Titurel: [Text - Übersetzung - Stellenkommentar] 9783110899337, 9783110169713

This textbook edition of 'Titurel' offers the original text, a critical annotation, and a modern translation.

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Titurel: [Text - Übersetzung - Stellenkommentar]
 9783110899337, 9783110169713

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
I. Der „Titurel“ Wolframs von Eschenbach
II. Text und Übersetzung
III. Vollständige Transkription der Handschrift Μ
IV. Melodie
V. Stellenkommentar
VI. Verzeichnisse und Bibliographien

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Wolfram von Eschenbach Titurel

w DE

G

Wolfram von Eschenbach

Titurel Herausgegeben, übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Einbandabbildung: Schionatulander fängt den Bracken (aus: Jüngerer Titurel", Hs. k, Lage 11, fol. 8r)

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-016971-1 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Einbandgestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorbemerkung Diese Studienausgabe des „Titurel" Wolframs von Eschenbach bietet die wesentlichen Elemente der umfangreichen großen Ausgabe (Berlin/New York 2002). Sie will diesen Text, der fraglos zu den bedeutendsten literarischen Werken des Mittelalters zu rechnen ist, für den Gebrauch im Seminar und für interessierte Leser auch außerhalb der Fachwissenschaft zugänglich machen. Der Text mit den editorischen Apparaten und die Übersetzung sind unverändert aus der großen Ausgabe übernommen, ebenso die Transkription der Handschrift Μ und der Abdruck der Melodie. Die umfangreichen Kürzungen, die wir im Stellenkommentar vorgenommen haben, betreffen insbesondere detaillierte Ausführungen zu Problemen der Textkonstitution und zu Herausgeberentscheidungen sowie zur fachwissenschaftlichen Diskussion und zu literarischen Parallelen einzelner Formulierungen. Wir haben die einleitenden, zusammenfassenden Kommentare zu den Textabschnitten übernommen und waren bestrebt, in den Einzelkommentaren Verständnishilfen zu sprachlich oder inhaltlich schwierigen Versen anzubieten. Für genauere Darstellungen und Nachweise, insbesondere für Hinweise auf weiterführende Literatur, sei auf den Kommentar der großen Ausgabe verwiesen. Dort finden sich auch ein Verzeichnis der Eigennamen, ein Wortregister zum Text, ein Register zum Stellenkommentar, eine Konkordanz der Strophennummern sowie Abbildungen zur Überlieferung. Das für diese Studienausgabe ebenfalls reduzierte Quellen- und Literaturverzeichnis bietet eine Auswahl der wichtigsten Ausgaben und der Forschungsliteratur. Auf eine Ergänzung des Literaturverzeichnisses durch die seit Abschluß der Arbeiten am Stellenkommentar (Ende 2000) erschienene Literatur haben wir bewußt verzichtet, da diese nicht mehr in den Kommentar eingearbeitet werden konnte (s. aber den Nachtrag S. 294), zumal die Studienausgabe nicht eine erste Überarbeitung der großen Ausgabe darstellen soll. (Allerdings bedarf diese an einer Stelle der Korrektur: In Str. 49,2 muß der Text, wie wir auch im Kommentar voraussetzen, wärer blinder lauten statt, wie wir irrtümlich in den Text gesetzt haben, wcer er blinder. Der Herausgeberapparat ist an dieser Stelle ebenfalls entsprechend geändert.) An die Stelle des ausführlichen editorischen Vorwortes tritt in der Studienausgabe eine Einführung, die die wichtigsten Informationen zu Überlieferungsproblematik, Form und literaturgeschichtlicher Stellung bietet und zugleich einen ersten Zugang zu Problemkreisen und Deutungsmöglichkeiten des außerordentlich schwierigen und rätselhaften Werkes eröffnen soll. Daran schließt sich eine knappe Beschreibung der Überlieferung, der Editionsprinzipien und der Einrichtung des Lesetextes an. Frankfurt im Sommer 2002

Helmut Brackert Stephan Fuchs-Jolie

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

V

I. Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

1

Eine Einführung Zu dieser Ausgabe Die Überlieferung Editionsprinzipien und Einrichtung Auszeichnungen und Siglen im edierten Text und in den Apparaten

3 25 26 29 31

II. Text und Übersetzung

33

Fragment I

34

Fragment II

108

III. Vollständige Transkription der Handschrift Μ

129

IV. Melodie

139

V. Stellenkommentar

143

Zu Fragment I Zu Fragment II Zum Schluß des überlieferten Textes

145 242 275

VI. Verzeichnisse und Bibliographien

279

Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen Quellen Forschungsliteratur Tafel der Verwandtschaftsbeziehungen

281 284 287 295

I. Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

Eine Einführung Wolframs „Titurel" gehört zu den rätselhaftesten und darum wohl auch faszinierendsten Werken der mittelalterlichen Literatur. Tatsächlich ist beinahe alles an den beiden Textstücken ungewöhnlich und eigenwillig und so geartet, daß es sich jeglichen Versuchen der Einordnung, der Vereindeutigung, des Vergleichs widersetzt: die Form, die Überlieferung, die Handlungsführung, die Erzählerrolle, die Sprache und Bildlichkeit. Daß der „Titurel" die Literaturwissenschaft zunehmend fasziniert und seit vielen Jahren als einer der meist diskutierten Texte seiner Epoche gelten kann, mag daran liegen, daß der offene Fragmentcharakter, die experimentell anmutende Behandlung von Sprache, Stoff und Form, die Reflexivität und Gebrochenheit des Erzählens dieses Gedicht stärker als andere unserer literarischen Erfahrung näher rückt. Zugleich liegt gerade darin die Gefahr, dem Text und seinem Autor Wolfram eine Poetik zu unterstellen, in der sich die ästhetischen Erfahrungen der Moderne bloß widerspiegeln und die den spezifischen Bedingungen mittelalterlicher Erzähl- und Uberlieferungstradition wenig Rechnung trägt. Die Geschichte der mittelalterlichen Literatur ist voll von Texten, die man fragmentarisch nennen mag: Chretiens de Troyes „Lancelot" und „Perceval", Gottfrieds von Straßburg „Tristan", Wolframs „Willehalm", um nur die bedeutendsten aus dem zeitlichen Umkreis des „Titurel" zu nennen. An all diesen Erzählungen wurde weitergedichtet und weitergearbeitet, so wie auch zu jenen Epen Vorgeschichten, Nachgeschichten, Seitenzweige auserzählt wurden, die nichts Fragmentarisches mit sich führen. Der Gedanke an organische Ganzheit und kohärente Geschlossenheit gilt einer goethezeitlichen Ästhetik; sie ist der von einem hohen Maß an Mündlichkeit, Aufführungskunst und produktiver Variabilität der Uberlieferung geprägten literarischen Kultur des Mittelalters fremd, so fremd, wie es die Vorstellungen von ,Original', ,Authentizität' und zur Vollendung gemeißelte Kathedralen sind. Daß aber ein Autor die Vorgeschichte zu einer Geschichte, deren Ende er selbst schon einmal erzählt hatte und das stets als bekannt vorausgesetzt wird, nachträglich noch einmal zu entwickeln beginnt, und dies mit ganz anderen formalen Mitteln und unter anderen Perspektiven, dürfte wohl ein zu dieser Zeit einmaliger Fall sein. Der „Titurel" erzählt Teile der Vorgeschichte eines Liebespaares, das in Wolframs „Parzival" kurz, aber an sehr bedeutsamen Stellen auftaucht: Sigune, die Cousine Parzivals aus dem mütterlichen Gralsgeschlecht, und ihr - im „Parzival" schon toter - Geliebter Schionatulander. Zunächst gibt dies Hinweise zur chronologischen Einordnung. Im „Titurel" werden zahlreiche Details und Zusammenhänge aus dem „Parzival" als bekannt vorausgesetzt, allein 29 der 32 Personen finden sich schon im „Parzival". Zwei Namen aus Wolframs französischer

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

„Willehalm"-Quelle belegen, daß diese „Titurel"-Strophen auch nicht vor jenem zweiten großen epischen Werk Wolframs (einer Erzählung nach einem Stoff der französischen Heldenepik, die nach gut 14 000 Versen jäh abbricht) entstanden sein können. Für eine absolute Datierung kommt nur die in ihrer Echtheit nicht ganz unumstrittene Strophe 87 in Frage, die von Landgraf Hermann von Thüringen (gest. 1217) als einem Toten spricht. Wolfram hat demnach offenbar nach 1217 noch am „Titurel" gearbeitet, möglicherweise im Umkreis des Thüringer Landgrafenhofes, wie für den „Willehalm" bezeugt. Ob der „Titurel" aber wesentlich oder in Teilen parallel zum „Willehalm" (der ebenso den „Parzival" voraussetzt und an dem Wolfram wohl ebenfalls nach 1217 noch gearbeitet hat) oder auch zu späteren Partien des „Parzival" entstand (dessen 7. Buch sicher auf die Jahre nach 1203 zu datieren ist), ist nicht zu entscheiden. Es ist verlockend, in der zerklüfteten, formsprengenden, selbstreflexiven Erzählweise einen ,Altersstil' zu identifizieren - dem Verdacht eines Anachronismus entkommt aber auch dies nicht. Wir wissen von Wolfram nicht mehr als das, was seine Werke von ihm überliefern - wo er arbeitete, lebte, reiste, welchen Stand er einnahm, woher er seine für einen Laien erstaunlichen Kenntnisse bezog, bleibt im Dunkeln. Seine Sprache verweist auf das Fränkische und seine Anspielungen auf überregional unbedeutende Orte machen die Identifizierung seines Herkunftsnamens mit der mittelfränkischen Stadt Eschenbach bei Ansbach (heute Wolframs-Eschenbach) sehr wahrscheinlich. In den Augen der ihm folgenden Dichtergenerationen galt Wolfram als der Größte ihres Metiers, und wohl kaum ein deutschsprachiger Epiker des Mittelalters hat die Literatur seiner Zeit so nachhaltig und stilbildend beeinflußt. Noch im 15. Jahrhundert firmiert der „Titurel" als das haupt ab teutschen puecben - gemeint war freilich jener „Titurel", den man bis ins 19. Jahrhundert für eine Dichtung Wolframs hielt, der aber das Werk eines anderen ist. Dieser andere - ,Albrecht' nennt er sich, aber erst kurz vor Schluß - dichtete unter der Maske Wolframs noch im 13. Jahrhundert an Wolframs Strophen weiter und arbeitete sie zu einem fast 6300 Strophen umfassenden Grals- und Schionatulanderroman aus (was etwa dem doppelten Umfang des „Parzival" entspricht!). Die Überlieferung des gewaltigen Epos, das heute der ,Jüngere Titurel" genannt wird, deutet mit seinen 60 erhaltenen Textzeugen auf eine Verbreitung und Bekanntheit des Sujets, mit der sich nur Weniges der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters messen kann. Da also seit spätestens 1300 ein Werk Verbreitung fand, das Wolfram zugesprochen wurde und das Wolframs Strophen enthielt, verwundert es nicht, daß die alten Bruchstücke nun nicht noch einmal gesondert auf das Pergament kamen (eine spezifische Ausnahme bildet die unten vorgestellte Handschrift H) und die direkte Überlieferung von Wolframs „Titurel" schmal erscheint - besonders wenn man dies mit der Rezeption des „Parzival" mit über 80 und des „Willehalm" mit über 70 Textzeugen vergleicht. Es gibt mehrere Indizien dafür, daß Wolframs Strophen im 13. Jahrhundert wohlbekannt waren.

Eine Einführung

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Auch die Existenz mindestens zweier direkter Textzeugen aus dem ersten Jahrhundert nach Abfassung gibt keinen Anlaß, von geringer Verbreitung auszugehen. In der Münchner Handschrift G, einer der beiden wichtigsten Handschriften des „Parzival", sind im Anschluß an den „Parzival" 164 Strophen des „Titurel" überliefert. Die Handschrift datiert aus der Mitte (vielleicht sogar aus dem zweiten Viertel) des 13. Jahrhunderts und reicht somit außergewöhnlich nah an die zu vermutende Entstehungszeit des Textes heran - ganz im Gegensatz zum zweiten Textzeugen, der Wiener Handschrift H, die zwischen 1504 und 1516 von Hans Ried, Zolleinnehmer am Eisack bei Bozen, geschrieben wurde. Dieses sogenannte „Ambraser Heldenbuch", im Auftrag Kaiser Maximilians angefertigt und einer der prachtvollsten und kostbarsten Codices der deutschen Literaturgeschichte, enthält 25 epische Texte verschiedenster Art, wohl sämtliche dem späten 12. und dem 13. Jahrhundert zugehörig, und als vorletztes Stück die ersten 68 Strophen von Wolframs „Titurel". Allerdings hat der Schreiber Hans Ried, wie auch für andere Texte des Codex bezeugt oder zu vermuten, wohl eine alte Vorlage benutzt, was die 3 0 0 Jahre Abstand zu Wolfram relativieren mag. Der dritte Überlieferungsträger wurde erst am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, und zwar im Einband einer spätmittelalterlichen lateinischen Papier-Sammelhandschrift. Von dieser Handschrift Μ liegen nur drei Pergamentblätter vor, zwei davon zudem nur in unzusammenhängenden Streifen. Die zum Teil kaum leserlichen Blätter, um 1300 beschrieben, überliefern 4 6 Strophen bzw. Vers- und Wortteile von Strophen aus dem ersten „Titurel"-Stück. Angesichts dieser zwar frühen, aber kargen und überaus Varianten Überlieferung ist das Streben nach einem autornahen oder ,kritischen' Text hoffnungslos. Nur elf der 175 Strophen sind in allen drei Handschriften gemeinsam überliefert, 83 Strophen finden sich nur in jeweils einer Handschrift. Immerhin ist deutlich, daß der Text, wie er in Η überliefert ist, eine andere Fassung darstellt als die Überlieferung in G (M steht zwischen beiden Überlieferungszeugen, aber sehr viel näher bei H). Dies zeigt sich nicht nur in den Varianten einzelner Verse, sondern schon am Strophenbestand: Η weist sechs Strophen auf, die sich in G nicht finden (aber in M, soweit Μ überliefert), in Μ finden sich nochmals fünf weitere Strophen. Handelt es sich also bei G um eine Art ,Kurzfassung' ? Auf alle Fälle wird man der Handschrift G nicht größere Autornähe oder ,Ursprünglichkeit' zugestehen können, wozu man aufgrund ihres Alters und der Tatsache geneigt sein könnte, daß sie fast den Großteil des Textes - darunter das gesamte zweite Fragment - allein überliefert und daher eine überragende Rolle für die Textkonstitution spielt. Der „Titurel" lag wohl schon früh und autornah in zwei parallelen Fassungen * H M und *G vor, wovon vor allem der „Jüngere Titurel" Zeugnis gibt. Albrecht hat in sein Werk alle 175 der in G, Η und Μ überlieferten Strophen aufgenommen, und zwar - mit Ausnahme der ersten Strophen und einigen kleineren Einschaltungen - als zwei zusammen-

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

hängende Stücke und unter Benutzung einer HM-nahen Vorlage. Die Strophen sind freilich von Albrecht umgearbeitet und von späteren Redaktoren und Schreibern, offenbar teilweise sogar unter abermaliger Benutzung älterer, ebenfalls HM-naher Wolfram-Überlieferung, nochmals verändert worden. Welches Ausmaß diese Bearbeitungen indessen haben, wo also in der sehr disparaten und ebenfalls früh in zumindest zwei Fassungen tradierten Überlieferung des „Jüngeren Titurel" noch Wolframs Wortlaut bewahrt ist, ob hier gar noch weitere auf Wolfram zurückgehende Strophen enthalten sind, ist nicht zu entscheiden. Was Wolfram weiter zu erzählen beabsichtigte, ob er überhaupt mehr zu dichten plante, bleibt pure Spekulation. Daß er wesentlich mehr gedichtet hat, als uns in den 175 Strophen überliefert ist, ist allerdings unwahrscheinlich. Das Bild des Bruchstückhaften, das die Überlieferung bietet, scheint sich beim Blick auf den Inhalt und den erzählerischen Charakter zu bestätigen. Und doch eignet den beiden ungleichen, inhaltlich nicht aneinander anschließenden Stükken in ihrer bildhaft-szenischen Statik bei aller Abruptheit ihres Einsetzens eine gewisse Abgeschlossenheit. Inhaltlich mag man die Strophenblöcke als fragmentarisch bezeichnen, denn die begonnenen Handlungsfäden bleiben offen. Aber was heißt offen? Das Ende der Geschichte ist ja aus dem „Parzival" bekannt, immer wieder verweist der Erzähler darauf. Und das betrifft nicht nur das Ende der Sigune-Schionatulander-Handlung: Im „Titurel" ist immer schon mehr vorausgesetzt als erzählt, schon immer wird an Sinn mehr nachgeliefert und im Hinblick auf schon einmal Erzähltes reflektiert, als dem Erzählten selbst mitgegeben wird. Da also das Erzählen im „Titurel" immer ein Erzählen unter gleichsam unendlichen Voraussetzungen, Vorbedingungen, unendlichem Vorwissen ist, beginnt jeder Weg zu Wolframs „Titurel" bei den Sigune-Szenen des „Parzival". Der junge Parzival trifft auf eine klagende, verzweifelte Frau, im Schoß ihren soeben erschlagenen Geliebten (Pz. 138,9-142,2). Es ist erst die zweite Person, der er begegnet, nachdem er aus der Isolation bei seiner Mutter in die väterliche Welt gezogen ist. Sie fragt ihn nach seinem Namen - er kennt ihn nicht. Sie nennt ihn und erklärt ihm seine väterliche Herkunft. Sie selbst war von Herzeloyde, seiner Mutter, erzogen worden, es ist seine Cousine Sigune. Und sie gibt auch Auskunft über den toten Ritter in ihrem Schoß: ,in unser zweier dienste den tot hat er bejagt' („in deinem und in meinem Dienst hat er sich den Tod erjagt"). Orilus, mit dessen Frau Parzival kurz zuvor eine eigenartige Begegnung hatte, hat ihn erschlagen. Er ist der Bruder Lähelins, der Parzival seine Erbländer geraubt hatte, was der tote Ritter rächen wollte. Die Zusammenhänge dieses Weltgewebes erfährt Parzival und mit ihm der Hörer erst hier. Aber Sigune sagt noch mehr, und zwar sehr rätselhafte, kryptische Dinge, über die im gesamten „Parzival" nichts mehr zu erfahren sein wird: ,ein bracken seil gap im den pin' („eine Hundeleine fügte ihm dieses Leid zu"), und: Jcb bete kranke sinne, daz ich im niht minne gap' („ich war von schwachem Verstand,

Eine Einführung

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daß ich ihm nicht meine Liebe schenkte"). Als letztes sagt sie noch: ,nu minne i'n also töten' - dem Toten will sie ihre Minne geben. Wie sie dies tut, in absoluter triuwe, mit äußerster, fanatischer, tödlicher Konsequenz, das führt Wolfram in drei weiteren Begegnungen vor. Sigune ist wiederum die erste Person, die Parzival nach seinem unglückseligen Besuch auf der Gralsburg in der Waldwildnis trifft. Sie sitzt auf einer Linde, laut klagend. Noch immer hat sie den Toten im Arm, jetzt als einbalsamierten Leichnam. Sie erklärt Parzival die elementaren Zusammenhänge der Gralsburg Munsalvsesche und der Gralsfamilie, seiner mütterlichen Sippe, und sie verflucht ihn, als er gesteht, nicht nach dem Leiden des Gralskönigs gefragt und das Land nicht erlöst zu haben (Pz. 249,11-255,30). Parzival begegnet Sigune zum dritten Mal nach langen Jahren der Gottesferne außer Zeit und Raum. Unwissend ist er abermals in die Nähe der Gralsburg geraten. Die entscheidende Wende, die Parzivals Weg mit der anschließenden Unterweisung in der Klause seines Einsiedler-Onkels Trevrizent nimmt, wird hier eingeleitet. Auch Sigune lebt als Inclusa im Wald, eingemauert in einer winzigen, über dem Grab des Geliebten errichteten Zelle, ernährt nur durch den Gral, von dem ihr die Gralsbotin einmal wöchentlich Speisen bringt. Diesmal erkennt er sie zuerst und klagt ihr seinen Kummer um den Gral. Sie vergibt ihm und zeigt ihm - vorerst vergeblich noch - eine Spur zur Gralsburg (Pz. 435,1-442,23). Parzival wird Sigune noch ein letztes Mal treffen, fast ganz zum Schluß, nachdem seine Berufung zum Gralskönig erfolgt ist, er die Frage gestellt und Anfortas erlöst hat, nachdem er seinen Onkel Trevrizent, den Einsiedler, Frau und Kinder wiedergetroffen hat und seinen Sohn zum König hat ausrufen lassen. Doch bevor er endgültig zum Fest auf der Gralsburg zurückkehrt, will er noch einmal Sigune aufsuchen. Er findet sie tot auf den Knien liegend in ihrer Klause. Man öffnet den Sarkophag unter ihr und bestattet sie neben ihrem einbalsamierten Geliebten Schionatulander (Pz. 804,8-805,2). Sigune ist der sichtbare und markante Kontrapunkt zu Parzival, sie erscheint an den zentralen Abschnitten seines Weges: Er beginnt sein Leben in der Welt, als sie ihr größtes Leid erfährt, er wird Gralskönig, als sie stirbt. Von ihr wird nicht erzählt; sie ist nur als kontrastives Leit- und Gegenbild da, statisch in einer Reihe von bewegungslosen Tableaus, herausgelöst aus dem Geschehensablauf, erstarrt zu religiösen Gebärden von größter Intensität. Die Vorgeschichte dieser säkularen Minne-Heiligen, dieser Ikone radikalster triuwe, beginnt Wolfram im „Titurel" zu erzählen. Nun ist die Nachlieferung von Vorgeschichte schon im „Parzival" ein Erzählprinzip Wolframs (etwa im Falle Cundries oder Orgeluses), erst recht im „Willehalm", wo sich beinahe sämtliche Ereigniszusammenhänge erst allmählich und nachträglich enthüllen und eine unübersichtliche und grauenvoll-fatale Weltgeschichte hervortreiben. Der „Titurel" mag einer ähnlichen Problemkonstellation im Verhältnis von Narration und Reflexion entspringen, ist aber gänzlich anders durchgeführt: Hier wird ein neues, ganz

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

eigenes Werk begonnen, als stünde noch etwas aus, was noch gesagt und ganz anders gesagt werden müsse, als sei eine Ergänzung nötig, die nach dem heiter-ironischen Schluß des „Parzival" mehrfach wie eine Gegendarstellung anhebt, ohne dies wirklich zu sein. Schon die Sigune des „Parzival" ist eine Erfindung Wolframs, die er aus dem einmaligen Auftreten der namenlosen germaine cousine Percevals bei Chretien entwickelt hat (Si-Gu-Ne ist Anagramm von Cou-Si-Ne). Der „Titurel" ist wohl die erste höfische Erzählung der deutschen Literatur, die keine fremde Vorlage hat - auch dies ein Novum. Ist der „Titurel" also weniger Ergänzung und Seitenzweig zum „Parzival" als vielmehr ein ,Anti-Parzival'? Eine Negation des optimistischen Heilsweges? Es mag so scheinen, als habe Wolfram in den Sigune-Szenen schon absichtsvoll Anknüpfungspunkte geschaffen, um später ihre Geschichte ausführlicher zu erzählen. Denn bei allem ikonischen Charakter sind diese Sigune-Szenen schon fragmentarische, skizzenhafte Geschichten, sie haben die Ingredienzen, die auch dem „Titurel" eignen, das, was vielleicht im höfischen Optimismus des „Parzival" im ganzen dennoch zu kurz kam: die tödliche Absolutheit der Minne, die tödliche Konsquenz der triuwe und des Rittertums, Religiosität als Weltabsage, das Schicksal der weiblichen Angehörigen des Gralsgeschlechtes, die beinahe alle mit Trennung und Tod leben müssen. Der „Titurel" beginnt mit einem Abschied, einer Abdankungsrede: Der alte, kranke Gralskönig Titurel - nach ihm wurde das Werk schon im Mittelalter benannt, nach dem ersten vorkommenden Namen, nicht nach den Protagonisten - blickt vor der Gralsgesellschaft zurück auf sein vergangenes Leben als Kämpfer und Minneritter. Er spricht von der scelde, dem Glück und Heil seiner Familie, von den dem Gralsgeschlecht eigenen Tugenden der wären minne, triuwe, kiusche, stcete und hofft, diese zusammen mit der Herrschaft an seinen Sohn Frimutel und dessen fünf Kinder zu vererben. Ein eigentlicher Prolog ist dies nicht, aber es ist programmatisch: Titurel ist als uralter, sagenhaft schöner, weiser Ahnherr und erster Hüter des Grals im „Parzival" schattenhaft, fast geistgleich anwesend. Und Frimutel ist im „Parzival" schon tot, von einer tjoste ...als im die minne dar gebot, „durch einen Zweikampf, wie ihm die Minne befohlen hatte" (Pz. 251,9 f.), wie Sigune dort erzählt. Es sind dies Leitmotive des Werkes: Abschied, Trennung, Tod im Kampf der Liebe wegen. Die erste Figur, von der nun erzählt wird, ist eine Frau: die älteste Tochter Frimutels und Gralsträgerin Schoysiane. Mannbar geworden, werben viele Könige um sie; sie, die Königstochter, aber erwählt einen Fürsten, Kiot von Katelangen. Schoysiane stirbt bei der Geburt ihrer Tochter Sigune, woraufhin ihr verwitweter Mann Kiot zusammen mit seinem mitleidenden Bruder Manfilot dem Rittertum völlig entsagt, seine Länder der neugeborenen Tochter übergibt und fortan als Einsiedler lebt. Der älteste Bruder Kiots, der König Tampunteire, nimmt seine Nichte Sigune an seinem Hof auf, wo sie zunächst zusammen mit seiner Toch-

