Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit [1 ed.]
 9783412510428, 9783412508074

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Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation Im Auftrag der »Historischen Kommission für Thüringen« herausgegeben von Werner Greiling und Uwe Schirmer in Verbindung mit Joachim Bauer, Enno Bünz, Ernst Koch, Armin Kohnle, Josef Pilvousek und Ulman Weiß Band 6

Enno Bünz, Werner Greiling, Uwe Schirmer (Hg.)

Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Stadtansicht von Erfurt (Ausschnitt), Mischtechnik auf Holztafel, um 1525. © Angermuseum Erfurt, Foto: Dirk Urban (Inv.-Nr. Angermuseum Erfurt: III 133)

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Wissenschaftliche Redaktion und Satz: Dr. Alexander Krünes, Jena Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz ISBN 978-3-412-50807-4

Inhalt

Vorwort ............................................................................................................................. 7 Einführung ....................................................................................................................... 9 Enno Bünz Kollegiatstifte in Thüringen. Zu den Lebenswelten von Kanonikern um 1500 ..........................................................................................................................21 Rainer Müller Klosterbauten des späten Mittelalters in Thüringen. Ein Überblick zur baulichen Überlieferung aus der Zeit von 1460 bis 1520 ................................65 Stefan Michel Friedrich und Johann von Sachsen als Förderer und Schutzherren der Klöster in Kursachsen zwischen 1486 und 1525. Beobachtungen zu ernestinischer Kirchenpolitik und Frömmigkeit .............................................. 115 Johannes Mötsch Frauenklöster in Thüringen in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation ......................................................................................................... 135 Elke-Ursel Hammer Reformationsschicksale zisterziensischer Frauenklöster in Thüringen ............. 147 Alexander Sembdner Die Augustiner-Chorherren in Thüringen zwischen Reform und Reformation aus organisations- und strukturgeschichtlicher Perspektive ........ 163 Bernd Schmies Reichsstadt und Reformation aus franziskanischer Perspektive: Die Beispiele Nordhausen und Mühlhausen ......................................................... 213 Thomas T. Müller Rezession und Klostersturm. Die Eichsfelder Monasterien in vor- und frühreformatorischer Zeit ........................................................................ 245

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INHALT

Josef Pilvousek Orden, Klöster und Stifte in Erfurt in der Reformationszeit ............................. 261 Stefan Menzel Von der Reliquien- zur Offizientranslation. Der Erfurter Severus-Kult aus musik- und kulturhistorischer Perspektive (ca. 850–1500) .......................... 287 Matthias Eifler Geistiges Leben, Buchkultur und Bibliotheksausbau im Erfurter Peterskloster im Kontext der Bursfelder Reform ................................................. 315 Joachim Ott Spuren von Bibliotheken aufgelöster Thüringer Klöster in den Beständen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena .................. 347 Volker Graupner Die Überlieferung der schriftlichen Quellen im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar zur Sequestration der Klöster im Kurfürstentum Sachsen......................................................................... 375 Uwe Schirmer Die Formierung evangelisch-lutherischer Domkapitel. Beobachtungen aus dem nordost- und mitteldeutschen Raum (1525 bis 1581) ......................... 397 Abbildungsnachweis .................................................................................................. 444 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................. 445 Ortsregister .................................................................................................................. 447 Personenregister ......................................................................................................... 452 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 460

Vorwort

VORWORT

Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse der gleichnamigen Tagung, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ vom 30. Juni bis 2. Juli 2016 in Erfurt stattfand. Der Tagungsort, der Kiliani-Hörsaal mit dem angrenzenden Kreuzgang und das Coelicum der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, machten die Veranstaltung zu einem unvergesslichen Erlebnis und schlugen hinsichtlich des Tagungsthemas gewissermaßen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die 15 Beiträge können natürlich nur ausgewählte Aspekte zur Geschichte der thüringischen Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit behandeln. Vor allem die zeitliche Konzentration der Tagung auf die Jahrzehnte um 1500, die kirchen- und ordensgeschichtlich nicht zu den gut erforschten Abschnitten der thüringischen Geschichte gehören, ist hier zu beachten. Der Kreis geeigneter Referenten und Referentinnen ist begrenzt, so dass es auch nicht möglich war, alle Orden, Kongregationen und anderen Formen religiösen Gemeinschaftslebens zu behandeln. Das Gesamtbild sähe allerdings auch nicht wesentlich anders aus, wenn es gelungen wäre, drei weitere Vorträge, die gehalten wurden oder im Programm vorgesehen waren, in die Publikation aufzunehmen. Der Tagungsband bietet instruktive Überblicksbeiträge und tiefdringende Einzelstudien mit vielen neuen Ergebnissen. Er wird hoffentlich Anstöße geben, die weißen Flecken der Klosterlandschaft Thüringens zu erforschen. Besonders dringlich wäre auch die Bearbeitung eines Thüringischen Klosterbuches nach dem Vorbild der entsprechenden Klosterbücher, die nun für Brandenburg, Mecklenburg und Sachsen vorliegen bzw. in Kürze erscheinen werden. Die Herausgeber haben vielfältigen Dank abzustatten: Zunächst einmal Herrn Prof. Dr. Jörg Seiler, Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, Frau Tamara Tierbach, Bürgermeisterin der Stadt Erfurt, und Herrn Dr. Thomas A. Seidel, Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums „Luther 2017“, für ihre Grußworte zur Tagungseröffnung. Bei der Vermittlung des Tagungsortes war Prof. Dr. Josef Pilvousek, emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, behilflich. Zu danken ist weiterhin Herrn Dr. Falko Bornschein (Erfurt), der die Tagungsteilnehmer am Freitagmittag durch den Erfurter Dom führte. Am Ende dieses langen Sitzungstages trat der Liturgische Singkreis Jena auf, der

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VORWORT

gregorianische Choräle aus thüringischen Klöstern zu Gehör brachte. Unser Dank gilt hierfür Herrn Dr. Stephan Seltmann (Riesa) und seinen Kollegen. Die Vorbereitung der Tagung und die Redaktion des Sammelbandes lagen in den bewährten Händen von Herrn Dr. Alexander Krünes. Ihm gilt abschließend unser herzlicher Dank für die nun schon seit Jahren bewährte reibungslose Zusammenarbeit. Leipzig / Jena, am 8. Juli 2017

Enno Bünz Werner Greiling Uwe Schirmer

ENNO BÜNZ EINFÜHRUNG

Einführung In der Reihe der Tagungen des Projekts „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ durfte eine Veranstaltung über Klöster und Stifte nicht fehlen. „Die Reformation Luthers ist aus dem Mönchtum gekommen“, wie der Kieler Kirchenhistoriker Johannes Schilling treffend bemerkt hat.1 Ohne seinen Eintritt in den Erfurter Konvent der Augustineremiten 1505 wäre Martin Luther nicht Theologieprofessor an der kursächsischen Universität Wittenberg geworden und hätte womöglich 1517 keine Veranlassung gehabt, mit seinen 95 Thesen zum Ablass an die Öffentlichkeit zu treten.2 Ohne seine langjährige Ordenszugehörigkeit, die ihm auch in verantwortungsvolle Funktionen in der sächsischthüringischen Provinz der observanten Augustiner führte, hätte Luther auch schwerlich so wirkungsvoll gegen die Gültigkeit der Klostergelübde schreiben können, wie er es 1521 mit den „Themata de votis“ und „De votis monasticis iudicium“ tat.3 Ohne den Mönch Martin Luther keine Reformation! Die Reformation hat die mittelalterliche Kirche in vielfältiger Weise verändert und neu gestaltet. Hinsichtlich des geistlichen Gemeinschaftslebens war der Bruch total und nachhaltig. Die zahlreichen Klöster und Stifte wurden unwiderruflich aufgehoben.4 Dies gilt in besonderem Maße für Thüringen, wo es bis dahin – bezogen auf die Grenzen des heutigen Freistaats – über 200 Klöster, Stifte und Rittersordenskommenden gab. Die meisten dieser geistlichen 1 2 3 4

Johannes SCHILLING, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 67), Gütersloh 1997, S. 10. Martin LUTHER, Die 95 Thesen. Lateinisch/Deutsch. Mit Quellen zum Ablassstreit, hg. von Johannes SCHILLING, Stuttgart 2016. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 8, Weimar 1889, S. 323–335 u. 573–669. Vgl. Eike WOLGAST, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 89), Gütersloh 2014; Enno BÜNZ, Das Ende der Klöster in Sachsen. Vom „Auslaufen“ der Mönche bis zur Säkularisation (1521 bis 1543), in: Harald MARX/Cecilie HOLLBERG (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004, S. 80–90; DERS., Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108.

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Gemeinschaften sind im Zuge der Reformation untergegangen, wobei das Ende der Klöster in Kursachsen als dem „Mutterland der Reformation“ bereits seit 1521 eingeleitet und durch den Bauernkrieg 1525 beschleunigt wurde.5 Lediglich im Erzstift Mainz, zu dem in Thüringen die Stadt Erfurt mit einigen Dörfern im Umland und das Eichsfeld gehörten, blieben einige Klöster und Stifte bestehen, allen voran das Erfurter Marienstift, der heutige Dom.6 Kirchenorganisatorisch gehörte Thüringen westlich der Saale und einschließlich des Orlagaus um Neustadt und Triptis, der sich östlich der Saale erstreckte, zum Erzbistum Mainz, nachdem das 741/42 gegründete Bistum Erfurt nach kurzer Existenz in diesem aufgegangen war.7 Ostthüringen hingegen war Teil des Bistums Naumburg-Zeitz, während Südthüringen südlich des Thüringer Waldes zum Bistum Würzburg gehörte. Daraus ergibt sich, dass auf dem Gebiet des heutigen Thüringen kein einziges Domkapitel existierte. Allerdings war der mittelrheinische Erzbischofssitz Mainz so weit entfernt, dass Erfurt als das natürliche Zentrum des Landes sowie aufgrund seines herrschaftsgeschichtlichen und ökonomischen Gewichts zu einem „Quasibischofssitz“ aufstieg, mit eigenem Weihbischof, geistlicher Gerichtsbarkeit und anderen kirchlichen Instanzen, vor allem aber einer Fülle geistlicher Gemeinschaften, wie sie selbst in manchen Bischofssitzen des Altsiedellandes nicht vorhanden waren.8 Nicht zufällig 5

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Zur Besetzung und z. T. auch Zerstörung von Klöstern 1525 vgl. Manfred STRAUBE, Reformation, Bauernkrieg und „Klosterstürme“, in: Günter VOGLER (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (Historische Mitteilungen, Beiheft 69), Stuttgart 2008, S. 381–395. Siehe dazu mehrere Beiträge in: Friedhelm JÜRGENSMEIER (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 6,1–3), Bd. 1: Christliche Antike und Mittelalter, 2 Teile; Bd. 2: [Günter CHRIST/Georg MAY], Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen; Bd. 3: Neuzeit und Moderne, 2 Teile, Würzburg 1997–2002. Vgl. die Bistumskarten in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich – Deutschsprachige Länder, hg. von Erwin GATZ in Zusammenarbeit mit Rainald BECKER, Clemens BRODKORB und Helmut FLACHENECKER, Regensburg 2009. Zur Geschichte der einzelnen Diözesen auch die entsprechenden Abschnitte in: Erwin GATZ u.a. (Hg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg i. Br. 2003 (mit weiterführenden Hinweisen). Rudolf BENL, Erfurt um 1500, in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 7), S. 161–163 (mit Stadtplan); DERS. (Bearb.), Erfurt zur Zeit Luthers. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt in der Zeit vom 21. Mai bis zum 29. September 1996 [Ausstellungskatalog], Erfurt 1996; DERS. (Bearb.), Erfurt – ein spätmittelalterliches Wissenschaftszentrum. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt in der Zeit vom 8. Juli bis 19. August 2001 im Kulturhof zum Güldenen Krönbäcken [Ausstellungskatalog], Erfurt 2001; DERS. (Bearb.), Altera Roma. Erfurt und das geistliche Zentrum der Christenheit im Spätmittelalter. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt in der Zeit vom 11. Juli bis zum 28. Oktober 2011 [Ausstellungskatalog], Erfurt 2011; Eckhard LEUSCHNER/Falko

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ziert die älteste Stadtansicht Erfurts von ca. 1520, die einen Blick auf St. Marien, St. Severi, St. Peter und das Kartäuserkloster im Vordergrund gewährt, den Einband des vorliegenden Buches.9 Während sich im Kernbereich Thüringens westlich der Saale, dessen kirchliche Grundlagen durch die Missionsanstrengungen des heiligen Bonifatius im 8. Jahrhundert gelegt wurden, im Laufe des Hochmittelalters eine vielgestaltige Klosterlandschaft entwickelte,10 war dies östlich der Saale erst im 12. und vor allem 13. Jahrhundert möglich, nachdem die deutsche Ostsiedlung im Gebiet des Bistums Naumburg dafür die Voraussetzungen geschaffen hatte.11 Auch im thüringischen Teil des Bistums Würzburg setzten erst mit dem 12. Jahrhundert Klostergründungen ein. Eine Kartierung aller Klöster, Stifte und Ritterordenskommenden in Mitteldeutschland zeigt eindrucksvoll, wie Thüringen zwischen Sachsen-Anhalt und Sachsen einen Bereich des Übergangs bildet.12 Die Klosterlandschaft Sachsen-Anhalts – Kernland der Ottonen – ist älter und dichter mit geistlichen Gemeinschaften besetzt, Sachsen hingegen zeigt ganz die Entwicklungsbedingungen des Kolonisationsgebietes, dessen Klöster und Stifte mit wenigen Ausnahmen erst nach 1200 entstanden sind.13 Erst im späten Mittelalter

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BORNSCHEIN/Kai Uwe SCHIERZ (Hg.), Kontroverse & Kompromiss. Der Pfeilerbilderzyklus des Mariendoms und die Kultur der Bikonfessionalität im Erfurt des 16. Jahrhunderts, Ausstellung im Angermuseum Erfurt vom 27. Juni bis zum 20. September 2015, Dresden 2015. Ansicht der Stadt Erfurt um 1520, Öl auf Holz (Angermuseum Erfurt: III 133). Vgl. exemplarisch Helge WITTMANN, Zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen (bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen), in: Enno BÜNZ/Stefan TEBRUCK/Helmut G. WALTHER (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 24; Schriftenreihe der FriedrichChristian-Lesser-Stiftung, 19), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 107–154. Die Grundzüge der Entwicklung werden nachgezeichnet von Hans K. SCHULZE, Die Kirche im Hoch- und Spätmittelalter, in: Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 2: Hohes und spätes Mittelalter, Teil 2 (Mitteldeutsche Forschungen, 48/2,2), Köln/Wien 1973, S. 50–149 und S. 323–336, hier über die Klöster und Stifte im Hochmittelalter S. 77–99, im Spätmittelalter S. 104–111. Die von Sabine Zinsmeyer und mir bearbeitete Mitteldeutsche Klosterkarte, die Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt komplett abdeckt, wird 2018 mit einem erläuternden Beiheft publiziert. Bis dahin ist die in SCHULZE, Kirche im Hoch- und Spätmittelalter (wie Anm. 11), beigelegte Karte „Die thüringischen Klöster und Stifter des Mittelalters“ zu benutzen, die allerdings einige Fehler enthält. Sächsisches Klosterbuch. Die mittelalterlichen Klöster, Stifte und Kommenden im Gebiet des Freistaates Sachsen, hg. von Enno BÜNZ in Zusammenarbeit mit Sabine ZINSMEYER und Dirk Martin MÜTZE, Leipzig 2018 (in Druckvorbereitung). – Zum Konzept von Klosterbüchern siehe Enno BÜNZ, Das mittelalterliche Brandenburg als Geschichts- und Klosterlandschaft. Zum Erscheinen des Brandenburgischen Klosterbuchs,

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gleichen sich diese Entwicklungsunterschiede zwischen Thüringen, SachsenAnhalt und Sachsen aus, wie man an der Verbreitung der Bettelordenskonvente und den benediktinisch bzw. zisterziensisch geprägten Frauenklöstern, aber auch an der Präsenz des Deutschen Ordens und den Niederlassungen der kleinen Orden (Antoniter, Serviten, Wilhelmiten) ablesen kann. Exemplarisch kann die Verbreitung von Kollegiatstiften die Entwicklungsunterschiede zwischen Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen verdeutlichen,14 die sich aber eben auch in der Klosterlandschaft insgesamt widerspiegeln. Klöster, Stifte und Ritterordenskommenden sind ein untrennbarer Teil der Geschichte Thüringens.15 Bereits der Gründungsakt verdeutlicht, dass die geistlichen Gemeinschaften eng mit Königtum, Adel, Episkopat und im späten Mittelalter auch mit dem Bürgertum verbunden waren. Doch nicht nur auf die bestimmenden Gründerkräfte soll hier verwiesen werden, sondern auf die vielfältigen Faktoren, die zu einer engen Verflechtung von Kirche und Welt geführt haben. Geistliche Gemeinschaften bedurften als Lebensgrundlage einer wirtschaftlichen Ausstattung mit Gütern und Einkünften, sie waren also Grundund Gerichtsherren. Erst die Bettelorden des 13. Jahrhunderts beschritten mit dem Prinzip der organisierten Wanderpredigt in den sog. Terminierbezirken, die jedem Konvent zugewiesen waren, wirtschaftlich andere Wege. Doch verband diese Wirtschaftsform die Konvente ebenfalls eng mit Stadt und Land. Zahlreiche Klöster und Stifte waren Patronatsherren von Pfarrkirchen oder diese in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 53 (2007) S. 285–317 sowie DERS./Dirk Martin MÜTZE/Sabine ZINSMEYER, Klösterreich – ein neuer Blick auf Sachsen vor der Reformation. Wozu Klosterbücher? Klöster, Stifte und Kommenden in der europäischen, deutschen und sächsischen Geschichte, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 7 (2011), S. 93-121; Online-Ausgabe: http:// www.denkstroeme.de/heft-7/s_93-121_buenz-muetze-zinsmeyer (letzter Zugriff: 11. Juli 2017). 14 Enno BÜNZ, Die Dom- und Kollegiatstifte in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg – geographisch, chronologisch und typologisch betrachtet, in: Dirk Martin MÜTZE (Hg.), Regular- und Säkularkanonikerstifte in Mitteldeutschland (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 21), Dresden 2011, S. 143–178. 15 Neben SCHULZE, Kirche im Hoch- und Spätmittelalter (wie Anm. 11) siehe dazu auch Johannes MÖTSCH, Klöster in Thüringen (Thüringen. Blätter zur Landeskunde, 70), Erfurt 2007. – Eine aktuelle Bibliographie fehlt. Der Forschungsstand bis zum Beginn der 1960er Jahre ist dokumentiert in: Hans PATZE (Bearb.) Bibliographie zur thüringischen Geschichte, 2 Halbbde. (Mitteldeutsche Forschungen, 32/I-II), Köln/Graz 1965–1966, hier Halbbd. 1: Titel, S. 792–797. Vgl. außerdem ergänzend: Ursula CREUTZ, Bibliographie der ehemaligen Klöster und Stifte im Bereich des Bistums Berlin, des Bischöflichen Amtes Schwerin und angenzender Gebiete (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 26), Leipzig 21988, sowie die Angaben im Beitrag von SCHULZE, Kirche im Hoch- und Spätmittelalter (wie Anm. 11).

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waren geistlichen Gemeinschaften sogar inkorporiert, so dass sie nicht nur einen Pfarrer einsetzen, sondern die Pfarrseelsorge selbst organisieren mussten. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass mindestens ein Drittel der Pfarrkirchen im mittelalterlichen Thüringen durch Patronat oder Inkorporation mit Klöstern und Stiften verbunden waren.16 Nicht nur als geistliche Institutionen, auch als geistige Zentren spielten viele Klöster und Stifte eine Rolle, wie ihr Beitrag zur Geschichtsschreibung17 und der Aufbau z. T. ansehnlicher Bibliotheken verdeutlicht. Die Erfurter Kloster- und Stiftsschulen besaßen bereits im 13. Jahrhundert ein Niveau, das einem universitären Lehrangebot ebenbürtig war und die Voraussetzungen für die Gründung der ersten Universität in Mitteldeutschland 1379 bzw. 1392 bot.18 Diese Wirkung der Klöster und Stifte im Schnittfeld von Kirche und Welt kann hier nur kursorisch angerissen, nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Dank vielfältiger Bemühungen ist der Gesamtbestand der geistlichen Gemeinschaften in Thüringen seit Langem bekannt. Eine erste Zusammenstellung bot schon 1871 der Archivar Robert Hermann.19 Rudolf Herrmann lieferte in 16 Zur Pfarrorganisation siehe Enno BÜNZ, Die Pfarreiorganisation um 1500: Der thüringische Teil des Erzbistums Mainz und die drei Städte Leipzig, Magdeburg und Mühlhausen, in: Hartmut KÜHNE/Enno BÜNZ/Thomas T. MÜLLER (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013, S. 33–40 mit Karte. Die Karte ist ebenfalls enthalten in: DERS., Pfarreiorganisation, Kirchenbauten und -ausstattung im spätmittelalterlichen Thüringen. Historische Aspekte archäologischer und bauhistorischer Untersuchungen, in: Sven OSTRITZ (Hg.), Mittelalterliche Kirchen in Thüringen. Beiträge der Tagung „Archäologische und bauhistorische Untersuchungen an und in Kirchen Thüringens“, Weimar, 16./17. März 2009, ausgerichtet vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie und der Archäologischen Gesellschaft in Thüringen (Alt-Thüringen, 43), Langenweissbach 2014, S. 53–72. 17 Hans PATZE, Landesgeschichtsschreibung in Thüringen, in: DERS./Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 1: Grundlagen und frühes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/1), Köln/Wien 21985, S. 1–47. Weiterführend nun auch: Stefan TEBRUCK, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 4), Frankfurt am Main u.a. 2001. 18 Sönke LORENZ, „Studium generale Erfordense“. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 34), Stuttgart 1989; Robert GRAMSCH, Erfurt – die älteste Hochschule Deutschlands. Vom Generalstudium zur Universität (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 9), Erfurt 2012. 19 Robert HERMANN, Verzeichniß der in den Sachsen-Ernestinischen, Schwarzburgischen und Reußischen Landen, sowie den Königlich Preußischen Kreisen Schleusingen und Schmalkalden bis zur Reformation vorhanden gewesenen Stifter, Klöster und Ordenshäuser, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde

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seiner Thüringischen Kirchengeschichte schließlich eine weitere Auflistung.20 Zuletzt hat Bernhard Opfermann die Kurzfassung eines Klosterbuches vorgelegt.21 Ein Thüringisches Klosterbuch, das 1997 bis 2002 als Internet-Projekt von der „Historischen Kommission für Thüringen“ unter Leitung von Karl Heinemeyer (Erfurt) betrieben wurde, war zwar vom Ansatz her vorausschauend angelegt, fand aber kaum Unterstützung und muss als gescheitert gelten; die Datenbank bietet wenig mehr als die Namen der Institutionen und eine Handvoll fertiger Artikel.22 Auch Studien zu den Klöstern kleinerer Gebiete Thüringens sind hier zu nennen.23 Des Weiteren liegen Klosterbücher für einzelne Orden vor, von denen hier vor allem die umfangreichen Bände der „Germania Benedictina“ über die benediktinischen Männerklöster24 und die zisterziensischen Frauenklöster,25 der Prämonstratenser,26 Kartäuser27 und Karmeliten28

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8 (1871) S. 1–75; DERS., Verzeichniß der im Preußischen Thüringen bis zur Reformation vorhanden gewesenen Stifter, Klöster und Ordenshäuser, in: ebd., S. 77–176. Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 1, Jena 1937 (unveränd. Nachdruck mit einem Geleitwort von Ernst Koch und einem Nachwort über den Autor von Dietmar Wiegand, Waltrop 2000), S. 299–314. Bernhard OPFERMANN, Die thüringischen Klöster vor 1800. Eine Übersicht, Leipzig/Heiligenstadt 1959. Vgl. hierzu ergänzend: DERS., Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte. Die Ergebnisse der Forschung, bearb. und insbesondere zur Nachsäkularisationszeit ergänzt von Thomas T. Müller und Gerhard Müller, Heiligenstadt 31998. Siehe die Homepage: https://www2.uni-erfurt.de/monasticon/eingang.htm (letzter Zugriff: 11. Juli 2017). Zur Klosterlandschaft im mittleren Thüringen vgl. Matthias WERNER, Historische Einführung. Der Raum um Arnstadt und Gotha im frühen und hohen Mittelalter, in: DERS. (Hg.), Romanische Wege um Arnstadt und Gotha. Ein Gemeinschaftsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Weimar 2007, S. 17–58; Petra WEIGEL, Die Klosterlandschaft des Vogtlandes im Mittelalter, in: Sibylle PUTZKE (Red.), Das Obere Schloss in Greiz. Ein romanischer Backsteinbau in Ostthüringen und sein historisches Umfeld (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, NF 30), Altenburg 2008, S. 143–148; DIES., Zur Geschichte der Klöster und geistlichen Gemeinschaften des Vogtlandes, in: Peter SACHENBACHER/Hans Jürgen BEIER (Hg.), Gera und das nördliche Vogtland im hohen Mittelalter (Beiträge zur Frühgeschichte und zum Mittelalter Ostthüringens, 4), Langenweissbach 2010, S. 35–42. Für das Bistum Naumburg, zu dem Ostthüringen gehörte, siehe die Hinweise in Anm. 37 sowie zum Eichsfeld die Hinweise in Anm. 21. Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, X/1 u. 2), St. Ottilien 2012. Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchsund Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, IV/1 u. 2), St. Ottilien 2011.

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erwähnt seien. Ein neueres Überblickswerk der Orden von 1500 bis 1700 bietet für jeden Orden zumindest eine Überblickskarte mit Auflistung der dazugehörigen Klöster.29 Listenartige Zusammenstellungen gibt es zudem für die weltlichen Kollegiatstifte30 und die Augustinerchorherren.31 Von den Bettelorden sind mittlerweile für Thüringen die Franziskaner32 und die Augustinereremiten, also jener Orden, dem Martin Luthers angehörte,33 intensiver behandelt worden. Auch die Erforschung der landesherrlichen Förderung der Franziskanerobservanten gehört in diesen Kontext.34 Weniger günstig ist der Forschungsstand 26 Monasticon Praemonstratense. Id est historia circariarum atque canoniarum candidi et canonici ordinis Praemonstratensis, hg. von Norbert BACKMUND, 3 Bde., Straubing 1949–1956. 27 Monasticon Cartusiense (Analecta Cartusiana, 185), hg. von Gerhard SCHLEGEL und James HOGG, hier Bd. 2 u. 3, Salzburg 2004–2005. 28 Monasticon Carmelitanum. Die Klöster des Karmelitenordens (O. Carm.) in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (Monastica Carmelitana, 2), hg. von Edeltraut KLUETING, Stephan PANZER und Andreas H. SCHOLTEN, Münster 2012. 29 Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, 3 Bde. (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 65–67), Münster 2005– 2007. 30 Alfred WENDEHORST/Stefan BENZ, Verzeichnis der Säkularkanonikerstifte der Reichskirche (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg, 35), Neustadt an der Aisch 21997. 31 Alfred WENDEHORST/Stefan BENZ, Verzeichnis der Stifte der Augustiner-Chorherren und -Chorfrauen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 56 (1996) S. 1–110. 32 Roland PIEPER/Jürgen Werinhard EINHORN, Franziskaner zwischen Ostsee, Thüringer Wald und Erzgebirge. Bauten – Bilder – Botschaften, Paderborn/München 2005; Thomas T. MÜLLER/Bernd SCHMIES/Christian LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen. Text- und Katalogband zur Ausstellung in den Mühlhäuser Museen vom 29. März bis 31. Oktober 2008 (Mühlhäuser Museen. Forschungen und Studien, 1), Paderborn 2008; Volker HONEMANN (Hg.)/Gunhild ROTH (Red.), Geschichte der Sächsischen Franziskaner-Provinz von der Gründung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Paderborn 2015. 33 Adalbero KUNZELMANN, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Teil 5: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden (Cassiciacum. Forschungen über Augustinus und der Augustinerorden, 26/5), Würzburg 1974. Weitere Hinweise bei Enno BÜNZ, Martin Luthers Orden in Neustadt an der Orla. Das Kloster der Augustiner-Eremiten und seine Mönche (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 13), Jena 2007. 34 Dazu grundlegend Manfred SCHULZE, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen, NR 2), Tübingen 1991, der vor allem die Reformpolitik Landgraf Wilhelms III. von Thüringen bis 1482 behandelt. Die geplante Fortsetzung der Untersuchung ist nicht erschienen.

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für die Dominikaner, doch liegt immerhin für die Reformationszeit eine fundierte Studie von Klaus-Bernward Springer vor.35 Gleiches gilt für den Deutschen Orden, der in Thüringen aufgrund der Förderung durch die ludowingischen Landgrafen früh und mit bedeutenden Institutionen vertreten war.36 Neben Klosterbüchern und anderen regionalen Übersichtswerken sind monographische Darstellungen wünschenswert, wenn auch bei weitem nicht für jede geistliche Gemeinschaft realisierbar. Das große Vorhaben „Germania Sacra“ hat Thüringen nur am Rande erfasst37 – mit den beiden grundlegenden Bänden von Heinz Wiessner über das Bistum Naumburg38 und der Bearbeitung der Kollegiatstifte Römhild und Schmalkalden im Bistum Würzburg durch Alfred Wendehorst.39 Das neue Konzept des Vorhabens, das unter dem Dach der „Akademie der Wissenschaften zu Göttingen“ fortgeführt wird, ist ganz auf die Bischöfe und Domkapitel konzentriert.40 Nur für einige Klöster und Stifte in Thüringen liegen brauchbare monographische Darstellungen vor. Zu nennen sind hier Arbeiten über das Zisterzienserinnenkloster Saalburg,41 das Servitenkloster Vacha,42 das Wilhelmitenkloster Wasungen,43 das Kollegiatstift

35 Klaus-Bernward SPRINGER, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, NF 8), Berlin 1999. 36 Thomas T. MÜLLER (Hg.), Der deutsche Orden und Thüringen. Aspekte einer 800jährigen Geschichte (Mühlhäuser Museen. Forschungen und Studien, 4), Petersberg 2014. Vgl. auch Stefan TEBRUCK/Reinhart SCHMITT, Jenseits von Jerusalem. Spuren der Kreuzfahrer zwischen Harz und Elbe. Begleitheft zur Sonderausstellung „Saladin und die Kreuzfahrer“ im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle, Halle (Saale) 2005. 37 Siehe dazu Nathalie KRUPPA, Die alte Folge der Germania Sacra – Die Bistümer Brandenburg und Havelberg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 49 (2003), S. 325–334. 38 Heinz WIESSNER (Bearb.), Das Bistum Naumburg, Teil 1,1 u. 1,2: Die Diözese (Germania Sacra, NF 35/1 u. 2), Berlin 1997/1998, hier Bd. 1, S. 143–152 ein Gesamtüberblick über die 47 im Bistum existierenden geistlichen Gemeinschaften und S. 406–417 über das Ordenswesen. 39 Siehe unten Anm. 45. 40 Vgl. Jasmin HOVEN/Bärbel KRÖGER/Nathalie KRUPPA/Christian POPP, Die Neuausrichtung der Germania Sacra an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 143 (2007), S. 231–241. Siehe außerdem die Homepage des Göttinger Akademievorhabens: http://www.germania-sacra.de (letzter Zugriff: 7. August 2017). 41 Werner RONNEBERGER, Das Zisterzienser-Nonnenkloster zum Heiligen Kreuz bei Saalburg a. d. Saale (Beiträge zur mittelalterlichen und neueren Geschichte, 1), Jena 1932. 42 Waldemar KÜTHER, Vacha und sein Servitenkloster im Mittelalter. Mit einem Urkundenund Regestenanhang. Unter Mitarbeit von Hans Goller (Mitteldeutsche Forschungen, 64), Köln/Wien 1971.

EINFÜHRUNG

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St. Marien in Erfurt,44 das Benediktinerkloster St. Peter in Erfurt,45 das Zisterzienserinnenkloster Beuren im Eichsfeld,46 das Kollegiatstift St. Georg in Altenburg,47 das Zisterzienserinnenkloster in Jena,48 die Kollegiatstifte in Römhild und Schmalkalden49 und das Augustinereremitenkloster in Neustadt/Orla.50 Darüber hinaus haben zahlreiche Einzelstudien von Johannes Mötsch unser 43 Günther WÖLFING, Geschichte des Wilhelmiter-Klosters zu Wasungen an der Werra (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 16), Leipzig 1975. 44 Franz Peter SONNTAG, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117–1400. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (Erfurter theologische Studien, 13), Leipzig 1962; Josef PILVOUSEK, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400–1555 (Erfurter theologische Studien, 55), Leipzig 1988. Weitere Nachweise in meinem Beitrag über die Kollegiatstifte im vorliegenden Band. 45 Hier fehlt zwar eine umfassende Darstellung, doch liegen für mehrere Phasen der Klostergeschichte grundlegende Darstellungen vor. Zu den Anfängen siehe Matthias WERNER, Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 12), Sigmaringen 1973; DERS., Gab es ein klösterliches Leben auf dem Erfurter Petersberg schon im Frühmittelalter?, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103–1803 (= Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten. Forschungen und Berichte zu Schlössern, Gärten, Burgen und Klöstern 7 [2003]), Regensburg 2004, S. 44–53. Zur Bursfelder Reform siehe Barbara FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 34; Studien zur Germania Sacra, 11), Göttingen 1973; Matthias EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters im späten Mittelalter. Buchkultur und Literaturrezeption im Kontext der Bursfelder Klosterreform, 2 Teilbde. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 51), Köln/Weimar/ Wien 2017. 46 Adalbert DÖLLE, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren im Eichsfeld, Duderstadt 1998; die Arbeit entstand als phil. Diss. an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1957. 47 Markus ANHALT, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413– 1537 (Erfurter theologische Schriften, 32), Leipzig 2004. 48 Mehrere Beiträge in: Volker LEPPIN/Matthias WERNER (Hg.), Inmitten der Stadt, St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, Petersberg 2004, mit Hinweisen auf die ältere Literatur. Mein darin enthaltener Beitrag „Klosterkirche – Bürgerkirche. St. Michael in Jena im späten Mittelalter“ (ebd., S. 105–137), nun erheblich erweitert und überarbeitet in: Enno BÜNZ, Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation / Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation, 96), Tübingen 2017, S. 524–566. 49 Alfred WENDEHORST (Bearb.), Das Bistum Würzburg, Teil 5: Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (Germania Sacra, NF 36), Berlin/New York 1996. 50 BÜNZ, Martin Luthers Orden (wie Anm. 33). Hierzu ergänzend Rainer MÜLLER, Die Kirchen in Neustadt an der Orla und Umgebung. Eine Geschichte des Sakralbaus in der Orlasenke (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 18), Jena 2011.

