 In der pessimistischen Beschreibung der zeitgenössischen Kunst und Literatur kommt Arango Vêlez erstaunlicherweise der erzkonservative spanische Jesuit und Schulbuchautor José María Ruano nahe, der sich nicht auf sozialliberales oder kulturphilosophisches Gedankengut stützt, sondern im Gegenteil auf die Neuscholastik.8 Mit seiner Verurteilung von allem, was auch nur entfernt an Dario, D'Annunzio, den Symbolismus, Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche oder jeglichen Versuchen von Freiheiten in der Form erinnerte, setzte er den Niedergang der Literatur bereits bei der französischen "décadence" seit Baudelaire und dem kolumbianischen Modernismus im Gefolge von Silva und Valencia an.9 Vgl. das lange Zitat aus dem Beitrag Caballeros, Mora, 1922, S. 245f. "El deber actual del liberalismo - Nuevo sentido de la libertad", Rede vom 9.6.1924 In Bogotá, In: ders., 1925, S. 145-188, Zitat S. 163. Von seiner Verdammung schließt er nur die Musik aus. Neben Jiménez López und den durch Ihn hervorgerufenen Debatten Hegt dieser Diagnose eine Zusammenfassung von Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes zugrunde, die er kurz zuvor gelesen hatte. Die Ausführungen von Guillermo Valencia Im Interview vom 22.11.1925 belegen, daß Spenglers Werk In Kolumbien auf großes Interesse stieß. Vgl. Insbesondere das Zitat Ruanos aus "La literatura del dla", in: Revista del Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosario, 1924, S. 289-294, Im Abschnitt 2.2.3. Dieser Begriff der "Dekadenz" war dem Kreis um Sanin Cano schon vor der Jahrhundertwende geläufig durch die Lektüre von Paul Bourget, vgl. Maya, 1961, S. 75-79. In der Einleitung und den Schlußworten

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Der in allen Interviews in Lecturas Dominicales angefragte Begriff der "decadencia" war, wie der kleine Exkurs gezeigt hat, keineswegs eindeutig definiert. Er umfaßte häufig das gesamte Feld der Kultur und der verschiedenen Ideologien und reichte, wenn er im Kontext der Literatur verwendet wurde, vom Epochenbegriff bis hin zu einem Qualitätsvergleich der Literatur in früheren Zeiten und zum Zeitpunkt des Gespräches, belastet mit den unterschiedlichsten politischen und philosophischen Grundeinstellungen der Befragten. Jeder interpretierte ihn mehr oder weniger so, daß seine Antwort "nein" lauten konnte. Nur einige wenige machten sich die Mühe, die beinahe obligate Verneinung durch eine differenzierte Betrachtungsweise zu umgehen. Zu diesen gehörte Antonio Gómez Restrepo (7.3.1926), der die Politik, das Zeitungswesen, die Philosophie und die Literatur getrennt behandelte. Im Hinblick auf die Lyrik behauptet er dabei: "poseemos un grupo de maestros reconocidos y de jóvenes de gran talento, que puede oponerse sin desventaja al de cualquier otro país de América." Diese Aussage beantwortete natürlich nicht die Frage nach einem möglichen Niedergang im Vergleich zu einer anderen Epoche. Deshalb hatte er auch keine Schwierigkeiten, die Zeit von Caro, Cuervo, Ortiz, Pombo, Fallón, Núñez und des frühen Silva als die Blüte der kolumbianischen Literatur und Lyrik hinzustellen. Einen anderen Ansatzpunkt ließ der Dichter Pacho Valencia erkennen, als er nach 17 Jahren im Ausland am 8.1.1928 von Lecturas Dominicales befragt wurde: "El crecimiento de Bogotá me tiene sorprendido. Da la impresión de una verdadera metrópoli, sobre todo por la cantidad de gente y de vehículos que llenan sus calles. Y en materia arquitectónica, su adelanto es también algo pasmoso. [...] Sí, creo que Bogotá ha perdido mucho [...]. La Bogotá de ahora es muy distinta de la de entonces, debido sin duda a que el espíritu estadinense - como decía don Marco Fidel Suárez - ha acabado de impregnar casi completamente nuestro medio." In der Krise der alten Kulturstadt Bogotá mit dem zunehmenden nordamerikanischen Einfluß kann Pacho Valencia nur noch zwei Dichter ausmachen, die den intellektuellen Ruf zu retten in der Lage seien: José Eustasio Rivera und Ismael Enrique Arciniegas. Zu den jüngeren Autoren enthält er sich einer generellen Meinung, alleine Maya und Umaña Bemal hebt er heraus. Nahezu alle anderen Interviewpartner wiesen die These von der intellektuellen und literarischen "decadencia" beinahe entrüstet von sich. Dabei entwickelten sich einige fast komisch anmutende Dialoge. Antonio José Restrepo (15.11.1925), der spätere Herausgeber des Cancionero de Antioquia10, behauptet in einem Satz, die

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zum Interview mit Guillermo Valencia schreibt der Reporter Ironisch von seiner vergeblichen Suche, beim Dichter die Dekadenz zu finden. Vgl. Abschnitt 2.1.1.

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Literatur des Landes werde von Tag zu Tag besser. Auf die Nachfrage nach konkreten Beispielen präsentiert er zwei Sätze weiter Maria von Jorge Isaacs - erstmals veröffentlicht im Jahre 1867 ! Etwas später insistiert der kämpferische Liberale wieder darauf, daß es keine "decadencia" gebe, die Schuld an der Situation des Landes trage alleine die "regeneración" - die konservative Herrschaft seit 1886 - mit ihrer Schulpolitik: "casi puede decirse que ha logrado el milagro de cretinizar al país." Er hoffe auf die Jugend, sagt er, nur sie könne wieder eine liberale Regierung an die Macht bringen. Nach seinen Lieblingsautoren befragt, endet die Reihe mit den jüngeren und "más modernos": Bécquer, Campoamor und Núñez de Arce. Der Reporter muß ihm direkt einen Namen nennen, um seine Ansicht zu den aktuellen kolumbianischen Dichtern zu erfahren. Das Stichwort León de Greiff nimmt Restrepo noch ruhig hin. Der verbreite "cosas bellas" und "locuras". Doch dann, an Luis Vidales denkend, redet er sich in Rage - ungeachtet der Tatsache, daß er eine "decadencia" verneint hatte: "Eso no es nada, es el ripio clásico. Es decir, ausencia total de ideas, ausencia total de gramática, ausencia total de sintaxis, ausencia total de retórica, ausencia total de métrica, ausencia total de rima. Es la nada, emborronando en negro hojas blancas." Antonio José Restrepo war ein Extremfall. In den meisten anderen Gesprächen wurden offensichtliche Widersprüche mehr oder weniger elegant verwischt. José Eustasio Rivera (7.2.1926) beispielsweise bewegt sich beständig auf dem schmalen Grat, die eigene zeitgenössische Literatur als ebenso bedeutend wie in früheren Zeiten und als den anderen amerikanischen Literaturen überlegen darzustellen, aber dennoch Miguel Antonio Caro und Rafael Pombo als die unbestritten höchsten Repräsentanten der kolumbianischen Kultur herauszuheben. Zu den Dichtern von Los Nuevos befragt, gesteht er Rafael Maya, León de Greiff und Rafael Vásquez mit Einschränkungen gewisse Talente zu, doch er glaubt nicht, "que la prescindencia del verso llegue a ser una manera de expresión adecuada y perdurable para la poesía." In diesen Aussagen kommt wieder deutlich die Literaturauffassung der Generación del Centenario zum Vorschein. Jede Art von Lyrik kann und muß toleriert werden, solange sie bestimmte formale Voraussetzungen erfüllt. Die Erfüllung des zweiten Kriteriums, die grundsätzliche Bereitschaft der Autoren, an der nationalintegrativen Aufgabe der Intellektuellen mitzuwirken, erließ Rivera Los Nuevos vorerst, denn sie hätten, im Gegensatz zu seiner eigenen Generation, auf politischem Gebiet noch nichts geschaffen. Ganz ähnlich argumentierte Eduardo Castillo (13.6.1926). Auch für ihn gab es keine "decadencia". Anstelle der "poetas mayores" früherer Zeiten, z.B. Rafael Pombo, gebe es nun "constelaciones de poetas menores", zu denen er Rafael Maya und León de Greiff rechnet. Das Dogma der Toleranz Los Nuevos gegenüber wendet er paternalistisch an. Wie jeder Schüler nur dann gut sei, wenn er gegen den "maestro" aufbegehre, so müsse auch die junge Generation rebellieren, "sin romper el hilo de la tradición que la une a las anteriores".

167 Nimmt man zu Rivera und Castillo noch Armando Solano hinzu, so zeichnet sich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine gewisse Strategie der Generación del Centenario gegenüber den neuen Herausforderungen ab. Solano hatte, nach seinen oben zitierten polemischen Ausführungen, den Aufstand von Los Nuevos als Modeerscheinung abgetan und ihnen Zeit eingeräumt. Von Politik und Wirtschaft, so sagte er, verstünden sie nichts. "Pero literariamente, algunos de ellos valen mucho, y los que perseveren triunfarán con más brillo que los aficionados de la anterior generación. No olvide usted que a mi juicio 'Los Nuevos' no han hecho todavía nada en ningún campo, que merezca mención, y que están obligados, por ellos mismos y por el país, a hacer algo algún día, aunque sea poco."11 Ihnen auf literarischem Gebiet eine große Zukunft vorherzusagen, kostete wenig Überwindung, auch wenn bei Solano nicht ersichtlich wird, worauf er diese Prophetie baute, da Los Nuevos doch auf keinem Gebiet bis dato etwas geleistet hätten. Von einigen wenigen Artikeln Castillos abgesehen, fand eine Auseinandersetzung über ihre Literaturkonzepte nicht statt. Luis Vidales, der das harmonische Gesamtbild der kolumbianischen Lyrik gestört hätte, wurde von den Vertretern des Centenario einfach nicht erwähnt. León de Greiff und Rafael Maya, die schon viel zu bekannt waren, um sie einfach auszuklammern, bekamen den Rat mit auf den Weg, nicht mit dem Reim zu brechen. Auf der einen Seite hatten Castillo, Rivera und Solano natürlich recht, die vorsichtigen Modernisierungsansätze von Los Nuevos nicht überzubewerten. Auf der anderen Seite aber war gerade durch El Tiempo, einem der wichtigsten Organe der Generación del Centenario mit seinem Direktor Eduardo Santos, der Topos vom Kampf der Generationen sowie der Dekadenz von Ideen, Ideologien und der Literatur hochstilisiert worden. Ganz offensichtlich hatte die Zeitung erwartet, daß der polemische Ton von Los Nuevos und einige wenige aufschreckende Gedichte von León de Greiff und Luis Vidales in der Öffentlichkeit noch mehr Widerhall finden würden. Die Antwort auf die Frage an Fernando de la Vega (am 9.10.1927) nach "nuestros futuristas y ultraístas": "me parecen sartales de desatinos y mentecateces", klingt dementsprechend fast wie eine einstudierte Reaktion, die ohne weitergehende Kenntnis der Materie auskommt. Viele Intellektuelle des Landes dürften aber auch so gehandelt haben wie der in diesem Interview sehr konziliante Guillermo Valencia (22.11.1925) und Enrique Restrepo (26.9.1926). Beide gaben zu Protokoll, daß sie zwischen den centenaristas und Los Nuevos keine qualitativen Unterschiede erkennen könnten, höchstens ein noch weiteres Absinken eines Interesses für klassische Studien und für die Lektüre der Klassiker. Beide hatten jedoch die Auseinanderset11

Solano, 1983, S. 352f. In diesem Sammelband findet sich auch der Artikel vom 16.7.1925 a u s Patria: "La nueva generación", S. 316-320, sowie ein Vortrag a u s dem J a h r e 1927: "El deber de la nueva generación colombiana", S. 321-335.

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zungen zum Anlaß genommen, sich näher über die avantgardistischen Schulen in der Musik, der Malerei und der Literatur zu informieren, und kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß sie sie einfach nicht verstünden. So schwankten die zumeist pauschal formulierten Meinungen in Lecturas Dominicales zu Los Nuevos zwischen höflichem Interesse, höflicher Ablehnung oder direkterer Ablehnung. Eigentlich wußte niemand recht, ob diese eher politische oder eher literarische Ziele verfolgten, ob ihr Blatt eine Avantgardezeitschrift darstellte ähnlich denen, von denen man langsam aus anderen Ländern etwas hörte, oder welcher der Dichter als Avantgardist zu bezeichnen wäre. Die Werke von León de Greiff und Luis Vidales schienen den meisten überzogen und aus der Reihe fallend, doch der Anstrengung, zu einer klaren Begrifflichkeit zu gelangen, unterzog sich letzten Endes niemand.12

3.3.2.Die Umfrage in Santafé y Bogotá Zumindest einen Versuch der Anstrengung des Verstehens und des Begreifens wollten Victor E. Caro und Daniel Arias Argáez in ihrer Monatszeitschrift Santafé y Bogotá unternehmen. Sie riefen in der Septembernummer 1926 die Autoren des Landes dazu auf, zu den literarischen Tendenzen von Los Nuevos Stellung zu nehmen: "Esta moderna manera, juzgada a veces con ironía, otras con curiosidad, y no pocas con verdadero entusiasmo, merece, en nuestro concepto, que se le analice y defina para que el gran público sepa cómo es y en qué consiste." Im Gegensatz zu Lecturas Dominicales beschränkten sie sich auf die literarischen und künstlerischen Anliegen der jungen Autoren und legten konkretere und weniger interpretationsfähige Fragen vor: 1. Cree usted que existe una nueva escuela literaria o nueva tendencia intelectual y artística que sea digna de estimación y análisis? 2. Qué idea tiene usted de esa nueva escuela? 3. Cuáles son, en Colombia, los mejores poetas jóvenes renovadores? 4. Qué piensa usted de la nueva orientación del gusto y qué porvenir le augura? Die Reaktionen auf diese öffentliche Umfrage müssen für die beiden Herausgeber enttäuschend gewesen sein. Im Laufe eines Jahres konnten sie nur drei Stellungnahmen abdrucken. Die Antworten sind aber nichtsdestoweniger bedeutsam, denn sie spiegeln die Ansichten der zweiten oder dritten Garde von Dichtern wider, die ansonEin tieferes Verständnis strebte die kurlose Zeitschrift Luz y Sombra mit Ihrem Kreuzzug gegen alles Moderne und für den Industriellen Fortschritt auf der Grundlage der Verfassung von 1886 gar nicht an. Ihre Parodie auf ein Interview von Lecturas Dominicales mit einem Vertreter von Los Nuevos (Heft 2, 4.12.1926) kommt über beißende Polemik nicht hinaus.

169 sten nicht als Meinungsführer in der Presse in Erscheinung traten.13 Allen drei Leserbriefschreibern war gemeinsam, daß sie, mit Abstufungen, Los Nuevos und ihrer Art, Gedichte zu schreiben, skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Sie konnten in deren Werken keine neue Schule erkennen, wobei sie allerdings unterschiedliche Begründungen beibrachten. Nicht ohne bisweilen frappierende innere Widersprüche argumentiert Bravo vorwiegend normativ: "lo nuevo no es nuevo, y lo nuevo no es bueno" (S. 165), Torres Durán formal (zu einer Schule gehöre ein schulebildender Vorreiter wie Rubén Darío, den es bei Los Nuevos nicht gebe) und Suárez Murillo vermischt beide Kategorien: "Nihil novi sub sole", und "¿En dónde puede hallarse 'El Fundador'?" (S. 237). Über diese oberflächliche und pauschale Bewertung hinaus offenbaren die drei Beiträge jedoch den Willen der Verfasser, die Lyrik zu beschreiben, die ihnen selbst als zeitgemäß erscheint. Suárez Murillo führt dabei ein durchaus originelles Kriterium an: "Las mujeres son las que en último término consagran los poetas" (S. 238). Die Frage einer Dame, für wen und warum Los Nuevos eigentlich schrieben, war ihm Anlaß genug, näher über die Aufgaben der Poesie nachzudenken. Negativ, anhand der Lektüre der "tonterías", formuliert er es so: "[...] no hay motivo para emoción, para exaltación, para el sublime estremecimiento que produciría una estrofa de esos 'viejos', como despectivamente los llaman. [...] ni ideas, ni ritmo, ni calor ni entusiasmo pueden producir líneas vacuas que no tienen corazón. [...] A nadie le place descifrar enigmas que con apariencia de poesía se presentan" (S. 237f.238.239). Sein darin verborgenes Plädoyer für eine rhythmische, emotionale, zu Herzen gehende, leicht verständliche Lyrik belegt, daß er die Tendenzen zu schwereren Metaphern, zu intellektuellerer Schreibweise, zu Brüchen in der Form sehr wohl wahrgenommen hatte, auch wenn sie bei einem Maya, einem Vásquez oder Umaña Bernal nur sehr dezent ausgebildet waren. Los Nuevos bildeten für ihn, ohne daß er Differenzierungen vorgenommen hätte, eine Sekte mit schlimmen Auswirkungen: "Forma fanáticos, forma idólatras, y en la mayor parte de las veces degenera en egolatría" (S. 238). Torres Durán ist von den dreien derjenige, der die Position des distanzierten Skeptikers vertrat. Auch er nimmt bei jedem einzelnen der jungen Dichter leichte Ansätze zu Neuerungen wahr. Aber er glaubt nicht, daß alleine die Proklamation der Gruppe zu einer "innovación trascendental" (S. 287) führe. Ob aus den Modeerscheinungen wirklich eine Schule hervorgehen könnte, wagt er noch nicht vorherzusagen: "Mientras tanto el espectador desprevenido puede sonreir tranquilamente" (ibid.). 13

Von den drei Autoren: Emilio Suárez Murillo, Heft 47, November 1926, S. 237-239: Carlos Torres Durán, Heft 48, Dezember 1926, S. 286f; Juan de Dios Bravo, Heft 52, April 1927, S. 164-168, wird keiner von Ardlla in seinem Kompendium der Hombres y letras de Colombia (1984) erwähnt. Allerdings waren sie In verschiedenen Lyrlkanthologlen vertreten (vgl. Oijuela, 1966). Zitate aus den Aufsätzen werden Im Text mit Seltenangabe belegt.

170 Seinen eigenen literarischen Geschmack beschreibt Torres Durán nicht direkt, doch scheint er durchaus geneigt, gute Kunst nicht nur bei den Alten zu suchen. Deutlich wird dies bei seinem Versuch, moderne Literatur zu definieren: "Y es que la literatura moderna no tiene escuelas, porque las acepta todas. Todos los géneros son buenos, como apuntó Wilde, menos el aburrido" (S. 286). Im Namen der "sois-dissant Atenas suramericana" (S. 164) tritt Juan de Dios Bravo mit einer ausgefeilten Prosa, die ihresgleichen sucht, gegen die neuen Tendenzen an. Die Wortmächtigkeit des Autors beeindruckt nicht nur mit halbseitigen Satzperioden sondern auch mit scheinbar unendlichen Listen von Dichtern, die in seinen Augen den Ruf Bogotás als Kulturhauptstadt Lateinamerikas begründet und weitergeführt hätten. Es sei erlaubt, hier den zentralen Satz in voller Länge zu zitieren, der einem komprimierten Schulkompendium über kolumbianische Lyrikgeschichte gleichkommt und im Argumentationsgang Bravos eine ähnliche Funktion innehat: "De ese año [i.e. 1892] en adelante, dejando atrás a los portaestandartes de la literatura colombiana hasta ese entonces, tales como Caro y Pombo, Núñez y Gutiérrez González, Fallón y Arrieta, Guarín y Obeso, Vergara y Vergara, Rojas Garrido y Felipe Pérez, Medardo Rivas, etc.etc., empiezan a brillar en el horizonte los fulgores de la nueva época y aparecen los astros de primera magnitud, cuya luz no ha tenido ocaso, tales como Silva, Valencia y Flórez, a los cuales sigue una legión infinita de poetas, en cuyas brillantes nebulosas el telescopio divisa, como en clara noche de verano, a Alvarez Henao y Ricardo Nieto, Villafañe y Seraville, Casas y Arciniegas, Céspedes, Grillo, Echeverría, Diego Uribe, Gómez Jaime, Gómez Restrepo, León Gómez, Eduardo Ortega, Cornelio Hispano, Londofio, Manrique Terán, Martínez Rivas, Robledo, Matéus, Soto Borda, Rivas Groot, Carlos Arturo Torres, Abel Marín, Tomás Márquez, José Eustasio Rivera, Rasch Isla, y tántos, tántos otros, cuya enumeración haría interminable la lista, al par que nos expondríamos a cometer injusticias no nombrándolos a todos" (S. 166). Geschickt umschifft er in diesem Schwall von Namen die Klippe des "decadentismo", jener Epoche, von der er später erzählt, sie sei, nach der romantischen, der klassischen und parnassischen Phase dem Modernismus und schließlich der zeitgenössischen "mezcla agradable de todas las escuelas" (S. 167) vorangegangen. Damals, in einer Zeit des Umbruchs, wie ein Soziologe sagen würde, hätten die Jugendlichen in den "pontífices del opio y la morfina" (ibid.; i.e. Baudelaire, Verlaine und Mallarmé) ihre, wie er zugibt, begabten Vorbilder gefunden. Angesichts seines heiligen Eifers wäre es wohl ungehörig von einem späteren Kritiker, an dieser Stelle einzuhaken und Zwischenftagen zu stellen etwa der Art: Wer, wenn nicht Silva und Valencia, die er doch in den Olymp erhob, waren die

171 Vertreter jenes Dekadentismus in Kolumbien?14 Aus welchen Quellen speist sich denn das angenehme Stilgemisch, das er lobt, wenn nicht, zumindest partiell, aus den Werken Baudelaires, Verlaines und Mallarmés? Wann, wenn nicht in den Jahren zwischen 1923 und 1927, befand sich die kolumbianische Gesellschaft in einem wirklichen Umbruch, der den Soziologen Rückwirkungen auf die Lyrik hätte erwarten lassen? Solche Zwischenrufe werden allerdings dem Schreibfluß Bravos nicht gerecht, denn er wollte nicht wissenschaftlich-kritisch an die Auseinandersetzung mit Los Nuevos herangehen, sondern normativ. Mit dieser Methode vermittelt er uns heute besser, als eine zeitgenössische literaturhistorische Abhandlung dies vermöchte, ein Gefühl von den Konzepten, die das Bildungsbürgertum Kolumbiens aus dem Literaturunterricht in den Schulen und aus der Zeitungslektüre über die Lyrik gewonnen hatte - und darüber, wie es diese Konzepte gegen die Angriffe von ein paar Jugendlichen verteidigte: "Bogotá y Colombia toda, ha considerado esto de los nuevos como un juego de muchachos [...]. Y está bien que así sea, porque [...] si la prosa en Colombia se ha tornado de clara linfa que era en agua turbia y encenagada; [...] y si nuestra señora, la dulce Poesía, ya no bebe en fuentes de sinceridad, ni tiene el ritmo del sentimiento, ni música en su acento, ni copia estados de alma, ni nos revela el alma de las cosas, entonces abramos los tribunales de la antigua inquisición y en lugar de elevar, como ahora se pretende, un monumento a la gloria de Cervantes, encendamos una pira ardiente y empecemos por arrojar a la voracidad de las llamas la obra de su genio inmortal, como modelo anticuado, como vejestorio rancio, indigno de las modernas aspiraciones de la juventud novedosa y libre" (S. 168). Juan de Dios Bravo, Carlos Torres Durán und Emilio Suárez Murillo waren sicherlich nicht in erster Linie kämpferische Hüter einer alten Ordnung, die mit der Summa Theologica des Thomas in der Hand gegen alles wetterten, was gegen den Literaturkanon des Colegio Mayor de Nuestra Señora del Rosario verstieß. Sie bemühten sich redlich, den Modernismus in ihr Weltbild zu integrieren, und gaben jungen Autoren wie Rasch Isla oder Rivera eine Chance, sich zu bewähren, ohne sie sofort mit einem Rafael Pombo oder Miguel Antonio Caro zu vergleichen. Ihre Toleranz erreichte erst dann eine Grenze, als die Gedichte nicht mehr, wie erwartet, den formalen Vorgaben gehorchten, nicht mehr das Gemüt ansprachen und nicht mehr zur Entspannung genossen werden konnten, sondern größere Verständnisanforderungen stellten.

Allerdings unterschlägt Bravo in seiner Liste den Namen Castlllo, der des Rauschgiftkonsums verdächtigt wurde.

172 3.3.3. Lyrikbände nach 1925 Ein drittes Medium für eine Reaktion auf Los Nuevos stellten die in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts publizierten Lyrikbände dar. Scheinbar unbeeindruckt von Los Nuevos, den Tergiversaciones von León de Greiff und Suenan Timbres von Luis Vidales erschienen weiterhin Bücher mit romantischer, klassizistischer oder modernistischer Lyrik. Einige der Dichter ergriffen dabei die Gelegenheit, in einem Vor- bzw. Nachwort oder in einer entsprechenden lyrischen ars poética die eigene Position gegenüber den "Avantgarden" zu klären (bzw. klären zu lassen). Dabei kristallisierte sich in den meisten Fällen, deutlicher als in Lecturas Dominicales, eine explizite Konfrontation heraus, die geprägt war von pauschalen Urteilen und der kolumbianischen Situation nicht gerecht wurde. In diesen Gedichtbänden ging es nicht mehr um die Frage, was Los Nuevos wollten. Aus ihnen spricht vielmehr eine Abwehrhaltung zu den Avantgardebewegungen und ein parallel damit einhergehender Rückzug auf die gewohnte Art, Lyrik zu schreiben. Den Anfang dazu machte bereits 1924 - noch auf dem Hintergrund der ersten oberflächlichen Avantgarderezeption und des Artikels von Luis Tejada über Luis Vidales - Guillermo Valencia in der Einführung zu Ricardo Nietos Cantos de la noche: "Ignoro lo que pensarán del libro los futuristas"15. Fünf Jahre später, bei der Veröffentlichung von Catay, spezifizierte er diese Aussage, indem er andere, ihm inzwischen bekannte Strömungen mit einbezog.16 Doch der Grundgedanke blieb unverändert: Für ihn gab es zwei unterschiedliche Konzepte, die ohne Berührungspunkte nebeneinander koexistierten. Ohne darauf einzugehen, wer in Kolumbien die Futuristen oder Dadaisten waren, stellte er sich auf die Seite jener, die an die Lyrik "con el entusiasmo santo por lo bello"17 herangingen. Diese heilige Begeisterung übertrieb Alfredo Gómez Jaime ein wenig in seinem an das Ave Maria angelehnten Gebet zur Poesie: Dios te salve, poesía, llena eres de gracia, la Belleza es contigo y bendito es el fruto de tu vientre: la Luz! Santa Poesía, hija eres de Dios. Ruega por nosotros pobres soñadores que de tus favores seguimos en pos. 1 8 15

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In: Nieto, 1924, S. V. "Inútil sugerir que este trabajlllo no va destinado a cubistas, ultraistas, dadalstas ni futuristas". Valencia, 1929, Prólogo. In: Nieto. 1924, S. V. Ofertarlo, in: Gómez Jaime, 1930, S. 11-14, hier S. 11. Im Vorwort zu diesem Band stimmte Fernando González, der Philosoph und Essayist aus Medellln, das Lob auf die lyrische Erneuerung Im Modemismus an, die nun Ihre volle Wirkung entfaltet hätte.

173 Mit diesen beiden quasiliturgischen Strophen beabsichtigt Gómez Jaime, der Lyrik den Stellenwert eines himmlischen Geschenkes zu geben, das aufgrund seiner göttlichen Herkunft nur mit Begriffen wie Schönheit, Licht und Gnade charakterisiert werden kann. Für diejenigen, die sich dieser Meinung nicht anschließen, trägt er seine Bitten durch die Lyrik vor Gott: Pide por aquellos que a expresar no aciertan las secretas músicas que en su fondo íntimo consiguen oír. [...] Ellos son poetas que rimar no saben y que acaso esperan divina impulsión, [...] Pide por aquellos que de tí blasfeman, pues no te comprenden [...] (S. 12f).