Eine Einführung

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ter Kondwiramurs (Parzivals späterer Frau) aufwächst. Nun springt der Bericht zur zweiten Tochter des Gralserben Frimutel: Herzeloyde (später die Mutter Parzivals) heiratet in den selben ziten König Kastis. Doch dieser stirbt, noch bevor die Ehe vollzogen ist, und sie erbt seine Länder. Als auch Tampunteire und dessen ältester Sohn stirbt, wird Sigune zu ihrer Mutterschwester Herzeloyde gebracht, der jungfräulichen Witwe, wo sie zu einer stolzen und selbstbewußten jungen Frau heranwächst. Und wieder springt die Erzählung. Die weibliche Protagonistin ist vorgestellt und lokalisiert in ihrer Sippe; ihr gebührte der Vorrang, weil sie aus dem hohen Gralsgeschlecht stammt. Nun kommt es an dirre äventiure herre (39,4), den Helden dieser Geschichte, fürste, aber kein Königssohn. Wolfram verweist hier ausdrücklich auf den Beginn des „Parzival", auf Gahmuret, den Vater Parzivals, auf seine erste Ehe mit der schönen schwarzen Königin Belakane, auf seine undurchsichtigen Beziehungen zur Minneherrin par excellence, der französischen Königin Anphlise. Diese Anphlise nun hatte Gahmuret, als sie ihm die Schwertleite verlieh, einen Knappen mit Namen Schionatulander zur Erziehung übergeben. Gahmuret nahm ihn mit auf seine erste Orientfahrt und brachte ihn wieder mit zurück, und zwar nach Kanvoleiz. Wieso nach Kanvoleiz und nicht nach Frankreich? Eine für das Verständnis elementare Voraussetzung wird von Wolfram hier nicht einmal der Erwähnung wert erachtet: daß Gahmuret nämlich inzwischen Herzeloyde geheiratet hatte und Herr über Kanvoleiz ist. Ganz selbstverständlich ist der „Parzival" hier vorausgesetzt, wieder klingen damit Motive an, die hier nicht genannt werden, doch bedrohlich über der Szene liegen: Auch Gahmuret wird sterben im Kampf als Ritter; Herzeloyde, die Königin, wird auch ihren zweiten Mann verlieren. Auch dieser wird erst durch seine Ehe zum gekrönten König, wiewohl er aus königlichem Geschlecht stammt. So begann die Geschichte Parzivals. Der „Titurel" fügt nur wenig Neues hinzu: Schionatulander ist der Enkel des Gurnemanz, der Sohn seines jüngsten Sohnes Gurzgri, der wegen Schoydelakurte umgebracht wurde, der legendären Minneaventiure aus dem „Erec", dem ersten Artusroman. Im „Parzival" ist Gurnemanz der melancholische ritterliche Lehrmeister Parzivals, der bei dessen Abschied klagt, nun habe er den vierten Sohn verloren - denn die beiden erstgeborenen Söhne waren auch im Kampf gefallen. Von jähem Rittertod und Trennungsleid wird erzählt, noch mehr davon wird als düsterer Hintergrund evoziert. Hier ist ein erster Teil zu Ende, die Genealogien sind entworfen, die Handlung ist in knapp vierzig Strophen über Jahre hingeeilt und hat eine Welt skizziert, die vor allem schon immer als Erzählung da war und deren Zusammenhänge schon vorausgesetzt werden. Nurmehr eine weitere, eine letzte Klammer um diese Grals- und Ritterwelt ist gespannt worden, die Sigune und Schionatulander einander zuführt. Die folgenden neunzig Strophen des ersten Stückes werden beinahe ganz von Dialogszenen regiert. Doch der Einsatz des „Titurel" erfolgt genau dort, wo auch der „Parzival" und der „Willehalm" ihr Sinnzen-

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

trum haben: bei der Sippe. Ohne Umschweife ist sie hier das Thema, aber Thema einer Abschiedsrede, die elegisch von vergangener Heldenzeit und vergangener Kraft spricht. Was bleiben kann, wird als Hoffnung beschworen, als Hoffnung auf erbliches Sippen- und Gralsheil. Doch gerade der art, die Abstammung und Herkunft, kann die scelde nicht mehr verbürgen. Die geschichtsund sippenmetaphysische Providentia-Gläubigkeit, die Hoffnung, daß aus dem Gralsgeschlecht ein neuer Erlöser hervorwachsen wird, die sich im „Parzival" schließlich doch noch gegen alle Widerstände erfüllt, wird auch hier beschworen, doch trägt sie die Zeichen des nicht mehr Gültigen. Steht schon am Anfang des „Titurel" ein Widerruf des „Parzival"? In Titurels Rede fällt auch jenes Wort, das als ein Leitwort des Textes begriffen werden kann: wäre minne mit triwen (4,4). Doch auch dies Programm wird sogleich dementiert. Man hat das, was auf die Rede folgen wird, treffend einen ,Katarakt des Leides' genannt. Alles, was erzählt wird, wird schon immer vom tödlichen Ende her erzählt, die eine Geschichte der Sigune und mit ihr unzählige andere zugleich, die alle im Tode enden. Nicht mehr der Weg eines Helden oder einer Heldin kann hier, wie die Prätexte des Artus- und Gralromans es konzipieren, zum Erfahrungsraum eines mitgehenden Hörers bzw. Lesers werden. Die absolute Negativität des Heldenlebens macht Erfahrung qua Mitleben unmöglich: Es werden hier keine Wege mehr erzählt, sondern nur noch Stationen benannt und Bilder skizziert, erinnerte, geronnene, dem Erzählen als Hüllen verfügbar gewordene Versatzstücke aus der Welt des Grals und des Minnerittertums. Titurel beschwört die Hoffnung, daß seine Nachkommen wäre minne mit triwen erben und auf immer weiter vererben werden; doch mit dem Vorwissen des „Parzival" erscheinen diese eher als Tantaliden denn als scelde-vtrwöhnte Gralskinder: Anfortas, das personifizierte Leiden; Trevrizent, der Einsiedler, der sich in Schmerz und Buße ganz vom Ritterleben abgewandt hat; Schoysiane, die einzige, die den Gral einst berühren durfte und bei der Geburt der Tochter, die ein weltabsagendes Martyrium durchleben wird, gestorben ist; Herzeloyde, die zwei Männer verlor und selbst an der Trennung von ihrem Sohn stirbt. Allein Repanse de schoye bleibt, die Jüngste. Parzival, die Hoffnung, wird hier gerade nicht erwähnt. Im „Parzival" ist die Geschichte desjenigen, der am Ende vom Leid erlösen kann, wesentlich auch die Geschichte desjenigen, der Leid schafft, die Geschichte auch der Verhältnisse und Geschicke, die Leid hervorbringen. Hier im „Titurel" sind Leid und Vergänglichkeit zum Gegenstand selbst geworden, angesichts dessen alle epische Entfaltung unangemessen wird. Der Gral, die Sippe wird als unbelebte Kulisse, als vorhandenes Requisit aufgeboten. Gegenstand schildernden Erzählens ist beides nicht mehr. So steht auch der Lobpreis des Erzählers auf das erwählte Gralsvolk und seine segensreiche Tätigkeit in der Welt eigentümlich isoliert und abrupt am Übergang zur Erzählung von der Kinderminne (Str. 44-46). Der Erzähler unterbricht gegen jede er-

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zählerische Ökonomie und konsequent bis zum Äußersten die epische Entfaltung. Denn was die Erzählerstimme, ähnlich wie Titurel, nun aber im Register des hymnischen Erzähler-Exkurses, beschwört, scelde und triuwe, ist mit dem Geschehen und der Geschichte nicht zur Deckung zu bringen: Sigune findet keine Geborgenheit in dieser Sippe; der sämen, der mit Sigune und Herzeloyde in die werlt gescet ist, wird berbaft („trägt Früchte"), indem er Leiden und Tod gebiert. Oder gilt das Loblied auf die triuwe, die von den Gralstöchtern in Kanvoleiz ausgeht, einer von beiden später gelebten wären minne mit triuwen, die dann aber auf radikale Verneinung der Ritterwelt zielt? Erzählt wird davon hier gerade nicht. In dieser ruinenhaften Welt, die immer schon da ist als erinnerte und evozierte, sind die Figuren an ihr Sippenschicksal und ihr Rollenschicksal gekettet. Sie haben keinen Handlungsraum, und Handlung wird nicht erzählt; ihr Geschick ereignet sich und zwar als fortgesetztes Desaster. Und dieses Desaster hat seine perpetuierten und variierten Leitmotive, die gewaltige Horizonte aufreißen, sie nur andeutungsweise explizieren, in deren Schnittpunkten aber stets Sigune steht: Der gewaltsame und plötzliche Ritter- und Frauentod (Schoysiane, Kastis, Gurzgri, im „Parzival" Gahmuret, Schionatulander, Herzeloyde - alle im „Titurel" erzählten oder auch nur angedeuteten Liebesgeschichten enden tödlich, mit Ausnahme der Geschichte von Clauditte und Ehcunat; aber wie diese endet, ist gerade offen, denn sie steht auf dem entschwundenen Brackenseil); Abkehr von der ritterlichen Welt (Kiot, Manfilot, im „Parzival" Trevrizent, Herzeloyde und Sigune); Trennung (Sigunes Jugend ist eine Geschichte der Trennungen, getrennt von Mutter und Vater, dann Onkel und Milchschwester; ihre spätere Liebe ist von Trennung und Tod gekennzeichnet); nicht gelebte Ehen und Liebesbeziehungen (Herzeloyde und Kastis, im zweiten Fragment Florie und Iiinot, dann Sigune und Schionatulander); weibliche Partnerwahl unter Stand (Schoysiane und Kiot, Herzeloyde und Gahmuret, Sigune und Schionatulander, im zweiten Fragment Clauditte und Ehcunat). Ist mit dem letzten Motiv ein Moment weiblicher Selbstbestimmung gegenüber genealogischen, gesellschaftlichen und herrschaftlichen Zwängen in den Blick geraten, eine Utopie von Minne als Selbstbestimmung? Der zweite Teil des ersten „Titurel"-Fragmentes hat mit dieser Frage zu tun. Zwischen Sigune und Schionatulander, die in Kanvoleiz zusammen aufwachsen, keimt frühe Liebe. Der Erzähler klagt vorausdeutend: Owe des, si sint noch ze tump ze solher angest (48,1), und: Owe, minne, waz touc din kraft under kinder? (49,1) - „O weh, sie sind doch noch zu unerfahren für solche Nöte! ... Ο weh, Minne, zu was ist es gut, daß du deine Macht auf Kinder richtest?". Aber zugleich preist er diese Liebe auch: wan, swä diu minne in der iugent ergriffen wirt, diu wert aller langest! (48,2) - „Denn die Liebe, die in der Jugend ergriffen wird, währt am längsten". Er nennt es magetlicbe minne (37,4) und kintliche minne (52,4), jungfräuliche Liebe, Kinderminne. Ist es eine Minne, die unreif

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ist, Liebe zwischen törichten Kindern? Soll dies die Begründung für das unheilvolle Schicksal sein, das dieser Liebe beschieden ist? So jung sind sie wohl gar nicht, nicht mehr Kinder in unserem Sinne: Schionatulander ist Knappe, der sich im Rittertum übt (vgl. 90/91); Sigune ist zur jungen Frau herangereift (vgl. 36,2), also nicht jünger als vielleicht 14 Jahre, was im Mittelalter zumindest bei Frauen für eine Verheiratung kaum ungewöhnlich wäre. In einem langen Dialog zwischen beiden führt Wolfram in den Rollen der sich umständlich und prätentiös die Liebe gestehenden Jugendlichen die Macht und Vielgestaltigkeit der Minne vor. Sigune, ganz Minnedame, verlangt schließlich ritterliche Bewährung vor der Minne. Alsbald folgt die Trennung: Schionatulander fährt als Knappe Gahmurets abermals in den Orient. In zwei kurzen Trennungsszenen zwischen Sigune und Schionatulander und Herzeloyde und Gahmuret schürt der Erzähler die dunkelsten Ahnungen und greift voraus auf die Zukunft, wie sie sich im vielleicht eindringlichsten Bild des „Parzival" verdichtet hat: Niemals noch habe man von Mädchen, Frauen oder Männern gehört, die sich inniger liebten, des wart sit Parzival an Sigune zer linden wol innen (78,4) - „Das wurde Parzival später an Sigune auf der Linde deutlich gewahr." Formuliert ist das, als ob Sigune auf der Linde nur für Minne und triuwe stünde; sie steht aber wesentlich auch für Gewalt, zerstörtes Leben und Tod. Und was es mit jener bevorstehenden Orientfahrt auf sich hat, daran ist man spätestens jetzt erinnert: Gahmuret wird in der Fremde sterben, Herzeloyde wird dem königlich-höfischen Leben entsagen, Parzival vaterlos aufwachsen und an küneclicher fuore betrogen, „um königliche Behandlung und Lebensart betrogen" (Pz. 118,2). Getrennt voneinander und liebeskrank, vertrauen sich die Beiden jeweils ihren älteren Erziehern an - Eltern haben sie ja beide nicht - , suchen Rat und bekommen schließlich jeweils eine gleichsam halböffentliche Erlaubnis ihrer Minnebeziehung von den für sie entscheidenden gesellschaftlichen Instanzen. Epischer Bericht fehlt hier nun völlig, Raum und Zeit werden nebensächlich. Gahmuret, der Liebeserfahrene, erkennt irgendwo auf dem Wege an Schionatulander die Zeichen und Spuren der machtvollen Minne und sagt ihm Trost, Hilfe und verwandtschaftliche Solidarität zu. Sigune leidet zu Hause, an dem Ort, an den höfische Frauen nach literarischer Konvention gefesselt sind, wenn sie verlassen werden, sie vertraut sich in einem spiegelbildlich inszenierten Gespräch Herzeloyde an. Diese vermutet zunächst, erstaunt von den versierten Reden und Gesten ihrer Nichte, eine intrigante Verführung durch ihre Nebenbuhlerin Anphlise, willigt aber dann doch in die Minnebeziehung ein, bestärkt Sigune und gibt ihr Hoffnung. Damit endet das erste „Titurel"-Stück. Sigunes Klage enthält eines der schönsten Liebeslieder, die man in der mittelhochdeutschen Literatur finden kann (Str. 122-124). Die lyrische Verfaßtheit von Wolframs „Titurel"-Strophe zeigt sich an diesen, die Frauenklagen des frühen Minnesangs reflektierenden Versen in aller Deutlichkeit. So virtuos und vollendet diese aber in ihrer lyrischen Sprache sind, so konventionell sind sie in

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ihrer Bildlichkeit, in ihrem Metaphernreservoir: Minne ist Krankheit, süßer Schmerz, gewaltsames Ausgeliefertsein, dumpfe Trauer, hoffende Sehnsucht. Noch in dieser todesverfallenen Welt feiert der Erzähler die Minne wie kaum je zuvor. Aber kann dies noch eine positive utopische Kraft haben? Offenbar benutzt Wolfram die von ihm so beziehungsvoll in die epische Welt hineinkonstellierte ,Kinderminne' dazu, die Spannung zwischen emotionaler Intensität und dem rechten Umgang mit derselben auf das Äußerste zu steigern. Es sind dies Spannungen, denen beileibe nicht nur die Kinder ausgesetzt wären, sondern die vermittelst ihrer Unerfahrenheit und ihrer Orientierung an mittne von mceren (68,1), an „Minne vom Hörensagen", am radikalsten zur Darstellung zu bringen sind, und zwar als Versuche sprachlicher Domestizierung der als wild und gefährlich erfahrenen Minne. Der Text samt seinen zitierten Prätexten und der Erfahrungsraum der Figuren, ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Sippen ist voll von Mustern für die Liebe. Es sind Muster, die schon immer dagewesen, konventionell, tödlich sind. Die sich überstürzenden Allegorisierungen des Minnegesprächs (56-72), die eingebettet sind in höfisch-formelles Sprechen und in deren Mitte das hervorbrechende Liebesgeständnis wie eingemauert erscheint, sind mit kinderpsychologischen Subtilitäten oder als fatal frühreife Altklugheit unzulänglich erklärt. Exponiert wird hier vielmehr das Reden über die Liebe als sprachliches Problem. Die vielfältigen, sich widersprechenden Metaphern, Topoi und Allegorien - Minne als Puppe, als Falke, als Jägerin, als Diebin, als blind waltende Fortuna - bringen keine konsistenten Bilder und Erklärungsmuster mehr hervor, sondern heben sich gegenseitig auf. Die suggestiv, pseudo-logisch und pseudo-spontan, aber kaum mehr wirklich sinnstiftend miteinander verbundenen diversen Sprach- und Handlungsmuster legen sich gegenseitig in ihrer abgründigen Konventionalität und aporetischen Begrenztheit bloß und offenbaren die Antinomien und Defizite des höfischen Minnediskurses. Schon als Sigune zu jenem Ort aufbricht, an dem ihre Liebesgeschichte beginnen wird, sagt sie zu ihrem Vater, der sein Einsiedlerdasein unterbricht, nur um sie von ihrer Spielgefährtin und Milchschwester Kondwiramurs und dem gestorbenen Pflegeonkel zur verwitweten Pflegetante zu bringen: ,du hayss mir gewinnen mein schrein vollen tocken ... .so bin ich zu der ferte wol berichtet, es lebt manig rittet, der sich in meinen dienst noch verphlichtet (30) - „laß mir meine Truhe voll mit Puppen bringen . . . . Dann bin ich zu der Reise gut gerüstet. Es gibt viele Ritter, die sich noch in meinen Dienst verpflichten werden." Der Minne-Bewährungs-Dienst gerät sprachlich und faktisch zum Puppenspiel. Es ist beides: Kompensation von Trennungserfahrung und zwanghafte Dominanz des gesellschaftlichen Verhaltensmusters, als tödliches präsent in der Sippengeschichte und unerbittlich grausames Telos dieser einen Liebesgeschichte. Und diese Muster üben einen riesigen Zwang auf die Figuren aus, dem nicht zu entkommen ist.

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Den Figuren bleibt Minne ein Rätsel - und dem Erzähler? Spricht er zusammenhängend, konsistent über Minne? Im Minneexkurs, der den epischen Bericht gerade dort durchbricht und endgültig zerstört, wo von der,Kinderminne' erzählt werden soll, führt die heillose Überdeterminierung der Deutungsmöglichkeiten von Minne, das volle Ausschöpfen des sprachlichen Reservoirs jeden Anspruch auf Deutung des epischen Geschehens ad absurdum (47-52). Der Erzähler gibt dem Hörer und Leser alle Mittel und Möglichkeiten zur Sinnvermittlung an die Hand, aber gerade dadurch, daß es so viele und so widersprüchliche sind, gerät auch die Erzähler-Reflexion zur planvollen Verweigerung von strukturierendem

Erzählsinn: minne, du bist alze maniger slahte! / gar alle schribaere künden nimer volschriben din art noch din ahte (49,3-4) - „Minne, du bist allzu verschiedenartig: Alle Schreiber der Welt zusammen könnten deine Abkunft und eigentümliche Beschaffenheit niemals ganz genau beschreiben." Dies ist der konventionellste aller Gemeinplätze, der sich zur Minne heranzitieren läßt - und auf ihn folgt schroff die völlige Verrätselung, eine jeden festlegbaren Sinn desavouierende Mischung aus dämonisierten, religiösen, libidinösen Aspekten der Minneproblema-

tik: Sit daz man den rehten münch in der minne / unt och den wären klosencere wol beswert, sint gehorsam ir sinne, / daz si leistent mangiu dinc doch küme. / minne twinget riter under helme. minne ist vil enge an ir rüme (50). Zu übersetzen ist dies nicht mehr, kaum noch zu verstehen, so dicht, unverbunden und eigenwillig werden hier diverse Bedeutungsschichten der Minneproblematik enggeführt. Die Erzählerrede ist nicht eine sich nachvollziehbar entwickelnde, auf einen zugrundeliegenden Sinn beziehbare Reflexion, sondern eine sich selbst generierende, sich spiralförmig fortschraubende Reihe von sich verschiebenden und übereinander geblendeten Bildern, Topoi und Vorstellungen, oft bloß assoziativ, suggestiv und oft unvorhersehbar miteinander verknüpft und nur noch in ihren Stationen, nicht mehr in ihrem Zusammenhang beschreibbar: die liebenden Kinder (47,1) - Jugendlichkeit (47,3) - Minnefesseln (47,4) - Enge (48,1) - fehlende Kraft der Kinder (48,4) - Kraft der Minne (49,1) - Vielgestaltigkeit der Minne (49,3-4) - vielfache Wirkung der Minne (50,1-3) - Wirkungsort der Minne (50,4) - Ubiquität der Minne (51,1-3) - Grenzen der Minne durch zwifel (51,4) - Minne äne ztvifel (52,1) - die liebenden Kinder (52,4). Dieses kreisende Zugleich-Erzählen konstituiert die eigenartige Poetik des Textes: Der prekären inhaltlichen Überdeterminierung aller Handlungs-, Reflexions- und Dialogmomente mit ihrer offenen Potentialität von Beziehbarkeit und Sinn entspricht eine artifizielle, hyperkomplexe Strophenform voller Enjambements, Stockungen, Brüche, Sprünge und syntaktischer Verdrehungen. Die sprachlich virtuos vorgeführten Dimensionen der Minne werden erzählerisch gerade nicht entfaltet. Nicht ein erzählbares Handlungskontinuum stiftet mehr Sinn, sondern nurmehr das Gewebe des Zugleich schon erzählter Geschichte, schon vorhandener Bilder und Gesten, deren Implikationen und Bedeutungen an den entscheidenden Stellen zusammenschießen in eine sprachlich und gedanklich bis zur Unverständlichkeit kondensierte Form.