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Wissen von den benediktinisch oder zisterziensisch geprägten Frauenklöstern in Thüringen vermehrt.51 Schließlich ist noch zu erwähnen, dass auch archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen die Erforschung thüringischer Klöster angeregt haben, neuerdings beispielsweise in Göllingen.52 Es ist nicht zuletzt Matthias Werner, 1993 bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, zu verdanken, dass die mittelalterliche Ordens-, Kloster- und Frömmigkeitsgeschichte Thüringens neu entdeckt und grundlegend erforscht wurde.53 Dabei lag der Schwerpunkt der Arbeiten im Früh- und Hochmittelalter und gipfelte 2007 in der vielbeachteten Ausstellung über Elisabeth von Thüringen und die religiöse Frauenbewegung des 13. Jahrhunderts, deren Ergebnisse in einem zweibändigen Werk dokumentiert sind.54 Gelegentlich griffen die Forschungen von Matthias Werner auch in die spätmittelalterliche Ordensgeschichte Thüringens aus,55 und weitere Themen wurden im Rahmen von Dissertationen vergeben, wie die grundlegenden Arbeiten von Petra Weigel über den Franziskanerprovinzial Matthias Döring,56 von Jörg Voigt über die spätmittelalterlichen Beginen57 und von Matthias Eifler über die Bibliothek des Bursfelder Reformzentrums St. Peter in Erfurt58 zeigen. Bereits im Vorfeld der Vorbereitung dieser Tagung war klar, dass es angesichts des Forschungsstandes zur Geschichte der Klöster und Stifte Thüringens um 1500 nicht darum gehen konnte, ein systematisches oder gar möglichst voll51 Anstelle von Einzelnachweisen sei auf seinen Beitrag im vorliegenden Band verwiesen. 52 Sibylle PUTZKE (Red.), Das Benediktinerkloster zu Göllingen. Ergebnisse der Forschung 2005–2009 (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, NF 34), Erfurt 2009, mit mehreren historischen Beiträgen. 53 Vgl. BÜNZ/TEBRUCK/WALTHER (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter (wie Anm. 10), u. a. mit Schriftenverzeichnis und Zusammenstellung der betreuten Dissertationen und Habilitationsschriften. 54 Dieter BLUME/Matthias WERNER (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, Bd. 1: Aufsätze, Bd. 2: Katalog, Petersberg 2007. 55 Matthias WERNER, Johannes Kapistran in Jena, in: Johannes HELMRATH/Heribert MÜLLER (Hg.), Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, 2 Bde., München 1994, hier Bd. 1, S. 505–520; DERS., Landesherr und Franziskanerorden im spätmittelalterlichen Thüringen, in: Dieter BERG (Hg.), Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur frühen Neuzeit (Saxonia Franciscana, 10), Werl 1998, S. 331–360. 56 Petra WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427–1461) (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 7), Frankfurt am Main u. a. 2005. 57 Jörg VOIGT, Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 32), Köln/Weimar/Wien 2012. 58 Siehe Anm. 44 und den Beitrag des Verfassers im vorliegenden Band.

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ständiges Bild zu zeichnen. Es fehlt nicht nur an Monographien und vergleichenden Studien der Institutionen und Orden, sondern an viel elementareren Voraussetzungen wie der Erschließung und editorischen Aufbereitung der einstigen geistlichen Archiv- und Bibliotheksbestände. Mehrere Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich deshalb mit Überlieferungsfragen, die für weitere Forschungen konstitutiv sind. Der vorliegende Band versucht – wenn auch mit unvermeidlichen Lücken – ein Bild der Vielfalt der einst in Thüringen vorhandenen religiösen Lebensformen zu geben und verdeutlicht, dass es bereits im ausgehenden Mittelalter vielfältige Bemühungen monastischer Reformen gegeben hat. Die Reformation, die nicht nur mit Martin Luther selbst, wie eingangs formuliert, aus dem Mönchtum kam, ist ohne diese Reformimpulse nicht denkbar. Weiter wird der Frage nachgegangen, wie sich die Reformation auf die zahlreichen geistlichen Gemeinschaften ausgewirkt hat. Zwar haben nur wenige dieser Einrichtungen im gemischtkonfessionellen Erfurt und im katholischen Eichsfeld den Umbruch des 16. Jahrhunderts überstanden. Aber auch die mittelalterlichen Klöster und Stifte, die in Folge der Reformation untergegangen sind, gehören durch ihre Bauwerke und Kunstschätze, durch ihre Bibliotheken und Archive zum kulturellen Erbe Thüringens und bieten den Ausgangspunkt für vielfältige wissenschaftliche Fragestellungen. Wenn dieser Tagungsband weitere Forschungen auf diesem lohnenden Arbeitsfeld anregen würde, hätte er sein Ziel erfüllt.

ENNO BÜNZ KOLLEGIATSTIFTE IN THÜRINGEN

Kollegiatstifte in Thüringen Zu den Lebenswelten von Kanonikern um 1500*

Von den zahlreichen Kollegiatstiften, die es im mittelalterlichen Thüringen gab,1 war das Marienstift in Erfurt mit Abstand das bedeutendste. Wer die prächtige spätgotische Marienkirche anschaut, die gemeinsam mit St. Severi über der Stadt thront (siehe Abb. 1), wird es für ganz selbstverständlich erachten, dass dieses Gotteshaus eine Domkirche, der Mittelpunkt eines Bistums ist. Aber das Bistum Erfurt ist eine sehr junge Erscheinung, wurde erst 1994 gegründet.2 Die längste Zeit seiner Geschichte war St. Marien nur eine Stiftskirche, ein weltliches Kollegiatstift,3 ungeachtet der Möglichkeit, dass diese Kirche bereits auf *

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Abendvortrag auf der Tagung „Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit (1470–1530)“, veranstaltet von Enno Bünz, Werner Greiling und Uwe Schirmer, im Auditorium Coelicum der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Erfurt am 30. Juni 2016. Die Redeform wurde stellenweise beibehalten. Die Vortragsfassung wurde für den Druck erweitert. Ein Gesamtverzeichnis der Kollegiatstifte bieten Alfred WENDEHORST/Stefan BENZ, Verzeichnis der Säkularkanonikerstifte der Reichskirche (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität ErlangenNürnberg, 35), Neustadt an der Aisch 21997. Zur Frage der Abgrenzung von Regularkanonikerstiften, die in der Literatur nicht immer beachtet wird, siehe DIES., Verzeichnis der Stifte der Augustiner-Chorherren und -Chorfrauen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 56 (1996), S. 1–110. Für Thüringen, allerdings über die Grenzen des heutigen Freistaates hinausgreifend, siehe auch Bernhard OPFERMANN, Die thüringischen Klöster vor 1800. Eine Übersicht, Leipzig/Heiligenstadt 1959, und Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 1, Waltrop 2000 (Nachdruck der Ausgabe Jena 1937), S. 299–314 (Klösterliste). Für die Bau-, Kunst- und Ausstattungsgeschichte sei hier generell verwiesen auf Georg DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen, bearb. von Stephanie EIßING u. a., München 1998, wo stets auch auf die ausführlichen älteren Inventarbände der Bau- und Kunstdenkmäler verwiesen wird. Bistum Erfurt. Texte von Josef PILVOUSEK u. a., Leipzig 1994; Clemens BRODKORB, Bistum Erfurt, in: Erwin GATZ u. a. (Hg.), Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich - Deutschsprachige Länder, Regensburg 2009, S. 316 f. Eine umfassende Monographie fehlt. Franz Peter SONNTAG, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117–1400. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (Erfurter Theologische Studien, 13), Leipzig 1962; Josef PILVOUSEK, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400–1555

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die Kathedralkirche des nur kurzfristig im 8. Jahrhundert bestehenden Bistums Erfurt zurückgehen könnte.4 Auch St. Severi war ein solches Kollegiatstift,

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(Erfurter Theologische Studien, 55), Leipzig 1988; Erich KLEINEIDAM, Das Stiftskapitel der Marienkirche zu Erfurt am Beginn der Reformation, in: Wilhelm ERNST u. a. (Hg.), Einheit in Vielfalt. Festgabe für Hugo Aufderbeck zum 65. Geburtstag (Erfurter Theologische Studien, 32), Leipzig 1974, S. 23–41; DERS., Universitas Studii Erffordensis. Ein Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil 1: Spätmittelalter 1392–1460 (Erfurter Theologische Studien, 14), Leipzig ²1985; Teil 2: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1460–1521 (Erfurter Theologische Studien, 22) Leipzig 1992; Teil 3: Die Zeit der Reformation und Gegenreformation 1521–1632 (Erfurter Theologische Studien, 42), Leipzig 1983; Martin HANNAPPEL, Das Gebiet des Archidiakonates Beatae Mariae Virginis Erfurt am Ausgang des Mittelalters. Ein Beitrag zur kirchlichen Topographie Thüringens (Arbeiten zur Landes- und Volksforschung, 10), Jena 1941; DERS., Mainzer Kommissare in Thüringen. Insbesondere die Erfurter Generalkommissare und die Siegler Simon Voltzke und Johannes Sömmering, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF 36 (1942), S. 146–209; Forschungen zum Erfurter Dom, 2 Bände (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, NF 20), Erfurt 2005; Eckhard LEUSCHNER/Falko BORNSCHEIN/Kai Uwe SCHIERZ (Hg.), Kontroverse & Kompromiss. Der Pfeilerbilderzyklus des Mariendoms und die Kultur der Bikonfessionalität im Erfurt des 16. Jahrhunderts. Ausstellung im Angermuseum Erfurt vom 27. Juni bis zum 20. September 2015, Dresden 2015. Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 60 f. Die Urkunden bis 1400 sind ediert in: Alfred OVERMANN (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, Bd. 1 (706–1330) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, NF 5), Magdeburg 1926; Bd. 2: Die Urkunden der Stifter St. Marien und St. Severi (1331–1400) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, NF 7), Magdeburg 1929. Ansonsten liegt editorisch nur wenig vor: Michael MATSCHA, Ein Strafbuch für Vergehen beim Chordienst im Stift St. Marien zu Erfurt aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 3 (2008), S. 65–143; Konrad BUND, Quellen zur Geschichte des Erfurter Domstiftsgeläutes von 1251 bis 1505, insbesondere zum Guß der Gloriosa und des Wolfram durch Meister Gerhard von Wou aus Kampen im Jahre 1497, mit Nachträgen bis 1718. Eine historisch-kritische Neuedition, in: Jahrbuch für Glockenkunde 7/8 (1995/96), S. 31–114. Das vorzüglich erhaltene Stiftsarchiv (Domarchiv) bildet den Kernbestand des heutigen Bistumsarchivs Erfurt. Das Bistum Erfurt hat allerdings nur von 741/42 bis spätestens 754 bestanden und ist zusammen mit dem Bistum Büraburg seit 782 dem Erzbistum Mainz zugeschlagen worden. Siehe Franz STAAB, Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1: Christliche Antike und Mittelalter, 2 Teile (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 6,1,1/2), Würzburg 2000, S. 87–194, hier S. 137 f. Aus Erfurter Perspektive: Walter SCHLESINGER, Das Frühmittelalter, in: Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 1: Grundlagen und frühes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/I), Köln/Wien 1968, S. 316–380 u. S. 429–435, hier bes. S. 346–350. Vgl. außerdem Aloys SCHMIDT, Zur Gründung des Marienstifts Erfurt, seine Ausstattung aus der Schenkung Herzog Hedens an St. Willibrord, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 17 (1965), S. 255–258,

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dessen Existenz infolge der Säkularisation 1803 endete.5 Als drittes Kollegiatstift wurde in Erfurt Mitte des 13. Jahrhunderts noch das Stift Zum Heiligen Brunnen gegründet,6 das aber nie große Bedeutung erlangte und im Laufe des 16. Jahrhunderts in das Marienstift inkorporiert wurde. Weltliche Kollegiatstifte, auch Säkularkanonikerstifte genannt, hat es in Thüringen in beträchtlicher Zahl gegeben (siehe Abb. 2),7 wenn auch nirgends in der Konzentration und Größe wie hier in Erfurt, das schon im Mittelalter die Metropole Thüringens war. Im Laufe des Mittelalters entstanden solche Klerikergemeinschaften – wenn wir Thüringen von Westen nach Osten durchschreiten – in Heiligenstadt (10. Jh.),8 Großburschla (um 1150),9 Eisenach (1294),10

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doch sind laut Matthias WERNER, Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 12), Sigmaringen 1973, S. 94 (Anm. 10) dessen Ausführungen stark hypothetisch. Zweifellos handelt es sich aber, wie Werner ausführt (ebd., S. 94–105), bei St. Marien um die Mutterkirche der Erfurter Pfarreientwicklung, deren Existenz sich bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Dass auf dem Domberg die Kathedrale des Bistums Erfurt gestanden haben dürfte und in dessen Nachfolge das Marienstift eingerichtet worden sein könnte, hält auch Matthias Werner für wahrscheinlich (DERS., Erfurt und das Reich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Thomas LAU/Helge WITTMANN (Hg.), Kaiser, Reich und Reichsstadt in der Interaktion. 3. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen 16. bis 18. Februar 2015 [Schriften zur Reichsstadtgeschichte, 3], Petersberg 2016, S. 85–126, hier S. 89). Dieses Stift hat ebenfalls schon im 11. Jahrhundert bestanden, wie DERS., Gründungstradition (wie Anm. 4), S. 105–112 zeigt. Der Forschungsstand ist deutlich schlechter als zum Marienstift, weil nach der Säkularisation das Stiftsarchiv zum Teil verloren ging, siehe dazu: OVERMANN (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifte und Klöster (wie Anm. 3), Bd. 1, S. XIV f.; siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 61 f. Joseph KLAPPER, Die Kirche zum Hl. Brunnen „Ecclesia sacri fontis“ in Erfurt (Erfurter Theologische Schriften, 2), Leipzig 1957; Michael MATSCHA, Zur Gründungsgeschichte der Kirche zum Heiligen Brunnen (Ecclesia Sacri Fontis) in Erfurt, in: Peter ENGELS (Hg.), Aus Überrest und Tradition. Festschrift für Anna-Dorothee von den Brincken, Lauf an der Pegnitz 1999, S. 174–193; Stephanie WOLF, Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich (Städteforschung A, 67), Köln u. a. 2005, S. 118–122. Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 62. Außerhalb der Betrachtung bleiben hier die wenige Kilometer jenseits der thüringischen Landesgrenze in Sachsen-Anhalt gelegenen einstigen Bischofssitze Merseburg mit dem Kollegiatstift St. Sixtus und Naumburg mit dem Kollegiatstift St. Marien sowie das Kollegiatstift St. Justus und Clemens in Bad Bibra. Eine Monographie fehlt, doch gibt es zahlreiche Vorarbeiten. Johann WOLF, Commentatio de archidiaconatu Heiligenstadensi, qua continuatur Diocesis Moguntina in archidiaconatus distincta etc. XI. commentationibus illustrata a Stephano Alexandro Würdtwein […]., Göttingen 1809, und weitere Veröffentlichungen dieses Autors: Philipp

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Nordhausen (1220),11 Jechaburg (um 1000?),12 Oberdorla (12. Jh.?, 1472 nach Langensalza verlegt),13 Ohrdruf (10. Jh.?, 1344 nach Gotha verlegt),14 Bergsulza

KNIEB, Zur Geschichte des Martinsstiftes zu Heiligenstadt nach gedruckten und archivalischen Quellen, in: Unser Eichsfeld 1 (1906), S. 3–7, 17–22, 37–42, 68–74, 85–90, 101–103, 118–122, 136–138, 165–169, 185–187; 2 (1907), S. 5–9, 23–26, 42–48, 74–80, 102–110, 135–145, 175–181; Enno BÜNZ, Mainz – Thüringen – Eichsfeld. Ihr Verhältnis im Lichte der Kirchenorganisation, geistlichen Gerichtsbarkeit und Bistumsverwaltung, in: Thomas T. MÜLLER u. a. (Hg.), Bischof Burchard I. in seiner Zeit. Tagungsband zum biographisch-landeskundlichen Kolloquium vom 13. bis 15. Oktober in Heilbad Heiligenstadt (Beiträge aus den Archiven im Landkreis Eichsfeld, 1), Heiligenstadt 2001, S. 14–41; Thomas T. MÜLLER (Hg.), Die St.-Martins-Kirche zu Heiligenstadt. 17 Beiträge zu ihrer Geschichte (Heiligenstädter Schriften, 2), Heilbad Heiligenstadt 2003; Enno BÜNZ, Heiligenstadt als geistliches Zentrum des Eichsfeldes. Das Kollegiatstift St. Martin und seine Kanoniker, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 62 (2008), S. 9–48. Die Stiftsurkunden bis 1300 sind gedruckt in: Aloys SCHMIDT (Bearb.), Urkundenbuch des Eichsfeldes, Teil 1 (Anfang saec. IX bis 1300) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, NF 13), Magdeburg 1933 [Nachdruck mit Ergänzungen und Nachträgen von Helmut Godehardt, Duderstadt 1997]. Zahlreiche Quellen werden auch abgedruckt in den Veröffentlichungen von Johannes Wolf (s. o.). Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/ BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 83. 9 Georg KOHLSTEDT, Die Benediktinerpropstei und das spätere Kollegiatstift Großburschla an der Werra (9. Jahrhundert bis 1650) (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 9), Leipzig 1965; DERS., Grossburschla an der Werra, in: Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in MecklenburgVorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, X/1 u. 2), St. Ottilien 2012, S. 545–558. Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 75 f. 10 Joseph KREMER, Beiträge zur Geschichte der klösterlichen Niederlassungen Eisenachs im Mittelalter (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und der Diöcese Fulda, 2), Fulda 1905, S. 34–69 (hier irrig als Augustiner-Chorherrenstift). Für die weitere Beschäftigung mit Eisenach wichtig ist Franziska LUTHER, Die Klöster und Kirchen Eisenachs (1500–1530). Prologe zur Reformation und wie die Geistlichkeit „vermeynen die Zinse aus etzlichenn armenn zu kelterenn“, in: Joachim EMIG/Volker LEPPIN/Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 1), Köln/ Weimar/Wien 2013, S. 403–435, die das weltliche Kollegiatstift allerdings ebenfalls irrig als Augustiner-Chorherrenstift bezeichnet. Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/ BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 58. 11 Bernhard HELLWIG, Der Dom zu Nordhausen. Sein Stift und seine Gemeinde, ergänzt und neu hg. von Wilhelm HUNSTIGER, Nordhausen 1937. Das Buch von Arno WAND, Das Reichsstift „Zum Heiligen Kreuz” in Nordhausen und seine Bedeutung für die Reichsstadt 961–1810 (Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 17), Heiligenstadt 2006, bietet eine materialreiche, aber gedanklich nicht durchdrungene Kompilation. Ernst KOCH, Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen am Harz

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(11. Jh.),15 Altenburg (1412),16 Römhild (1450)17 und Schmalkalden (1316 in Schleusingen gegründet, 1319 nach Hildburghausen, 1320 nach Schmalkalden verlegt).18

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(Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 21), Nordhausen 2010. Siehe auch die Hinweise von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 145. Eine Monographie fehlt, obwohl die Quellenlage nicht ungünstig ist, siehe Wolfgang GRESKY, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg, Sondershausen 1932, S. 3 f., der das Stift aber nur am Rande berührt und vor allem den Propst in seiner Funktion als Archidiakon untersucht. Eine Stiftsmonographie fehlt, obwohl beträchtliche Teile des Stiftsarchivs im Stadtarchiv Bad Langensalza erhalten sind. Vgl. Hermann GUTBIER, Zur Geschichte des Stifts St. Petri et Pauli in Oberdorla-Langensalza, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 15 (1891), S. 39–66; DERS., Die Grabdenkmäler der Bergkirche zu Langensalza, Langensalza 1901; nur am Rande zu erwähnen Ulman WEISS, Beobachtungen zum Bildungsstreben Langensalzaer Bürger im 15. und 16. Jahrhundert. Mit einem Exkurs zur Megdleinsschule, in: Karlheinz BLASCHKE/Detlef DÖRING (Hg.), Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 26), Leipzig 2004, S. 55–73; siehe auch die Hinweise bei WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 107. Eine Stiftsmonographie fehlt. Einen Abriss bietet J. H. MÖLLER, Klöster in Gotha, 3. Stift, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 5 (1863), S. 23–68; Ernst KOCH, „Mit Gottes und der Landesfürsten Hülf“. Die Reformation in der Residenzstadt Gotha und ihrer Umgebung (Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen, 1), Jena 2015. Zum Zeitpunkt der Gründung des Stifts in Ohrdruf siehe unten Anm. 27; siehe auch die Hinweise bei WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 74. Quellen zur Stiftsgeschichte in: Carl KRAUSE, Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, NF Supplement 9), Kassel 1885; Karl GILLERT, Der Briefwechsel des Conradus Mutianus, 2 Teile (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, 18/1 u. 2), Halle 1890. Vor allem auf diesen Editionen beruht die Arbeit von Eckhard BERNSTEIN, Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 2), Köln/ Weimar/Wien 2014, die auch das Stiftsleben berührt. Thomas WASCHKE, Sankt Peter zu Bergsulza. Geschichte eines Chorherrenstifts in Thüringen (Christliche Stätten und Gemeinschaften im Landkreis Weimarer Land, Altkreis Apolda, 2), Jena 1996, doch nicht sehr tiefgehend; siehe auch die Hinweise bei WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 36. Markus ANHALT, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413– 1537 (Erfurter Theologische Schriften, 32), Leipzig 2004; Matthias DONATH, Die mittelalterlichen Grabplatten in der Schloßkirche zu Altenburg, in: Mitteilungen der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 17/3 (2006), S. 179– 229; Armin KOHNLE/Christina MECKELNBORG/Uwe SCHIRMER (Hg.), Georg Spalatin. Steuermann der Reformation. Begleitband zur Ausstellung „Georg Spalatin – Steuermann

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Abb. 1a: Blick auf St. Marien und St. Severi in Erfurt

Abb. 1b: St. Marien und St. Severi in einem Erfurter Stadtplan von 1633

der Reformation“, Residenzschloss Altenburg und Stadtkirche St. Bartholomäi Altenburg, 18. Mai bis 2. November 2014, Halle (Saale) 2014. 17 Alfred WENDEHORST, Das Bistum Würzburg, Teil 5: Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (Germania Sacra, NF 36), Berlin/New York 1996, S. 181–238. Das Stiftsarchiv ist bei einem Brand 1609 fast vollständig verloren gegangen (ebd., S. 194). 18 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 1–180; Wieland HELD, Die wirtschaftliche Rolle des St.-Egidien-Stiftes zu Schmalkalden bis zu seiner Säkularisation im Jahre 1544, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 6 (1982), S. 323–336; Johannes MÖTSCH, Die Grafen von Henneberg-Schleusingen und die Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments, in: Jahrbuch des HennebergischFränkischen Geschichtsvereins 29 (2014), S. 147–164.

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Abb. 2: Karte der Dom- und Kollegiatstifte in Mitteldeutschland

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Die Gründungen dieser Kollegiatstifte reichen vom frühen bis ins späte Mittelalter. Als Gründerkräfte erscheinen zunächst die kirchlichen Oberen, in Thüringen also vor allem die Erzbischöfe von Mainz: Auf einzelne Erzbischöfe dürften jedenfalls, wenn auch nicht immer ganz sicher zu belegen, die Kollegiatstifte St. Marien und St. Severi in Erfurt zurückgehen, ebenso das Kollegiatstift St. Martin in Heiligenstadt, das Stift St. Peter und Paul in Jechaburg (heute Sondershausen-Jechaburg), dessen Anfänge mit dem mächtigen Reichsbischof Willigis in Verbindung gebracht werden,19 und das Stift St. Peter und Paul in Oberdorla. Dieses Stift wurde 1472 nach Langensalza an die Kirche St. Stephan verlegt, die sich nachweislich seit dem 10. Jahrhundert im Besitz der Mainzer Erzbischöfe befand. Das kleine Kollegiatstift Zum Heiligen Brunnen in Erfurt verdankt seinen Ursprung einem besonderen Vorgang, nämlich einem angeblichen Hostienfrevel, und wurde durch Erzbischof Gerhard I. von Mainz eingerichtet (1251–1259), dabei allerdings gefördert durch den Erfurter Bürger Ulrich Vierling (Quadrans).20 Aber auch einflussreiche Laien, also Landesherren und andere Dynasten, gründeten Stiftskirchen, sicher nachweisbar für das Marienstift in Eisenach durch Landgraf Albrecht von Thüringen 129421 und für das wenig bedeutende Kollegiatstift St. Peter in Bergsulza durch den Pfalzgrafen Friedrich und seine Frau, die die Einrichtung wohl zwischen 1063 und 1088 an das Bistum Merseburg schenkten.22 Um typische spätmittelalterliche Residenzstifte handelte es sich bei St. Georg und Maria auf dem Schloss in Altenburg, eine Gründung

19 Ernst DEVRIENT, Willigis und Jechaburg, in: Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für Otto Dobenecker zum 70. Geburtstag, Jena 1929, S. 63–78 und im größeren Zusammenhang Georg MAY, Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis, in: Anton Ph. BRÜCK (Hg.), Willigis und sein Dom. Festschrift zur Jahrtausendfeier des Mainzer Domes 975–1975 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 24), Mainz 1975, S. 31–92. 20 KLAPPER, Die Kirche zum Hl. Brunnen (wie Anm. 6); MATSCHA, Zur Gründungsgeschichte der Kirche zum Heiligen Brunnen (wie Anm. 6); WOLF, Erfurt im 13. Jahrhundert (wie Anm. 6); WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 62. 21 KREMER, Beiträge (wie Anm. 10), S. 37. Papst Bonifaz VIII. hat die Umwandlung der Pfarrkirche in ein Kollegiatstift 1298 bestätigt: Ernst VOGT (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396, hg. von Goswin FREIHERRN VON DER ROPP. Erste Abteilung: 1289–1353, Bd. 1: 1289–1328, Leipzig 1913, S. 92, Nr. 524. 22 P. KEHR (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Merseburg (962–1357), Teil 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, 36), Halle 1899, S. 70, Nr. 80; Walter SCHLESINGER, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 2 Bde. (Mitteldeutsche Forschungen, 27/1 u. 2), Köln/Wien 21983, S. 127.

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Landgraf Wilhelms des Reichen (gest. 1425),23 sowie bei den Stiften St. Marien in Römhild und St. Egidien in Schmalkalden, die von den Grafen von Henneberg in Residenzstädten eingerichtet wurden.24 Wilhelm III., Herzog von Sachsen und Landgraf von Thüringen (gest. 1482), wollte in der Weimarer Schlosskapelle St. Martin ein Residenzstift einrichten und erlangte 1455 die Erlaubnis Papst Nikolaus’ V., hierfür die Kollegiatstifte St. Peter in Sulza und St. Justus und Clemens in Bibra (heute Bad Bibra, Sachsen-Anhalt) dorthin zu verlegen.25 Trotz weiterer Vergünstigungen Papst Pauls II. 1464 und der Genehmigung zur Verlegung durch Sixtus IV. 148426 blieben die Kollegiatstifte in Bergsulza und Bibra aber bestehen. Nach dem Tod Herzog Wilhelms 1482 und der Wiedervereinigung Thüringens mit den wettinischen Stammlanden bestand kein Grund mehr, ein Residenzstift in Weimar zu gründen. Eine besondere Entwicklung ist für das kleine Kollegiatstift St. Bonifatius in Großburschla zu konstatieren; dort hat sich aus einer Benediktinerpropstei der 23 Zur Residenz Reinhardt BUTZ, Altenburg, in: Werner PARAVICINI (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Teilbd. 2: Residenzen (Residenzenforschung, 15.I/2), Stuttgart 2003, S. 4–7. 24 Johannes MÖTSCH, Römhild, in: PARAVICINI (Hg.), Höfe und Residenzen (wie Anm. 23), Teilbd. 2, S. 491–494. 25 Josef Friedrich ABERT/Walter DEETERS (Bearb.), Repertorium Germanicum VI. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Nikolaus’ V. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1447–1455, Tübingen 1989, Teil 1, S. 602, Nr. 5887. 26 Hubert HÖING/Heiko LEERHOFF/Michael REIMANN (Bearb.), Repertorium Germanicum IX. Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten Pauls II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1464 - 1471, 1. Teil: Text, Tübingen 2000, S. 911, Nr. 6201; WASCHKE, Sankt Peter zu Bergsulza (wie Anm. 15), S. 43 zur urkundlich belegten Tätigkeit päpstlicher Legaten in dieser Sache 1483 und 1484. In der Literatur wird verschiedentlich die Auffassung vertreten, Herzog Wilhelm III. habe das Stift tatsächlich in der Weimarer Schlosskirche eingerichtet, doch belegen die Quellen nur die Absicht, die durch liturgische Stiftungen (Marienhoren), die Ausstattung von sieben Messpriestern, die Installation eines Kalands (Priesterbruderschaft) und den Umbau der Schlosskapelle unterstrichen wurde, siehe Dagmar BLAHA, Weimar, in: PARAVICINI (Hg.), Höfe und Residenzen (wie Anm. 23), Teilbd. 2, S. 615 f. Auf der Seite 616 werden die Gründung der Stiftskirche zu 1464 und der gotische Neubau der Schlosskapelle 1468 erwähnt. Ausführlicher: Volker GRAUPNER, Städtisches und kirchliches Leben in Weimar kurz vor und während der Frühreformation, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 377–401, hier bes. S. 382–384. Manfred SCHULZE, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, 2), Tübingen 1991, geht auf die Planung dieser Stiftsgründung nicht ein, obwohl im Mittelpunkt seiner Untersuchung die Kirchenpolitik Herzog Wilhelms III. steht.

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Reichsabtei Fulda erst in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Kollegiatstift entwickelt. Ähnlich dürfte unter der Obhut der Reichsabtei Hersfeld vielleicht schon im späten 10. Jahrhundert die Umwandlung einer älteren geistlichen Institution in ein Kollegiatstift St. Marien zu Ohrdruf verlaufen sein,27 das erst 1344 nach Gotha verlegt wurde. Auch das Kollegiatstift Heilig Kreuz in Nordhausen ist aus einer Vorgängerinstitution hervorgegangen, einem Kanonissenstift, das von dem Stauferkönig Friedrich II. 1220 in ein weltliches Kollegiatstift umgewandelt wurde, ein seltener und hier einmal gut belegter Vorgang.28 Bürgerliche Gründerkräfte sind lediglich in Erfurt und nur mitwirkend in Gestalt des Mainzer Ministerialen und Erfurter Bürgers Ulrich Vierling (Quadrans) beim Stift Zum Heiligen Brunnen in Erfurt erkennbar, das aber 1252/53 von Erzbischof Gerhard von Mainz gegründet wurde.29 Von den rund 200 mittelalterlichen Klöstern und Stiften im Gebiet des heutigen Thüringen waren 14 Kollegiatstifte.30 Die meisten haben bis zur Reformationszeit bestanden, doch wurden die Kollegiatstifte St. Severi in Erfurt und St. Martin in Heiligenstadt erst im Zuge der Säkularisation 1803 aufgehoben. Das Stift Heilig Kreuz in Nordhausen hatte sogar bis 1810, das Marienstift in Erfurt bis 1837 Bestand. Ungeachtet des Endes der Kanonikergemeinschaften dienen die Stiftskirchen in Erfurt und Nordhausen bis heute als katholische 27 Abt Gozbert von Hersfeld hat der von ihm wiederhergestellten Peterskirche in Ohrdruf 980 Reliquien geschenkt (Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae, Bd. 1: ca. 500–1152, bearb. u. hg. von Otto DOBENECKER, Jena 1896, S. 115, Nr. 516), was mit der Einrichtung eines Chorherrenstiftes zusammenhängen mag, wie schon HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte 1 (wie Anm. 1), S. 59 vermutet hat. Herrmann weißt auch darauf hin, dass die Erwähnung eines Propstes von Ohrdruf 1156 die Existenz eines Kollegiatstiftes sicher belege (ebd.). Ein Propst von Ohrdruf wird allerdings schon 1137 als Urkundenzeuge genannt: Regesta diplomatica 1 (s. o.), S. 281, Nr. 1343. 28 Walter KOCH u. a. (Bearb.), Die Urkunden Friedrichs II. 1218–1220 (Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, 14/3), Hannover 2010, S. 432–435, Nr. 647 (27. Juli 1220). Zur Vorgeschichte der Umwandlung: ebd., S. 167–169, Nr. 512 (1. April 1219). 29 KLAPPER, Die Kirche zum Hl. Brunnen (wie Anm. 6); MATSCHA, Zur Gründungsgeschichte der Kirche zum Heiligen Brunnen (wie Anm. 6); WOLF, Erfurt im 13. Jahrhundert (wie Anm. 6); WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 62. Zum Typus des Stadtstiftes generell Guy P. MARCHAL, Das Stadtstift. Einige Überlegungen zu einem kirchengeschichtlichen Aspekt der vergleichenden Städtegeschichte, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), S. 461–473. 30 OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 1), verzeichnet 222 Klöster, Stifte und Kommenden, doch sind die Gründungen der Neuzeit ebenso abzuziehen wie die aufgrund von Verlegungen oder Änderung der Ordenszugehörigkeit mehrfach verzeichneten Einrichtungen. Siehe künftig die von Sabine Zinsmeyer und mir bearbeitete Klosterkarte Mitteldeutschlands mit erläuterndem Beiheft.