Aus diesen Fürbitten spricht eine fast dogmatische Haltung, die alleine die Möglichkeit der Existenz von Alternativen leugnet. Weder sagt er wie Valencia, er verstehe die neuen Lyrikkonzepte nicht oder er möge sie nicht, noch nimmt er sie als potentiell gangbare Wege eines zeitgenössischen poetischen Ausdrucks ernst. All denjenigen Dichtern, die nicht wie er weiter auf den Kaden des Modernismus wandelten, unterstellte er entweder, die Lyrik nicht zu verstehen oder nicht schreiben zu können oder nicht ausdrücken zu wollen, was sie in ihrem Innersten doch gleichfalls hörten. Die Unterstellung von schuldhafter Verweigerung oder unverschuldeter Unfähigkeit verdrängte bei ihm den Versuch, zu verstehen, zu begreifen und mit anderen als seinen eigenen Kategorien zu differenzieren. Ohne solche moralischen Untertöne kommt der ebenfalls 1930 herausgegebene Band Piedras del camino von Alfonso Mejía Robledo aus.19 "Y es que las malas infiltraciones modernistas nada han podido con escritores artífices como Mejía Robledo", schreibt M. Orozco Patiño in seinem Vorwort. Unter "infiltraciones modernistas" versteht er in der aktuellen Lage zwar die Avantgardeliteraturen, doch er läßt auch deutlich durchblicken, daß er einen Chénier mehr schätzt als Verlaine und diesen wiederum mehr als "el fárrago y la confusión de las tendencias finiseculares". Doch diese unterschiedliche Bewertung gerät zur Nebensache angesichts der "poetas contemporáneos, unanimistas, dadaistas, ultraistas, etc., frente a los cuales resulta más poética la prosa [...] que se hacina en la más pedestre columna de gacetilla". Ganz in diesem Sinne fordert er Reim, Rhythmus und Musikalität für die Lyrik im Rahmen des grundlegenden Axioms: "arte es siempre expresión de la naturaleza, idealizada o reproducida". Diesen Vorstellungen entspricht der Dichter Mejía Robledo in seiner Antwort A los "innovadores" voll und ganz:

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Oijuela (1971) führt die mir vorliegende Ausgabe als Neuauflage des Buches von 1927.

174 Qué dicen esos versos donde la idea noble no pudo hallar un ritmo que su belleza muestre? Yo prefiero sin brumas la arrogancia del roble y el aroma temprano de la rosa silvestre. [...] Decidme si son bellas las mozas campesinas con sus mejillas róseas y sus vibrantes pechos, que corren por los campos y cojen clavellinas para adornar sus tenzas perfumadas de helechos? [...] Dejad al pensamiento con todo su albedrío; no le enturbiéis su linfa que por los montes yerra, y que la idea corra tal como corre el río por el abierto cauce que le brindó la tierra.20

Die hier verherrlichten edlen Ideen drängen sich dem Dichter selbst auf in Form von Steinen auf seinem Lebensweg ("Piedras del camino"), und ihm obliegt es, sie in eine Form zu gießen, in der das klare Wasser des Baches keine Trübung erfährt und die Unschuld des Mädchens vom Lande um so deutlicher zum Vorschein kommt. Die "insultos y la algarabía" in den neuen Gedichten weist er weit von sich, denn das seien "los asaltos de la grey judía/ que hasta el sur extiende su tentacular/ mirada y su fuerte pezuña bravia".21 Auf dem Hintergrund einer solchen Ideologie erübrigt sich die Frage, ob und wie Mejía Robledo die unterschiedlichen Ansätze bei Los Nuevos wahrgenommen hatte. Sie wird jedoch virulent bei der Lektüre der Antología poética von Ismael Enrique Arciniegas. Auch wenn er erst 1932, als El Nuevo Tiempo aus Geldmangel sein Erscheinen einstellte, die Gelegenheit fand, seine Gedichte für den Druck zu ordnen, so bezieht sich dieses Buch doch ausdrücklich auf die Auseinandersetzungen zum Ende des vorangegangenen Jahrzehnts. Die Zeit zwischen 1919 und 1927 hatte er als Diplomat in Paris verbracht22. Nach seiner Rückkehr sah er sich einem gänzlich veränderten Literaturmarkt gegenüber: "empecé a ver, con sorpresa, en 'Suplementos Literarios', en Revistas y aún en libros bien editados [...] unas 'cosas' que por el ordenamiento tipográfico imitaban la apariencia de los versos."23 Aus diesem Grund widmete er sich nicht nur der journalistischen Tätigkeit in seiner Zeitung und in deren neugeschaffener Literaturbeilage, sondern wollte auch mit eigenen Gedichten und Übersetzungen ein Gegengewicht schaffen. Die Dichter aus ganz Lateinamerika mit ihren "renglones largos y cortos, sin ritmo ni rima ni siquiera con ortografía" (S. VII), sowie die kolumbianischen Autoren mit ihrer "nueva sensibilidad" und ihrer Präsentation von "el bostezo como arte"24 20

MeJIa Robledo, 1930, S. 16. No insultéis, poetas..., Ibid., S. 19. 22 vgl. dazu die kurze Biographie von Capatroso, 1965. In Paris erschien 1925 auch sein Band mit Traducciones poéticas. 23 Arciniegas, 1932, Vorwort, S. VI: die weiteren Zitate werden Im Text belegt. 24 s. VIII; dieser Seltenhieb war auf Luis Vidales und seine León de Greiff gewidmete Oración de los bostezadores (Vidales, 1986, S 1081) gemünzt 21

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konfrontierte er mit seinem Bekenntnis: "Soy fiel a las normas poéticas establecidas en cánones de preceptistas" (S. VII). Keine lyrische Form sei ihm fremd gewesen, "con prescindencia, claro está, de las facilísimas octavas agudas [...] o de las octavas reales" (S. IX). Solcher Auswüchse wie der "quejumbres de poetas de otra época" und der "editoriales en verso [...] que maestros de palmeta nos hacían aprender de memoria para recitarlos en los días de repartición de premios escolares" (S. IX) habe er sich immer enthalten. Er fühle sich als Romantiker mit einer Poesie "de molde clásico" (ibid.). Aber, sagt er, er habe auch immer die Augen offengehalten für Neues, "siempre que lo nuevo sea emoción y armonía" (ibid.). Deshalb versteht er sein Buch als ein Zeichen: "Este libro, sin jactancia pero tampoco con humildad, se publica como protesta, como protesta de una convicción honrada contra los que están convirtiendo el estadio de la poesía en baile sin música, según el acertado decir del eximio Valencia, o en abierto certamen para ver quién obtiene el lauro del triunfo en el cultivo intencionado del disparate" (S. XI, Hervorhebung im Original). In diesem Vorwort ist der Wille spürbar, sich selbst nach allen Seiten hin abzugrenzen. Er will weder in die Nähe von populärer Lyrik gerückt werden noch in die von platter und pathetisch-rhetorischer Schulbuchpoesie, aber auf die in den Schulen gelehrte literatura preceptiva möchte er nicht verzichten. Sein Hauptaugenmerk gilt jedoch der Abgrenzung zur anderen Front hin, zu den Avantgarden. Dabei stützt er sich auf drei grundlegende Kriterien: "La poesía no debe tener otro fin que el de crear belleza; y belleza no puede ser lo que resulta deforme, inarmónico o incomprensible" (S. X). Das "o" deutet an, daß bereits einer der drei Faktoren ausreicht, um ein Gedicht als nicht seiner Ästhetik entsprechend zu bewerten. Konkret bedeutete dies wohl, daß schon Autoren wie Maya, Vásquez oder Umaña Bernal vom Verdikt Arciniegas' betroffen waren, weil sie von Zeit zu Zeit auf den Reim verzichteten oder nicht der Schönheit zuträgliche Themen streiften oder manchmal eine unverständliche Metapher verwendeten - oder aber, weil sie in einer Zeitschrift mitgearbeitet hatten, die die neuen Thesen propagiert hatte. Im Gegensatz zu einigen seiner Dichterkollegen kann man Arciniegas allerdings nicht vorwerfen, er hätte es sich leicht gemacht, von einer instinktiven Ablehnung zu handhabbaren Kriterien zu gelangen. Die kritischen Berichte, die er in El Nuevo Tiempo Literario über die neuen Bewegungen veröffentlichen ließ, zeugen von einem, wenngleich nicht unvoreingenommenen, so doch zumindest erstaunlichen Bemühen eines Verfechters konservativer Politik und überwiegend konservativer Literaturkonzepte. Doch diese Berichte über den Dadaismus (23.7.1927), über "La sinceridad y los cánones de la literatura vanguardista" (11.11.1927), über den Surrealismus (27.10.1928) u.a.m. konnten oder wollten keinen Vergleich der ausländischen Schulen mit den Lyrikern aus Los Nuevos bieten. Zudem fehlten die konkre-

176 ten Textbeispiele, anhand derer die Leser/innen selbst die Unterschiede zwischen einem César Vallejo und einem Rafael Maya hätten ablesen können.25 Letzten Endes vermochte auch Arciniegas nicht zu differenzieren zwischen Avantgardebewegungen und Los Nuevos. Die kolumbianische Zeitschrift symbolisierte den Versuch, die alte und gewohnte Art der Lyrik zu überwinden und stellte sich dadurch, auch wenn sie tatsächlich nicht mit deren Radikalität konkurrieren konnte, für Intellektuelle wie Arciniegas in eine Reihe mit Publikationen wie Martín Fierro oder Amauta. Der lyrische Diskurs, gegen den Los Nuevos anschrieben, war so geartet, daß alles Neue sich prinzipiell am bewährten Alten zu orientieren hatte und die ewig gültigen Regeln der preceptiva literaria einhalten mußte. Dichterisch umgesetzt heißt dieser Diskurs bei Ismael Enrique Arciniegas Canto a la rima-. ¿Decís que la rima ya ha muerto, y que es ruido De compás monótono, muy fuerte al oído, Y que rotos ritmos son música interna Para los arcanos del alma moderna? [...] Descoyuntamientos y palabrería, No serán ni han sido jamás Poesía. Es a sus dominios áspera la ruta, Y todo el que quiera, su dón no disfruta. [...] ¿Que usáis simbolismos? Lo diáfano es norma: Jamás lo que el hombre retuerce o deforma. ¿Queréis que os comprendan? Sed siempre muy claros: Que brillen los versos cual mármol de Paros, Y en ellos, la rima cual oro en la jagua, O rosa de fuego temblando en el agua; [...] Poesía es Arte, del Arte la cima, Y la estrofa es alma, y esritmoy es rima.26

Die Literaturszene in Bogotá hatte es sich zu Beginn der 20er Jahre bequem eingerichtet. Die großen Diskussionen um den Modernismus waren überwunden. Einige wünschten sich die guten alten Zeiten ohne diese "dekadente" Bewegung zurück, aber insgeheim hatte man sich arrangiert. Es gab so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner - die preceptiva literaria und einen Kanon zitierfähiger Autoren -, der von allen Dichtem als verbindlich angesehen wurde. An Detailfragen entzündeten sich zwar heftige Polemiken, doch sie dienten letzten Endes dazu, die notwendige Einheit in der durchaus erwünschten und bisweilen als Zeichen der Modernität angesehenen Vielfalt hervorzuheben. Jeder Autor, der sich an eines der positiv sanktionierten Konzepte hielt - sei es nun der Modernismus, der Symbolismus, der Romantizismus, vaterländische Dichtung etc. - durfte damit rechnen, ein Publikationsorgan (oder gar mehrere, politisch-ideologisch unterschiedlich orientierte) zu finden, das seine Werke

26

In Ober 100 Ausgaben der Beilage fanden sich n u r ein Gedicht von Rafael Maya sowie eines von Jos£ Uraafta Bemal. Arciniegas, 1932, S. 101-103.

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abdruckte. Aus dieser Situation resultierte eine gewisse Stagnation, die vor allem in den wirtschaftlichen Zentren der Provinz (Medellin und Barranquilla) wahrgenommen wurde. Die jungen Lyriker der Zeitschrift Partida versuchten zunächst, aus eigenem Antrieb die veralteten Konzepte zu überwinden, die ihnen in der Schule vorgelegt worden waren, und experimentierten dabei vor allem mit verschiedenen Formen und Gattungen. Wenig später übernahm es Ramón Vinyes in Voces, völlig neue, aus Europa kommende Lyrikauffassungen zu präsentieren. Beide Impulse kamen schließlich im Jahre 1925 in Bogotá zum Tragen, als sich eine Gruppe junger Intellektueller aus dem ganzen Land entschloß, mit Los Nuevos einen politisch-ideologischen und literarischen Neuanfang zu inszenieren. Entgegen ihren Intentionen und entgegen den Hoffnungen ihres früh verstorbenen Mentors Luis Tejada gelang dies jedoch nicht. Die von Ramón Vinyes angeregte Auseinandersetzung mit den Avantgardebewegungen fand nur am Rande statt und die ideologische Aufspaltung schlug sich nicht signifikant in neuen lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten nieder. Dennoch genügten bereits die offensiv vorgetragene Absichtserklärung und einige marginale Weiterentwicklungen der grundsätzlich noch am Modemismus orientierten Dichtung in Los Nuevos, um die Zeitschrift in den Augen der Bildungsoligarchie der Hauptstadt als Gefahr anzusehen. Dazu trugen insbesondere die beiden herausragenden Figuren Luis Vidales und León de Greiff bei, die alleine einen wirklichen Bruch mit der Tradition verkörperten. Die Reaktionen in Bogotá reichten von Beschwichtigung bis zu heftiger Ablehnung, wobei die Unkenntnis dessen, was in Europa, Argentinien, Peru oder Mexiko zur gleichen Zeit von Avantgardisten veröffentlicht wurde, häufig dazu führte, keine Differenzierungen vorzunehmen, Los Nuevos pauschal in die Avantgardebewegung einzureihen und den so mühsam herbeigeführten Konsens aufs Neue zu beschwören. Tatsächlich manifestierte sich jedoch auch und gerade in Los Nuevos die partielle Modernisierung Kolumbiens in den 20er Jahren. Neokonservative Tendenzen standen in dieser Zeitschrift direkt neben politisch extrem progressiven; auf literarischem Gebiet spiegelte sie mit der bewußt vermiedenen Nennung der Avantgarden, dem modifizierten Rückgriff auf klassische Modelle (Maya), der Anlehnung an die modernistische Bewegung (Umafia Bemal, Vásquez), dem Versuch, den Modernismus von innen heraus zu überwinden (León de Greiff), und der Mitarbeit des einzigen kolumbianischen Avantgardisten (Luis Vidales) beispielhaft den ambivalenten Umgang mit der Moderne wider.

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4. Einzelinterpretationen

Die bis dato herausgearbeiteten Erkenntnisse über das Spektrum der in den 20er Jahren produzierten und rezipierten Lyrik sollen abschließend mit der folgenden Betrachtung von sechs Gedichten konfrontiert werden. Obwohl die Texte aus dem Bereich der "hohen" Literatur ausgewählt wurden, also von Mitgliedern der Bildungselite verfaßt wurden, tangieren doch zumindest die ersten beiden die in Kapitel zwei angesprochenen Aspekte von volkstümlicher Literatur und Schulbuchlyrik. Da die zu untersuchenden Werke, von einer Ausnahme abgesehen, in den 20er Jahren entstanden, wird sich das erkenntnisleitende Interesse vor allem auf die Frage konzentrieren, wie die Dichter bei ihrer konkreten Arbeit mit der Sprache auf den massiven Einbruch der Moderne in ihrem Land reagierten.

4.1. Luis María Mora: Idioma nativo ¡Niños que en mí clavais los ojos bellos Cuando cruzo en silencio la arboleda, Cuán movible y sonora vuestra rueda De la tarde a los últimos destellos! 5

La nieve que me cubre los cabellos Bien os dice la vida que me queda; El sol que muere nuestro fin remeda; Huyen los años y el vigor con ellos.

Si de mi rica lengua la hermosura 10 Llegarais a entender, y la armonía, Supierais qué es amor y qué es dulzura; Y al oírme tan varia melodía Preguntarais mi nombre con ternura Y quisierais saber la patria mía.

Idioma nativo bildet den zweiten Teil einer sechs Sonette umfassenden Gedichtfolge, die Luis María Mora 1927 unter dem Titel Patria verfaßte.1 Im bisherigen Verlauf der Studie trat der Dichter in erster Linie als konservativer Bildungstheoretiker in Erscheinung, der sein Hauptaugenmerk darauf richtete, daß die im Colegio del Rosa-

Der Zyklus erschien 1929 im Gedichtband Arpa de cinco cuerdas, S. 86-89.

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rio geförderten Werte wie Religion, Tradition, Sprache und Vaterland in allen Schulen des Landes den ihnen gemäßen Rang einnähmen. Das vorliegende Gedicht verfolgt ein ähnliches Ziel. Ein alter Mann wendet sich in ihm an Kinder, um sie durch das Beispiel seiner Sprache dazu zu bringen, nach seinem Heimatland zu fragen. Die Tatsache, daß der Zyklus Patria in Los Angeles entstand und daß die anderen Sonette deutlicher noch als dieses den Aufenthalt des lyrischen Ich in einem fremden Land thematisieren, legt die Vermutung nahe, daß Mora sich selbst mit dem alten Mann identifiziert und seine eigene Situation in den USA beschreibt.2 Doch ebenso nahe liegt die Vermutung, daß nicht nordamerikanische Kinder die primären Adressaten dieses Werkes waren, sondern die gebildete kolumbianische Oberschicht und kolumbianische Jugendliche, die die angesprochene "harmonía" zu entziffern vermochten und daraus Rückschlüsse auf "la patria" ziehen konnten. Das Sonett hätte aufgrund seiner formalen und thematischen Konstitution ohne weiteres Eingang in Schulbücher finden können, so wie dies beispielsweise mit einem Prosatext des Autors zum gleichen Thema noch im Jahre 1968 geschah.3 Eine angemessene Art, sich dem Sonett anzunähern, könnte also darin bestehen, es dahingehend zu untersuchen, wie in ihm die Regeln und Schemata der preceptiva literaria angewendet werden.4 Die beiden Quartette heben sich syntaktisch deutlich voneinander und von den Terzetten ab. Deren engere Zusammengehörigkeit findet ihren Ausdruck in der weniger scharfen Zäsur des Semikolons und im Anschluß der letzten drei Verse durch "y".5 Ganz in Übereinstimmung mit den Vorschriften und ohne Rücksicht auf die größere Variationsbreite der "vates modernos" (Segura, S. 138) gestaltete Mora sein Sonett mit endecasílabos graves und der klassischen Reimfolge ABBA ABBA CDC DCD, wobei in die Vollreime alle fünf Vokale einbezogen werden. Einer weiteren Forderung Seguras, daß nämlich in einem Sonett nur ein Gedanke entwickelt und im letzten Vers zusammengefaßt werden sollte, scheint das Gedicht nicht so offensichtlich nachzukommen, denn die Sprache, die gemäß der Überschrift Vgl. die kurzen biographischen Angaben Im Vorspann zu Mora, 1972; Im Kapitel: "Los contertulios de la Gruta Simbólica" rechnet Mora In diesem Buch a u s dem J a h r e 1936 nochmals mit der Bewegung des Modemismus, speziell mit Sanln Cano a b (vgl. S. 316-330); zu Mora s. femer: de la Vega: "El clasicismo asimilado", in: ders., 1927, S. 155-166: Nieto Caballero: Rezension zu CronlquOlas de ml ciudad (1936), In: ders., 1984, S. 253-257; Ortega Rlcaurte/FerTO, 1981, passim; Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 458-461. "La lengua materna", Im Literaturlehrbuch für die 2. Klasse der Sekundarstufe von Rojas Olarte, 1968, S. 194f. In der 7. Auflage (o.J.) der Elementos de literatura preceptiva des Faustino Segura finden sich zwei ebenfalls im Band von 1929 publizierte, aber bereits früher entstandene Langgedichte (Las sátiras Don Antón und Epístola a Ricardo Niete) als Beispiele für die lyrischen Gattungen "Epístola" u n d "Sátira" (S. 174-178). Ich stütze mich dabei auf die Modelle von Segura, o.J., S. 114-192; für genauere Ausführungen ziehe Ich Baehr, 1962, zu Rate. Im Originaltext schließt das zweite ohne Zwischenzelle an das erste Terzett an, hervorgehoben n u r durch eine Einrückung. Da dies Jedoch die einzige Ausnahme In diesem Gedichtband darstellt - bei einer Vielzahl syntaktisch vergleichbarer Werke, gehe Ich davon aus, daß drucktechnische Gründe zu dieser Maßnahme geführt haben, u m Im folgenden Sonett nicht einen Seitenumbruch Innerhalb der ersten Strophe vornehmen zu müssen.

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das zentrale Thema darstellt, wird weder in den Quartetten noch in Vers 14 explizit erwähnt. Über die Ursachen dieser zunächst erstaunlichen Feststellung mag eine genauere Analyse der einzelnen Strophen und Verse Aufschluß geben. Zwei Ausrufezeichen rahmen die Satzperiode in den ersten vier Zeilen, die aus einem unvollständigen Hauptsatz (Ellipse von "es"), zwei untergeordneten Nebensätzen sowie einer zeitlichen Bestimmung (V. 4) besteht. Rhythmisch unterscheidet sich der erste Vers deutlich von den drei übrigen, die einen Hauptakzent auf der sechsten Silbe tragen und damit im ersten Hemistich einen heptasilabo aufweisen, "que es el más agradable" (im Vergleich zum pentasílabo, Segura, S. 128). Aus diesen endecasílabos melódicos6 ragt die erste Zeile mit der stark betonten vierten und der schwächer betonten sechsten bzw. achten Silbe als endecasílabo a la francesa heraus. Ihre Sonderstellung wird zusätzlich unterstrichen durch die Häufung der Vokale o und i sowie durch das Fehlen des dunklen Vokals u. Dieses Phänomen könnte als eine intendierte Verbindung zur Gedichtüberschrift gedeutet werden, die die gleichen Charakteristika aufweist. Die phonetische Brücke zur Gesamtstrophe schlägt hingegen der Oklusivlaut k ("que", "clavais"), mit dem die Zeilen zwei und drei wieder einsetzen (in Zeile zwei sogar in Alliteration) und der in Zeile vier durch gehäufte d und i-Laute abgelöst wird. Eine zu enge Verbindung von Zeile zwei und drei verhindern zum einen die semantische Opposition ("silencio" vs. "sonoro" bzw. die statische "arboleda" vs. "movible"), zum anderen aber auch die unterschiedlichen grammatikalischen Anknüpfungen (Z. 2 "cruzo" mit Verweis auf Z. 1 "mí"; Z. 3 mit der Wiederaufnahme der Anrede an die Kinder in der zweiten Person Plural "vuestra"). Auf diese Weise räumt Mora jeder Zeile eine ausgesprochene Eigenständigkeit ein und verbindet sie doch gleichzeitig untereinander. Eine spezifische verbindende Funktion erhält die vierte Zeile, die im Kontext der ersten Strophe wie eine mehr oder weniger überflüssige tageszeitliche Bestimmung der geschilderten Idylle von spielenden Kindern und dem unter Bäumen lustwandelnden lyrischen Ich erscheint. Doch nach der Lektüre des zweiten Quartetts wird deutlich, daß der Übergang vom Nachmittag zum späteren Abend einen zweiten, allegorischen Sinn enthält. Ohne dieses Wissen kommt der Neueinsatz mit "La nieve" für die Leser/innen völlig überraschend, denn sie mußten sich die Szene der ersten Strophe viel eher auf einer sommerlichen Wiese am Waldrand oder in einem Park vorstellen. Mora bemüht sich daher, so schnell als möglich die beiden so unterschiedlichen Quartette aufeinander zu beziehen. Dies gelingt ihm auf mehrfache Weise. "La nieve", dies wird noch in der fünften Zeile deutlich, ist nicht real, sondern metaphorisch zu verstehen. Der fünffache Worteinsatz mit dem fc-Laut ("que", "cubre", "cabellos", "que", "queda"; auch der Reim darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden) schafft die Rückbindung der fünften und sechsten Zeile an die Verse eins, zwei und drei. Der 6

Bei stärkerer Betonung des "Cuan" der dritten Zelle könnte man auch von einem endecasílabo enfático sprechen. Diese weitere Untergliederung der Elfsllber, mit Ausnahme des säßco, führt Segura nicht auf, vgl. dazu Baehr, 1962, S. 87-104.

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Rhythmus zeichnet sich weiterhin durch den heptasilabo im ersten Hemistich aus, und grammatikalisch nimmt Mora die Anrede in der zweiten Person Plural wieder auf, obwohl nun eindeutig das lyrische Ich ("me") im Mittelpunkt des Interesses steht. Die allegorische Interpretation des vierten Verses erfolgt allerdings erst in Zeile sieben, einem endecasílabo yámbico mit dem konstitutiven Akzent auf der vierten Silbe. In gewisser Weise stellt diese Zeile eine erste Zusammenfassung des Gedichtes dar, denn Mora vereinigt in ihr die bis dato streng getrennte Gruppe der Kinder mit dem lyrischen Ich und stößt zum wir durch ("nuestro"), auch wenn die grammatikalische Handlungsträgerin die Sonne ist. Der achte Vers schließlich klingt wie eine in die Form des Sprichwortes gegossene Ausgestaltung der Aussagen des zweiten Quartetts und wird uns noch weiter beschäftigen. Für den ersten Teil des Sonetts kommt ihm jedoch eine Klammerfunktion zu, denn der prononcierte Einsatz mit einem starken Akzent auf der ersten Silbe weckt Erinnerungen an die Eingangszeile (unterstützt durch die gleiche Anzahl des Vokals o, nämlich fünf); gleichzeitig schließt er die Reihe der Elfsilber mit einem pentasílabo im ersten Hemistich ab als einziger perfekter endecasílabo sáfico des gesamten Sonettes. Die beiden Quartette baut Mora nach einem bestimmten Konzept auf, in dem eine deutliche Bewegung vom speziellen Beispiel (die Konfrontation des alten Mannes mit der Jugend) auf eine allgemeingültige Aussage hin wahrzunehmen ist, die ihren Niederschlag im alten Topos von der fliehenden Zeit findet. In den Terzetten ist nicht nur ein grundlegender Wechsel im Thema zu konstatieren, auch die Rhythmik, der Reim, die Vokalisierung und die semantischen Isotopien bieten praktisch keinen Anschluß an die vorangehenden Strophen. So zeichneten sich beispielsweise die positiv besetzten Adjektive der ersten Strophe ("beilos", "movible", "sonoro"), mit denen die Kinder beschrieben wurden, nicht dadurch aus, daß sie ganz besondere Freude, Spontaneität oder Entfaltungswillen ausdrückten. Sie erfüllten ihre Funktion, den Gegensatz zum Alter hervorzuheben, doch die Einbettung in eine Umgebung voller dunkler Vokale verhinderte, daß sie den auf die TrauerStimmung ausgerichteten Gedankengang unterbrochen hätten. Dies ändert sich nun. Das Klangbild und die damit verbundenen Leseeindrücke hellen auf. Der Vokal o verliert seine beherrschende Stellung, und der noch dunklere Vokal u taucht bis auf zwei Ausnahmen nur noch in den Reimwörtern auf; diese sind indes eindeutig positiv besetzt ("hermosura", "dulzura", "ternura") und werden zudem jeweils durch Reimwörter mit einem hellen Klang abgelöst ("armonía", "melodía", "mía"). Das bis dato unterrepräsentierte a gewinnt ebenso an Boden wie das i. Diesen Vorgang tragen exemplarisch die beiden, jeweils in der ersten Zeile einer Strophe stehenden Adjektive "rica" und "varia". Für eine intensivere Bewegung sorgen ferner Verben. In flektierter oder unflektierter Form finden sich in den sechs letzten Zeilen neun Tätigkeitswörter, im Vergleich zu nur acht in den acht Versen der Quartette. All dies erweckt den Eindruck, als ob das lyrische Ich die düstere Stimmung von Tod und