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Wenn es einen dominanten Grundton gibt, der durch all die verwirrende Vieldimensionalität hindurch vernehmbar bleibt, so ist es die absolute Gefährdung der Gesellschaft und des einzelnen durch Minne, die Gefährdung auch und gerade des Gralsgeschlechts, der erweiten, die imer wäre minne mit triwen erben sollen. Das aber liegt sichtlich weit jenseits der Handlungsspielräume der Figuren. Abermals scheint es so, als hätten die Figuren, denen in diesem zweiten Teil des ersten „TitureP'-Fragments so vieles in den Mund gelegt wird, gar keine Freiräume, als seien sie allesamt präexistenten Handlungsmustern und überpersonalen Geschicken unterworfen. Und doch war die Erzählung offenbar von jenem im „Parzival" unkommentiert stehengebliebenen Wort Sigunes initiiert worden ,ich bete kranke sinne, daz ich im niht minne gap'. Ist dies nun die Geschichte, die erzählt, was Sigune falsch gemacht hat? Können die Figuren in dieser „Titurel"-Welt noch falsch und richtig agieren? Es ist vielleicht das, was Wolframs Text dementiert: daß der Text noch Sinn und Bedeutung in die höfische Ideologie hineintragen könnte, daß es am Ende doch noch eine handlungsförmige, eine heilsgeschichtliche Lösung für das Problem von Minne, Bewährung und gotes hulde gäbe. Vielleicht gibt es nicht einmal mehr eine erzählerische Lösung dafür. Davon handelt das zweite Fragment. Das wesentlich kürzere zweite Fragment gibt eine epische Szene wieder, die ganz anderer Art ist als die Tableaus des ersten Stückes: detailreich ausgemalt, stellenweise von erstaunlichem Realismus und frappierender Naturwahrnehmung. Sigune und Schionatulander lagern im Walde, in einer paradieshaft anmutenden Idylle - man weiß nicht wo oder wie, aber anscheinend ist Schionatulander im Gegensatz zu Gahmuret heil aus der beidenschefte zurückgekehrt, die Liebenden sind zusammen, doch noch nicht als wirkliches Paar, wie sich herausstellt, da am Ende erst die entscheidende Minnebewährungsaufgabe formuliert wird. Ein fremder Jagdhund, der sich losgerissen hatte, kommt laut bellend angejagt, Schionatulander fängt ihn ein und bringt ihn Sigune. Am Halsband und an der Leine des Hundes findet sich eine Schrift, zusammengesetzt aus aufgenähten Edelsteinen. So akribisch und ausführlich die Konstruktionsweise der Leine auch beschrieben wird, so wenig läßt sich eine anschauliche Vorstellung über sie gewinnen. Zwölf Klafter, über zwanzig Meter lang sei sie, was für die vom Pferd herab benutzte Leine eines Leithundes nicht irreal ist, aber zusammen mit dem Gewicht und der Dicke der Edelsteine eben doch. Auf dem Halsband steht der Name des Hundes: Gardeviaz, zu deutsch ,Hüete der verte' (148,4). Und es steht noch mehr auf der Leine, eine oder auch mehrere Liebesgeschichten. Der Hund ist ein Bote, seine Leine ein Brief, den eine gewisse Clauditte an ihren Geliebten Ehcunat gesandt hatte, dem der Hund aber am Morgen jenes Tages entsprungen war. Nachdem Sigune den Anfang gelesen hat, will sie weiterlesen und muß dazu die Leine aufknoten, mit der man den Hund an einer Zeltstange festgebunden hat. Der Hund reißt sich los, die Leine

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saust durch Sigunes Hände, die von der Diamantenschrift blutig gerissen werden, und der Hund entflieht samt Leine in den Wald. Schionatulander, der sein beschauliches Angeln unterbricht und ihm durch das Dickicht nachsetzt, kann ihn nicht einfangen. Er kommt völlig zerschunden, blutend auch er, zum Zelt, wo sie ihm eröffnet, daß sie auf jeden Fall die äventiure auf der Leine zu Ende lesen müsse - alles, was sie sei und habe, ihre Herrschaft, ihr Land, ihre feudale Existenz sei ihr demgegenüber gleichgültig. Sie erklärt den Erwerb der Leine zur ultimativen Minnebewährungsprobe für Schionatulander und er willigt ein. Damit endet der überlieferte Text. Die Erzählung schlägt in diesen Strophen Haken wie kein Text der mittelalterlichen Literatur, Haken wie der schellec hase des „Parzival"-Prologs, wie der Hund, der durch den Wald rennt. Der Text ist voll von Vorausdeutungen, Andeutungen, Vorwegnahmen, Rückverweisen; er nennt ein Detail und trägt das, was man zum Verständnis unbedingt wissen muß, erst später nach; er setzt Erzählung voraus und macht Anspielungen, denen zu folgen und die zu identifizieren schwerfällt; er wirft Fragen auf und gibt keine Antworten. Der Ort der Szene (die Waldlichtung am Bach mit Zelt und begleitenden Kammerfrauen) wird erst allmählich sichtbar; die Aktionen bleiben bei allem punktuellem Nahblick irritierend unscharf (sowohl von Schionatulander als auch dem Bracken bleibt stets undeutlich, wohin sie sich bewegen, was sie zu tun beabsichtigen und was genau sie tatsächlich tun); die Erzählgegenwart wird permanent durchmischt mit Reflexionen auf Vergangenes und Zukünftiges; Personen werden durch Pronomina oder Umschreibungen eingeführt, lange bevor man weiß, um wen es sich handelt. Die gebrochene, sprunghafte Erzählweise setzt sich bis in die Syntax und Wortbildung hinein fort: Sätze bleiben offen, Satzteile finden keinen Anschluß, überlange Parenthesen, überkomplizierte grammatische Konstruktionen drohen, die Satzgefüge zu zerschlagen, gesuchte Neologismen und elliptische Metaphern zelebrieren eine Bildlichkeit, die sich funktionaler Anschaulichkeit sperrt. Zusammenhängendes Geschehen wird hier ebenso gebrochen wie die vielfältigen Erklärungen, die der Erzähler für den Gang der Dinge in unverbundenem Zugleich anbietet. Sie strukturieren das unübersichtlich erzählte Geschehen gerade nicht, sondern schaffen eine Perspektivenvielfalt, die sich als experimentelles, selbstreflexives Rekonstruieren verschiedener, nebeneinander stehender Versionen des Geschehens liest. Solches Konstruieren von widersprüchlichem Sinn kennzeichnet auch die Auslegungen des Hundes und seines Namens. Hüete der verte: Das ist eine moralische Sentenz mit Aufforderungscharakter, ein Programm zur höfischen Lebensführung, und so steht es auch auf dem Halsband: ,man unt wip die hüeten verte schone! / die varent hie in der werlde gunst, unt wirt in dort scelde ze lone.' (149,3-4). Diese erste Auslegung des Hundenamens bietet die allgemeinste, konventionellste und formelhafteste Lebensmaxime, die sich denken läßt: Wer seinem Weg treu bleibt und auf ihn achtet, der erwirbt die Gunst der Welt und

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Lohn im Himmel. Doch die zweite Strophe, die anhebt, dies zu ergänzen, ist in höchstem Maße eigenwillig, gesucht und schier unverständlich: ,swer wol verte hüeten kan, des pris wirt getragen ttimer veile. / der wonet in lüterem herzen so gestarket, / daz in nimer ouge übersihet üf dem unstceten wenkenden market.' (150,2-4). Die Ambiguität der Vokabeln und Metaphern (der pris als Warenwert und Ruhm; der market als Handelsplatz und Lebensmetapher; das herz als Wohnort der Person und innerster Bestandteil der Person; das Changieren von übersihet zwischen ,übersehen' und verschmähend darüber hinwegsehen') läßt die Aussage der Verse so verschwimmen, daß ein Sinn allenfalls geahnt werden kann. Und was heißt ,hüete der verte' für die Handlung? Der Hund wird entspringen und jagen nach huntwildes verte (161,4), denn auch der Hund phlac der verte, als er von arte solte (158,3)! Das ist die Fährte, die er hütet, wie es seiner Art, seinem Erbe, seiner Sippe entspricht: die Blutspur, auf der er jagt und tötet, die Spur, die ihm sein Instinkt und sein art weist und nicht die höfische Domestizierung, aus der er sich zweimal um der Fährte willen befreit. Und so, wie schon am Anfang plötzlich der Hund auf Schionatulander zujagt, als wäre dieser die Beute, so wird sich der Held beim Jagen des entspringenden Hundes die Beine so blutig reißen, daß es heißt, man kos in, baz danne daz erschozen tier, wunden (166,3) - „man konnte ihn wahrnehmen und erkennen, verletzt wie er war, besser noch als ein angeschossenes Wild." Jäger und Gejagter werden austauschbar, denn wie Schionatulander den Hund und den Text der Leine jagt, so jagt der Hund, der Todesbote, auch ihn. Er fängt nicht bloß einen Hund, sondern gefurrierten kumber mit arbeit ... unt imer mere gröz kriegen et nach strite (143,2-3), „mit Mühsal gefüttertes Leid" und die Notwendigkeit zu andauerndem, zunehmendem Kampf. Und dieser Hund, die Personifizierung seines Unglücks, der fleischgewordene Tod, ist zugleich Allegorie der Lebensmaxime hüete der verte, nach der er selbst benannt ist und die er als Text auf dem Körper trägt. Doch außer dem Namen und der eigenartigen Auslegung steht offenbar noch mehr auf Halsband und Leine: Hund und Leine wurden einem Fürsten von einer jungen Königin aus Liebe geschickt. Sigune liest, wer was diu künginne unt ouch der fürste: diu stuonden bekantlich da beide (151,4), sie kann lesen, wer die beiden sind. Soll das heißen, daß sie hier von den beiden noch mehr liest als das, was indirekt berichtet ist? Wir, die Leser, können nichts Weiteres lesen. Dafür wissen wir schon, daß der Hund dem Fürsten, bei dem er zunächst offenbar angekommen war, entsprungen ist (141,1), was Sigune nicht weiß. Der Erzähler fährt fort, indem er nun in einem wilden Haken von einem anderen Paar berichtet, von Florie, der Schwester jener bisher namenlosen Senderin des Hund-Briefes, und ihrem Geliebten Iiinot, dem Sohn des Königs Artus. Florie hatte ihrem Geliebten gar swaz si hete, wan bi ligende minne (152,3), „alles was sie hatte, außer der körperlichen Liebesvereinigung" geschenkt; Iiinot starb nach ir minne (153,1), „in ihrem Minnedienst" im Lanzenzweikampf, sie

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selbst starb auch an diesem Zweikampf, doch ir lip nie spers orte genähte (153,4), „obwohl sie nie mit einer Speerspitze in Berührung kam", aus Schmerz also über den Tod des Geliebten. Die Parallelen zu Sigune und Schionatulander sind mehr als deutlich. Doch das kann nur der Kenner des „Parzival" sehen, nicht die Figur Sigune, denn sie kennt ja ihre eigene Zukunft nicht. Identifiziert sie sich dennoch, ahnt sie Parallelen und sieht sie Warnungen? Aber worin bestünden die von ihr wahrnehmbaren Parallelen zu diesem Zeitpunkt? Daß hier auch eine Frau von ihrem Geliebten vor Gewährung letzter Liebeserfüllung Minnedienst verlangt? Doch dies ist mehr als konventionell. Der Erzähler suggeriert durch die Einführung dieser beziehungsreichen Abschweifung, daß hier der Grund für Sigunes späteres Verlangen nach der Leine zu sehen sei - indes ist völlig unklar, ob diese Geschichte überhaupt auf dem Seil steht, oder ob dies nur der Erzähler berichtet. Der Erzähler mischt sich hier selbst, wie auch an anderen Stellen und wie auch in der nun folgenden Liebesgeschichte, in den Bericht ein, verflucht die Hand, die die tödliche Lanze gegen Iiinot führte (153,2-3), kommentiert Namen und spricht das Publikum an (157,3-4). Dies kann schwerlich eine genaue Wiedergabe des Briefes auf der Hundeleine sein. In einem abermaligen Haken springt der Erzähler jetzt zurück zu jener zuerst erwähnten Schwester, der Senderin des Briefes. Hier erst wird sie namentlich genannt: Sie heißt Clauditte und erbte von ihrer Schwester Florie als unverheiratete Frau die Krone. Da das von ihr geerbte Land einen König, einen Mann als herren braucht, hatte sie auf Drängen ihrer Fürsten einen Hoftag einberufen, auf dem sie sich einen Mann wählen sollte. Sie erwählte sich einen Herzog, Ehcunat de Salfäsch Florien, „Ehcunat von der wilden Blume", den sie schon zuvor in ihrem Herzen trug. Dies ist wiederum eine Geschichte, die bedeutsame Parallelen zu Sigune und manifeste Hinweise zu einer möglichen Identifikation enthält, denn darum scheint es zu gehen: Eine Königin erwählt sich einen rangniederen Fürsten aus freien Stücken zum Geliebten, so wie die Königs- und Gralstöchter Schoysiane, Herzeloyde und Sigune die Fürsten Kiot, Gahmuret und Schionatulander wählten und der Minne folgten. Ist das mit verte hüeten gemeint? Von Clauditte wird ganz ausdrücklich gesagt, daß sie wiplicher verte hüeten wolte (158,4). Aber steht nun all dies auf der Leine? Von dieser Jungfrau Clauditte las Sigune auf dem Seil, heißt es (155,1), aber was genau sie liest, bleibt undeutlich. Sollte denn wirklich auf der Leine die Geschichte derjenigen stehen, die selbst Senderin und Empfänger des Briefes sind, die der Mitteilung dieser Geschichte also gar nicht bedürfen? Warum sollten sie sich einen solchen Brief senden? Wolfram nennt einen Grund, aber die Begründung ist bizarr: Sit er von der wilde hiez, gegen der wilde / si sante im disen wiltlichen brief, den bracken, der wait unt gevilde / phlac der verte, als er von arte solte (158,1-3) „Weil er nach der Wildnis (der Wildheit?) hieß, sandte sie ihm in die Wildnis diesen wilden Brief, den Bracken, der durch Wald und Felder auf der Fährte blieb, wie es seine Art war." Begründung gehorcht keiner kausalen Logik mehr,

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sondern ist Assoziation zu dem sprachlichen Versatzstück der wilde, das Zusammenhänge suggeriert, aber gerade nicht mehr benennt: wilde ist der Geliebte, der siner verte phlac (156,4), wilde der Hund der in genau der gleichen Formulierung der verte phlac (158,3), wilde ist der Brief, die Mitteilung, wilde ist der Ort, in den hinein der Brief gesandt wurde, und wilde auch der Ort, an dem Sigune und Schionatulander lagern. Im ersten Fragment war der Falke wilde, als den Sigune sich die schwer zu domestizierende Minne imaginierte (64,4), wilde waren Sigunes Gedanken, die der Geliebte in Fesseln legt (121,4), verwildet war dem alternden Titurel die früher erlebte Minne (3,1). Das dichte, über den ganzen Text gespannte Netz der Zeichen, Spiegelungen, Anspielungen, Parallelen konstruiert auch hier keine eindeutigen Zusammenhänge. Doch ist dies weniger bare Destruktion von Sinn als vielmehr die Schaffung eines offenen, vieldimensionalen, faszinierenden Raumes von Sinnpotentialen: Denn gerade durch die Verunklarung des festlegbaren Inhaltes jenes eigentümlichen Briefes macht der Erzähler den in der wilde und ungeverte (165,3), der Unordnung und Unwegsamkeit sich entziehenden Text zum Objekt des Begehrens, für den Leser und wohl auch für die Leserin Sigune. Das Brackenseil ist ein Text, der ganz gelesen werden will, weil er unvollständig gelesen wurde; ein Text, von dem nicht klar ist, was er bedeutet, und von dem zu befürchten steht, daß das, was eigentlich gelesen werden will, gar nicht in ihm steht, und somit die erwarteten Bedeutungen und Beziehungen des Textes auf das Leben nichts anderes als die Projektionen der begehrenden Leser sind. Zur Identifikation können die beiden hier vorgeführten Liebesgeschichten Sigune nicht dienen, allenfalls als Spiegelmodelle für den Leser des „Titurel", der mehr weiß als die Heldin. Dadurch, daß der Hund diese Moralsentenz desavouiert, wenn er nach ihr handelt, indem er sich aus dem höfischen Bezirk losreißt und der blutigen Fährte des Wildes nachläuft, bildet er die den gesamten Text und besonders das zweite Stück prägende Dichotomisierung von Kultur und Natur ab. Unhöfisch ist der Ort des Lesens, obwohl mit Kammerjungfrauen und Zelt, unhöfisch der alleine jagende Hund, wenig höfisch das Angeln mit nackten Beinen im Bach. Ebenso scheint auch Ehcunat der wilde in der Wildnis von prekärem Status: Seine mit bloß fragmentarischer Geschichte, aber einem bedeutsamen Namen versehene Existenz spiegelt ein letztes Mal, wie sehr der emanzipatorische Impetus der selbstgewählten Minnebeziehung in Spannung tritt zu den konventionalisierten, besprechbaren Regeln höfischer Kultur und Domestizierung. Der Hund, der nach der Moralsentenz heißt, der sie als Schrift mit sich führt und sie vorlebt, scheint wie eine Allegorie der ,Condition courtoise': Die Unmöglichkeit des Ausbruchs aus den Mustern und aus der Sprache der höfischen Kultur ist zugleich gesehen und gesetzt mit der Notwendigkeit, die Grenzen dieser Kultur zu überschreiten, da sie permanent und zwangsläufig, Leid, Trennung und Tod produziert.

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Im zweiten Fragment tritt die Allegorie an die Stelle des epischen Erzählens, ähnlich wie im ersten Stück die Requisiten, Metaphern und Sprachgesten. Aber gerade eine Allegorie, die ein manifester Sinn des Textes wäre, geben der Hund und seine Leine nicht mehr her, zu unklar und widersprüchlich sind die Allegoriesignale. Auch die Allegorie bleibt am Ende Behauptung, Prätention, auch ihr verweigert der Erzähler konsistenten Sinn und kommensurable Bedeutung; die Sinnmitte bleibt leer und wird vom Text gerade nicht ausgefüllt. In jener Szene, die auf das Lesen der Sigune folgt, ist das virtuos zur Sprache gebracht: Schionatulander steht in idyllischer Szene mit nackten Beinen im Bach und angelt, und noch bevor erzählt wird, was gleich passiert - Sigune wird die Hundeleine aufknoten und der Hund entfliehen - , heißt es: Scboynatulander mit einem vederangel / vierte äschert und vorhenne, die wile si las, unt der fröude den mangel/ daz er sit wart vil selten der geile (159,1-3). Forellen und Äschen fängt er mit seiner Federangel, den Bracken und die Leine wird er gleich fangen wollen, und das wird ihm Kummer bereiten. So der erste Sinn, den uns der Text nahelegt - doch hier steht gerade nicht „er fängt sich Kummer ein", sondern daß er „Mangel" fängt. Ein nicht Vorhandenes aber, einen Mangel kann man nicht fangen, das ist sprachlich auch als Metapher widersinnig: Wer ein Nichts fängt, fängt eben nichts. Aber genau darin stimmt die pseudo-metaphorische Vorausdeutung wieder: denn er fängt zwar Fische, aber er wird sonst gerade nichts fangen, keinen Hund, keine Leine, keinen Text. Und indem er nichts fängt, fängt er ein Nichts, den Mangel. Der bildlich-metaphorischen Sprache erwächst gerade in ihren Dissonanzen und in ihrer Unzulänglichkeit ein Sinnpotential, das jenseits eindimensionaler Entsprechung von Vorausdeutung und Geschehen, jenseits eindeutiger Beziehbarkeit von sprachlichen Zeichen auf die Dinge liegt. Der kommensurable, der,ganze' Sinn, nach dem sich der Leser sehnt und als dessen Begehren wohl auch Sigunes absoluter und fataler Anspruch nach der Gewinnung des ,ganzen' Textes zu deuten ist, gilt zumeist den Projektionen aus dem „Parzival", aus dessen weitem epischem Horizont das als fehlend und fragmentarisch Empfundene ergänzt werden soll. Wolfram hat hier deutliche Warnsignale gesetzt: Noch im letzten Vers des überlieferten Textes präsentiert er die in ihrem Ende vermeintlich stets vorausgesetzte und vorausgewußte Geschichte als eine offene und erklärt das abrupte Ende zu einer Option auf die diversen Möglichkeiten des weiteren Weges des Helden, von dem niemand wissen kann, obe der swebe oder sinke an dem prise (175,4), ob er aufsteigt oder niedergeht in seinem Ruhm und Kampf. So sehr sich der „Titurel" dem Wunsch nach nachtragender Ergänzung zum „Parzival" sperrt, so sehr der narrative Prozeß auch hier zersplittert ist und die Ideologeme von höfischer Kultur, Sippe, Minne als Zivilisation ins Zwielicht rückt, so sehr griffe man auch zu kurz, wollte man den Text allein aus den Momenten der Destruktion und Entlarvung heraus verstehen. Eher denn als Komplement oder als Widerruf ist das Erzählen

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im „Titurel" als ein simultanes zu begreifen: simultan zum „Parzival", insofern es zugleich mit der Notwendigkeit der Rekonstruktion der Vorgeschichte die Unmöglichkeit der Rekonstruktion kundtut; simultan aber auch insofern, als es mit der Verweigerung eindeutiger Sinnbezüge die Gleichzeitigkeit und GleichGültigkeit sprachlich generierter Sinn- und Bedeutungspotentiale und damit die sprachlichen Bedingungen von Erzählen im ganzen wie im Detail freilegt. Ein abschließender Blick auf die höchst eigenwillig und schwer zu beschreibende Strophenform mag verdeutlichen, wie sehr die unter dem Stichwort der ,Simultaneität' und ,Gleich-Gültigkeit' beschriebene Poetik auch die äußere Verfaßtheit der Dichtung bestimmt. Der „Titurel" ist die erste höfische Erzählung, die nicht in Reimpaarversen verfaßt ist, sondern in Strophen - abermals ein Novum, eine Grenzüberschreitung. Strophen sind die Form der heroischen Epik und die Form der Lyrik, und in der Tat hat Wolframs Strophe enge Beziehungen zu beiden literarischen Traditionen. Die Vierzeiligkeit mit paarweise gereimten, zäsurierten Langversen ist der Strophe des „Nibelungenliedes" ähnlich, und man kann sie, wie viele der im späteren Mittelalter verbreiteten Töne, als eine Weiterentwicklung derselben durch Kürzung und Anschwellung begreifen. Zugrunde liegt offenbar ein Gerüst einer achttaktigen und zweier zehntaktiger Langzeilen mit Zäsur jeweils nach der vierten Hebung, unterbrochen von einem sechhebigen, unzäsurierten dritten Vers (schematisch: 4+4a / 4+6a / 6b / 4+6b). Indes sperren sich Wolframs Strophen der Einordnung in diese oder ein anderes - fixes Schema: Viele Verse sind zu kurz oder zu lang, der Ort der Zäsur ist oft nicht festzulegen. Zudem pflegt Wolfram einen extremen Bogen- und Hakenstil, dessen Formulierungen sich über Versgrenzen, ja Strophengrenzen und mutmaßliche Zäsuren frei hinwegsetzen und oftmals gerade dadurch höchst reizvolle Kontraste von Form und Sinn produzieren. Es sind auch inhaltliche und stilistische Gründe, die eine Verbindung zur Heroik nahelegen: Der „Titurel" ist in mancher Hinsicht eine Erzählung von alten mceren, von Vorzeit, der Vorzeit des „Parzival", der Gralsgeschichte; der elegische, klagende, rückwärtsgerichtete Ton des Fatalismus, der stets sein vorgewußtes düsteres Ende im Blick hat und die Heilszeit der sinnvollen Geschehensabläufe des höfisch-arthurischen Romans konterkariert, liegt gerade über dem Anfang, und der Erzähler präsentiert sich oft genug als Verwalter und Übermittler dieser alten mceren. Aber zugleich ist der Erzähler auch ironisch-spielerischer Jongleur, der seine Subjektivität ins Spiel bringt wie nur je ein Erzähler des höfischen Romans. Der Roman beginnt zwar mit einem Abschied von gewesenem kämpferischen Heldenleben, und doch wird nichts im folgenden weniger erzählt als dieses. Mehr als immer schon vorausgesetzte Geschehensabläufe zu berichten, kreist das Erzählen um das höfische Leitthema der Minne, und dies auf eine selbstreflexive Weise, die die Handlung selbst immer wieder stillstellt und in dialogischem

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

Wechsel und beinahe meditativer Betrachtung verharrt. Seine formale Entsprechung findet dies in der Verwandtschaft der Strophe mit der Kanzone, dem ,modernen', aus Frankreich importierten Typus der Liedlyrik. So lassen sich die ersten beiden Verse mit ihrem je gleichen Beginn als Stollen des Aufgesangs begreifen, der dritte, signifikant abweichende Vers als einsetzender Abgesang, was zusammen mit dem vierten Vers, der das Aufgesang-Ende wieder aufnimmt, eine der Rundkanzone ähnliche Form konstituiert. Betrachtet man die auch sprachlich und bildlich mit der Minnesang-Tradition arbeitenden Beschreibungen der Minnekrankheit (93 ff., 115 ff.) oder Sigunes exorbitante Sehnsuchtsklage (122-124), so werden die lyrischen Potenzen der Strophe evident. Noch deutlicher wird die Rundkanzonen-Form, wenn man sich die Weiterentwicklung der Langzeilen-Strophe durch Albrecht vor Augen führt: Albrecht hat in Wolframs Strophe regelhaft einen Reim in der Zäsur der ersten und zweiten Strophe eingeführt. (Schon einige der Zusatzstrophen von Η und Μ zeigen diesen Zäsurreim, weshalb ihre ,Echtheit' zuweilen bezweifelt wurde.) Albrecht hat somit die Zäsur festgelegt und erlaubt sich (wie der Tendenz nach schon die *HM-Fassung von Wolframs Text) weniger Füllungsfreiheiten, weshalb sich seine Strophe auch als kanzonenartiger Siebenzeiler ab ab / cxc beschreiben läßt. In dieser verfestigten Form hat der Ton nach Albrecht Karriere gemacht: Es sind etwa zwanzig, zum Teil äußerst umfangreiche Texte aus dem späteren Mittelalter in diesem „Titurel-Ton" bekannt - in der freieren Form Wolframs allerdings keiner. Nun liegt der zumindest in der deutschen Literaturgeschichte einmalige Fall vor, daß mit einem epischen Text eine passende und problemlos transkribierbare Melodie überliefert ist: Auf dem Vorsatzblatt der wohl ältesten Handschrift von Albrechts „Jüngerem Titurel" (Hs. J T A: Anfang des 14. Jh.s, vielleicht sogar noch etwas älter) ist eine Titurelstrophe mit Noten auf fünflinigem Notensystem notiert (s. den Abdruck von Text und Melodie S. 141). Der Text findet sich weder in der Wolfram- noch in der Albrecht-Überlieferung und steht formal deutlich näher bei Albrecht. Es handelt sich um die Klage der Sigune auf der Linde um ihren toten Geliebten, eine gut als einstrophiges Lied vorstellbare, lyrische Frauenklage - ein weiteres Zeugnis dafür, daß man am „Titurel" schon früh weitergearbeitet hat, und zwar offensichtlich in verschiedene Richtungen. Der Melodie, die mit ihrem Aufbau αβ / αγ / δ / αγ musikalisch die „Titurel"-Strophe abbildet, eignet aufgrund des begrenzten Tonraumes und der Armut an verzierenden Melismen ein stark rezitativischer Charakter. Einiges weist darauf hin, daß sie in die Zeit vor Albrechts Strophenüberarbeitung zurückreicht, also möglicherweise Wolfram angehört. Auch wenn das Spekulation bleibt, ist es doch überaus reizvoll zu versuchen, Wolframs Strophen mit dieser Melodie auszuführen. Zwar sind weder die Freiheiten und Lizenzen mittelalterlicher Aufführungspraxis zu ermessen, noch von der Textüberlieferung her definitive Aussagen über die musikalisch-rhythmische Feinstruktur mög-