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Gotteshäuser, St. Marien in Erfurt sogar als Kathedralkirche. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass diese mittelalterlichen Stiftskirchen erhalten blieben. Die Stiftskirchen in Bergsulza, Eisenach, Gotha, Jechaburg, Oberdorla und Schmalkalden sind hingegen nach der Reformation abgebrochen oder durch Neubauten ersetzt worden. Dass darüber hinaus auch die mittelalterlichen Kollegiatskirchen in Langensalza und in Römhild trotz Reformation bewahrt wurden, hing mit ihrer Funktion als Stadtpfarrkirchen zusammen. Eine Sondersituation bietet die Stiftskirche in Altenburg, die weiter als Schlosskirche der bis 1918 bestehenden herzoglichen Residenz diente und auch baulich untrennbar mit dem Schloss verbunden ist. Die Martinskirche in Heiligenstadt wurde bald nach der Aufhebung des Stifts 1803 der neu gegründeten evangelischen Gemeinde als Pfarrkirche zugewiesen.31 Die bisherigen Ausführungen haben schon deutlich gemacht, dass die meisten Kollegiatstifte im Sprengel des Erzbistums Mainz lagen.32 Ost- und Südtthüringen sind lediglich am Rande vertreten: Das Residenzstift in Altenburg gehörte zum Bistum Naumburg,33 die beiden Stiftskirchen in Römhild und Schmalkalden zum Bistum Würzburg.34 Dieser Befund ist nicht unwichtig, auch wenn wir auf den ersten Blick einen scheinbar beliebigen Ausschnitt aus der großen Karte der Germania Sacra vor uns haben. Tatsächlich handelt es sich nämlich um ein interessantes Übergangsgebiet: Der Gießener Mittelalterhistoriker Peter Moraw hat herausgearbeitet, dass die Verteilung der weltlichen Kollegiatstifte im lateinisch-westlichen Europa insgesamt wie im deutschsprachigen Raum insbesondere einem Süd-Nord- bzw. West-Ost-Gefälle folgt. Demnach war das mittelalterliche Kollegiatstift geographisch zwar weit verbreitet, aber keineswegs omnipräsent. Moraw ging noch von einer Gesamtzahl von 450 bis 500 mittel31 Thomas T. MÜLLER, Preußische Klostersäkularisation als Machtdemonstration. Die Martinskirche und die Gründung der evangelischen Gemeinde zu Heiligenstadt, in: DERS. (Hg.), Die St.-Martins-Kirche zu Heiligenstadt (wie Anm. 8), S. 77–90. 32 Siehe hierzu grundlegend: JÜRGENSMEIER (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1 (wie Anm. 4); DERS./Günter CHRIST/Georg MAY (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 2: Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 6), Würzburg 1997; Friedhelm JÜRGENSMEIER (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 3: Neuzeit und Moderne, 2 Teile (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 6,3), Würzburg 2002. Das Werk enthält allerdings keinen einschlägigen Beitrag über die Kollegiatstifte. 33 Heinz WIESSNER, Das Bistum Naumburg, Teil 1,1 u. 1,2: Die Diözese (Germania Sacra, NF 35/1 u. 2), Berlin 1997/1998. 34 Alfred WENDEHORST, Das Bistum Würzburg, Teil 1: Die Bischofsreihe bis 1254, Berlin 1962 (Germania Sacra, NF 1); Teil 2: Die Bischofsreihe von 1254 bis 1455 (Germania Sacra, NF 4), Berlin 1969; Teil 3: Die Bischofsreihe von 1455 bis 1617 (Germania Sacra, NF 13), Berlin 1978. Vgl. auch DERS., Das Bistum Würzburg. Ein Überblick von den Anfängen bis zur Säkularisation, in: Freiburger Diözesan-Archiv 86 (1966), S. 9–93.

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alterlichen Kollegiatstiften im Bereich der mittelalterlichen deutschen Reichskirche aus.35 Demnach lagen etwa 40 % der Kollegiatstifte in der Kirchenprovinz Mainz, in den Kirchenprovinzen Bremen, Magdeburg und Prag zusammen (!) hingegen nur 10 % der Stifte. Das West-Ost-Gefälle wird noch anschaulicher, wenn man sich anhand der Karte vor Augen führt, dass im thüringischen Teil des Erzbistums Mainz elf Kollegiatstifte bestanden, im etwa gleich großen Bistum Meißen hingegen nur drei. In der Differenzierung der stiftskirchlichen Entwicklung im Reich spiegelte sich laut Peter Moraw zeitweise „eine allgemeine ‚kulturelle‘ Differenzierung“ wider. Resümierend heißt es: „Was an (für deutsche Verhältnisse) alt-kirchlicher und auch ottonisch-salischer Tradition fehlte, ist nicht mehr eingeholt worden.“36 Mit anderen Worten: Die geographische und chronologische Verteilung der weltlichen Kollegiatstifte ist ein Indikator für die Dichte der kirchlichen Strukturen und damit auch für Bevölkerungsdichte und „den allgemeinen sozialwirtschaftlichen Entwicklungsstand“ in Deutschland wie in ganz Europa.37 „Die kirchliche Geographie des Kollegiatstifts ist für unsere Fragen besonders ertragreich, auch weil […] von karolingischer Zeit bis zum Vorabend der Reformation immer wieder neue Stiftskirchen in großer Zahl gegründet wurden“; denn „Anzahl und Ausstattung der Pfründen, die in einer bestimmten Landschaft vorhanden waren, sagen vieles über ihr ‚Alter‘, ihren Rang im Vergleich zu anderen Landschaften und über ihre Wohlhabenheit aus“.38 Das weltliche Kollegiatstift kann – so Moraw an anderer Stelle – „als ‚Leitfossil‘ genereller entwicklungsgeschichtlicher Forschung in Europa“ betrachtet werden, „da es die ökonomischen Möglichkeiten seiner Region ziemlich direkt ‚umsetzte‘ “.39 Um die 35 Peter MORAW, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte (Studien zur Germania Sacra, 14), Göttingen 1980, S. 9–37, hier S. 33; wiederabgedruckt in: DERS./Rainer SCHWINGES (Hg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, Sigmaringen 1995, S. 151– 174. Zwar mag die absolute Anzahl der Stifte tatsächlich eher zwischen 600 und 700 gelegen haben, doch gibt es manche Abgrenzungsprobleme, siehe dazu: WENDEHORST/ BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 61 f. u. S. 161; WERNER, Gründungstradition (wie Anm. 4), S. 63–65. 36 MORAW, Über Typologie (wie Anm. 35), S. 34. 37 Ebd. S. 34 f. 38 Peter MORAW, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Uwe BESTMANN/Franz IRSIGLER/Jürgen SCHNEIDER (Hg.), Hochfinanz – Wirtschaftsräume – Innovationen. Festschrift Wolfgang von Stromer, Bd. 2, Trier 1987, S. 583–622; Wiederabdruck in: DERS., Über König und Reich (wie Anm. 35), S. 293–320, hier bes. S. 304 (Zitat). 39 Peter MORAW, Stiftskirchen im deutschen Sprachraum. Forschungsstand und Forschungshoffnungen, in: Sönke LORENZ/Oliver AUGE (Hg.), Die Stiftskirche in Südwest-

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Bedeutung dieser Einschätzung besser zu verstehen, gilt es im Folgenden, die besondere institutionelle Form des mittelalterlichen Kollegiatstifts zu betrachten. Was also ist das weltliche Kollegiatstift überhaupt? Kollegiatstifte sind Gemeinschaften von Weltgeistlichen, die als Kanoniker oder Chorherren bezeichnet werden; sie leben von Pfründenbezügen; ihren Gemeinschaften steht ein Propst oder Dekan als Leiter vor und ihre vorrangige Aufgabe ist der tägliche Vollzug der Liturgie durch Messe und Chorgebet.40 Entsprechend heißt es zum Beispiel in der Gründungsurkunde des Stiftes Römhild 1450: Die Kanoniker sollen „Got dem almechtigen darinne dyenen in den ampten der heiligen messen mit teglichem lobsingen der tagzeit“;41 sie sollen also die Tagesmessen feiern und das mehrmals täglich stattfindende Choroffizium halten. Dass die Chorherren Säkularkanoniker genannt wurden, war dem Umstand geschuldet, dass sie „in saeculo“ lebten, also ihren kirchlichen Dienst in der Welt und für die deutschland. Aufgaben und Perspektiven der Forschung (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 35), Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 55–71, hier S. 71. 40 Zur Einführung sei verwiesen auf: Guy P. MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut im Mittelalter? Dom- und Kollegiatstifte. Eine Einführung und eine neue Perspektive, in: Revue d‘histoire ecclésiastique 94 (1999), S. 761–807 u. 95 (2000), S. 7–53; MORAW, Über Typologie (wie Anm. 35); Irene CRUSIUS, Art. „Stift“, in: Theologische Realenzyklopädie 32, Berlin u. a. 2001, S. 160–167; Enno BÜNZ, Art. „Kollegiatstift“, in: Handwörter zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, Sp. 1945–1948. Die folgenden Ausführungen verdanken viel den wegweisenden Arbeiten von Peter Moraw und Guy P. Marchal, an die ich mit eigenen Arbeiten anknüpfen konnte, siehe Enno BÜNZ, Mittelalterliche Domkapitel als Lebensform, in: Karin HEISE/Holger KUNDE/ Helge WITTMANN (Hg.), Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Bistum und Domkapitel Merseburg. Katalog (Schriftenreihe der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, 1), Petersberg 2004, S. 13–32; DERS., Die Dom- und Kollegiatstifte in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg – geographisch, chronologisch und typologisch betrachtet, in: Dirk Martin MÜTZE (Hg.), Regular- und Säkularkanonikerstifte in Mitteldeutschland (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 21), Dresden 2011, S. 143–178; DERS., Das Kollegiatstift St. Marien zu Wurzen im Mittelalter. Seine Bedeutung für das Bistum Meißen und Sachsen, in: Der Dom St. Marien zu Wurzen. 900 Jahre Bau- und Kunstgeschichte der Kollegiatstiftskirche St. Marien zu Wurzen. Beiträge des Kolloquiums vom 17. Oktober 2014 (Arbeitshefte des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen, 23), hg. von Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Dresden 2015, S. 9–27; DERS., „Begegnung von Kirche und Welt“. Peter Moraw und die Erforschung des weltlichen Kollegiatstifts, in: Christine REINLE (Hg.), Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, 10), Korb 2016, S. 251–267. 41 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 203.

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Welt verrichteten. „Die Welt der Kanoniker“, so Guy Marchal, „ist eben das Säkulum“. Schließt man diesen zentralen Aspekt aus, so würde man die geschichtliche Bedeutung dieser Institution im Mittelalter verkennen.42 Auf das Engste mit den Kollegiatstiften verwandt sind die Domkapitel, die im Mittelalter wie heute an jedem katholischen Bischofssitz als Klerikergemeinschaft existieren.43 Ein solches Domkapitel besteht seit der Gründung des Bistums Erfurt 1994 an der Marienkirche, die in Mittelalter und Früher Neuzeit ein Kollegiatstift, nun also ein Domstift beherbergt. Im Mittelalter gab es hingegen auf dem Gebiet des heutigen Thüringen kein Domkapitel, denn die Bischofssitze der Diözesen, die Thüringen erfassten, lagen alle an der Peripherie: in Mainz, Würzburg, Naumburg und Halberstadt. Grundsätzliche organisatorische Unterschiede zwischen Dom- und Kollegiatstiften bestanden weder in der Vergangenheit noch heute. Die Domstifte sind aber gegenüber den Kollegiatstiften in der Diözese rangmäßig schon dadurch hervorgehoben, dass sie an der Kathedrale angesiedelt sind. Den Domherren oblag in der Vergangenheit die Wahl des Diözesanbischofs (heute ist von den jeweiligen Landeskonkordaten abhängig, ob und wie die Domherren wählen44), der vielfach aus den eigenen Reihen stammte, und die Domkapitel waren an der Diözesanverwaltung beteiligt, so dass man grundsätzlich von einem durch die Kirchenverfassung bestimmten Miteinander auszugehen hat, das in der historischen Wirklichkeit aber tatsächlich zumeist durch die Konkurrenz von Bischof und Domkapitel bestimmt war.45 Der Begriff „Stift“ ist in der Kirchenverfassung des Mittelalters und der Neuzeit uneindeutig. Er kann ein weltliches Kollegiatstift bezeichnen, aber auch Gemeinschaften von Regularkanonikern wie Augustiner-Chorherren und Prä42 MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 36. 43 In der Übersicht von WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), werden die Domkapitel leider nicht miterfasst. Das Überblickswerk: Erwin GATZ u. a. (Hg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg i. Br. 2003, weist zwar auch auf die Domkapitel hin, ersetzt aber eine historische Übersicht mit weiterführenden Literaturangaben nicht. Für die Zeit bis ins späte 12. Jahrhundert berücksichtigt die Domkapitel auch Frank G. HIRSCHMANN, Die Anfänge des Städtewesens in Mitteleuropa. Die Bischofssitze des Reiches bis ins 12. Jahrhundert, Teilbd. 1–3 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 59/1–3), Stuttgart 2012. 44 Klaus BLASCHKE, Art. „Bischofswahl“, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 1, Paderborn u. a. 2000, S. 285–290. Zur Geschichte des Wahlverfahrens siehe Georg VON BELOW, Die Entstehung des ausschließlichen Wahlrechts der Domkapitel mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (Historische Studien, 11), Berlin 1883. 45 Günter CHRIST, Selbstverständnis und Rolle der Domkapitel in den geistlichen Territorien des alten deutschen Reiches in der Frühneuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), S. 257–328; DERS., Bischof und Domkapitel von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Römische Quartalschrift 87 (1992), S. 193–235.

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monstratenser, ebenso Frauengemeinschaften wie Damenstifte, und in Österreich werden sogar Benediktiner- und Zisterzienserklöster als Stifte bezeichnet.46 Dieser Begriff ist also ohne weitere Präzisierung wenig hilfreich. Die weltlichen Kollegiatstifte oder Säkularkanonikerstifte, um die es uns hier geht, werden in der lateinischen Sprache des mittelalterlichen Kirchenrechts stets als „ecclesia collegiata“ bezeichnet, womit eine rechtlich organisierte Gemeinschaft von Geistlichen gemeint ist, eben ein „collegium“.47 Schon der volkssprachliche mittelhochdeutsche Terminus „stift“ war uneindeutig. Der korrekte deutsche Begriff lautete vielmehr „tuom / thum“ oder „tuomstift“, womit im späten Mittelalter eben keineswegs nur Domstifte gemeint waren, sondern generell auch Kollegiatstifte.48 Entsprechend hießen die Mitglieder eines Kollegiatstifts im Mittelalter auch nicht „Stiftsherren“, sondern stets „tuomherren“, was in modernen Übersetzungen dann gelegentlich zur irrigen Gleichsetzung mit „Domherr“ führt. Das Kollegiatstift war überwiegend, aber nicht ausschließlich ein städtisches Phänomen. Auf dem platten Land lagen in Thüringen die Stiftskirchen in Bergsulza, Großburschla, Jechaburg und Oberdorla. Letzteres wurde allerdings 1472 nach Langensalza verlegt. Das weltliche Kollegiatstift war als gemeinschaftliche Organisationsform im gesamten Mittelalter attraktiv, doch gab es Gründungswellen und regionale Schwerpunkte. In ottonisch-frühsalischer Zeit, also im 10. und frühen 11. Jahrhundert, sind vor allem in den deutschen Bischofsstädten Kollegiatstifte in großer Zahl gegründet worden, vielfach als Stiftungen der Bischöfe, die damit zum Teil auch für ihre Grablege und Memoria vorsorgten.49 46 Joachim ANGERER, Klösterreich. Die Stifte und Klöster in Bayern, Österreich und der Schweiz, Linz ³1996. 47 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, Bd. 2: C, redigiert von Otto PRINZ u. a., München 1999, Sp. 845; J. F. NIERMEYER/C. VAN DE KIEFT, Mediae latinitatis lexicon minus. Lexique latin médiéval – Medieval Latin Dictionary – Mittellateinisches Wörterbuch. Édition remaniée par – revised by – überarb. von J. W. J. BURGERS, Bd. 1, Leiden/Darmstadt 22002, S. 263, jeweils s. v. „collegiatus“. 48 Bettina KIRSCHSTEIN/Ursula SCHULZE/Sibylle OHLY (Bearb.), Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Bd. 2, Berlin 2003, S. 1665 f., bes. „stift“; ebd., Bd. 3, Berlin 2010, S. 1781, bes. „tuom“, „Tuombrobest“, „tuomherre“, „tuomtechan“. Die Durchsicht der Belege zeigt, dass die dort angegebene Übersetzung von „tuom“ mit „Dom, Kathedralkirche“ zu eng ist. 49 Zu den Kollegiatstiften in den einzelnen Bischofsstädten bis ca. 1200 siehe HIRSCHMANN, Anfänge des Städtewesens 3 (wie Anm. 43), S. 1061–1078; DERS., Die Domannexstifte im Reich – Zusammenstellung und vergleichende Analyse, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 119 (2002), S. 110–158; Irene CRUSIUS, „Basilicae muros urbis ambiunt“ – zum weltlichen Kollegiatstift in den deutschen Bischofsstädten des frühen und hohen Mittelalters, in: DIES. (Hg.), Studien zum weltlichen

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Die Stifte St. Marien und St. Severi in Erfurt, St. Peter und Paul in Oberdorla, St. Peter und Paul in Jechaburg sowie St. Martin in Heiligenstadt gehören in diese Gründungsphase bischöflicher Stifte. Vor allem für das Heiligenstädter Martinsstift (man beachte die Bezugnahme auf das Patrozinium der Mainzer Domkirche) ließe sich sehr schön zeigen, wie diese Einrichtung ganz am Nordrand der Erzdiözese seit dem 10. Jahrhundert beständig von den Erzbischöfen gefördert wurde. Die Propsteien dieser älteren Kollegiatstifte waren, wie wir noch sehen werden, vielfach Mainzer Domherren reserviert und mit der Verwaltung von Archidiakonatsbezirken in der Diözese verknüpft.50 Es war deshalb eine allgemeine Entwicklung, dass die Pröpste – die als Mainzer Domherren ohnehin ein Fremdkörper waren – aus den Stiften abgedrängt wurden und nicht mehr dem Kapitel angehörten, eine Entwicklung, die auch in den älteren thüringischen Stiften festzustellen ist.51 Eigentlicher Leiter dieser älteren Kollegiatstifte wurde seit dem 12. Jahrhundert der Dekan.52 Im späten Mittelalter wurden zahlreiche weitere Kollegiatstifte von Bischöfen, Landesherren, Klöstern und zum Teil auch von Stadträten gegründet. Diese Neugründungen waren aber im Vergleich zu den älteren Stiftskirchen geringer ausgestattet, deshalb zumeist an Pfründenzahl deutlich kleiner, und diese spätmittelalterlichen Stifte verfügten in der Regel von vornherein auch nur über einen Dekan als Vorsteher, nicht aber über einen Propst. In diese Kategorie und diesen Zeithorizont gehören die thüringischen Residenzstifte in Altenburg, Römhild und Schmalkalden, aber auch das Stift Zum Heiligen Brunnen in Erfurt. Insgesamt dürften allein im deutschsprachigen Raum während des Mittelalters 600 bis 700 Kollegiatstifte bestanden haben, doch gibt es manche Abgrenzungsprobleme. So wurden etliche Stiftsgemeinschaften schon früh in Klöster umgewandelt, wie dies in Thüringen wohl in Erfurt auf dem Petersberg, in Saalfeld und in Ettersburg der Fall war.53 Darüber hinaus entstanden im späten Mittelalter an manchen Pfarrkirchen Klerikergemeinschaften, die sich der Organisationsform von Kollegiatstiften annäherten und eine Art „Minderstift“

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Kollegiatstift in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 114; Studien zur Germania Sacra, 18), Göttingen 1995, S. 9–34. Zur Stellung und Funktion dieser Archidiakone Georg MAY, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: JÜRGENSMEIER/CHRIST/MAY (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 2 (wie Anm. 32), S. 445–592, bes. S. 505–520. Für St. Marien in Erfurt: KLEINEIDAM, Stiftskapitel (wie Anm. 3), S. 23 f. MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 18–21. WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 61 f. u. S. 161; WERNER, Gründungstradition (wie Anm. 4), S. 63–65.

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oder „Halbstift“ bildeten.54 Eine solche Entwicklung lässt sich im östlichen Teil des Erzbistums Mainz beispielsweise Ende des 15. Jahrhunderts an der Pfarrkirche St. Martini in Stolberg am Harz verfolgen, an der 1465 immerhin 20 Vikare Dienst taten, die sich 1502 zu einem Priesterkaland zusammenschlossen.55 Die Erhebung eines solchen geistlichen Gremiums zu einem Kollegiatstift hätte allerdings eine breitere Pfründenausstattung erfordert. Der Blick auf die thüringische Stiftslandschaft führt zu einer weiteren allgemeinen Feststellung: Die Gründung von Kollegiatstiften war das ganze Mittelalter hindurch attraktiv. Schon dies unterscheidet das weltliche Kollegiatstift von den Klöstern der religiösen Bewegungen und Orden des Mittelalters, die alle ihre Konjunktur hatten: Die Benediktiner im Früh- und Hochmittelalter, die Zisterzienser vor allem im 12. und 13. Jahrhundert, die Augustinerchorherren und Prämonstratenser im 11. und 12. Jahrhundert, die Bettelorden im 13. und neuerlich im 15. Jahrhundert. Die Beiträge des vorliegenden Bandes führen das breite Spektrum religiösen Gemeinschaftslebens eindrucksvoll vor Augen. Angesichts der sich stets wandelnden Anzugskraft der religiösen Bewegungen des Mittelalters, die alle ihre Zenite und Krisen hatten, erscheint das Phänomen des weltlichen Kollegiatstifts fast wie eine Konstante des kirchlichen Lebens, übrigens über das Mittelalter bis in die Neuzeit und auch über den Umbruch der Reformation hinaus,56 ganz im Gegensatz zu den meisten Klöstern. In der Frühen Neuzeit sind zwar kaum noch neue Kollegiatstifte gegründet worden, wie man in gesamteuropäischer Perspektive feststellen kann, doch belegt die Fortexistenz der mittelalterlichen Institutionen die Funktionalität und Zweckmäßigkeit der im Mittelalter entstandenen Organisationsform. Selbst in evangelischen Territorien wurden Kollegiatstifte als Pfründenpools zur Versorgung landesherrlicher Beamter oder Universitätslehrer noch in der Frühen Neuzeit beibehalten, wie am Fortbestand der Domstifte in Naumburg, Merse-

54 Johannes HIRNSBERGER, Art. „Halbstift“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg u. a. 1995, Sp. 1154. 55 Ernst SCHUBERT, Die Harzgrafen im ausgehenden Mittelalter, in: Jörg ROGGE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Hochadelige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200 bis 1600). Formen – Legitimation – Repräsentation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 23), Leipzig 2003, S. 13–115, hier S. 57 mit allen Nachweisen; Mario BOLTE, Kurzer Abriss der Stolberger Kirchengeschichte, in: Stolberger Geschichte(n) 9 (2014), S. 39–60. 56 Die Relevanz der Stiftsforschung ergibt sich nach Moraw schon daraus, dass Stifte „das ganze Mittelalter hindurch neugegründet worden“ und „daß diese kirchliche Lebensform in ungewöhnlichem Maße anpassungsfähig und aktualisierbar gewesen sind“: Peter MORAW, Hessische Stiftskirchen im Mittelalter, in: Archiv für Diplomatik 23 (1977), S. 425–458, hier S. 430 f.

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burg und Meißen, aber auch der Kollegiatstifte in Zeitz und in Wurzen ablesbar ist.57 Im Zuge der Säkularisation 1803 sind fast alle Kollegiatstifte aufgelöst worden, auch die letzten in Thüringen, nämlich in Erfurt, Heiligenstadt und Nordhausen. Heute bestehen in den deutschsprachigen Ländern de iure noch 20 Kollegiatstifte, z. B. St. Johann in Regensburg oder St. Michael in Beromünster in der Schweiz, aber sie dienen vielfach nur noch zur Altersversorgung von Priestern oder sind gar nicht mehr besetzt. Aus heutiger Sicht kann man über die Domkapitel ebenso wie über die Kollegiatkapitel sagen, dass es sich zwar noch im kirchenrechtlichen Sinne um Gemeinschaften von Priestern handelt, dass heute aber ein Gemeinschaftsleben tatsächlich nicht mehr stattfindet. Die Domherren und -vikare nehmen als Geistliche heute wie in der Vergangenheit Verwaltungsfunktionen und Seelsorgeaufgaben am Bischofssitz und in der Diözese war, sie halten aber kein tägliches Chorgebet mehr und feiern auch nur selten gemeinsam Gottesdienst.58 Auch kirchentreuen katholischen Gläubigen dürfte es deshalb heutzutage schwerfallen, etwas Substantielles über Dom- und Kollegiatstifte auszusagen. Benediktiner, Franziskaner oder Kapuziner sind als Ordensgemeinschaften vertraut, Dom- und Kollegiatstifte sind es nicht. Selbst Historiker sind auf diesem Gebiet nicht immer sattelfest. Hierfür nur zwei Beispiele: Der promovierte Mittelalterhistoriker Günter Rauch schreibt im Vorwort seines grundlegenden Buches „Pröpste, Propstei und Stift von Sankt Bartholomäus in Frankfurt“ (erschienen 1975): Vor vielen Jahren, auf einer Herbstfahrt durch den Taunus, entzifferte ich auf einem Grabstein in der Eppsteiner Kirche die Worte ‚prepositus ecclesie sancti bartholomei

57 Zur heutigen Rechtsstellung generell siehe Axel VON CAMPENHAUSEN, Art. „Domkapitel, II. Ev.“, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 1, Paderborn u. a. 2000, S. 471 f.; Rüdiger ALTHAUS, Art. „Kollegiatkapitel“, in: ebd., Bd. 2, Paderborn u. a. 2002, S. 595 f. Zur Umwandlung in evangelische Domkapitel und ihrem Fortbestand nach der Säkularisation 1803 siehe Johannes HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter Preußens, insbesondere Brandenburg, Merseburg, Naumburg-Zeitz. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 100/101), Stuttgart 1924; Alfred SCHULTZE, Die Rechtslage der evangelischen Stifter Meissen und Wurzen. Zugleich ein Beitrag zur Reformationsgeschichte (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, 1), Leipzig 1970. 58 Aufgaben und Rechte der heutigen Kollegiatstifte, die Gemeinschaften von Priestern sind, regelt das CIC von 1983 (cc. 503–510), siehe ALTHAUS, Art. „Kollegiatkapitel“ (wie Anm. 57), S. 595 f.

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franckfurdensis‘ und wunderte mich, denn unter einem Propst der Bartholomäuskirche konnte ich mir ganz und gar nichts vorstellen.59

Am Anfang steht eine einfache Frage, am Ende ein mehr als 400-seitiges Buch, das nun nicht nur auf die Frage, wer die Pröpste dieses bedeutenden Reichsstiftes waren, umfassende Antwort gibt. Ein weiteres Beispiel: Der Mittelalterhistoriker Hans K. Schulze hat für den zweiten Band der „Geschichte Thüringens“ (erschienen 1973) die Kirche im Hoch- und Spätmittelalter dargestellt. Die Kollegiatstifte werden im knappen Abschnitt über „Säkularkanoniker und Augustinerchorherren“ gemeinsam behandelt, ohne dass die Unterschiede thematisiert würden, und – schlimmer noch – in der Karte werden Säkularkanoniker und Augustinerchorherren mit einer gemeinsamen Signatur dargestellt,60 obwohl es sich um grundverschiedene religiöse Lebensweisen handelt. Dass Säkularkanoniker und Regularkanoniker, zu denen die Augustinerchorherren gehören, bis heute in der Literatur vermischt werden, ist notorisch.61 In den großen Darstellungen zur Geschichte der religiösen Bewegungen des Mittelalters kommen die Kanoniker der Dom- und Stiftskirchen nicht vor,62 obwohl – wie schon erwähnt – in jeder Bischofsstadt ein Domkapitel ansässig 59 Günter RAUCH, Pröpste, Propstei und Stift von St. Bartholomäus in Frankfurt. 9. Jahrhundert bis 1802 (Studien zur Frankfurter Geschichte, 8), Frankfurt a. M. 1975, S. 3. 60 Hans K. SCHULZE, Die Kirche im Hoch- und Spätmittelalter, in: Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 2/2: Hohes und spätes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 48/2,2), Köln 1973, S. 50–149 u. S. 323–336, hier S. 88 f., die Karte als Beilage im Band. 61 Zum Beispiel: DEHIO, Thüringen (wie Anm. 1), S. 88 (St. Stephan in Langensalza) u. S. 1160 (St. Peter in Jechaburg); KREMER, Beiträge (wie Anm. 10), S. 34–36 (Stift in Eisenach); HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte 1 (wie Anm. 1), S. 305, behauptet, die Chorherren in Jechaburg hätten später die Augustinerregel angenommen. WASCHKE, Sankt Peter zu Bergsulza (wie Anm. 15) widmet den Chorherren S. 7–12 (beide Lebensformen vermischend) und den Augustinerchorherren S. 77–82 zwei Kapitel. Auch BERNSTEIN, Mutianus Rufus (wie Anm. 14), S. 60, schreibt in einem Atemzug von den Augustiner-Chorherren und Weltgeistlichen im Marienstift zu Gotha; für Eisenach ebenso LUTHER, Klöster und Kirchen (wie Anm. 10), S. 403 u. 415. 62 Siehe z. B. Christopher BROOKE, Die große Zeit der Klöster 1000–1300, Freiburg i. Br. u. a. 1976; Arno BORST, Mönche am Bodensee 610–1525 (Bodensee-Bibliothek, 5), Sigmaringen 1978; Karl Suso FRANK, Geschichte des christlichen Mönchtums, Darmstadt 51993; ANGERER, Klösterreich (wie Anm. 46); Peter DINZELBACHER/James HOGG (Hg.), Kulturgeschichte der christlichen Orden in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1997; Isnard W. FRANK, Lexikon des Mönchtums und der Orden, Stuttgart 2005; Gudrun GLEBA, Klöster und Orden im Mittelalter (Geschichte kompakt), Darmstadt 42011; Gert MELVILLE, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012. Es ist auch bezeichnend, dass das Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte (wie Anm. 4), zwar in Teilband 2, S. 671–840 zahlreiche Kapitel über das monastische Leben von ca. 1200 bis zur Reformation bietet, auf die Dom- und Kollegiatstifte aber nicht eingeht.

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war (weshalb allein schon im Bereich der Germania Sacra von 58 Domkapiteln auszugehen ist) und darüber hinaus rund 600 weltliche Kollegiatstifte an den Bischofssitzen, in anderen Städten, aber auch auf dem Land bestanden haben.63 Das Kollegiatstift war nicht nur eine fast zeitlose Lebensform, sondern auch regional und sozial in den verschiedensten Bereichen anpassungsfähig. Die Bezeichnung als Säkularkanonikerstift verdeutlicht die Stellung dieser Gemeinschaften „zwischen Kirche und Welt“.64 Gemeinschaften von Weltgeistlichen („canonici“), die z. B. nach der Regel Chrodegangs von Metz lebten, sind schon im frühen Mittelalter nachweisbar, doch war erst das Aachener Reformkonzil von 816 bestrebt, die stiftische von der monastisch-benediktinischen Lebensform durch eine gesonderte Regel für Kanoniker („Institutio canonicorum“) zu scheiden, deren Rezeption im Reich aber bis zur Jahrtausendwende dauerte.65 Die konkrete Unterscheidung von Kloster und Stift, Mönchen und Kanonikern blieb zunächst also schwierig. Da Kollegiatstifte wie Klöster bis ins Hochmittelalter von der „vita communis“ bestimmt waren, ermöglichen die Quellen nicht immer eine sichere Differenzierung. Erst seit dem 12. Jahrhundert gewinnt die „ecclesia collegiata“ rechtlich deutlicheres Profil. In dieser Zeit setzt die Formulierung von Statuten ein, die anstelle der recht allgemeinen „Institutio canonicorum“, der Aachener Kanonikerregel von 816, immer mehr an Bedeutung gewann.66 Die Statuten wurden von den Kapitularkanonikern selbst entworfen und beschlossen. Sie regelten in 63 Zur Zahl siehe WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1), S. 61 f. u. 161; WERNER, Gründungstradition (wie Anm. 4), S. 63–65. 64 Siehe dazu MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 36. 65 Dazu grundlegend Rudolf SCHIEFFER, Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland (Bonner Historische Forschungen, 43), Bonn 1976. Seitdem sind eine Reihe von Einzelstudien von demselben erschienen: DERS., Die Anfänge der westfälischen Domstifte, in: Westfälische Zeitschrift 138 (1988) S. 175–191; DERS., Domkapitel und Reichskirche, in: Michael BRANDT/Arne EGGEBRECHT (Hg.), Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993, Bd. 1, Hildesheim/Mainz 1993, S. 269–273; DERS., Die ältesten Papsturkunden für deutsche Domkapitel, in: Joachim DAHLHAUS u. a. (Hg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 39), Köln u. a. 1995, S. 135–155; DERS., Die Anfänge des Bamberger Domkapitels, in: Josef URBAN (Hg.), Das Bistum Bamberg um 1007. Festgabe zum Millennium, Bamberg 2006, S. 252– 269; Domkapitel in der Salierzeit, in: Barbara HEEG (Bearb.), Die Salier. Macht im Wandel. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer, München 2011, Teilbd. 1, S. 94–99. 66 Die Aachener Kanonikerregel ist ediert in Albert WERMINGHOFF (Hg.), Concilia aevi Karolini, Teil 1 [742 – 817] (Monumenta Germaniae Historica. Legum secti, 3; Concilia, 2/1), Hannover 1906, S. 308–421; MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerstift (wie Anm. 40), S. 783–787.