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Vergänglichkeit abgeschüttelt und zu ewigen, guten und wahren Werten zurückgefunden hätte. Das wir der Zeile sieben spaltet sich in den Eingangsversen des ersten Terzettes wieder auf zu ich und ihr. Der alte Mann redet sich in eine Euphorie hinein, als er an die Möglichkeiten denkt, die sich ergeben, wenn die Kinder in vollem Umfang die Schönheit seiner Sprache erkennen könnten. Dies führt beinahe automatisch dazu, daß die Syntax wieder komplizierter, variationsreicher und mit Infinitivkonstruktionen bzw. Inversionen durchsetzt wird, nachdem sie zum Ende der Quartette zu reinen Parataxen herabgesunken war. Die Euphorie angesichts der denkbaren Auswirkungen seines Schaffens schlägt sich auch auf die Verbformen nieder. Nicht mehr das affirmative, die Gegenwart nur abbildende und dadurch stützende Präsens bestimmt die Verben, sondern die an exponierter Stelle in den Versen postierten Formen der zweiten Person Plural des Konjunktiv Imperfekt. Mora will damit ausdrücken, daß der Lernvorgang bei den Kindern nicht zwangsläufig zum Erfolg führen muß, daß jedoch Hoffnung besteht. Zwei semantische Isotopien durchziehen die sechs Verse und überlagern sich wechselseitig. Die eine wird bestimmt durch die Verben des Wissenserwerbs ("llegar a entender", "saber", "preguntar", "querer saber"), die andere deckt den Bereich der Schönheit und der Liebe ab ("hermosura", "armonia", "amor", "dulzura", "melodia", "ternura") und wird getragen durch die jeweils am Ende einer Zeile stehenden Substantive. Zwei weitere entscheidende Substantive umklammern diese Stränge: "lengua" und "patria", wobei erneut der Vokalisierung (mit i und a, in etwas abgeschwächter Form auch e) der Umgebung unterstützende Funktion zukommt ("Si de mi rica", sowie der gesamte 14. Vers). Während nun "lengua" phonetisch den Reimwörtern in den Zeilen neun, elf und dreizehn nahesteht, klingen in "patria mia" der Reim in den Zeilen zehn und zwölf sowie die Konjunktivendungen "ais" der Prädikate nach. Im Vergleich dazu geht eine dritte Vokalreihe beinahe unter, die, beginnend bei "hermosura" und endend in Zeile deizehn mit "nombre con", das o hervorhebt. Doch erlangt, wie bereits erwähnt, dieser dunklere Vokal in den Terzetten nicht mehr die Bedeutung, die ihm in den Quartetten zukam, und so überrascht es nicht, daß Vers vierzehn ohne o und u auskommt. Mora streift beim Übergang von der Sprache zum Vaterland auch die letzten Spuren von Dunkelheit ab, so daß in der abschließenden Zeile "la patria mia" rein und hell als Endpunkt einer Gedankenkette aufstrahlt, ganz wie es die preceptiva literaria fordert. Mit dieser semantischen und klanglichen Ausgestaltung begnügt sich der Dichter aber nicht. Der wechselseitige Verweisungszusammenhang von Sprache, Schönheit und Vaterland erstreckt sich selbst noch auf die innere rhythmische Gestaltung des Sonettes. Beide Terzette tragen den nach der Meinung Seguras angenehmeren Hauptakzent des ersten Hemistichs auf der sechsten Silbe und runden damit das Gesamtbild der durch den Reim sowie die Gedichtform des Sonettes geschaffenen "armonia" ab,

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die Mora in Vers zehn anspricht. Eine weitere Steigerung der semantischen und rhythmischen Übereinstimmung erfährt Idioma nativo in den Versen des zweiten Terzettes, die dem Wunsch nach "melodía" (Z. 12) durch ihre Form des endecasílabo melódico nachkommen. Luis María Mora hat also das vorliegende Gedicht nach den Regeln der Dichtkunst im Hinblick auf Reim, Rhythmus, Metrum, klangliche Effekte, interne grammatikalische und semantische Bezüge bewußt durchkomponiert. Dennoch verbleibt ein gewisser Bruch zwischen den Quartetten und den Terzetten. Von einem einzigen zentralen Gedankengang kann höchstens in den jeweiligen Teilen die Rede sein, aber weder Vers acht noch der Neueinsatz in den Versen neun und zehn mit dem Rückgriff auf die Opposition ich vs. ihr vermögen, die unabhängig voneinander verlaufenden Aussageintentionen zusammenzuführen. Vordergründig weisen natürlich die Gedichtüberschrift und das Motto der Sonettreihe ("Patria") auf eine mögliche Verbindung der Themen Jugend und Alter sowie Sprache und Vaterland hin. Dies führt indes in erster Linie zu den Terzetten; die Quartette bleiben, mit Ausnahme der Klangverwandtschaft von Vers eins mit "Idioma nativo", unberührt. Ein wenig Hilfestellung für das Gesamtverständnis geben die übrigen Sonette aus dem Zyklus. In ihnen evoziert der Dichter im Ausland Erinnerungen an die ferne Heimat und streift dabei auch den Gedanken an den nahen Tod. Besonders deutlich kommt diese Beziehung in Anima rerum (S. 89) zum Tragen. Im ersten Terzett heißt es dort: El patrio amor en su ascensión avanza; Todo eso en que dejamos nuestras huellas Encanto sumo y hermosura alcanza;

Am Ende seines Lebens möchte das lyrische Ich (Mora) Spuren hinterlassen in Form von Gedichten, die der Nachwelt die Liebe zum Vaterland näherbringen sollen. Dieses Grundthema bestimmt alle in Los Angeles entstandenen Werke. Eingedenk der von Mora beständig vertretenen Anliegen, die Jugend des Landes im Glauben an Gott und in Treue zum Vaterland zu erziehen, fällt es nicht schwer, diese Konstante in seiner publizistischen Tätigkeit auch als Hintergrundmotiv für Idioma nativo zu erkennen. Und dennoch: Der textinterne Bruch zwischen Quartetten und Terzetten wird dadurch nicht ganz aufgehoben. Insbesondere der achte Vers scheint von Mora mit einer anderen als der Überleitungsfunktion formuliert worden zu sein. "Huyen los años y el vigor con ellos" erinnert noch in dieser stark bearbeiteten Fassung (er mußte in Versmaß, Rhythmus und Reim in das Sonett eingepaßt werden) an alttestamentarische oder antike Weisheitssprüche. In Psalm 89(bzw.90),9f7 heißt Ich zitiere die Vulgatafassung der Texte (mit der entsprechenden Kapitel- und Verszählung), da diese Übersetzung für einen humanistisch gebildeten, katholischen Intellektuellen zu Jener Zelt die einzig mögliche Referenz darstellte (auch wenn Guillermo Valencia nachgesagt wird, er habe Hebräisch und Griechisch beherrscht).

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es zum Thema der Lebensjahre: "Quoniam omnes dies nostri defecerunt [...]. Anni nostri sicut aranea meditabuntur: Dies annorum nostrorum in ipsis, septuaginta anni. [...] et amplius eorum, labor et dolor." Noch genauer trifft ein Vers aus Hiob (16,23) den ersten Teil des Spruches, auch wenn das Motiv des Fliehens nur indirekt darin enthalten ist: "Ecce enim breves anni transeunt, et semitam, per quam non revertar, ambulo". Beide Zitate weisen in eine ähnliche Richtung wie der vorliegende Vers, ohne sich aber zwingend als direkte Vorlage anzubieten.8 Zur Klärung der Herkunft des Verses, der das Gedicht de facto nicht weiterführt, aber anscheinend auf den klassischen Hintergrund verweisen soll, böte sich in Anbetracht der fundamentalen Umwälzungen in der kolumbianischen Gesellschaft ein zweiter Traditionsstrang an. Sowohl Ciceros "Oh témpora, oh mores" als auch der bisweilen Ovid zugeschriebene Hexameter "Tempora mutantur, nos et mutamur in illis"9 thematisieren einen solchen Wandel. Mit der Wendung "in illis" befinden wir uns zudem nahe an Moras "con ellos". Die jeweiligen Formulierungen Wandel der Zeiten und Fliehen der Jahre tragen aber zu disparate Konnotationen, als daß hier eine Abhängigkeit vermutet werden könnte. Die Suche bei den lateinischen Klassikern - die aufgrund der Gestaltung des Verses als endecasílabo sáfico naheliegt10 - ist dennoch nicht gänzlich vergebens. Den Weg weist der kolumbianische Lyriker selbst. Die Titelseite des Gedichtbandes Arpa de cinco cuerdas11 ziert ein Spruch von Horaz: "Odi profanum vulgus et arceo." Die Fortführung dieser ersten Zeile des dritten Buches der Lieder12 unterschlägt Mora, obwohl sie trefflich als Motto des untersuchten Sonettes fungieren könnte: "Favete Unguis; carmina non prius/ Audita Musarum sacerdos/ Virginibus puerisque canto" (3 Carm 1,2-4). Vielleicht scheute er davor zurück, seine eigenen Gedichte in die Reihe von noch nicht gehörten Liedern zu stellen, doch einer andächtig lauschenden Schar von Mädchen und Jungen zu singen, das wollte er. Bei Horaz leitet diese Strophe eine Folge von sechs Oden ein, die, Römeroden benannt, "ein und derselben Empfindung Ausdruck" geben: "Es muß notwendig eine sittliche Verbesserung in der Rückkehr zu der Väter Sitten eintreten"13. Dieser Ansicht hätte sich Mora ohne Zögern angeschlossen, auch wenn sie im Sonett nur indirekt zum Ausdruck kommt durch die klassische Form des Gedichtes sowie durch die Betonung der Wichtigkeit der Sprache und des Landes der Väter. Doch zurück zu Vers acht! Nachdem Mora selbst den entscheidenden Hinweis gegeben hat, gestaltet sich die Suche nach Vorlagen nicht mehr so schwierig. Aus den vielen Stellen, die bei 8 9 10

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Gleiches gilt für die Sprüche über die uanfias aus dem Buch Kohelet, 1,1 Of. S. zu den lateinischen Sprichwörtern und Zitaten Otto, 1964, und den Nachtrag 1968. Nach Baehr, 1962, S. 91, ahmte "dieser 11 -Silber-Typ den vermeintlich klassischen, In Wirklichkeit aber den mlttellateln. rhythmischen Sapphlcus nach". Natürlich weisen auch die beiden Gedichte Las sátiras - Don Antón und Epístola a Ricardo Nieto, die, wie erwähnt, bel Segura als Beispiele dieser beiden Lyrikgattungen herangezogen wurden, auf Horaz hin. Zitation nach Horaz, 1893. Otto Güthllng, Erläuterungen In der deutschen Horazausgabe (Ú.: Voß), 1928, S. 300.

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Horaz die Flucht und die Vergänglichkeit der Zeit thematisieren (u.a. 2 Carm 5,1315; 2 Carm 14,lf), drängt sich ein Gedichtanfang förmlich auf: Exegi monumentum aere perennius Regalique situ pyramidum altius, Quod non imber edax, non Aquilo inpotens Possit diruere aut innumerabilis Annorum series et fuga temporum. Non omnis moriar multaque pars mei Vitabit Libitinam [...]. 14

Die erste und die letzte Ode aus dem dritten Gesang des Horaz dürfen, wenn schon nicht als zugrundeliegendes Original einer Übersetzung, so doch als Hintergrund für Moras Sonett angesehen werden. Für den kolumbianischen Dichter mögen die Lebensjahre dahinfliehen; das jedoch, was er einmal geschaffen hat, wird überdauern, auch wenn nun die Kräfte schwinden. Er legt es den Kindern ans Herz, die, ob seiner Sprache verzückt, die Traditionen erkennen mögen, auf die er selbst sich beruft. Wie mit einem pädagogisch-didaktischen Zeigefinger weist er sie von "mí" der ersten Zeile zur "patria mía" der letzten. "Patria mía" heißt dann nicht mehr alleine Kolumbien; es heißt auch oder vor allem Bogotá, die Stadt, die für die Pflege der spanischen Sprache berühmt ist; "patria" steht für die Latinisten und Autoren von berühmten Grammatiken Caro, Cuervo und Suárez; "patria" umfaßt all das, was der Ehrentitel Atenas Suramericana für Mora ausdrückte, bevor die Modernisten mit ihren "arabescos de sensaciones, arabescos líricos" (Segura, S. 191) für eine Revolution in der Literatur gesorgt hatten. Luis María Mora blieb dem klassischen Stil treu, der "escuela del buen gusto y de la sana estética" (Segura, S. 186), ohne die griechischen und lateinischen Vorbilder blind zu imitieren oder direkt antike Motive zu verwenden. Mit seinem Horaz im Hintergrund schrieb er über die Themen Gott, Sprache und Vaterland. Mora war ein Antimodernist, der die Lehren des Colegio del Rosario und die ideologischen Vorgaben von Rafael Maria Carrasquilla nicht nur in den kämpferischen Aufsätzen aus El alma nacional vertrat, sondern auch in die lyrische Form goß.

14

3 Carm 30, 1-7, Hervorhebung d. Verf.

186

4.2. Julio Flórez: Mis flores negras Oye; bajo las ruinas de mis pasiones, en el fondo de ésta alma que ya no alegras, entre polvo de sueños y de ilusiones brotan entumecidas mis flores negras. 5

Ellas son mis dolores, capullos hechos los intensos dolores que en mis entrañas sepultan sus raíces cual los helechos, en las húmedas grietas de las montañas.

Ellas son tus desdenes y tus rigores; 10 son tus pérfidas frases y tus desvíos; son tus besos vibrantes y abrasadores en pétalos tomados, negros y fríos. Ellas son el recuerdo de aquellas horas en que presa en mis brazos te adormecías, 15 mientras yo suspiraba por las auroras de tus ojos... auroras que no eran mías. Ellas son mis gemidos y mis reproches ocultos en esta alma que ya no alegras; son por eso tan negras como las noches 20 de los gélidos polos... mis flores negras. Guarda, pues, este triste, débil manojo que te ofrezco de aquellas flores sombrías. Guárdalo; nada temas: es un despojo del jardín de mis hondas melancolías. 1

Mis flores negras fällt deutlich aus dem Rahmen der anderen in diesem Kapitel besprochenen Gedichte, da es lange vor den 20er Jahren entstand. Die auch nach seinem Tod ungebrochene Bekanntheit von Julio Flórez2 fordert jedoch, eines seiner Werke als Beispiel einer romantisch-populären Lyrik heranzuziehen, die unter der Oberfläche der in den Zeitschriften abgedruckten Oberschichtlyrik alle Klassen der Gesellschaft erreichte.3 Flórez gehörte, wie Luis María Mora, während des Krieges der Tausend Tage (1899-1902) zu einer Gruppe von jungen Dichtern, die unter dem Namen Gruta Simbólica mit einigen aufsehenerregenden Aktionen in Bogotá in Erscheinung trat. Mit dieser kurzen Phase, in der sie sich das Image einer aufsässigen Boheme geben wollten, erschöpfen sich aber bereits die biographischen Gemeinsamkeiten der so Flôrez, 1988, S. 109f. Vgl. dazu die Ausführungen In Kapitel 2.1.2.; auf die RezepUonsgeschlchte seines Werkes kann In der folgenden Textinterpretation nicht mehr näher eingegangen werden. Die Brüder Bayona Posada setzten diese Tradition In veränderter Form fort, ohne aber auch nur annähernd die Erfolge von Julio Flôrez In breiten Gesellschaftsschichten erlangen zu können: vgl. den Sammelband Daniel, Jorge y Nlcoläs Bayona Posada, 1983.

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unterschiedlichen Dichter. In ihren Gedichten ist von ähnlichen poetologischen Anliegen nichts mehr zu spüren.4 Während der eine mit seiner klassischen Bildung den im Schwinden begriffenen Ruf Bogotás als Kulturmetropole zu retten trachtete, besang der andere den Tod und seine verlorenen Illusionen, womit er die Gefühle des einfachen Volkes traf, das während der Zeit der konservativen Herrschaft am Rande aller politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen stand und ums bloße Überleben kämpfte. Mis flores negras erzählt von einer einstmals feurigen Liebesbeziehung, die nun erloschen ist. Das männliche lyrische Ich wendet sich an die Partnerin und überreicht ihr einen Strauß schwarzer Blumen. Das Symbol der schwarzen Blumen stellt den Versuch dar, alle Enttäuschungen, Illusionen und konkreten Geschehnisse in der Beziehung zu buchstabieren und zu vergegenständlichen. Julio Flórez geht dabei sehr geordnet und systematisch vor. Am offensichtlichsten kommt dies in der Form zum Tragen. Alle Verse der sechs Quartette erschließen sich als dodecasílabos de seguidilla mit selbständigen sieben- bzw. fünfsilbigen Halbversen und konsonantischen Kreuzreimen. Jede Strophe umfaßt eine syntaktische (mit Ausnahme von Strophe sechs, in der Flórez zwei Punkte setzte) und gedankliche Einheit. Die Rahmenhandlung, in der das lyrische Ich bereits mit dem ersten Wort sein Gegenüber anspricht, beschränkte der Dichter auf die erste und letzte Strophe, während die dazwischenliegenden vier Quartette mit dem stereotypen "Ellas son" einsetzen und als Ausfaltungen von "mis flores negras" vom Ende der Zeile vier gelesen werden können. Der Konstruktionswillen des Autors geht aber noch über diese Grobgliederung hinaus. Beispielsweise umschließen die Strophen zwei und fünf die beiden zentralen Quartette durch die Einfügung des Possessivpronomens "mis" nach der einleitenden Formel. Strophe fünf ihrerseits verweist auf die ersten vier Verse zurück, indem Flórez die pentasílabos in den geradzahligen Zeilen wörtlich wiederholt. Dadurch sowie durch einige weitere Bezüge vermeidet er es, die beiden Randquartette zu stark von den inneren Strophen zu isolieren. Vor einer noch detaillierteren Untersuchung in dieser Richtung verdienen aber allgemeine semantische Aspekte sowie die Bedeutung der verschiedenen Wortarten eine gewisse Aufmerksamkeit. Eigentlich behandelt das Gedicht das Ende einer Liebesbeziehung. Der überwiegend positiv besetzte Begriff "amor" taucht jedoch nicht auf. Statt dessen führt der Dichter in Zeile eins den zumindest ambivalenten, wenn nicht negativen Begriff "pasiones" ein, der durch die Verbindung mit "ruinas" von Beginn an (sowie in der Folge durch die klangliche Beziehung zu "ilusiones" und "dolores") mit "Vergänglichkeit" und "Scheitern" konnotiert wird. In den beiden Strophen (drei und Die Gedichtform spielt dabei nicht die ausschlaggebende Rolle, denn Flörez schrieb auch Sonette wenngleich diese nicht die Verbreitung fanden wie die sangbareren Gedichte.

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vier), in denen sich das lyrische Ich an die gemeinsame Vergangenheit erinnert, konkretisiert sich das Bild einer unbefriedigenden und nicht auf Dauer zuträglichen Leidenschaft. Die "besos vibrantes y abrasadores" waren schon damals begleitet von "desdenes", "rigores", "pérfidas frases" und "desvíos". Während sie in seinen Armen schlief, seufzte der Liebhaber ob der verlorenen oder nie existierenden Beziehung. Konsequenterweise verkehrt Flórez die Konnotationen der zweiten semantischen Isotopie des Gedichtes in ihr Gegenteil. Ausgehend von "flores" setzt er in allen sechs Strophen Begriffe aus dem Wortfeld "blühen" und "aufbrechen" bzw. "aufgehen" ein ("brotan", "capullos", "raíces", "pétalos", "auroras", "flores", "manojo", "jardín"). Doch gleichzeitig erstickt er all diese Hoffnungsschimmer sofort wieder im Keim. Bei ihm schlagen die Wurzeln nicht aus, sie werden begraben; die Blütenblätter sind schwarz und kühl; der ganze Strauß traurig und schwach. Die Bilder und Metaphern der Liebe und des Blühens verweisen daher auf nichts anderes als auf die Gesamtstimmung des Gedichtes, die geprägt ist von den "hondas melancolías". Den Adjektiven kommt bei der Schilderung des Seelenzustandes des lyrischen Ich eine zweifache Aufgabe zu. Zum einen unterstützen sie die Umkehrung der ursprünglich positiven Bedeutung (bzw. die Vereindeutigung von ambivalenten Bedeutungen) von Substantiven ("pérfidas frases", "débil manojo", "flores sombrías"); zum anderen intensivieren sie den Eindruck von Schmerz, Zerfall, Kälte und Traurigkeit, sei es durch eine direkte semantische Steigerung ("mis dolores...los intensos dolores", "gélidos polos") oder durch verdoppelte Adjektivierung ("pétalos...negros y fríos", "triste, débil manojo"). Was Julio Flórez hier evoziert, könnte durchaus noch als Momentaufnahme nach einer gescheiterten Beziehung interpretiert werden, als Gefühlstal, aus dem eine neue Beziehung wieder herausführt. Dieser zukunftsorientierten Auslegung widersetzen sich jedoch die Verben, die dem Gedicht eindeutig durative und iterative Bedeutung verleihen. Grammatikalisch drückt dies die Verbindung von Präsens- und Imperfektformen aus. Strophe vier sagt aus, daß nicht ein konkreter, einmaliger Anlaß der Trennung zugrundelag, sondern daß es von Anfang an kein wirkliches Zusammenleben gab. Aus der Tatsache, daß er immer seufzte, wenn sie eingeschlafen war, schließt das lyrische Ich, daß sie ihm nie gehörte. In die Gegenwart transponiert, schlägt sich diese Erfahrung im gehäuften, neunmaligen Gebrauch des Verbs "ser" nieder. "Estar" ließe einen Neuanfang zu; hätte Flórez geschrieben: "Ellas están", dann hätten die Leser/innen daran glauben können, daß bei einer neuen Konstellation die schwarzen Blütenblätter wieder ihre Farbe wechseln könnten. "Ellas son" bedeutet aber, daß keine Rettung möglich ist. Die Wurzeln der Melancholie haben sich so fest in die Seele vergraben, daß nichts sie wieder herauszureißen vermag. Dieses Sprach- und Bedeutungsmaterial verteilt Julio Flórez nun ganz bewußt auf die sechs Strophen des Gedichtes.

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Die ersten vier Zeilen zeichnen sich, nach der einleitenden Anrede "Oye", durch eine doppelte Struktur aus. Für das Quartett selbst ist der parallele Aufbau von Vers eins bis drei entscheidend mit den Bestandteilen: Präposition ("bajo"," en", "entre"), Substantiv ("ruinas", "fondo", "polvo"), Genitivergänzung ("de..."), Erweiterung (mit Personalpronomen, Relativsatz, Hendiadyoin), wobei die Zeilen zwei und drei auch klanglich parallel beginnen mit der identischen Abfolge der ersten fünf Vokale. Nach dieser dreistufigen Beschreibung eines unbelebten Ortes ("ruinas", "polvo") folgt in Zeile vier antithetisch das Prädikat "brotan", dessen positiver semantischer Gehalt jedoch sofort korrigiert wird durch die beiden Oxymora "brotan entumecidas" und "flores negras". In die Eingangsstrophe bringt Flórez bereits alle Elemente ein, die das weitere Gedicht prägen sollen: die Isotopien der Leidenschaft und der vergeblichen Hoffnung auf eine neue Blüte, die Grundstimmung von Verfall und enttäuschten Illusionen sowie in Vers zwei die Erinnerung an eine unglückliche Vergangenheit ("ya no"). Auch strukturell läßt sich in diesem Proömium schon der weitere Verlauf ablesen. Das Personalpronomen ("mis") von Vers eins verweist auf Strophe zwei, die von den Schmerzen des lyrischen Ich handelt; die zweite Person Singular ("alegras") im Relativsatz des zweiten Verses rückt in Strophe drei in den Mittelpunkt des Interesses; in der dritten Zeile entscheidet sich Flórez, wie im ersten Vers der vierten Strophe, für eine unpersönliche Wendung; die fünfte Strophe schließlich nimmt das Personalpronomen der vierten Zeile wieder auf und wiederholt zudem, als Abschluß dieser Einheit, in Vers 18 und 20 die entsprechenden pentasílabos des ersten Quartettes. Die Strophen zwei bis fünf dürfen infolgedessen nicht einfach als tautologische oder in der Abfolge zufällige Ausgestaltungen der Metapher der "flores negras" gelesen werden. Der identische Strophenbeginn und das jeweils daran anschließende Possessivpronomen (bzw. der Artikel) legen einen gedanklichen Fortschritt in der Erklärung nahe. Im zweiten Quartett zieht sich das lyrische Ich mit einem leicht larmoyanten Unterton auf sich selbst zurück. Die syntaktische Struktur ist kompliziert und korreliert dadurch mit der semantischen Aussage, daß der Schmerz (gesteigerte Wiederholung von "dolores" an exponierter Stelle zum Ende der ersten beiden heptasilabos) eingekapselt bleibt und nur nach innen wächst. In der dritten Strophe hat das lyrische Ich dieses Stadium überwunden. Es lehnt sich gegen die vorgebliche Ursache seines Schmerzes auf: die Vergangenheit und die Partnerin. Vorwurf an Vorwurf wird gereiht, syntaktisch und metrisch parallel, ein Schlag nach dem anderen. Erklärende Verben spielen dabei keine Rolle. Die ganze Wucht des Angriffs und der Schuldzuweisungen geben die Substantive und Adjektive wieder. Der Wutanfall verraucht in der fünften Strophe und weicht einer objektiveren Vergangenheitsbewältigung. Der Sprecher geht etwas auf Distanz und kann bereits abwägen. Formen der ersten und zweiten Person wechseln sich nun ab. In Vers 16 hält er gar innerhalb einer metri-

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sehen Einheit inne und muß, gleichsam überwältigt von der Erinnerung, neu ansetzen. Das letzte Wort des Quartetts, "mías", leitet zur nächsten Strophe über. Wieder geht es um das lyrische Ich, doch diesmal nicht allein um seinen Schmerz. Der Durchgang durch die Bedeutungen von "mis flores negras" hat ihm einen Erkenntnisgewinn gebracht: die Erkenntnis nämlich, daß sein Gemütszustand fundamental von ihm selbst bestimmt ist und nicht von seiner Partnerin ("mis gemidos", "mis reproches"). Wenn er ihr überhaupt eine Schuld zuweisen kann, dann die, daß sie nicht in der Lage war, ihn zu befreien vom Teufelskreis der Dunkelheit, der Nacht, der Kälte und wieder der Dunkelheit (Zeilen 19 und 20). Mit der Wiederholung von "mis flores negras" schließt sich der Circulus vitiosus. Das Ich kann die gewonnene Selbsterkenntnis nicht in entscheidende Handlungen umsetzen. Flórez drückt dies sprachlich aus durch die Häufung von Wiederholungen, durch die lexikalische Variation semantisch ähnlicher Begriffe, durch phonetische Similaritäten (insbesondere die herausragende Rolle des Vokals o) sowie durch den Gebrauch der Verben. Untersucht man die letzte Strophe des Gedichtes unter diesem Aspekt, so wird deutlich, daß der Dichter in ihr keinen Ausweg anbietet. Der doppelte Gebrauch des durch die Anfangsstellung herausgehobenen Verbs ("Guarda", "Guardalo") und seine Bedeutung reihen sich nahtlos in die durative und iterative Funktion des vorher bestimmenden (und in Zeile 23 wiederholten) "ser" ein. Die Reimwörter "manojo" und "despojo" assonieren mit "fondo" (V. 2), "polvo" (V. 3), "ojos" (V. 16), "como" (V. 19) und "polos" (V. 20). Die Reimwörter von Vers 22 und 24 müssen als Rückbezug zu Strophe vier gelesen werden. Die Adjektive der Zeilen 21 und 22 neutralisieren nicht nur die positiven Konnotationen von "manojo" und "flores", sie wenden sie sogar ins Negative (die gleiche Aufgabe erfüllt "despojo" im Hinblick auf "jardín"), während "hondas" (V. 24) die von "melancolías" geschaffene düstere Stimmung noch intensiviert. Nur in Nuancen deuten sich kleine Veränderungen aufgrund der Erinnerungsarbeit an. War in den ersten beiden Strophen von "flores negras" und von "dolores" die Rede, so steht nun "flores sombrías" und "melancolías". Die leichte semantische Differenz entspringt wohl dem Prozeß, den der Sprecher durchgemacht hat, indem er die aktuelle Verzweiflung überwand und zur Erkenntnis seiner eigenen Grundbefindlichkeit gelangte. Eingedenk dessen darf dann auch das einzige Verb des Gedichtes in der ersten Person Präsens ("te ofrezco") als versöhnliche Geste der Frau gegenüber gewertet werden, die in Strophe drei Ziel heftigster Angriffe war. Daß er ihr einen Strauß schwarzer Blumen überreicht, ist also nicht der ironische Schlußpunkt einer gescheiterten Beziehung, sondern hilfloses Symbol der eigenen Unzulänglichkeit und der Unfähigkeit, aus dem Kreis von "mis hondas melancolías" auszubrechen. Mit Mis flores negras gelang Julio Flórez ein zutiefst spirituelles Gedicht. Er thematisiert darin, wie in seinem gesamten Werk, die in seinem Weltbild festgeschriebene

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ontologische Bestimmtheit des Menschen, genauer: des Kolumbianers, zum Leiden, zur Trauer und zur Einsamkeit. Die literarischen Topoi, die er gebraucht (der einsame Dichter, das leidende Ich, der Liebesschmerz, die schwarzen Blumen - möglicherweise die morbid, thanatophile Variante der blauen Blume Novalis'), entstammen der Tradition der Romantik. Die existentielle Grundaussage jedoch hat ihre Wurzeln in der Geschichte seines Landes mit dem schrecklichen Krieg der Jahrhundertwende und in der Armut der einfachen Menschen. Julio Flórez verstand sich als Dichter des einfachen Volkes, und so nimmt es nicht wunder, daß er beispielsweise in ¡Oh poetas! die Erde als Jammertal beschreibt: "Bajemos a ese infierno/ poblado de sollozos"5. In diesem Sinne kann Julio Flórez als ein radikal auf die Gegenwart bezogener Autor gelten, der bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Diese Gegenwart aber konstituiert sich, indem er die Themenkreise Liebe, Leid und Tod immer neu von seiner eigenen Person her aufgreift. Der Gegenwartsbezug von Julio Flórez erscheint daher in der kolumbianischen Geschichte zeitlos. Für die 20er Jahre muß er aber zugleich als anachronistischer Dichter bezeichnet werden, weil er weder poetologisch noch thematisch auf der Höhe seiner Zeit war. Er glaubte nicht an die Segnungen der Moderne, an den wirtschaftlichen, den technischen, den administrativen Fortschritt. Sein Rückzug aus der Stadt Bogotá aufs Land geriet so gleichsam zu einer Zeichenhandlung: zum Rückzug auf die eigenen Quellen.