Eine Einführung

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lieh, da es sich bei den Handschriften um ,entmusikalisierte' Textaufzeichnung handelt. Dennoch unterstreicht gerade die Melodie in ihrer rezitativischen Gleichförmigkeit, daß sich der Titurel-Ton einen Rahmen von geradezu gesucht-künstlicher Strenge schafft, gegen dessen Widerstand die freie, eigenwillige Füllung der Verse anarbeitet. Dies bringt das Grenzüberschreitende und Experimentelle des Textes auch in seiner Aufführungsform zur Geltung: Die dilemmatische Spannung von Regelbezug und Regelverletzung ist Reflex eines Textes, der Vieldeutigkeit und Gleich-Gültigkeit des Möglichen, Artifizialität und eigenwillige Umdeutung als poetisches Prinzip verfolgt. Die Überlagerung verschiedener strophischer Modelle zu einer vieldimensionalen Hybride führt zu einer solchen Über-Komplexität der Versgebilde, daß der Text sich zuweilen der Prosa zu nähern scheint, dem ,modernsten' Weg volkssprachlichen Erzählens, den zu jener Zeit der arthurische Gralsroman, dem auch der „Titurel" stofflich letztlich zugehört, in Frankreich zu beschreiten beginnt. Wenn Wolfram mit seiner Strophe heldenepische und archaische Formen, gebrochen durch lyrische und prosaische Stilisationsprinzipien, zitiert, so handelt es sich sichtlich um ein erfundenes Zitat, um fingierte Archaik, um inszenierte Mündlichkeit, um ein weiteres Requisit. Wie man sich die öffentliche Existenzform des „Titurel" im Mittelalter auch vorstellen mag - die Form suggeriert einen musikalischen Aufführungscharakter in eben dem Maße, in dem sie ihn desavouiert. Der „Titurel" ist ein Text, der die Künstlichkeit mündlicher Sangstrophe so weit vorantreibt, daß sie umschlägt in Schriftlichkeit: Sie scheint einen Leser zu verlangen, einen Text mit Buchstaben, die sich gleichbleiben. Doch Wolfram macht an der Jectrix' in fabula Sigune deutlich: Die diamantenen Buchstaben geben gerade keine Gewißheit durch ihre Beständigkeit, sondern verletzen, indem sie den Sinn, den sie versprechen, entziehen. Der Text, nicht der mündliche, vorgetragene, sondern der schriftliche, kostbar und beständig in Diamanten fixierte, entflieht uneinholbar ins Wilde. Er existiert, doch keiner weiß genau, was in ihm steht, nicht Sigune, nicht Schionatulander, auch der Leser nicht. Der Leser kennt mehr von seinem Sinn (die Exemplifizierung einer Moralsentenz) und seiner Bedeutung (die beziehungsvollen Liebesgeschichten), als er von seiner Diamantenschrift kennt - aber alles nur fragmentarisch und als geahnte Möglichkeit. Mehr als die anderen Texte seiner Zeit scheint dieser Text geprägt von einer Poetik der Schriftlichkeit: Indem er seinen fiktionalen Sinn zugleich mit der Narration mitliefern muß, trägt er in seinem Zentrum eine Leerstelle, die der Leser auszufüllen hat. Die Hundeleine ist am ehesten noch eine Allegorie des Textes als eines Ganzen, dessen Jäger der Leser ist - wohl vergeblich. Die Figuren, die Metaphern und Allegorien, die schon erzählten und noch zu erzählenden Geschichten, die Rollen des Erzählers, auch die formalen Modelle

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

in diesem Text erscheinen am Ende allesamt wie kunstvoll präparierte Requisiten eines Puppenspielers, der seine Marionetten an so viele Fäden gehängt hat, daß ihnen Fortkommen in eine Richtung durch ein Übermaß an zugleich und gegeneinander wirksamen Bewegungsmöglichkeiten genommen ist. Alle narrative und poetische Bewegung ist eine zirkuläre, ein Schlagen von Kreisen und Haken auf engstem Raum, ein zugleich sorgfältiges und verwirrendes Experimentieren mit allen nur denkbaren und suggerierbaren Anknüpfungs-, Beziehungs- oder Verbindungsmöglichkeiten, deren keine mehr Priorität gewinnt. Die Gleich-Gültigkeit des Möglichen ist auf sämtlichen Ebenen das Substrat des Textes: Erzählen wird zum Entwerfen, angesichts dessen sich jeder Versuch der Totalisierung und Vereindeutigung als Unstimmigkeit, Unangemessenheit und Vergeblichkeit erweist. Im Hinblick auf Handlung mag man dies als fragmentarisches Gestammel, als aporetisch wahrnehmen; hinsichtlich des Erzählens ist es ein eminent kreatives Ausmessen der sprachlichen und formalen Bedingungen von Erzählen. Sicher: Der „Titurel" ist Fragment und wohl auch im Innersten notwendig fragmentarisch, wenn man ihn daraufhin befragt, was erzählt wird und was nicht erzählt wird. So mag man den Verlust manifesten Sinns betrauern oder die kompromißlos vollstreckte Destruktion höfischer Ideologeme und Erzählmodelle rühmen. Fruchtbarer ist es wohl, einen solchen Text, der sich in jedem Moment als ein höchst artifizielles Inszenieren von szenischen Bildern präsentiert, als Suche nach Antworten auf die Frage zu lesen, wie literarisch erzählt werden kann und wie literarischer Sinn produziert wird. Daß darauf viele Antworten möglich sind und keine Antwort alleinige Geltung beanspruchen kann, sollte gerade den modernen Leser nicht wundern. Vielleicht ist es nicht so sehr das Brüchige, Fragmentarische und oft Hermetische, sondern eher der Blick auf die von Wolfram radikal und konsequent betriebene produktive Pluralisierung der Perspektiven und unabschließbare Vervielfältigung von Sinn, der den Weg zu der faszinierenden, irritierenden und oft genug bestürzenden Modernität des „Titurel" weist. Stephan Fuchs-Jolie

Zu dieser Ausgabe In aller Kürze sei hier das Wichtigste zur Überlieferung, zu den Editionsgrundsätzen und zur Einrichtung des Textes und der Apparate vorgestellt. Ausführliche Darstellungen und Begründungen finden sich im „Editorischen Vorwort" der großen Ausgabe (S. 1-59). Genaue bibliographische Angaben sind dem Literaturverzeichnis dieser Ausgabe (S. 284 ff.) zu entnehmen.

Die Überlieferung Wolframs „Titurel" ist in folgenden Handschriften überliefert: G = Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19. Pergament, 75 Bl. (30 x 21 cm); Mitte des 13. Jahrhunderts, altertümliche Textura (7 Hände; „Titurel" von 1. Hand), alemannisch-bairische Schreibsprache; 3-spaltig (bis auf Fol. 75), farbige Initialen, z.T. nicht ausgeführt (so im „Titurel"-Text), Doppelblatt mit Miniaturen im Pz.-Text. Enthält nach Wolframs „Parzival" (Sigle G) und gefolgt von drei kurzen Prosastücken sowie zwei Tageliedern Wolframs (L 3,1 u. L 4,8) auf Fol. 71 ra - 74 rc Wolframs „Titurel" (164 Strophen: Str. 1-175 außer 30-31, 3 3 - 3 4 , 36, 53, 81-84 u. 87). Η = Österreichische Nationalbibliothek Wien, Ser. nova 2663 („Ambraser Heldenbuch") Pergament, 238 (+5) Bl. (46 x 36 cm); geschrieben 1504-16 (-15?) von Hans Ried (gest. 1516, Zöllner am Eisack bei Bozen) im Auftrag Kaiser Maximilians; Kanzleikursive, südbairische Schreibsprache; 3-spaltig, farbige Initialen (ζ. T. gemalt und vergoldet), farbiger Randschmuck (Figuren, Tieren, Pflanzen). Enthält 25 Texte (höfische Epik, Heldenepik, Kleinepik) des ausgehenden 12. u. 13. Jahrhunderts (soweit datierbar), 15 davon als Unika. Als vorletzten Text finden sich auf Fol. 235 va - 325 A 69 Strophen von Wolframs „Titurel" (Str. 1 - 6 8 [Str. 57,1-2 erscheint zweimal], andere Strophenfolge). Μ = Universitätsbibliothek München, 8° Cod. ms. 154 (= Cim 80 b ), ausgelöstes Fragment II. 3 Pergamentblätter (ausgelöst aus dem Einband einer lateinischen Papiersammelhandschrift des 15. Jh.s): von Fol. 1 u. 2 sind je 4 Streifen (ca. 115-140 x 13 mm) der senkrecht zerschnittenen Blätter erhalten, Fol. 3 diente als Spiegel (ca. 140 x 118 mm); um 1300, gotische Buchschrift von einer Hand, bairische Schreibsprache; einspaltig, zweizeilige rote Initialen, vereinzelt rubrizierte Majuskeln. Überliefert 46 Strophen von Wolframs „Titurel" (Fol. 1: Str. 31-45, sehr lückenhaft, andere Strophenfolge; Fol. 2: Str. 76,2-90, sehr lückenhaft, andere Strophenfolge; Fol. 3: Str. 105,3-108; 101; 109-119,2; kein Textverlust, z.T. schwer lesbar).

Die Überlieferung

27

Sämtliche 175 der in den drei Wolfram-Handschriften G, Η und Μ überlieferten Strophen finden sich auch im „Jüngeren Titurel" Albrechts (vor 1272 [?]), freilich in bearbeiteter Form. Die breite und außerordentlich Variante Uberlieferung dieses Werkes - es sind bis heute 60 Überlieferungsträger bekannt, darunter 11 weitgehend vollständige Handschriften und ein Druck von 1477 - teilt sich in zwei Fassungen, wobei mindestens der Redaktor R bzw. Fassung II (vielleicht schon um 1300?) unabhängig vom Redaktor der Fassung I bzw. Albrecht auf Wolfram-Überlieferung zurückgegriffen hat. Beiden lag offenbar ein Wolfram-Text in einer HM-nahen Gestalt vor, der näher bei Η stand als bei M, zuweilen aber auch Beziehungen zu G aufweist. Da sich Art und Umfang der Bearbeitung der Wolfram-Strophen nicht genau angeben läßt, haben die Varianten des J T nur als indirektes Zeugnis für Wolframs „Titurel" zu gelten, die Lesungen von G, Η oder Μ stützen können, aber keine selbständige beweisende Kraft haben. Die JT-Lesarten sind, oft zusammengefaßt, unter folgenden (stets eingeklammerten) Siglen im Apparat I verzeichnet: JT

JT1

JTR

JT11

(evtl. gefolgt von einer Handschriftensigle): Albrechts (von Scharfenberg) Jüngerer Titurel. Hg. v. Wolf/Nyholm. 4 Bde. 1 9 5 5 - 1 9 9 5 [Siglen nach Wolf Ausg. I u. Nyholm Ausg. III] Handschriften-Gruppe bzw. Fassung I des J T : Handschriften A, B, D, E, Fragmente b, c, f, h, y, Nr. 54, Nr. 60; mit Einschränkungen auch a (soweit Wolfram betreffend). Redaktion R des J T ( = J T " ohne J T H; vielleicht schon um 1300): Handschriften Χ , Υ, Z, Fragmente Nr. 18, Nr. 41; mit Einschränkungen auch Handschrift Κ und Druck J (soweit Wolfram betreffend). Handschriften-Gruppe bzw. Fassung II des „Jüngeren Titurel": Redaktion J T R mit Handschrift J T H.

Aufgrund des spärlichen Vergleichsmaterials und der erheblichen Varianz läßt sich kein Stemma entwerfen. Es läßt sich nur konstatieren, daß G und Η zwei Zweige der Überlieferung repräsentieren, zwischen denen Μ eine Zwischenstellung einnimmt, jedoch deutlich näher bei Η steht. Ein kritischer, auf Rekonstruktion eines Archetypus zielender Text muß unerreichbar bleiben. Daher vertraut sich die Edition einer Leithandschrift an und geht von dieser nur ab, wo sie keinen als sinnvoll zu erweisenden Text bietet. Ohne damit größere Autornähe unterstellen zu wollen, kann die Leithandschrift nur G sein, da eine kritische Bearbeitung von Η bzw. * H M wohl ausgeschlossen ist und G beinahe die Hälfte des Textes unikal überliefert. Die Sonderstellung der elf in Η und Μ zusätzlich überlieferten, also nicht nach G zu edierenden Strophen ist im Lesetext durch Einzug und kleinere Schrifttype markiert. Auf dem Vorsatzblatt der wohl ältesten JT-Handschrift in Wien (JT A = Österr. Nationalbibliothek Cod. 2675: Pergament, ostmitteldeutsch nach bairi-

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Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

scher Vorlage [?], Anfang des 14., evtl. Ende des 13. Jh.s; enthält neben dem vollständigen JT noch den Anfang des „Wartburgkrieges") findet sich eine nicht vom Schreiber des Haupttextes, aber wohl schon zur Entstehungszeit des Codex oder nicht viel später eingetragene Strophe im Titurelton mit Noten in Hufnagelnotation auf fünflinigem Notensystem. Die Melodie paßt zu Wolframs wie zu Albrechts Strophen; daß sie auf Wolfram zurückgeht, ist möglich, aber weder zu beweisen noch zu widerlegen. Der sorgfältig darunter eingetragene Text findet sich weder bei Wolfram noch bei Albrecht, gehört aber unmittelbar in deren Umkreis: Es handelt sich um eine Klage der mit dem toten Schionatulander auf der Linde sitzenden Sigune (Abdruck von Text und Melodie s. S. 141).

Editionsprinzipien und Einrichtung In den edierten Text sind sämtliche 175 der in den drei Wolfram-Handschriften G, Η und Μ überlieferten Strophen aufgenommen. Leithandschrift ist G, in den sechs von Η zusätzlich überlieferten Strophen H, in den fünf nur von Μ überlieferten Strophen M. Am rechten Rand ist die Stellung jeder Strophe in den Handschriften gegeben (die zuerst genannte Hs. ist die jeweilige Leiths.), darunter die Strophenzählung Lachmanns (La) und die Nummer der entsprechenden Strophe des »Jüngeren Titurel" (JT, nach der Ausgabe von Wolf). Folgende Änderungen gegenüber der handschriftlichen Gestalt der jeweiligen Leithandschrift werden stillschweigend vorgenommen: - Wir setzen den Text in Strophenform und markieren die Zäsuren der Langzeilen des ersten, zweiten und vierten Verses der Strophen durch ein kleines Spatium. Die von uns angegebene Stelle der Zäsur hat ausdrücklich nur Vorschlagscharakter und soll eher auf die Tatsache der Versgliederung hinweisen als deren genaue Gestalt angeben. - Wir versehen den Text mit Längenzeichen (außer im Falle der frühneuhochdeutschen, nach Η edierten Strophen) und mit moderner Interpunktion sowie einer durchgehenden Kleinschreibung (nur Strophenbeginn und Eigennamen werden großgeschrieben). - Die Zusammen- und Getrenntschreibung ist normalisiert. - Die verschiedenen s-Graphien erscheinen stets als s; u und ν sind je nach vokalischem oder konsonantischem Gebrauch ausgeglichen. - Kürzel und Ligaturen werden aufgelöst (Nasalstriche, νη > unt, de > de, e > er). - Die Diphthonge und Sekundärumlaute sowie die k- und ch-Lautt (in G und M) sind in den Handschriften meist nicht differenziert oder durch unsystematischen Gebrauch verschiedener Zeichen wiedergegeben. Zur Herstellung einer besseren Lesbarkeit differenzieren wir diese Laute durch die für das Mittelhochdeutsche üblichen Graphien. Auch die Spürantenverdopplung in G { f f , zz) ist zurückgenommen. In den Apparat I (Lesarten-Apparat) sind aufgenommen - alle im edierten Text gegenüber der Leithandschrift veränderten Worte (im Text kursiv ausgezeichnet), sofern die Änderung nicht nach o. a. Regeln stillschweigend vorgenommen wird; - alle unsicheren Lesungen bzw. möglicherweise semantisch relevanten besonderen Wortabteilungen (im Text nicht ausgezeichnet); - alle Varianten aus den Handschriften Η und M. (Da bei Nicht-Erscheinen einer Lesart nach Μ nicht zu entscheiden ist, ob Μ mit der Leithandschrift

30

Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

geht oder ausfällt, ist im Anschluß an den Text eine vollständige Transkription der Hs. Μ gegeben). - Varianten aus dem J T werden nur dann verzeichnet, wenn sie bei auseinandergehender Überlieferung in G, Η oder Μ eine der dort bezeugten Lesarten oder eine Entscheidung eines anderen Herausgebers (in Apparat II verzeichnet) stützen. - Die Graphien der Wolfram-Handschriften G, Η, Μ sind im Apparat stets buchstabengetreu wiedergegeben (mit Ausnahme rein graphischer Varianten, etwa s-Graphien); Groß- und Kleinschreibung, Wortabteilung, Kürzel und Ligaturen sind bewahrt. Interpunktionszeichen der Handschriften (Reimpunkte) sowie Trennungszeichen bei Zeilenwechsel werden nicht wiedergegeben. - JT-Varianten werden oft als Sammellesarten angegeben und meist nach den vorliegenden Ausgaben abgedruckt. Daher stehen die JT-Siglen stets in Klammern (JT). In den Apparat II (Herausgeber-Apparat) sind aufgenommen - fortlaufend und vollständig nur die Lesarten der fünf Editionen, die heute noch Verbreitung aufweisen und Relevanz beanspruchen können. Es sind dies die Ausgaben von Lachmann (6. Ausg. 1926), Leitzmann (5. Aufl. 1963), Bartsch in der Bearbeitung von Marti (4. Aufl. 1927), Mohr und Gibbs/Johnson; hinzu kommt der bereinigte Abdruck von Heinzle in seinem Stellenkommentar (Siglen s.u.). - Die Lesarten der genannten Editionen werden nur dann angegeben, wenn diese sich relevant vom hier edierten Text unterscheiden - nicht also im Falle bloß graphischer Varianz (f/v, pf/ph, c/k, i/j/y), anderer Bezeichnung von Vokallängen oder abweichender Wortabteilung. Andere Interpunktion ist nur dann angegeben (stets in Worten bezeichnet), sofern sie eine andere Syntax oder eine andere Auffassung des Verses anzeigt oder vermuten läßt. Ebenso ist Varianz im Gebrauch von nebentonigem e und der Verneinungspartikel en-, -ne und -n nur dann angegeben, wenn eine bedeutende Abweichung hinsichtlich der metrischen Auffassung des Verses und dem Ort der Zäsur dadurch angezeigt wird. -

Lesarten aus älteren Auflagen der genannten Editionen (auch die jüngere 7. Ausg. von Lachmann durch Hartl 1952), aus Ausgaben, die nicht als selbständige Editionen bezeichnet werden können (so Dallapiazza 1994, der mit sehr geringfügigen Änderungen Möhrs Text wiedergibt) sowie aus älteren Editionen (Martin 1900, Piper 1890, Teiledition Wackernagel 5. Aufl. 1873) werden nur in Ausnahmefällen gegeben. - Weiterhin ist die musikalische Einspielung des „Titurel" (nach Möhrs Text) auf die mit dem „Jüngeren Titurel" überlieferte Melodie (in J T A) durch Wiedenmann und Parisi (Gesang/Laute) verzeichnet, aber nur dann, wenn die Musiker die Langzeilen-Zäsur bzw. Binnenkadenz erkennbar an anderer Stelle ausführen, als in unserer Edition vorgeschlagen.

Auszeichnungen und Siglen im edierten Text und in den Apparaten (Siglen der Überlieferung s.o.) Kursivterung

1. im edierten Text: ersetztes oder hinzugefügtes Wort oder Buchstabe. Hinzugefügte Worte oder Wortteile stehen zusätzlich in < ). Weggelassene Buchstaben sind durch Kursivterung des vorhergehenden und folgenden Zeichens markiert. 2. in Apparat I und II: alles, was nicht überliefert bzw. wörtliche Herausgeber-Lesart ist (mit Ausnahme der Lemmaklammer ], die stets recte erscheint). hinzugefügtes Wort oder hinzugefügte Wortteile, stets kursi< > viert / ι Beginn und Ende einer Wortumstellung gegen die Leithandschrift t kennzeichnet Beginn und Ende einer (vermuteten) Verderbnis petit [mit Einzug] stehen im edierten Text die Strophen, die nicht in der Leithandschrift G überliefert sind (insges. elf Strophen) 1. in Apparat I: unsichere Lesung; () 2. in Apparat II (eingeklammerte Sigle): geringfügige Varianz des bezeichneten Herausgebers gegenüber der zuvor abgedruckten Lesart (graphische Variante, prinzipieller Verzicht auf Zäsur) ] vor der Lemmaklammer steht die Lesung der edierten Leithandschrift bzw. der Edition, danach die Lesart bzw. Herausgebervariante, die das Lemma ersetzt • bezeichnet den Versbeginn, seltener auch das Versende einer Lesart in Apparat I und II, wo dies zur Vereindeutigung notwendig ist | bezeichnet den Ort der Zäsur in den Lesarten von Apparat II / bezeichnet Zeilenwechsel bzw. Verswechsel in den Lesarten von Apparat II \ über dem Notensystem (S. 141): bezeichnet den Ort des Zeilenwechsels in der handschriftlichen Aufzeichnung om. omittit / omittunt ( = „läßt aus" / „lassen aus") alle Hgg. Ba BMa

Sammelsigle für die regelmäßig und sicher verzeichneten Editionen (= BMa, GJ, La, Lei, Mo) Edition von Karl Bartsch, 1. Aufl. 1871 Edition von Karl Bartsch, 4. Aufl. bearb. v. Marta Marti, 1932

32 Dal

GJ

Hartl Hei La Lei Mar Mo Pip Wackernagel WPMo

Der „Titurel" Wolframs von Eschenbach

Edition von Michael Dallapiazza, 1994 Edition von Marion E. Gibbs u. Sidney Μ. Johnson, 1988 Edition von Karl Lachmann, 7. Ausg. bearb. v. Eduard Hartl, 1952 bereinigter Leittext im Stellenkommentar von Joachim Heinzle, 1972 Edition von Karl Lachmann, 6. Ausg., 1926. Edition von Albert Leitzmann, 5. Aufl., 1963 Edition von Ernst Martin, 1900 Edition von Wolfgang Mohr, 1978 Edition von Paul Piper, 1890 Teiledition von Wilhelm Wackernagel, 5. Aufl., 1873 Musikalische Einspielung von Reinhold Wiedenmann und Osvaldo Parisi, nach dem Text von Wolfgang Mohr, 1995.

II. Text und Übersetzung

Fragment I

1

G 1, H I La 1 ( - J T 500)

Do sich der starke Tyturel

mohte gerüeren,

er getorste wol sich selben

unt die sine in stürme gefiieren.

sit sprach er in alter: ,ich lerne, daz ich schaft muoz läzen.

2

des phlac ih schone unt gerne.'

,Möhte ih getragen wäppen', ,des solt der Iuft sin geret

G 2, Η 2 La 2 ( ~ J T 501/502)

sprach der genende,

von spers krache üz miner hende.

spnzen gaeben Schate vor der sunnen. vil zimierde ist üf helmen

von mines swertes ecke enbrunnen. G 3, Η 3 La 3 (~JT 596)

3

Obe ich von hoher minne unt op der minnen süeze

ie trost enphienge, ie sselden kraft an mir begienge,

wart mir ie gruoz von minneclichem wibe, daz ist nu gar verwildet

4

Min s£elde, min kiusche,

minem seneden klagendem libe. G 4, Η 4 La 4 ( - J T 615)

mit sinnen min stsete,

unt op min hant mit gäbe

unt in stürmen ie hohen pris getaete,

des mac niht min iunger art ferderben. iä muoz al min geslähte 1

1 Tytorel H.

mohte ] nicht H.

schilt H, den (fehlt JT A) schilt (JT).

imer wäre minne mit triwen erben. 2 da getorst er H.

vn ] mit H.

3 in ] im H.

4 schaft ] den

phlag ich ettwen schone H.