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wachsender Zahl alle erdenklichen Lebensbereiche der Kollegiatstifte – vom Eintritt ins Stift über die liturgischen Verpflichtungen der Mitglieder und den Umfang ihrer Pfründenbezüge bis hin zu den Aufgaben der Dignitäre und der Verwaltung des Grundbesitzes – und wurden zur eigentlich prägenden Norm des Stiftsalltags.67 Ohne jetzt in die Diskussion von Einzelbelegen einsteigen zu wollen, können wir doch festhalten, dass auch die Kollegiatstifte Thüringens erst in dieser Zeit deutlich als Institutionen greifbar sind. Zumindest für die beiden Erfurter Stifte St. Marien und St. Severi wie auch für das Kollegiatstift St. Martin in Heiligenstadt ist der allmähliche Übergang aus einer Klerikergemeinschaft zu einer Korporation von Stiftsherren im Laufe des 12. Jahrhunderts anzunehmen.68 Die Auflösung der „vita communis“ korrespondiert mit der Güterteilung zwischen Propst und Kapitel, mit der Aufteilung des Stiftsbesitzes bzw. der Einkünfte in Einzelpfründen und dem damit ursächlich im Zusammenhang stehenden Aufkommen von Häusern („curiae“), in denen die Kanoniker mit eigenem Haushalt leben und wirtschaften. Denn als Pfründenempfänger mussten sie nun nicht mehr gemeinsam mit den anderen Kanonikern im Refektorium speisen, sondern konnten einen eigenen Hausstand gründen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der mit dieser Entwicklung allmählich einhergehende begriffliche Wandel: So wurden die Stiftsherren nun nicht mehr als „fratres“, sondern als „canonici (capitulares)“ bezeichnet. Etwas überspitzt könnte man sagen: Aus Brüdern wurden Herren. Die Kanoniker legten keine Profess ab, wie es Mönche und Nonnen in den Klöstern taten (wogegen sich dann 1521 Luthers bekannte Schriften über die Mönchsgelübde richteten),69 sondern die Stiftsherren leisteten einen Aufnahmeeid, mit dem sie sich auf die Stiftsstatuten verpflichteten, nicht auf die Beachtung einer Regel. In landesherrlichen Stiften, wie etwa in Schmalkalden, wurde zusätzlich ein Treueid abgefordert, der die Kanoniker an den Landesherrn band und zur Residenz verpflichtete, also zur persönlichen Anwesenheit.70 Die Besetzung der Kanonikate erfolgte in der 67 Allgemein MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 793 f. Die Statutenüberlieferung der Erfurter Stifte ist spärlich. Zwar bietet schon die Vereinbarung zwischen Propst und Kanonikern von St. Severi über die Pfründenverteilung statuarische Bestimmungen, die Erzbischof Adalbert I. 1121 beurkundet: OVERMANN (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifte und Klöster 1 (wie Anm. 3), S. 12 f., Nr. 16. Einschlägig ist dann aber erst wieder das Statut des Erfurter Marienstifts von 1337: ebd. 2, S. 36 f., Nr. 75. Bezugnahmen auf Stiftstatuten enthalten in: ebd., Nr. 556, 859, 961 u. 986 f. 68 Für Heiligenstadt BÜNZ, Heiligenstadt (wie Anm. 9), S. 16–18. 69 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8: Schriften 1521/22, Weimar 1889, S. 313–336 („Iudicium de votis“) u. S. 573–669 („De votis monasticis“). 70 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 42 u. S. 203 (Römhild, aber nur vermutet).

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Regel durch Wahl des Stiftskapitels, das für alle Belange des Kollegiatstifts zuständig war, doch konnten einzelne Kanonikate auch besonderen patronatsrechtlichen Regelungen unterliegen, weil sie etwa von bestimmten Familien gestiftet worden waren. Zudem haben die Päpste seit dem 13. Jahrhundert durch Erteilung von Provisionen und Exspektanzen in die Besetzung von Stiftskanonikaten mit unterschiedlichem Erfolg eingegriffen. Auf diesen Aspekt kann hier nur kurz am Rande eingegangen werden, weil unabhängig von der Frage, ob die päpstlichen Pfründenverleihungen tatsächlich zum Erfolg führten, die darüber ausgestellten Urkunden vielfältige Informationen über kirchliche Verhältnisse, Biographien von Klerikern, Pfründendotierung u. a. enthalten. Seit rund einem Jahrhundert sind deutsche Historiker damit beschäftigt, ein „Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien vom Beginn des Schismas [1378] bis zur Reformation“ zu erstellen.71 Daraus ist das sog. „Repertorium Germanicum“ hervorgegangen, das mittlerweile von 1378 bis 1471 mehrere Hunderttausend Quellenbelege über deutsche Ortschaften, geistliche Institutionen, einzelne Kleriker und Laien enthält.72 Eine Suche in der Datenbank 71 So lautet der Untertitel des Repertorium Germanicum. Hier sei aus Raumgründen nur auf den zuletzt erschienenen Band verwiesen: Hubert HÖING/Heiko LEERHOFF/Michael REIMANN (Bearb.), Repertorium Germanicum IX. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Pauls II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1464–1471, 1. Teil: Text; ebd., 2. Teil: Indices, Tübingen 2000. Zurzeit werden die Pontifikate Sixtus’ IV. (1471–1484) und Innozenz’ VIII. (1484–1492) bearbeitet. Zu den bisher erschienenen Bänden siehe Brigide SCHWARZ, Das Repertorium Germanicum. Eine Einführung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 90 (2003), S. 429–440. 72 Zu den Auswertungsmöglichkeiten des Repertorium Germanicum anhand mitteldeutscher Beispiele: Enno BÜNZ, Thüringen und Rom. Die systematische Erschließung der vatikanischen Quellen des Mittelalters und ihre Bedeutung für die mitteldeutsche Landesgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997), S. 187–211; DERS., Geistliche Karrieren im Hause Schönberg vor der Reformation. Eine Fallstudie zur Aussagekraft der kurialen Quellen des Vatikanischen Archivs, in: Birgit RICHTER (Red.), Die Adelsfamilie von Schönberg in Sachsen. Fachkolloquium des Sächsischen Staatsarchivs, Staatsarchiv Leipzig 22. Oktober 2010, Dresden 2011, S. 22–35; DERS., Die Römische Kurie und Sachsen im späten Mittelalter. Mit einer Zusammenstellung der Benefizien des Bistums Meißen in den päpstlichen Registern 1417–1471, in: Wolfgang HUSCHNER/Enno BÜNZ/Christian LÜBKE (Hg.), Italien, Mitteldeutschland, Polen. Geschichte und Kultur im europäischen Kontext vom 10. bis zum 18. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 42), Leipzig 2013, S. 403–530; DERS., Die Lausitzen und Rom. Geistliche, Pfründen und Kirchen in der päpstlichen Registerüberlieferung des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Heinz-Dieter HEIMANN/Klaus NEITMANN/Uwe TRESP (Hg.), Die Nieder- und Oberlausitz. Konturen einer Integrationsland-

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des Deutschen Historischen Instituts Rom ergab für Erfurt 1872 Treffer, darunter allein 594 Belege für das Kollegiatstift St. Severi und seine Geistlichen. Für das Heilig-Kreuz-Stift in Nordhausen lassen sich 409 Belege ermitteln, für das Martinsstift in Heiligenstadt 181 Belege. Selbst das reichlich unbedeutende Stift Bergsulza und das Brunnenstift in Erfurt sind in diesem Zeitraum mit einigen Nachweisen greifbar. Die päpstlichen Register, zu denen auch die der Pönitentiarie (päpstliche Bußbehörde) zu rechnen sind, die im „Repertorium Poenitentiariae Germanicum“ erschlossen werden,73 bieten also ein fast unerschöpfliches, wenn auch regional bzw. institutionell unterschiedlich dichtes Quellenmaterial für die Landesgeschichte, auch für die Erforschung der thüringischen Stiftskirchen, ihre Pfründen und ihre Geistlichen!74 Der Aufstieg zum vollberechtigten Kapitularkanoniker war abgeschlossen, wenn der Geistliche 1.) einen festen Sitz im Chor erhalten hatte („stallum in choro“, man kann sich angesichts des prächtigen spätmittelalterlichen Chorgestühls in St. Marien zu Erfurt lebhaft vorstellen [siehe Abb. 3], welches Prestige es mit sich brachte, hier im Wortsinne „installiert“ zu werden75), wenn er 2.) Sitz und Stimme im Kapitel besaß, also in allen Angelegenheiten des Stiftes mitreden und -entscheiden konnte, und wenn er 3.) die vollen Pfründenbezüge erhielt, die mit dem Kanonikat verbunden waren. Jedes Stift regelte in seinen Statuten die Zulassungsvoraussetzungen selbst, angefangen über die eheliche Geburt, eine Mindeststudienzeit an der Universität bis hin zu Exklusivitätskriterien wie

schaft, Bd. 1: Mittelalter (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 11), Berlin 2013, S. 63–78. 73 Diese Registerserie setzt erst 1431 ein und ist für die deutschen Betreffe in bisher zehn Bänden erschlossen. Zuletzt ist erschienen: Ludwig SCHMUGGE (Bearb.), Repertorium Poenitentiariae Germanicum X. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie Leos X. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches 1513– 1521, 1. Teil: Text, Teil 2: Indices, Berlin u. a. 2016. 74 Über die Bedeutung des päpstlichen Provisionswesens für Dom- und Kollegiatstifte gibt es mehrere vorbildliche Fallstudien: Andreas MEYER, Zürich und Rom. Ordentliche Kollatur und päpstliche Provisionen am Frau- und Großmünster 1316–1523 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 64), Tübingen 1986; Brigitte HOTZ, Päpstliche Stellenvergabe am Konstanzer Domkapitel während der avignonesischen Epoche (1316– 1378) und die Domherrengemeinschaft beim Übergang zum Schisma (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 49), Ostfildern 2003; Thomas WILLICH, Wege zur Pfründe. Die Besetzung der Magdeburgere Domkanonikate zwischen ordentlicher Kollatur und päpstlicher Provision 1295–1464 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 102), Tübingen 2005. 75 Sibylle PUTZKE, Das Chorgestühl des Erfurter Doms (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege, NF 20/1), Erfurt 2005.

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adliger Herkunft oder akademischem Grad.76 Dies hier für die thüringischen Stifte zu schildern, ist vorerst unmöglich, weil es dafür an Editionen der entsprechenden Quellen und auswertenden Untersuchungen fast ganz mangelt.77 Zahl und Ausstattung der Pfründen waren von Kollegiatstift zu Kollegiatstift unterschiedlich, wobei im späten Mittelalter die Tendenz zum „capitulum clausum“ zu beobachten ist, d. h. man ging dazu über, die Zahl der Kanonikate und der mit diesen verbundenen Pfründen zu begrenzen.

Abb. 3: Chorgestühl im Dom zu Erfurt 76 Über die Zulassungsvoraussetzungen allgemein: MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 10–15. 77 Neben der Pfründe („praebenda“) hatten die Kanoniker in manchen Stiften noch zusätzlichen Besitz in Form von sog. Obleien („oblatio“) oder Obödienzen („oboediencia“) inne. Siehe dazu Enno BÜNZ, Oblatio – oblagium – oblei. Zur Güterorganisation und -verwaltung mittelalterlicher Dom- und Kollegiatstifte, in: Sönke LORENZ/Andreas MEYER (Hg.), Stift und Wirtschaft. Die Finanzierung geistlichen Lebens im Mittelalter. Fünfte wissenschaftliche Fachtagung zum Stiftskirchenprojekt des Instituts für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen (12.–14. März 2004, Weingarten) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 58), Ostfildern 2007, S. 19–44.

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Deshalb lassen sich zumeist auch erst für das späte Mittelalter sichere Angaben über die Zahl der Kanonikate machen und damit ein Maßstab gewinnen, um die verschiedenen Stifte zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei ist zu bedenken, dass es neben den Präbenden der vollberechtigten Kapitularkanoniker auch kleinere Kanonikerpräbenden gab, im Erfurter Marienstift z. B. „praebendae minores“, Knabenpfründen und Sacerdotalpräbenden und Lektoralpräbenden.78 Letztere waren mit bestimmten liturgischen Aufgaben verbunden, weshalb der Inhaber Priester sein musste. Die kleineren Präbenden waren für die angehenden Kanoniker gedacht, die zunächst als Scholaren, dann als sog. Domizellaren noch keine vollberechtigten Kanoniker waren. Diese Differenzierung der Kanonikerpründen wird in der Literatur nicht immer bedacht, was die zum Teil widersprüchlichen Angaben zur Pfründenzahl einzelner Stifte erklärt. Die Angaben im Folgenden beziehen sich auf die Anzahl der Kanonikate bzw. Präbenden für vollberechtigte Kapitularkanoniker. Das Erfurter Marienstift verfügte um 1500 über 22 Präbenden für Kapitularkanoniker.79 Die Zahl der Kanonikate im Severistift war hingegen niedriger und lag wohl bei 15.80 Das Kollegiatstift St. Martin zu Heiligenstadt gab es zunächst zwölf Kanonikate, doch wurde 1318 ein dreizehntes Kanonikat hinzugestiftet, das allerdings 1525 wieder aufgehoben und der Kapitelsmensa inkorporiert wurde.81 Das Residenzstift in Altenburg verfügte über 13 Kanonikerpräbenden.82 In Nordhausen war das Heilig-Kreuz-Stift 1220 mit elf Kanonikaten eingerichtet worden, und diese Zahl blieb bis in die Reformationszeit

78 SONNTAG, Kollegiatstift St. Marien (wie Anm. 3) S. 44; PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 36. 79 SONNTAG, Kollegiatstift St. Marien (wie Anm. 3) S. 44; PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 35. 80 Ich danke in diesem Zusammenhang dem Leiter des Bistumsarchivs Erfurt, Dr. Michael Matscha, für eine ausführliche Mitteilung (Mail vom 2.12.2016). Dies bestätigt übrigens die Schätzung von Robert GRAMSCH, Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 17), Leiden 2003, S. 355. 81 Stifter war der Heiligenstädter Kanoniker Heinrich von Altendorf, der zur Ausstattung des Kanonikats zehn Mark jährlicher Einkünfte erworben hatte. Die Besetzung des Kanonikats sollte dem Mainzer Erzbischof zustehen: Johann WOLF, Commentatio de archidiaconatu Heiligenstadensi, qua continuatur Diocesis Moguntina in archidiaconatus distincta etc. XI. commentationibus illustrata a Stephano Alexandro Würdtwein etc., Göttingen 1809, S. 22 f., Nr. 26. Aufgrund des Besetzungsrechtes unterliegt es keinem Zweifel, dass es dieses Kanonikat war, das Erzbischof Albrecht von Mainz 1525 der Kapitelsmensa inkorporiert hat: ebd., S. 87 f., Nr. 73. Siehe dazu auch KNIEB, Zur Geschichte (wie Anm. 8), S. 38. 82 ANHALT, Kollegiatstift St. Georgen (wie Anm. 16), S. 153.

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unverändert.83 Das Kollegiatstift Ohrdruf, 1344 an die St. Marienkirche nach Gotha verlegt, hatte damals 15 Kanonikate. Auch diese Zahl bestand bis in die Reformationszeit.84 Das Residenzstift in Schmalkalden wurde 1316 mit sieben Kanonikaten gegründet, doch wurden sie schon bis 1325 auf zwölf aufgestockt, und bei dieser Zahl blieb es bis in die Reformationszeit.85 Auch das Residenzstift Römhild hatte zwölf Chorherrenstellen.86 Das Marienstift zu Eisenach war seit der Gründung 1294 mit zehn Kanonikerpfründen ausgestattet.87 In dieser Größenordnung wird sich auch das Stift St. Peter und Paul in Jechaburg bewegt haben.88 Genauere Zahlenangaben lassen sich für das Kollegiatstift St. Peter und Paul in Oberdorla ermitteln, dessen sechs Präbenden 1459 um eine siebente vermehrt wurden. 1472 erfolgte die Verlegung nach Langensalza, wo der Propst Markus Decker 1501 noch eine achte Präbende einrichtete.89 Decker war übrigens auch Kanoniker und zuletzt Dekan (gest. 1506) hier im Erfurter Dom und stiftete 1499 das große Christophorusbild an der Südwand (siehe Abb. 4 u. 5).90 Das Erfurter Brunnenstift verfügte seit einer Zustiftung von 1373 über neun Kanonikate.91 Das Stift zu Großburschla hatte hingegen nur sieben Kanonikate.92 Für das Stift St. Peter in Bergsulza lassen sich ebenfalls sieben Kanoni-

83 HELLWIG, Dom zu Nordhausen (wie Anm. 11), S. 24 f. In die Zahl sind die Dignitäre einbezogen, auch die Propstwürde, die laut Transmutation 1220 (siehe Anm. 28) vom König besetzt wurde. 84 MÖLLER, Stift (wie Anm. 14), S. 27 u. 65. 85 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 45 f. u. 50. 86 Ebd., S. 205. 87 KREMER, Beiträge (wie Anm. 10), S. 39. 88 GRESKY, Der thüringische Archidiakonat (wie Anm. 12), dort findet sich zwar keine Angabe, doch verweist er mehrfach darauf, dass es neben Propst und Dekan noch die Ämter des Kustos, Kantors und Scholasters gab. 89 GUTBIER, Zur Geschichte (wie Anm. 13), S. 56. Bemerkenswert ist, dass der Propst trotz Verlegung des Stiftes mit Oberdorla verbunden blieb. Ähnlich ist das Verhältnis im Kollegiatstift Zscheila bei Meißen, dessen Propst in Großenhain residierte, vgl. Klaus FRÖHLICH, … in Haynen sive Tzschylen oder ein halber Thumb von Tscheile? Die Propstei Hain und das Kollegiatstift St. Georg zu Zscheila, in: Enno BÜNZ/Sabine ZINSMEYER (Hg.), Neue Forschungen zu sächsischen Klöstern. Ergebnisse und Perspektiven (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde), Leipzig 2018 (in Druckvorbereitung). 90 Farbig abgebildet in LEUSCHNER/BORNSCHEIN/SCHIERZ (Hg.), Kontroverse & Kompromiss (wie Anm. 3), S. 29; Karl BECKER/Margarethe BRÜCKNER/Ernst HAETGE/Lisa SCHÜRENBERG (Bearb.), Die Stadt Erfurt 1: Dom, Severikirche, Peterskloster, Zitadelle (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, 1), Burg 1929, S. 65 f. 91 KLAPPER, Kirche zum heiligen Brunnen (wie Anm. 6), S. 33; ebd., aber der Hinweis, dass die 4. Kanonikerstelle nicht dotiert war und deshalb seit 1420 nicht mehr besetzt wurde. 92 KOHLSTEDT, Benediktinerpropstei (wie Anm. 9), S. 69.

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kerpfründen nachweisen.93 Diese Zahlenangaben schließen jeweils die Dignitäten und Ämter ein, also die höchste Dignität des Propstes, die es aber nur in den älteren Stiftskirchen gab, dann die Dignität des Dekans, der allenthalben der eigentliche Leiter des Stiftes war, weiter Kantor, Kustos und Scholaster, denn diese Dignitäten und Amtsinhaber wurden stets aus dem Kreis der Kanoniker gewählt.94 Neben ihrer Kanonikerpfründe bezogen die Dignitäre aber aufgrund ihrer Funktion weitere Einkünfte.

Abb. 4 u. 5: Das Wandbild des St. Christophorus im Erfurter Dom nebst einem vergrößerten Ausschnitt des sich unten links befindlichen Stifterbilds von Markus Decker

Nur die Inhaber der Kanonikate waren vollberechtigte Kapitularkanoniker, die als rechtsfähige Korporation das Kapitel bildeten, welches sich unter Vorsitz des Dekans oder eines anderen Dignitärs zu turnusmäßigen oder außerordentlichen Sitzungen traf und als juristische Person „über alle Rechts- und Verwaltungsfragen zu beschliessen“ hatte.95 Die Beschlüsse des Kapitels wurden in Protokollen festgehalten, die aber – wenn überhaupt – erst seit dem 15. Jahrhundert überliefert sind,96 und für Beurkundungen führten die Kapitel eigene 93 94

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WASCHKE, St. Peter zu Bergsulza (wie Anm. 15), S. 46 f. (für 1528). Dazu enthalten schon die zeitgenössischen Quellen manchmal missverständliche Angaben, siehe z. B. WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 205. MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 16. Ebd., S. 794 mit Anm. 66, betont Marchal, dass Kapitelsprotokolle aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert kaum überliefert sind. Aus den thüringischen Stiften sind für den

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Siegel.97 Dass es darüber hinaus in den Kollegiatstiften auch Scholaren und Domizellaren gab, die ein Kanonikat anstrebten, aber eben noch nicht dem Kapitel angehörten, wurde schon erwähnt.98 Dessen ungeachtet waren für die Funktionsfähigkeit der Stifte zumeist weitere Geistliche erforderlich. Je nach Größe und Stiftungsaufkommen gab es in den Kollegiatstiften weitere Kleriker, vor allem Vikare, die als Messpriester an den zahlreichen Altarstiftungen bepfründet waren und zum Teil die Kanoniker im Chorgebet vertraten, aber auch Inhaber von Prädikaturstiftungen und anderen geistlichen Stellen.99 Josef Pilvousek verweist darauf, dass es zu Anfang des 16. Jahrhunderts im Erfurter Marienstift rund 100 Geistliche gegeben hat.100 In anderen Stiftskirchen wurden solche Dimensionen zwar nicht erreicht, doch ist davon auszugehen, dass es allenthalben neben den Kanonikern eine größere Zahl von Messpriestern (Vikaren) gab, die aber selbstverständlich nicht dem Stiftskapitel angehörten. Das Kanonikat mit Pfründe, Stimmrecht im Kapitel und Sitz im Chor ist gewissermaßen der Angelpunkt des Stiftsherrenlebens. Peter Moraw hat die Pfründe einmal treffend als „eine der großen Abstraktionsleistungen der alteuropäischen Welt“ bezeichnet.101 Man wird nach einer überschlägigen Zählung Moraws in der deutschen Reichskirche „der Größenordnung nach mehr als 1.500 Kanonikerpfründen an Domstiften und etwa das Vier- bis Fünffache (6.000–7.500) an entsprechenden Kollegiatstiftspfründen vermuten“ dürfen, wobei das regionale Gefälle der Pfründendichte und -ausstattung mit zu bedenhier interessierenden Zeitraum offenbar nur die Kapitelsprotokolle von St. Severi für die Jahre 1438–1559 erhalten (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode, A 46, Nr. 177). Herrn Dr. Björn Schmalz (Landesarchiv Sachsen-Anhalt) danke ich für die Ermittlung des Bestandes. 97 Hier muss pauschal auf die einschlägigen Urkundenbücher verwiesen werden. Das Kapitelsiegel von St. Peter in Bergsulza ist offenbar nur noch an einer Urkunde des Klosters Heusdorf von 1271 erhalten, siehe die Beschreibung und Abbildung bei WASCHKE, St. Peter zu Bergsulza (wie Anm. 15), S. 32. 98 Vgl. SONNTAG, Kollegiatstift St. Marien (wie Anm. 3), S. 44; PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 36. 99 MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 30 f. zu den Kaplänen, die auch als Vikare, Altaristen oder Messpriester bezeichnet wurden. 100 Josef PILVOUSEK, Funktionelle Veränderungen im Erfurter Marienstift des 16./17. Jahrhunderts, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER (Hg.), Weihbischöfe und Stifte. Beiträge zu reichskirchlichen Funktionsträgern in der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 4), Frankfurt a. M. 1995, S. 151–166, hier S. 151. 101 Peter MORAW, Stiftspfründen als Elemente des Bildungswesens im spätmittelalterlichen Reich, in: Irene CRUSIUS (Hg.), Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 114; Studien zur Germania Sacra, 18), Göttingen 1995, S. 270–297, bes. S. 274 (Zitat); MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 49.

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ken ist.102 Rund 160 solcher Kanonikerpfründen bestanden, wie eben dargestellt, allein an den Stiftskirchen Thüringens. Diese Angaben veranschaulichen in überregionaler wie regionaler Perspektive noch eindrücklicher als die bloße Anzahl der Dom- und Kollegiatstifte die Bedeutung der Institution Kollegiatstift als Begegnungsraum von Kirche und Welt.103 Die „Abstraktionsleistung“ der Pfründe besteht in zweierlei: 1.) der Bündelung recht unterschiedlicher Einkommensquellen, und 2.) der Möglichkeit für den Kanoniker, die Pfründenbezüge unabhängig vom Aufenthaltsort des Kanonikers nutzen zu können. Ursprünglich bestanden die Kanonikerpfründen aus fixierten Reichnissen von Brot, Wein, Fleisch und anderen Naturalien, wie es für die „vita communis“ und den gemeinsamen Tisch im Refektorium sinnvoll war.104 Auch im späten Mittelalter verschwanden die Naturalreichnisse nicht ganz, doch trat die Auszahlung von Geldbeträgen an die Kanoniker in den Vordergrund. Gemeinsame Mahlzeiten wurden nun aber nur noch an bestimmten Festtagen abgehalten. Zu manchen Kanonikerpfründen des Erfurter Marienstifts gehörten auch Weinberge.105 Bei der landesherrlichen Visitation des Kollegiatstifts Langensalza 1540 wurde festgehalten, was die dortigen Kanoniker als Pfründe jährlich erhielten, nämlich 18 Mühlhäuser Malter Korn und Gerste, 4 Malter Hafer, 24 ½ Schock Groschen, 7 Gänse, 2 alte Hühner und 18 Micha102 Peter MORAW, Strukturen der deutschen Kirche im späteren Mittelalter, in: Zenon Hubert NOWAK (Hg.), Ritterorden und Kirche im Mittelalter (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 9), Torún 1997, S. 7–23, hier S. 12 f. 103 Selbstverständlich war die Zahl der Mönche und Nonnen in thüringischen Klöstern ungleich höher, aber die ordensspezifischen Regeln und Normen sowie die generellen monastischen Lebensbedingungen prägten doch ein anderes Verhältnis zur Welt. Ich schätze, dass es zu Beginn der Reformation in den 113 Klöstern Thüringens rund 2.500 Religiosen gegeben hat, davon etwa 1.500 Mönche und 1.000 Nonnen, siehe Enno BÜNZ, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108, hier S. 95 f. 104 Vgl. die vor 1200 aufgezeichneten Speisepläne des Bamberger Domkapitels, die einen exemplarischen Einblick in den gehobenen Konsum der adligen Domherren bieten, siehe dazu Klaus GUTH, Zum Zusammenhang zwischen Wirtschaftsform und Lebensstil im Hochmittelalter. Kulturgeschichtliche Überlegungen zu den Speiseordnungen am Alten Domstift zu Bamberg vor der Auflösung der „vita communis“ um 1200, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 33 (1973), S. 13–37, wieder abgedruckt in: DERS., Kultur als Lebensform. Aufsätze und Vorträge, Bd. 2: Kontinuität und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Kultur-, Bildungsgeschichte und Volkskunde, hg. von Elisabeth ROTH, St. Ottilien 1997, S. 49–70. 105 SONNTAG, Kollegiaststift St. Marien (wie Anm. 3), S. 44–47; PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 35–37.

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elishühner.106 Das breite Spektrum an Naturaleinkünften wirft die Frage auf, was diese insgesamt wert waren, welchen finanziellen Ertrag sie ihren Inhabern also abwarfen. Eine Vorstellung vermittelt die folgende Nachricht: Als 1508 in Langensalza eine zusätzliche Kanonikerpfründe gestiftet wurde, standen dafür 350 rheinische Gulden zur Verfügung, die beim Rat zu Langensalza angelegt wurden.107 Bei einem allgemein üblichen Zinssatz von 5 % erbrachte dieses Kapital 17 ½ Gulden Jahreseinkünfte, was kein hohes Einkommen war. Im Stift Römhild erhielten die Kanoniker einheitlich 20 Malter Korn und 10 Malter Hafer als Pfründeneinkünfte, die an Michaelis (29. September) gereicht wurden.108 Das entsprach nach Würzburger Maß ungefähr 2,3 Tonnen Roggen und 1,5 Tonnen Hafer. Für das Stift Schmalkalden ist hingegen nachgewiesen, dass die einzelnen Pfründen recht unterschiedlich ausgestattet waren.109 Im späten Mittelalter wurde es zur Regel, dass die Stiftsherren mehrere Pfründen innehatten, und dies nicht nur vor Ort. Dieser Pfründenpluralismus, dessen Schattenseite die notorische Nichtresidenz der Kanoniker war, ist geradezu eine Grundsignatur der vorreformatorischen Kirche und ihrer Weltgeistlichen. Vor diesem Hintergrund ist die Verwechslung der weltlichen Dom- und Kollegiatstifte mit regulierten Domkapiteln sowie Regularkanonikerstiften der Augustiner-Chorherren und Prämonstratenser besonders bedauerlich, zeigt dies doch ein grundsätzliches Missverständnis der Verfassung und Lebensform dieser Institutionen.110 Die monastischen Lebensformen verpflichteten Regularkanoniker konnten im Gegensatz zu Säkularkanonikern keinen Pfründenbesitz erwerben und konnten somit auch nicht Mitglied mehrerer Dom- und Stiftskirchen sein.111 In den Dom- und Kollegiatstiften versuchte man, das verbreitete 106 GUTBIER, Zur Geschichte (wie Anm. 13), S. 62. Ähnlich die Zusammensetzung der Präbenden im Erfurter Brunnenstift: KLAPPER, Kirche Zum heiligen Brunnen (wie Anm. 6), S. 40 f. 107 GUTBIER, Zur Geschichte (wie Anm. 13), S. 56 f. 108 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 203 f. 109 Ebd., S. 45 f. 110 Siehe dazu: DEHIO, Thüringen (wie Anm. 1), S. 88 (St. Stephan in Langensalza) u. S. 1160 (St. Peter in Jechaburg); KREMER, Beiträge (wie Anm. 10), S. 34–36 (Stift in Eisenach); HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 305, WASCHKE, Sankt Peter zu Bergsulza (wie Anm. 15); S. 7–12 u. 77–82; BERNSTEIN, Mutianus Rufus (wie Anm. 14), S. 60; LUTHER, Klöster und Kirchen (wie Anm. 10), S. 403 u. 415. 111 Regulierte Domstifte gab es nur im Nordosten des Reiches (Brandenburg, Havelberg und Ratzeburg gehörten dem Prämonstratenserorden an) und im Südosten (die Domkapitel der salzburgischen Eigenbistümer Chiemsee, Gurk, Lavant und Seckau folgten der Augustinerregel). Vgl. exemplarisch Wolfgang SCHOESSLER/Christian GAHLBECK, Brandenburg/Havel, Prämonstratenser-Domkapitel St. Peter und Paul, in: HeinzDieter HEIMANN u. a. (Hg.), Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster,

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Phänomen des Pfründenpluralismus, das sich durch den Verweis auf die meisten Kanonikerviten belegen lässt,112 dadurch einzudämmen, dass die anwesenden Kanoniker als Anreiz Zusatzzahlungen erhielten, sog. Präsenzgelder. Diese Zahlungen erfolgten für die Teilnahme an Jahrtagsstiftungen und anderen liturgischen Feiern, aber auch am Chorgebet selbst und konnten einen erheblichen Teil der Kanonikerbezüge ausmachen.113 Sie wurden in manchen Stiften durch einen besonderen Amtsinhaber, den Präsenzmeister, verwaltet.114 Gleichwohl blieb es dabei, dass viele Kanoniker in mehreren Stiften gleichzeitig bepfründet waren und sich entsprechend nur einen Teil des Jahres vor Ort aufhielten. Dies kollidierte einerseits mit der Residenzpflicht der Kanoniker, die in vielen Statuten vorgeschrieben war, gleichwohl immer wieder umgangen wurde. Andererseits führte die Mehrfachbepfründung dazu, dass allenthalben Stellvertreter eingesetzt wurden, um die mit der Pfründe verbundenen geistlichen Aufgaben zu erledigen. Diese Stellvertreter mussten sich natürlich mit einem kleinen Teil der Pfründenbezüge begnügen. Das Bild wäre unvollständig ohne einen Blick auf die sog. „curia“, den Kanonikerhof; denn seit der Auflösung der „vita communis“ haben die Klausurgebäude um den Kreuzgang mit dem Schlafsaal, dem Refektorium und ein Stück weit auch mit der Stiftsbibliothek ausgedient. Die Kanoniker bewohnen im späten Mittelalter mehr oder minder geräumige Gebäude im Umfeld ihrer Stiftskirche; dort führen sie ihren Haushalt, unterstützt von Köchin („domina“ genannt115) und anderem Personal. Diese Kanonikerhöfe bilden im Umfeld der

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Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Brandenburgische Historische Studien, 14), 2 Bde., Berlin 2007, S. 229–275; Enno BÜNZ/Katja HILLEBRAND, Ratzeburg, Domstift S. Maria, S. Johannes Evangelist (Ordo Praemonstratensis/ Prämonstratenser, Säkularkanoniker), in: Wolfgang HUSCHNER u. a. (Hg.), Mecklenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte, Kommenden und Prioreien (10./11.-16. Jahrhundert), Bd. I, Rostock 2016, S. 650–714; zu den Augustiner-Chorherrenstiften siehe WENDEHORST/BENZ, Verzeichnis (wie Anm. 1). Zusammenfassend zur „Pluralität der Benefizien“ auch SONNTAG, Kollegiatstift St. Marien (wie Anm. 3), S. 66–72. Zur Präsenz etwa ANHALT, Kollegiatstift St. Georgen (wie Anm. 16), S. 156–158. Zum Beispiel in Schmalkalden und Römhild, siehe WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 54 f. u. 218. Das Stiftskapitel von St. Marien in Erfurt gestattete Henning Göde 1501, seine Kurie am Aufstieg zum Petersberg seiner „domina“ zu vermachen: PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 43. Die Kanoniker und die Frauen wäre ein eigenes Thema. Sehr anregend ist Wolfgang PRANGE, Magd – Köchin – Haushälterin. Frauen bei Lübecker Geistlichen am Ende des Mittelalters, in: Elke IMBERGER (Hg.), „Der Stand der Frauen, wahrlich, ist ein harter Stand“. Frauenleben im Spiegel der Landesgeschichte (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, 39), Schleswig 1994, S. 9–26; ebenfalls gedruckt in: DERS., Beiträge zur schleswig-holsteinischen Geschichte. Ausge-

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Stiftskirchen geradezu ein geistliches Viertel, anschaulich ablesbar am Modell der alten Stadt Nordhausen (siehe Abb. 6). Dort bildeten die Kanonikerhöfe ein ausgedehntes Karree östlich der Stiftskirche.