5

Ibid., S. 115.

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4.3. Guillermo Valencia: Hay un

instante...

Hay un instante del crepúsculo en que las cosas brillan más, fugaz momento palpitante de una morosa intensidad. 5

Se aterciopelan los ramajes, pulen las torres su perfil, burila un ave su silueta sobre el plafondo de zafir.

Muda la tarde, se concentra 10 para el olvido de la luz, y la penetra un don suave de melancólica quietud, como si el orbe recogiera todo su bien y su beldad, 15 toda su fe, toda su gracia, contra la sombra que v e n d r á M i ser florece en esa hora de misterioso florecer; llevo un crepúsculo en el alma, 20 de ensoñadora placidez; en él revientan los renuevos de la ilusión primaveral, y en él m'embriago con aromas de algún jardín que hay \más allá!1

Hay un instante

gilt allgemein2 als eines der schönsten Gedichte aus der späteren

Schaffensperiode (es entstand 1928) von Guillermo Valencia, obwohl es nie den 1

2

Der Text folgt (mit Ausnahme von V. 7) der letzten mir bekannten Fassung: Espinosa, 1989a, S. 101; allerdings existieren eine Vielzahl von Varlanten, die Ich an dieser Stelle nur In Auswahl anführen, aber nicht diskutieren kann: El Nuevo Tiempo Literario, 12.1.1929 (NTL), der von Acosta Polo. 1965, S. 223, für seine Interpretation verwendete Text (AP), sowie Valencia, 1983, S. 38 (V). V. 2: más: (NTL); V. 3: momento-, (NU); V. 4: amorosa (NTL, V; auch Karsen, 1951, S. 116 und 163 kennt diese Variante; sie stützt sich auf den Abdruck In Universidad, 12.5.1928); V. 7: una ave (Espinosa); V. 8: detza/lr... (NTL); V. 9: tarde se (V); V. 11: dón dljuso (NTL); don suave (AP. V); V. 12: quietud. (NTL, AP, V): V. 13: Como (NTL, AP, V); recogiese (NTL, V); bel AP kein Abstand zwischen Strophe 3 und 4; V. 14: amor für bien (NTL); V. 16: Junta a la (NTL): vendrá. (NTL, AP, V); V. 17: sér (NTL, V); V. 18: milagroso (NTL); V. 19: siento un (NTL); ohne Komma (V); V. 20: placidez. (NTL, V); V. 21: En (NTL, AP, V); V. 22: me embriago (NTL, V); V. 24: hay más allá! (NTL); hay más alió. (V). Die Arbelten über Guillermo Valencia haben Inzwischen einen Umfang angenommen, der eine auch nur annähernd vollständige Bibliographie als unmöglich erscheinen läßt. Letztmals hat Sonja Karsen, 1951, versucht, diese Aufgabe zu erfüllen (S. 233-269). Die wenigen folgenden Angaben können nur als Beispiele für die große Beachtung stehen, die die Lyrik Valencias auch In den Jahren danach gefunden hat (wobei Veröffentlichungen über seine Übersetzertätigkeit nicht eingeschlossen sind): Nugent, 1962; Acosta Polo, 1965; Connell, 1967; Betancur Arlas, 1967; E. Torres, 1968; Bronx, 1970: D. Restrepo, 1972; Duarte French, 1973; Valencia, Homenaje a, 1974; Ramos, 1974; H. Torres, 1976; Karsen, 1980 (die wohl zur gleichen Zelt knappeste und Informativste Einführung in Leben und Werk des Dichters

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Ruhm und die Verbreitung der frühen Arbeiten aus der Zeit um die Jahrhundertwende erreichte.3 Das so gar nicht exotische Thema der Abenddämmerung mit den durch sie hervorgerufenen Gedanken und Gefühlen bietet er den Lesern/innen in einer für den modernistischen Dichter auf den ersten Blick erstaunlich schlichten Form dar. Lediglich sechs neunsilbige Quartette benötigt er, um seine Empfindungen angesichts des verlöschenden Tageslichtes zu verdichten. Dies läßt aufhorchen, bedenkt man, daß seine übrigen Hauptwerke, wie z.B. das kurz vorher entstandene Gedicht Job oder die älteren Anarkos, Leyendo a Silva, Cigüeñas blancas sowie San Antonio y el Centauro, sich über mehrere Druckseiten erstreckten. Zu diesem oberflächlichen Eindruck der Schlichtheit trägt auch der für seine ansonsten sehr hohen Ansprüche "nur" assonierende Reim in den geradzahligen Versen bei. Aus diesen vorläufigen Beobachtungen nun zu schließen, Valencia hätte, entgegen seinen sonstigen Bestrebungen, Hay un instante ohne größere Anstrengungen, gleich einem volkstümlichen Achtsilber einfach hingeschrieben, würde sowohl dem Modernismus als Ganzem wie speziell dem kolumbianischen Dichter nicht gerecht werden. Um dies zu belegen, genügt es, die rhythmische Struktur des Gedichtes zu analysieren. Ausnahmslos tragen alle 24 Verse den konstitutiven Akzent im Versinneren auf der vierten Silbe, unabhängig davon, ob die dreisilbige Anakrusis ganz ohne Akzent auskommt oder auf der ersten bzw. zweiten Silbe einen leichten Nebenrespektive Wortakzent aufweist, und unabhängig vom oxytonen, paroxytonen oder proparoxytonen Versausgang. In der Diktion Baehrs4 hätten wir also ein rhythmisch einheitliches Gedicht mit dem eneasílabo trochäischen Typs vor uns. Auch wenn Sonja Karsen die Vorbilder für den Neunsilber bei Valencia in Kolumbien mit José E. Caro und Silva sucht5, so liegt es doch aufgrund dieser spezifischen rhythmischen Gestaltung nahe, an Darios Responso a Verlaine6 zu denken. Die 14 Neunsilber trochäischen Typs (sie stehen nach je zwei Alexandrinern) sind dort allerdings durch den konsonantischen Reim und den durchgehend oxytonen Versausgang noch stärker vereinheitlicht.

Valencia); Holguin. 1980, S. 148-163; Guüérrez Glrardot, 1982, S. 447-453; Uiibe Ferrer, 1984, S. 101129; Gerdes/Holzapfel, 1985; Pineda Botero, 1986; Benítez Vlllalba, 1987; Charry Lara, 1988; Espinosa, 1989a; JaramlUo Zuluaga. 1991, S. 222-229. Die meisten dieser Beiträge beschäftigen sich pauschal mit dem lyrischen Werk Valencias, ohne eine systematische Untersuchung einzelner Gedichte. Nur bei Acosta Polo fand ich ein Kapitel, In dem er sich speziell mit Hay un Instante auseinandersetzt (S. 213228), wobei seine Interpretation aber mehr von Assoziationen denn von genauer Analyse geprägt Ist. Als Hinwelse dafür können das Bändchen von Echavama (1989) mit Las 100 más famosas poesías colombianas sowie die Umfrage der Akademie aus dem J a h r e 1957 (vgl. die Beiträge von Félix Res trepo und Nicolás Bayona Posada, 1957) herangezogen werden. Baehr, 1962, S. 72. Karsen, 1951, S. 162f; die Beispielgedichte, die sie anführt, entsprechen nicht der rhythmischen Fassung des untersuchten Gedichtes. Dario, 1982, S. 81-83. Segura, S. 127, nennt den Neunsilber mit der Betonung der vierten Silbe eneasílabo de canción, wodurch der Bezug zu Verlaine und seiner Forderung nach Musik In der Lyrik offenkundig wird.

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Wendet man nun den Blick von Darios streng durchkomponierten Zeilen wieder auf Valencias Werk, so erschließen sich, in Bezug auf den Reim, einige neue Zusammenhänge. Eine erste Beobachtung besteht darin, daß alle in den assonierenden Reim einbezogenen geradzahligen Zeilen mit einer betonten letzten Silbe enden, in den exponierten Strophen eins und sechs (sowie in der vierten) jeweils mit dem akzentuierten a. Darüber hinaus gibt es aber auch noch unregelmäßige Assonanzenverbindungen (im Gegensatz zu den regelmäßigen ausnahmslos durch versos llanos gebildet) zwischen den eigentlich reimlosen ungeradzahligen Versen. Die erste Assonanzenreihe (ä-e) umfaßt dabei Vers drei, fünf und elf; die zweite (e'-a) die Verse sieben, neun und 13; die dritte (á-a) die Verse 15 und 19; die vierte und letzte (ó-a) die Verse 17 und 23. Auf diese Weise isoliert Valencia die beiden (in der Vokalfolge klanglich verwandten7) Substantive am Ende der jeweils ersten Zeile der ersten und der letzten Strophe ("crepúsculo", "renuevos"). Damit schafft er, zunächst unabhängig von Syntax und Semantik, übergreifende lautliche Beziehungen, fast könnte man von lautlichen Hyperbata sprechen, die insbesondere dem ersten und dem sechsten Quartett eine Klammerfunktion zuweisen. Die Bedeutung dieser Beobachtungen wird nach einer Analyse der weiteren von Valencia angewandten poetischen Verfahren zu klären sein. Zunächst stellt sich indes die Frage, wie er den bloßen Informationsgehalt der Beschreibung der Abenddämmerung auf das Gedicht verteilte. In Strophe eins schränkt er den längeren Zeitraum des Übergangs vom Tag zur Nacht auf einen ganz bestimmten Moment ein, in dem "las cosas brillan más". Dieser Augenblick, das erfahren wir in den beiden einführenden Quartetten, läßt sich offensichtlich exakt festlegen aufgrund ganz spezifischer visueller Pänomene. Die dritte und die vierte Strophe, die syntaktisch zusammengehören, verlassen nun die beschreibende Ebene und wenden sich dem Innenleben und den Absichten der Natur zu: Der Abend konzentriert sich und die Welt sammelt ihre Kräfte. Die letzten beiden Quartette schließlich bringen das lyrische Ich ins Spiel, das die Dämmerung in sich aufnimmt. Syntaktisch gibt Valencia diesen recht komplexen gedanklichen Prozeß ohne Schnörkel wieder. Über das ganze Gedicht hinweg herrschen Hauptsätze vor, unterbrochen zumeist durch Genitivergänzungen, aber auch durch wenige Appositionen, Relativsätze oder mit Präpositionen eingeleitete nominale Wendungen (die Ausnahme bildet die etwas anspruchsvollere Konstruktion in Strophe vier). Die jeweiligen Satzteile sind an Metrum und Rhythmus angepaßt, so daß ein die Intonation und Harmonie störender Zeilensprung nicht vorkommt. 7

Bei exzessivster Auslegung der Lizenzen In der Assonanzblldung mit esdrtifuIa-Ausgang sowie bei Diphthongen (wobei das unbetonte u In "renuevos" doch einige Schwierigkelten bereitet) könnte man sogar von einer assonanzähnlichen Verwandtschaft sprechen; andererseits aber hätte Valencia sicherlich andere Formulierungen gewählt, wenn ihm an einer wirklichen Reimanbindung gelegen gewesen wäre.

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Entsprechend dieser grammatikalischen Struktur tragen die Verben, speziell die Prädikate, ein besonderes Gewicht für den Gesamteindruck, da in den kurzen Zeilen wenig Raum für schmückendes Beiwerk verbleibt. In exemplarischer Weise läßt sich dies in der zweiten Strophe zeigen, in der zur Aussagekraft von "aterciopelar", "pulir" und "burilar" noch die Stellung am Versanfang tritt. Doch auch "brillar", "concentrar", "penetrar", "recoger", "florecer", "reventar" und "embriagar" lassen erkennen, daß Valencia mit ihnen konzentrierte Sinneseindrücke und Gedankenfolgen andeuten möchte. Die beiden Prädikate "Muda" und "llevo" sowie "vendrá" aus Zeile 16 fallen demgegenüber ein wenig ab, ohne daß dies die Bedeutung der plastischeren Verben mindern würde. Um so stärker ragt das unpersönliche und schwache "hay" der ersten und der letzten Zeile aus dem Gesamtduktus heraus. Es muß deshalb wohl, neben der Funktion, die beiden Randquartette enger aneinanderzuschließen, noch eine weitere Aufgabe erfüllen. Die zweite Wortart, auf die Valencia großen Wert legt, sind die Substantive bzw. substantivierten Verben und Adjektive. Mehr als 30 Hauptwörter verteilt er relativ gleichmäßig über die 24 Verse. Demgegenüber nimmt sich die Zahl von neun Adjektiven für einen modernistischen Dichter sehr bescheiden aus; zudem müssen sie sich damit begnügen, in der Apposition bzw. den Genitivwendungen (mit der Ausnahme in V. 11, bedingt durch das kurze, einsilbige Substantiv "don") quasi als Nachklapp die bereits geschilderte Szene sekundär zu untermalen. Gehäuft treten sie tatsächlich in den Strophen auf, in denen ein einzelnes aussageschwaches Verb droht, das gesamte Quartett als zu blaß erscheinen zu lassen: In Strophe eins wird "hay" durch "fugaz", "palpitante" und "(a)morosa" ausgeglichen; in Strophe drei "muda" durch "suave" und "melancólica"; in Strophe fünf "llevo" durch "misterioso" und "ensoñadora". Nur in Strophe sechs, nach dem beziehungsreichen "primaveral", paßt sich das Adjektiv bzw. adjektivisch gebrauchte Pronomen "algún" der Blässe von "hay" an. Im zweiten und vierten Quartett verzichtet Valencia ganz auf Adjektive, offensichtlich jedoch aus unterschiedlichen Gründen, denn von Vers fünf bis acht genügen Verben und Substantive, um ein ausreichend buntes und bewegtes Bild zu malen, während die Zeilen 13 bis 16 nicht den Eindruck erwecken, als ob er in ihnen ein solches Bild überhaupt anstrebe. Nach diesen, den Gesamtzusammenhang des Gedichtes betreffenden Informationen, können wir uns nun der Einzelanalyse der Quartette oder von zusammengehörenden Einheiten zuwenden. Schon in Strophe eins begegnen wir einigen merkwürdigen Phänomenen, die nach einer Erklärung verlangen. Das erste Wort ist so allgemein, so ausdrucksschwach und so kühl objektiv, daß es gar nicht in die Umgebung des gefühlsbeladenen Anblicks des Sonnenunterganges passen mag. Eine ausreichende Begründung, warum Valencia gerade so einsetzt, findet sich in den ersten Versen aber nicht, sie mag sich erschließen, wenn wir zum letzten Quartett gelangen, wo er an "hay" wieder

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anknüpft. Die durch die fehlende Reimeinbindung und den esdrújulo-Ausgang herausgehobene Stellung von "crepúsculos" ist dagegen leichter zu verstehen. Der Dichter stellt hier sein Thema vor, das in der Überschrift noch nicht enthalten war, weil es ihm nicht um die Abenddämmerung im allgemeinen geht, sondern nur um einen kurzen Ausschnitt daraus. Dieser definiert sich durch die Tatsache, daß "las cosas brillan más". Noch hier, in der zweiten Zeile wirkt "hay" nach, denn die Dinge, die da funkeln oder sich scharf abzeichnen, sind ebenso unbestimmt und unpersönlich. Einen solchen Eindruck verwischen die folgenden beiden Verse wieder. Ein Feuerwerk von Adjektiven rahmt nun den Augenblick, wobei die Textvarianten "una morosa"-"una amorosa" zeigen, daß es sich bei der Lektüre im Prinzip nicht um drei, sondern um vier handelt, unabhängig davon, was Valencia ursprünglich geschrieben hat. Innerhalb der ersten Strophe baut Valencia zwei grundlegende Oppositionen ein. Die objektive Beschreibung der ersten beiden Verse steht gegen die subjektive Schilderung der letzten beiden; in diesen widerstreiten der flüchtige Augenblick mit der dauernden Intensität. Der kolumbianische Modernist tut aber noch ein weiteres. Vertikal zu dieser Abfolge schafft er eine Klangverbindung, die die Oppositionen auf die Spitze treibt. Das vom Rhythmus herausgehobene "cosas" aus Vers zwei assoniert mit "morosa" der letzten Zeile, und dieses ist mit dem darüberstehenden "momento" durch den Anfangskonsonanten8 und die beiden o verbunden. All dies führt dazu, daß die Leser/innen in einen Schwebezustand versetzt werden, in dem sie sich nicht mehr darüber im klaren sind, ob sie nun einen objektiven Bericht über den Augenblick zu erwarten haben oder eher subjektive Impressionen über dessen Wirkung. In der zweiten Strophe läßt Valencia diesen Schwebezustand weiterbestehen. Die drei parataktisch aneinandergereihten Aussagesätze in den Versen fünf bis sieben (die Verse sechs und sieben zeichnen sich durch streng parallelen Bau aus) sowie das Fehlen eines Adjektives sprächen eigentlich für die objektive Sichtweise9, doch die mit modernistischer Terminologie aufgeladene Semantik mahnt zur Vorsicht. Die Luxusgüter Samt und Saphir (Metonymie für das Adjektiv, die Farbe und das Symbol "blau") passen eigentlich nicht in eine getreue, emotionslose Deskription von Naturerscheinungen. Das zweite und das letzte Wort des Quartetts bilden aber nur den Rahmen für eine ganze Serie von Konnotationen und Symbolen, die in diesen vier Zeilen angesprochen werden und die nur bedingt dieses Gedicht betreffen. Wenn Guillermo Valencia das Verb "pulir" gebrauchte, so stellte er sich damit nicht nur in die Tradition des französischen Parnaß, er zitierte sich damit selbst, denn jeder gebildete Kolumbianer kannte den Vers aus Leyendo a Silva: "sacrificar un

Aus diesem Grund und wegen des semantischen Umfeldes würde Ich annehmen, daß "morosa" der Vorzug vor "amorosa" zu geben Ist. Acosta Polo, 1965, S. 224, will in den ersten beiden Strophen einen "limpldo vigor descriptivo" erkennen.

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mundo para pulir un verso"10. In diesem Zusammenhang mit "torres su perfil" fortzufahren, bedeutet so viel wie explizit torre de marfil zu schreiben. "Torres" bietet, zusammen mit "ave" einen weiteren Anknüpfungspunkt zum Frühwerk des Dichters. Mit Cigüeñas blancas hatte er 30 Jahre zuvor schon einmal ein Gedicht über die (damals Morgen-) Dämmerung verfaßt, und in der ersten Strophe heißt es dort: De cigüeñas la tímida bandada, recogiendo las alas blandamente, paró sobre la torre abandonada a la luz del crepúsculo muriente;

Anstatt der "cúpula radiante" der folgenden Strophe setzt er jetzt den Gallizismus "plafondo" für den Himmel; damals ließen sich die Vögel auf dem Turm nieder, nun fliegen sie; trotz dieser Unterschiede im Detail mußte, wie bei "pulir", jedem Kolumbianer, der etwas von Lyrik verstand, die Intention ins Auge springen: Valencia bekannte sich in der zweiten Strophe zu seiner Vergangenheit, die er mit Hay un instante zwar nicht in gleicher Weise fortführen, aber mit der er auch nicht brechen wollte. Nachdem er kurz zu diesem Exkurs innehielt und doch gleichzeitig im Thema fortfuhr (vgl. die Assonanzenanbindung an Strophe eins und drei), zeichnet sich im dritten Quartett langsam ein Umschwung ab. Die zwischen Subjektivität, Objektivität, Zitaten und Verweisungszusammenhängen oszillierende Beschreibung/Schilderung der vorangegangenen Strophen nimmt er durch die Personifikation "Muda la tade, se concentra" wieder auf, doch die Verben, Substantive und Adjektive haben eine leichte Änderung in ihrem semantischen Aussagegehalt erfahren. Die von außen kommende, nicht beliebig herbeiführbare Intensität wandelt sich zur "quietud", die in der Spannung zwischen aktivem "concentrar" und passivem "la penetra" steht. Was vorher flüchtig oder dauernd, auf jeden Fall aber fesselnd war, was vorher den Dichter zu modernistischen Höhenflügen angeregt hat, das bekommt nun einen Beigeschmack von Trauer und Vergessen ("melancólica", "olvido") und bereitet die Leser/innen auf die allegorische Betrachtung der Dämmerung in der vierten Strophe vor. Mit der schlichten Formulierung "Como si" hebt die sinnbildliche Auslegung der Dämmerung als Weltendrama an. Um so stärker tritt "el orbe" hervor. Nicht "el mundo" sammelt all seine Kräfte und Werte, die säkulare und bürgerliche Welt, die er für einen Vers geopfert hätte, sondern der christliche Weltkreis. Das Verb "recogiera" seinerseits nimmt das Motiv der Störche wieder auf und deutet es neu aus einem christlichen Blickwinkel heraus. Die christliche Welt also rüstet sich für den Kampf gegen die bevorstehende Dunkelheit, gegen die Schatten des Todes. Sie bereitet sich mit allem vor, was ihr zur Verfügung steht: "su bien", "su beldad", "su fe", "su 10

Vgl. dazu die Polemik zwischen Céspedes und CasUllo, Abschnitt 3.1.1. Die Gedichtzitate folgen der Fassung Espinosa, 1989a.

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gracia". Der parallele Bau der beiden Verse erlaubt zwei verschiedene Interpretationen dieser Begriffe, die vom Verständnis von "gracia" abhängen. Übersetzt man sie als gottgeschenkte Gnade, dann ergäbe sich eine aufsteigende Reihe, die der überlieferten Schriftallegorese nahekommt mit den Aspekten von Ethik/Moral, Ästhetik, Theologie/Glauben und Eschatologie. Übersetzt man "gracia" mit Anmut und legt stärkeres Gewicht auf die Parallelität zu "beldad", dann würde die ästhetische Ausrichtung überwiegen. Wie auch immer die Entscheidung an dieser Stelle ausfällt, das Gedicht hat einen ersten Höhepunkt erreicht (vgl. die á-Assonanz, die dieses Quartett mit dem ersten und dem letzten verbindet), der so allumfassend ausfiel (dreifache Nennung von "toda" bzw. "todo"), daß eine Weiterführung auf diesem philosophisch-theologischen Niveau nur schwer vorstellbar ist. Valencia gelingt der Anschluß bereits mit den ersten beiden Silben des fünften Quartettes. "Mi ser" unterstreicht seinen Willen, in der einmal begonnenen philosophisch-theologischen Terminologie fortzufahren, wobei er aber von der universalapokalyptischen auf die individuell-ontologische Ebene wechselt. Gleichzeitig nimmt er wahr, daß er nicht ohne große Anstrengungen das thematische Niveau der vierten Strophe halten kann. Deshalb bemüht er sich, durch eine Vielzahl von rhetorischen Mitteln den Spannungsbogen von den Versen 13 bis 16 hinüberzuführen bis zum Ausruf am Ende des Gedichtes. Diese Intention findet ihren Niederschlag im parallelen syntaktischen Bau der acht verbleibenden Verse mit je einem Hauptsatz und einer daran anschließenden Genitivergänzung. Innerhalb der so geschaffenen vier pareados unterscheiden sich allerdings die Stilmittel. In den Versen 17 und 18 finden wir ein Polyptoton. Das Sein des lyrischen Ich blüht in dieser Stunde auf. Da dies jedoch die Stunde ist, in der Schatten und Dunkelheit sich über die Welt legen, und "blühen" normalerweise nicht mit dieser Tageszeit konnotiert wird, ergänzt Valencia sofort: Es handelt sich um ein "misterioso florecer". Bei dieser vieldeutigen Anspielung beläßt er es einstweilen. Der zweite pareado (V. 19 und 20) sagt etwas völlig anderes aus. In ihm kongruieren die semantischen Beziehungen untereinander und mit den allgemein üblichen Vorstellungen. Die Abenddämmerung hat traditionell etwas mit der Seele, mit Träumen und mit Ruhe zu tun. Allerdings bezweckt der Dichter mit diesen Zeilen etwas ganz Spezielles. Zum einen sucht er die Anknüpfung an Vers eins, an das Wort "crepúsculo". Nun jedoch tritt die Dämmerung nicht mehr als etwas Externes, objektiv zu Beschreibendes in Erscheinung, nun wird sie in der Seele selbst verortet und damit einem Prozeß der radikalen Subjektivierung unterworfen. Die Frage der ersten Strophen, ob objektive Beschreibung oder subjektive Schilderung vorlag, wird mithin obsolet. Und ein Zweites intendiert Valencia. Mit "alma" schafft er eine lautliche Beziehung zu "gracia" aus der vierten Strophe und gibt den Lesern/innen einen kleinen Hinweis, in welche Richtung er diesen ambivalenten Begriff interpretieren möchte.

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Wie bedeutsam die Wiederaufnahme von "crepúsculo" war, unterstreichen die Wendungen "en él" der beiden letzten pareados sowie das oben diskutierte "renuevos". Zur gleichen Zeit führen die Zeilen 21 und 22 die semantische Isotopie des Blühens fort, wobei sich allerdings eine merkwürdige Bildfolge ergibt. Einerseits: Die jungen Triebe einer frühlingshaften Illusion brechen auf. Doch zur Illusion, in Verbindung mit dem Traum von Zeile 20, würde auch die Lesart platzen passen. Die erste, wahrscheinlichere Interpretation stünde unter dem Vorbehalt des "misterioso", denn der Widerspruch zu den traditionellen Konnotationen zu "crepúsculo" bleibt bestehen, wollte man nicht annehmen, Valencia hätte unter der Hand von der Abendauf die Morgendämmerung umgeschaltet, wofür es keinerlei Anhaltspunkte gibt. "Primaveral" erweist sich in diesem Zusammenhang als Schlüsselwort. In Kolumbien gibt es keine jahreszeitliche Entsprechung zum Frühling der gemäßigten Breiten. Die Blüte- und Erntezeiten verteilen sich, je nach Pflanzenart, über das ganze Jahr hinweg. Valencia interessiert sich nicht für die konkrete Erscheinung, sondern erinnert mit "primaveral" an den europäischen literarischen Topos. Diesen lokalisiert er, gemeinsam mit dem Topos "crepúsculo", im Inneren des einzelnen Menschen. Dort, in diesem Fall im lyrischen Ich, fällt das ewige Wechselspiel von Werden und Vergehen, von Aufbruch und Untergang zusammen. Am einzelnen Subjekt liegt es entscheidend, wie es im Angesicht der Dämmerung in sich das Bild eines neuen Frühlings wachhalten und wie es sich an den Düften des imaginären Gartens (V. 23 und 24) berauschen kann. Für Valencia gibt es nur einen Weg dorthin: die christliche Hoffnung auf das "\más allá\". Im Ausblick auf den neuen Garten Eden lösen sich alle Widersprüche auf. Von diesem "¡más allál" mit seinem zweifach betonten a ausgehend, eröffnen sich einige neue oder klärende Aspekte für das Gesamtgedicht. Das "más" der zweiten Zeile erhält nun einen Bezugspunkt. Es repräsentiert den ästhetischen und den spirituellen Mehrwert der Dinge in diesem kurzen Augenblick der Dämmerung. Die eschatologische Dimension von "gracia", von "alma" bereits unterstützt, bekommt nun ein deutliches Übergewicht. Auch "primaveral" kann sich diesem Einfluß nicht entziehen. Die Illusion der neuen Blüte wandelt sich zur festen Hoffnung. Bis zur letzten Konsequenz weitergedacht, würde das Gedicht sich in diesem Interpretationsschema als theologisch-philosophischer Diskurs darbieten: die ersten beiden Strophen als Einleitung mit vorwiegend ästhetischen Aspekten, die folgenden Quartette als Szenario der universalen Apokalypse und die letzten beiden als Meditation über die individuelle Auferstehungsgewißheit. Für eine solch einseitige Auslegung sprechen gewiß einige der herausgearbeiteten Informationen, doch sie würde dem Gedicht insgesamt nicht gerecht. Mit nahezu denselben Informationen ließe sich im Prinzip nämlich auch ein genau gegenläufiger Argumentationsgang rechtfertigen. Er würde von Strophe zwei ausgehen, die darin zitierten oder nahegelegten ästhetischen Kategorien über die philosophisch-theologi-

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sehe Terminologie von Strophe vier überstülpen sowie "más allá" im Horizont von "beldad" und "gracia" (Anmut) deuten als Flucht des Dichters in eine schöne Scheinwelt, in der die logischen Widersprüche zwischen "crepúsculo" und "primaveral" ebenfalls aufgehoben wären. Diese Auslegung könnte sich darauf berufen, daß die auf den ersten Blick so schlichte Form und die Musikalität im Rhythmus letztendlich über die Schwere der inhaltlichen Aspekte triumphiere. Natürlich führen beide Extreme an der Gesamtaussage vorbei. Die oben zurückgestellte Betrachtung von "hay" kann dies aufzeigen. "Hay" knüpft in besonderer Weise das Band zwischen der ersten und der letzten Zeile des Gedichtes, nicht nur durch die zweifache Nennung, sondern auch durch den Vokal a, der zusätzlich die Verbindung zu "más allá" herstellt. Nicht vergessen werden darf auch, daß "hay" bereits im Titel des Gedichtes steht. So unbestimmt "es gibt" klingt, für Valencia hat es große Bedeutung. Die einfachste Erklärung, daß der Dichter einfach nicht sagen wollte, wann und wo er diesen speziellen Augenblick erstmals wahrgenommen hat, mag richtig sein, doch sie ist nicht erschöpfend. In Zeile 24 kommt ein wesentlicher Aspekt deutlicher zum Ausdruck. Dort meint "hay" die sichere Gewißheit, daß es ein Jenseits gibt. Die Unbestimmtheit, wie der paradiesische Garten zu beschreiben wäre, geht auf "algún" über. In Zeile eins steht "hay" für beide Nuancen. Die Existenz des Augenblicks steht fest, denn er definiert sich durch beschreibbare Naturphänomene, die offensichtlich jedem Sonnenuntergang eigen sind und nicht spezifischer meteorologischer oder lokaler Gegebenheiten bedürfen. Doch den Dichter interessiert nicht primär das, was alle sehen. Er überschreitet die Grenzen der Objektivität und findet sich wieder auf einer Sprachebene, in der modernistische Terminologie, philosophische und theologische Begriffe, Symbole und allegorische Deutungen einander ablösen. Mit Blick auf "hay \más allál" liegt es nahe, das "hay" des ersten Verses zusammen mit "más" des zweiten zu lesen und von dorther Hay un instante zu interpretieren: Valencia sucht das je Andere, möglicherweise das je Größere und Bedeutendere, auf jeden Fall aber immer neu ein Mehr an Bezügen und Assoziationen. Eine einseitige Auslegung, sei es unter dem Gesichtspunkt der christlichen Soteriologie oder dem des Ästhetizismus, muß daher fehlgehen. In Hay un instante malt Valencia, formal perfekt, wie es der Parnaß forderte, ein subjektives Bild11 der Dämmerung, doch er begnügt sich nicht damit. Er strebt an, dem Text mittels des Rhythmus eine musikalische Grundstimmung zu verleihen, ohne ihn ganz in eine Melodie "sans paroles" (Verlaine) aufzulösen. Er bringt abstrakte Begriffe und komplexe Gedankengänge ein, aber er doziert nicht wie ein Luis María Mora. Alle Aspekte des Gedichtes tragen wechselweise aufeinander und nach außen gerichtete Bezüge, ohne daß ihm daran gelegen ist, die oft verborgenen und widersprüchlichen Anspielungen direkt zu thematisieren. Er suggeriert, deutet an, 11

Karsen, 1951, S. 116, meint dazu: "It ls a poem whlch remlnds one of the French Impressionist school In paintlng".