2

1 Wappen so sprach H.

3

2 der suessen mynnen clam ye genade an mir H.

2 des mues H.

3 spriezzen G.

die spreyssen geben H.

4 vil zymmere H.

3 minnchlichen G, mynneklichem H.

4 minem

siechen seneden klagendem (JT AB), dem minem senden sieche klagenden (JT DE), minem alten seneden clagendem (JT H), vor laide meinem sendem klagendem (JTR). 4

1 · Mein selikait mein keusche mein syn vnd all mein stete H. 2 oder in stürme H.

1

1 Titurel BMa GJ Lei Mo. Ba 2.Aufl. Pip.

2

3 des ] das H. Titu-1 rel Lei.

clagenden H. min sin der ( ] min JT B) stsete (JT).

mein hohe art Η. 3 sit sprach er: ,in alter ich lerne Lei.

4 schaft ] den schilt

phlac ich etwenne schöne GJ La Lei.

4 zimierde üf helmen | ist von Lei.

3

2 der süezen minne kraft ie saelden an mir Mo (kraft | WPMo).

4

2 unde in stürmen BMa, oder in stürmen GJ, oder in stürme La Lei. nach verderben.

ie ] ir BMa.

4 klagenden Lei.

3 des ] daz La Mo.

Mo

Komma

Fragment I

35

Als sich der starke Titurel noch rühren konnte, getraute er sich wohl, sich und die Seinen auf vorbildliche Weise in die Schlacht zu führen. Später, im Alter, sprach er: „Ich sehe ein, daß ich den Schaft lassen muß. Den pflegte ich gewandt und mit Freude zu schwingen.

Könnte ich noch Waffen tragen", sprach der Tapfere, „so müßte der Wind geehrt sein durch das Krachen der Speere, die ich mit meiner Hand würfe. Ihre Splitter gäben Schatten vor der Sonne. So mancher Schmuck ist auf Helmen schon durch die Schneide meines Schwertes in Flammen aufgegangen.

Wurde mir jemals durch Hohe Minne freudige Zuversicht zuteil, hat die Süße der Minne mir jemals Glück und Stärke verliehen, empfing ich jemals den Gruß einer liebreizenden Frau - das ist meinem sehnsuchtsvollen, klagenden Dasein nun gänzlich fremd geworden.

Mein Glück und Heil, meine lautere Demut, meine aufrichtige und beständige Gesinnung, und wenn meine Hand durch Freigebigkeit und in Schlachten jemals Ruhmreiches vollbracht hat - dies alles kann meine junge Nachkommenschaft nicht zugrunde richten. Ja, es muß mein ganzes Geschlecht auf immer echte Minne und Treue erben.

Text und Übersetzung

36

G 5, Η 5 La 5 ( - J T 617/18) 5

Ich weiz wol, swen wiplichez daz imer kiusche

lachen enphähet,

unt staetekeit d e m herzen nähet,

diu zwei kunnen sich nimer da getirren, w a n mit d e m t o d e aleine.

6

D o ih den gräl enphienc die mir der engel

anders kan daz niemen verirren.

v o n der botschefte,

G 6, Η 6 La 6 ( - J T 512)

here enbot mit siner h o h e n krefte,

da vant ih geschriben al min orden. diu gäbe w a s v o r mir

nie menschlicher hende w o r d e n . G 7, Η 7 La 7 ( - J T 621)

7

D e s gräles herre m u o z sin o w e , süezer Frimutel,

kiusche unt reine,

ih hän niht w a n dich aleine

miner kinde hie behabet d e m gräle. nu enphach des gräles krone

8

D u hast bi dinen

unt den gräl, min sun der lieht gemäle.

ziten schildes ambet

geurbort hurteclichen.

G 8, Η 10 La 8 (~JT 651)

din rat w a s aldä verklambet.

üz der riterschaft m u o s e ih dich ziehen. nu w e r dich, sun, aleine! 5 6 7

min kraft wil uns beiden enphliehen.

1 weyplich grüessen H. 2 · daz keusche vnd stete dem hertzen ymmer nahet H. 3 · der zwey kunnen sich da nicht guriern H. geirren G, gevirren (JT, außer virren/TD). 4 niemant da geyrren H. 1 corscheffte Η {oder torscheffte f). 2 der Engl heer empot H. 3 allti H. 4 der gab was H. 2 · ey suesser sun freymuntel H. 3 kinde behabet hie dem H. 4 emphach den gral vnd des gräles crone mein H, enpfach des grales krone und (auch JTDE) den gral min (JT'JTH), enpfach des Grales krone vnd wer den Gral (JTNr. 54), emphach den gral vnd auch des grales chrone mein (JTR).

8

1 · Sun du hast H. ziten ] teurn H. 2 geurbort so hurtikleichen das dein manlich tat was vnuerklampt H. verchlamet G. 3 Ritterscheffte müs ich mich ziehn H. 4 crafft der wil H.

5

1 wip- | lichez Lei. 1-2 enphaehet : nashet alle Hgg. 2 imer ] imere G] La, immer mere Lei, ie mere Mar, da imer Mo. 3 sich da niht La, sich nimer Mo. 4 Hei Komma nach al eine. 2 der enge! | her enbot BMa, der engel here | .... enböt La (GJ), der engel here | her enbot Lei (Mo WPMo). die der engel here | mir enbot Mar. 4 vor mir was diu gäbe Lei. nie | WPMo. 2 süezer sun | Frimutel La (GJ). Frimu- | tel Lei. Nach Str. 10 (wie H) bei Mar und Lei (1. Aufl.) 1 Sun, du hast bi dinen | ziten schiltes ambet BMa La (GJ), du häs bi dinen ziten, | sun, schiltes ammet Lei. 2 Lei Mo Komma nach hurteclichen. swenne din rat was alda verklammet Lei. 3 muos La, muoste Lei. mich ziehen Lei. 4 La Lei Doppelpunkt, Mo Komma nach al eine, min kraft diu wil BMa La Lei.

6 7 8

Fragment I

37

Das weiß ich genau: Wen das Lächeln von Frauen begrüßt, in dessen Herz zieht auf immer lautere Demut und Beständigkeit ein. Niemals mehr werden sich diese beiden entfernen, außer allein mit dem Tod. Niemand kann dies auf irgendeine andere Weise irreführen.

Als ich den Gral entgegennahm durch die Botschaft, die mir der herrliche Engel mit göttlicher Vollmacht überbrachte, da fand ich meinen Auftrag und die Gralsordnung vollständig auf ihm geschrieben. Vor mir war diese Gabe noch nie einer menschlichen Hand übergeben worden.

Der Herr des Grals muß rein und ohne Fehl sein. Ο weh, liebster Frimutel, außer dir habe ich keines meiner Kinder für den Gral am Leben behalten. So empfange nun die Gralskrone und den Gral, mein strahlend schöner Sohn.

Solange du lebst, hast du das Feld des Ritterdienstes kraftvoll und ehrenhaft bestellt. Aber dabei war dein Pflugrad dort festgefahren. An mir war es, dich aus der höfischen Ritterschaft herauszuziehen. Nun setze dich alleine zur Wehr, mein Sohn: Meine Kraft will uns beiden entschwinden.

Text und Übersetzung

38

G 9, Η 8 La 9 ( - J T 652)

9

Got hat dich, sun, beraten diu sint och hie dem

fünf werder kinde.

gräle ein werdez ingesinde.

Anfortas unt Trevrezent der snelle, ih mac geieben, daz ir bris

wirt vor anderm prise der helle. G 10, Η 9 La 10 (~JT 653)

10

Din tohter Schoysiäne

in ir herzen besliuzet

so vil der guoten dinge,

des diu werlt an sseiden geniuzet.

Herzelaude hat den selben willen. Urrepanse de schoyen

lop mac ander lop niht gestillen.' G 11, Η 11 La 11 ( - J T 601/602)

11

Dise rede horten riter unt frouwen. man mohte an templeisen

manges herzen iämer schouwen,

die er dicke brahte üz manger herte, swenne er den gräl mit siner

hant unt mit ir helfe werte. G 12,Η 12 La 12 ( - J T 603+655)

12

Sus was der starke Titurel beidiu von grozem

worden der swache,

alter unt von siecheit ungemache.

Frimutel besaz da werdecliche den gräl üf Muntsalvätsche. 9

10 11

daz was der wünsch über irdeschiu riche.

1 · Nun got hat dich beraten auf vil werder kinde H. 2 die sint hoch bey dem grale ain vil selig werdes ynngesinde H, di sint hoch ( ] hie JT E, fehlt JT Β) bi dem grale (dir JT DE) ein vil selic werdez ingesinde (/T). 3 Tresfezzent H. 4 ob allem preyse H. 1 ...in G ] Mein H. Tchrosiane H. 2 daz ir der welt H, daz ir (fehlt JT E) di werld (/Tl. 3 hertzenlayde H. 4 vrrepanse der schoyen G. Vrrepano de Tschyen lob mag der anndern lay nicht H. 2 tepleisen G. · sy mochten an dem Tempheyse H. iammer dick schawen H. 3 offt bracht H. 4 · Wenn er den gral mit seiner crafft vnd mit jr hilffe ritterlichen werte H. JT ac; Vers anders JT H, fehlt JT R).

12

1 · Sunst H. 2 siecheite H. wünsch ob jrdischm reiche H.

9 10

2 gräle | BMa La Lei WPMo. ein vil sselec werdez BMa GJIM Lei. 3 Mo Semikolon nach snelle. 4 ir | Lei. 1 Diniu Mo. in | BMa Lei. herze GJ La. 2 des ] des GJ La Mar Pip. 3 Herzeloyde BMa (sonst Herzeloide), Herzelöude GJ La Mo {immer), Herzeloide Lei {immer). 4 lop | mac WPMo. 2 geschouwen BMa, beschouwen Lei. 4 hant | und mit ir helfe riterlichen werte La (GJ), hende und ir helfe ritterlichen werte Lei. unde Mo (hant | unde WPMo).

11 12

3 freymutel H.

4 wunch G.

hant ] kraft (JT', außer krefte

· ze Monsalvatsch den gral das ist der

1 Titu-1 rel Lei. 2 alter | BMa La. unde Mo (alter | unde WPMo). 4 Muntsalvsesche BMa, Munsalväsche Lei (immer), ob irdeschem riche La.

siecheite GJ La

Lei.

Fragment I

39

Gott hat dir, mein Sohn, fünf edle Kinder geschenkt. Sie sind zugleich dem Gral hier eine würdige Gefolgschaft. Ich kann vielleicht noch erleben, daß der Ruhm des Anfortas und des tapferen Trevrizent den Ruhm aller Anderen überstrahlt.

Deine Tochter Schoysiane birgt so viele Tugenden in ihrem Herzen, daß die ganze Welt davon Segen erhält. Von gleicher Gesinnung ist Herzeloyde. Den Lobpreis Urrepanse de Schoyes kann aber der Ruhm anderer nicht zum Verstummen bringen."

Diese Rede hörten die Ritter und Damen des Hofes. Man konnte den Templeisen ihren tiefen Kummer ansehen, die er oftmals aus so mancher Bedrängnis herausgeführt hatte, wenn immer er den Gral mit seiner Hand und mit ihrer Unterstützung verteidigte.

So war nun aus dem starken Titurel der schwache geworden, wegen seines hohen Alters und infolge der Beschwerlichkeit seiner Krankheit. Frimutel hatte da würdevoll den Gral auf Munsalvaesche in Besitz: Dies übertraf alle irdische Herrschaft.

Text und Übersetzung

40

13

Dem wären siner tohter

zwo von den iären,

daz si gein hoher minne

an vriundes arm volwahsen wären.

G 13,Η 18 La 13 (-JT 656)

Schoysiänen minne Schone gerte 1 vil künge üz mangen landen,

14

Kiot üz Katelangen

des si doch einen fursten gewerte.

erwarp Schoysiänen.

schcener maget wart

G 14,Η 19 La 14 (-JT 661)

nie gesehen bi sunnen noch bi matten.

er het vil manger tugencfe genozzen. sin herze was gegen hohem

prise ie der kost unt der tät unverdrozzen. G 15, Η 20 La 15 (-JT 662)

15

Si wart schone bräht unt riliche enphangen. der künec Tampunteire,

sin bruoder, kom ze Katelangen,

riche fürsten ungezalt dä wären. so kostecliche hochgezit

gesach niemen bi mangen iären. G 16, Η 21 La 16 (~JT 663)

16

Kiot, des landes herre, mit milte unt eilen,

bris het erworben

sin tät was vil unverdorben,

swä man hurtecliche solte striten unt ouch durch wibe Ion

gezimiert gein der tioste riten.

13 2 · des sy gegen H. 3 · Thyosyanen H. gerte schone G (mit Reimpunkt nach gerte und Utnstellungszeichen [?] über beiden 'Worten), schone gerte Η (/Τ). 14 1 Kyot von Η. Thyosyanen Η. 2 gesehen seyt noch ee bey Sunnen H, geboren (ward JT D) sint noch e (fehlt JT Ε) bi sunnen (JT). mannen G, Mannen H. 3 tugent G. · auch het Er maniger tugende genossen H. 4 was ye der coste vnnd der tat gegen preyse vnuerdrossen H. 15 1 ward im schone H. 2 Tampuntier H. kam auch ze H. 3 · vil reicher fursten vngezalte H. 4 · so costliche hochtzeit die gesach noch nieman in manigen iaren H. 16 2 vnd auch mit aller seiner tat H. 3 · wo man Ritterlichen solte H. 4 · vnd durch der weybe Ion gezymmeret gegen tyost reiten H. 13 1 zwuo alle Hgg. 2 arme Lei. 4 BMa GJ La Semikolon, hei Doppelpunkt nach landen. 14 2 nie gesehen | sit noch e bi sunnen La (GJ), nie noch | gesehen e bi sunnen Lei. gesehen | WPMo. 3 ouch het er manger La. vil om. GJ. tugent GJ. 4 gein hohem pris | BMa La (GJ). prise | WPMo. gein prise ie | Lei. 15 1 wart im schöne GJ La Lei. bräht | La. unde Mo (braht | unde WPMo). 2 kom ouch ze GJ La Lei. 4 gesach nie man BMa, gesach noch nie man GJ La, gesach noch niemen Lei. 16 2 milte und ouch mit eilen GJ La Lei. al sin tät Lei. 4 durch der wibe GJ La Lei. wibe | Lei. gezimieret BMa GJ La Lei.

Fragment I

41

Zwei seiner Töchter waren nun in einem Alter, in dem sie herangewachsen waren zu Hoher Minne in den Armen eines Geliebten. Viele Könige aus mancherlei Ländern bewarben sich in aller Form um Schoysianes Liebe, die sie schließlich jedoch einem Fürsten gewährte.

Kiot von Katelangen erlangte Schoysiane zur Gemahlin. Nie hatte man, weder bei Tag noch bei Nacht, ein schöneres Mädchen gesehen. Er hatte für viele rühmliche Taten den Lohn davongetragen: Um hohen Ruhm zu erwerben stand ihm sein Herz unermüdlich nach Freigebigkeit und tapferer Tat.

Auf prächtige Weise wurde sie ihm zugeführt und wie eine Herrscherin von ihm empfangen. Auch der König Tampunteire, sein Bruder, kam nach Katelangen. Unzählige mächtige Fürsten waren dort: solch aufwendige Hochzeit bekam man viele Jahre lang nicht mehr zu sehen.

Kiot, der Herrscher des Landes, hatte mit Freigebigkeit und Tapferkeit Ruhm erlangt: Seine Tat war von Erfolg gekrönt, wo immer es galt, kraftvoll zu kämpfen oder um Frauengunst geschmückt in den Zweikampf zu reiten galt.

Text und Übersetzung

42

17

G 17, Η 22 La 17 ( - J T 664)

Gewan ie fürste lieber

wip! waz der dolte

der herzenlichen liebe!

alsus diu minne mit in beden wolte.

owe des, nu nähet im sin trüren! sus nimet diu werk ein ende:

18

unser aller süeze an dem orte ie muoz süren. G 19, Η 23 La 18 (~JT 669)

Sin wip in ze rehter

zit gewerte eins kindes.

daz mich got erläze

in minem hüs eines solhen ingesindes,

daz ich als tiure müese gelten! die wile ih hän die sinne,

19

Diu süeze Schoysiäne gebar mit tode

so wirt es von mir gewünschet selten. G 18, Η 24 La 19 (~JT 670)

unt diu statte

eine tohter, diu vil sseiden haste,

an der wart al wiplich ere enstanden. diu phlac so vil triwen,

20

Sus was des fürsten leit

die man noch saget in mangen landen. G 20, Η 25 La 20 ( - J T 671)

mit liebe underscheiden.

sin iungiu tohter lebte unt ir

muoter was tot. daz het er an in beiden.

Schoysiänen tot half im üz borgen die flust an rehten fröuden 17

1 gewan ] Wann H.

unt gewin imer mere an den sorgen.

2 · hertzenlicher wunne also H.

mit ] an H.

4 · vnnser aller süsse mues ye ze

iungst an dem orte sauren · H. 18

1 jn gewerte ze rechter zeit eines H. müste H.

19

2 daz ] so H.

1 Tschyosiane der klar und der stete H. (JT).

hause all solhes ynngesindes H.

3 also tewre

4 es ] sein H. · Tschoisian di (vil JTE) clare di suz und ouch (fehlt JTH) diu stsete

3 alwiplich ere G, alle magtlich ere Η, elliu magtlich ere (/Τ).

4 · Sy phlag souil der trewen die

man von jr noch saget in manigem Lannde H. 20

1 liebe ] iammer H.

2 lebete Ir mueter tot Η (JT, außer sin muter JT A) .

3 Thyosianem H.

4 an

den freuden vnd ymmer mer gewin an H. 17

1 GJ La Lei Mo Komma nach wip. Mo.

als | Lei.

wolte. 18

4 nimt Lei.

19

2 in | Lei.

2 liebe ] wünne BMa La Lei. mit ] an GJ La.

1 mit | Lei. lebte | WPMo.

alsus ] als ez La Lei

BMa Doppelpunkt

nach

an dem ] am GJ La Lei.

1 zit | BMa WPMo.

eins BMa GJ La Lei.

eines BMa Mo.

2 - 4 BMa V. 2-4 in Parenthese-

3 also tiure GJ La Lei.

1 Schoysiäne, | diu cläre und diu staete La Lei {GJ), mit Komma nach staete. magtlich ere La (GJ).

20

un-1 ser Lei.

Nach Str. 19 (wie G) bei BMa. Klammem.

wip | WPMo.

La Lei Komma nach wünne, Mo nach liebe,

entstanden BMa Lei Mo.

müeste Lei. 2 mit ir töde Lei.

3 elliu

4 man von ir noch GJ La Lei.

2 lebte, | ir muoter tot, daz La (GJ, mit Punkt nach tot), lebete und | ir muoter tot, daz Lei. BMa Mo La Lei Komma nach tot.

4 und | BMa.

und immer mer gewin an Lei.

Fragment I

43

Hatte je ein Fürst eine liebenswertere Frau errungen? Was hatte er zu erdulden an inniglicher Liebe! So hatte es die Minne mit diesen beiden vor. Ο weh, nun naht ihm sein Leid! So ist der Lauf der Welt: Unser aller Freude muß sich am Ende stets in Bitternis verkehren.

Seine Frau schenkte ihm nach angemessener Zeit ein Kind. Möge mich Gott vor einem solchen Zuwachs in meinem Haushalt bewahren, den ich so teuer bezahlen muß! Solange ich meine Sinne beisammen habe, wird mir ein solcher Wunsch nie in den Sinn kommen.

Die liebliche, treue Schoysiane gebar sterbend eine Tochter, die reich gesegnet war. An ihr zeigten sich alle weiblichen Tugenden. Sie war von solcher Güte, daß man sich noch heute in vielen Landen davon erzählt.

So war das Leid des Fürsten mit Freude vermischt: Seine junge Tochter lebte und ihre Mutter war tot. Das hatte er an den beiden. Der Tod Schoysianes brachte ihm den Verlust an echter Lebensfreude ein und nie endenden Gewinn an Kummer.

44

Text und Übersetzung G 21, Η 26 La 21 (~JT 672)

21

Do bevalch man die frouwen si muose gearomätet

mit iämer der erden,

unt gebalsmet e werden,

durch daz man lange muose biten: vil künge unt fürsten dar komen

22

Der fürste het sin lant von

ze der lichlege an allen siten.

Tampunteire,

von sinem bruoder, dem künge,

G 22, Η 28 La 22 ( - J T 673)

den man da hiez von Pelrapeire.

siner kleine« tohter bat erz lihen. er begunde sich des swertes,

helmes unt schiltes verzihen. G 23, Η 29 La 23 (~JT 675)

23

Der herzöge Manfilot

sach vil leide

an sinem werden bruoder.

daz was ein süriu ougenweide.

der schiet ouch durch iämer von sinem swerte, daz ir dewedere hoher

24

Sigüne wart daz kint die het ir vater Kiot

minne noch tioste negerte.

genant in der toufe.

G 24, Η 27 La 24 (~JT 676)

vergolten mit dem tiuren koufe,

wan er wart ir muoter dur si äne. die sich der gral zem ersten

lie tragen, daz was Schoysiäne.

21

1 do G ] Da H. 2 · sy mfiste ee gearomacet vnd auch gepalsempt schone werden H. 3 · darumb man lange müeste mit jr peiten H. 4 fürsten komen dartzü der H. 22 1 Tampuntiere H. 2 von fehlt H. da fehlt H. BelrapiereH. 3 chlein G, fehlt H. 4 · da begund er sich des swertes vnd helmes H. 23 1 Monfiles H. 2 ein vil saurer H. 3 · Er schied sich auch Vor iammer von dem swerte H. 4 dewedere ] entweder H. tyoste nicht gerte H. 24 1 Sugaüne H. 2 · die jr Vater kyot het vergolten mit vil teurem kauffe H. 4 Gral ye zum erstn tragen lie das was Thysiane H. 21 2 muoste garomätet Let. und BMa G] La Lei. gebalsamet BMa GJ, gebalsemt Lei. e schöne werden G] La Lei. La Lei Doppelpunkt, GJMo Punkt nach werden. 3 muoste Lei. muose mit ir biten La. La Lei Mo Punkt nach biten. 4 unde Mo. fürsten | WPMo. fürsten | kom dar zer lichlege La (GJ), vürsten körnen | dar zer lichlege Lei. dar | BMa. 22

1 hete G] La, hete Lei. lant | WPMo. von | rois Tampunteire Lei. 2 bruoder | La Lei WPMo, dem | BMa. künc GJ La, künec Lei. 23 1 Manfi- | lot BMa, Mamfi- | lot Lei. sach im vil Lei Mar (Vorschlag La im Apparat). 2 ein vil süriu Lei. 3 der ] er GJ La. sinem ] dem La. 4 dewedere | BMa, deweder | La (GJ), minne | WPMo. deweder hoher | Lei. minn La. tjoste niht engerte GJ La Lei, tjoste engerte Mo. 24 1 ge-1 nant BMa Lei. 2 hete BMa. Ki-1 öt BMa. die ir vater Kiot | het La (GJ), die ir vater hete | Kiöt Lei. 4 liez tragen BMa Lei, tragen lie GJ La.

Fragment I

45

Da übergab man unter Wehklagen die Fürstin der Erde. Sie mußte mit duftenden Gewürzen einbalsamiert werden, weil man lange zu warten hatte: Viele Könige und Fürsten waren aus allen Richtungen dorthin zur Grablegung gekommen.

Der Fürst hatte sein Land von Tampunteire, von seinem Bruder, dem König von Pelrapeire, zu Lehen. Er ließ es seiner kleinen Tochter übertragen. Er selbst entsagte dem Schwert, dem Helm und dem Schild.

Der Herzog Manfilot nahm den großen Schmerz an seinem edlen Bruder wahr. Es war ihm eine bittere Augenspeise. Er ließ auch aus Kummer vom Schwerte ab, so daß keiner von beiden mehr nach Hoher Minne und Zweikampf strebte.

Sigune wurde das Kind bei seiner Taufe genannt. Ihr Vater Kiot hatte für sie einen hohen Preis entrichtet, denn er verlor durch sie ihre Mutter. Es war Schoysiane gewesen, von der sich der Gral zum ersten Mal hatte tragen lassen.

Text und Übersetzung

46

25

Der künec Tampunteire

G 25, Η 30 La 25 ( - J T 677)

Sigünen die kleinen

zuo siner tohter fuorte.

do Kiot si kuste, man sach da vil geweinen.