Abb. 6: Kollegiatstift Hl. Kreuz in Nordhausen mit den Kanonikerhöfen im Umfeld der Stiftskirche (Modell der alten Stadt Nordhausen, Stadtmuseum Nordhausen)

Wenn es in der frühen Reformation zum sog. „Pfaffenstürmen“ kam, wie 1521 in Erfurt116 und 1524 in Gotha,117 richtete sich der Volkszorn nicht gegen die Kirchen, sondern gegen die Höfe der Kanoniker. Die Schadensinventare vermitteln das Bild eines behaglichen Wohnkomforts mit verglasten Fenstern, Kachelöfen, reicher Möblierung und wohlgefüllten Vorratskammern. Diese Gebäude gehörten jeweils dem Stift, wurden vom Kanoniker aber gegen Geldzahlung auf Lebenszeit erworben.118 Die Kanonikerhöfe bestanden vielfach aus wählte Aufsätze, Neumünster 2002, S. 455–472; neuerlich abgedruckt in: DERS., Bischof und Domkapitel zu Lübeck. Hochstift, Fürstentum und Landesteil 1160–1937, Lübeck 2014, S. 271–287. 116 Ulmann WEISS, Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Regionalgeschichtliche Forschungen), Weimar 1988, S. 124–132; PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 13–15. 117 KOCH, „Mit Gottes und der Landesfürsten Hülf“ (wie Anm. 14), S. 17–19. 118 Vgl. BERNSTEIN, Mutianus Rufus (wie Anm. 14), S. 60, Anm. 9. So ist es zu verstehen, wenn Bernstein angibt, Mutian habe in Gotha ein Haus mit eigenen Mitteln erworben. PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 40–46.

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mehreren Gebäuden, denn neben dem Wohnhaus mit Wohn-, Schlaf-, Arbeitsräumen und Bibliothek sowie einem Keller für Wein und andere Vorräte gab es zumeist auch Wirtschaftsgebäude mit Viehställen, Speichern und Räumen zum Bierbrauen.119 Auch ein Garten war vielfach vorhanden. Der Gothaer Kanoniker Mutianus Rufus (Konrad Muth) klagte in seinen Briefen gelegentlich, dass die Obstbäume in seinem Garten kaum Früchte trugen.120 Vielfach hatten die Kanonikerhöfe Namen, wenn auch nicht immer so programmatische wie das Haus des erwähnten Konrad Muth in Gotha: „Beata tranquillitas“ – „Selige Ruhe“.121

Abb. 7: Darstellung einer Messfeier im Chorgestühl in der Stiftskirche Hl. Kreuz zu Nordhausen

Der Humanist Mutianus Rufus, der von 1502 bis 1526 zurückgezogen in Gotha lebte und außer 600 gedrechselten lateinischen Briefen nicht viel zustande brachte, scheint geradezu der Prototyp des spätmittelalterlichen Kanonikers zu sein, bei dem die wirtschaftliche Absicherung durch Pfründen mit geringen Verpflichtungen korrespondierte, was Mutian gleichwohl nicht daran hinderte, auf der einen Seite dauernd über seine wirtschaftliche Lage zu klagen, und auf 119 Recht anschaulich: PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 45; aus einem Inventar von 1512 ebd., S. 184–186. 120 BERNSTEIN, Mutianus Rufus (wie Anm. 14), S. 60 u. 64. 121 Ebd., S. 65.

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der anderen Seite unter der Routine des geistlichen Dienstes zu stöhnen: „Ich murmle mit den Murmelnden, damit sie mich nicht der mangelnden Frömmigkeit beschuldigen“, und bei anderer Gelegenheit: „Der Chor und die Gebete der Müßiggänger nehmen mich in Beschlag. Jeden Tag beansprucht mich der Aberglaube für sich. Ich werde wie ein Tier, das geopfert werden soll, zum Altar geschleppt“.122 Dabei ließ er sich, nachdem er 1504 Kanoniker in Gotha geworden war, sage und schreibe neun Jahre Zeit, bis er selbst erstmals eine Messe zelebrierte (siehe Abb. 7).123 Es gibt eben Menschen, die es zwar leicht haben, es sich aber nicht leicht machen … Allerdings scheint im späten Mittelalter unter den Weltgeistlichen der Domund Kollegiatstifte die Haltung verbreitet gewesen zu sein, Inhaber wohlverdienter Rechte und Einkünfte zu sein, denen nur ein geringes Maß an Verpflichtungen gegenüberstand.124 Anders lässt sich die notorische Vernachlässigung der Residenzpflicht und die Delegation der geistlichen Aufgaben an Stellvertreter nicht erklären, die wir heute als strukturelle Missstände wahrnehmen, von den Zeitgenossen aber eher pragmatisch gehandhabt wurden. Selbst Kirchenreformer und Theologen wie Nikolaus von Kues im 15. und Julius Pflug im 16. Jahrhundert haben ganz selbstverständlich mehrere Pfründen besessen.125 So kamen die Kollegiatstifte in das Odium, in einer sich reformierenden Kirche jenen Rest von halsstarrigen Unverbesserlichen zu beherbergen, der sich mit Minimalverpflichtungen zufrieden gab, während Augustinerchorherren und Prämonstratenser sowie deren Vorläufer, Verwandte und Nachfolger dem Beispiel der Urkirche folgten.126

Angesichts dieser traditionellen Negativbewertung der kanonikalen Lebensform bezieht Moraw eine pointierte Gegenposition, indem er fordert, sich von einer wenig fruchtbaren kirchenrechtlichen oder kirchengeschichtlichen Perspektive zu lösen und einen allgemeineren Ansatz zu suchen, der die Stiftskirche begreift als eine der interessantesten Stätten der für das Mittelalter grundlegenden Begegnung von Kirche und Welt. Die Stiftskirche ist […] sowohl reizvoller Gegenstand als auch aussagekräftiger Indikator solcher Begegnung und zwar in charakteristisch wechselnden Formen über das ganze deutsche Mittelalter hinweg.127

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Alle Zitate nach: BERNSTEIN, Mutianus Rufus (wie Anm. 14), S. 321. Ebd., S. 322. Vgl. MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 50 f. Erich MEUTHEN, Die Pfründen des Cusanus, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 2 (1962), S. 15–66; WIESSNER, Das Bistum Naumburg (wie Anm. 33), hier Bd. 1, S. 2 u. 989. 126 MORAW, Hessische Stiftskirchen (wie Anm. 56), S. 426 (Zitate). 127 Ebd., S. 427.

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Die Offenheit zur Welt war eben kein Missstand des mittelalterlichen Kanonikertums, sondern konstitutives Element seiner Lebensform. Keine andere religiöse Institution des Mittelalters war in einem so starken Maße außengesteuert wie das weltliche Kollegiatstift. Man kann diese Institution nicht angemessen verstehen, wenn man sie – so der Schweizer Historiker Guy P. Marchal – „allein als selbstbestimmte kirchliche Institution betrachtet ohne den kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext miteinzubeziehen“. 128 Die ursprüngliche spirituelle Substanz, wie sie für die Zeit um 1000 unter dem Einfluss der Aachener Kanonikerregel zweifellos feststellbar ist, wurde im Laufe des späten Mittelalters „zusehends ausgehöhlt und durch rechtliche und wirtschaftliche Bindungen ersetzt“. Diese Entwicklung hat dann „zu einer völligen Verrechtlichung des Kanonikertums geführt und dessen Selbstverständnis schließlich weitgehend verändert“. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass wir die studierenden Stiftsherren im späten Mittelalter eher in der Juristenfakultät als bei den Theologen finden.129 Generell lässt sich sagen: Vielfach dienten die Kanoniker, denen als Weltgeistlichen Privatbesitz erlaubt war und die im Laufe des Mittelalters in wachsender Zahl ein Studium absolviert hatten, den Bischöfen und weltlichen Landesherren als Kanzleimitarbeiter, gelehrte Räte und geistliche Richter,130 doch wurden auch umgekehrt geistliche Funktionsträger mit Kanonikaten versorgt. Gleiches gilt für Universitäten, denen zur Besoldung ihrer Lehrer entweder ganze Kollegiatstifte inkorporiert oder einzelne Dom- oder Stiftskanonikate zugewiesen wurden. In Erfurt wurden 1395 durch Papst Bonifaz IX. je zwei Kanonikate in St. Marien und St. Severi für Professoren der Kanonistik und Theologie reserviert.131 Die Untersuchung der personellen Zusammensetzung von Kollegiatstiften lenkt den Blick auf regionale Eliten, die in besonderer

128 Dieses und die beiden folgenden Zitate: MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 32. 129 Siehe dazu die Beiträge in Rainer Christoph SCHWINGES (Hg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft, 18), Berlin 1996. 130 Allgemein MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 43 f.; Siegfried HAIDER, Das bischöfliche Kapellanat, Bd. 1: Von den Anfängen bis in das 13. Jahrhundert (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 25), Wien u. a. 1977. Dieses Werk von Haider wäre bei Marchal nachzutragen, das der Verfasser aber nicht mit einem zweiten Band fortgesetzt hat. Zur geistlichen Gerichtsbarkeit in Thüringen siehe Georg MAY, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (Erfurter Theologische Studien, 2), Leipzig 1956; DERS., Geistliche Ämter (wie Anm. 50). 131 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis 1 (wie Anm. 3), S. 32–34; GRAMSCH, Erfurter Juristen (wie Anm. 80), S. 354 f.

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Weise die Rolle der Kollegiatstifte als „Stätten der Begegnung von Kirche und Welt“ (Moraw) prägten. Im Erfurter Dom wird diese Funktionalität der Kollegiatstifte durch ein Epitaph anschaulich deutlich, das im südlichen Seitenschiff angebracht wurde.132 Das Bildfeld zeigt in einer belebten Szenerie die Marienkrönung, zu deren Füßen links unten der betende Stifter kniet, der durch Wappenschild und Inschrift identifizierbar ist (siehe Abb. 8). Die lateinische Inschrift lautet in deutscher Übersetzung: Henning Göde aus Havelberg, dem anerkannt Ersten unter den Rechtsgelehrten seiner Zeit, Propst der Wittenberger, Scholaster und Kanoniker dieser Kirche, der im hohen Alter, mit vielen glänzenden Würden versehen, im Jahre des Herrn 1521, am 21. Januar, in Wittenberg sein Leben beschloss und begraben wurde. Dieses [Denkmal] ließ Matthias Meyer, Rechtsgelehrter, Kanoniker des Hildesheimer Doms und dieser Kirche [Stift St. Marien in Erfurt, E.B.], erster Vollstrecker seines letzten Willens, seinem hochverdienten Gönner aus Dankbarkeit errichten.133

Betritt man die Allerheiligenstiftskirche im kursächsischen Wittenberg, stößt man an der südlichen Langhauswand auf das gleiche Bronzeepitaph.134 Nur die Inschrift unterscheidet sich in einigen Details, nicht zuletzt durch Bezugnahme auf den Anbringungsort des Epitaphs (hier nun HVIVS ECCLESIAE PRAEPOSITO usw.).

132 SCHÜRENBERG (Bearb.), Die Stadt Erfurt 1 (wie Anm. 90), S. 324, Nr. 139. Dazu nun maßgeblich Sven HAUSCHKE, Die Grabdenkmäler der Nürnberger Vischer-Werkstatt (1453–1544) (Denkmäler Deutscher Kunst. Bronzegeräte des Mittelalters, 6), Berlin/ Petersberg 2006, S. 268–270, Nr. 76 (Abb. 241). 133 „HENNINGO GODEN HAVELBERGENSI SVAE AETATIS IVRECONSVLTO/RVM FACILE PRINCIPI WITTEMBERGENSIS ECCLESIE PRAEPOSI/ TO HVIVS SCHOLASTICO CANONICOQ(VE) EXTREMA AETATE SED / FLORENTIBVS HONORIBVS ANNO CHRISTI. M.D.XXI. XII. CAL(ENDAS) FE/BRVARY WITTEMBERGAE VITA FVNCTI SEPVLTOQ(VE) MATHI/AS MEYER IVRECONSVLTVS CATHEDRALIS HILDESHEME(N)/SIS Q(VE) HVIVS ECCLESIARVM CANONICVS VLTIMAE EIVS / VOLVNTATIS PRIMARIVS EXECVTOR PATRONO OPTIME / MERITO GRATITVDINIS ERGO F(IERI) C(VRAVIT).“ Der Wortlaut hier gegenüber der Übersetzung von HAUSCHKE, Grabdenkmäler (wie Anm. 132), S. 268 an wenigen Stellen korrigiert. Im lateinischen Wortlaut der Inschrift unterlief dem Künstler ein Fehler, da er zunächst „HANELBERGENSI(S)“ schrieb, dann aber das erste N durch übergeschriebenes V korrigierte. Zur Biographie Matthias Meyers siehe PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 256–264, mit weiteren Hinweisen. 134 HAUSCHKE, Grabdenkmäler (wie Anm. 132), S. 270 f., Nr. 77 (Tafel 8 u. Abb. 242– 249).

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Abb. 8: Epitaph des Henning Göde (gest. 1521) im Erfurter Dom

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Henning Göde,135 der aus dem Städtchen Werben bei Havelberg stammte, studierte von 1474 bis 1489 zunächst an der Artisten-, dann an der Juristenfakultät der Universität Erfurt, wo er bis 1509 auch als promovierter Jurist lehrte und seit ca. 1500 zugleich als Protonotar bzw. Syndikus im Dienste des Erfurter Rates stand. Seit 1491 war Göde Kanoniker am Erfurter Marienstift, wurde hier 1493 Scholaster, was er bis zu seinem Tod 1521 blieb, erlangte 1506 aber auch das Dekanat, auf das er jedoch infolge des „Tollen Jahrs“ in Erfurt 1509 wieder verzichten musste. Bereits seit 1497 diente er Kurfürst Friedrich dem Weisen zudem als gelehrter Rat. Dank dieser Protektion konnte Göde nach seinem erzwungenen Weggang aus Erfurt in der kursächsischen Residenz Wittenberg schnell Fuß fassen, wo er wohl schon 1510 Propst des Allerheiligenstifts wurde und an der Universität ein Ordinariat für Kirchenrecht erhielt. Im Laufe seines Lebens konnte Göde zahlreiche weitere Pfründen in seiner Hand vereinigen: ein Kanonikat im Georgenstift zu Altenburg (seit 1510), Vikarien im Erfurter Großen Hospital, in der Lorenzkirche, in der Paulskirche, in der Kaufmännerkirche und in der Allerheiligenkirche zu Erfurt, in der Rathauskapelle zu Gotha, in der Johanneskirche zu Jena, in der Pfarrkirche St. Bonifatius zu Langensalza und in der Pfarrkirche St. Jakob zu Nordhausen. Ende 1516 konnte Göde zwar nach Erfurt zurückkehren, doch behielt er seinen Lebensmittelpunkt in Wittenberg, wo er dann auch nach seinem Tod am 21. Januar 1521 in der Stiftskirche Allerheiligen beigesetzt wurde.136 Der in Gödes Grabschrift genannte Testamentsvollstrecker Matthias Meyer,137 der aus Halle stammte und wie Göde studierter Jurist war, brachte im Laufe seines Lebens ebenfalls eine Vielzahl von Pfründen zusammen. Seit 1503 war er Kanoniker am Erfurter Marienstift, und dort von 1517 bis 1529 auch als Kantor und 1529/30 als Dekan tätig. In Erfurt hatte Matthias Meyer Vikarien in der Kirche des Großen Hospitals, in der Matthiaskirche, der Allerheiligen- und der Thomaskirche inne. Noch in weiteren Kirchen Thüringens besaß er Benefizien. Außerdem war Matthias Meyer Domherr in Naumburg,138 Domherr in

135 Seine Vita nachgezeichnet von PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 208–220; GRAMSCH, Erfurter Juristen (wie Anm. 80), S. 681–686, Nr. 220 u. Anhang (auf CD-ROM). 136 Über das Wittenberger Allerheiligenstift siehe Fritz BÜNGER/Gottfried WENTZ (Bearb.), Germania Sacra, Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 3, Teil 2: Das Bistum Brandenburg, Berlin 1941, S. 75–164, hier S. 129–131 (Vita Henning Gödes). 137 PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 3), S. 256–264. 138 Matthias LUDWIG, Das Personal der Naumburger Domkirche und der Zeitzer Stiftskirche 1400 - 1564. Ein prosopographischer Beitrag zur mitteldeutschen Stiftskirchenforschung, Magisterarbeit (masch.) Halle 2008, S. 236, Nr. 334, hier irrtümlich mit einer

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Hildesheim, Propst des Moritzstifts in Hildesheim und Kanoniker im Marienstift zu Einbeck in Niedersachsen. Er starb 1530 in Naumburg. Wo er begraben wurde, ist bislang unbekannt.

Abb: 9: Pfeilerbild „Himmelfahrt und Krönung Mariens“ im Erfurter Dom (wohl 1525/30) gleichnamigen Person aus Kaden (Böhmen) identifiziert, die 1480 an der Universität Köln und 1481 in Leipzig immatrikuliert war.

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Henning Göde und Matthias Meyer sind auch gemeinsam als Stifter dargestellt auf dem großen Pfeilerbild „Himmelfahrt und Krönung Mariens“, das wohl 1525/30 nach einer Vorlage Dürers entstanden ist (siehe Abb. 9).139 Sowohl die Viten Gödes wie auch Meyers zeigen, dass Stiftskanoniker Geistliche mit wechselnden Bindungen und Loyalitäten waren, die nicht nur in verschiedenen Kirchen präsent und bepfründet waren und an wechselnden Orten wirkten, sondern auch in unterschiedlichen Dienstbeziehungen standen. Die Lebenswelten der Kanoniker waren vielfältig, und gerade das macht die Beschäftigung mit ihnen so interessant. Für Göde wie für Meyer ist festzustellen, dass sie – abgesichert durch das als Lektoralpräbende bzw. Syndikalpräbende genannte Kanonikat am Marienstift – viele Jahre in der Juristenfakultät der Universität Erfurt lehrten, als Syndici den Erfurter Stadtrat juristisch berieten; Göde stand noch dazu als gelehrter Rat im Dienst des Kurfürsten von Sachsen. Er übertraf seinen Freund Meyer mit der bloßen Zahl der Pfründen, aber dieser besaß dafür die größeren und einträglicheren Kanonikate in Dom- und Stiftskirchen. Die Viten der hier exemplarisch vorgestellten Henning Göde und Matthias Meyer sind in mancher Hinsicht, allein schon was die Zahl der angehäuften Pfründen betrifft, ungewöhnlich. Jedoch war es nicht ungewöhnlich, dass viele Kanoniker dieser Zeit Pfründenpluralisten waren, wenn auch mit geringer ausgeprägtem „Appetit“. Auch die verschiedenen hier aufgezeigten Dienstbeziehungen zwischen Kirche und Welt waren alles andere als außergewöhnlich. Robert Gramsch hat in seiner großen Untersuchung über die Erfurter Juristen im späten Mittelalter herausgearbeitet, wie hoch der Anteil der gelehrten Juristen an den Stiftskapiteln von St. Marien und St. Severi war, und darauf hingewiesen, dass zahlreiche graduierte Kanoniker auch in der Erfurter Theologischen und der Medizinischen Fakultät tätig waren, weshalb man bei St. Marien und St. Severi von „Quasi-Universitätsstiften“ sprechen könne.140 Neben der Indienstnahme der beiden großen Erfurter Kollegiatstifte für die 1379 bzw. 1392 gegründete Universität141 sind noch andere Aufgaben im Schnittfeld von Kirche und Welt festzustellen, die mit diesen Stiftskirchen verbunden waren. Zu den ältesten Aufgaben gehört die Unterstützung des Mainzer Erzbischofs bei der Verwaltung seiner riesigen Diözese, die bekanntlich bis nach Thüringen reichte und allein in Thüringen um 1500 mehr als 1.000 Pfarrkirchen, 1500 Kapellen und andere Benefizien und rund 200 Klöster und Stifte 139 Johann SCHULZ, Zwischen Marientod und Marienkrönung: Ein Erfurter Pfeilerbild nach Inspiration Albrecht Dürers, in: LEUSCHNER/BORNSCHEIN/SCHIERZ (Hg.), Kontroverse & Kompromiss (wie Anm. 3), S. 102–115. 140 GRAMSCH, Erfurter Juristen (wie Anm. 80), S. 353. 141 Dazu nun eingehend Robert GRAMSCH, Erfurt – die älteste Hochschule Deutschlands. Vom Generalstudium zur Universität (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 9), Erfurt 2012.

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umfasste.142 Erfurt hatte den Rang einer „Quasi-Bischofsstadt“, von der aus die östlichen und nördlichen Teile der Mainzer Diözese verwaltet wurden. Dort residierte ein spezieller Weihbischof für Thüringen, welcher die erforderlichen Weiheakte vollzog. Mehrere von ihnen liegen im Erfurter Dom begraben, u. a. Johannes Bonemilch (gest. 1510), der im Frühjahr 1507 Martin Luther in der Kilianikapelle des Erfurter Doms zum Priester geweiht hat. Nachdem jahrhundertelang die Weihbischöfe aus den Bettelorden kamen, gelangte das verantwortungsvolle Amt mit Bonemilch 1497 erstmals in die Hände eines Erfurter Stiftskanonikers.143 Für die Ausübung der geistlichen Gerichtsbarkeit des Mainzer Erzbischofs in Thüringen wurde Anfang des 14. Jahrhunderts ein Generalgericht in Erfurt eingerichtet, dessen Leiter zumeist ebenfalls aus einer der beiden Erfurter Stiftskirche stammte; dies waren durchweg studierte und promovierte Kirchenrechtler wie z. B. Dr. Paul Huthenne (gest. 1532), der dem Marienstift angehörte, in dem er auch begraben liegt. Da die Erzbischöfe schon im 12. Jahrhundert nicht mehr in der Lage waren, von Mainz aus ihre Riesendiözese zu durchdringen, schufen sie mit den Archidiakonen regionale Zwischeninstanzen, die mit bestimmten Stiftskirchen verbunden waren. Die Stiftspröpste waren als Archidiakone in einem abgegrenzten Teilbereich des Bistums tätig, wo sie die Geistlichen in ihr Amt einführten und beaufsichtigten sowie weitere Aufgaben wahrnahmen, z. B. das Eintreiben von kirchlichen Steuern.144 Den größten Archidiakonatsbezirk in Thüringen hatte der Stiftspropst von St. Marien in Erfurt inne. Deutlich kleiner war der Archidiakonatsbezirk des Propstes von St. Severi in Erfurt, zu dem u. a. die Stadt Gotha gehörte. Für das westliche Thüringen war der Propst von Oberdorla bei Langensalza als Archidiakon zuständig. Das nördliche Thüringen schließlich unterstand dem Propst des Stiftes Jechaburg bei Sondershausen. Für das Eichsfeld und das Werragebiet war der Propst des Martinsstiftes in Heiligenstadt als Archidiakon verantwortlich. Gerade diese 142 Enno BÜNZ, Die Pfarreiorganisation um 1500: Der thüringische Teil des Erzbistums Mainz und die drei Städte Leipzig, Magdeburg und Mühlhausen, in: Hartmut KÜHNE/ Enno BÜNZ/Thomas T. MÜLLER (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013, S. 33–40. 143 KLEINEIDAM, Stiftskapitel (wie Anm. 3), S. 25; Friedhelm JÜRGENSMEIER, Art. „Bonemilch, Johannes“, in: Erwin GATZ (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1996, S. 67. Zur Reihenfolge der Amtsinhaber J. FELDKAMM, Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 21 (1900), S. 1–93. 144 Zur Einhebung des Subsidium caritativum exemplarisch Enno BÜNZ (Bearb.), Das Mainzer Subsidienregister für Thüringen von 1506 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe, 8), Köln u. a. 2005.

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Verbindung mit Aufgaben in der Diözesanverwaltung und -rechtsprechung hebt die beiden großen Erfurter Stifte St. Marien und St. Severi wie auch die erzbischöflichen Kollegiatstifte in Oberdorla, Jechaburg und Heiligenstadt aus der Vielzahl von Stiftskirchen in Thüringen heraus. Die Erforschung der personellen Zusammensetzung dieser Kollegiatstifte würde gewiss viele bedeutende Personen und aufschlussreiche Netzwerke zutage fördern und wäre schon deshalb von allergrößtem Interesse. Zieht man die Kollegiatstifte außerhalb Erfurts in die Betrachtung ein, ergibt sich natürlich ein differenziertes Bild. Die Kanoniker der Residenzstifte Schmalkalden und Römhild (hier ein Blick in die spätgotische Stiftskirche) in der Grafschaft Henneberg sind ganz auf dieses Territorium bezogen. Etliche Kanoniker erscheinen als Hofkapläne der Grafen und besitzen – wenn überhaupt – weitere Benefizien nur in der Region. Da die Grafen das Verleihungsrecht an allen Kanonikaten innehaben, ist die regionale Herkunft der Stiftsherren in Schmalkalden wie in Römhild überschaubar.145 Im Residenzstift Altenburg ist das Bild nur scheinbar anders, denn der größere Einzugsbereich des Georgenstifts erklärt sich durch den wettinischen Herrschaftsbereich. Auch dort vergaben nur die Landesherren die Kanonikate. Neben engen landesherrlichen Bediensteten wie Georg Spalatin, der dort seit 1511 Kanoniker war, aber erst 1525 nach Altenburg übersiedelte,146 begegnen wir unter den Kanonikern alten Bekannten wie Henning Göde und Matthias Meyer.147 Das Provisionswesen, die Vergaben von Stiftspfründen über die päpstliche Kurie, spielt entsprechend in diesen Stiften gar keine Rolle. Der Ruf des mittelalterlichen Kollegiatstifts ist schlecht, wie wir hörten. Aber trotz vielfältiger Vernachlässigung der Residenzpflicht, Pfründenanhäufung und Inanspruchnahme etlicher Kanoniker durch andere stiftsexterne Aufgaben lässt sich immer wieder feststellen, dass es in den Stiftskapiteln eine Kernmannschaft von Kanonikern gab, die das innerstiftische Leben aufrecht erhielt.148 Erich Kleineidam hat in einem schönen Aufsatz über „Das Stiftskapitel der Marienkirche zu Erfurt am Beginn der Reformation“ gezeigt,149 dass damals von den vier Prälaten des Marienstifts der Propst Engelbrecht Erckel (1496–1529), der Dekan Johannes Weidemann (1509–1529) und der Scholaster 145 WENDEHORST, Die Stifte in Schmalkalden und Römhild (wie Anm. 17), S. 50 f. u. 204 f. 146 ANHALT, Kollegiatstift St. Georgen (wie Anm. 16), S. 73–80. 147 Ebd., S. 72 u. 84 f. 148 Mit MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut (wie Anm. 40), S. 27, kann man davon ausgehen, dass gut die Hälfte der Kanoniker nicht anwesend war und sich nur vor Ort einfand, wenn ihre Anwesenheit statutengemäß erforderlich war, z. B. bei Einberufung eines Peremptorialkapitels. 149 KLEINEIDAM, Stiftskapitel (wie Anm. 3), S. 27–41.

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Henning Göde (1493–1521) nicht im Stift präsent waren. Im Grunde hatte das Stift also keine Führung, und doch wurde der Bestand des Kollegiatstiftes von wenigen Kanonikern wie Jodocus Trutvetter, Paul Huthenne und einigen weiteren bewahrt, dabei freilich tatkräftig unterstützt vom Stiftsdekan Weidemann, der sich von 1521 bis 1530 in Rom aufhielt und die kirchlichen Instanzen mobilisierte, damit das Marienstift nicht der Reformation anheimfiel. Stiftsgeschichte ist vor allem Personengeschichte, nicht nur in der Reformationszeit. Diese Einsicht macht verständlich, warum es so viel schwieriger und aufwendiger ist, ein Kollegiatstift statt eines Klosters zu erforschen. Die Stiftskanoniker bewegten sich in vielfältigen Lebenswelten zwischen Kirche und Welt, die mal enger, mal weiter waren. Manche von ihnen waren nur regional bepfründet, andere verfügten über einen vielfältigen und weitgestreuten Pfründenbesitz, übernahmen verschiedene Aufgaben in Kirche und Welt. Insofern bietet die Erforschung der weltlichen Kollegiatstifte in Thüringen noch viele lohnende Aufgaben, stellt jeden Bearbeiter aber auch vor große Herausforderungen. Mit schnellen Urteilen über die Stiftskanoniker waren die Historiker nicht nur in Thüringen leicht bei der Hand. Aber als Historiker müssen wir zunächst einmal verstehen und erklären, und dafür müssen wir mehr wissen. Die Erforschung der mittelalterlichen Kollegiatstifte Thüringens steckt noch in den Anfängen, und ich wollte deutlich machen, dass es dabei nicht bleiben sollte, sondern dass es sich um einen lohnenden Forschungsgegenstand handelt.

RAINER MÜLLER KLOSTERBAUTEN DES SPÄTEN MITTELALTERS IN THÜRINGEN

Klosterbauten des späten Mittelalters in Thüringen Ein Überblick zur baulichen Überlieferung aus der Zeit von 1460 bis 1520

Dieser Beitrag ist den Klosterbauten des späten Mittelalters gewidmet.1 Im Zentrum stehen hierbei die erhalten gebliebenen Sachzeugnisse. Abgegangene Bauten, die lediglich durch Schrift- und Bildquellen bekannt sind, werden nur insoweit berücksichtigt, wie sie für das Verständnis des überkommenen Bestandes bzw. der Charakterisierung allgemeiner Tendenzen im spätmittelalterlichen Klosterwesen von Bedeutung sind. Räumlich bewegen wir uns auf dem Gebiet des heutigen Thüringen, zeitlich in den Jahren von etwa 1460 bis 1520, also in der vorreformatorischen Phase, die kunsthistorisch als Spätgotik bezeichnet wird. Dass diese nicht erst um 1460 einsetzt, ist bekannt; der Zeitpunkt ist aber nicht zufällig gewählt, denn ab etwa 1460 ist allgemein im Kirchenbau eine deutliche Zunahme der Bauaktivitäten festzustellen, die in den Jahrzehnten um 1500 ihren Höhepunkt erreicht. Das Ende wird durch die Reformation eingeleitet, in deren Folge es schlagartig zu einem weitgehenden Erliegen der Bautätigkeit kommt und die einen tiefen Einschnitt in der Überlieferung markiert. Insofern stellt die Reformation auch im Kirchenbau eine Epochengrenze dar. Blicken wir zunächst auf die Überlieferungssituation im Allgemeinen. Das Gebiet des heutigen Thüringen war eine klosterreiche Landschaft. Im späten Mittelalter befanden sich in diesem Raum 160 Klöster.2 Mit der Reformation 1

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Für wichtige Hinweise zu Objekten und Befunden, Bereitstellung von Abbildungsmaterial und Unterlagen sowie Diskussionen vor Ort dankt der Verfasser Volker Düsterdick (Erfurt), Tim Erthel (Erfurt), Dr. Dirk Henning (Saalfeld), Udo Hopf (Weimar), Christian Misch (Erfurt), Dr. Thomas Nitz (Erfurt), Dr. Barbara Perlich-Nitz (Erfurt), Matthias Rupp (Jena), Lutz Scherf (Silbitz) und Martin Sladeczek (Erfurt). Siehe Kartenblatt 17 „Stifter, Klöster und Komtureien vor der Reformation“, bearb. von B. Schwineköper in Zusammenarbeit mit H. Patze (Thüringen) und H. Schieckel (Sachsen), in: Otto SCHLÜTER/Oskar AUGUST (Hg.), Atlas des Saale- und mittleren Elbgebietes, Leipzig 21959–61. Vgl. auch „Klosterbuch Thüringen“, online abrufbar unter: https://www2.uni-erfurt.de/monasticon/eingang.htm (letzter Abruf: 02.11.2016). Bei der Berechnung wurden die Niederlassungen der Ritterorden, also des Deutschen Ordens, der Johanniter, der Lazariten und der Templer, ebenso wie die Kollegiatstifte nicht berücksichtigt. Zeitweilig als Doppelklöster bestehende Klöster, wie etwa Paulinzella und

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sollte der größte Teil dieser geistlichen Gemeinschaften aufgehoben werden. Das Ende der monastischen Lebensform ging vielerorts mit dem Abbruch der Klöster einher. So verwundert es nicht, dass von den einst 160 Klöstern heute nicht einmal die Hälfte, nämlich 63, in ihren Baulichkeiten noch fassbar sind (Abb. 1).