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schafft Verbindungen, verschlüsselt und arbeitet mit Symbolen. Auf eine letzte Synthese muß er verzichten, denn die ist erst im "más allá" zu finden. Mit Hay un instante hat sich Valencia von seinen mit Adjektiven und Bildern häufig überladenen, doch gleichzeitig kühl-objektiven Gedichten aus früheren Epochen etwas entfernt. Sein in allen Schaffensperioden nachweisbarer Ansatz, modernistische Dichtung und Christentum zusammenzuführen, begleitete ihn indes auch 1928. Hay un instante ist ein schönes Gedicht, weil es äußerliche Schlichtheit, hochkomplexe poetische Verfahren und über das Thema hinausgehende inhaltliche Anliegen miteinander verbindet. Ob es dagegen als ein im Jahre 1928 modernes Gedicht gelten kann, muß bezweifelt werden. In den besprochenen Texten kreisten die Gedanken von Luis María Mora, Julio Flórez und Guillermo Valencia um ein gemeinsames Grundthema: die düstere Stimmung des Alterns, der Melancholie und der Dämmerung. Guillermo Valencia und Luis María Mora suchten nach Wegen, diese Grundbefindlichkeit zu überwinden: Der einstmalige Erneuerer der Lyrik fand den seinen im Ausblick auf eine neue Welt, in der Ästhetik und christlich verstandene Transzendenz zu einer Synthese gelangen könnten. Der Pädagoge Mora verließ sich auf die bewährten Konzepte eines christlichen Humanismus und einer nationalistisch gewendeten Neuscholastik. Julio Flórez hatte kein Rezept. Er kam über die, auch in seinem christlichen Glauben wurzelnde Resignation nicht hinaus. Im Prinzip deckten die drei Dichter ein großes Spektrum ab: Der eine sang für das Volk, die anderen schrieben ihre Gedichte für die Eliten; der eine verkörperte die klassische, der andere die romantische, der dritte die modernistische Dichtungstradition; der eine (Valencia) blickte in eine lyrisch und theologisch überhöhte Zukunft, der andere (Mora) in die Vergangenheit, der dritte (Flórez) in sich selbst. Keiner hatte indes die Kraft oder den Willen, sich der konkreten Gegenwart zu stellen. Die literarische und die gesellschaftliche Modernisierung der 20er Jahre blieb bei den drei Autoren ausgeklammert.

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4.4. Eduardo Castillo: Difusión Ya el otoño llegó, y aún busco aquella novia lejana cuyo cuerpo leve es un ampo de rosas y de nieve en que embrujada se quedó una estrella. 5

Y aunque no pude ni encontrar su huella, y los inviernos de la vida en breve escarcharán mi sien, algo me mueve a seguir caminando en busca de ella.

Mas pienso a veces que quizás no existe 10 y que jamás sobre la tierra triste podré con ella celebrar mis bodas, o que este loco afán en que me abraso la busca en una sola, cuando acaso se halla dispersa y difundida en todas. 1

Wieder geht es um die Liebe, um die Zeit, um die Vergänglichkeit. Difusión erzählt von der vergeblichen Suche nach der fernen Braut. Eduardo Castillo wählte für dieses Gedicht, wie für die meisten seiner Werke, die Form des Sonettes. Einen ersten Hinweis darauf, daß er sich von den strengen klassischen Normen etwas gelöst und die Neuerungen des Modernismus rezipiert hatte, bietet die Reimfolge in den Terzetten. Das Schema CCD EED gehört zu jenen Kombinationen, die Segura (S. 138) "sobremanera variada" nannte. Die rhythmische Gestaltung der Elfsilber zeichnet sich ebenfalls durch gewisse Freiheiten aus. Von der ersten Strophe abgesehen, in der je ein endecasílabo melódico und sáfico sich abwechseln, schöpft er die von der Verslehre angebotene Variationsbreite ohne erkennbare Systematik aus, wobei er den nicht immer perfekten endecasílabo sáfico mit Akzenten auf der vierten und achten Silbe bevorzugt. Was die Übereinstimmung von Syntax und Strophen betrifft, wagt der Dichter keine Experimente. Die Quartette umfassen je einen abgeschlossenen Satz, während die Terzette eine größere Periode mit drei unterschiedlich langen Nebensätzen darstellen, deren drittes Glied das zweite Terzett bildet. Die überleitenden Konjunktionen zu Beginn einer jeweils neuen Strophe weisen darauf hin, daß in den Quartetten

Castillo, 1981, S. 29. Der Autor nahm dieses Sonett In seinen Gedichtband El árbol que canta von 1928 auf. Rezensionen (bzw. Vorabbesprechungen) zu diesem Band erschienen u.a. am 26.11.1927 und 26.1.1929 In Cromos (beide von Jorge Mateus), am 10.9.1927 (Dmltrl Ivanovltch) und 5.1.1929 (Ismael Enrique Arclnlegas) In El Nuevo Tiempo Literario, sowie von J u a n Lozano y Lozano In El Tiempo. Lecturas Dominicales (s. Lozano y Lozano, 1956, S. 448-451). Vgl. zu Castillo ferner, über die Bibliographie von Luque Muñoz, 1989, S. 103f, hinaus: Nieto Caballero, 1984, S. 529-531 (Artikel von 1938); Santa Cano: "Una vida de arte", ta: ders., o.J., S. 285-289 (Artikel von 1938); Umaña Bernal, 1976, S. 127-129; Charry Lara, 1985, S. 41-50; Jaramlllo Zuluaga, 1991, S. 237-242.

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("Y") ein zusammengehöriger Gedankengang ausgedrückt wird, die Terzette jedoch ("Mas") neue, und zwar alternative ("o") Aspekte einbringen. In Bezug auf Klangeffekte geht Castillo bis an die Grenzen des Erlaubten. Beinahe provokativ setzt er in den ersten Vers viermal die Grapheme "y" ("Ya", "y aún") bzw. "11" ("llegó", "aquella"), so daß sie bei dem in Kolumbien üblichen yeísmo zwangsläufig identisch ausgesprochen werden mußten. Wäre er auch in den Reimwörtem ("aquella", "estrella", "huella", "ella") so verfahren, hätte das gebildete Bogotá ihm diesen Affront wider die preceptiva literaria nie verziehen. Doch er begnügt sich damit, das erst in der Konfrontation von Schrift und Vortrag wirksame Spiel mit dem Frikativ auf das Versinnere bzw. den Versanfang zu beschränken (vgl. V. 2 "cuyo", V. 5 "Y aunque", V. 11 "ella" sowie V. 14 "halla"). Dort indes erweitert er es um eine neue Variante. Der anaphorischen Stellung der Konjunktion "y" in den Zeilen fünf und sechs entspricht nämlich keineswegs eine phonetische Identität. Im Gegenteil: Das "y" von Zeile sechs leitet sogar eine Folge des bis dato unterrepräsentierten Vokals und Phonems i ein ("y los inviernos de la vida"), die ihre Fortsetzung in Vers zehn findet ("y... tierra triste") und 14 ("dispersa y difundida"). Der in diesen letzten Beispielen auftretende Zusammenfall von Alliteration und Vokaldominanz begegnet im Gedicht noch häufiger. Nicht ganz so offensichtlich ist er in Zeile 13 ("cuando acaso"), da der entscheidende Konsonant im zweiten Wort der Synalöphe bedarf, um deutlich hervorzutreten. Eine äußerst auffällige und interessante Häufung von Vokalen und alliterierenden Konsonanten konstruierte der Dichter dagegen in Zeile zwei, interessant vor allem durch die chiastische Stellung ("lejana cuyo cuerpo leve"), die Einbindung in den Reim, die Wiederaufnahme des Spiels mit dem yeísmo, die Assonanz zwischen "lejana" und "embrujada" (Zeile zwei und vier; beide tragen den ersten konstitutiven Versakzent des sáfico) sowie die zweimalige Endstellung des Vokals o, der in Vers eins bereits eine große Rolle spielte. Weitere Klangeffekte erzeugt Castillo in Zeile vier durch die Dominanz des Vokals e bei gleichzeitiger Kontrastierung mit u, durch die Alliterationen "me mueve" (Zeile sieben) und "que quizás" (Zeile neun) sowie durch die gehäufte Kombination der Vokale a und o im letzten Terzett ("loco afán", "abraso", "sola, cuando acaso" und "todas", wodurch die Verbindung zu "bodas" in Vers elf sowie zu "ampo de rosas" in Vers drei hergestellt wird). All diese rhetorischen Verfahren stehen nun in einem Gedicht, das den Titel "Difusión" trägt und in dem ein lyrisches Ich von der Suche nach der "novia lejana" erzählt. Die Bedeutung der Überschrift ist qua semantischem Gehalt so diffus und unkonkret, daß die Klärung ihrer Funktion einer vorgängigen Untersuchung der Gesamtaussage bzw. der verschiedenen Aussagerichtungen des Sonettes bedarf. Castillo setzt mit zwei parataktisch nebeneinandergestellten Hauptsätzen ein, die nicht nur durch die bereits erwähnten lautlichen Merkmale, sondern auch durch die

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temporalen Deiktika aufeinander bezogen sind. Er arbeitet dabei mit den Elementen von Parallelismus ("ya el... llegó", "y aún ... aquella"; Flexionsendung o der Verben) und Kontrasten ("Ya ... aún"; Indefinido vs. Präsens; Subjektwechsel; Stellung der Prädikate), wodurch der Eindruck erweckt wird, als ob die äußere Zeit des Jahresablaufes nun zusammenträfe mit der inneren Zeit des Sprechers. Verstärkung erfährt das Wechselspiel von Parallelität und Kontrast dadurch, daß der Dichter die äußere Zeit konkret angibt ("otoño"), das Konstitutivum der inneren Zeit: das Objekt der Suche, hingegen völlig unbestimmt läßt ("aquella") und sich seiner erst nach dem Zeilensprung annimmt. In Zeile zwei erfahren wir, daß es sich um eine "novia lejana" handelt, präsumtiv die Braut des lyrischen Ich. Doch tatsächlich äußert sich der Autor darüber ebensowenig wie über die naheliegenden Fragen, ob "lejana" nun temporal oder lokal zu verstehen ist, wann und wo sich die beiden getrennt haben oder wie die Beziehung zwischen Braut und Bräutigam einmal ausgesehen hat, bzw. ob sie überhaupt jemals bestanden hat. All dies ist sekundär; der folgende Relativsatz beschäftigt sich anscheinend nur mit dem Aussehen der Frau, d.h. mit der Beschreibung ihres Körpers: Er ist leichtgewichtig und weiß. So banal drückt dies Castillo natürlich nicht aus. Zwar koinzidieren in Vers zwei Syntax und Rhythmus durch den Beginn des Relativsatzes nach der Zäsur2, doch die beiden unterschiedlichen Alliterationen in chiastischer Stellung gehen über den Neueinsatz hinaus. Dadurch sowie durch die jeweilige Reimeinbindung (mit "embrujada" bzw. "nieve") öffnet der Dichter unmerklich das Spektrum der möglichen Konnotationen zu den Adjektiven "lejana" und "leve". Noch mehr Mühe verwendet der Dichter auf die Beschreibung der Hautfarbe. Sie verkörpere, sagt er in der zweigliedrigen Metapher in Zeile drei, die blendende Weiße von Rosen und Schnee. Bereits in den Grimmschen Märchen findet sich dieses alte Motiv: der weiße Rosenstock, dem Schneeweißchen seinen Namen verdankt. Castillo legt es darauf an, daß durch die üblichere Konnotation von "rosas" deren Schwester, Rosenrot3, ungenannt im Hintergrund mitschwingt. Nur vordergründig ist daher die Metapher tautologisch; tatsächlich hegt ihr ebenfalls das Konstruktionsprinzip von parallelen und kontrastiven Elementen zugrunde, in diesem Fall das Farbenpaar weiß und rot. Wie sehr der Rekurs auf die Märchensprache nahelag, verrät die letzte Zeile der Strophe. Sie erzählt von einer Verzauberung und von einem Stern. Zur weißen Farbe tritt auf diese Weise das Funkeln hinzu, zur fernen Braut die Vorstellung von magischen Mächten (vgl. den Binnenreim "lejana"-"embrujada"). Die Beschreibung der Frau steht also nur bedingt im Zentrum des Interesses von Castillo. Er möchte vielmehr ein unscharfes Bild von einer Traum- oder Märchenfigur entwerfen. Deshalb beschäftigt er sich auch nicht mit dem Problem, ob der SpreZäsur nach der Definition von Baehr, 1962, S. 10; gemeint Ist also die Pause nach dem Wort, das einen starken Versakzent In einem als unzusammengesetzt empfundenen Langvers trägt Ob Castillo dieses konkrete Märchen gekannt hat, muß offen bleiben, es Ist Jedoch wahrscheinlich, da Ihm die Gebrüder Grimm vertraut waren (vgl. Luque Muñoz, 1989, S. 35-40).

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eher die Frau sucht, weil er sie verloren hat, oder ob er dem Idealbild von einer Frau nachhängt, die er in Wahrheit nie kannte. Dabei unterwirft er seine Leser/innen einem Wechselbad der Gefühle, denn immer, wenn sie glauben, eine Anspielung, eine rhetorische Figur oder eine Metapher erkannt und entschlüsselt zu haben, fügt der Autor einen neuen, zumeist nicht mit dieser Erkenntnis übereinstimmenden Aspekt an. Castillo arbeitet mit dieser Methode sowohl im Detail (bei einzelnen Wörtern, Alliterationen etc.) als auch in der Grobgliederung der Strophe, was sich darin ausdrückt, daß die vom umschlingenden Vollreim gebildete Struktur durch den Rhythmus (Abfolge von je einem endecasílabo melódico und sáfico) gebrochen wird. Die Kontraste und die Häufung von rhetorischen Verfahren verleihen dem ersten Quartett eine gewisse Tendenz zur Dunkelheit, trotz des verhältnismäßig einfachen lexikalischen und syntaktischen Repertoires. Daran ändert sich auch in der zweiten Strophe wenig. Syntaktisch schließt die erste Zeile mit "Y" problemlos an den ersten Vierzeiler des Sonettes an und thematisiert doch sogleich mit dem konzessiven "aunque" einen Vorbehalt. Phonetisch verweist die erste Silbe dank der Synalöphe auf Vers eins des Gedichtes, doch rhythmisch (sáfico) steht die Zeile den Versen zwei und vier nahe. Die anaphorische Stellung des "y" in den Versen fünf und sechs könnte vermuten lassen, es folge jeweils eine parallele inhaltliche Aussage, doch dies ist keineswegs der Fall. Im ersten Teil des zweigliedrigen konzessiven Nebensatzes (Zeile fünf) nimmt Castillo das Motiv der Suche aus der ersten Strophe auf und macht durch die verstärkende zweifache Verneinung deutlich, daß das Sonett nicht darauf ausgerichtet ist, die Frau zu finden; er entzieht sich damit gleichzeitig der Verpflichtung, in der Beschreibung ihres Körpers fortzufahren. Der zweite Abschnitt der Nebensatzfolge, der bis zur Zäsur in Zeile sieben reicht, wendet sich einem neuen Thema zu. Vom bevorstehenden "Winter des Lebens" spricht das lyrische Ich und die Leser/innen erinnern sich an "otoño" aus dem Eingangsvers des Gedichtes. Dort aber schien die Jahreszeitangabe real und nicht metaphorisch gemeint zu sein. Als literarische Topoi verlieren nun die Begriffe Herbst wie Winter4 den Charakter des Exotischen (vgl. die Zeile aus Moras Idioma nativo: "La nieve que me cubre los cabellos") und können auf ein wohlausgebildetes Vorverständis in der Atenas Suramericana hoffen. Castillo verbleibt mit der Formulierung "escarcharán mi sien" weiterhin im Bild. Semantisch korrespondiert der Rauhreif von Zeile sieben mit dem Schnee des dritten Verses. Doch die Berührungspunkte in der Bedeutung verlieren an Gewicht angesichts der kontrastiven Elemente. Der Schnee stand in der ersten Strophe für die Farbe Weiß, welche ihrerseits die Frau bzw. ihren Körper und ihre Unschuld symbolisierte. Nun macht das lyrische Ich eine Aussage über sich selbst und seine zukünftigen altersgrauen Schläfen. Der Experte Der Begriff "lnvlemo" wird In Kolumbien für die Zelten gebraucht, In denen es regnet. Selbst In der über 2 600 Meter hoch gelegenen Stadt Bogota sind Schnee und Frost praktisch unbekannt.

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für europäische Literatur demonstriert auf diese Weise die Ambivalenz oder gar Polyvalenz einer gerne gebrauchten traditionellen Metapher, wodurch die Verständnisschwierigkeiten erhöht werden, ohne daß er auf moderne Verfahren zur Komplexitätssteigerung rekurrieren müßte. Wie in der ersten Strophe, so spielt auch im zweiten Quartett die Zeit eine große Rolle. Im ersten Vers hatten sich die äußere Jahreszeit (die nach der fortgeschritteneren Lektüre des Gedichtes als bewußte Irreführung entlarvt wurde) mit der inneren Zeit des Sprechers getroffen; daneben stand merkwürdig unbeteiligt das überzeitliche Präsens ("es", Vers drei) bei der metaphorischen Beschreibung der Frau. In den beiden untergeordneten Sätzen (Vers fünf bis sieben Mitte) konstituiert Castillo einen bestimmten Zeitpunkt im Leben des lyrischen Ich zwischen der Vergangenheit des Nichtfindens und der Zukunft des Alterns. An diesem Punkt des frustrierten Innehaltens (herausgehoben durch die rhythmisch und syntaktisch akzentuierte Zäsur nach "sien") sorgt eine nicht näher bezeichnete Macht ("algo") im Hauptsatz für neue Bewegung, die aus der Gegenwart heraus ("mueve") Perspektiven für die Zukunft weist ("seguir caminando"). Auf diese Weise motiviert, kann das lyrische Ich die Suche ("busca" mit Rückgriff auf Vers eins "busco") wieder aufnehmen. Die Terzette beginnen mit einem adversativen "Mas". Die kurze Rückschau auf die Vergangenheit und der Ausblick auf die Zukunft haben dem Sprecher genügt, seine Zweifel an der Suche zu ventilieren. Castillo verleiht dem Reflexionsvorgang wieder eine auf den ersten Blick klare Gliederung. Drei unterschiedlich lange und unterschiedlich aufeinander bezogene Nebensätze hängen von "Mas pienso a veces" ab. Der extremste Zweifel steht am Anfang: "que quizás no existe". Die Verse zehn und elf müßten, wegen der einleitenden kopulativen Konjunktion "y", als weitere Ausfaltung dieses Gedankens verstanden werden, während das disjunktive "o" eine zweite Alternative andeutet (Vers zwölf bis 14). Erneut jedoch kontrastieren andere Zuordnungsmöglichkeiten, insbesondere klanglicher Nato, diese syntaktische Struktur. In den Endreimen korrespondieren die Verse neun und zehn, elf und 14 sowie zwölf und 13, wobei die letzten vier durch den ausschließlichen Gebrauch der Vokale a und o in den Reimwörtern noch enger aneinanderrücken. Die Häufung des hellen Vokals i verbindet die Verse neun, zehn und 14; die k- Alliteration (mit jeweils unterschiedlicher Vokaltönung und Schreibweise) dagegen die Verse neun und 13. Es ist daher, wie in den bisher besprochenen Strophen, auch in den Terzetten damit zu rechnen, daß der Dichter übergreifende Bedeutungsnuancierungen und widerstreitende Zusammenhänge geschaffen hat. Wenn also die Frau gar nicht existiert, dann folgt daraus logischerweise, daß der Sprecher sie nicht heiraten kann. Der Zusatz: "sobre la tierra triste" wäre völlig überflüssig, würde er nicht durch die Klangverbindung suggerieren, daß "existe" sich nur auf diese Welt bezieht, konkret: auf das Jammertal. Eine ähnliche semantische Konfiguration begegnete uns bereits in Vers sechs, auch dort mit der Dominanz des

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Vokals i: "y los inviernos de la vida". Castillo konnotiert diesen hellen Laut offensichtlich bewußt mit den Begriffen Leben und Vergänglichkeit, so daß auch das Hendiadyoin "dispersa y difundida" (Vers 14, nach zwei Versen ohne i) und mithin die Gedichtüberschrift davon nicht unberührt bleiben kann. Das Hendiadyoin steht nun in einer Umgebung, die geprägt ist von der variablen Abfolge der Vokale a und o. In den letzten vier Zeilen decken Wörter mit diesem Charakteristikum völlig unterschiedliche semantische Isotopien und Wortarten ab. Der Schlüssel für die Auslegung liegt wohl im Substantiv "bodas" (Vers elf) verborgen, das semantisch und phonetisch auf "novia" (Vers zwei) sowie "ampo de rosas" zurückverweist. Die weiße Braut mit (roten?) Rosen in der Hand sucht der Sprecher mit "loco afán". Als Verbindungsglied zwischen den beiden Isotopien von Hochzeit und Eifer fungiert das Verb "abraso". Obgleich von der preceptiva literaria nicht zugelassen, mußten die Leser/innen darin ein Wortspiel sehen, das sich des kolumbianischen seseo bedient: abrasar - "auf etwas brennen", und abrazar - "umarmen". Das Dilemma von Wunsch und Realität, in dem sich das lyrische Ich befindet, erweitert Castillo um einen zusätzlichen Aspekt: das Dilemma zwischen der einen ("sola") Braut und allen ("todas") Frauen. Inmitten dieser Beziehungen steht, herausgehoben durch Alliteration, die dubitative adverbiale Bestimmung "acaso", die mit dem gleichbedeutenden und ebenfalls in eine ^-Alliteration einbezogenen "quizás" verbunden ist. Damit schließt sich der Kreis, denn "quizás" meldet Zweifel daran an, daß die Frau nicht existiert ("no existe", s.o.). Die Terzette thematisieren die Zweifel des lyrischen Ich an seiner Mission unter der Voraussetzung, daß er de facto, bedingt durch einen mysteriösen ("algo") Ansporn, schon beschlossen hat, sie fortzuführen. In diese somit fast akademisch anmutende Diskussion streut Castillo weitere Zweifel ("a veces", "quizás", "acaso") und eine Vielfalt verwirrender, sich manchmal entsprechender, manchmal Gegensätze aufbauender Beziehungen. Am Ende beläßt er die Leser/innen, rhetorisch nochmals besonders ausgefeilt ("dispersa y difundida"), im Zustand der Difusión. Läse man diesen Begriff nur im Horizont der Suche nach der einen Frau, dann würde sich die fast gnostische Vorstellung vom Einschluß eines Lichtpartikels bzw. göttlichen Funkens ergeben, der der Erlösung aus dem Körper und der Wiedervereinigung mit den anderen Partikeln harrt. Doch Castillo propagierte keine dualistische Mysterienreligion. Er schrieb ein Gedicht, das sich einer eindeutigen Interpretation widersetzt. Auf der Ebene des reinen Informationsgehaltes des Textes bedeutet "Difusión", daß das lyrische Ich die ferne Braut nicht finden kann, weil sie entweder überhaupt nicht existiert, oder weil sie auf alle Frauen zerstreut ist, so daß erst eine bestimmte (unmögliche) Konfiguration aller Frauen dem Idealbild des Dichters entspräche. Die Realisierung der Idee kann nicht gelingen, weil die reale, "triste" Welt diesem Projekt unüberschreitbare Grenzen setzt, nicht zuletzt die Kürze des Lebens

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("inviernos de la vida"). Diese Spannung hebt Castillo in seinem Sonett nicht auf, sondern verarbeitet sie zu einem grundlegenden Gestaltungsmerkmal. Immer wenn Semantik, Syntax, Reim, Rhythmus und andere lyrische Mittel Ansätze zu einer sich wechselseitig ergänzenden konkreten Aussagerichtung zeigen, greift er mit dazu kontrastierenden Elementen ein. Zusätzlich wendet er die Gefahr einer Vereindeutigung dadurch ab, daß er einmal getroffene Aussagen oder evozierte Stimmungen nachträglich korrigiert, verneint oder unter den Vorbehalt des "quizás" bzw. der Unbestimmtheit ("algo") stellt. Der Begriff "Difusión" bezeichnet auf diese Weise also auch das lyrische Credo Castillos. In Arte poética fordert er vom Dichter: Huye de lo preciso; prefiere a los colores el matiz, el siiave semi-tono confuso, y deja que tus versos sean algo inconcluso para que los completen y acaben los lectores.5

Mehr als jeder andere der Tradition verbundene kolumbianische Autor seiner Zeit stellte er sich damit in die Nachfolge von Paul Verlaine und dessen Art poétique: "Rien de plus cher que la chanson grise/ Où l'Indécis au Précis se joint/ [...] rien que la nuanace!"6 Nuancierungen fielen bei Luis María Mora nahezu gänzlich weg. Er verdichtete ein bestimmtes Programm, wobei das Hauptgewicht der Aussage auf präzisen, mit positiven Konnotationen versehenen Begriffen ruhte: "idioma", "lengua", "patria". Alle übrigen Elemente, wie die Betonung der Schönheit und der Musikalität, der verschlüsselte Hinweis auf seine Traditionen sowie die rhetorischen Mittel, traten unterstützend hinzu, ohne der Phantasie der Leser/innen Raum zu geben. Auch bei Julio Flórez können die durchaus vorhandenen Nuancierungen und Abstufungen in ihrer Funktion interpretiert werden, die nun negativistische, beinahe masochistische Schicksalsergebenheit (repräsentiert durch Begriffe wie "pasiones" und "melancolías") zu unterstreichen. Nur bei Guillermo Valencia erbrachte die Analyse keine eindeutige Festlegung im Hinblick auf die Aussageintention des Autors. Und dennoch unterscheiden sich Hay un instante und Difusión in einigen Punkten fundamental voneinander. Während Valencia zumindest partiell der pompösen und wortmächtigen Sprache des Modernismus treu bleibt, entkleidet Castillo sein Gedicht von allem bloß ausschmückenden Vokabular - mit Ausnahme vielleicht von "ampo" sowie der Adjektive "leve", "triste", oder "loco", die aber jeweils weitergehende Verbindungen knüpfen. Zum zweiten verzichtet Castillo auf die philosophisch-theologische Begrifflichkeit, auf die Valencia großen Wert legt. Zum dritten schließlich konnte die Betrachtung von Hay un instante zwei relativ klare Interpretationsstränge herausarbeiten für die Frage, was 5 6

Castillo, 1981, S. 77. Verlaine, 1962, S. 326f.