Kondwirämürs lac ouch an der brüste. die zwo gespilen wwohsen,

26

In den selben ziten

daz nie wart gesaget von ir prises verlüste. G 26, Η 32 La 26 (~JT 683)

was Kastis erstorben.

der het ouch ze Muntsalvätsche die clären erworben. Kanvoleiz gap er der frouwen schone unt Kingriväls: zin beiden

27

Kastis Herzelauden

truoc sin houbet vor fürsten die krone. G 27, Η 33 La 27 ( - J T 685)

nie gewan ze wibe,

diu an Gahmurets arme

lac mit ir magetlichem libe.

doch wart si da frouwe zweiger lande, des süezen Frimuteles kint,

28

Do Tampunteire starp - in Brubarz truoc er

die man von Muntsalvätsche dar sande. G 28, Η 31 La 28 ( - J T 679)

unt Karideiz der cläre die krone, daz was in dem vünften iäre,

daz Sigüne was aldä behalten - , do muosen si sich scheiden, 25

1 Tampuntier Sygaunen H.

die iungen zwo gespilen, niht die alten.

3 Kondwiramus G, Kondewiramus H.

lag dannoch an H.

4 wohsen G,

wuchsen H. 26

1 Castis auch erstorben H.

2 der het Hertelauden ze Montsalvatsch H.

3 Anfuleis H.

4 küngrifalsch ze den baiden H. 27

1 hertzelaiden H. H.

28 25

2 · der an Gamuretes H.

mit magtumlichen leibe H.

1 · Da Tampuntier erstarb H. 2 zuo ] ze Lei.

kardus H.

fuorte do. | Klöt BMa.

2 Brubars trug die H. Lei keine Interpunktion

3 lac dannoch GJ La, lac ouch noch Lei, lac noch Mo. gesaget wart von Lei. 26

4 des reichen frimuntels

Montsaluasch H. 3 Sygaüne H. nach fuorte.

4 zwuo alle Hgg.

4 da müstn H.

[do] La.

wuchsen Lei.

kust GJ La

daz | BMa.

2 Muntsal-1 vätsche ? Muntsalvatsche | WPMo.

ouch ze Muntsalvätsch | die clären Herzeloiden erworben

BMa, ouch Herzelöuden | ze Muntsalvätsch (Munsalväsche Lei), die clären, erworben La Lei ze ] zu Mo.

{GJ).

4 Kongriväls Lei.

27

2 magtuomlichem La.

28

1 Mo Komma nach starp. in Parenthese-Klammern.

4 Frimuteles | kint, die von Munsalväsche man dar Lei. und | Lei.

Kardeiz BMa GJ La Lei.

2 er otn. La Lei Mo.

zwuo alle Hgg.

2 - 3 Keine Parenthese La Lei Mo, BMa

krone | La Lei WPMo.

Brubarz die krone | truoc, daz Lei (Vorschlag La im App.) 4 muosten Lei.

nie

vlüste BMa GJ La Lei.

BMa Doppelpunkt

nach kröne.

3 La Mo (Let) Punkt nach behalten.

Fragment I

47

Der König Tampunteire brachte die kleine Sigune zu seiner Tochter. Als Kiot sie küßte, da sah man dort viele Tränen. Auch Kondwiramurs lag noch an der Brust. Die beiden Freundinnen wuchsen so heran, daß niemals etwas gesagt wurde, was ihren Ruhm beeinträchtigt hätte.

Zur selben Zeit war auch Kastis gestorben, der ebenfalls in Munsalvaesche die strahlend schöne Frau erlangt hatte. Kanvoleiz übereignete er dieser Herrin rechtmäßig und auch Kingrivals: In beiden Städten hatte sein Haupt vor den Fürsten die Königskrone getragen.

Kastis hatte mit Herzeloyde die Ehe nie vollzogen, die später als Jungfrau in Gahmurets Armen lag. Und doch wurde sie dort Herrscherin zweier Länder, das Kind des süßen Frimutel, die man von Muntsalvaesche dorthin ausgesandt hatte.

Als Tampunteire starb (und übrigens auch der strahlend schöne Karideiz) - in Brubarz hatte er die Krone getragen; das geschah im fünften Jahr, seit Sigune dort in Obhut geblieben war - , da mußten sich die beiden jungen Freundinnen trennen - sie waren wirklich noch nicht alt.

Text und Übersetzung

48

29

G 29, Η 34 La 29 ( - J T 686)

Diu küngin Herzelaude

an Sigünen dähte.

si warp mit al ir sinnen,

daz man die von Brübarz ir brähte.

Kondwirämürs begunde weinen, daz si gesellekeit unt der

staeten liebe an ir solte vereinen.

Η 35 La 30 (~JT 689)

30

Das kint sprach: .liebes väterlin, mein schrein vollen tocken,

du hayss mir gewinnen

wenn ich zu meiner muomen var von hynnen.

so bin ich zu der ferte wol berichtet. es lebt manig ritter, der sich in meinen dienst noch verphlichtet.' Η 36, Μ 1 La 31 ( - J T 690)

31

,Wol mich so werdes kindes, got muoss Kathelangen

das ist also versuonnen!

also herer fragen an dir lannge gunnen.

mein sorge slaffet, so dein saelde wachet. und were Swartzwalde hie ze lannde,

32

Kiotes kint Sigüne

er wurd ze schefien gar durch dich gemachet.' G 30, Η 37, Μ 2 La 32 ( - J T 692)

alsus w u o k bi ir muomen.

er kos si für des meien blic,

swer si sach, bi den tounazzen bluomen:

üz ir herzen bliiete saelde unt ere. lät ir lip in diu lobes iär

29

2 wap G, warb H.

volwahsen, ich sol ir lobes sagen mere.

mit allen Irn synnen daz mans Ir von Brubram dar prachte H.

begunde haysse wainen H. 30

1 nu heize IJT).

31

2 · Got mf(z) ... izze ... frowen dag ... M.

32

3 zuo der IJT). muz IJT'),muz (/T").

heerfreuen H.

(w)alt hie ζ ... ar ze speren (d)urch dich gem(a) ... M.

Schefien H.

1 Sigaune H.

2 er GM ] man H.

HM.

3 Condewiramius

4 · daz sich der geselleschat vnd der stete liebe vnder jn solte verainen H.

wöhes G, wuchs H, ... (o)chs M.

3 blöte G, plüete Η ] wchs M.

4 · wsere dersw(a) ...

gemacht H. swer G ] wer H.

den fehlt

4 · nu lat Iren leib volwachsen in der lobes jar ich sol jr lobes

künden noch mere Η. 29

4 gesellekeite | und La (GJ).

30

Strr. 30-31 als unecht abgedruckt von Hartl Lei Mar, athetiert von BMa. Hgg.

liebe solde an ir vereinen Lei. 1 veter- | lin Lei.

nü heiz alle

3 zer verte alle Hgg.

31

2 müeze alle Hgg.

32

1 al-1 sus Lei. La.

und | BMa Lei, gesellekeit | WPMo.

3 dein ] diu Lei. 2 meien | Lei.

4 diu om. Lei.

4 und om. GJ La Lei.

den om. GJ La Lei.

vol- | wahsen Lei.

et | Lei.

würde Lei, wurde Mo.

GJ Hei Mo Punkt nach bluomen.

volwahsn GJ La.

3 herze BMa GJ

Fragment I

49

Die Königin Herzeloyde dachte an Sigune: Sie setzte alles daran, daß man sie ihr von Brubarz brachte. Kondwiramurs weinte darum, daß sie von ihrer Gesellschaft und der tiefen Zuneigung zu ihr geschieden sein sollte.

Das Kind sagte: „Liebes Väterchen, laß mir meine Truhe voll mit Puppen bringen, wenn ich von hier zu meiner Tante reise. Dann bin ich zu der Reise gut ausgerüstet. Es gibt viele Ritter, die sich noch in meinen Dienst verpflichten werden."

„Wohl mir, daß ich ein solch edles Kind mit solchem Verstand habe! Gott möge Katelangen für lange Zeit in deiner Person eine solch herrliche Herrscherin vergönnen. Meine Sorge schläft, wenn nur dein Heil wach ist. Und wenn der Schwarzwald hierzulande läge, so würde er wegen dir ganz und gar zu Lanzenschäften verarbeitet."

So wuchs nun Kiots Kind Sigune bei ihrer Tante auf. Jeder, der sie sah, gab ihr den Vorzug vor dem Glanz des Maien mit seinen taubenetzten Blüten: Glück und Ansehen blühten hervor aus ihrem Herzen. Laßt sie erst heranwachsen zu dem Alter, in dem man die Frauen rühmt, dann werde ich sie noch mehr rühmen.

Text und Übersetzung

50

Η 38, Μ 3 La [33] ( - J T 693) 33

Was man an rainem weibe sol an jr vil suessem leibe

ze gantzen fügenden messen,

was des nindert hares gross vergessen:

sy rainer frucht, gar lauter, valsches a/ne, der werden Schoysiaaea

kint,

gleicher art, die keusche iunge raine.

. 34

Nu suollen wir gedencken

L

a

Η 39, Μ 5 [34] (~JT 695)

Hertzelauden der rainen.

der kund jr lop nicht krencken.

mit warheit wil ich die lieben mainen.

sy ursprung aller weiblichen eren, sy künde wol verdienen,

35

Diu magetliche witewe, s w ä m a n bi ir i u n g e n zit ir l o p gie für in m a n g i u

daz man jr lob muoss in den lannden meren.

d a z kint Frimutelles,

G 31, Η 40, Μ 6 La 35 ( - J T 696)

der f r o u w e n l o p s p r a c h , s o n e erhal niht s o helles, riche,

u n z e ir m i n n e w a r t gedient

v o r K a n v o l e i z mit den s p e r e n hurtecliche.

33

1 (S)waz M, Swaz (JT). ze gvte mezzen M. 2 vil fehlt M. hais H, ... (s) M, siden (JT). groes H. 3 · si reiniv frv ... chlivhte(c) ... M. rainer H, reine (JT). valsches ane Η (JT). 4 · ... (t) si div mvter div si trvc da(z) ... (s) Tscho(y) ... M. · selic si diu müter diu si (si ] sin JT H) gebar (seht JT DE) daz was Tschoysiane {JT). Tyosyanen H.

34

1 svle(n o)... M, sul ( ] svln JTBDE, sont JTH) ouch wir (JVJTH), schul wir auch (JTX). herzenlovden der vil rei(n) ... M. 2 div chv(n) ... M, di kund (JT). 3 sey H. wiplichen Μ (JTR), wiplicher (JT ABEH), weipleich (JTD).

35

1 Der Magtumliche witbe H. 2 · Wer bey jr jungen Iaren sprach frawen lob da erhal H. · swa (m)an d(er) ... lop bi ... hal et nich so helles M. 3 · lob daz fur die verre in H, · daz vur di virre hin (] höh JT D, fehlt JT A) in (JT"), · ir lob daz fur die verri in (JT"). · ir ... die firre ... (η) M. 4 · vntz jr werder munde waid verdienet vor konfoleis mit speren hurtikleiche H. · vnz ir minne wart g(e) ... m(it) spe ... vil hvrtechlichen M.

33

Str. 33-34 als unecht abgedruckt von La (ab 2. Aufl.) Lei Mar Pip, athetiert von BMa. 1 wibe | sol ze güete mezzen Lei. 2 ninder GJ Mo La Lei. GJ Mo Punkt, La Lei Komma nach vergezzen. 3 reiniu alle Hgg. Lei Punkt hinter eine. 4 Schoisiänen, | Lei.

34

1 sul wir Lei, sulen ouch wir GJ La. Herzelöude GJ La Mo. 2 diu künde alle Hgg. 3 wiplicher alle Hgg. 4 muos GJ La Mo, muoste Lei. 1 magtuomliche La 2 swer bi ir La. zite | sprach frouwen lop La (Lei), frouwen | BMa. dane erhal La, so enerhal Lei. 3 lop daz fuor die virre in GJ La Lei, lop fuor die virre Mo. gienc BMa. 4 unt wart gedient ir minne | vor Lei. Kan- | voleiz BMa. den om. GJ La Lei. spem Lei.

35

Fragment I

51

Nicht die geringste Kleinigkeit von dem, was man einer vollkommenen Frau an Fülle der Vorzüge anrechnen muß, fehlte dem süßen Mädchen. Aus makelloser Frucht geboren, ganz und gar rein, ohne jeden Fehler, Kind der edlen Schoysiane, von gleichem Adel wie ihre Mutter, die Reine, Junge, Makellose.

Nun wollen wir uns der makellosen Herzeloyde zuwenden. Ihr Ruhm zeigte keine Schwächen. Nur Aufrichtiges habe ich mit der Lieben im Sinn. Sie hat es wirklich verdient, sie Quelle allen Frauenruhmes, daß man ihren Lobpreis in allen Ländern verbreitet.

Die jungfräuliche Witwe, das Kind Frimutels - w o immer man in ihren jungen Jahren auch Frauen rühmte, es erscholl kein R u h m s o laut und ungetrübt wie der ihre. Weit drang ihr R u h m vor bis in viele Reiche, bis m a n schließlich vor Kanvoleiz u m ihre Minne heftig mit den Lanzen diente.

52

Text und Übersetzung

Η 41, Μ 4 La 36 ( - J T 6 9 4 ) 36

Nu hoeret frömde wuonder do sich ir prüstel draeten

von der maget Sigaunen.

und jr rayd fal har beguonde braunen,

da huep sich in jr hertzen hochgemiiete. sy begunde stoltzen und losen

37

W i e G a h m u r e t schiet v o n u n t wie er w e r d e c l i c h e

und tet das doch mit weiplicher güete.

Belakänen

G 32, Η 42, Μ 7 La 37 (~JT 698)

e r w a r p die s w e s t e r S c h o y s i ä n e n

u n d e w i e er sich e n b r a c h der F r a n z o i s i n e , des wil ih hie g e s w i g e n

38

u n t iu k ü n d e n v o n m a g e t l i c h e r m i n n e .

D e r Franzoisine Anphlisen

w a r t ein kint gelazen,

e r b o r e n v o n fürsten k ü n n e

u n d e v o n art, daz m u o s e sich m ä z e n

G 33, Η 43, Μ 8 La 38 (~JT 699)

aller dinge, d a v o n pris verdirbet. s w e n e alle fürsten w e r d e n t e r b o r e n ,

36

37

38

ir n e h e i n e r n o c h baz n a c h brise wirbet.

3 · do hvb ... in ir lib(e) ... gemvte M. 4 Sy begunde stoltzen vnd losen Η (JT") ] si begvnde loslich ... en M, si chunde ( ] begunde JT Β) loblich ( ] lachlich JT B) stoltzen (JT AB), das sy begunde stolzen (JT DE). 1 Gamuret H. Belegalien M. 2 wie wirdiclichen erwarb er die H. 3 vnd H. 4 ... (z) svlen wir allez ge ... 1 ich iv s(a) ... er minne M. hie ] alles H. vnd wil ew H. magtumlicher H, kintlicher (JT, außer magtlicher JT H). 1 anphlisien G. Der frantzosin Anfflisen ain kint wardt verlassen H. 2 erboren von G (JT R) ] erporn aus Η (JVJTH), geborn do von (JTNr.18). von der art H. muesse H. 4 wen H. gepom Jr dhainer bas H. ... en werdent geboren ... M.

36 Als unecht abgedruckt von Hartl Lei, athetiert von BMa. Nach Str. 33 (wie M) bei Mar. 2 unde GJ Mo. 3 stolzen | WPMo. stolzen [und] losen La, stolzen lösen Lei, stolzen unde losen Mo. 37 1 Wie Gahmuret | La Lei (GJ). schiet | BMa WPMo. 2 unde BMa. werdec-1 liehe BMa. werdeclichen (werdecliche Lei) \ er erwarp La Lei (GJ). 3 und BMa GJ La Lei. 4 und | BMa. künden iu von GJ La Lei. magtuomlicher La. 38 2 erborn BMa Lei. und BMa La, und | Lei. von der art La Lei. muoste Lei. 4 swenn GJ werdent | La Lei WPMo. erborn Lei. ir keiner (neheiner Lei) baz GJ La Lei.

La wie und La.

Fragment I

53

Nun vernehmt wundersame Dinge von Sigune, dem jungen Mädchen. Als ihre kleinen Brüste runder wurden und ihre blonden Locken anfingen, dunkel zu werden, da erwachte Selbstbewußtsein in ihrem Herzen: Sie wurde stolz und übermütig, und doch bewahrte sie dabei durchaus ihre weiblichen Vorzüge.

Wie sich Gahmuret von Belakane trennte, auf welch ruhmreiche Weise er die Schwester Schoysianes zur Frau gewann und wie er sich der französischen Königin entzog, davon will ich hier schweigen und euch von keuscher Kinderliebe erzählen.

Anphlise, der Königin von Frankreich, war ein Kind zur Erziehung anvertraut worden, das aus fürstlichem Geschlecht erwuchs und von solcher Abstammung war, daß es sich von allem Unrühmlichen fernhielt. Wenn dereinst alle Fürsten geboren sein werden, wird nicht einer darunter sein, der erfolgreicher um Ruhm kämpft.

Text und Übersetzung

54

39

Do Gahmuret schilt enphie diu werde küngin im lech

G 34, Η 44, Μ 9 La 39 ( - J T 700)

von Anphlisen, diz kint. daz müezen wir noch prisen.

daz erwarp sin wäriu kindes süeze. er wirt dirre aventiure herre.

40

Och fuor daz selbe kint

ih hän reht, daz ih kint durh in grüeze. G 35, Η 45, Μ 10 La 40 (~JT 701)

mit dem Anschevine

hin über in die heidenschaft

zuo dem bäruc Ahkarine.

er bräht ez ze Wäleis wider dannen. swä kint genendekeit erspehent,

41

daz sol helfen, op se imer gemannen. G 36, Η 46, Μ 11 La 41 ( - J T 704)

Ein teil ih wil des kindes

art iu benennen.

sin ane was von Kräharz

Kurnomanz, künde isen zetrennen.

des phlac er zer tiost mit manger hurte. sin vater was genant Kurzkri.

der lac tot umbe Schoydelakurte.

39

1 Da Gamuret den Schilt emphie H, Do gahmvret den (schilt enphie) ... M. H. chvneginneM. 3 ... az erwa ρ im sin reinev chi(n) ... M. ware Η. ain herre H, ... der ave(n) ... wer herre M.

40

1 Answine H. 2 hinüber über die H. Baruch ze Allexandrine Η (]T). 3 · Ze Waleis bracht er jn herwider dannen H, · d(o) bra ... ζ ze waleis wid(e)r danne ... M. 4 swa ] Wo H. erspehent es sol sy helffen obs ymmer H. ... endechei ... (p)ehent in der ivgent daz so ... gemä... M.

41

1 Ain tail wil ich euch des kindes frucht benennen H, Ein teil wil ich iv dez ch ... nen M. bennen G. 2 sein Ane der hiess Gurnemans von Grahays kund yser zertrennen H, sin ... (der) hiez Gurnamanz (v) ... vnde o(v) ... (sen zetr)ennen M. 3 phlager G. zer ] zu der H. 4 sein Vater der hiess Gruzgri der lag tot durch Tschoy de lagurte H, (sin) vater hiez Gurz(e) ... urch Ts ... de la cv ... M.

39

1 Gahmuret den schilt | La Lei (G]). Gahmuret schilt | BMa WPMo. enphienc GJ La Mo, emphienc BMa, em-1 phienc Lei. 2 küneginne | La Lei (GJ), künegin | WPMo (Mo). BMa La Lei Doppelpunkt, G] Semikolon nach prisen. 3 Lei Komma nach süeze. 4 [er wirt] dirre aventiure ein herre La. BMa Doppelpunkt, La Komma, Mo Semikolon, Lei keine Interpunktion nach herre. ich | Lei, aventiure | WPMo.

40

1 selbe | Lei. 2 heiden-1 schaft Lei. BMa, si Lei. imer BMa La, iemer Lei.

41

2 sin ane (der hiez Gurnemanz | von Gräharz) künde La (GJ). Lei Komma nach ane. Gräharz | Gurnemanz (Gurnamanz Mo) BMa Lei (Mo), iser GJ Mo La. BMa keine Interpunktion im ganzen Vers. 3 BMa ganzer Vers in Parenthese-Klammern und danach Komma. 4 vater der hiez Gurzgri: La. Gurzgri alle Hgg. (immer). Gurz-1 gri: Lei. umbe ] durch G] La, um Lei. BMa Abvers in Parenthese-Klammern und danach Komma.

Akarine Lei.

2 · der lihe Jm dasselbe kint 4 wirt noch diser abentheure

4 er-1 spehent Lei, genendekeit | WPMo.

sie

Fragment I

55

Als Gahmuret von Anphlise die Schwertleite empfing, gab die Königin dieses Kind auf Zeit in seine Hände. Ihm sollen wir auch heute noch Ruhm erweisen. Den errang sein wahrer kindlicher Liebreiz. Er wird der Held dieser Geschichte. Ich tue recht daran, um seinetwillen alle Jugend zu lobpreisen.

Der selbe Jüngling fuhr mit Gahmuret von Anschouwe über das Meer ins Heidenland zu dem Baruc Ahkarin. Er brachte ihn wieder von dort zurück, und zwar nach Waleis. Wo immer Jünglinge Kühnheit vor Augen haben - es wird ihnen von Nutzen sein, wenn sie zum Mann heranreifen.

Ich will euch die Abstammung des Kindes genau angeben. Sein Großvater war Gurnemanz von Graharz: Der konnte Eisen zerspalten. Dies hat er im Zweikampf mit manchem Ansturm bewiesen. Sein Vater hieß Gurzgri, der starb wegen Schoydelakurt.

Text und Übersetzung

56

42

G 37, Η 47, Μ 12 La 42 (~JT 705)

Mahtfute hiez sin muoter,

Ehkunates swester,

des riehen phalenzgräven,

den man da nante üz der starken Berbester.

selbe hiez er Schoynatulander. so hohen bris erwarp

43

b! siner zit nie einer noch der ander.

Daz ih des werden Kurzkrien vor der maget Sigünen,

sun niht benande

G 38, Η 48, Μ 13 La 43 ( - J T 706)

diu genoz des: ir muoter man sande

üz der phlege von dem reinen gräle. ir hochgeburt si zucket ouch

44

Al des gräles diet

her für unde ir künne daz lieht gemäle.

daz sint die erweiten,

imer saelec hie unt dort

G 39, Η 49, Μ 14 La 44 (~JT 707)

in den staeten pris die gezelten.

nu was Sigüne ouch von dem selben sämen, der üz von Muntsalvätsche

45

Swä des selben sämen

in die werlt wart gesagt, den die heilhaften nämen.

hin wart bräht von dem lande,

daz muose werden berhaft

G 40, Η 50, Μ 15 La 45 (~JT 708)

unt in vil reht ein schür üf die schände,

da von Kanvoleiz verre ist bekennet. si wart in manger Zungen 42 43

der triwen houbetstat gewennet.

1 ... ahute G, Nachte H, (M)ohvte M. Ekunares H. 2 Phaltzgraüen H, pfalnzgrave ... M. Bebester H, prebester M. 3 Tschyonatulander H. 4 erwarb bey seinen Zeiten nie H, erwarp nie (b)i siner ζ ... Μ. 2 maget Zigaunen das was des schult daz man jr muter sande H. diu genoz des ] das was des schult Η (JTR), dev ... M, daz was da von (JT1). 4 jr gepurt H. ... r höh g ... (c)h zvchet her fvr vn ir ch ... male M. och G ] noch H.

44

1 Alle Grales H. 2 in GM ] an H. stsen G, Stetten H, steten Μ gezelten ] erweiten H. 3 was auch Sugaüne desselben H. 4 · der vnns von Montsaluatsch ward in die weit gesait den da seit die halhafiten namen H.

45

1 · Wo des samen icht ward bracht hin von H, ... ζ samen hin iht w ... lande M. 2 der müste werden perhafft an preise Wann jn fiel ain H, ... werden berhaft a(n) ... el ein sch . . . M. in ( ] im JT AR) viel ( ] vil JT BEJKYZ, viel vil JT D) gar ein schür (JT). 4 zungen ye der getrewen haubtstat genennet H. höbet stat G. gennet G, genennet H, gen(en)ne(t) M.

42 43

2 den | BMa. nant GJ. man nant (nande Lei) üz La [Let). 3 Schionatulander alle Hgg. (immer). 4 bi | Lei. 1 Gurzgri-1 en Lei, sun | WPMo. 2 Sigünen, | daz was des schult daz man ir muoter sande La (GJ). Lei Mo keine Interpunktion nach des. 4 zucket | Lei. künne 'z lieht Let. 44 1 daz | BMa Lei. 2 und | Lei. BMa Mo Komma nach dort, in ] an GJLa Lei. 4 Munsalväsche | gesaet wart, den Lei. die | BMa. 45

1 hin | BMa La. 2 muoste Lei. und viel in rehte Lei, unde in viel vil reht Mo. Doppelpunkt nach bekennet. 4 manger | BMa. zungen | ie der La Lei (GJ).

3 BMa La Lei

Fragment I

57

Mahaute hieß seine Mutter. Sie war die Schwester des mächtigen Pfalzgrafen Ehkunat, der nach der Festung Berbester ganannt wurde. Er selbst hieß Schionatulander. So hohen Ruhm wie er errang zu seinen Lebzeiten kein anderer.