Abb. 1: Karte der spätgotischen Klosterbauten in Thüringen

Die Überlieferung vor Ort variiert von einer weitgehenden Vollständigkeit der Erhaltung wie beim Erfurter Augustinerkloster oder dem Saalfelder Franziskanerkloster über Teilbestände wie beim Rudiment der Klosterkirche des ehemaligen Erfurter Petersklosters bis hin zu archäologischen Freilegungen wie der Klosterkirche Georgenthal. Doch selbst scheinbar gute Überlieferungssituationen erweisen sich bei näherer Betrachtung als Ergebnis baulicher Erneuerung Kloster Veßra, wurden nur als ein Standort gezählt; ebenso wurde bei Wechsel der Ordenszugehörigkeit verfahren.

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späterer Jahrhunderte. So lässt bereits ein grober Baualtersplan des Erfurter Augustinerklosters in seiner Buntheit erkennen, dass hier viele, auch und vor allem jüngere Zeiten an der Entstehung dieses Ensembles in seiner materiellen Struktur mitgewirkt haben und dass es einer ins Kriminalistische gehenden kritischen Analyse bedarf, um Mittelalterliches von späteren Ergänzungen zu unterscheiden. Geradezu schlaglichtartig wird das an Luthers Zelle deutlich, die bekanntlich zweimal in unterschiedlicher Form rekonstruiert wurde, nämlich nach der Brandzerstörung 1872 und bei der erneuernden Wiederherstellung von 1982/83, und die in ihrer Beschaffenheit mindestens ebenso viel über Luthers Lebenswelt aussagt wie über unser Geschichtsbild. Doch kehren wir zurück zu der Frage, wie viele Klosterbauten aus dem späten Mittelalter überhaupt überkommen sind, so ist festzustellen, dass nicht einmal die Hälfte der ohnehin schon schmalen Basis an mittelalterlichen Architekturzeugnissen der uns hier interessierenden Zeit entstammt. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Von den 63 überlieferten mittelalterlichen Anlagen sind nur 21, also gerade einmal ein Drittel, dieser Periode zuzurechnen. Zudem ist von diesen 21 Anlagen nur der geringste Teil im Ganzen spätmittelalterlich; im Regelfall handelt es sich um ein Konglomerat verschiedener Zeiten, zu denen auch das späte Mittelalter gehört. Um noch einmal das in seiner Geschichte für die Überlieferungssituation exemplarische Erfurter Augustinerkloster anzuführen, so blieb von den drei spätgotischen Neubauten – Bibliothek, Altes und Neues Priorat – nach Umnutzung in nachreformatorischer Zeit und Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg nur das Alte Priorat von 1474 übrig. Und selbst dieser spätgotische Bau ist in seiner äußeren Gestalt und mehr noch in seiner inneren Struktur durch die nach schweren Kriegsschäden erfolgte erneuernde Wiederherstellung von 1980–82 bestimmt. Diese Ausgangslage lässt es wenig sinnvoll erscheinen, im Folgenden ein auf Vollständigkeit abzielendes Panorama des spätmittelalterlichen Klosterbaus entwerfen zu wollen. Vielmehr sollen die überlieferten Bauten nach Themen geordnet vorgestellt und für charakteristische, also gehäuft auftretende Phänomene eine Einbettung in den Gesamtzusammenhang des spätmittelalterlichen Klosterbaus versucht werden. Der Überblick beginnt mit den Kirchenbauten und wird in einem zweiten Teil die Klausur- und anderen Klostergebäude behandeln. Bauten der außerhalb der Klöster gelegenen Wirtschaftshöfe finden in diesem Überblick keine Berücksichtigung, nicht zuletzt, da hierzu aus der betreffenden Zeit wenig erhalten bzw. bekannt ist.

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1. Kirchen Die Mehrzahl der überlieferten mittelalterlichen Kirchenbauten entstand vor der Mitte des 15. Jahrhunderts. Diese Feststellung verwundert zunächst angesichts der spätgotischen Baukonjunktur im Allgemeinen. Doch spiegelt sich darin der Umstand wider, dass es in der hier betrachteten Zeit nur wenige Neugründungen von Klöstern gab. Zudem scheint in den monastischen Reformbewegungen des späten Mittelalters die Erneuerung der Kirchenbauten nur eine untergeordnete Bedeutung gehabt zu haben. Zumindest das Erfurter Peterskloster, das sich unter seinem Abt Christian Kleingarn († 1458) der Bursfelder Kongregation angeschlossen hatte, zeigt, dass bei der umfänglichen Erneuerung des Klosters in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Renovatio der Kirche erst spät eine Rolle spielte.3 So waren es zumeist äußere Umstände wie Brände oder Bauschäden, die Neu- oder grundlegende Umbauten von Kirchen bedingten.

Abb. 2: Erfurt, Schottenkirche, Blick nach Osten zum spätgotischen Chorraum, 2011

Abb. 3: Vacha, Friedhofskirche (ehem. Kirche des Servitenklosters), Chor, Blick von Nordosten, um 1900

Ein solcher Teilneubau ergab sich an der Kirche des Erfurter Schottenklosters nach Brandschaden im Jahr 1472 (Abb. 2). Der infolge dessen neu errichtete 3

Vgl. hierzu Barbara FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Klosterreform und zur Bursfelder Union (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 34), Göttingen 1973, S. 55–67.

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Rechteckchor ersetzte die vermutlich mehrteilige und mit Querhaus versehene Ostpartie des romanischen Vorgängerbaus und ist in seiner Schlichtheit Hinweis auf die fehlende wirtschaftliche Kraft des Klosters im 15. Jahrhundert, wohl aber auch auf veränderte liturgische Erfordernisse. Einen gleichfalls einfachen Rechteckchor hat die heutige Gottesackerkirche in Vacha (Abb. 3). Er ist der einzige erhaltene Teil des um 1400 an dieser Stelle errichteten Servitenklosters und entstand nach einem Brand im Jahr 1467.4 Eine auf 1472 datierte, 1878 freigelegte und 1937 „entrestaurierte“ Wandmalerei schmückt heute den Innenraum und gibt eine vage Vorstellung vom Aussehen eines solchen mit Bildern reich geschmückten spätgotischen Sakralraums.5 Für das 1414 gegründete und im Laufe des 15. Jahrhunderts an anderen Standort verlegte Karmeliterkloster zum Heiligen Kreuz in Jena ist ein spätgotischer Kirchenneubau nachgewiesen. Es handelt sich um eine schlichte Saalkirche, deren Entstehungszeit Matthias Rupp mit „letztes Viertel 15. Jh. bis erste Jahre des 16. Jahrhunderts“ angibt.6 Anders als die vorher genannten Klosterkirchen in Erfurt und Vacha war diese mit einem Chorpolygon versehen. Ein Neubau aus spätgotischer Zeit ist auch die Kirche des 1453 gegründeten Franziskanerklosters in Weimar (Abb. 4). Wohl unmittelbar nach der Gründung begonnen, war die Kirche 1480 unter Dach.7 1482 wurde der Klosterstifter, Herzog Wilhelm III. von Sachsen, in der Kirche bestattet. Ihre Form als langgestreckter Rechteckbau mit hohem Satteldach greift einen Typus auf, der bei den frühen Franziskanerkirchen des 13. Jahrhunderts sehr verbreitet war und u. a. in Altenburg, Arnstadt und Mühlhausen, aber auch bei der Elisabethzelle am Fuß der Wartburg in Eisenach, nachgewiesen ist.8 Die Rezeption einer solchen altertümlichen Form, einschließlich der äußeren Schlichtheit des Bauwerks, dürfte 4

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Vgl. Karl HAHN, Das Serviten-Kloster zu Vacha, seine Gründung und Schicksale, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF 1 (1878), H. 3/4, S. 378–390, hier S. 382. Vgl. Georg DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen, bearb. Stephanie Eißing, Franz Jager und anderen Fachkollegen, hg. in Zusammenarbeit mit dem Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege, München u. a. 22003, S. 1262. Matthias RUPP, Das Karmeliterkloster zum Heiligen Kreuz in Jena, Jena 2002, S. 85. Rainer MÜLLER (Bearb.), Stadt Weimar, Bd. 1: Altstadt (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale in Thüringen, 4/1), Altenburg 2009, S. 336–338. Zu Altenburg siehe Barbara LÖWE, Altenburg, in: Thomas T. MÜLLER/Werinhard EINHORN (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen. Text- und Katalogband zur Ausstellung in den Mühlhäuser Museen vom 29. März bis 31. Oktober 2008 (Forschungen und Studien, 1), Paderborn 2008, S. 209–211. Zu Arnstadt siehe DEHIO, Thüringen (wie Anm. 5), S. 52 f. Zu Mühlhausen siehe Udo SAREIK, Die Kornmarktkirche zu Mühlhausen (Mühlhäuser Beiträge. Sonderheft, 3) Mühlhausen 1980. Zur Elisabethzelle bei Eisenach siehe Udo HOPF/Ines SPAZIER, Die Ausgrabungen am Elisabethplan unterhalb der Wartburg, in: Wartburg-Jahrbuch 16 (2007) [2008], S. 8–80.

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mit Blick auf die Zugehörigkeit des Weimarer Klosters zur Observanz, also zu dem strengen Reformzweig der Franziskaner, der strikt den franziskanischen Regeln folgte, kein Zufall sein.

Abb. 4: Weimar, ehem. Franziskanerkirche, Blick von Nordwesten, 2013

Inwiefern diese programmatische Zurückhaltung gegenüber äußerer Prachtentfaltung auch die Kirche des Franziskanerklosters in Langensalza, der zweiten Stiftung Herzogs Wilhelm III., auszeichnete, ist – von geringen Resten abgesehen – nicht mehr festzustellen. Allein die Tatsache, dass die Minderbrüder in diesem Fall eine bereits bestehende Kirche, die alte Pfarrkirche St. Jakob, übernahmen und ihr lediglich einen Konventsbau anfügten, weist aber in diese Richtung und

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fügt sich in das Bild vom Reformmönchtum des späten Mittelalters, das baulicher Repräsentation skeptisch gegenüberstand.

Abb. 5: Kapellendorf, Kirche des ehem. Zisterzienser-Nonnenklosters, Blick von Süden, 2015

Interessanterweise haben – von den Karmelitern in Jena abgesehen – die Männerkonvente keine Polygonalchöre errichtet, obgleich diese Form gerade im zeitgenössischen Pfarrkirchenbau sehr beliebt war. Anders sieht es hingegen bei den Frauenklöstern aus. So erhielt die Klosterkirche des Zisterzienser-Nonnenkonvents in Kapellendorf in den Jahren 1503 bis 1505 ein solches Chorpolygon (Abb. 5). Ob allerdings für die Wahl dieser Form die Nonnen verantwortlich waren, darf bezweifelt werden, denn den Anstoß für den Neubau gab wohl der Erfurter Rat.9 Auch bei den mit Frauenklöstern verbundenen und diesen 9

Reinhard SCHMITT, Zur Baugeschichte der Kirche von Kapellendorf, in: Helge WITT(Hg.), Die Kirche von Kapellendorf. Studien zu Geschichte und Architektur einer ländlichen Pfarr- und Klosterkirche, Petersberg 2003, S. 141–181. Den Hinweis auf die Einflussnahme des Erfurter Rates auf die Geschicke des Klosters verdanke ich Martin Sladeczek (Erfurt). Zitat aus dessen Mitteilung an den Verfasser vom 28.11.2016: „Vom Sonnabend nach Juliane (also dem 20.2.) 1501 stammt ein Brief in einem Briefkopial des Rates an den Kapellendorfer Vorsteher. Man höre, dass die Wände des Klosters verwüsten und zu fallen drohen. Der Vorsteher solle diese bessern. (Stadtarchiv Erfurt, 1–1/XXI, 1b–1b, Bd. 3, fol. 7r) In diesen Jahren ist das Bemühen des Rates um eine

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inkorporierten spätgotischen Stadtpfarrkirchen von Erfurt (St. Martini extra), Jena (St. Michael) und Langensalza (St. Bonifatius) findet sich das Chorpolygon. Doch auch hier haben nicht die Nonnen, sondern Rat und Bürgerschaft bzw. die weltlichen Verwalter der Klöster das Bauregiment ausgeübt.

Abb. 6: Weida, Franziskanerkirche, Blick von Nordwesten, 2009. Die Erweiterung um ein südliches Seitenschiff ist anhand des älteren Giebelfelds des Hauptschiffs gut zu erkennen.

Außer der Erneuerung der Chorräume sind für den untersuchten Zeitraum zahlreiche Um- und Anbauten an den Langhäusern der Klosterkirchen nachgewiesen. Hierzu gehört die Erweiterung ursprünglich einschiffiger Saalbauten um ein Seitenschiff, so zum Beispiel bei der Augustinereremitenkirche in Neustadt an der Orla (vor 1514) und der Franziskanerkirche in Weida (um 1500) (Abb. 6, 7 u. 8).10 Derartige Erweiterungen lassen auf einen entsprechenden Raumbedarf

Klosterreform an verschiedenen Stellen erkennbar. U. a.: 1503 sollte ein Herr Johann das Kloster, das ‚ein zeitlangk verwustet gewest, widder in eyne rechte standt und wesen anrichten‘ (ebd., fol. 113v–114r).“ 10 Zu Neustadt siehe Rainer MÜLLER, Die Kirchen in Neustadt an der Orla und Umgebung. Eine Geschichte des Sakralbaus in der Orlasenke (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 18), Jena 2011, S. 151–153. Zu Weida vgl. DEHIO, Thüringen (wie Anm. 5), S. 1299 f.

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schließen, der wohl mit der Bevölkerungszunahme in den betreffenden Städten in Zusammenhang steht.11

Abb. 7: Neustadt an der Orla, Klosterkirche der Augustinereremiten, Blick von Nordwesten, 2015 11 Für Neustadt an der Orla ist nach Rudolf Diezel die Einwohnerzahl zwischen 1450 und 1500 von ca. 1.500 auf 2.500 Einwohner, also um etwa 1.000 Personen, gestiegen. [Rudolf] DIEZEL, Neustadt an der Orla, in: Erich KEYSER (Hg.), Deutsches Städtebuch, Bd. 2: Mitteldeutschland, Stuttgart 1941, S. 341. Nach Rudolf Herrmann betrug die Einwohnerzahl Neustadts im Jahr 1543 2.643. Rudolf HERRMANN, Rezension zu Erich Stopfkuchen, Verfassung und Verwaltung der Stadt Neustadt an der Orla seit der Entstehung des Rates (um 1365) bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF 28 (1929), S. 548–555. Ein Spiegel der wirtschaftlichen Prosperität der Stadt in den Jahren von etwa 1450 bis 1550 sind die städtischen Großbauten wie Rathaus und Stadtkirche, aber auch zahlreiche Bürgerhäuser, die bis heute das Bild der Stadt prägen.

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Abb. 8: Neustadt an der Orla, Klosterkirche der Augustinereremiten, Bauphasenplan

In diesen Kontext gehören auch Emporeneinbauten, die für mehrere Kirchenbauten im späten Mittelalter belegt sind. So erhielt die Neustädter Klosterkirche gleichzeitig mit dem Anbau des nördlichen Seitenschiffs eine Westempore (Abb. 7 u. 8).12 Eine solche gab es spätestens seit dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts auch in der Arnstädter Franziskanerkirche. Hierauf verweisen spätgotische Sgraffiti in einer Höhe, die eine Empore voraussetzen. Jahreszahlen datieren die ältesten Rötelzeichnungen in die Jahre von 1493 bis 1498. Auch die Grenzen einer spätgotischen, um 1510/20 entstandenen Wandmalerei, die vor der jetzigen Westempore endet, sprechen für die Existenz einer Empore, deren Größe und Lage in etwa der jetzigen entsprach. Ein weiteres Beispiel für einen spätgotischen Emporeneinbau bietet die Franziskanerkirche in Saalfeld (Abb. 9). Er befand sich wie in Neustadt und Arnstadt im Westen der Kirche und entstand offensichtlich mit der Erneuerung der Klausur seit den 1480er Jahren, denn der Zugang zur Empore erfolgte über den spätgotischen Westflügel. Über die Existenz von Emporen im späten Mittelalter sind wir auch aus den Schriftquellen informiert. So berichten Zeitgenossen über Luthers Predigt in der Erfurter Augustinerkirche am 7. April 1521, dass die Emporen von der Menge der Zuhörer einzustürzen drohten.13 Der Umstand, dass die Zuhörer auf den Emporen standen, wie es später in protestantischen Kirchen üblich war, ist bemerkenswert und verdeutlicht die Verankerung dieses für den nachreformatorischen Kirchenbau so zentralen Motivs im spätmittelalter12 Der Befund einer backsteinernen Westempore wurde bei dem 2013 erfolgten Umbau der Kirche nach Abnahme des Verputzes erkennbar. 13 Ernst HAETGE u. a. (Bearb.), Die Stadt Erfurt. Allerheiligenkirche, Andreaskirche, Augustinerkirche, Barfüsserkirche (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, 2/1), Burg 1931, S. 78 (Regest 30).

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lichen Kirchenbau. Nicht gesagt ist damit, dass diese Nutzung der ursprüngliche Zweck der Emporen war.14

Abb. 9: Saalfeld, Franziskanerkirche, Westseite, Blick von Nordwesten, 2015. Die beiden unter dem großen Westfenster befindlichen stichbogigen Fenster dienten der Belichtung des Raums unter der Westempore.

Abb. 10: Arnstadt, Klosterkirche der Franziskaner (Oberkirche), Turm, Blick von Norden, 2015

So waren Emporen auch Orte, die nur bestimmten Personen zugänglich waren. Dies gilt vor allem für die Nonnenemporen. Deren Lage variierte im späten Mittelalter. In Erfurt (St. Martini extra), Oberweimar und Kapellendorf saßen die Nonnen auf Westemporen, in Langensalza über der Sakristei nördlich des Chores und in Jena auf einer Empore im nördlichen Seitenschiff. Die Lage der Emporen richtete sich offensichtlich nach der Lage der Konventsbauten. Waren jene von der Kirche abgerückt, wie zum Beispiel in Erfurt und Langensalza, mussten Laufgänge angelegt werden, die über Straßen hinweg Kloster und Kirche verbanden. In Langensalza ist die Nonnenempore in ihrer um 1500 entstandenen

14 So ist die Westempore der Erfurter Peterskirche bereits im 15. Jahrhundert als Standort einer Orgel bezeugt. FRANK, Das Erfurter Peterskloster (wie Anm. 3), S. 69.

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spätgotischen Ausgestaltung noch heute zu erleben. In Jena blieb darüber hinaus eines der seltenen Beispiele eines Beichterkers für die Nonnen erhalten.15 In die Zeit des späten Mittelalters fällt auch die Errichtung von Türmen an ursprünglich turmlosen Bettelordenskirchen. Dieses Phänomen ist bereits im 14. Jahrhundert zu beobachten. Das früheste bekannte Beispiel in Thüringen dürfte der auf das Jahr 1366 datierte Glockenträger – es handelte sich ursprünglich um eine Art Dachreiter – der Gothaer Augustinerkirche sein.16 Diesem Bau folgten die Franziskanerkirchen in Erfurt (um 1400) und Mühlhausen (nach 1400, um 1422?) sowie die Augustinerkirche in Erfurt (1432–1444).17 In die hier betrachtete Zeitspanne fallen die Turmbauten in Arnstadt (Franziskaner, 1461), Neustadt an der Orla (Augustinereremiten, 1464 im Bau) und Erfurt (Dominikaner, 1447–1483) (Abb. 8 u. 10).18 Im Falle des 1461 errichteten Glockenturms der Arnstädter Franziskanerkirche ist bemerkenswert, dass sich in dessen Unterbau zwei Kapellen befanden, die beide nur vom Kirchenraum zu betreten waren, wobei die obere der beiden wohl über einen Lettner erschlossen wurde.19 Außer derartigen, in die Kirchen integrierten Kapellenräumen errichtete man im späten Mittelalter auch separate Kapellenanbauten. So wurde an der Erfurter Barfüßerkirche um 1480 ein wohl bereits existenter Kapellenbau durch die Familie von der Sachsen grundlegend erneuert und mit einem Sternrippen15 Zum Beichterker siehe Friedrich MÖBIUS, Die Stadtkirche St. Michael zu Jena. Symbolik und Baugeschichte einer spätgotischen Stadtpfarrkirche, Jena 1996, S. 56–66. Vgl. außerdem Claudia MOHN, Mittelalterliche Klosteranlagen der Zisterzienserinnen. Architektur der Frauenklöster im mitteldeutschen Raum (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege, 4), Petersberg 2006, S. 159. 16 Der jetzige Turm ist ein Neubau von 1676. Die in dessen Mauerwerk eingelassene Bauinschrift von 1366 bezieht sich aber auf einen Vorgängerbau, der durch Bildquellen des 16./17. Jahrhunderts dokumentiert ist. Udo HOPF, Zur Nutzungsgeschichte des Klosters, in: Klaus-Peter WITTWAR/Beate TOMASCHEK [Büro für Bauforschung in der Denkmalpflege, Weimar], Gotha Augustinerkloster. Bauhistorische Untersuchung 2007/2008, Weimar 2008, S. 16–23, hier S. 18. 17 DEHIO, Thüringen (wie Anm. 5), S. 324 u. 844; HOPF, Zur Nutzungsgeschichte des Klosters (wie Anm. 16), S. 18. 18 Zu Arnstadt siehe DEHIO, Thüringen (wie Anm. 5), S. 52. Zu Neustadt siehe MÜLLER, Neustadt (wie Anm. 10), S. 152. Zur Erfurter Predigerkirche siehe Thomas NITZ, Das Stifterbuch des Erfurter Predigerklosters. Eine spätmittelalterliche Quelle für die Stadtgeschichte und Bauforschung. Mag.-Arbeit, Univ. Bamberg, 1998, S. 56. 19 Der bauhistorische bzw. bauarchäologische Nachweis für einen Lettner in der Arnstädter Franziskanerkirche fehlt bisher. Allerdings setzt die Lage der Zugänge sowohl für die obere Turmkapelle wie für das Glockengeschoss eine im Kirchenraum gelegene Erschließung voraus. Eine analoge Situation – nämlich die Erschließung eines hochgelegenen Raumes über einen Lettner – dürfte in der Erfurter Augustinerkirche bestanden haben, wo der Bau eines Lettners für das Jahr 1461 bezeugt ist. HAETGE u. a. (Bearb.), Die Stadt Erfurt (wie Anm. 13), S. 78 (Regest 30).

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gewölbe versehen (Abb. 11). Zugänglich war er über zwei Stabwerkportale, das eine an der Außenseite zum Friedhof hin gelegen, das andere sich zum südlichen Seitenschiff der Kirche öffnend. Die Funktion der Kapelle als Ort der Memoria versinnbildlichen christliche Symbole und die Schlusssteine mit den Wappen der Stifterfamilie sowie ein Memento-Mori-Motiv – ein männliches und ein weibliches Antlitz, gepaart mit Totenschädeln.20

Abb. 11: Erfurt, ehem. Klosterkirche der Franziskaner (Barfüßerkirche), Kapelle von der Sachsen, 2015

Derartige Stifterkapellen spielten im Memorialkult des späten Mittelalters eine wichtige Rolle. So gab es an der Saalfelder Franziskanerkirche drei Stifterkapellen, die Allerheiligenkapelle der Herren von Könitz, die Michaelskapelle der Familie Enzenberg und die 1513–15 errichtete Dreikönigskapelle der Herren von Thüna.21 Erhalten blieb lediglich die Allerheiligenkapelle der Familie von Könitz. Sie befand sich in der Sakristei der Klosterkirche und war mit einer Stiftung am dortigen Altar verbunden. 20 Ebd., S. 168 u. 171. Eine eingehende bauarchäologische Untersuchung des Bauwerks steht noch aus. Die unterschiedliche Form der Fenster, das wie nachträglich eingefügt erscheinende Portal an der Südseite und die Unstimmigkeit bei der Wölbung des Chorpolygons weisen auf eine Übernahme eines älteren, bereits bestehenden Baues hin. 21 Gerhard WERNER, Die Stifterkapellen der Adelsfamilien von Könitz und von Thüna im Saalfelder Franziskanerkloster, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 98 (2001), S. 3–20; Dirk HENNING, Die Kapelle der Enzenberger am Saalfelder Franziskanerkloster. Auf der Suche nach einem verschwundenen Sakralbau, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 98 (2001), S. 21–27.

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Abb. 12: Saalfeld, Franziskanerkirche, zweigeschossiger Anbau an der Nordseite des Chores mit Sakristei (Untergeschoss) und Bibliothek, Blick von Osten, 2015

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In Saalfeld wurde 1497 der Sakristei ein weiteres Geschoss aufgesetzt (Abb. 12). Dieser mit einem Sternrippengewölbe versehene Raum diente den Mönchen als Bibliothek. Derartige nachträgliche Aufstockungen der Sakristeien sind auch andernorts nachzuweisen, so in Arnstadt (Franziskaner) und Erfurt (Augustiner), und dienten im Regelfall der Schaffung von separaten Räumen für die Klosterbibliothek. Damit kommen wir zum zweiten Teil, dem spätmittelalterlichen Klosterbau.

2. Klosterbauten Klöster sind bauliche Manifestation der Konvente. In der um den Kreuzgang gelegten und nach außen geschlossenen Klausur repräsentiert sich die Ordensgemeinschaft als autonomer, nach festen Regeln lebender Personenverband. Die bauliche Erneuerung des Klosters war daher auch Ausdruck einer inneren Erneuerung. Insbesondere die zentralen Orte der vita communis – Kreuzgang, Kapitelsaal, Refektorium und Schlafsaal – waren Sinnbilder der klösterlichen Gemeinschaft. Ihre Erneuerung signalisierte auch die Erneuerung der Gemeinschaft. In diesem Sinne hat Barbara Frank die unter den Äbten Christian Kleingarn (gest. 1458) und Gunther von Nordhausen (gest. 1503) erfolgte grundlegende Erneuerung des Erfurter Petersklosters als Teil der Reform gedeutet.22 Auskunft über Art und Umfang der Veränderung gibt vor allem die Beschreibung des Mönches Nikolaus von Siegen, der als Klosterinsasse die Ereignisse unmittelbar erlebt hat.23 Von ihm wissen wir, dass zunächst die wichtigen Gemeinschaftsräume – das Refektorium, der Kreuzgang und der Kapitelsaal – erneuert worden sind. Nachdem in den 1480er Jahren die Klausurtrakte neue Dachwerke erhalten hatten und bis 1492 in den Obergeschossen die neuen Schlafsäle eingerichtet waren, wurde auch mit der Erneuerung der Kirche begonnen. Hierzu sollte die alte Balkendecke durch Gewölbe ersetzt werden. Die Einwölbung, die der ganzen Kirche galt, war aber nur bis zum Querhaus und Bruderchor gediehen, als die Arbeiten 1505 eingestellt wurden.24 Von Nikolaus von Siegen wissen wir auch, dass die Vorgängerbauten zu großen Teilen aus Fachwerk bestanden und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch Steinbauten ersetzt wurden.25 Ansichten des 17. Jahrhunderts 22 FRANK, Das Erfurter Peterskloster (wie Anm. 3), S. 55–67. 23 Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 2: Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen, hg. von Franz Xaver VON WEGELE, Jena 1855, S. 449, 468, 477 u. 494. 24 FRANK, Das Erfurter Peterskloster (wie Anm. 3), S. 65 f. 25 Chronicon Ecclesiasticum (wie Anm. 23), S. 412.

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zeigen aber, dass auch einige der spätgotischen Konventsbauten, so die östlich der Klausur gelegene Infirmarie, offenbar nur im Unterbau steinern waren, in den oberen Teilen aber aus Fachwerk bestanden (Abb. 13).26 Diese Mischung aus Stein- und Holzbau ist im Spätmittelalter durchaus gebräuchlich und findet sich gleichzeitig auch bei anderen Klöstern, wie weiter unten am Beispiel Paulinzellas zu zeigen sein wird.

Abb. 13: Ansicht des Petersbergs von Osten, Zeichnung von Maximilian v. Welsch, um 1726

Über Größe und Gestalt des einstigen Petersklosters ist nach der sukzessiv ab 1813 erfolgten Beseitigung der Klosterbauten nur noch anhand von Bildern und Plänen eine Vorstellung zu gewinnen.27 Ein Plan, der kurz nach der Aufhebung des Klosters 1803 gefertigt wurde, zeigt einen regelmäßigen, jedoch nicht quadratischen, sondern rechteckigen Kreuzhof mit vierseitigem Kreuzgang und den Gemeinschafts- und Wirtschaftsräumen in den drei Klausurflügeln im Norden, Osten und Westen (Abb. 14).28 26 Ansicht des Petersbergs von Osten, Zeichnung, um 1726, Maximilian v. Welsch. Abbildung in: Karl BECKER (Bearb.), Die Stadt Erfurt. Dom, Severikirche, Peterskloster, Zitadelle (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, 1), Burg 1929, S. 621 (Abb. 519) u. 536 (Kommentar). 27 Siehe ebd., S. 530–548. 28 Es handelt sich um einen undatierten, um 1805 entstandenen und mit „S.“ signierten Plan des Bauinspektors Schmidt. Nach Becker (ebd., S. 622 [Abb. 521]) ist er einem Bericht vom 27. August 1805 beigefügt gewesen, der im Geheimen Preußischen Staatsarchiv Berlin unter der Signatur „Cap. II. Organisation Sect. XXIV Stifter und Klöster Nr. 4“ abgelegt war. Ein weiterer Plan von derselben Hand ist nach Becker (ebd., S. 538 [Abb. 467]) im Preußischen Archiv Magdeburg (heute Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Dienstort Magdeburg) aufbewahrt. Außer diesen beiden Plänen gibt es einen gleichfalls undatierten Plan mit der Bezeichnung „Grundriss des ehemaligen Klosters St. zu Petri Erfurt. Nach einer

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Abb. 14: Die untere Etage der Petri Kloster Gebäude, Ausschnitt aus einem Bestandsplan des Erfurter Petersklosters, signiert mit „S.“ (Bauinspektor Schmidt), um 1805 vorgefundenen Zeichnung reducirt von / Ellermann / Unteroffizier der 4ten Pionir Abtheilung“. Reproduktionen der genannten Pläne befinden sich im Bildarchiv des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie (im Folgenden: TDLA, Archiv), unter der Signatur „TI 266 F4-F6“.

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In der räumlichen Organisation bot das Erfurter Peterskloster das gewohnte Bild. Im Ostflügel bestanden neben der Sakristei, die unmittelbar an die Kirche grenzte, der Kapitelsaal, das heizbare Winterrefektorium und die Bibliothek. Im kirchenfernen Nordflügel waren die Küche und das Sommerrefektorium sowie der Sprachsaal untergebracht. Der Westflügel nahm Wirtschaftsräume auf sowie das Brunnenhaus, die Kellerei und einen als Altes Archiv bezeichneten Raum. Über die Detailgestaltung wissen wir wenig; als Negativabdruck haben sich an der Nordseite der einstigen Kirche die Wandabschlüsse von Sakristei und Kreuzgang erhalten. Durch die dort erkennbaren Befunde wissen wir, dass der spätgotische Kreuzgang anders als sein romanischer Vorgänger nicht nur gewölbt, sondern auch zweigeschossig war. Im Obergeschoss bestand ein Laufgang, der in den Plänen von etwa 1805 als Orgelgang bezeichnet wird und vom Ostflügel aus zur Orgelempore im Westen führte. Einen ähnlich grundlegenden Umbau des Klosters wie in Erfurt gab es in Saalfeld am dortigen Franziskanerkloster (Abb. 15). Er begann in den späten 1480er Jahren und damit zu einem Zeitpunkt, als die Bemühungen des Guardians Konrad Stamm, das Kloster der Observanz zuzuführen, mit dessen Tod im Jahr 1464 zum Erliegen gekommen waren und die Reform mit dem Tod Wilhelms III. von Sachsen 1482 auch seitens der Landesherrschaft ihren wichtigsten Fürsprecher verloren hatte.29 Der spätgotische Umbau kam einem vollständigen Neubau gleich, denn es wurden nur geringe Reste des spätromanischen/frühgotischen Vorgängerbaus einbezogen. Dieser Neubau ist trotz jüngerer Veränderungen in seiner Grundform überkommen und stellt somit den umfänglichsten bis heute erhaltenen Klosterkomplex aus spätgotischer Zeit in Thüringen dar.30 29 Bernd SCHMIES, Saalfeld, in: MÜLLER/EINHORN (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 8), S. 248–250, hier S. 249. 30 Der Klosterkomplex wurde in den Jahren 1991 bis 1997 von Manfred Donhof untersucht. Leider gibt es keinen Abschlussbericht, auch blieb die Untersuchung durch den frühen Tod Donhofs Stückwerk. Von der nach Zählung Donhofs insgesamt mindestens 22 Teile umfassenden Dokumentation können im Stadtmuseum Saalfeld Band XI–XIX und XXI–XXII nachgewiesen werden. Donhof hat die Ergebnisse seiner Untersuchung in zwei Kurzberichten veröffentlicht: Manfred DONHOF, Baugeschichtliche Forschungen am Franziskanerkloster Saalfeld. Ein Vorbericht, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 89 (1992), S. 13–23; DERS., Steinmetzzeichen und Inschriften an der ehemaligen Kirche des Franziskanerklosters Saalfeld, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 94 (1997), S. 3–10. Zur mittelalterlichen Klosterbaugeschichte siehe darüber hinaus Ingrid BACHMEIER, Die ehemalige Franziskanerklosterkirche in Saalfeld. Neue Erkenntnisse zum Dachwerk und zur Ostfassade im Rahmen der Sanierung des Thüringer Heimatmuseums, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 93 (1996), S. 3–10; DIES., Fassaden im Innenhof des ehemaligen Franziskanerklosters in Saalfeld. Baugeschichtliche Anmerkungen zur Nordfassade der Kirche und zur Ostfassade des Westflügels, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 95 (1998),

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Abb. 15: Saalfeld, Franziskanerkloster, Erdgeschossgrundriss mit Eintragung der Hauptbauphasen und Bezeichnung ausgewählter Räume

S. 3–10. Vgl. hierzu außerdem WERNER, Die Stifterkapellen der Adelsfamilien (wie Anm. 21); HENNING, Die Kapelle der Enzenberger (wie Anm. 21). Darüber hinaus jüngst die Veröffentlichung mit einer knappen Darstellung der Klosterbaugeschichte von Leonie SILBERER, Klosterbaukunst der Konventualen Franziskaner vom 13. Jahrhundert bis zur Reformation (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, 141), Petersberg 2016, S. 312–316.