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Valencia beim Anblick des Sonnenunterganges bewegte (die ästhetische und die eschatologische Dimension). Einer solchen Engführung verweigert sich Castillos Difusión. Die poetischen Verfahren haben hier eine noch größere Autonomie erlangt, so daß das Gedicht letztendlich reflexiv auf sich selbst zurückgeworfen wird. Der Autor verwischt bereits den möglichen konkreten Anlaß seines Werkes bis zur Unkenntlichkeit, indem er ihn auf die Ebene der literarischen Topoi hebt, und legt in der Folge so viele Assoziationsketten und Konnotationsmöglichkeiten an, daß die Thematisierung der Pluralität in der letzten Zeile beinahe schon als erlösende Konkretisierung gelten könnte, wäre nicht auch sie durch "acaso" selbst in Frage gestellt. Mit Difusión7 belegte Castillo, wie sehr die Lyrik es vermochte, den "infinitas complejidades del pensamiento moderno"8 ein angemessenes Ausdrucksrepertoire zur Verfügung zu stellen. Er setzte damit die Moderne im Bogotá der 20er Jahre mit der der Symbolisten aus dem Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleich und übersah dabei in seinem Versuch, über den Modernismus Valencias hinauszugelangen, daß sich 50 Jahre nach den Neuerungen Verlaines und Rimbauds andere Alternativen einer modernen Lyrik boten.

Andere Gedlchttltel aus El árbol que canta lauten: Dualidad, Irwertidumbre, Indecisión, Sugestión etc. Castillo. 1965, S. 106; vgl dazu Abschnitt 3.1.3.

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4.5. León de Greiff: Sonatina en re menor Muy lenta, el agua, sobre los campos cae. La tórrida selva, ahora bañan las lluvias invernales. 5

Cendales grises revisten cañadas y valles estrechos. Las cimas enhiestas cubren densos cendales albísimos. Lenta, el agua, sobre 10 los campos cae. Estremecidas las palmeras, desmelenados los guaduales, el río encinta de gigantescos árboles. 15 El tedio - de brumas - regado por todas partes.

Por el piano unos dedos rudos pulsan las teclas suaves. Adagio moho lento 20 quasi grave en re menor (de una sonata que la compuso... nadie lo sabe). 25 Por el piano unos dedos inhábiles pulsan las teclas mudas de mis sueños innumerables. Adagio molto lento 30 quasi grave. Muy lenta, el agua, sobre los campos hirsutos, cae; sobre los erizados matojos y los ásperos herbazales; 35 sobre las hojas de zinc de las techumbres estridulantes. Ante mi gesto fatigado la lluvia cae; y a mis pies, como un perro 40 amigo, el fastidio yace. Cendales grises revisten cañadas y valles. Las cimas enhiestas cubren densos cendales 45 albísimos. El rio encinta de troncos gigantes. Entumecidos mis deseos vibrantes. Entumecidas mis ambiciones

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zig-zagueantes.

Por el piano unos dedos rudos pulsan las teclas suaves. Adagio molto lento quasi grave 55 en re menor (de una sonata que la compuso... nadie lo sabe). Por el piano unos dedos 60 traban acordes a ninguno semejantes. Una velada melodía pasea su cántiga frágil donde el amor a la única es la esencia inefable. 65 Los dedos pulsan las teclas mudas de mis ensueños innumerables. Muy lenta, el agua, sobre los campos cae. La tórrida selva, ahora 7 0 bañan las lluvias invernales. "El Monto", Río Cauca, febrero 1927 1

León de Greiff nahm die Hauptforderung aus Verlaines Art poétique: "De la musique avant toute chose"2, radikal ernst. Er begnügte sich nicht mehr damit, innerhalb der traditionellen lyrischen Formen mittels Rhythmus, Klangverbindungen etc. musikalischen Elementen Ausdruck zu verleihen, sondern versuchte sich daran, mit dem Instrumentarium von Worten, Silben, Vokalen und Konsonanten Gedichte zu komponieren. Luis Vidales erzählt in einem Artikel, daß er in Paris einige Werke seines Freundes einem spanischen Dichter zu lesen gab, der sie mit den Worten kommentierte: "Esta poesía puede perfectamente ponerse en piano".3 Nach dem Erscheinen der Zeitschrift Los Nuevos und seines ersten Gedichtbandes Tergiversaciones (1925) hatte León de Greiff eine Stellung bei der Eisenbahngesellschaft in der Region um Bolombolo am Río Cauca (ca. 50 km westlich von Medellin) angenommen. Dieses glühend heiße und abgelegene Dorf sollte ihm im späteren Werk immer wieder leitmotivisch als Symbol für die Tropen und für seine Einsamkeit dienen.4 Die Sonatina en re menor gehört zu einem dort L. de Greiff, 1985, S. 318-320; das Gedicht wurde In den zweiten Gedichtband (Segundo Mamotreto) de Grelfis, Libro de Signos (1930), aufgenommen. Verlaine, 1962, S. 326. Vidales, 1978, S. 72. Ich muß hier angesichts des umfangreichen und Im Laufe der Jahrzehnte Immer wieder um sich selbst kreisenden Werkes von Leon de Greiff auf die In der Sekundärliteratur so beliebten Listen verzichten. Tatsächlich gibt es kaum ein Stichwort (wie z.B. Dichter, Musiker, Orte, Fiauennamen, Pflanzen etc.), zu dem es nicht bereits halbseltenlange Zusammenstellungen gäbe. Es mag daher der Verweis auf eine Auswahl aus den vielen Arbelten über den Dichter genügen: Toruno, 1943; Garcla-Prada, 1945, S. 227236; Urlbe Ferrer, 1960 (Neuauflage In; ders., 1984, S. 197-214); Mejla Duque, 1965 (Neuauflage u.a., allerdings Irrtümlich unter dem Namen Duque Duque, In: Collazos, 1977, S. 148-169); Plzarro, 1969

212 entstandenen Zyklus5 und hat einen wahrscheinlich in einer Arbeiterkneipe verbrachten Regentag zum Anlaß. Das Gedicht lebt von der immer wieder neu variierten Beziehung zwischen dem langsam und unaufhörlich fallenden Regen draußen und dem Klavierspiel im Haus. Auf diese Basis setzt nun der Dichter seine "Komposition" der Sonatine. Er will nicht die auf dem Klavier gespielte Sonate thematisieren und beschreiben, sondern mit seinen Mitteln neu schaffen. Soll die Besprechung eines lyrischen Werkes von León de Greiff nicht in die Irre gehen, muß sie diese spezifische Methode mitbedenken. Die Form der Sonatine, einer "Sonate in kleinem Maßstab"6, erfordert die extreme Reduzierung auf die wichtigsten Elemente des Sonatenhauptsatzes. Neben der vom Dichter angebotenen Gliederung in zehn Strophen existiert daher eine weitere Unterteilung des Gedichtes in Exposition, Durchführung und Reprise. Die Exposition umfaßt dabei die ersten fünf Strophen mit der Präsentation des Hauptthemas (Strophe eins), dessen Entwicklung (Strophe zwei und drei), dem kontrastiven Einsatz des Seitenthemas (Strophe vier) und einer abschließenden Ausgestaltung des Seitenthemas. Der Durchfiihrungsteil nimmt in den längeren Strophen sechs und sieben Motive aus dem Hauptthema auf, variiert sie, ordnet sie neu an und betrachtet sie unter Aspekten, die das Seitenthema bereitgestellt hatte, bevor dieses in der achten Strophe wiederholt und seinerseits in Strophe neun variiert wird. Unter Verzicht auf eine Coda rekapituliert León de Greiff schließlich in der extrem kurzen Reprise (Strophe zehn) das Eingangsquartett des Gedichtes. In diesem Punkt lassen sich Parallelen zwischen den beiden künstlerischen Ausdrucksformen Lyrik und Musik noch relativ problemlos nachvollziehen. Im Detail jedoch muß der Dichter auf Verfahren zurückgreifen, die ihm das Repertoire der Sprache anbietet. Er kann nicht im Seitenthema in die parallele Tonart oder die Dominante überwechseln, wie es die Sonatenform verlangt. Wenn es glückt, vermag er im besten Fall, diese Modulation mittels Vokalen oder Konsonanten anzudeuten oder nachzuvollziehen.7 Auf der anderen Seite jedoch kann er, anders als ein

(dieser Artikel Ist, neben dem von Hernández de Mendoza, 1982, sowie Galtán, 1990, S. 196-202, einer der wenigen Versuche der Interpretation eines einzelnen Gedichtes); Rodríguez, 1972; Hernández de Mendoza. 1974; GH Jaramlllo, 1975 (vgl. auch die ausführliche Rezension Morales Benítez, 1978); Möhler, 1975 (mit einer etwas knappen Bibliographie der Sekundärliteratur S. 140-142; ein Kapitel des Buches wurde bereits vorher veröffentlicht, vgl. den Sonderdruck Möhler, 1974); Rodríguez Sardlftas, 1975 (Bibliographie S. 182-184; vgl. ebenfalls den Sonderdruck Rodríguez Sardinas 1972); Bronx, 1975 (mit Interessanten biographischen Hintergründen S. 30-43); Charry Lara, 1977 (häufig veröffentlicht): Camacho Guizado, 1978, S. 76-79; MeJIa Velllla, 1983; Suárdlaz, 1985, S. 127-160; Galtán, 1990 (mit einer umfangreichen Bibliographie S. 259-266); Fajardo, 1991, S. 277-290; Otto de Greiff, 1992. Leider konnte ich die Dissertation von Connell, 1978, nicht einsehen. Música de cámera y al aire libre (Segundo ciclo. Pais de Bolombolo 1926-1927), L. de Grelff, 1985, S. 293334. Leichten tritt, 1971, S. 176; vgl. auch Kühn, 1980, S. 231-235. Dies unter der Voraussetzung, daß León de Greiff solche Feinheiten der Formenlehre tatsächlich präsent waren. Otto de Greiff, 1992, S. 16, bezweifelt es und bezeichnet die Tonartenangaben bei einem Gedicht als "designaciones caprichosas".

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Komponist, das Spiel von Harmonie und Kontrast zwischen den Grundthemen eines Sonatensatzes mit Hilfe der Semantik ausloten. León de Greiff ist sich dieses immer gegebenen Überschusses der lyrischen Dichtung gegenüber der Musik sehr wohl bewußt, denn er wählt sein spezifisches Material - die Worte - auch im Hinblick auf ihre Bedeutung aus. Sein besonderer Stil - und damit die Weiterentwicklung gegenüber einem Guillermo Valencia und einem Eduardo Castillo - besteht darin, daß er nicht von einem bestimmten Thema ausgeht, das über Klangverbindungen, Reim, Rhythmus etc. neue Bedeutungsnuancen offenbart, sondern daß er von der anderen Seite an die Aufgabe herangeht. Bei León de Greiff bildet die Wortmusik das Grundgerüst, in das hinein er semantische Beziehungen und Nuancierungen einbringt. Dies findet seinen Ausdruck in den beständigen wörtlichen oder leicht abgewandelten Wiederholungen von einigen wenigen Gedanken, die in der Exposition den Lesern/innen präsentiert werden: Regen auf die tropische Natur, die Sonate auf dem Klavier und die träumerische Langeweile des lyrischen Ich. Mit gleichmäßigen Trochäen setzt der Regen ein. Die Interpunktion und der Zeilensprung im ersten Vers verhindern, daß der stetige Rhythmus zu einer Beschleunigung des Lesetempos verführt. In Opposition dazu steht der Beginn der dritten Zeile. Durch die syntaktische Inversion (de Greiff zieht das Satzobjekt nach vorne) hebt der zweite Teil der Strophe mit einem Daktylus an, um am Ende wieder mit den gleichmäßigen Trochäen des Regens auszuklagen. Die chiastische Stellung der beiden Elemente des Hauptthemas: Regen, Natur, Natur, Regen, wiederholt sich in der zweiten Strophe. Parallel zur ausgeprägteren Adjektivierung der Substantive erhöht sich die rhythmische Variationsbreite, unterstützt wiederum durch extreme Zeilensprünge ("valles/ estrechos", "cendales/ albísimos"). Letztendlich jedoch mündet auch diese Strophe in die beschwerten Trochäen der ersten beiden Verse. León de Greiff entwirft hier ein Gesamtbild, das von einer vergleichsweise einfachen Beschreibung in der ersten zu einer dichteren Schilderung in der zweiten Strophe fortschreitet. Dabei arbeitet er semantisch mit verschiedensten Kontrasten (Regen - tropisch heiß 8 ; Acker - Wald; Täler - Berggipfel; grau - weiß), die aber durch die syntaktische und rhythmische Struktur, durch die jeweilige Rahmung mit Begriffen aus der Isotopie "Wasser", durch Klangverbindungen (beispielsweise "grises revisten"-"cimas enhiestas"-"albisimos") sowie durch den das ganze Gedicht prägenden assonierenden Reim 9 in den geradzahligen Zeilen in einer harmonischen, wenn auch keineswegs fröhlichen, Grundstimmung aufgehoben werden. Im Umterschled zu den bisher besprochenen Gedichten Ist der Begriff "lnvernales" nicht als literarischer Topos, sondern konkret als "Regen" zu lesen. Die ä-e-Assonanz könnte zu SpekulaUonen Anlaß geben, ob der Dichter damit nicht die Einheitlichkeit der Tonart über das ganze Werk hinweg andeuten wolle. Eine solche Parallellslerung von lyrischen und musikalischen Ausdrucksmitteln führt m.E. jedoch zu weit, da der Reim genuin der Poesie eigen ist. Hätte de Greiff eine solche Auslegung Indes gewollt, so wären die verwendeten Vokale dem Tongeschlecht Moll nicht angemessen.

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Gleichsam als deren Synthese kann die dritte Strophe gelten. Die Handlung kommt durch die Ellipse der Prädikate vollkommen zum Erliegen. Als Ausgangspunkt wählt er nun die Natur, die durch den Regen und den Sturm, der offensichtlich vorher getobt hat ("Estremecidas", "desmelenados", treibende Stämme im Fluß), in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der auch syntaktisch parallele Bau verleiht der emphatischen rhythmischen Gestaltung (ein Daktylus und zwei Trochäen in der rhythmischen Periode, ohne Anakrusis) der Verse elf und zwölf ein stärkeres Gewicht als der vierten Zeile, in der die vom Daktylus geweckte Aufmerksamkeit auf die Monotonie des Regens übergegangen war. Solchermaßen vorbereitet, wirkt die folgende Metapher des schwangeren Flusses um so beeindruckender auf die Leser/innen. Die vorher kontrastierenden Elemente des von oben kommenden Wassers und der der Erde verhafteten Natur (in den Zeilen vorher nochmals benannt mit den Namen tropischer Bäume) treten nun zusammen. Der proparoxytone Versausgang - der das Reimschema nicht unterbricht - von Zeile 14 schließt die Entwicklung des Hauptthemas der Sonatine ab. In den Übergangsversen 15 und 16 klingen bereits Motive aus dem Seitenthema an: semantisch mit "tedio", lautlich durch die Häufung der Oklusive t und p. Die Beziehung zu den vorangehenden Versen bleibt gleichwohl erhalten: semantisch durch die Wasserisotopie, in der syntaktischen Gestaltung durch die Genitivergänzung, rhythmisch durch die Parallele von Vers 16 mit den Versen 13, zehn und zwei. Das Seitenthema beginnt furios mit einem neuen Rhythmus (Trochäus, Daktylus, Trochäus; bzw. verkürzt in Vers 18: Daktylus, Trochäus), einer verzögerten Alliteration, einer bislang noch nicht gehörten Häufung von dunklen Vokalen und wieder mit einem semantischen Kontrast: "rudos"-"suaves". Regen, Bäume und das Flußtal spielen nun, im Innenraum, keine Rolle mehr. Sehr schnell jedoch fällt der Dichter wieder in die alte Stimmimg zurück. Langsam, wie es dem "Adagio" entspricht, schreitet die Strophe voran, wo nötig auch noch aufgehalten durch eine Klammerkonstruktion, die zur Pause zwingenden drei Punkte oder die beiden extrem verkürzten Schlußverse. In diesen Zeilen wird die nur unterstützende Funktion der Semantik besonders deutlich. Auch ohne die explizite Wiederaufnahme des "lento" zwingt der Sprachrhythmus der in Italienisch abgefaßten Zeilen 19 und 20 zu diesem Tempo und erinnert so an den fallenden Regen der ersten beiden Verse, zumal da die betonten Vokale - in leicht geänderter Abfolge - identisch mit denen zu Beginn des Gedichtes sind. Natürlich stellt sich bei der Lektüre der vierten Strophe die Frage, ob León de Greiff Bezug nimmt auf eine tatsächlich existierende Sonate mit einem langsamen Satz in d-Moll. Häufig tauchen in seinen Gedichten die Namen von Komponisten auf, bisweilen auch verschlüsselt10, ohne daß er jedoch damit immer notwendigerweise z.B. "el Sordo" oder "Franz" (im Zusammenhang mit "Inconclusas") Im Nocturno No. 1 en si menor, L. de Grelff, 1985, S. 330.

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andeuten wollte, daß seinem lyrischen Werk jeweils ein spezifisches Musikstück zugrunde läge. Eingedenk der Tatsache, daß Beethoven eine herausragende Bedeutung für den kolumbianischen Dichter hatte11, böten sich dessen Klaviersonaten für eine Suche an. Es findet sich dort aber kein Satz, der genau den geforderten Kriterien entspricht. Am nächsten kommt ihnen das Adagio aus der "Sturm"-Sonate Opus 31 Nr. 2 d-Moll, das indes, wie der langsame 3. Satz der 9. Symphonie, von der Grundtonart abweicht.12 Vorbehaltlich einer noch ausstehenden musikwissenschaftlichen und -historischen Untersuchung des Werkes von León de Greiff 13 muß wohl die in Klammern gesetzte Aussage der vierten Strophe emst genommen werden. In der ausgestaltenden Fortführung des Seitenthemas nimmt die Szene eine sorgfältig vorbereitete Wendung. Tragendes Element ist dabei das Adjektiv "inhábiles". Auf semantischem Gebiet fungiert es lediglich als ein mehr oder weniger passendes Synonym zu "rudos". Als zweites Wort an einem Versende mit proparoxytonem Ausgang erinnert es jedoch an "árboles" aus Vers 14. Wie dort wird nun ein Gedanke abgeschlossen (die Schilderung des Klavierspiels) und ein neuer Aspekt eingeführt (das lyrische Ich). Wie dort folgt nun eine in eine Genitivkonstruktion eingebundene metaphorische Wendung. Meisterhaft löst León de Greiff an dieser Stelle das rhythmische Problem, das sich ergäbe, stünde das Adjektiv im gleichen Vers wie das Substantiv. Die Abfolge von zwei Daktylen und esdrújulaAusgang würde nämlich beinahe zwangsläufig zu einer Erhöhung der Lesegeschwindigkeit führen. Durch den Zeilensprung schafft er künstliche Pausen, weckt die Aufmerksamkeit - und bleibt gleichzeitig im Reimschema. Die Metapher vom Spielen auf den Tasten der Träume weist, zusammen mit dem Begriff "tedio" aus Vers 15, auf die Interpretation der beiden Themen in der Durchführungsgruppe voraus. Zuvor jedoch klingt die Exposition mit dem "Adagio" aus. Die rhythmisch und semantisch nur leicht veränderte Wiederaufnahme der ersten beiden Zeilen des Gedichtes kann als Beleg dafür herangezogen werden, daß der zweite Teil des Werkes an der einmal geschaffenen Grundstimmung nichts ändern wird. León de Greiff nimmt sich zunächst der landwirtschaftlich nutzbaren "campos" an, über die in der ersten Strophe nichts ausgesagt wurde. Die gebrauchten Adjektive illustrieren überdeutlich, daß es sich dabei nicht um ein tropisches Paradies handelt, sondern um eine von der Sonne ausgedörrte Landschaft. So unfruchtbar ist sie, daß es 11

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Vgl. u.a. die Balada en la que Irrumpe la alegría, ibid., S. 225-227: "Alegrial Alegría! Alegría!/ Canta el Coro de la Novena". Vgl. zu dieser Sonate, ihren Beziehungen zur letzten Symphonie Beethovens und der Funktion des Rezitativs (als Andeutung der im Schlußchor der Neunten verwirklichten Überschreitung der Instrumentalmusik) Kaiser, 1975, S. 305-324. Die Arbeiten von Toruno, 1943, und Möhler, 1974, sowie die Ausführungen von Galtán, 1990, S. 155160, unterstreichen dieses Desiderat eher, als daß sie die Forschungslücke füllten. Auch hier sei wieder auf die Bemerkungen von Otto de Greiff, 1992, S. 16, verwiesen, die die Möglichkeit nicht ausschließen, daß León de Greiff ohne weitere Differenzierung die Grundtonart der erwähnten Muslkstücke in die Überschrift übernahm.

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keine Rolle spielt, ob der Regen auf sie oder auf das Zinkdach der Hütte fällt. Mit den Metaphern "hojas de zinc" (besonders hervorgehoben durch den oxytonen Versausgang exakt in der Mitte des Gedichtes) und "techumbres estridulantes" leitet der Dichter unmerklich vom Hauptthema der Exposition auf das Seitenthema über. Die Natur und das menschliche Bauwerk fließen ineinander wie der langsame Regen und das Adagio der Sonate. Angesichts dieser Konstellation bedeutet auch der pointierte Einsatz des lyrischen Ich in Zeile 37 keine Auflehnung. Der Mensch, im gesamten Gedicht nicht ein einziges Mal grammatikalischer Handlungsträger, ist zur Resignation verdammt (rhythmisch wiedergegeben durch den Übergang vom auftaktlosen Daktylus zu den gleichmäßig langsamen Trochäen) und verweist auf den allgegenwärtigen Regen. Die erweiterte Metapher der Verse 39 und 40 schließlich beendet mit ihrem Rückgriff auf die in der dritten Strophe bereits erwähnte Langeweile die erste Variationsreihe der Durchfuhrungsgruppe. Nachdem das lyrische Ich des Gedichtes die Anstrengung unternommen hat, innerhalb des vorhandenen Motivspektrums einige neue Bilder zu finden für den Überdruß, der von ihm Besitz ergriffen hat, scheint das kreative Potential endgültig erschöpft. Beinahe willkürlich tauchen nun Zitate aus der zweiten und dritten Strophe auf. Die semantischen Veränderungen beschränken sich auf die Auslassung des Adjektivs "estrechos" und den kleinen Eingriff in die Formulierung der Metapher des schwangeren Flusses. Auf diese Weise ergeben sich leichte Verschiebungen in der Abfolge der betonten Vokale a, i und e (nun zusätzlich auch o) sowie in der rhythmischen Struktur (vgl. insbesondere Vers 45), die jedoch die prinzipielle Intention, einen Wiedererkennungseffekt hervorzurufen, nicht unterlaufen. Dies ist bedeutsam für die verbleibenden vier Zeilen, in denen León de Greiff nicht mehr mit semantischen, sondern mit rhythmisch-klanglich-syntaktischen Zitaten arbeitet. Der zweifache Einsatz mit betontem e in den Zeilen 47 und 49, die Abfolge von einem Daktylus und drei Trochäen (bzw. Daktylus, Trochäus, Trochäus, Daktylus), die syntaktisch parallele Reihe von jeweils einem Partizip, Pronomen und Substantiv sowie - unterstützend - die Nähe zur Formulierung "el rio encinta" kann nur bedeuten, daß der Dichter eine Verbindung zu den Versen elf und zwölf herstellen will. So, wie die Palmen und die Bambusstauden der Macht des Regens ausgeliefert sind, so vermag auch der Mensch sich nicht aufzulehnen gegen die Bedingungen, die ihm die Natur vorgibt. Außen und innen, Mensch und Natur befinden sich in völligem Einklang. Es überrascht daher nicht, daß die leicht variierte Zitatfolge der achten Strophe nun in die unveränderte Wiederholung der vierten Strophe übergeht. Das lyrische Ich verharrt tatenlos vor der Klaviermusik. Erst die neunte Strophe bringt den Lesern/innen wieder neue Informationen. Da ist plötzlich von einem Gesangsstück die Rede, wo vorher Instrumentalmusik die Szene beherrschte. Das lyrische Ich identifiziert jetzt einen Text, der von Liebe handelt. Angesichts der bisherigen Parallelen von Exposition und Durchführung

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dürfen wir jedoch auch an dieser Stelle nicht damit rechnen, daß der Dichter einen vollständigen Wandel im Gesamtduktus intendierte. Das Spiel auf dem Klavier hat sich nicht verändert. Die Differenzen zur fünften Strophe liegen im Hörempfinden des lyrischen Ich begründet. Es läßt in seiner melancholischen Stimmung seine Gedanken schweifen. Die nur noch halb wahrgenommenen Akkorde verbinden sich zu einer Assoziationskette, in der die Erinnerung an ferne Liebeslieder ("cantiga") wachgerufen wird. Mit semantischen Beziehungen evoziert León de Greiff mysteriöse, traumhafte Bilder, die anzudeuten scheinen, daß das lyrische Ich sich über die Realität im Arbeitercamp erheben will. Die Wiederaufnahme der Exposition in der Reprise ist auf ein Minimum beschränkt. Der langsam fallende Regen, der das ganze Gedicht geprägt hatte, soll es nun auch beschließen. Es bleibt unklar, ob das lyrische Ich damit aus seinen Träumen gerissen und wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt wird, oder ob der Dichter mit der identischen Wiederholung der ersten Strophe seine Leser/innen einlädt, sich noch einmal auf einen Durchgang durch die Sonatina en re menor einzulassen. Die zehnte Strophe erklärt nichts, sie bietet keine Interpretation an, sie resümiert nicht, sie definiert keine Begriffe und geht auch auf die Gedichtüberschrift nicht ein. Was bleibt, ist der langsame Rhythmus des fallenden Regens. Eduardo Castillo fühlte sich bei der Lektüre von de Greiffs Gedicht ? 14 aus dem Jahre 1918 in einen "parque de Watteau" versetzt und dachte dabei sofort an Verlaines Frühwerk. Die Sonatina en re menor erinnert nun gleichfalls entfernt an den französischen Symbolisten, konkret an die Ariette III aus Romances sans paroles15. Auch dort korrespondiert der Regen auf die Dächer und die Erde (allerdings in der Stadt) mit der Gleichgültigkeit und dem Überdruß des lyrischen Ich. Auch dort spielt die Musik ("le chant de la pluie") eine besondere Rolle. Die lyrische Neufassung der jeweiligen, offensichtlich von Verlaine beeinflußten Motive in der Dichtung von León de Greiff unterscheidet sich allerdings grundsätzlich. In den beinahe zehn Jahren, die zwischen den beiden Gedichten liegen, wandelte sich sein Stil.16 Aus den hübschen Wortspielen, verbunden mit stellenweise beißender Ironie17, entwickelte sich die Suche nach neuen poetischen Ausdrucksformen, ohne daß er dabei auf unterschwellige ironische oder sarkastische Elemente verzichtet hätte (im vorliegenden Beispiel könnte die Formulierung: "donde el amor a la única/ es la esencia inefable" als solch unterschwellige Ironie bezeichnet werden). León de Greiff setzt, wie Eduardo Castillo, bei den alten Meistern des 19. Jahrhunderts an, um eine ^ 15

16 17

Es handelt sich dabei um zwei Sonette, die verschiedene Liebesszenen mit einem Schwan, mit Leda, Pierrot, einem Abt und Clorlnda zum Thema haben, L. de Greiff, 1985, S. 46f; s. Eduardo Castillo: Tergiversaciones", In: Cromos, 7.2.1925. Verlaine, 1962, S. 192. Vgl. auch die Ariette Vmlt dem Motiv des Klaviers; dieses Gedicht übersetzte Castillo (1981, S. 124). Vgl. dazu Hernández de Mendoza, 1974, S. 27f. Vgl. dazu auch das In Abschnitt 1.1.4. zitierte Gedicht Villa de la Candelaria.