Daß ich den Sohn des edlen Gurzgri nicht vor der Jungfrau Sigune vorgestellt habe, hat den Grund in dem Vorzug, daß ihre Mutter aus dem Schutzbereich des reinen Grals ausgesandt worden war. Ihre hohe Abstammung und ihr glänzendes Geschlecht geben ihr den Vorrang.

Das ganze Gralsvolk, das sind die Erwählten, immer selig auf Erden wie im Jenseits, sind sie bestimmt zu unvergänglichem Ruhm. Nun war auch Sigune von diesem selben Samen, der von Munsalvatsche aus in alle Welt gesät wurde und den die auserwählten Begnadeten aufnahmen.

Wohin auch immer dieser Samen aus dem Lande des Grals gebracht wurde, mußte er Früchte tragen und zerschlug gerade wie ein Hagelschauer den Begnadeten alle Schande. Auf diese Weise ist Kanvoleiz weithin berühmt geworden: In vielen Sprachen wurde ihr der Name ,Hauptstadt der Treue' verliehen.

Text und Übersetzung

58

G 41, Η 51 La 46 ( - J T 709)

46

Owol dich, Ganvoleiz, wie man unt herzenliche liebe,

sprichet dine staete

diu üf dir geschach, niht ze spsete!

minne huop sich fruo da von zwein kinden. diu etgie so lüterliche,

al diu werlt möht ir truopheit dar under niht finden. G 42, Η 52 La 47 ( - J T 710)

47

Der stolze Gahmuret in siner kemenäten

disiu kint mit ein ander zoch do. Schoynatulander

was danoch niht starc an sinem sinne. er wart iedoch in herzen

48

Owe des, si sint noch

not geslozzen von Sigünen minne.

ze tump [ ] ze solher angest,

wan, swä diu minne in der iugent

G 43, Η 53 La 48 ( - J T 7 1 1 )

begriffen wirt, diu wert aller langest!

op daz alter minnen sich geloubet, dannoch diu iugent wont in der

46 47

minne bant, minne ist krefte unberoubet.

1 · Wol dir H. Kanuoleis H. 2 · von hertzenlicher liebe der auf H. 3 sich da frue an zwayen H. 4 ergit G. · all der weit mochte nie jr tumphait daründer pefinden · H. 1 Gamuret H. mit ] bey H. 2 do fehlt H. · in siner kemenäten zoch der suze clare Tschinotulander (JT1), · in sein' chamer liepleich zoch der chlare suzze Tschionatuland' (]T X). schoyinatulander G, Tschyonatulander H. 3 · dannoch was nicht H. 4 · er ward doch seit beslozzn in hertzen not von Sygaunen H.

48

1 · Awe des sy sint H. si fehlt G. zetump zes zesolher G. 2 · wo mynne wirt begriffen in der jugent die weret H. 3 mynne H. 4 · dannoch wont der jugent in jr panden mynne ist an crefften vnberaubet H.

46

1 Kanvoleiz, | La WPMo. wie | BMa Lei. spricht din La. Mo Komma nach staete. 2 unde BMa. von herzenlicher G] La. GJ La Lei Mo keine Interpunktion nach geschach. 3 von ] an GJ La. BMa Mo Komma, Lei Doppelpunkt, La kein Zeichen nach kinden. 4 [diu ergie] La. ergienc BMa. al | Lei, al diu | BMa, werlt | La. drunder GJ La, om. Lei. bevinden BMa GJ La Lei.

47

1 disiu kint der stolze | Gahmuret mit Lei. disiu | BMa. 2 Alle Hgg. Punkt nach zoch. zoch | WPMo. 3 BMa GJLa Mo Komma, Lei Doppelpunkt nach sinne. 4 iedoch beslozzen | in herzen not von La (GJ). not | WPMo.

48

1 BMa La Lei Punkt, Mo Ausrufungszeichen nach angest. minne | bant Lei. La keine Zäsur.

2 swä minne Lei.

jugende | Lei.

4 wont

Fragment I

59

Wohl dir, Kanvoleiz! Wie rühmt man noch heute, daß so früh schon innige Zuneigung in deinen Mauern dauerhaft wohnte. Dort keimte schon früh eine Liebe zwischen zwei Kindern auf, die von solcher Reinheit war, daß alle Welt ihre trübe Flecken an ihr nicht wiederfinden könnte.

Der edle Gahmuret zog da die beiden Kinder in seinem Gemach zusammen auf. Schionatulander war damals noch nicht recht verständig. Dennoch wurde er durch Liebe zu Sigune in Liebeskummer verstrickt.

Ο weh, sie sind doch noch zu unerfahren für solche Nöte! Denn die Liebe, die in der Jugend ergriffen wird, währt am längsten. Wenn auch das Alter auf Minne verzichten kann, bleibt doch die Jugend in den Fesseln der Minne; Minne ist ihrer Macht noch nicht beraubt.

60

49

Text und Übersetzung

Owe, minne, waz touc

din kraft under kinder?

wan einer der niht ougen hat,

G 44, Η 54 La 49 ( - J T 712)

der möhte dich spehen, wärer blinder,

minne, du bist alze manger slahte! gar alle schribaere künden

50

Sit daz man den rehten

nimer volschriben din art noch din ahte.

münch in der minne

unt och den wären klösensere

G 45, Η 55 La 50 (~JT 713)

wol beswert, sint gehorsam ir sinne,

daz si leistent mangiu dinc doch küme. minne twinget riter under helme. minne ist vil enge an ir rume. G 46, Η 56 La 51 ( - J T 714)

51

Diu minne hat begriffen minne hat üf erde

daz smal unt daz breite,

unt üf himele für got geleite,

minne ist allenthalben wan ze helle. diu starke minne erlamet an ir

krefte, wirt der zwifel mit wanke ir geselle.

49

2 wan eine G ] · ainer Η (JT"), · wan einer (/T7). hette H. mocht dich spuren ob Er gienge plinder H, mocht dich spuren gieng er also blinder ( ] er mit de plinden JT DE)(JT). warer blinder G. 4 gar fehlt H. künden nicht erschreiben der deinen wunder art vnd dein H.

50 51

1 daz fehlt H. 2 och fehlt H. 3 maniger H. 4 · die mynne zwinget H. die mynne ist H. 1 Diu fehlt H. 2 · mynne hat hie auf erde haus vnd ze himel ist raine vor got jr gelaite H, · minne hat (hie JTNr.54) uf erde hus zu himel hat si vur got (] himel ist rein vor got iiJTB Nr.54) geleite (JT ABNr.54), • die minne hat hie uf erde hus fur got (fehlt JT Ε) ist (ist die JT E) reinekait ir geleite (JT DE), · minne hat hie in erde hause vnd zehimel ist si raine fur got ir gelaite (JT X). 3 · der mynne H. 4 creften ist zweiuel H.

49

1 din | Lei. GJ Hei Komma nach kinder. 2 eine BMa GJ Mo. BMa (Lei) Komma nach eine (einer Lei), ougen | La Lei. dich spüren, gienger blinder La. wärer ] waerer BMa, warer GJ, gienger La, wsere er Lei, waer er Mo. GJ Hei Fragezeichen nach blinder. 4 nimer | WPMo (Mo), vorschöben art Lei. 50 1 münech Mo. in der minne in Anführungszeichen BMa. 2 och om. Lei. [wären] La. klose- | naere WPMo. 3 BMa GJ Hei Mo Komma nach küme. 4 minn La. heim GJ La. helm: | La, helme, | WPMo, under | Lei. Lei (La) Doppelpunkt, Mo Komma nach helme (heim La). BMa Doppelpunkt nach none. 51

2 erde hüs: | [und] ze himel ist reine für got ir geleite La (GJ). und (unde Mo) | uf ze himele Lei (Mo). 4 erlamet WPMo. krefte, | ist zwivel La (GJ). an | kraft, wirt zwivel Lei.

Fragment I

61

Ο weh, Minne, zu was ist es gut, daß du deine Macht auf Kinder richtest? Denn sogar einer, der keine Augen hat, also ein wirklicher Blinder, der könnte dich noch erspähen. Minne du bist allzu verschiedenartig: Alle Schreiber der Welt zusammen könnten deine Abkunft und eigentümliche Beschaffenheit niemals ganz genau beschreiben.

Da man den rechten Mönch und auch den echten Klausner feierlich auf die Gottesminne einschwört, ist ihr Geist auf Gehorsam gerichtet, [und doch ist es so,] daß sie dennoch viele Forderungen der Minne nur unzureichend erfüllen. Die Minne zwingt die Ritter unter die Helme. Der Minne genügt auch der engste Raum.

Die Minne hat vom Kleinen wie vom Großen Besitz ergriffen. Minne hat auf Erden wie im Himmel die Aufgabe inne, vor Gottes Angesicht hin zu geleiten. Minne ist überall, außer in der Hölle. Die Kräfte der mächtigen Minne erlahmen, wenn der Zwiespalt gemeinsam mit dem Wankelmut ihre Begleiter werden.

62

Text und Übersetzung

G 47, Η 57 La 52 ( - J T 715) 52

A n e w a n e u n t äne

zwifel diu beide (unt)

w a s diu m a g e t Sigüne

S c h o y n a t u l a n d e r . m i t leide

g r o z i u liebe w a s d a r z u o g e m e n g e t . ich seit iu v o n ir kintlicher

m i n n e vil w u n d e r s , w a n daz ez sich lenget.

Η 13 La 53 ( - J T 7 1 6 ) 53

Ir schämliche zucht und

der art jr geschlächtes

- sy waren aus lautterlicher

mynne erporn - der zwang sy jr rechtes,

daz sy aussen f (taugenlich jr minne halen) an jren claren leiben

f

und ynne an den hertzen verqua/en.

G 48, Η 14 La 54 (~JT 717) 54

Schoynatulander

m o h t o u c h sin wise

von m a n g e r süezen botschaft,

die diu F r a n z o y s e k ü n g i n Anphlise

tougenliche enbot dem Anschevine. die e r w a r b er u n t w ä n d e in

vil dicke ir s o r g e , n u w e n d e o u c h die sine!

52

2 Sigaune vnd Tschyonatulander Η (JT, außer vnd auch Tschinotulander JT Nr.54). unt fehlt G. 3 · da was die starche liebe zügemenget H, · da (]do JT A) was di starke liebe (]minne JT A) zu gemenget (JT). 4 ' Ich saget euch von jr kimlichen minne Wunders vil wann H.

53

1 der ] diu (JT). 2 der ] diu (JT). 3 · daz sy aussn· H, · daz si vil tougenlich ir minne Qcüber JTE) halen · (JT1), · daz si ir minne so tougenlichen halen · (JTR). 4 verqualten H.

54

1 Tschyonatulander H. och ] wol H. 2 div fehlt H. frantzoser H. 3 · bey Im empote dem werden Ensweine H, · bi im enbot (] sant JT α Nr.54) dem werden Anschevine (JT). 4 erwarb ] warb H. in fehlt H. ir sorge ] jr senede noet H, ir not (JT, außer swar not JTNr.S4).

52

2 BMa Punkt nach maget, Ausrufungszeichen nach Sigüne und nach Schionatulander. GJ La Mo Komma, Lei keine Interpunktion nach Schionatulander. und | Lei, zwifel | WPMo. GJ La Lei Mo Doppelpunkt nach leide. 4 saget BMa, sagete Lei. kintli-1 eher Lei, minne WPMo.

53

Str. S3 athetiert von BMa, als unecht aufgenommen von Lei. herzen Mo.

54

2 die | BMa. not La.

diu om. La.

Franzoiser Lei.

1 zuht | La WPMo.

4 erwarb ] warb Mo.

4 innen Lei.

unde wände | WPMo (Mo),

an dem sorge ]

Fragment I

63

Frei von beidem, von Wankelmut und Zwiespalt, waren das Mädchen Sigune und Schionatulander. Große Zuneigung mit Leid war zu beidem hinzu gemischt. Ich könnte euch noch viel Wunderbares von ihrer kindlichen Liebe erzählen, doch es wird nun allzu lang.

Ihre anerzogene Zurückhaltung und die angeborenen Eigenschaften ihrer Familien - sie waren beide die Früchte reiner Liebe - forderten ihr Recht, so daß sie nach außen an ihrer strahlenden Erscheinung alle Zeichen ihrer Liebe verbargen, jedoch tief im Herzen vor Qual vergingen.

Schionatulander hatte alle Ursache, in Liebesdingen erfahren zu sein, und zwar wegen der vielen Liebesbotschaften, die die französische Königin Anphlise dem von Anschouwe heimlich gesandt hatte. Er nämlich hatte sie überbracht und ihnen oftmals ihre Liebesnot gelindert. Nun lindere auch seine Schmerzen!

64

Text und Übersetzung G 49, Η 15 La 55 (-JT718)

55

Schoynatulander

vil dicke wart innen,

wie siner muomen sun Gahmwret

künde sprechen mit manlichen sinnen

unde wie sich der von kumber künde scheiden. des iach im vil der tiuschen

diet, als taeicn ouch die werden heiden.

G 50, Η 58 [Vv. 1 - 2 Η 17] La 57 (-JT 720)

56

Der siieze Schoynatulander genande, als sin gesellekeit

in sorgen manecvalt in küme gemante.

do sprach er: ,Sigüne, helfe riche, nu hilf mir, werdiu maget, üz

den sorgen, so tuostu helfecliche!

G 51, Η 59 La 58 (-JT 721)

57

Duzisse üz Katelangen,

la mih geniezen:

ich hcere sagen, du sist erboren

von der art, die nie künde verdriezen,

sine waeren helfec mit ir lone. swer durch si kumberliche not

enphie, diner sseiden an mir schone!'

55

1 Tschy onatulander vil offt ward des ynnen H. 2 · vmb seinen Ohaym Gamuret wie wol er künde sprechn künde mit synnen H. Gahmiret G. 3 wie er sich von H. 4 · des Jähen im hie vil der taufpern diet aissam taten dort die hayden H. taen G. 56 1 Der suessen Η 17. genante H. 2 · alle sein genantekait (]genedikait Η 17) mit grosser sorge in H. 4 werdiu ] suesse Η (JT). hilffeleiche H. 57 3 · Sy weren wol gehilfflich mit H. 4 · die ye kumerleiche not durch sy genade würbe desselben an H. diner sald'n G ] desselben H, des selben (JT, außer des selbigen JTNr.18). 55 1 wart des innen GJ La Lei. 2 umb sinen oeheim Gahmuret, | wie wol er sprechen künde mit sinnen, La (GJ). wie sin oeheim Gahmu-1 ret Lei. Gahmu-1 ret BMa. 3 wie er sich GJ La. 4 des jähen im hie vil | der toufbaern diet, als [täten] dort die La {ohne [ ] GJ). tiuschen ] toufbaern BMa G]La, toufbaeren Mo. toufbsern | BMa, toufbaeren diet | WPMo. taten Mo, jähen Lei. 56

GJ La Lei Mo Str. 59 vor 56 nach Η JT. 1 Schoyna- | tulander ?, Schionatu- | lander BMa Lei, Schionatulander | WPMo, La ohne Zäsur, genante BMa La Mo. BMa keine Interpunktion, Hei Punkt nach genante (genande Lei}. 2 in | BMa Lei. gemande Lei. BMa La Doppelpunkt, Lei Mo Komma nach gemante. 4 süeziu maget La. maget, | WPMo. helfliche La. 57 1 Ducisse BMa GJ La Mo. Hei Komma, GJ Ausrufungszeichen nach geniezen. 2 von | Lei, sagen | WPMo. 3 si enwseren Lei. Alle Hgg. Komma, Hei Ausrufungszeichen nach lone. 4 kummerliche | Lei. enphienc alle Hgg. enphienc | WPMo. BMa La Lei Mo Doppelpunkt, GJ Punkt nach enphienc.

Fragment I

65

Schionatulander hatte oftmals erfahren, wie klug und männlich Gahmuret, der Sohn seiner Mutterschwester, zu reden und seinem Liebeskummer ein Ende zu machen verstand. Dafür war er beim Christenvolk berühmt und ebenso auch bei den edlen Heiden.

Der liebliche Schionatulander faßte sich ein Herz, so wenig ihn auch sein vertrauter, doch kummervoller Umgang mit Sigune dazu drängte. Da sagte er: „Sigune, du Hilfreiche, nun hilf mir aus meinen Sorgen, liebliches Mädchen; dann erweist du dich wirklich als hilfreich.

Duchesse von Katelangen, steh mir bei: Sagt man doch, du seist aus einem Geschlecht, das nie zögerte, hilfreich mit ihren Zuwendungen umzugehen. Wer auch immer durch dein Geschlecht erst in Not geraten sein mag: Laß dein angestammtes Heil an mir nicht zu Schanden werden!"

66

Text und Übersetzung G 52, Η 60 La 59 (~JT 722)

58

,Beäs amis, nu sprich,

schoener vriunt, waz du meinest!

lä mich hceren, obe du

dich des willen gein mir so vereinest,

daz din klagendiu bet iht müge vervahen! dune wizzest es vil rehte

die wärheit, sone soltu dich niht versahen.' G 5 3 , Η 16 La 56 (~JT 719)

59

Alle die minne phlägen nu hceret magetliche

unt minne an sich leiten, sorge unt manheit mit den arbeiten,

da von ih wil äventiure künden den rehten, die durch herzeliebe ie senende not erfunden.

G 54, Η 61 La 60 (~JT 723)

60

,Swä genäde wonet, da frouwe, ih ger genäden.

sol man si suochen. des solt du durh dine genäde geruochen.

werdiu gesellekeit stet wol den kinden. swä rehtiu genäde nie

niht gewan ze tuone, wer mac si da vinden?'

58

1 · Beafamis schöner freündt sprich was H. 2 · la hören ob du mit züchten dich des H, la hören zucht di dine ob du des (/T). vereinst G, verainest H. 3 iht fehlt H. 4 · du wissest recht ain warheit so solt du dich gegen mir nicht vergahen H. vervahen G.

59

1 phlegen H, pflegende sin (/T). 2 · die hören von magtlicher sorge vnd von mannlichen arbaiten H. 3 dauon ich euch arbaite künde H. 4 dem rechten wolgemüten der durch liebe ye H, dem rechten der durch herzen (fehlt JTDE) liep und minne (] vnd von minne JTX, von mynne JTNr.54) kraft ie IJT'JTXj. not befunde H.

60 2 ich beger genade an dich des H. fehlt H. ze Rueme wer H. 58 59

60

dine genade ] dein guete Η (J1).

3 geselükait die stet H.

4 niht

1 schce-1 ner Lei. 2 lä hcern, ob du mit zühten | dich La (GJ). 4 warheit | WPMo. Nach Str. 55 (wie Η JT) bei Ba Dal GJ La Lei Mar Mo Pip. IMG] La. 2 magtlkh (magetlich Lei) sorge | unde La Lei (GJ). BMa keine Interpunktion nach arbeiten. 4 BMa Doppelpunkt nach rehten. die von minnen | durch Lei (nach Vorschlag La im Apparat), herze-1 liebe durch | BMa, die La (GJ), herzeliebe | WPMo. 1 wonet, | WPMo. 2 des | BMa. 4 reht La. niht | BMa La Lei WPMo.

| durch

Fragment I

67

„Bei ami, nun sage, schöner Freund, woran du denkst! Laß mich hören, ob du zu dem, was du von mir verlangst, auf eine solche Weise entschlossen bist, daß deine flehentliche Bitte überhaupt erfüllt werden kann. Wenn du dir da nicht sicher bist, so übereile nichts."

Alle, die je geliebt haben und überhaupt mit Minne zu tun hatten, hört nun von den Sorgen eines Mädchens und männlicher Bewährung in den Mühen der Liebe. Davon will ich nun den wahrhaft Liebenden eine Geschichte erzählen, denen, die jemals aus tiefer Zuneigung Sehnsuchtsqualen erfahren haben mögen.

„Man muß dort Gunst suchen, wo sie zuhause ist. Herrin, ich bitte um Zuwendung, und du sollst sie mir um Deiner Huld willen gewähren. Edle Verbundenheit ziemt auch Kindern. Wer kann wirkliche Gunst dort finden, wo sie nichts zu suchen hat?"

68

61

Text und Übersetzung

Si sprach: ,du solt trüren

G 55, Η 62 La 61 (~JT 724)

durch trcesten da künden,

da man dir baz helfen m a c ,

dane (ich)

m ö h t e . anders du kanst dich sünden,

o b du gerst, daz ih dir kumber wende, w a n ih bin reht ein weise,

62

aller m ä g e unt der liute mines landes eilende.'

,Ich weiz wol, du bist landes des enger ich alles niht,

G 56, Η 63 La 62 ( - J T 725)

unt Üute g r o z frouwe.

w a n daz mich din herze dur din o u g e s c h o u w e ,

also daz ez den kumber min bedenke. nu hilf mir schiere, e daz din

63

,Swer so minne hat, daz sin deheinem als lieben friunt,

minne min herze unt die fröude verkrenke!'

minne ist gevsere

G 57, Η 64 La 63 (~JT 726/727)

als du mir bist, daz w o r t im gebsere

wirt v o n mir nimer benennet minne. g o t weiz wol, daz ich nie

bekande minnen flust n o c h der minnen gewinne.

61

1 solt dein traüren H. 2 bas gehelffen muge dann ich annderst H. dane mohte G. versundn H. 4 wayse meiner mage Lanndes vnd leute eilende Η (JT1). 62 1 grosse H. 2 beger H. daz dein hertze durch die äugen mich anschawe H. 4 · thue der mynne ir recht ee der mynne vnns baiden die synne verkrencke · H. · nu (] du JTA, fehlt JT BRNr.54) tu der minn ir (fehltJTA) recht e (JT). 63 1 geware G, gewere H, gewahre (JT ABEXNr.54), gebare (JTD). 2 · gegen ainem also lieben freunde als du mir bist der mag wol leben one swere H. 3 · wirt aber von mir genant ymmer mynne H. bennet G. 4 ich niht erkenne weder meinen Verlust noch Ir gewynne H. 61

1 solt din trüren GJ La. 2 gehelfen GJ La. helfen | Lei. GJ Punkt, La Lei Doppelpunkt nach ich. möhte om. GJ La Lei. BMa Doppelpunkt, Hei Komma nach möhte. versünden GJ La Lei. 4 Ba BMa Lei Mar Mo Pip keine Interpunktion im ganzen Vers, weise | miner mäge, lands und liute eilende La (GJ, mit Komma nach weise wie La 1. Aufl.). al-1 der mäge und liute mins Lei. aller | BMa. 62 1 gröziu GJ La Lei. 2 wan | Lei. mich om. BMa La Lei. BMa La Lei keine Interpunktion nach schouwe. 3 Lei Komma nach also. 63 1 daz | Lei. 2 deheime La. friunde | BMa La (GJ). vriunde, als | Lei. wort ungebaere alle Hgg. 4 be-1 kande Lei. noch ir gewinne GJ La. der om. Lei.

Fragment I

69

Sie erwiderte: „Du mußt, um getröstet zu werden, dein Leid dort kundtun, wo man dir besser helfen kann, als ich es vermöchte. Sonst wirst du dich versündigen, wenn du verlangst, daß ich deinen Kummer beende: denn ich bin ja eine Waise, geschieden von allen Blutsverwandten und von den Leuten meines Landes."

„Ich weiß sehr wohl, daß du eine mächtige Herrin über ein Land und ein Volk bist. Doch nicht darauf richtet sich mein Verlangen, sondern nur, daß durch deine Augen dein Herz auf mich blicken möge, auf daß es an meinem Kummer Anteil nehme. Nun hilf mir schnell, bevor die Liebe zu dir mein Herz und meine ganze Freude vernichtet."

„Wenn jemand auf solche Art liebt, daß seine Liebe einem so engen Freund, wie du es mir bist, gefahrlich ist, so kann das für ihn schickliche Wort von mir niemals mit dem Begriff,Minne' bezeichnet werden. Gott weiß, daß ich weder von dem Leid noch von den Freuden, die die Minne bringt, jemals erfahren habe.

70

Text und Übersetzung G 58, Η 65 La 64 (~JT 731)

64

Minne, ist daz ein ere?

maht du minne mir tiuten?

ist daz ein site? kumet mir

minne, wie sol ih minne getriuten?

muoz ich si behalten bi den tocken? oder fliuget minne ungerne üf hant

durh die wilde? ich kan minne wol locken?' G 59, Η 66 La 65 (~JT 738)

65

,Frouwe, ih hän vernomen von minne kan den alten,

wiben unt von mannen,

den iuwgen so schuzlichen spannen,

daz si mit gedanken sere schiuzet. si triffet äne wenken,

daz fliuget, daz loufet, daz get, daz fliuzet.' G 60, Η 68 La 67, Lei 66 (~JT 740)

66

,Schoynatulander,

mich twingent gedanke,

so du mir üz den ougen kumest,

daz ich muoz sin an fröuden diu kranke,

unze ich tougenliche an dich geblicke. des trure ich in der wochen

niht zeinem male, ez erget alze dicke.' G 61, Η 69 La 68, Lei 67 (~JT 741)

67

,Sone darft du, süeziu maget, mich dir wirt wol äne frage

niht fragen von minne.

bekant minnen flust unt ir gewinne,

nu sich, wie minne üz fröuden in sorgen werbe! tuo der minne ir reht, e diu minne

uns beidiu in den herzen verderbe!