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Die Klausurgebäude sind um einen trapezförmigen Kreuzhof angelegt. Der Kreuzgang ist in die Gebäude eingezogen, lediglich der kirchseitige, heute fehlende südliche Kreuzgang war außen vorgestellt. Die Disposition erscheint auf dem ersten Blick vertraut: Im Ostflügel befanden sich im Erdgeschoss der Kapitelsaal sowie das Refektorium und im Obergeschoss der Schlafsaal mit den Mönchszellen. Auch im Nord- und Westflügel hat es Schlafräume gegeben. Ungewöhnlich ist die große, mit einem Netzgewölbe überspannte Halle im Erdgeschoss des Westflügels, die als Teil des Kreuzgangs ein Versammlungs- und Bestattungsort gewesen sein dürfte (Abb. 16).

Abb. 16: Saalfeld, Franziskanerkloster, Westflügel, Erdgeschosshalle, Blick nach Süden, 2014

Wichtige Aufschlüsse zur ehemaligen Funktion der Räume gibt Caspar Sagittarius in einem Bericht aus dem Jahr 1670.31 Seine Angaben konnten durch die bauarchäologischen Forschungen Manfred Donhofs bestätigt werden. So fanden sich zum Beispiel im nordöstlichen Raum des Ostflügels, der von Sagittarius als „Coenaculum“ der Mönche angesprochen wird, sowohl Reste der von ihm erwähnten ehemaligen Durchreiche sowie der in eine Nische eingelassene 31 Casparis Sagittarii Luneburgensis ausführlicher Bericht von denen Saalfeldischen Schulgebäuden in 3 Teilen verfaßt, anno 1670 (Schriften des Vereins für Sachsen-Meiningische Geschichte und Landeskunde, 78), hg. von Otto FISCHER, Hildburghausen 1919, S. 47– 57.

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Steintrog, der der Handwaschung vor der Speisung diente. Auch die mit dem Refektorium verbundene Küche, die als separater Anbau außen an den Ostflügel angesetzt war, konnte Donhof nachweisen.32 Lediglich für den von Sagittarius benannten Keller mit Steinofen-Luftheizung steht der archäologische Nachweis aus.33

Abb. 17: Saalfeld, Franziskanerkloster, Ostflügel, sog. Klosterküche, Blick nach Norden, 2015

Eigentümlich und bisher ohne Vergleich im zeitgenössischen Klosterbau ist die Existenz einer zweiten Küche im selben Flügel (Abb. 17). Diese Küche liegt zwischen Kapitelsaal und Durchgang. Eine Erklärung dieser ungewöhnlichen Disposition – also zweier Küchen im selben Flügel – steht bisher aus. Die naheliegende Überlegung, dass der als Kapitelsaal angesprochene Raum möglicherweise das Refektorium gewesen sei, stehen sowohl die Lage wie auch die schon angesprochenen Ergebnisse der bauhistorischen Untersuchung entgegen. Eine andere Erklärung wäre, dass die beiden Küchen nicht gleichzeitig, sondern zeitlich nacheinander bestanden haben. Soweit es den heute als Klosterküche bezeichneten Raum betrifft, sprechen die spätgotischen Detailformen, 32 DONHOF, Baugeschichtliche Forschungen (wie Anm. 30), S. 17. Vgl. außerdem DERS., Franziskanerkloster Saalfeld, baugeschichtliche Untersuchung, Bd. XII, Ostflügel, Ostfassade, November 1994 (Standort der Studie: Stadtmuseum Saalfeld, Archiv). 33 Casparis Sagittarii Luneburgensis ausführlicher Bericht (wie Anm. 31), S. 49 f.

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eine kielbogige Durchreiche in der Nordwand und ein allerdings im oberen Teil verändertes Portal ebenda, für eine Entstehung im späten 15. Jahrhundert. Da zudem der benachbarte Kapitelsaal von hier aus beheizt wurde, liegt eine gemeinsame Entstehung der beiden Räume nahe. Möglicherweise war die Beheizung des Kapitelraums auch der maßgebliche Grund, die Küche an diese Stelle zu verlegen. Allerdings bleiben diese Überlegungen ohne weitergehende bauarchäologische Nachforschungen spekulativ.34 Mit dem Kapitelsaal des Saalfelder Klosters haben wir einen in seiner baulichen Gestalt verhältnismäßig gut überlieferten Raum der Zeit um 1500 vor uns, der auch Elemente der zeitgenössischen Wand- und Deckengestaltung bewahrt hat (Abb. 18). Tageslicht empfängt er über drei Rechteckfenster an der Ostseite. Diese mit Maßwerk in den Oberlichtern versehenen Fenster sind typische Beispiele spätgotischer Detailgestaltung. Kennzeichnend für die Spätgotik ist auch die verzierte Holzdecke des Raumes mit profilierten Balken und dekorierten Füllungsbrettern. Wesentlich für den Charakter des Raumes ist aber die Art der Beheizung, die in diesem Fall über einen Stubenofen erfolgte. Insofern ist der von Leonie Silberer für diesen Raum gewählte Begriff Konventsstube zutreffender als der des Kapitelsaals.35

34 Auf einer Informationstafel des Saalfelder Museums wird von einer Entstehung der Küche im 15. Jahrhundert ausgegangen und angenommen, dass um 1500 die Küchenfunktion mit Einzug eines Gewölbes entfiel. Doch dürfte die Küche nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen erst im späten 15. Jahrhundert entstanden sein. So nimmt Donhof an, dass die Ostfassade des Ostflügels in drei Abschnitten von Nord nach Süd errichtet worden sei (DONHOF, Franziskanerkloster Saalfeld, baugeschichtliche Untersuchung [wie Anm. 32]). Wenn die Angabe „1489“, die sich nach Sagittarius am Sturz des Eingangsportals befand, zutreffend ist, so wäre damit auch die Küche datiert, denn nach Donhof gehören Eingangsbereich und Küche zum selben Bauabschnitt. Im dritten und letzten Bauabschnitt wäre nach Donhof der Kapitelsaal entstanden. Dieser Abfolge widersprechen die stilistischen Befunde nicht. Doch bedürfte es zur Absicherung dieser Aussagen einer weitergehenden Befundung in den Räumen. Auch bezüglich der Nutzungsdauer des von Sagittarius 1670 beschriebenen externen Küchenanbaus fehlen klare Aussagen. Sagittarius gibt an, dass die Küche zuletzt (um 1670) zum Destillieren genutzt worden sei (Casparis Sagittarii Luneburgensis ausführlicher Bericht [wie Anm. 31], S. 49 f.). Möglicherweise war die Küche aber schon seit etwa 1500 nicht mehr in Funktion, so dass die andere, neue Küche an deren Stelle trat. 35 SILBERER, Klosterbaukunst der Konventualen Franziskaner (wie Anm. 30), S. 118 u. 314. Allerdings ist weder die Bezeichnung Kapitelsaal (-stube) noch Konventsstube zeitgenössisch überliefert. Funktional dürfte es keinen Unterschied gegeben haben. Die Behauptung Silberers, eine Ofenheizung sei nicht nachweisbar (ebd., S. 118), ist allerdings irrig; das Schürloch für den Stubenofen ist in der benachbarten Küche vorhanden.

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Abb. 18: Saalfeld, Franziskanerkloster, Ostflügel, Kapitelsaal, Blick nach Süden, 2014

Eine ähnliche Gestaltung weist auch das spätgotische Refektorium des einstigen Prämonstratenserklosters Veßra auf (Abb. 19 u. 20). Dieser Saal entstand um 1500 durch Unterteilung des ehemaligen romanischen Refektoriums.36 Der eine Teil blieb Refektorium, der andere gehörte fortan zur Küche, von der auch der Ofen im Refektorium zu befeuern war. Der neue Speisesaal erhielt drei große Fenster nach Süden, die zum Kreuzgang weisende Nordseite blieb weiterhin fensterlos. An der Ostseite wurde ein weiteres Fenster eingebrochen. Wände und Decken wurden farbig gefasst; auch die Fensternischen, in die Wappen eingefügt waren, erhielten eine Bemalung mit Rankenmalerei in Grün, Schwarz und Weiß. An der Ostwand, dem Eingang gegenüber, wurden auf die geputzte Wandfläche Figuren gemalt: Christus am Kreuz, flankiert vom heiligen Norbert und dem heiligen Augustin. Eine reich geschnitzte Holzbalkendecke schließt den Raum oben ab. Sie wird von drei Holzstützen getragen, wobei die beiden 36 Zur Baugeschichte siehe Barbara PERLICH, Prämonstratenserstift Veßra. Ergebnisse der Bauforschung an Klausur und Kreuzgang, in: Klausur und Kreuzgang. Kolloquium zu den neuesten Forschungsergebnissen im Kloster Veßra auf den Gebieten der Archäologie, Bauforschung und Denkmalpflege, Tagungsband, hg. vom Hennebergischen Museum Kloster Veßra und dem Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsverein, Kloster Veßra 2012, S. 87–104. Zur Wandmalerei siehe Steffen NOLTE, Die Innenraumgestaltung des Refektoriums des ehemaligen Prämonstratenser-Chorherrenstifts zu Veßra/Thüringen, in: ebd., S. 105–123.

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äußeren erst später, im Jahr 1556, hinzukamen. Die ursprüngliche Stütze in der Mitte ist reicher als die beiden anderen gestaltet und mit Wappenschilden und spätgotischem Astwerk geschmückt.

Abb. 19: Veßra, Prämonstratenserkloster, Grundriss des Refektoriums um 1175, um 1500 und 1556, Zeichnung: Barbara Perlich-Nitz (Erfurt)

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Abb. 20: Veßra, Prämonstratenserkloster, Refektorium, Blick nach Nordosten, 1939

Zur selben Zeit wie die Prämonstratenser in Veßra bauten auch die Ordensbrüder in Mildenfurth ihr Kloster um (Abb. 21 u. 22).37 Auch sie verkleinerten das im Südflügel der Klausur gelegene, ehemals mit einer Steinofen-Luftheizung ausgestattet gewesene große Refektorium des romanischen Klosters, indem sie es durch eine Quermauer teilten. Barbara Perlich und Birte Rogacki vermuten, dass diese beiden neu entstandenen, mit Öfen beheizbaren Räume als Refektorium und Kapitelsaal genutzt wurden.38 Das Obergeschoss, das möglicherweise erst 37 Barbara PERLICH/Birte ROGACKI, Prämonstratenserstift Mildenfurth. Ergebnisse der Bauforschung an Klausur und Kreuzgang, in: Aus der Arbeit des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, NF 33), Altenburg 2009, S. 49–59. 38 Ebd., S. 54–56.

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im Rahmen des spätgotischen Umbaus entstanden ist, nahm Wohnräume auf und war mit einem Aborterker ausgestattet. Der Umbau erfolgte im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Dafür sprechen die Detailformen der Fenster und Türen als auch die Datierung zweitverwendeter Hölzer im Dachwerk auf das Jahr 1509 (d).

Abb. 21: Mildenfurth, Prämonstratenserkloster, Südflügel, Baugestalt A. 13. Jh. (links) und um 1500, Zeichnung: Barbara Perlich-Nitz (Erfurt)

Abb. 22: Mildenfurth, Prämonstratenserkloster, Südflügel, Blick von Südwesten, um 1900

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Abb. 23: Eisenach, Dominikanerkloster, Bauphasenplan, Zeichnung: Udo Hopf (Weimar)

Die Erneuerung der Refektorien war im späten Mittelalter offensichtlich ein wichtiges Thema und ist auch bei anderen Klöstern bezeugt, so in Eisenach (Dominikaner), Erfurt und Gotha (beide Augustinereremiten). In Eisenach ist der Umbau inschriftlich bzw. dendrochronologisch für die Jahre 1512 bis 1517

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belegt (Abb. 23 u. 24).39 In dieser Zeit wurden die bereits bestehenden Klausurtrakte im Süden und Westen erneuert. Im Osten wurde an den bereits bestehenden Kreuzgang aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts ein weiterer Trakt angeschlossen, der 1516 (d) unter Dach steht.

Abb. 24: Eisenach, Dominikanerkloster, Südflügel mit Refektorium, Blick von Nordosten, um 1900

Nach Udo Hopf hatte der Ostflügel keinen Vorgängerbau, so dass die Klausur bis ins frühe 16. Jahrhundert lediglich aus dem Süd- und Westflügel bestand. Warum es aber bis ins späte Mittelalter keinen östlichen Klausurflügel gab, bleibt ungeklärt. Die dort im Regelfall untergebrachten Räumlichkeiten – Kapitelsaal, Refektorium und Schlafsaal – befanden sich in den beiden anderen Flügeln. Im Zuge der spätgotischen Umgestaltung wurde das im Südwesten der Klausur gelegene Refektorium modernisiert (Bauinschrift von 1512 an der Ostseite) und mit einer neuen Balkendecke ausgestattet. Auch der südliche Klausurflügel, dessen Dachwerk auf 1517 (d) datiert, und der südliche Kreuzgang wurden erneuert. Wie die regelmäßige Reihung von Fenstern im Obergeschoss anzeigt, gab es spätestens seit diesem Zeitpunkt auch im Südflügel Mönchszellen, wie es solche bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts im Westflügel gegeben hat. Im Schnittpunkt von West- und Südflügel wurde 1517 (d) in das Dach39 Den derzeitigen Forschungsstand siehe zusammenfassend in: Udo HOPF, Vom Predigerkloster zum Gymnasium Illustre. Baugeschichtliche Untersuchungen an den Klausurgebäuden des ehemaligen Dominikanerklosters zu Eisenach, in: Wartburg-Jahrbuch 15 (2006) [2008], S. 8–37.

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geschoss eine Holzstube – eine Ständerbohlenkonstruktion – mit Ofenstelle eingefügt. Welche Funktion dieser Raum hatte, ist nicht überliefert; Bauart und Ausstattung sprechen aber für eine Studierstube. In Gotha erfolgte Anfang des 16. Jahrhunderts bei den Augustinereremiten ein Teilneubau des Klausur-Nordflügels, bei dem u. a. das Refektorium im Erdgeschoss modernisiert und im Obergeschoss neue Mönchszellen – im Jahr 1482 lebten 20 Mönche im Kloster – geschaffen wurden.40 Von dieser Bauphase zeugen heute nur noch die Fenster am Westgiebel des Nordflügels. In ihrer schlichten Gestalt – ohne Maßwerk und mit Segmentbogen statt Spitzbogen – sind sie charakteristisch für diese Zeit (Abb. 25).

Abb. 25: Gotha, Augustinerkloster, Nordflügel mit Refektorium, Blick von Nordwesten, 2016 40 HOPF, Zur Nutzungsgeschichte des Klosters (wie Anm. 16).

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Abb. 26: Erfurt, Augustinerkloster, Altes Priorat, Blick von Nordosten, 1963

Vergleichbare Fenster finden sich an dem auch als Alten Priorat bezeichneten Winterrefektorium des Erfurter Augustinerklosters (Abb. 26). Sein Bau, der 1474 vollendet war, steht am Anfang einer umfassenden Erneuerungsphase des Klosters im letzten Drittel des 15. und in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts (Abb. 27). Zum Zwecke der Erweiterung erwarben die Mönche 1482 ein westlich der alten Klostermauer gelegenes Areal zusammen mit zwei bestehenden, wohl aus dem 14. Jahrhundert stammenden Gebäuden, den sog. Waidhäusern. Eines der beiden Gebäude nutzten sie, anders als die geläufige Bezeichnung vermuten lässt, als Gästehaus.41 Mit dem Erwerb des Grundstücks wurde auch der Bau des Neuen Priorats begonnen. Es befand sich nördlich der Waidhäuser. Spätestens 1502 war auch die neue Klosterbibliothek 41 Volker DÜSTERDICK, Bauforscherische Begleitung und Dokumentation beim Neubau der Waidhäuser, Erfurt 2006/2007 [Standort des unveröffentlichten Typoskripts: TDLA Erfurt, Archiv].

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im Bau. Das Gebäude stand 1516 unter Dach. Wappenscheiben in den Fenstern des Obergeschosses aus dem Jahr 1518 zeigen den Zeitpunkt der Vollendung an.

Abb. 27: Erfurt, Augustinerkloster, Erdgeschossgrundriss von 1927 mit Bauphasenkartierung

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Von den genannten Gebäuden blieb – wie schon oben erwähnt – lediglich das Alte Priorat erhalten. Der spätgotische Neubau von 1474 ersetzte einen älteren Vorgängerbau aus dem 14. Jahrhundert. Bemerkenswert ist, dass mit dem Neubau auch die Steinofen-Luftheizung aufgegeben wurde und das im Erdgeschoss des Gebäudes befindliche Winterrefektorium des Klosters nunmehr mit Öfen beheizt wurde.42 Wie in Mildenfurth und Veßra scheint auch hier die Umstellung des Heizsystems einen Anlass für die Erneuerung des Refektoriums gegeben zu haben.

Abb. 28: Erfurt, Augustinerkloster, Neues Priorat, Zeichnung von W. Hott von 1892 nach einer Vorlage von E. Lossius von 1798 42 Frank PALMOWSKI, Eine Steinofen-Luftheizung im Augustinerkloster von Erfurt, in: AltThüringen 21 (1986), S. 268–276.

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Das nach 1482 errichtete Neue Priorat wurde 1822 abgebrochen. Sein Äußeres ist nur durch eine Zeichnung überliefert (Abb. 28).43 Sie zeigt einen zweigeschossigen Bau, dessen Erdgeschoss eine Laube vorgebaut war. In der Mitte der Hofseite gab es ein Chörlein mit spätgotischen Maßwerkfenstern im steinernen Unterteil und mit einem Obergeschoss aus Fachwerk. Nach erfolgtem Abbruch wurde sein steinerner Teil an die Südseite der Klosterbibliothek versetzt und bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als Brunnenhaus genutzt.

Abb. 29: Erfurt, Augustinerkloster, spätgotische Bibliothek, Blick von Nordosten, um 1900

Die beiden Waidhäuser und die Klosterbibliothek sind bis auf Reste – Grundmauern und Kellergeschoss – durch eine Luftmine 1945 zerstört worden. Insbesondere die Zerstörung der Klosterbibliothek gehört zu den schwersten Verlusten Erfurts im Zweiten Weltkrieg (Abb. 29). Der mit steilem Satteldach versehen gewesene zweigeschossige Steinbau war im Inneren in allen Geschossen gewölbt. Über jeweils vier Freipfeilern spannten sich Kreuzrippengewölbe zu 43 Zeichnung von W. Hott, Vorsteher des evangelischen Waisenhauses, von 1892 nach einer Vorlage von E. Lossius von 1798. Vgl. HAETGE u. a. (Bearb.), Die Stadt Erfurt (wie Anm. 13), S. 67, Abb. 63.8.

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den Außenmauern, so dass sich zweischiffige Hallen von jeweils zehn Jochen ergaben. Das als Überrest erhalten gebliebene und als Gedenkraum für die Opfer des Zweiten Weltkriegs gestaltete Kellergeschoss erlaubt eine Vorstellung vom einstigen Aussehen. In Details wie der Stärke und Gliederung der Pfeiler unterschieden sich die Geschosse, so dass das Obergeschoss insgesamt leichter und filigraner erschien als das Erdgeschoss (Abb. 30).

Abb. 30: Erfurt, Augustinerkloster, spätgotische Bibliothek, Obergeschoss, Blick nach Nordwesten, um 1930

Bemerkenswert sind aber insbesondere die Unterschiede im Bildprogramm. Im Erdgeschoss, das als Bibliothek genutzt wurde, waren an den Schlusssteinen nur christliche Symbole und Figuren – Christus, Maria und die Kirchenväter – dargestellt. Im Obergeschoss aber gab es Wappen geistlicher und weltlicher Stifter sowohl an den Schlusssteinen der Gewölbe als auch in der Verglasung der Fenster. Zu den Stiftern der Wappenscheiben in den Fenstern zählten u. a. Jodocus Trutvetter, der Ordinarius der theologischen Fakultät, und Justus Jonas, der spätere Reformator, der zum Zeitpunkt der Stiftung Kanoniker des SeveriStifts und Ordinarius der Juristischen Fakultät der Erfurter Universität war

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(Abb. 31 u. 32).44 Damit war die Augustinerbibliothek nicht nur ein im engeren Sinn klösterlicher Bau, sondern auch, ähnlich dem im Kreuzgang des Erfurter Doms gelegenen Coelicum, ein der Universität Erfurt zugehöriger Ort der Lehre und der Wissenschaft. Aus dieser Zweckbestimmung heraus erklären sich auch die Stiftungen von Universitätslehrern für den Bau und die Ausstattung des Gebäudes. So gehörte das spätgotische Bibliotheksgebäude der Augustinereremiten neben dem Coelicum des Marienstifts und dem Collegium Maius, dem etwa gleichzeitig entstandenen Hauptgebäude der Hierana, zu den größten und repräsentativsten Bauwerken der Erfurter Universität im späten Mittelalter.45

Abb. 31: Erfurt, Augustinerkloster, spätgotische Bibliothek, Obergeschoss, von J. Trutvetter gestiftete Wappenscheibe von 1518

Abb. 32: Erfurt, Augustinerkloster, spätgotische Bibliothek, Obergeschoss, von J. Jonas gestiftete Wappenscheibe von 1518

44 Zu Trutvetter und Jonas vgl. Erich KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil 2: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521 (Erfurter theologische Studien, 22) Leipzig 21992, S. 290 f. u. 331. 45 Zu den Erfurter Universitätsbauten siehe DERS., Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil 1: Spätmittelalter 1392–1460 (Erfurter theologische Studien, 14), Leipzig 21985, S. 361–374; Christian MISCH, Die Erfurter Universitätsgebäude bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in: Marina MORITZ (Hg.), Amplonius. Die Zeit, der Mensch, die Stiftung. 600 Jahre Bibliotheca Amploniana in Erfurt (Schriften des Museums für Thüringer Volkskunde Erfurt, 35), Erfurt 2012, S. 135–145. Die Augustiner verfügten vermutlich als einziger unter den Erfurter Bettelorden bereits vor der Gründung der Universität über ein Generalstudium. Josef PILVOUSEK/ Klaus-Bernward SPRINGER, Die Erfurter Augustiner-Eremiten – eine „evangelische“ Brüdergemeinde vor und mit Luther (1266–1560), in: Lothar SCHMELZ/Michael LUDSCHEIDT (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005, S. 37–57, hier S. 49.

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Inwiefern auch die bestehenden älteren Klausurflügel des Erfurter Augustinerklosters im 15. und frühen 16. Jahrhundert erneuert wurden, ist nach wiederholten Umbauten in nachreformatorischer Zeit, dem Neubau des Westflügels in den Jahren 1844–46, dem Brand des Ostflügels im Jahr 1872 und nicht zuletzt nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu klären. Der nachweislich erst in einer zweiten Bauphase entstandene Schlafsaal über dem Ostflügel bestand jedenfalls schon mehr als einhundert Jahre, als dort der Mönch Martin Luther seine Zelle zugewiesen bekam.

Abb. 33: Arnstadt, Franziskanerkloster, Ostflügel, Blick von Westen, 2016. Anhand des Materialwechsels ist die spätgotische Aufstockung des Bauwerks gut zu erkennen.

Zu den umfassend im späten Mittelalter erneuerten Klöstern gehört das Franziskanerkloster in Arnstadt.46 Bei einem wohl in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfolgten Umbau wurden sämtliche Klausurgebäude erhöht. Damit verbunden war die Änderung der Geschossebenen in den Gebäuden und die Vermauerung u. a. der alten Zellenfenster und von drei großen Maßwerkfenstern in der Kirchensüdwand (Abb. 33).47 Die damals angelegten, heute noch im Ostflügel rudimentär erhaltenen Mönchszellen empfingen Tageslicht über spät46 Zur Baugeschichte der Klausur siehe Udo HOPF, Teiluntersuchung der Klausurgebäude des ehem. Franziskanerklosters in Arnstadt, Pfarrhof 4, 1995 (Standort der Studie: TLDA, Archiv). 47 Für eine Datierung der Baumaßnahmen in die zweite Hälfte des 15. Jahrhundert sprechen u. a. die stilistisch dieser Zeit zuzuordnenden Kreuzstockfenster der spätgotischen Aufstockung und eine unter Dach liegende Inschrift an der Südwand der Kirche von 1484.

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gotische Kreuzstockfenster, jeweils sieben an den Langseiten im Norden und Süden und jeweils sechs an den Schmalseiten im Osten und Westen. Auffallend ist die geringe Breite des an die Kirche grenzenden Nord- und des gegenüberliegenden Südflügels. Sie beträgt gerade einmal 2,80 m. Für eine Unterbringung von Zellen erscheinen diese Flügel fast zu schmal; dennoch gibt es auch im Südflügel Hinweise auf eine entsprechende Unterteilung. Im Erdgeschoss des Ostflügels befanden sich – und das von vornherein – der Kapitelsaal und ein weiterer Raum unbekannter Nutzung. Im Westflügel lag offensichtlich das mit einem Küchenbau verbundene Refektorium.48 In die Umbauphase des 15. Jahrhunderts fällt schließlich – wie schon oben angemerkt – die Errichtung der Bibliothek über der bereits bestehenden Sakristei, wozu das westliche Chorfenster vermauert werden musste. Zu den bedeutendsten Neuentdeckungen der letzten Zeit gehört das sog. Amtshaus des Klosters Paulinzella (Abb. 34). Dieser langgestreckte zweistöckige Fachwerkbau auf Steinuntergeschoss galt bisher als ein Gebäude aus nachklösterlicher Zeit und wurde in der Literatur in die Jahre um bzw. nach 1530 datiert.49 Die jüngst erfolgte bauhistorische Untersuchung des Bestandes durch Lutz Scherf hatte das überraschende Ergebnis, dass es sich hier um einen Bau von 1475 (d), also um einen Bau aus der Klosterzeit handelt.50 Überraschend war zudem die Vielzahl an authentischen Befunden, die trotz mehrerer Umbauten unter jüngeren Wandverkleidungen erhalten geblieben sind und die dieses Gebäude zu einem wichtigen Sachzeugnis der spätmittelalterlichen Klosterarchitektur in Thüringen erheben. Der Bau ist in den Hauptgeschossen in drei große Raumzonen eingeteilt, wobei das Fußbodenniveau der südlichen Zone im Erdgeschoss um etwa 0,60 m tiefer liegt als das der nördlichen beiden (Abb. 34b). Dieser auch am Außenbau erkennbare Niveausprung resultiert aus der Einbeziehung eines älteren Kellers, der von einem Vorgängerbau stammt und sich unter dem mittleren Hausteil befindet. Die im südlichen Teil gelegene große Stube nahm die gesamte Gebäudetiefe ein. Sie hatte eine Grundfläche von etwa 55 m² (Maße: 7,00 x 7,90 m). Die Raumhöhe betrug ca. 4,20 m. Der Stube war nördlich ein Flur vorgelagert, über den sowohl diese als auch die Küche – ein außen an der Ostseite

48 Der Westflügel wurde im 16./17. Jahrhundert unterkellert, die Jahreszahl „1509“ am Portalbogen datiert aber nicht den Einbau des Kellers, da das Portal Merkmale einer sekundären Verwendung aufweist. 49 DEHIO, Thüringen (wie Anm. 5), S. 959. 50 Lutz SCHERF, Bauhistorische Dokumentation Amtshaus Paulinzella, 2013 (Standort der Studie: TLDA, Archiv). Der Verfasser dankt Lutz Scherf für die Erläuterung und Diskussion der Befunde vor Ort und die Bereitstellung von Material.

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c Abb. 34: Paulinzella, Benediktinerkloster, Klosterbau von 1475, Isometrie von Untergeschoss inkl. Keller (a), Erdgeschoss (b) und Obergeschoss (c), Zeichnungen: Ingenieurbüro Scherf.Bolze.Ludwig (Silbitz)

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angefügter Steinbau mit Rauchhut – erschlossen wurde.51 Die zweite Stube in der mittleren Zone ist in großen Teilen der Konstruktion überliefert und misst ca. 6,00 auf 5,90 m bei einer Raumhöhe von ca. 3,50 m. Die im Verhältnis zur großen Stube geringere Grundfläche von 35 m² ergibt sich aus dem Umstand, dass ein Verbindungsgang zu den angrenzenden Räumen erforderlich war. Er liegt östlich der Stube. Dort befand sich auch die Schürstelle für den Stubenofen.

Abb. 35: Paulinzella, Benediktinerkloster, Gebäudemodell des Klosterbaus von 1475, Querschnitt mit Blick in die kleine Stube im Erdgeschoss und Rekonstruktion des Erkers, Modellbau: Ingenieurbüro Scherf.Bolze.Ludwig (Silbitz). 51 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt, Karten, Pläne, Risse, Nr. 1881 u. Nr. 2372 sowie ebd., Thür. Kreisbauamt Rudolstadt, Gr. 9–257, fol. 210. Der jetzige Bestand des Küchenbaus geht auf eine Erneuerung im Jahre 1832 zurück. In Lage und Größe entsprach der Bau aber seinem spätmittelalterlichen Vorgänger.

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Die kleine Stube war an der Westseite mit einem Erker ausgestattet, der auch die Fassade maßgeblich bestimmt hat (Abb. 35). Auf dessen Vorhandensein verweisen Aussetzungen im ursprünglichen Fachwerkabbund und die am Mauerwerk sichtbare Abarbeitung der Erkerkonsole. Nördlich der kleinen Stube lag ein Vorsaal. Er war durch eine hölzerne Trennwand von der folgenden nördlichen Zone abgetrennt. Dort befand sich ein repräsentativ ausgeschmückter Saal. Saal und Vorsaal hatten einen gleichartigen Raumabschluss in Gestalt einer bretterbeschlagenen Trapezdecke; eine an den Unterzügen und Wandanschlüssen nachgewiesene spätgotische Schablonenmalerei setzte sich wohl auch an den Deckenbrettern fort (Abb. 36). Der Saal war insgesamt reicher ausgestattet als der Vorsaal. Hatte der Vorsaal eine schlichte Sichtfachwerkfassung mit schwarzen Begleitstrichen, so gab es im Saal offensichtlich eine textile Wandbespannung.

Abb. 36: Paulinzella, Benediktinerkloster, Klosterflügel von 1475, Saal im Erdgeschoss, spätgotische Schablonenmalerei, 2015

Im Sockelgeschoss und damit weitgehend oberirdisch befinden sich in der nördlichen Zone ehemals steingewölbte Räume (Abb. 34a). In der mittleren Zone ist ein großer balkengedeckter Raum vorhanden, der aufgrund seiner Größe und der Art der Belichtung wohl nicht als Lager-, sondern als Arbeitsraum genutzt wurde. Von diesem Raum führte ehemals eine Treppe in den Vorsaal des Erdgeschosses. Der schon angesprochene, die Niveauunterschiede bedingende

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Keller ist ein großer tonnengewölbter Raum und liegt zu großen Teilen unter der mittleren Zone. In seiner Geometrie weicht er vom spätgotischen Neubau ab und ist u. a. darin als Rest eines Vorgängerbaus zu erkennen. Das Obergeschoss war ursprünglich entsprechend der dreizonigen Grundstruktur des Hauses lediglich durch zwei Querwände unterteilt (Abb. 34c). Durch nachträglich eingestellte Fachwerkwände wurden bereits 1477 (d), also noch zur Klosterzeit, weitere nicht beheizbare Kammern geschaffen. Der repräsentative spätgotische Großbau von Paulinzella wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis er zur ehemaligen Klausur gestanden hat. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Bedeutung, dass der Südturm der Klosterkirche, an den das Gebäude grenzt und mit dem es auch durch eine Pforte verbunden ist, Brandspuren aufweist. Demnach ist das Gebäude nach einem Brand entstanden, der zumindest den westlichen Teil der Klosterkirche – Turm und Vorhalle – betroffen hat. Inwiefern dieser Brand, der in der Literatur bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde, auch die südlich der Kirche gelegene Klausur in Mitleidenschaft gezogen hat, ist unklar.52 Der geringe Zwischenraum zwischen dem ehemaligen Westflügel der Klausur und dem spätgotischen Neubau von 1475 wirft zudem die Frage auf, ob beide Gebäude überhaupt gleichzeitig bestanden haben, oder anders gefragt, ob nicht dieser Bau die beim Brand zerstörten älteren Konventsgebäude ersetzt hat. Wäre dies der Fall, so hieße das anzunehmen, dass die Klausur nach dem Brandunglück, das sich vor 1475 zu unbekanntem Zeitpunkt ereignet hat, nicht wieder aufgebaut worden wäre und der Konvent nur noch dieses eine Gebäude genutzt hätte. Eine solche Vermutung wird man, solange eine gründliche Auswertung der Schriftquellen und moderne archäologische Untersuchungen des einstigen Klosterareals fehlen, nur mit Vorsicht äußern wollen. Dass es aber solche „Ein-Haus-Klausuren“ auch im späten Mittelalter gegeben hat, ist durch den Klausurtrakt des Franziskanerklosters in Langensalza belegt.53 Es handelt sich hier um ein langgestrecktes zweigeschossiges Steinhaus mit steilem Satteldach, dessen Bau unmittelbar nach der Gründung des Klosters im Jahr 1453 begonnen wurde und bereits 1458 (d) unter Dach stand (Abb. 37 u. 38). In seiner Lage bezieht es sich auf die alte Jakobskirche, die dem Konvent als Klosterkirche zugewiesen wurde, denn es teilte mit dieser eine Giebelwand 52 Eine moderne archäologische Ausgrabung zur Klausur fehlt. Die Fundamentfreilegung von 1874 konnte lediglich die Umrisse der Klausur klären. Vgl. hierzu Paul LEHFELDT, Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, Fürstenthum Schwarzburg-Rudolstadt, Bd. 1 = H. 19/20: Oberherrschaft: Amtsgerichtsbezirke Rudolstadt, Stadtilm, Königsee, Oberweissbach und Leutenberg, Jena 1894, S. 149. 53 Udo HOPF, Bauhistorische Untersuchung am ehemaligen Franziskanerkloster in Bad Langensalza „Beim Barfüßer 1 und 2“, Teil 1, Gebäude 01-07, Gotha 2010 (Standort der Studie: TLDA, Archiv, Bereich Bau- und Kunstdenkmalpflege).