218 dem 20. Jahrhundert entsprechende Lyrik zu schreiben18, doch übersetzt er nicht und ahmt auch nicht nach. Er schafft ein Werk, das zumindest in der kolumbianischen Literatur ohne Vorbilder war und ohne Nachahmer blieb. Er verabschiedet den Modernismus, indem er noch einmal zu dessen Ursprüngen zurückkehrt und ihn, jetzt radikaler, wiederholt. Das alte Projekt des Modernismus war in Kolumbien mit dem Übergang zu einer wirklichen gesamtgesellschaftlichen Modernisierung in eine Sackgasse geraten. Der einstmals angestrebte Kosmopolitismus erschöpfte sich nun in den immergleichen Motiven der Schwäne, der Sonnenuntergänge und griechischer Säulen. Originellere Autoren setzten an seine Stelle die Beschreibung der tropischen Landschaft (Rivera) und die ironische Hochstilisierung eines alten Schuhs (Luis Carlos López). Auch in Bezug auf neue Formen gab es keinen Fortschritt: Die Dichter variierten das Sonett so lange, bis auch das letzte mögliche Reimschema schon einmal existierte und alle metrischen Alternativen umgesetzt waren.19 Nur wenige hatten den Mut, zu freien Versen zu greifen, und wenn sie es taten, dann kaschierten sie dieses ihr Wagnis durch ein beinahe unentwirrbares Netz von Binnen- und Endreimen {Job von Guillermo Valencia). An diese Tradition konnte und wollte León de Greiff nicht anknüpfen. Im Gegensatz zu Eduardo Castillo schien ihm dieses poetische System nicht reformierbar. Das erste Element seiner Revolution - und als solche wirkte sein Stil - bot sich ihm mit der klassischen Musik an, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Kolumbien praktisch keine Rolle gespielt hatte. Erst mit der Gründung des Konservatoriums und des ersten Symphonieorchesters im Jahre 1910 durch Guillermo Uribe Holguin sowie durch die Möglichkeiten der Schallplatte änderte sich die Lage.20 León de Greiff entwickelte sich zum Liebhaber der großen europäischen Komponisten und konnte nun die Beziehung von Musik und Lyrik neu fassen. Bei den Modernisten, selbst bei Castillo, unterschied sich die Bedeutung der Sprachmusik in einem Gedicht nur graduell von den Ansprüchen eines Luis María Mora nach "harmonía" und "melodía". Der Autor aus Medellin dagegen kehrte das Verhältnis um und verwirklichte so zwei Forderungen des Modernismus. Indem er Formen, die die Musik vorgab, eine gewisse Priorität einräumte, erweiterte er gleichzeitig auch das Spektrum der lyrischen Formen und Gattungen.21 Die Reimfolge und die kurzen, meist zwischen sieben und neun Silben alternierenden Verse dürfen daher nicht als Versuch interpretiert werden, vorsichtig aus dem traditionellen Romanzenschema auszubrechen; sie verkörpern eben die Intention, unter dem Vorzeichen der Musik die überkommenen lyrischen Ausdrucksformen neu zu bestimmen. 18

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Neben Verlaine gelten Ihm Hugo, Baudelaire, Rimbaud, Poe, aber auch der noch wesentlich ältere Vlllon als Gewährsmänner. Und beschuldigten sich dann gegenseitig, voneinander abgeschrieben zu haben, vgl. Abschnitt 3.1. Caro Mendoza, 1989, S. 275-277. Ohne Jedoch gänzlich auf traditionelle Formen, wie z.B. das Sonett zu verzichten.

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Die Sonatina en re menor repräsentiert jedoch noch weitere als revolutionär empfundene Neuerungen. Selbst unter der Maßgabe eines Rückgriffes auf Verlaine geht León de Greiff nicht von einem literarischen Topos aus, sondern von seinen Erfahrungen in Bolombolo. Kolumbianismen und Termini technici22 tragen dazu bei, die Szene an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zu situieren. Der Dichter aus Medellin ließ seine Leser/innen immer wissen, wo er ein Gedicht verfaßt hatte. Zumeist verraten dies die Texte selbst; war dies nicht der Fall, dann sorgte er mit der Überschrift oder spätestens in der abschließenden Datierung für Klarheit. Sein Publikum wußte also immer Bescheid, daß er von Medellin, Bogotá oder Bolombolo aus zu seinen vielfältigen imaginären Reisen nach Skandinavien, an den Nordpol, ans Meer, in die Vergangenheit, in die Musik-, Literatur- und Philosophiegeschichte, in die Welt der Mythen, der Märchen, der Nacht etc. ansetzte. Selbst in der wahrlich bodenständigen Sonatina, die als eines der besten Beispiele für den Zusammenklang von Musik und Lyrik ausgewählt wurde, finden sich Ansätze zu solchen Reisen mit dem "Adagio" und der altspanischen "cántiga". Da er sich davor hütete, die nur allzu bekannten Motive des modernistischen Kosmopolitismus zu verwenden, erlegte er seinen Lesern/innen die Pflicht auf, mit einem Konversationslexikon an die Lektüre seiner Werke heranzugehen. Oftmals genügt selbst dies nicht, da er, wenn es der Rhythmus verlangte, Wortneuschöpfungen vornahm, auf alte Sprachstufen zurückgriff oder fremdsprachige Zeilen einbaute-C Adagio molto lento"). Inmitten dieses häufig als barock apostrophierten lexikalischen Feuerwerks steht das Ich des Dichters. Es ist immer gegenwärtig und doch nicht greifbar, da León de Greiff, wie Fernando Pessoa, dieses Ich aufspaltet in mehrere Autoren.23 Allen Pseudonymen wie dem einfachen Ich aus der Sonatine ist gemeinsam, daß sie an der Welt verzweifeln und einem Nihilismus ohne Ausweg, einer "filosofía del desencanto"24 huldigen. Die poetische Revolution León de Greiffs liegt in seiner Verweigerungshaltung begründet. Er weigerte sich, die Rhetorik des Modernismus weiterzuführen, er weigerte sich, die Grenzen seiner Sprache anzuerkennen, er weigerte sich, an den Fortschritt zu glauben, er weigerte sich, in der Lyrik die Erlösung zu suchen, und er weigerte sich, sich selbst ernst zu nehmen, indem er beständig einen leicht ironischen Unterton mitschwingen ließ.

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Im besprochenen Beispiel wären dies die nicht bei Slaby/Grossmann, 1975, aufgeführte botanische Bezeichnung "guaduales" sowie "zlnc": der extremere Fall eines Fachausdruckes beim Eisenbahnbau wäre z.B. "mlras blcromadas", L. de Greiff, 1985, S. 305. Der Gedichtband Ltbro de Stgnos trägt entsprechend den Untertitel: Tergtuersaclones de Leo Iß Grts, Matias Aldecoa, Gaspar von der Nacht y Eric Fjordsson. Vldales, 1978, S. 69.

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Sein daraus resultierender Lyrikstil hat zu vielfältigen Diskussionen Anlaß gegeben, ob er der Avantgardebewegung zuzurechnen sei. Rodríguez Sardiñas25 meint, in den Gedichten León de Greiffs auf einem festen modernistischen Fundament Ähnlichkeiten mit dem Dadaismus, dem Surrealismus und dem creacionismo zu erkennen, während sie den ästhetischen Vorgaben des Ultraismus nicht entsprächen. An den Dadaismus erinnere ihn der Sarkasmus, an den Suirealismus der Rückgriff auf Träume und an den creacionismo die Schaffung neuer, lyrischer Welten. Eine solche Suche nach Ansatzpunkten, ihn den verschiedenen Bewegungen zuzuordnen, klingt ähnlich gezwungen wie die Versuche Castillos, León de Greiff doch noch für den allgemeinen Konsens zu retten.26 Ein Vergleich seines Werkes mit den Manifesten und Produktionen der Avantgarden in Europa, Peru, Chile und Argentinien zeigt überdeutlich, daß er kein Avantgardist in diesem Sinne war und sein wollte. Wenn denn der Begriff "Avantgarde" auf ihn zutreffen soll, dann nur in dem Sinne, daß er sich absetzte von der Intention der Dichter des Spätmodernismus und des Centenario, ohne spürbare Brüche eine Versöhnung von Tradition und Moderne zu erreichen. Das Werk León de Greiffs steht in Kolumbien für diesen Bruch und damit für eine moderne Lyrik, weil er die Tradition des Modernismus nicht einfach fortführte oder marginale Veränderungen anbrachte, sondern ihn aus der Realität der 20er Jahre heraus und mit dem Rückgriff auf noch ältere Traditionen von Grund auf neu gestaltete.

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Rodriguez Sardiñas, 1975, hier S. 175-180; vgl. auch Urlbe Ferrer, 1960, S. 522; Möhler, 1975, S. 133; Camacho Gulzado, 1978, S. 76; Chany Lara, 1977, S. 184; Galtán, 1990, S. 120-189. Vgl. die Rezensionen In El Tiempo. Lecturas Dominicales, 1.2.1925 (Castillo, 1965, S. 121-125) und Cromos, 7.2.1925.

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4.6. Luis Vidales: Cinematografía nacional

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Por el cielo amarilloso de linterna pasan las nubes colombianas. Y cómo se las nota que no habían ensayado antes.

Los árboles - por ser la primera vez que trabajan en cine aparecen tiesos 10 cohibidos amanerados. Pero el Salto de Tequendama lo hace con naturalidad como si tuviera 15 una larga práctica en cinematógrafo. Por los alrededores de Bogotá merodea la luna. ¡Y qué luna! 20 Es una luna barnizada de blanco y con instalación propia. Afuera el cielo de la noche oscuro ampuloso 25 es un inmenso gongorismo. Luego veo la luna. ¡Oh! ¡Oh! ¡Les saca a los transeúntes sus fichas antropométricas contra el muro! 30 ¡ Son como clichés quemados que huyen! Y en el salón de la noche yo aplaudo las películas incoherentes 35 de este Pathé Baby. 1 Luis Vidales wuchs i m Süden der Kaffeeregion Antioquia/Caldas in Calarcá auf, einer Stadt, die innerhalb kürzester Zeit ein fast explosionsartiges Wachstum erlebte. 2 Nach seiner Übersiedlung in die Hauptstadt stand er, als der Junge aus der Provinz, staunend vor den Straßenbahnen; gleichzeitig aber war Bogotá in seinen A u g e n auch "una isla atrasada de manera inverosímil." Als mit der Misión Vidales, 1986, S. 73f. Vgl. dazu Luis Tejada: "El Quindio" (1923), ln: Tejada, 1989, S. 365.

Kemmerer

auch diese

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Insel den Übergang zum 20. Jahrhundert schaffte, als dessen Reformen das Leben komplexer machten und "el país pastoril" hinter sich ließen, da schrieb er, wie er selbst meint, als einziger seiner Zeitgenossen "a la altura de nuestro tiempo".3 Was Luis Vidales darunter versteht, auf der Höhe der Zeit zu schreiben, das soll die Betrachtung von Cinematografía nacional verdeutlichen. Die Gedichtüberschrift weckt zunächst die Erwartung, etwas über die kolumbianische Filmproduktion, konkret wohl über das Projekt Maria4, zu erfahren. Diese Erwartung indes enttäuscht Vidales ebenso wie die seiner zeitgenössischen Leser/innen, eine irgendwie klassifizierbare Form vorzufinden. Immerhin kommt er seinem Publikum insoweit entgegen, als er sich an die Regeln der Syntax und Interpunktion hält und auf diese Weise die Lektüre nicht ungebührlich erschwert. In acht unregelmäßig langen, durch kein festes Metrum oder Reimschema gefaßten Strophen präsentiert er Bogotá und ihre Umgebung als nächtliche Szene für eine Filmaufnahme. Die Rollen in diesem Stück nehmen die Stadt und die Natur ein, wobei der Dichter (respektive das lyrische Ich) sich anheischig macht, die Schauspielkünste zu beurteilen. Die erste Einstellung richtet sich auf die beleuchtete Stadt, in der das künstliche Licht einen räumlich begrenzten Kosmos absteckt. Das Bild der "nubes colombianas" bleibt jedoch sehr vage. Mit großer Sicherheit meint Vidales damit nicht ausschließlich die tiefhängenden natürlichen Wolken. Vielmehr bieten sich als Alternativen für die weitergehende Interpretation die Bedeutungen "Menschenmassen" oder die mit Problemen belastete politische Lage Kolumbiens an.5 Beiden Erklärungsversuchen widersprächen die Verse fünf und sechs nicht. Im ersten Fall wären die Menschen nicht auf den Einbruch der Moderne, repräsentiert durch die Filmaufnahmen, vorbereitet; im zweiten Fall würde die fehlende Übung den Politikern zum Vorwurf gemacht. In der zweiten Strophe führt er das Spiel mit den ungewöhnlichen Personifikationen fort. Mit dem Blick durch die Kamera isoliert Vidales die Bäume von ihrer 3

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5

Alle Zitate aus dem Interview mit MUclades Arévalo e.a., 1986, S. 154. Im Vergleich zu Guillermo Valencia und León de Greiff wurde Luis Vidales bislang von der Llteraturkrltlk/-wlssenschaft beinahe schmählich vernachlässigt (vgl. dazu die extrem kurze Würdigung von Holguin, 1989, S. 271). Bis heute existiert keine einzige Monographie zu diesem Dichter. Als bedeutendere Arbelten können daher gelten: die (zwischen 1922 und 1976 entstandenen) Beiträge von J u a n Gustavo Cobo Borda, Luis Tejada, Luis Vidales selbst, Alberto Lleras, Jorge Zalamea, Eduardo Carranza, Fernando Arbeláez und Carlos Vidales In der zweiten Auflage (1976) von Suenan Timbres: die Interviews mit Pefta Gutiérrez, 1985, u n d Arévalo e.a., 1986; ferner Peña Gutiérrez, 1978, Gutiérrez Glrardot, 1982, S. 493-495; Charly Lara, 1984, S. 675-677; Clavljo, 1985; Estrlpeaut, 1982 und 1985; Roca, 1985; Suardiaz, 1985, S. 161-203; Fajardo, 1991, S. 304-311 (er führt einige weitere Interviews In Sonntagsbellagen von Zeltungen auf, S. 311); sowie die Vidales nach seinem Tod gewidmete Ausgabe von El Espectador. Magazin Dominical, 15.7.1990 (= Vidales, 1990). Wie León de GrelfT faszinierten Vidales Zahlen, und er verfaßte später ein Standardwerk über die StaUstlk In Kolumbien. Überdies war er als Professor für Kunst- und Literaturgeschichte tätig. Seinen polltischen Oberzeugungen aus der Zelt, als er Luis Tejada begegnete, Ist er Immer treu geblieben. Vgl. Alvarez Córdoba, 1989, sowie die Ausführungen In Abschnitt 2.1.2. Vgl. dazu das Gedicht Las nubes, In der er die Wolken gleichsetzt mit "Naciones que hacen el mapa del cielo./ [...] ¡Ohl ml patria/ ml única patria" (Vidales, 1986, S. 134).

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Umgebung und weist ihnen menschliche Eigenschaften zu. Gleichzeitig entschuldigt er ihr etwas steifes und unnatürliches Auftreten mit einer ähnlichen Begründung wie zuvor die schauspielerische Unfähigkeit der Wolken. Von den Bäumen in den neugeschaffenen Parks und Avenidas in Bogotá6 schwenkt er in der dritten Einstellung zu den Wasserfällen vor den Toren der Hauptstadt. Der imponierende Salto de Tequendama ist selbstverständlich Besucher gewohnt und hat somit weniger Schwierigkeiten, sich auf die neue Technik einzustellen. Als Kontrapunkt zum gelblichen Kunstlicht in der Stadt strahlt in der Umgebung Bogotás der weiß lackierte Mond mit eigenem elektrischen Anschluß. Vidales vertauscht damit bewußt die Ebenen von Natur und Technik, aber er verzichtet nicht darauf, auch den Mond durch ein Verb zu charakterisieren, das üblicherweise Menschen vorbehalten ist: "merodear". Ob er damit auf die plündernden Truppen während der in weiten Teilen als Guerillakrieg geführten Auseinandersetzungen zur Jahrhundertwende anspielt, muß offen bleiben. Dem von der traditionellen Lyrik so hochgeschätzten Mond jedenfalls ordnet er dadurch eindeutig negative Konnotationen zu. Innerhalb des vom Dichter gewählten Bezugsrahmens der Kameraeinstellungen ergab sich bislang ein einigermaßen konzises Gesamtbild: der Schwenk von einzelnen Aspekten der Stadt über den Wasserfall auf die Hochsavanne um Bogotá. Der Beginn der fünften Strophe bereitet jedoch Probleme. Worauf soll sich "Afuera" beziehen - auf die Welt außerhalb des Objektivs, auf den vom Mond nicht beleuchteten Teil des Himmels, auf das übrige Kolumbien gar? Weder die negative Adjektivierung des Himmels noch die folgende Metapher geben darüber Auskunft. Allerdings kongruieren die Adjektive und das Substantiv "gongorismo" in ihrem semantischen Gehalt. Vidales bringt die Vorstellung eines betont schwülstigen Barockstils ein, der offensichtlich nicht sein Wohlgefallen findet. Nach dem lokalen folgt in Strophe sechs ein ebenso unmotiviertes temporales Deiktikum. Nachdem der Mond zuvor schon seinen Auftritt hatte, ist es unverständlich, warum das erstmals in die Szene tretende Ich ihn nun erst wahrnimmt. Eine Erklärung dafür könnte das Substantiv "muro" aus Vers 29 anbieten. Wir befinden uns wieder in der Stadt, die Wolken aus Strophe eins haben sich verzogen, so daß der Mond zum Vorschein kommt und mit den ironischen Ausrufen der Überraschung begrüßt wird. Zusammen mit dem lyrischen Ich tauchen nun auch andere Menschen auf. Das Licht des Mondes ist so stark, daß es sogar vermag, die Schatten der Passanten an die Mauer zu werfen. Die Formulierungen, die der Dichter für dieses Bild verwendet, sind ungewöhnlich. Die im üblichen Sprachgebrauch inexistente Wendung "sacar contra" verweist zweifach auf die Isotopie des Filmens durch die Bedeutung "ein Bild machen" und durch die Richtung der Projektion. Die Photographie schwingt auch bei den "fichas antropométricas" mit, den erkennungsdienstlichen 6

S. dazu Urlbe Cells. 1991, S. 150, sowie die Photographien der Avenida Séptima S. 157.

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Unterlagen der Polizei. Der schwache Umriß, den das Mondlicht an der Wand erzeugt, genügt Vidales also für die Identifikation einer Person, gleichsam als ob damit scharfe Bilder oder Fingerabdrücke hinfällig würden. In der nächsten Strophe zerstört er diesen Eindruck. Die dunklen Schatten verwandeln sich plötzlich in flüchtige und unbrauchbare Negative oder gar in nicht minder flüchtige und abgegriffene Klischeevorstellungen, ohne indes aus dem Bezugsrahmen der Photographie auszubrechen. In der letzten Strophe geht die Vorführung zu Ende. Das Ich applaudiert im Kinosaal, den die Nacht bildet. Der gezeigte Film hatte keine durchgehende Handlung, sondern bestand aus den einzelnen, in sich nicht schlüssigen Einstellungen des Gedichtes. Doch der Betrachter ist scheinbar zufrieden, auch wenn die Produktion des "Pathé Baby" nicht an die des Franzosen Charles Pathé und seiner Gesellschaft Pathé Frères heranreicht. Die Metapher der noch unvollkommenen und mit Anlaufschwierigkeiten behafteten Filmindustrie steht bei Vidales für Kolumbien. So wichtig jedoch politische Aspekte in diesem Gedicht sein mögen, es erschöpft sich nicht darin; ganz im Gegenteil: Diese politischen Aspekte kommen erst vollständig zur Geltung, wenn man sich der Mühe unterzieht, die vielen Anspielungen und das poetische Bauprinzip des Werkes zu entschlüsseln. Im ersten Durchgang warfen die Strophen vier bis sechs die meisten Probleme auf. Die Begründung, warum er den Mond zweifach in Szene setzt, unterbrochen durch einen Exkurs zu Góngora, findet sich in der kolumbianischen Literaturgeschichte. Jedem gebildeten Kolumbianer war aus seiner Schulzeit das Gedicht La luna gegenwärtig. In 30 elfsilbigen Vierzeilern hatte Diego Fallón seine Eindrücke beim Aufgang und Untergang des Mondes besungen. Die Lektüre eines Quartettes mag genügen, um die Unterschiede zu Vidales deutlich zu machen: ¡Cuán bella, oh Luna, a lo alto del espacio por el turquí del éter lenta subes, con ricas tintas de ópalo y topacio franjando en tomo tu dosel de nubes!7

All diese Pretiosen bei der Beschreibung des Himmelskörpers respektive seiner Umgebung reduziert Vidales auf die ironisierende Alliteration "barnizada de blanco", und sieht anschließend den wolkenumhangenen Nachthimmel ("tu dosel de nubes") nur noch als schwülstiges Dunkel. Der Rückgriff auf Fallón Thema des Mondes und auf den großen spanischen Barockdichter8 gerät ihm zu einer radikalen Abrechnung mit der gesamten Lyriktradition vor ihm. Das traditionelle Stilmittel der Alliteration verwendet er außer an dieser Stelle nur noch einmal, nämlich in Strophe sieben. Dort klingt "como clichés quemados que", 7 8

Zitiert nach Echavarria. 1989. S. 64-67. hier S. 64. Er teilt somit ganz offenbar nicht die Hochachtung seiner spanischen Altersgenossen für Góngora.

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als ob er es mit der übertriebenen Häufung als Klischee brandmarken und gleich den Schatten der Vergänglichkeit anheimgeben bzw. verabschieden wollte. Die überbordende Adjektivierung, die noch der Modernismus auf seine Fahnen geschrieben hatte, unterzieht er einer ähnlich praktisch durchgeführten Kritik. Die asyndetische Reihung in Strophe zwei bereitet die Leser/innen auf die in Strophe fünf erfolgende Klimax im ironisch-negativen Gebrauch von Eigenschaftswörtern vor. In den letzten drei Strophen erscheint jeweils nur noch ein Adjektiv, das indes nicht ausschmückende Funktionen innehat, sondern für das Gedicht unerläßliche semantische Bedeutungen trägt. Die Absetzung von der Tradition unterstreicht im kolumbianischen Kontext der Zeit mit dem beständigen Rückgriff auf die preceptiva literaria in Diskussionen um die Lyrik auch die Form. Vidales geht noch über León de Greiff hinaus, indem er auf den Reim, auf deutliche interne rhythmische Strukturierungen und (von den Versen vier und fünf abgesehen) auf extreme Zeilensprünge verzichtet. Syntaktisch nähert sich die Sprache der Alltagssprache an, ohne die beliebten Inversionen, ohne komplizierte Perioden oder Einschübe (mit Ausnahme der Verse sieben und 24). Die Sprache von Cinematografía nacional erschließt sich auf diese Weise als Gegenpol zum Stil des "oscuro ampuloso", der in den Augen von Vidales nicht die Antwort auf die Herausforderungen der neuen Zeit sein kann. Der junge Dichter aus Calarcá reagiert auf die Moderne nun nicht mit dem Rückzug auf eine allgemeinverständliche oder mit der Schaffung einer plakativ politischen Lyrik9, sondern mit einer neuen Art von Verdunklung des Sinns, die sich primär auf die Semantik stützt. Vidales bedient sich dabei des Materials, das ihm die neue Stadt zur Verfügung stellt, eine Stadt, die geprägt ist von wirtschaftlichem Aufschwung, von technischen Neuerungen sowie von spürbaren Veränderungen in der Sozialstruktur und einer nicht mehr (alleine) traditional bestimmten Form des Umgangs miteinander. Eduardo Castillo hatte diese Entwicklungen als "Komplexität" begriffen und versucht, dieser in grundsätzlich traditionellen Gedichten Ausdruck zu verleihen. León de Greiff ging über ihn hinaus, indem er die Entwicklungen in seine Lyrik aufnahm und danach trachtete, seine Stellung als Dichter in dieser Welt neu zu bestimmen. Vidales schließlich begnügt sich nicht mit der mimetischen Widergabe von Strukturen oder der Beschreibung von subjektiven Reaktionen auf diese, er stellt sich als gleichsam unbeteiligter Betrachter daneben, sieht, was alle sehen könnten und bricht doch gleichzeitig das Betrachtete, indem er es aus einer vollständig unüblichen Perspektive anschaut. Beinahe programmatisch kommt dies in den drei Zeilen des Gedichtes Super-Ciencia zum Ausdruck: Por medio de los microscopios los microbios observan a los sabios. 1 "

0

Diese Dichtungsform prägt seit Beginn der 30er Jahre seine Obreriada, erstmals publiziert 1978. Vldales, 1986, S. 83.

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Während andere noch mit dem Problem rangen, wie sie die Tatsache, daß es nun Mikroskope, Eisenbahnen, Autos etc. gab, in ihr lyrisches Weltbild integrieren sollten, hatte Vidales bereits eine respektlose Haltung gegenüber den Postulaten der Moderne eingenommen. Die grundsätzliche Ambivalenz aller moderner Entwicklungen verkörpert für ihn das Mikroskop. Es ermöglicht nicht nur naturwissenschaftliche Erkenntnisfortschritte, sondern stellt auch bislang festgefügte Weltbilder in Frage. Während der Wissenschaftler, rein zweckrational, das Instrument nur in eine Richtung anwendet, obliegt es dem Dichter, die entgegengesetzte Perspektive auszutesten und dem Blick des Präparates zu folgen. Ähnlich geht Luis Vidales in Cinematografía nacional vor. Hier ist es die Kamera, die ganz bestimmte Ausschnitte aus der gesamten Umgebung herauspräpariert. Erst dadurch gewinnen die betrachteten Objekte ein spezifisches Eigenleben, das auf die sprachliche Gestaltung zurückwirkt. Natürlich arbeitete auch Guillermo Valencia in Hay un instante mit Personifikationen und Metaphern. Auch bei ihm agierten die Zweige und die Türme. Doch sie taten genau das, was der Dichter und die Leser/innen von ihnen erwarteten, weil es die lyrische Tradition so vorschrieb und weil ihre Handlungen den Wahrnehmungen des menschlichen Auges bzw. dem subjektiven Empfinden entsprachen. Bei Luis Vidales koinzidieren die Aktionen der Wolken, der Bäume und des Wasserfalles mit den Erwartungen des Kameramannes. Sie gebärden sich als mehr oder weniger gut geeignete Schauspieler. Das vermittelnde Element der Technik - bzw. die Betrachtung des Alltages mit dem nicht mehr auf Ganzheitlichkeit ausgerichteten Blick des modernen Dichters - bringt notwendig völlig neue Metaphern und Bilder hervor, die nun ihrerseits wieder, befreit von der Thematisierung der Vermittlung, Eigenleben gewinnen und schließlich das lyrische Repertoire von Luis Vidales in Suenan Timbres darstellen. Cinematografía nacional zeichnet sich aber noch durch eine weitere geniale Kompositionsidee aus. Die Erwähnung Góngoras hat nicht nur die Bedeutung, die hispanische Lyrik vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu kritisieren. Im Kontext der Filmaufnahmen erinnert sie die Leser/innen auch an die barocke Vorstellung vom großen Welttheater. Diese Tradition karikiert Vidales, indem er nicht mehr Gott, sondern das kleinliche Ich die Schauspielkünste der Akteure einstmals großartige allegorische Figuren - beurteilen läßt, indem er den Rahmen des universalen Dramas von Erlösung und Verdammung auf die Umgebung von Bogotá zurückschraubt und indem er dies alles zuletzt noch als inkohärent bezeichnet. Hier nun, in der Metapher der Metapher, kommt die politische Dimension dieses Gedichtes zum Tragen, die in der ersten Strophe schon kurz aufblitzte. Die Bühne für sein Filmtheater ist das nächtliche Bogotá, wobei die Hauptstadt als Pars pro toto ganz Kolumbien repräsentiert. Jede einzelne Figur in diesem Spiel, die kolumbianische Gesellschaft, wird von dem fordernden Auge der Kamera gnadenlos demaskiert.