64

1 · Ist mynne ain Sy oder ein Eer magst du mir mynne bedeuten H, · Ist minne ein si oder ein (fehlt Nr.54) er mahtu du mir (fehlt Nr.54) minne beduten (JT1 JT X). tuten G. 2 · vnd ist mynne ain sy kumbt H. • und (fehlt JTX) sag mir (fehlt JT A) wes diu minne ger (] beger JTE) ob si mir kumt wie (]V JTX). sol sy freuten H. 3 si fehlt H. 4 oder fehlt H. auf die hanndt H. 65 1 wiben ] firawen H. 2 iugen G. kan den iungen den alten so H. 4 wencken das lauffet kreuchet fleuget oder fleüsset H, wenken das (] swaz JV) loufet (daz JT Nr.54) kruchet vliuget oder fluzet (JT'; JT" fehlt). 66 2 · Wenn ich dich nicht ensihe so bin ich on freuden Η (JT A). 3 ich dich aber taügenlich erplicke H. 4 · Sunst trawe ich H. erget mir laider all ze H. 67 1 · So dorfft die süesse H. 2 · so wirt dir one frage wol kunt mynnen H. 3 · sich wie der mynne aus freüde in sorge werbe H. 4 Ire recht Ee der mynne vnns baiden in dem hertzen H. 64

1 ein er alle Hgg. maht du | BMa, mah-1 tü Lei. 2 ein sie alle Hgg. (ein si Lei), sie? | WPMo. 4 od GJ La. üf | Lei. GJ Hei La Lei Punkt nach locken. 65 1 vernomen | La WPMo. 4 wenken, | daz loufet, kriuchet, fliuget oder fliuzet BMa La(GJ). get und daz Lei. 66 GJ La Str. 68 vor 66 nach Η JT. 1 Mo Ausrufungszeichen nach gedanke. 2 ougen | kums Lei. muoz an vreuden sin diu Lei. 3 dich ] doch Lei. 4 zeim mal La. 67 1 maget, | WPMo. 3 fröude in sorge GJ La Mo (Lei). 4 e | BMa La Lei, reht, | WPMo. beide GJ La Lei. [den] La, om. Lei.

Fragment I

71

Minne, ist das etwas Anerkanntes? Kannst du mir Minne erklären? Ist es ein Brauch? Wie soll ich mit ihr freundlich umgehen, wenn sie mir begegnet? Soll ich sie zu den Puppen tun? Sträubt sich die Minne, mir auf die Hand zu fliegen wegen ihrer Wildheit? Oder kann ich sie leicht anlocken?"

„Herrin, ich habe von allen möglichen Leuten sagen gehört, Minne verstehe so treffsicher auf Alte wie auf Junge anzulegen, daß sie mit den Pfeilen der Gedanken schmerzhafte Wunden beibringt. Sie trifft ohne Fehl alles was fliegt, läuft, kriecht oder schwimmt."

„Schionatulander, auch mich bedrängen die Gedanken, so daß, wenn dich meine Augen verlieren, unfehlbar all meine Freude schwindet, bis ich dich dann wieder verstohlen anblicke. Deswegen falle ich nicht bloß einmal in der Woche in Trauer, es geschieht nur allzu oft."

„So brauchst du mich nicht weiter nach Minne zu fragen, süßes Mädchen. Auch ohne alles Fragen wird dir wohl das Leid und die Freuden der Minne bekannt. Nun sieh, wie die Minne sich aus Glück in Kummer verkehrt. Darum handle nun nach dem Gesetz der Minne, bevor sie uns beide in unseren Herzen zugrunde richtet!

72

68

Text und Übersetzung

Iä erkande ih, süeziu maget, e minne ist an gedanken.

wol minne von mseren.

G 62, Η 67 La 66, Lei 68 (~JT 739)

daz mac ich nu mit mir selbem bewahren,

des betwinget si diu staete liebe. minne stilt mir fröude

uz dem herzen, ez entöhte einem diebe.' G 63 La 69 (~JT 742)

69

Si sprach: ,kan diu minne

in diu herzen so slichen,

daz ir man noch wip noch diu

maget mit ir snelheit entwichen,

weiz aber iemen, waz diu minne richet an liuten, die ir schaden nie

gewurben, daz si den fröude zebrichet?' G 64 La 70 (~JT 743)

70

,Iä ist si gewaltec

der tumben unt der grisen.

niemen als künstec lebet,

daz er künne ir wert unt ir wunder volprisen.

nu sulen wir bediu nach ir helfe kriegen mit unferscharter

friuntschaft

minne kan mit ir wanke n/emen betriegen.' G 65 La 71 ( - J T 744)

71

,Owe, künde diu minne dane daz ich gaebe

ander helfe erzeigen,

in din gebot minen frien lip für eigen!

mich hat din iugent noch niht reht erarnet. du muost mich under schilteclichem

68

dache e gedienen: des wis vor gewarnet!'

1 · Da erkantest du sfiesse mage mynne wol von meren H. 2 magich G. nu ] wol H. selben pebaren H. 3 si ] es H. state ] starche Η (/Τ). 4 stilt aus meinem hertzen freüde vnd dare färbe es entaugt ainem H.

69 2 noch mait nicht (fehlt JT AB) ir snelheit (nicht JT A) mac (] kunnen JTB, kan JTE) entw. (JV), noch maget mag ir mit snellichait entw. (JTX). 70 2 der ir wunder kunne ( ] kan JT BE) vol prisen (/Τ7), der chunne ir wund' vol preisen (JT X). 4 ir (fehlt JT). nemen G. 68

Nach Str. 65 (wie HJT) bei Ba Dal GJ La Mar Pip. punkt, GJ Semikolon, Hei Komma nach gedanken. eim La.

1 maget, | BMa La WPMo. 2 BMa La Lei Doppeldaz | BMa. selbe GJ La, selben Mo. 4 ΰζ | BMa Lei.

1 in | BMa Lei. 2 wip noch | BMa Lei, wip | La.maget mac mit Lei (nach von La im Apparat erwogenem enmac). BMa Lei Fragezeichen nach entwichen. 4 schaden | WPMo. si vreude den zebrichet Lei. 3 sul Lei. BMa Punkt, 70 2daz| Lei. er | BMa. künne ir wunder volprisen GJ La. künne wert und Lei. Hei Doppelpunkt nach kriegen. 4 GJ Mo Punkt, Lei Doppelpunkt nach vriuntschaft. minne | BMa. triegen GJ La Lei. 69

71

2 din | BMa Lei. GJ La Lei.

4 schiltli-1 chem Lei, schil-1 teclichem WPMo.

schiltlfchem BMa GJ La Lei.

dienen

Fragment I

73

Oh, ich hatte die Minne früher nur vom Hörensagen gekannt, süßes Mädchen. Minne wohnt in den Gedanken. Das kann ich nun an mir selbst beweisen. Die beständige Zuneigung treibt sie dorthin. Die Minne raubt mir Freude aus dem Herzen, für einen echten Dieb wäre das nichts."

Sie sagte: „Wenn sich denn die Minne so in die Herzen schleichen kann, daß ihr weder Mann, noch Frau, noch Mädchen, mögen sie auch noch so flink sein, entkommen, weiß denn dann wenigstens jemand, wofür die Minne an Leuten, die nie danach getrachtet haben, ihr zu schaden, Rache nimmt und denen ihr Glück zerstört?"

„In der Tat, sie hat Macht über Unbedarfte und Grauköpfe. Kein Lebender hat solches Können, daß er ihren Rang und ihre Wundertaten ganz zu würdigen vermöchte. Nun laß uns beide mit unverbrüchlicher Freundschaft um ihren Beistand werben; denn bei unverbrüchlicher Freundschaft kann einen die Minne mit ihrem Wankelmut nicht in die Irre führen." „O weh, könnte doch die Minne andere Hilfe gewähren, als daß ich jetzt schon meine Freiheit wie eine Leibeigene unter dein Gebot stellte! So jung wie du bist, hast du mich noch nicht auf die rechte Weise erworben. Du mußt mich unter dem Schild zuvor erst verdienen: Laß dir dies von vornherein gesagt sein!"

Text und Übersetzung

74

G 66 La 7 2 ( - J T 745)

72

,Frouwe, als ich mit kraft

diu wäpen mac leiten,

hie enzwischen unt ouch dane min Ιΐρ

wirt gesehen in den süezen suren arbeiten,

sö daz min dienst nach diner helfe ringe. ich wart in diner helfe erboren,

nu hilf, so daz mir an dir gelinge!' G 67 L a 73 ( ~ J T 746)

73

Diz was der anevanc

ir geselleschefte

mit worten an den ziten,

dö Pompeirus für Baldac mit krefte

het ouch sine hervart gesprochen unt Ipomidon der werde,

üz ir her wart vil niwer sper zebrochen. G 68 La 74 ( - J T 747)

74

Gahmuret sich huop des et mit sin eines Schilde,

endes vil tougen er het iedoch groze kraft äne lougen,

wan er phlac wol drier lande krone. sus iaget in diu minne an den re.

den enphienc er von Ipomidone. G 69 La 75 ( - J T 748)

75

Schoynatulander

was leide zer verte,

wan im Sigunen minne

hohen muot unt die fröude gar werte,

doch schiet er von dan mit sinem mäge. daz was Sigünen herzen not

72

2 in suzen suren arbeiten (JT'JTX).

73

2 Pompeirus JT ADE, Pompeius JT

74

unt diu sine, in zwein reit diu minne üf die läge.

4 diner [JTA),

din (JTBKR),

deine ( / T D ) , dime (JTE),

deine ( J T J ) .

BX.

1 · (· nu JTE) Gamuret der milde des endes vil (vil ] hueb sich JTDEX)

tougen

(JT'JTX).

4 enphienger G. 75 72

4 herze not G. 1 krefte | La Lei ( G J ) . er- | born Lei.

73

1 ane- | vanc Lei.

74

1 Gahmuret

75

2 höhen

La.

2 ouch om. Lei.

wirt | Lei.

[den] La, om. Lei.

4 dine BMa GJ La

Lei.

Lei Komma nach sö. 2 d ö | BMa. | sich La Lei (GJ).

Pompeius (Pompejus Lei) alle Hgg. sich | BMa.

4 Ipomedön GJ.

vil fehlt BMa La Lei.

2 er | Lei.

üz | Lei.

iedoch ] och GJ

4 an | Lei, minne | WPMo. | Lei.

reit minne Lei.

4 herzenöt alle Hgg.

und | BMa

Lei.

Alle Hgg.

Doppelpunkt

nach

sine,

Fragment I

75

„Herrin, sowie ich kraftvoll die Schwertleite empfangen habe, und auch schon bis dahin und danach, wird man mich in süßen, herben Bewährungskämpfen sehen, so daß ich dienstbereit nach deiner Zuwendung strebe. Denn ich empfing mein Leben allein, damit du mir beistehst. Nun wende dich mir zu, so daß ich bei dir Erfolg haben kann."

Dies war der Beginn ihres Liebesverhältnisses, das in Worten bestand, eben zu jener Zeit, als gerade Pompeius und der edle Ipomidon ihren gewaltigen Kriegszug gegen Baldac verkündet hatten. Von ihrem Heer wurden da viele neue Speere zerbrochen.

Auch Gahmuret machte sich dorthin auf den Weg, in aller Heimlichkeit und nur mit seinem eigenen Schild. Er verfügte jedoch zweifellos über mächtige Ritterscharen, denn er trug ja in drei Ländern die Krone. So jagte ihn die Minne in den Tod. Der wurde ihm durch Ipomidon zuteil.

Schionatulander war trübe zumute bei dieser Fahrt, denn die Liebe zu Sigune verwehrte ihm frohe Zuversicht und alle Freude. Dennoch zog er mit seinem Verwandten fort. Dies war der Anlaß zu tiefer Betrübnis für Sigune und ihn selbst: Ihnen beiden legte sich die Minne in den Hinterhalt.

76

Text und Übersetzung G 7 0 , Μ 16 La 76 (~JT 749)

76

Der iunge fürste urloup nam

ze der maget tougenliche.

er sprach: ,owe, wie sol ih geieben,

daz diu minne an fröuden mich riche

schiere mache, unt von tode entscheiden? wünsche mir heiles, süeziu

maget! ich muoz von dir zuo den heiden.' G 71, Μ 17 La 77 (-JT 750)

77

,Ich bin dir holt, getriwer friunt. sus wil ich imer [ ]

nu sprich, ist daz minne?

wünschende sin nach dem gewinne,

der uns beiden hohe fröude erwerbe. ez brinnent elliu wazzer,

e diu liebe an mir verderbe.' G 75, Μ 18 La 78, Lei 81 (-JT 751)

78

Vil liep beleip aldä,

liep schiet von dannen.

ir gehortet nie gesprechen

von mageden, von wiben, von manlichen mannen,

die sich herzenlicher künden minnen. des wart sit Parziväl

an Sigünen zer linden wol innen. G 72, Μ 24 La 79, Lei 78 (-JT 752)

79

Von Kingriväls der künec

Gahmuret sich verholne

von mägen unt von mannen

schiet, daz sin vart den gar was diu verstolne.

wan zweinzec kint von hoher art kurtoyse unt ahtzec knappen ze yser

äne schilt het er erweit üf die reise.

76 3 ... ns der tot ... M. · vil lichte mak (] so male JT D) der tot uns e (] mag vns der dot ee JT E) gescheiden (]scheiden JT D) (JT1), · wand vns der tod so leicht mag geschaiden (JT X). 4 · (n)v wnsch(e) ... (i)r gelvkes (sv)zzev (m) . . . M, · nu wünsche mir geluckes suze (] vil sueze JT BEX) (JT1 JT X). 77 1 ... ch bin dir holt nv ... M. 2 (s)us wil ich im ... (s)chen(de) si(n) ... (n)de nach ... winne M, · so bin ich gernde dinen (] vmb disen JT Β) solt mit wünsch ot immer me (iehlt JT Ε) nach dem gewinne (] gedinge JT Β) (/Τ7), · so wil ich geren vmb den solt mit wünsche sein immer nach dem gewinne (JTX). gern sin vn in G von jüngerer Hand auf Rasur nach imer eingefügt. 4 di(v) lie ... herzen m ... (r)be M. an mir ] minhalp (JT1), meimithalbn (JTX). 78

1 al d(a) ... sich schiet ... neM. 2 nie von beide ... ben noch (v) ... M. · gehoeret wart uf erden nie von wiben (] wibe JT B, frowen JT E) noch von mienlichen (] menlichem JT B, tegeleiche JT DE) mannen (] manne JT B) (JT' JTX). 4 P(a) ... (1) vo(n) Sygvnen bi ... M. 79 1 von kinriuals G, (V)z Gingr ... M. 2 · von mage ... wibe ν ... nnen fvr ... rt waz gar den ver ... e M.

76 2-weGJLa. ich | Lei. diu om. Lei. Mar Fragezeichen nach riche. 3 GJLei keine Interpunktion nach mache, e mac lihte uns der tot gescheiden Mar. 4 heiles ] gelückes, | La. heiles, | WPMo. zuo den ] zen GJ La. 77 1 getriuwer | Lei. 2 immer gernde sin und wünschende nach Mo. 4 an mir ] minhalp GJ La Lei. 78 Nach Str. 85 (wie G) bei BMa Lei (ab 2. Aufl.) Mo 1 al-1 da Lei. 2 von | BMa. mageden, [von] wiben, [von] manlichen La, mageden, wiben, manlichen Lei. 4 an | BMa Lei. Sigun GJ La. 79 Strr. 79-80 nach 8S (wie M) bei Mar. 1 künc BMa La. Gah-1 muret Lei. 2 schiet, | BMa La WPMo. 3 kurteise alle Hgg. 4 an GJ La.

Fragment I

77

Der junge Fürst nahm heimlich von dem Mädchen Abschied. Er sagte: „O weh, wie soll ich nun bloß mein Leben so fristen, daß mich die Minne bald mit Freuden reich beschenkt, und wie soll ich dem Tod entgehen? Wünsche mir Glück, süßes Mädchen! Ich muß fort von dir ins Land der Heiden."

„Ich bin dir zugetan, treuer Freund. Jetzt sag mir: Ist das nun Minne? So will ich auf immer eine "Wünschende sein im Streben nach Belohnung, die uns höchste Freude verspricht. Eher gehen alle Gewässer in Flammen auf, als meine Zuneigung versiegt!"

Viel Zuneigung blieb dort zurück, viel Zuneigung zog von dannen. Noch nie habt ihr von Mädchen, Frauen oder tapferen Männern gehört, die sich inniger liebten. Das wurde Parzival später an Sigune auf der Linde deutlich gewahr.

Gahmuret, der König von Kingrivals, schlich sich in aller Heimlichkeit von seinen Angehörigen und seinen Gefolgsleuten davon, so daß denen sein Aufbruch gänzlich verborgen blieb. Nicht mehr als zwanzig Pagen aus edlen, höfischen Familien und achtzig Knappen in Rüstung aber ohne Schilde hatte er ausgesucht für die Fahrt.

Text und Übersetzung

78

G 73, Μ 25 La 80, Lei 79 ( - J T 753) 80

F ü n f schoeniu o r s u n t g o l d e s vil, i m v o l g e t ü f die vart

v o n A z a g o u c gesteine

sin schilt a n d e r e schilte g a r eine,

d u r c h daz s o l t e ein schilt gesellen kiesen, daz im ein a n d e r schilt heiles

w ü n s c h t e , o b e dirre schilt k ü n d e niesen. Μ 19 Hei 80a, Mar 78a ( - J T 755)

81

t ( Z ) e Herzenlouden η (am urloü)p so g ( a r ein in)wenberender stam

Gahmu (ret der) werde. niende(r üf) der erde

(wirt gebore)n

(noch getri)wer

wip, als si vil (wol fcese)heinte.

v o ( n ir zwei)er

s c h e i d e n wart)

iämer, den mane(c ouge st)t bewein(ie). f Μ 20 Hei 80b, Mar 78b ( - J T 756)

82

f (Er)

sprach: ,vil liebes (wip, din) ere

(e)t gesach si nimme(r mere.

bevil(he ich got) dem rei(neri).'

h)erzeliche

(si bev)a\ch in ouch got (mit man)gem ir seit i ( r herz)e künftic nöt.

(si begund)e

weine(«).

siuft(e« tiefen).

ey, (waz tre)hen von i ( r ougen l)iefen!

f

Μ 21 Hei 80c, Mar 78c (~JT 757) 83

t ( G ) a h m u r e t die re(inen

trds)te güetlich(ew).

(er sp)rach: ,du s(o)lt niht weinen, (kom)

i ( n einem)

halben ia(re «')cherlich(ew)

ich her wider, lät (got mich) bi dem lib(e).'

(s)ines tröste(i ir sor)gen ein teil ents(lief, sus s) chiet er v(on dem minn) eclichen wibe. f 80 81

2 (v)erte mit ... ander schilte M. 4 ob M. 1 ... e herzenlovd(en) η ... ρ Gahmv ... (w)erde M. 2 s(o g) ... wenberender stam ... η niende ... der erde M. 3 ...wer wip als si vil ... (h)einte Μ 4 v(o) ... er schei(d) ... iamer den mane ...(t) bewein... M. 82 1 ... sprach vil liebes ... ere bevil ... dem rei ... M. 2 ... r gesach si nimm(e) ... (e)rzeliche ... e weine ... M. 3 ... alch in ovch got... gem sivft ...Μ. 4 ir seit i ... (e) chvnftich not ey ... hen von i . . . ieffen M. 83

1 ... ahmuret die re ... te g(vt)lich ... M. 2 ... räch dv s ... lt (ni)ht weinen (i)... (h)alben ia ... che(rli)ch ... M. 3 ... ich her wider lat ... bi dem li(b)... M. 4 ... in tröste ... gen ein teil (e)nts ... chiet er (v) ... echliche(n wibe) M. · des trost (JTDE), · von dem trost (JT AB), · des trostes {JTXj.

80

1 ors, vil goldes, | von Lei. schilt BMa. ander G] La Lei.

81

Als unecht abgedruckt von Lei (1. Aufl.) Mar nach Str. 78, athetiert von BMa Lei (ab 1. Aufl.). Nach JT J als echt abgedruckt von Ba (nach Str. 80) La (im App. zu Str. 80), als unecht von Pip. Vor Str. 81 ist die Str. JT 7S4 (nach JT J) aufgenommen von Ba Dal GJ Mo La (im App. zu Str. 80). 1 urloup nam | Mar. 3 vil wol om. Mar. 3 - 4 bescheinde : beweinde GJ Mo. 4 scheiden | Mar WPMo. manc Mar.

82

Str. 82-84 als unecht abgedruckt von Lei (1. Aufl.) Mar, athetiert von BMa Dal Mar Mo Lei (ab 2. Aufl.). Nach JT J als echt abgedruckt von Ba (nach Str. 80 u. JT 754), als unecht von La (im App. zu Str. 80) Pip. 1 Er sprach om. Mar. 2 Mar Komma nach weinen. 3 ouch om. Mar.

83

3 (kume) Hei.

2 volgete Lei. Alle Hgg. Komma nach vart. sin | Lei. sin schiet | anderre 4 [schilt] La, om. Lei. schilt | WPMo. ob GJ La Lei. künde BMa.

lät mich got bi übe Mar.

4 (s)ines ] (s)in Hei.

sins trösts ir sorge Mar.

Fragment I

79

Fünf prächtige Pferde sowie eine Menge Gold und Edelsteine aus dem Lande Azagouc begleiteten ihn auf seiner Reise; sein Schild folgte ihm ganz allein, ohne jegliche Begleitung anderer Schilde. Darum aber sollte sich ein Schild einen Gefährten wählen, damit ihm der andere Schild ,Gesundheit' wünschen kann, wenn er einmal niesen müßte.

Von Herzeloyde nahm der edle Gahmuret Abschied. Ein Mann, der so reich die Früchte der Treue trägt, wird heute nicht mehr auf Erden geboren, ebensowenig eine Frau von treuerer Gesinnung, wie sich bald an ihr zeigen sollte. Aus ihrer Trennung erwuchs großer Kummer, der viele Augen später zum Weinen bringen sollte.

Er sagte: „Geliebte Frau, deine gesellschaftliche Anerkennung empfehle ich Gott, der ohne Falsch ist." Er sollte sie nie mehr Wiedersehen. Sie weinte von Herzen. Auch sie empfahl ihn Gott unter vielen tiefen Seufzern. Ihr Herz prophezeite ihr zukünftiges Leid. Oh, wie viele Tränen aus ihren Augen strömten!

Gahmuret tröstete die Reine freundlich. Er sagte: „Du mußt nicht weinen. Ich komme bestimmt binnen eines halben Jahres zurück, wenn Gott mich am Leben läßt." Durch seinen Trost kamen ihre Sorgen ein wenig zur Ruhe. So trennte er sich von der liebreizenden Frau.

80

84

Text und Übersetzung

f ( S ) u s w a s si ü f g e d { i n g e n si (künde

mit) s o r g e n t(ingen.

s i n übe(rvart (mi)t

85

Μ 22 Hei 80d, Mar 78d (~JT 758) e i ) s w e n n e f ( r < 5 ) , d o c h vil s e l t e n .

k)om

ir z e

s i n e m ( i o ) d e i r beu(de

Sin herzenliche liebe

ir) tmven(bere)nd(er

lip des) m u o s t

en(gelte)n.

{unheile). starp).

m a n ge(sach

si nim)mer

unt ir minne niht frömde

was noch worden nie durch gewonheit.

m e r ( e fro) n o c h geile, f

G 74, Μ 23 La 81, Lei 80 (~JT 759)

im gap dar diu küngin ir hemde

blanc sidin, als ez ir blenke ruorte. ez ruorte ouch etwaz brünes

86

Uz Nurgäls gegen Spange

an ir huf. den poneiz vor Baldac erz fuorte.

unze hin ze Sibilie er kerte,

des genendegen (Gandines) sun,

G 76, Μ 26 La 82 ( - J T 760)

der vil wazzers üz ougen gererte,

do man friesch, wie sin vart nam ein ende. sin höher pris wirt nimer

getoufter diet noch den heidenen eilende.

84

1 ... vs was si vf ged ... swenne i ... doch vil selten M. 2 si... sorgen r ... triwen ...(nd)... mvst en ...(n) M. 3 sin vbe ... (om ir) ze ... M. 4 ... t sinem ... de ir fre(v) ... (m)an ge ... mer mer ... noch geile M.

85 86

1 frömde G. 2 ... (w)orden d(v) ... M. 4 ... (e)lin den ρ ... ζ fvrte Μ. 1 (U)z Nori(g) ... h yspane(g) ... ilige cherte M. 2 · des genendegen sun G, · dez g ... digen ... (s) sun M, • der werde (· er der JT Ε, · der werden JT D) sun Gandines