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Im Angesicht der Moderne gelingt es ihr nicht mehr - mit Ausnahme des Wasserfalls - das selbstgeschaffene Bild der Einheit, der Weltgeltung ihrer Kultur und der Angemessenheit ihrer politischen Strukturen aufrechtzuerhalten. Das Mondlicht vermag, die Menschen in den Straßen auf einige wenige, konstituierende Faktoren zu reduzieren, und entlarvt damit das geschäftige Treiben. Hinter der Fassade verbergen sich nur beliebig oft reproduzierte Klischees, die längst hätten ausgemustert werden müssen. Vidales sieht sein Land in einem Spannungsverhältnis zwischen der Tradition, dargestellt von den allegorischen Figuren (die durch den Einsatz der modernen Technik abgekoppelt sind von ihrer einstigen Bedeutung und deshalb hilflos herumstehen), und dem von außen kommenden Einfluß in der Kunst- und Literaturszene, aber auch in Politik, Wirtschaft und Alltagskultur ("Pathe Baby"). Der Schlußapplaus zu den Filmsequenzen läßt jedoch Fragen offen. Ist er nur ironisch gemeint? Schwingt nicht auch ein wenig Sympathie für die amateurhafte Vorstellung der Wolken und der Bäume mit (der Wasserfall spielt ja nicht deshalb so gut, weil er seinen Auftritt professionell vorbereitet hat, sondern wegen seiner natürlichen Begabung)? Liegen seine Präferenzen nicht tatsächlich bei der Inkohärenz als Gegengewicht zum Zweckrationalismus der Moderne? Cinematografia nacional läßt vermuten, daß Luis Vidales, wie sein Freund Luis Tejada, sich ein Land wünschte, das ruhig Widersprüche aufweisen könnte, in dem die Widersprüche bei der Konfrontation von Tradition und Moderne jedoch nicht hinter alten Fassaden versteckt, sondern als notwendige Punkte des Innehaltens und der Reflexion begriffen würden. Bei ihm genügt schon eine Rose, dieses traditionelle Motiv der Lyrik, um die lineare Zeitvorstellung der Moderne ein wenig aus der Bahn zu werfen: La rosa introduce un ligero desorden en el transcurso del tiempo.11

Luis Vidales darf als der einzige avantgardistische Dichter Kolumbiens in den 20er Jahren bezeichnet werden, weil er die Welt so betrachtete, wie es noch keiner in seinem Land vor ihm getan hatte, und weil er diese Perspektiven in eine neue Sprache umsetzte. Er war auch Avantgardist, weil Suenan Timbres von seinen Zeitgenossen als Affront wider die gewohnte Literatur und gleichzeitig damit wider die herrschenden politischen Verhältnisse verstanden wurde. Das Außergewöhnliche an diesem Dichter aus der Provinz war jedoch, daß er auf der Höhe der Zeit schrieb und doch glaubhaft versichert12, daß er zu Beginn seiner Revolution die Avantgardedichter nicht gelesen hatte: "Me habia invadido el'Zeitgeist"'13. 11 12 13

Ibid., S. 194. Ibid., S. 25f u n d 33-36; Arevalo e.a., 1986, S. 154-156. Vidales, 1986, S. 33; Hervorhebung im Original.

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Die sechs besprochenen Gedichte deckten im Prinzip das gesamte Spektrum der in den 20er Jahren in Kolumbien produzierten und rezipierten Lyrik ab. Idioma nativo repräsentiert den Versuch von Traditionalisten, in den Schulen vermittels Literatur den ihrer Meinung nach unumgänglichen geistig-moralischen Niedergang durch den Einfluß modernen Gedankengutes aufzuhalten. Mis flores negras hingegen läßt eine solch intendierte antimodernistische Einstellung nicht erkennen. Julio Flórez wich der Frage nach einer zeitgemäßen Lyrik aus, indem er stellvertretend für das einfache Volk sang und von diesem akzeptiert wurde. Hay un instante und Difusión stehen für die Lyrik, die den an eine Minderheit von Kolumbianern/innen gerichteten Lyrikmarkt beherrschte (Luis María Mora und Julio Flórez wurden auf diesem geduldet, fanden aber keine Nachahmer). Bei Guillermo Valencia und Eduardo Castillo ist der Versuch spürbar, Tradition und Moderne zu einer Synthese zusammenzuführen. Form und Sprache verraten jedoch, daß sie dabei tendenziell der Tradition den Vorzug gaben. Ihr Anliegen, einen reformierten Modernismus für eine auch in den 20er Jahren noch zeitgemäße Lyrik zu retten, muß wohl als gescheitert angesehen werden - auch wenn sie dabei durchaus gelungene lyrische Werke schufen. Eine Außenseiterrolle auf dem Lyrikmarkt nahmen León de Greiff und Luis Vidales ein. Diese beiden schrieben Gedichte, die aufgrund ihrer formalen und sprachlichen Konstitution als moderne Lyrik bezeichnet werden dürfen - und die gerade deshalb nur ein sehr kleines Publikum erreichten. Speziell am Beispiel der Sonatina en re menor konnte gezeigt werden, daß in den 20er Jahren die Bezeichnung moderne Lyrik nicht notwendigerweise zusammenfällt mit Avantgardedichtung.

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Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit intendierte, die in den 20er Jahren in Kolumbien produzierte, publizierte und rezipierte Lyrik aus zwei Blickwinkeln heraus zu untersuchen. Zum einen sollte geklärt werden, welche Auswirkungen die gesellschaftliche Modernisierung jener Zeit auf das Selbstverständnis der Dichter und auf ihre Werke hatte. Zum anderen wurde versucht, die gesamte Breite der lyrischen Ausdrucksformen zu erfassen, also auch jene Sektoren des Spektrums, die häufig von der Literaturwissenschaft vernachlässigt werden. Im ersten Kapitel konnte in Anlehnung an die Gesellschaftstheorie Max Webers der Begriff der "partiellen Modernisierung" für die Beschreibung der Situation Kolumbiens in den 20er Jahren gewonnen werden. Dieses Jahrzehnt war mithin geprägt von einem durchgreifenden Modernisierungsschub, der sich jedoch dadurch auszeichnete, daß bestimmte Bereiche der Gesellschaft von der Modernisierung ausgeschlossen waren oder sich dezidiert einer solchen Modernisierung widersetzten. Von den beständigen Diskussionen um Neuerungen war insbesondere das Schulsystem betroffen. Die damals grundsätzlich antimodernistisch ausgerichtete Katholische Kirche vermochte hier, die mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes notwendigen Reformen abzuwehren und ihre beherrschende Stellung im Erziehungswesen aufrechtzuerhalten. Die Schule perpetuierte somit in den 20er Jahren eine fundamentale Dreiteilung der Gesellschaft, die ganz entscheidende Auswirkungen auf die Lyrikrezeption zur Folge hatte. Mehr als zwei Drittel aller Kolumbianer/innen konnten nicht lesen; sie waren daher auf die mündlich tradierte Volkspoesie oder andere orale Formen angewiesen. Der überwiegende Teil des verbleibenden Drittels der Bevölkerung besuchte nur ein, zwei oder drei Jahre die Grundschule und bekam dort eine ganz spezifische Art von Dichtung gelehrt. Eine im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nur winzige Minorität genoß dagegen eine fundierte Schulausbildung, die auch eine intensive Beschäftigung mit Lyrik einschloß. Das zweite Kapitel folgte dieser vertikalen Differenzierung der Gesellschaft und versuchte, den jeweiligen Gruppen bestimmte Lyrikkonzepte zuzuordnen. Dies konnte indes nur teilweise gelingen, da die Untersuchung immer wieder auf wechselseitige Interferenzen stieß. So wurde belegt, daß für die Analphabeten zwar die traditionelle Volkspoesie die Grundlage der poetischen Ausdrucksformen darstellte, daß aber auch sogenannte "moderne" - hier verstanden als schriftlich fixierte - Lyrik Eingang in die mündliche Überlieferung fand. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, daß die gesellschaftliche Modernisierung einige Mitglieder der Bildungselite erst zu einer Beschäftigung mit den angeblich reinen Formen der Tradition anregte. Die paradoxe Auswirkung dieses

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Prozesses besteht darin, daß er einerseits die schriftliche Dokumentation der mündlichen Lyrik ermöglichte, andererseits aber so starke ideologische Verfälschungen mit sich brachte, daß eine Rekonstruktion des Repertoires der mündlichen Lyriktradition in den 20er Jahren als unmöglich erscheinen muß. Die Kinder und Jugendlichen, die die Chance zu einer schulischen Ausbildung nutzen konnten, erlernten im Unterricht zwei, wieder entsprechend der Gesellschaftspyramide gestaffelte, Lyrikkonzepte. Die große Mehrheit der Schüler/innen mußte religiöse, pathetisch-nationale und/oder moralisch-ethisch ausgerichtete Gedichte memorieren, die ihnen Grundlagenwissen für ein Leben als anständiger Christ, als gute/r Mutter/Familienvater und als gehorsamer Staatsbürger vermittelten, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, diese Erziehungsziele kritisch und reflektiert zu hinterfragen. Das der kleinen Minderheit der Kinder der Elite gelehrte Fach der preceptiva literaria mit seinen Beispielgedichten (bzw. die verwendeten Literaturgeschichten) unterschied sich inhaltlich nicht wesentlich von diesem Kanon in den Grundschulen. Allerdings stand nun die Beschäftigung mit der Lyrik im Mittelpunkt. Die Schulbuchautoren beabsichtigten, die Jugendlichen dazu anzuhalten, nur die präsentierten Konzepte einer guten, weil formal mit den Regeln übereinstimmenden und thematisch nicht von der Tradition abweichenden Lyrik als Lyrik anzuerkennen. Diese Autoren standen bereits der modernistischen Bewegung der Jahrhundertwende sehr skeptisch gegenüber, weil in dieser die auf die "Wahrheit" ausgreifende Grundrichtung der Gedichte einer in ihren Augen willkürlichen Ausweitung der formalen Möglichkeiten und einer zu intensiven Beschäftigung mit der Sprache selbst Platz gemacht hatte. De facto jedoch hatte die zeitgenössische Dichtung die Vorgaben der Schulbücher schon überwunden, was die Verfasser der Lehrbücher mit deutlichem Unbehagen kommentierten. Konkret veröffentlichten die Publikationsorgane (Zeitungen, Zeitschriften, Literaturbeilagen, Lyrikbände) in der Regel die aktuellen Produktionen der kolumbianischen Dichter, die ein Korpus umfaßten, in dessen Zentrum modernistische Texte standen und das ergänzt wurde von romantischer und klassischer Lyrik oder von Versuchen, vorsichtig über die teilweise zu bloßer Rhetorik verkommene Sprache des Modernismus hinauszugehen. Nahezu alle Dichter orientierten sich dabei, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, an der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts (Hugo, Baudelaire, Gautier, Leconte de Lisie, Verlaine, Rimbaud) und an deren Vermittler in Lateinamerika und Kolumbien (Dario, Silva, Valencia). Das dritte Kapitel der Untersuchung ging der Frage nach, wie in diesem letzteren Segment des Spektrums der kolumbianischen Lyrik der 20er Jahre versucht wurde, auf die partielle gesellschaftliche Modernisierung zu reagieren. Der sogenannten Generación del Cenenario fiel dabei in Bogotá die Rolle zu, nur scheinbar revolutionäre Neuerungen zu propagieren (z.B. den Übergang vom Parnaß zum Symbolismus als vorherrschende Stilrichtung) und die dadurch geschaffene scheinbare Vielfalt der

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lyrischen Ausdrucksformen als Modernität zu deklarieren. Parallel dazu hatten die Mitglieder dieser Gruppe ein historisch bedingtes Interesse daran, ihre Lyrik als Mittel der nationalen Integration und die existierenden unterschiedlichen Akzentuierungen als Zeichen für das umfassende Dogma der Toleranz, das sie auch auf politischem Gebiet einforderten, herauszustreichen. Innerhalb dieses tendenziell zur Tradition neigenden Diskursrahmens konnten sich in der Zeitungslandschaft zwar noch Dichter halten, die eindeutig überholten Lyrikkonzepten anhingen, denn sie entsprachen den formalen Kriterien von Reim, Metrum und festen Strophenformen, wirklichen Modemisierungsversuchen aber, die mit diesen Vorgaben brachen, war der Zugang versperrt. Im Zweifelsfall gab die Literaturszene der Hauptstadt der Suche nach Einheit den Vorrang vor der Toleranz. Um Alternativen bemühte sich schon 1915 die Zeitschrift Panida in Medellin, dem wirtschaftlich-industriellen Zentrum des Landes. Von einer Ausnahme (León de Greiff) abgesehen, vermochten die jungen Dichter aus der Provinz indes keine grundlegend neuen Perspektiven zu entwickeln. So blieb es dem in Barranquilla lebenden Katalanen Ramón Vinyes vorbehalten, in der Zeitschrift Voces erstmals eine Auseinandersetzung mit den europäischen und lateinamerikanischen Avantgardebewegungen zu führen. Diese ersten Ansätze zu einer Modernisierung ohne dezidierten Rückgriff auf die Tradition verpufften jedoch weitgehend. Daher erscheint die Selbstdarstellung der Gruppe Los Nuevos und mehr noch die überwiegende Zahl der von ihr in ihrem gleichnamigen Organ publizierten Gedichte als ein für die 20er Jahre sehr braves Aufbegehren junger Autoren. Sie suchten einen Mittelweg zwischen den Avantgarden (mit denen sie sich nur wenig beschäftigten und die sie offensichtlich ablehnten) und den alten Konzepten, um schließlich mehrheitlich an den Errungenschaften anzuknüpfen, die die etwas älteren Dichter parallel zu ihnen gerade in die Tat umsetzten. Neben León de Greiff fiel nur Luis Vidales aus dem Rahmen, der, ermuntert von Luis Tejada, eine eigenständige Form von Avantgardelyrik verfaßte. Grundsätzlich indes war die in den Medien publizierte kolumbianische Lyrik auch nach Los Nuevos noch beherrscht von dem Versuch, der Modernisierung durch die Umsetzung überkommener Konzepte (aber zumeist in Absetzung von Schulbuchlyrik und Volkspoesie) entgegenzuwirken oder ihr durch die vielfach variierte Fortführung der modernistischen Tradition Ausdruck zu verleihen. Dem letzten Kapitel der Studie kam schließlich die Aufgabe zu, anhand konkreter Einzelbeispiele die unterschiedlichen Lyrikauffassungen im Detail zu untersuchen. Dabei repräsentierte Luis María Mora mit seinem Ansatz, die klassische antike Tradition mit der christlichen Neuscholastik und einem von nationalistischen Ideen inspirierten Pädagogikkonzept zu verbinden, die zeitgenössische Variante von antimodernistischer Schulbuchlyrik. Julio Flórez dagegen charakterisiert wohl am besten die Klassifizierung als unbewußter Gegner der Modernisierung. Wenn er in seinen romantischen Liedern von Trauer, Tod und Liebesschmerz sang, dann traf er die

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Gefühle des einfachen Volkes, das von den positiven Errungenschaften der Modernisierung ausgeschlossen war und seinerseits die Texte des Dichters in seine mündliche Überlieferung aufnahm. Guillermo Valencia und Eduardo Castillo standen in der Untersuchung für jenes Dichtungskonzept, das den Lyrikmarkt beherrschte; der eine als lebende und noch produktive Verkörperung des kolumbianischen Modernismus, der andere als sein Adlatus, der intensiv die Frage diskutierte, wie ein reformierter Modernismus in den Zeiten einer wirklichen Modernisierung seine Aktualität retten könnte. Deutlich ist bei diesen Autoren zu spüren, daß der klassische Modernismus sich erschöpft hatte, daß sie sich jedoch nicht zu einem Bruch mit dem erfolgreichen Modell entschließen konnten. Sie wollten - in der Lyrik und in der Politik - Tradition und Moderne versöhnen. Gänzlich neue Wege schlugen hingegen León de Greiff und Luis Vidales ein. Der ältere der beiden radikalisierte den Modernismus, indem er auf Kosten der formalen Perfektion die Sprachmusik eines Gedichtes betonte und gleichzeitig das lexikalische Repertoire der dichterischen Sprache in alle nur möglichen Richtungen erweiterte. Der jüngere Luis Vidales entwickelte in der Begegnung mit der partiellen Modernisierung grundlegend andere poetische Ausdrucksformen. Mit seinem Verzicht auf anerkannte Vorbilder, mit seiner Ablehnung einer pompösen und mit ausschmückenden Adjektiven durchsetzten Sprache und mit seinen neuen, der Realität der modernen Stadt entspringenden Metaphern kann sein Werk der 20er Jahre in einem Atemzug mit dem von Gómez de la Serna, Girondo, Huidobro oder dem frühen Borges genannt werden. Nach der Beschäftigung mit der kolumbianischen Lyrik der 20er Jahre können daher folgende Thesen formuliert werden: - Das Spektrum der im Kolumbien der 20er Jahre produzierten, publizierten und rezipierten Lyrik reichte von traditioneller Volkspoesie über religiös-nationalistische Schulbuchlyrik und unterschiedlich akzentuierte gehobene Dichtung bis hin zu avantgardistischen Ansätzen. - Über weite Strecken war die Beziehung zwischen diesen Sektoren geprägt von einer friedlichen Koexistenz, bedingt von allem durch die gesellschaftliche Differenzierung nach den Möglichkeiten der Teilhabe am Bildungssystem. Allerdings gab es auch signifikante Überlappungen, die in den Quellen zumeist als Anlaß für Abgrenzungsstrategien genutzt wurden. - Auf dem kleinsten Sektor des Spektrums der lyrischen Ausdrucksformen, dem Lyrikmarkt von Zeitungen, Zeitschriften und Buchpublikationen, hatte sich ein gewisser Konsens eingestellt, alle Konzepte der sogenannten modernen - i.e. aktuellen - Lyrik zu akzeptieren. Tatsächliche handelte es sich dabei um ein Stilgemisch aus romantischer, klassischer, nationalistischer, modernistischer (in der Nachfolge von

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Valencia an den Parnaß angelehnter) und spätmodernistischer (den Symbolismus betonender) Dichtung. - Um Alternativen zu diesem der Tradition verhafteten Konsens bemühten sich Intellektuelle aus den wirtschaftlichen Zentren des Landes, aus Barranquilla (Ramón Vinyes) und insbesondere aus dem Großraum Antioquia (León de Greiff, Luis Tejada, Luis Vidales). In der Hauptstadt Bogotá, die sich selbst als die Kulturmetropole Lateinamerikas verstand, konnten sie jedoch keine entscheidenden Akzente setzen. - Die partielle Modernisierung der kolumbianischen Gesellschaft korrelierte auf diese Weise mit einer partiellen Modernisierung der Lyrik. Explizit antimodernistische Auffassungen standen neben vorsichtigen Erneuerungsansätzen und bekämpften, bisweilen gemeinsam, die wenigen wirklichen Versuche, eine den 20er Jahren entsprechende moderne Lyrik zu schreiben.

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Bibliographie Die Bibliographie kann und will für keinen Bereich den Anspruch auf Vollständigkeit über die Publikationen hinaus, die direkt in die Untersuchung einflössen, erheben. Die aufgeführten, bereits sehr umfangreichen Bibliographien über kolumbianische Literatur zeigen, daß ihre Fortschreibung intensiver Studien bedürfte, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Wo dies angebracht erschien, wurden im Text selbst Hinweise auf entsprechende Zusammenstellungen gegeben. Das Verzeichnis der Periodika versteht sich als Nachweis der untersuchten Werke; die angegebenen Jahreszahlen entsprechen daher nicht immer dem tatsächlichen Zeitraum, in dem die jeweilige Zeitung oder Zeitschrift erschien. Ebenso wurden von den in Kapitel 2.2. angeführten Schulbüchern nur diejenigen aufgenommen, die eingesehen werden konnten. Im Hinblick auf die Aufteilung in "Quellenwerke" und "weiterführende Literatur" wurden Veröffentlichungen eines Autors (gleich, wann sie publiziert wurden), die Texte aus den 20er Jahren enthalten (bei kolumbianischen Schriftsteilem auch solche vor dem Untersuchungszeitraum), generell der ersten Kategorie zugeschlagen. Auf diese Weise ist es möglich, daß auch spätere Aufsätze von diesen Autoren oder über sie sich in der Rubrik "Quellen" finden. In die andere Richtung ließen sich Überschneidungen gleichfalls nicht vermeiden, z.B. bei Gedichtanthologien (wobei angesichts der ausgezeichneten bibliographischen Bearbeitung der Anthologien ihre Aufnahme auf ein Mindestmaß reduziert werden konnte) sowie bei den pauschal "Homenaje a" benannten Sammlungen (sofern sie nicht einen Herausgebernamen tragen) von Arbeiten über einen Autor oder eine Dichtergruppe mit nur einigen wenigen Textbeispielen.

1. Quellenwerke 1.1. Zeitungen, Zeitschriften und andere Periodika Alma de Artista, Bogotá (1922-1923) Atenas Ilustrada, Bogotá (1925) Cervantes, Número extraordinario, Bogotá (Márz 1923) Colombia, Medellín (1920-1922) Crepúsculos, Bogotá (1923) Cromos, Bogotá (1920-1929) Cultura, Tunja (1927, 1930) Cyrano, Medellín, (1920-1922) Ediciones Colombia, Bogotá (1925-1927) El Espectador, Medellín (1922) El Espectador, Bogotá (1921-1923) El Espectador. Suplemento literario ilustrado, Bogotá (1924-1928) El Nuevo Tiempo Literario, Bogotá (Segunda época, 1927-1929) El Tiempo. Lecturas Dominicales, Bogotá (1923-1929) Juventud, Bogotá (1923) La carretera al mar, Medellín (1925)

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1.2. Gedichtbánde und andere Quellenwerke Arango Vélez, Daniel: La nueva cultura, Bogotá (o.V.) 1925 Arciniegas, Ismael Enrique: Antología poética, Quito (Artes Gráficas) 1932 Ders.: Poemas escogidos, Medellín (Bedout) 1984 Ders.: Traducciones poéticas (Vorw.: Antonio Gómez Restrepo), Paris (Excelsior) 1925 Barba Jacob, Porfirio (Miguel Angel Osorio): Poesías completas (Vorw.: Daniel Arango), o.O. (Segundo Festival del Libro Colombiano), o.J. [1959?] Bayona Posada, Daniel/Jorge Bayona Posada/Nicolás Bayona Posada: Poesía rústica y poesía romántica, Bogotá (Biblioteca Banco Popular) 1983 Bemal, Rodolfo D.: Libro de lecturas escogidas (En prosa y verso para niños y niñas), Bogotá (La Luz) 51905 (17. Aufl. Bogotá, Librería Voluntad, 1939) Briceño, Manuel: El Virrey Solis. Romancero, Bogotá (Editorial Minerva) 1928 Bruño, G.M.: Lecciones de lengua castellana. 3er año o curso superior, Paris (Procuraduría General) 1912 (Neuauflage Madrid/Barcelona 1923) Cano, María: Escritos, Medellín (Extensión Cultural Departamental) 1985 Caro Grau, Francisco: Parnaso colombiano. Nueva antología (Vorw.: Zoilo Cuellar Chaves), Barcelona (Casa Editorial Maucci) erweiterte Auflage 1920 Carrasquilla, Tomás: La Marquesa de Yolombó, Caracas (Biblioteca Ayacucho) 1984 Casas, José Joaquín: Crónicas de aldea. Primera Parte, Bogotá (Juan Casis) 1919 Ders.: Poesías (Hg.: Jesús Casas Manrique/Roberto Morales Olaya, Vorw.: Antonio Gómez Restrepo), Bogotá (Arboleda & Valencia) 1920/1921 Castañeda Aragón, Gregorio: Rincones del mar, Barranquilla (Magollón) 1925 Castillo, Eduardo: Aquella bella época..., Bogotá (Editorial Revista Colombiana) 1973 Ders.: El árbol que canta, Bogotá (Tamayo) (1921) (Erweiterte Neuauñage, Hg. und Vorw.: Fernando Charry Lara, Bogotá, Instituto Colombiano de Cultura, 1981)

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249

Nachwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 als Dissertation an der Universität Bamberg angenommen. Es ist ein guter Brauch, bei der Veröffentlichung einer Dissertation Dank zu sagen. Im Laufe der Jahre wurde jedoch die Liste derer, die in irgendeiner Weise am Zustandekommen der Arbeit beteiligt waren, immer länger. Wer mußte nicht alles herhalten, um eine abstruse Idee zu diskutieren und wieder ad acta zu legen. Wie viele Freunde und Bekannte in Kolumbien wurden nicht eingespannt, um diesen oder jenen Text ausfindig zu machen. Wie viele halfen auch mit, mir während dieser Zeit den Lebensunterhalt zu sichern. Wen von meinen Freunden, die mich jeweils zur rechten Zeit von der Arbeit abhielten oder mich dazu anspornten, sollte ich hier erwähnen? Bei all diesen Menschen muß ich mich pauschal bedanken. Ein besonderes Anliegen sind mir an diesem Ort die Angestellten von Institutionen, ohne die nicht eine einzige Zeile entstanden wäre. Ein Dankeschön also an die Mitarbeiter/innen der Universität Bamberg, speziell der Universitätsbibliothek und natürlich auch der Mensa, an die Mitarbeiter/innen des Iberoamerikanischen Institutes in Berlin, der Biblioteca Nacional und der Biblioteca Luis Angel Arango in Bogotá, der Biblioteca de la Universidad de Antioquia und der Biblioteca Pública Piloto in Medellín sowie des Cusanuswerkes. Ein besonderer Dank geht an meine Professoren, stellvertretend für viele andere seien P. Hoffmann, O. Fuchs und U. Beck genannt sowie W. Theile, der auch die Mühe des Korreferates auf sich nahm. Was würde über meinen Doktorvater Prof. Harald Wentzlaff-Eggebert mehr aussagen als eben diese Bezeichnung: Er war mein Doktorvater, der beste, den ich mir wünschen konnte. Den Anteil meiner Eltern an dieser Arbeit auch nur einigermaßen zu würdigen, übersteigt meine Fähigkeiten. Eine Arbeit über Kolumbien ohne diejenigen, die mir Kolumbien nahe gebracht haben, kann ich mir nicht vorstellen. Deshalb zum Ende herzlichen Dank Alberto, Federico, Jesús Antonio, Mauricio, Fredy, Marina, María, Matilde und natürlich Amalia!

EDITIONEN DER IBEROAMERICANA Reihe III, Monographien und Aufsätze Actas del IX Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas, 18-23. August 1986JBerlin. 2 Bde. 1989 Beat Keller, Frank: Wiwilí 1980. Monografía de un Municipio Nicaragüense en cambio. 1986 Bernecker, Waither L. (Hrsg.): España y Alemania en la Edad Contemporánea. 1992 Bemecker, Walther L.: Schmuggel. Illegalität und Korruption im Mexiko des 19. Jahrhunderts. 1989 Berg, Walter Bruno: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart. 1991 Eich, Dieter: Ayllu und der Staat der Inka. Zur Diskussion der asiatischen Produktionsweise. 1983 Gerdes, Claudia: Eliten und Fortschritt. Zur Geschichte der Lebensstile in Venezuela 1908-1958. 1992 Gewecke, Frauke (Hrsg.): Estudios de literatura española y francesa. Siglos XVI y XVII. Homenaje a Horst Baader. 1985 Görling, Reinhold: 'Dinamita Cerebral'. Politischer Prozeß und ästhetische Praxis im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939). 1986 Grötsch, Kurt: Der Kampf um die Integration. Afrokubaner als Protagonisten und Autoren in der Literatur Kubas des 19. und 20. Jahrhunderts. 1989 Herms, Dieter: Die zeitgenössische Literatur der Chícanos (1958-1988). 1990 Juan i Tous, Pere: Die gefesselte Hoffnung. 'El árbol de la ciencia' von Pío Baroja und der Geist der Jahrhundertwende. 1989 Kaiser, Georg: Die klitischen Personalpronomina im Französischen und Portugiesischen. Eine synchronische und diachronische Analyse. 1992 Klinker, Carolyn S. Die Verfahren der Zeitbehandlung in literarischen Erzähltexten. Untersuchungen zur Zeitstruktur in den Romanen 'El amor en los tiempos de cólera', 'El otoño del patriarca' und 'Crónica de una muerte anunciada' von Gabriel García Márquez. 1993 Küster, Lutz: Obsession der Erinnerung. Das literarische Werk Jorge Semprúns. 1989 Luchting, Wolfgang A.: Estudiando a Julio Ramón Ribeyro. 1988

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Waldmann, Peter/Tobler, Hans Werner (Hrsg.): Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika. 1991 Walter, Roland Magical Realism in Contemporary Chicano Fiction. Ron Arias, The Road to Tamazunchale (1975); Orlando Romero, Nambé-Year One (1976); Miguel Méndez M„ The Dream of Santa María de las Piedras (1989). 1993 Westphal, Wilfried: Die Mayaforschung. Geschichte, Methoden, Ergebnisse. 1991 Wiese, Claudia: Die hispanoamerikanischen Boom-Romane in Deutschland. Literaturvermittlung, Buchmarkt und Rezeption. 1992