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und stand in direkter Verlängerung des Kirchensaals nach Westen. In dem Haus waren alle für den Konvent erforderlichen Räume untergebracht. Nach wiederholtem Umbau ist im Inneren nur noch die Lage der Küche im westlichen Teil des Bauwerks eindeutig auszumachen.

Abb. 37: Langensalza, Franziskanerkloster und Beginenhaus, Lageplan, Zeichnung: Udo Hopf (Weimar)

Von der Klosterkirche sind nur geringe Reste überliefert, nämlich Fragmente der nördlichen Chormauer und der Sakristei. Sie überdauerten als Teil des sog. Seigerhauses (Abb. 38).54 Es handelt sich hierbei um ein dreigeschossiges Steinhaus, das unmittelbar an den Chor der Klosterkirche grenzte und das 1462 (d), also unmittelbar nach Fertigstellung des Klausurtrakts, entstanden ist. Wie Udo Hopf nachgewiesen hat, handelt es sich hierbei um das ehemalige Beginenhaus. In diesem Haus wohnten die frommen Frauen in einzelnen, heizbaren Zellen. Geistlich betreut wurden sie von den Minoriten. Als Beginenhaus diente es noch bis zum Tod der letzten Begine im Jahr 1582, als das Franziskanerkloster bereits aufgelöst war. Trotz mehrfacher Umnutzung, u. a. seit 1553 als Uhren54 DERS., Bauhistorische Untersuchung am ehemaligen Franziskanerkloster in Bad Langensalza „Beim Barfüßer 1 und 2“, Teil 2, Gebäude 08, Seigerhaus (Beginenhaus), Gotha 2011 (Standort der Studie: TLDA, Archiv, Bereich Bau- und Kunstdenkmalpflege).

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haus, ist das spätmittelalterliche Beginenhaus in Langensalza bis heute erhalten und eines der seltenen Beispiele eines solchen „Frauenhauses“ im mitteldeutschen Raum.

Abb. 38: Langensalza, ehem. Barfüßer-Kloster, Postkarte, um 1930. Links im Bild der Giebel des Konventsgebäudes, rechts das sog. Seigerhaus (ehem. Beginenhaus).

Von der Klausur des gleichzeitig mit dem Langensalzaer Franziskanerklosters im Jahr 1453 gegründeten Ordenshauses in Weimar blieben nur spärliche Mauerreste in der Ruine des barocken Zeughauses erhalten. Die Gestalt des Klosters überliefert aber ein Plan von Nikolaus Gromann aus dem Jahr 1548 (Abb. 39). Er zeigt die klassische Form einer vierseitig geschlossenen Klausur mit Kreuzgang. Der Schlafsaal der Mönche lag im Westen direkt an der Stadtmauer, im Ostflügel war u a. die „Liberey“ untergebracht. Bemerkenswert ist das „fürstlich Gemach“ im kirchenfernen Nordflügel, das auf die privilegierte Stellung des Klostergründers und -förderers Herzog Wilhelm III. hinweist, der sich auch in der Klosterkirche bestatten ließ. Wie in Langensalza soll auch in Weimar östlich der Franziskanerkirche, an der Ecke Geleitstraße/Rittergasse, ein Beginenhaus gestanden haben.55

55 Hans EBERHARDT, Die Anfänge und die ersten Jahrhunderte der Stadtentwicklung, in: Gitta GÜNTHER/Lothar WALLRAF (Hg.): Geschichte der Stadt Weimar, Weimar 1975, S. 65–138, hier S. 75.

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Abb. 39: Weimar, Franziskanerkloster, Ausschnitt aus dem Grundrissplan von Nikolaus Gromann, 1548

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Zu einem Klosterneubau kam es auch im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Jena.56 Mit der Verlegung des dortigen Karmeliterklosters wurde ein Neubau von Kirche und Kloster erforderlich. Von dem einst zweigeschossigen, mit einem Fachwerkstock versehenen Ostflügel – wohl dem einzigen vollendeten der spätmittelalterlichen Klausur – sind zwei Gewölberäume des Erdgeschosses überliefert: die Sakristei und der Kapitelsaal. Auch der etwa 2,60 m breite Kreuzgang ist archäologisch nachgewiesen (Abb. 40).

Abb. 40: Jena, ehem. Karmeliterkloster, Grundriss der beiden erhaltenen Erdgeschossräume, Zeichnung: Stadt Jena, Team Geoinformation

Dass es auch an anderen Orten zu Umbauten und Erweiterungen gekommen ist, sei abschließend nur am Rande notiert. So werden zum Beispiel Umbaumaßnahmen für die Zeit nach 1454 am Erfurter Barfüßerkloster bezeugt, in Jena sind in geringem Umfang noch Teile des um 1500 umgebauten Dominikanerklosters im alten Collegium Jenense erhalten geblieben und in Neustadt an der Orla konnten bei den Ausgrabungen im ehemaligen Augustinerkloster die Fundamente der spätgotischen Klausurgebäude, deren Errichtung nach den

56 RUPP, Das Karmeliterkloster zum Heiligen Kreuz (wie Anm. 6), S. 59–77 u. 84–86.

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Schriftquellen in den Jahren zwischen 1471 und 1502 erfolgte, nachgewiesen werden.57

3. Zusammenfassung Zieht man ein Resümee, so lassen sich für den Zeitraum von 1460 bis 1520 für etwa zwanzig Thüringer Klöster Bautätigkeiten feststellen, die zum Teil von erheblichem Umfang waren. Vollständige Neubauten waren allerdings selten, nicht zuletzt, weil nach der Mitte des 15. Jahrhunderts nur noch wenige Klöster gegründet wurden. Trotz dieser Einschränkungen lassen sich anhand des überlieferten Bestandes an Bauzeugnissen jener Zeit einige allgemeine Aussagen zu Charakter und Typik des spätmittelalterlichen Klosterbaus in Thüringen treffen. Im Kirchenbau gibt es bei den Klöstern Thüringens wenig Überraschendes. Hier griff man auf Bewährtes zurück. Die innovativen Raumschöpfungen der Zeit, etwa die obersächsischen Hallenkirchen, spielten keine Rolle. Auch Umgangschöre sucht man vergebens. Am ehesten lassen sich anhand von Einzelheiten wie Fenstermaßwerken, Portalgestaltungen und Gewölbeformen Veränderungen feststellen, die aber in ihrer Ausformung dem damaligen Zeitstil entsprechen. Auffallend ist lediglich, dass bei Mönchskirchen (Erfurt, Schottenkloster; Vacha, Servitenkloster; Weimar, Franziskaner) entgegen der allgemeinen Tendenz nicht der polygonale Ostschluss, sondern der schlichte Rechteckchor bevorzugt wurde. Dieser Wahl mag eine bewusste Abkehr von zeitgenössischen Repräsentationsformen zugrunde liegen und dürfte der Klosterreform in ihrem Bemühen um Wiederherstellung der alten Sitten und Gebräuche entsprochen haben. Eine solche Haltung ist zumindest bei den Weimarer Observanten wahrscheinlich. Der Umstand aber, dass die Nonnenkirchen dieser Zeit im Regelfall Chorpolygone haben, ist mit deren Doppelfunktion als Konvents- und als Pfarrkirche und der sich daraus ergebenden Einflussnahme der Gemeinde bzw. der Patronats- und Kirchenherren zu erklären.

57 Zum Erfurter Barfüßerkloster siehe HAETGE u. a. (Bearb.), Die Stadt Erfurt (wie Anm. 13), S. 154 f. (Regest 22). Zum Augustinerkloster in Neustadt an der Orla siehe Yvonne KRAMER/Michael BERNAST/Sandra BOCK, Das Augustiner-Eremitenkloster in Neustadt/Orla, Saale-Orla-Kreis, in: Neue Ausgrabungen und Funde in Thüringen 8 (2014/15), S. 131–166. Den Hinweis auf die spätgotischen Baureste des ehemaligen Dominikanerklosters im Collegium Jenense verdanke ich einer freundlichen Mitteilung von Matthias Rupp (Jena) am 4. Juli 2016. Die Teile befinden sich im sog. Hausmeisterflügel (Deckenbalken im Obergeschoss und Dachgeschoss von 1500/1501 [d]) und in den Räumen des Anatomischen Instituts (spätgotisches Vorhangbogenportal).

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Ein solcher Einfluss der Laienwelt auf die Klöster ist aber auch bei den Mönchskirchen, insbesondere der Bettelorden, nachzuweisen. Erweiterungen der Kirchen durch Anbau eines Seitenschiffs (Neustadt an der Orla, Weida) und der Einbau von Emporen (Arnstadt, Erfurt [Augustinerkirche], Neustadt an der Orla, Saalfeld) spiegeln nicht zuletzt das Bevölkerungswachstum in den spätmittelalterlichen Städten wider, das entsprechende Vergrößerungen erforderte. Trotz vorhandener Belege, dass die Emporen von der Laiengemeinde genutzt wurden und somit dieses wichtige Element der protestantischen Predigtkirche seine Wurzeln im spätmittelalterlichen Kirchenbau hat, gab es auch andere Nutzungsformen der Emporen, etwa als Standorte von Altären, Chören und Orgeln, die nicht vordergründig laikal bestimmt waren. Für die Nonnenemporen in den Stadtpfarrkirchen von Erfurt (St. Martini extra), Jena und Langensalza gilt dies ohnehin. In den Kontext laikaler Einflussnahme gehören aber die Kapellenbauten weltlicher Stifter an bzw. in den Kirchen der Mönche. Als Orte der Jenseitsfürsorge waren sie Teil des Memorialkults adliger und bürgerlicher Familien. Beispiele solcher privaten Kapellenstiftungen finden sich u. a. in Erfurt (Barfüßerkirche) und Saalfeld. In mehreren Fällen ist der Erneuerung der Kirche eine Erneuerung der Klausur vorangegangen. Wie Barbara Frank am Beispiel des Erfurter Petersklosters exemplarisch gezeigt hat, war die Erneuerung des Klosters Ausdruck einer Reform des Klosterlebens. In diesem Sinne lässt sich auch die Bautätigkeit an den Augustinereremitenklöstern in Erfurt, Gotha und Neustadt an der Orla deuten. Sie sind Ausdruck für den Anschluss der Konvente an die Observanz; auch für das Franziskanerkloster in Arnstadt darf ein solcher Zusammenhang vermutet werden. Allerdings gibt es auch umfängliche Baumaßnahmen an Klöstern, deren Gemeinschaften sich nicht der Observanz angeschlossen hatten, wie es zum Beispiel bei den Franziskanerklöstern in Erfurt und Saalfeld der Fall ist. So ist für das späte Mittelalter unabhängig der Reformbestrebungen ein allgemeines Bedürfnis nach baulicher Erneuerung feststellbar. Für die Frage nach einer baulichen Spezifik der Reformorden ist aber aufschlussreich, dass die Weimarer Observanten anders als die Konventualen auf den Bau eines Turmes verzichtet haben. Auch gab es in Weimar im kirchenfernen Nordflügel ein fürstliches Gemach. Für Thüringen dokumentiert dieser seltene Fall die unmittelbare Einflussnahme der Landesherrschaft auf den Klosterbau. Vor allem kommt aber die besonders enge Verbindung zwischen Stifter

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und Konvent zum Ausdruck, die außerdem in der Funktion der Weimarer Klosterkirche als herrschaftliche Grabstätte angezeigt ist.58 Bemerkenswert ist darüber hinaus das enge Verhältnis von Observanten und Tertiarinnen. Aufgrund der geistlichen Versorgung der Frauen durch die Franziskaner waren deren Niederlassungen oft benachbart. Ein Zeugnis dieser Symbiose ist das sog. Seigerhaus in Langensalza, das eines der wenigen in Deutschland erhalten gebliebenen Beginenhäuser sein dürfte. Das Observantenkloster von Langensalza hatte anders als das in Weimar keine geschlossene Klausur, sondern bestand nur aus einem einzigen Konventsbau. Ob mit dem sog. Amtshaus in Paulinzella ein ähnlicher Fall vorliegt, muss durch weitere Forschung geklärt werden.59 Dessen besonderes, bereits am Außenbau sichtbares Merkmal ist die Mischung aus Stein- und Fachwerkbau. Diese Kombination der Bauweisen war im späten Mittelalter durchaus gebräuchlich und ist auch andernorts, so in Nordhausen (Frauenbergkloster), Langensalza (Weißfrauenkloster) und Erfurt (Augustinerkloster, Peterskloster) nachgewiesen. In zahlreichen Fällen waren Umbauten in den Klöstern mit einer technischen Erneuerung des Heizsystems verbunden. So wurden bei der Neugestaltung der Refektorien in Erfurt (Augustinerkloster), Mildenfurth, Saalfeld und Veßra die älteren Steinofen-Luftheizungen durch Ofenheizungen ersetzt. Diese technische Modernisierung wurzelt in einer Veränderung der Wohnkultur, wie sie allgemein im späten Mittelalter mit der Einführung der Ofenfeuerung festzustellen ist.60 Hierzu gehört auch die Errichtung beheizbarer Holzstuben, die als klassisches Element des spätmittelalterlichen Hauses nunmehr auch in den Klöstern Aufnahme fand, so zum Beispiel in Eisenach (Predigerkloster), Erfurt

58 Bernd Schmies nennt den Weimarer Konvent mit Blick auf dessen enges Verhältnis zum Landesherrn „fürstenzentriert“. Bernd SCHMIES, Weimar, in: MÜLLER/EINHORN (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 8), S. 259–261, hier S. 260. 59 Für das Augustinereremitenkloster in Eisleben haben Ulf Petzschmann und Reinhard Schmitt den Nachweis geführt, dass der spätgotische, 1515/16 erfolgte Neubau des Klosters von vornherein nur aus einem einzigen Konventsbau bestehen sollte und keine geschlossene Klausur angestrebt war. Ulf PETZSCHMANN/Reinhard SCHMITT, Bauhistorische Forschungen und Ausgrabungen im Eisleber Augustiner-Eremitenkloster (Lkr. Mansfeld-Südharz) in den Jahren 2007 bis 2014, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 23 (2015), H. 2, S. 4–21. 60 Zu dem gleichlaufenden Prozess im Wohn- und Burgenbau siehe Thomas NITZ, Stadt – Bau – Geschichte. Stadtentwicklung und Wohnbau in Erfurt vom 12. bis zum 19. Jahrhundert (Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte, 2), Berlin 2005, S. 208–217; Stephan HOPPE, Hofstube und Tafelstube. Funktionale Raumdifferenzierungen auf mitteleuropäischen Adelssitzen seit dem Hochmittelalter, in: G. Ulrich GROßMANN (Hg.), Die Burg. Wissenschaftlicher Begleitband zu den Ausstellungen „Burg und Herrschaft“ und „Mythos Burg“, Dresden 2010, S. 196–207.

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(Predigerkloster), Nordhausen (Frauenbergkloster) und Paulinzella.61 In diesen Kontext sind auch ofenbeheizte holzgedeckte Stuben wie der Kapitelsaal im Ostflügel des Saalfelder Franziskanerklosters zu stellen. Im Zusammenhang mit der Veränderung der Heiztechnik stehen außerdem Erneuerungen der Küchen, die im Regelfall mit dem Umbau der Refektorien einhergingen, so in Veßra, Mildenfurth und wohl auch in Saalfeld. Kennzeichnend für das späte Mittelalter sind auch Umbauten der Schlafsäle. Spätestens jetzt gab es durch Zwischenwände getrennte Einzelzellen. Bauliche Nachweise für Zelleneinbauten sind aber selten (Arnstadt; Eisenach [Predigerkloster]). Allerdings bestätigen Schrift- und Bildquellen deren Existenz, so u. a. für das Saalfelder Franziskanerkloster und die Erfurter Niederlassungen der Augustinereremiten und der Dominikaner.62 Der in der hier betrachteten Zeit mehrfach nachweisbare Bau von Bibliotheken ist ein Hinweis auf die veränderte Bedeutung und Funktion von Büchern, die im späten Mittelalter vermehrt zum privaten Studium genutzt werden. Diesem veränderten Verhältnis zum Buch entsprechen die nunmehr errichteten Studienbibliotheken, die als eigenständige Räume oft über der Sakristei (Arnstadt, Erfurt [Augustiner], Saalfeld) angelegt werden. Auch dort, wo sie sich nicht direkt bei der Sakristei, sondern andernorts im Kloster befanden (Erfurt, Barfüßerkloster), blieb die Verbindung zu den Arbeitsräumen der Mönche gegeben. Die umfänglichen Buchbestände der Klöster, über die im 15. Jahrhundert etwa die Erfurter Klöster der Benediktiner (Peterskloster), Kartäuser und Serviten verfügten, verlangten nach entsprechenden Räumlichkeiten.63 Unter den damals entstandenen Bibliotheksbauten ist der des Erfurter Augustinerklosters der bedeutendste, nicht nur der Größe und repräsentativen Gestaltung nach, sondern auch wegen seiner besonderen Nutzung als Ort der Universität.

61 Die Entstehungszeit der großen Holzstube im Erfurter Predigerkloster ist nicht bekannt, dürfte aber gleichfalls ins 15. Jahrhundert fallen. Diese als Refektorium genutzte Stube wurde 1580 abgebrochen und im Erfurter Rathaus als große Ratsstube wiederverwendet. Fritz WIEGAND, Das Rathaus und der Fischmarkt in Erfurt, Erfurt 1961, S. 83–89 u. S. 87 (Abb. 22). Vgl. hierzu auch Rainer MÜLLER, Die Klöster der Bettelorden in Erfurt. Geschichte, Gestalt und Funktion, in: Vom Leben in Kloster und Stift [Wissenschaftliche Tagung zur Bauforschung im mitteldeutschen Raum vom 7. bis 9. April 2016 im Kloster Huysburg], Arbeitsberichte des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen (erscheint voraussichtlich 2017). 62 Zu Saalfeld siehe DONHOF, Baugeschichtliche Forschungen (wie Anm. 30), S. 22; DERS., Franziskanerkloster Saalfeld, baugeschichtliche Untersuchung (wie Anm. 32). Zu Erfurt siehe MÜLLER, Klöster (wie Anm. 61). 63 KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis, Bd. 1 (wie Anm. 45), S. 363 f.

STEFAN MICHEL FRIEDRICH UND JOHANN VON SACHSEN ALS FÖRDERER UND SCHUTZHERREN

Friedrich und Johann von Sachsen als Förderer und Schutzherren der Klöster in Kursachsen zwischen 1486 und 1525 Beobachtungen zu ernestinischer Kirchenpolitik und Frömmigkeit

Klöster waren Zentren des geistlichen Lebens im Spätmittelalter, die mit ihren Gottesdiensten entscheidend zum Landeswohl beitrugen. Als Stätten der Bildung oder der Versorgung Bedürftiger1 waren sie aus dem sozialen Leben nicht wegzudenken. Jedoch verdrängte die Reformation die monastische Lebensform mit ihrer vielfältigen Frömmigkeit binnen weniger Jahre.2 Gerade im heutigen Mitteldeutschland bestand eine hohe Dichte von Klöstern verschiedenster Orden. Jedoch ist der Einfluss Friedrichs des Weisen (1463–1525) und seines Bruders Johann des Beständigen (1468–1532) auf diese Klöster zwischen 1486 und 1525, der Zeit ihrer gemeinsamen Regierung, nahezu unerforscht. Dass es zu diesem Thema – abgesehen von Manfred Schulzes gebündelter Darstellung aus dem Jahr 19913 – keine neueren Forschungen gibt, hängt zweifelsohne mit dem viel größeren Desiderat an grundlegenden Studien zu Klöstern und Orden in Mitteldeutschland um und nach 1500 zusammen. Lediglich zu den

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Ich danke meinen Kolleginnen Dr. Ulrike Ludwig und Dr. Beate Kusche für vielfältige Diskussionen, Hinweise und Korrekturen. 1507 trat die Witwe des Weimarer Schossers Johann Meckenlor mit ihren drei Töchtern in das Kloster Oberweimar ein, um dort ihre Versorgung zu haben. Ihre älteste Tochter wurde ebenda 1512 Äbtissin. Im Bauernkrieg verließen die vier Frauen das Kloster, vgl. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv (im Folgenden: LATh-HStA Weimar, EGA), Reg. Kk 1691. Dies zeigen folgende Studien zu anderen Territorien: Johannes SCHILLING, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 67), Gütersloh 1997; Dieter STIEVERMANN, Landesherrschaft und Klosterwesen im spätmittelalterlichen Württemberg, Sigmaringen 1989; Markus VOLLRAT, Welfische Klosterpolitik im 16. Jahrhundert. Ein Spiegelbild der Fürstenreformation im Reich? (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 135), Hannover 2012. Vgl. Manfred SCHULZE, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen, 2), Tübingen 1991, S. 129–191.

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Franziskanern4 und dem Deutschen Orden5 sowie einzelnen Klöstern gibt es wenige neuere Untersuchungen.6 In der Regel ist aber der harte Schnitt in der Geschichtswissenschaft zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit auch bei diesem Thema zu bemerken: Während man für die Zeit bis 1500 durchaus eine Reihe von Studien findet, scheint die Zeit danach nahezu vergessen zu sein. Es ist eben das Ende der Klöster, das man nur konstatieren kann. Aber auch die Kirchengeschichte hat sich bisher des Themas nicht angenommen, was einerseits der Materialfülle7 sowie andererseits einem gewissen Desinteresse geschuldet sein kann. Möglicherweise wirkte an dieser Stelle das Verdikt Luthers von der Verfallenheit und Sittenlosigkeit der Orden nach, das die Erforschung nicht gerade stimulierte. Ähnlich schmal ist der Forschungsstand zur übrigen Kirchenpolitik der beiden Brüder Friedrich und Johann von Sachsen.8 Für Friedrich kann man 4

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Vgl. Thomas T. MÜLLER/Bernd SCHMIES/Christian LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen – Text- und Katalogband zur Ausstellung in den Mühlhäuser Museen vom 29. März bis 31. Oktober 2008, Paderborn u. a. 2008; Roland PIEPER/Jürgen Werinhard EINHORN, Franziskaner zwischen Ostsee, Thüringer Wald und Erzgebirge. Bauten – Bilder – Botschaften, Paderborn u. a. 2005. Vgl. Thomas T. MÜLLER (Hg.), Der Deutsche Orden und Thüringen. Aspekte einer 800jährigen Geschichte, Petersberg 2014; Bernhard DEMEL, Die Ballei Thüringen des Deutschen Ordens. Vorgeschichte, Reformationszeitalter, Ausblick, in: Herbergen der Christenheit 21/22 (1997/98), S. 9–48; Bernhard SOMMERLAD, Der Deutsche Orden in Thüringen. Geschichte der Deutschordensballei Thüringen von ihrer Gründung bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur thüringisch-sächsischen Geschichte, 10), Halle 1931. Zu nennen wären: Anne-Katrin KÖHLER, Geschichte des Klosters Nimbschen. Von der Gründung 1243 bis zu seinem Ende 1536/1542 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 7), Leipzig 2003; Enno BÜNZ, Martin Luthers Orden in Neustadt an der Orla. Das Kloster der Augustiner-Eremiten und seine Mönche (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 13), Jena 2007. Einen grundlegenden Überblick – allerdings nur über die thüringischen Teile des ehemaligen Kurfürstentums – gewährt Bernhard OPFERMANN, Die thüringischen Klöster vor 1800. Eine Übersicht, Leipzig/Heiligenstadt 1959. Vgl. auch Robert HERMANN, Verzeichniß der in den Sachsen-Ernestinischen, Schwarzburgischen und Reußischen Landen, sowie den K. Preuß. Kreisen Schleusingen und Schmalkalden bis zur Reformation vorhanden gewesenen Stifter, Klöster und Ordenshäuser, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Alterthumskunde 7 (1870), S. 1–75. Im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar wäre nicht nur der Bestand Reg. Kk (Klöster), sondern auch Reg. Oo (Klosterurkunden, geistliche Urkunden und Sequestrationsangelegenheiten) des Ernestinischen Gesamtarchivs durchzusehen. Vgl. zum Bestand Reg. Oo den Beitrag von Volker Graupner in diesem Band. Siehe hierzu das Editionsprojekt an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig „Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung“: www.friedrich-und-johann.de.

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immerhin auf Paul Kirns Leipziger Habilitationsschrift aus dem Jahr 1926 zum Thema „Friedrich der Weise und die Kirche“ verweisen, in der es auch ein Kapitel „Friedrich der Weise und die Klöster“ gibt.9 Vielfach wird trotz dieser übersichtlichen Forschungslage kurzerhand angenommen, dass die Kirchenund damit auch die Klosterpolitik ihres albertinischen Vetters, Herzog Georg von Sachsen (1471–1539), moderner gewesen sei. Hintergrund dieser Annahme ist das Vorhandensein mehrerer einschlägiger Arbeiten zu Georgs Kirchenpolitik.10 Statt jedoch eine moderne albertinische gegenüber einer rückständigen ernestinischen Klosterpolitik zu postulieren, sollte mit dem Ziel eines historisch gerechtfertigten Urteils stärker auf gesamtwettinische Interessen geachtet werden. Ein Vergleich zwischen ernestinischer und albertinischer Klosterpolitik würde möglicherweise erstaunliche Konvergenzen herausstellen. Dieser Beitrag kann aufgrund der skizzierten Forschungslage nicht mehr als erste Überlegungen und Beobachtungen für Friedrich den Weisen und Johann den Beständigen anhand einiger mehr oder weniger zufälliger Beispiele bieten. Beide Brüder setzten sich seit 1486, dem Jahr, als Friedrich die Kurwürde übernahm, gemeinsam mit den Nöten und Problemen der etwa 100 Klöster auseinander, die in ihrem Territorium lagen. Ihr Einwirken auf Klöster war Teil ihrer Politik, näher betrachtet ihrer Kirchenpolitik, als dem planvollen Agieren und Reagieren in kirchlichen Belangen. Mit dem Tod Friedrichs des Weisen im Jahr 1525 enden diese Ausführungen, weil nach dem Bauernkrieg ein neues Kapitel in der kursächsischen Klosterpolitik beginnt,11 das von der Reformation unter Kurfürst Johann von Sachsen geprägt war und vor allem unter dessen Sohn Johann Friedrich in die Sequestration der Klostergüter führte.12 Hier wäre vor allem Kurfürst Johanns Haltung genauer zu untersuchen, der nach 1525 im Ruf stand, die Mönche und Nonnen aus ihren Klöstern zu vertreiben.13 9

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Vgl. Paul KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche. Seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517. Dargestellt nach den Akten im Thüringischen Staatsarchiv zu Weimar, Leipzig 1926 (ND Hildesheim 1972), S. 71–106. Vgl. Felician GESS, Die Klostervisitationen des Herzog Georg von Sachsen. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1888; Christoph VOLKMAR, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 41), Tübingen 2008, bes. S. 251–263. Vgl. Stefan MICHEL, Eine kursächsische Klostervisitation aus dem Jahr 1526, in: Dagmar BLAHA/Christopher SPEHR (Hg.), Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen, Leipzig 2016, S. 107–119. Vgl. Alfred HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter in den kursächsischen Landkreisen Meißen, Vogtland und Sachsen 1531 bis 1543, Plauen 1911 (zugleich in: Mitteilungen des Altertumsvereins zu Plauen 22 [1912], S. 1–135). So schrieb am 16. Juni 1526 Landgraf Philipp von Hessen an Herzog Johann Friedrich von Sachsen: „[…] nu gehet ein gemeine geschrei, wie das E.L. her vater die monch und nonnenus den clostern ja mit gewalt und in nichts geben und mit dem clostergut auch

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1. Die Klöster als Teil kursächsischer Politik Die wettinische Klosterpolitik der Brüder Friedrich und Johann von Sachsen hatte vor der Reformation eine lange Tradition. Die Wurzeln dafür – zu denken ist vor allem an Landgraf Friedrich den Friedfertigen von Thüringen (1384– 1440) und seinen Neffen Wilhelm III. (1425–1482) – liegen weit vor der Leipziger Teilung von 1485.14 Bei allen eigenständigen Akzenten ernestinischer und albertinischer Kirchenpolitik ist auch nach 1485 stets von gemeinsamen wettinischen Interessen und Familientraditionen auszugehen, die in zahlreichen Verhandlungen und Absprachen untereinander zu fassen sind. Durch die permanente Einflussnahme der Landesherren war es 1520 sogar so weit gekommen, dass der Bischof von Naumburg Friedrich den Weisen fragen ließ, ob dieser die Aufsicht über die Klöster in seinem Bistum innehabe.15 Eine ähnlich dominierende Stellung nahm Friedrichs albertinischer Vetter, Herzog Georg von Sachsen, ein, dessen Kirchenpolitik bezogen auf sein Herrschaftsgebiet vor der Reformation nahezu identisch mit der der Ernestiner war.16 Allgemein kann festgehalten werden, dass das Ziel dieser Politik einen Ausbau landesherrlicher Rechte darstellte, was unter dem Schlagwort der Territorialisierung zu fassen ist. Der Einfluss der Bischöfe sollte eingegrenzt werden. Indem Landesherren die Klöster, die in ihrem Territorium lagen, stärker kontrollierten, verstärkten sie ihren Einfluss auf kirchliche Strukturen und Entscheidungen. Zudem konnte durch eine weitreichende landesherrliche Kontrolle der Klöster ihr Einfluss auf das Landeswohl gesteigert werden. Der klösterliche Gottesdienst einerseits und der Schulunterricht in Klöstern andererseits stellten für das Wohl eines Territo-

ubel gehandelt wirt und closterleut daruber zu huren und buben werden.“ (Vgl. Georg MENTZ, Über ein 1525 und 1526 geplantes Religionsgespräch zur Beseitigung des Gegensatzes zwischen Ernestinern und Albertinern, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Alterthumskunde 22 (1904), S. 229–238, hier S. 233). 14 Vgl. Wilhelm WINTRUFF, Landesherrliche Kirchenpolitik in Thüringen am Ausgang des Mittelalters (Forschungen zur Thüringisch-Sächsischen Geschichte, 5), Halle 1914, bes. S. 20–23 u. 54–79; SCHULZE, Fürsten und Reformation (wie Anm. 3), passim. Einen grundsätzlichen Überblick bietet Justus HASHAGEN, Staat und Kirche vor der Reformation. Eine Untersuchung der vorreformatorischen Bedeutung des Laieneinflusses in der Kirche, Essen 1931, passim. 15 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 89. 16 Vgl. VOLKMAR, Reform statt Reformation (wie Anm. 10), passim. Herzog Georg von Sachsen führte in den 1530er Jahren eigenständige Klostervisitationen durch, die das Fortschreiten der Reformation verhindern und die Ordnung in den Klöstern wieder heben sollten, vgl. GESS, Die Klostervisitationen des Herzog Georg von Sachsen (wie Anm. 10).

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riums zentrale kirchliche Aufgaben dar.17 Deshalb mussten die Aufgaben von den Klöstern ordnungsgemäß erfüllt werden. Diese starke Stellung gegenüber den Klöstern hatten die Wettiner durch verschiedene Schwerpunkte ihrer gezielten Einflussnahme gewonnen. An erster Stelle steht hierbei sicher das Privileg zur Visitation, das sie zum Teil aus Vogteirechten ableiteten. Allerdings hatten sie dieses Privileg nicht direkt erlangen können, sondern Papst Innozenz VIII. (1432–1492) hatte 1484 den Bischöfen von Meißen und Merseburg die Vollmacht zur Visitation der Klöster erteilt, wozu sie weltliche Räte der Wettiner hinzuziehen sollten.18 Dieses Privileg galt nicht für die Ritter- und Bettelorden. Für die übrigen Orden hatte dieses Privileg zur Folge, dass die angestoßenen Reformen auf die Einführung der Observanz zielten.19 Gleichwohl waren die Wettiner dadurch nur zu situativen Visitationen berechtigt, die auf konkrete Missstände in einem bestimmten Kloster reagierten.20 Dessen ungeachtet versuchten sie bei zuständigen Bischöfen und Ordensleitungen, weitere Visitationen anzustoßen oder zu beeinflussen, um ihre Interessen durchzusetzen.21

17 Vgl. Ralph WEINBRENNER, Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustineremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz, Tübingen 1996, S. 21. 18 Vgl. Urkundenbuch des Hochstifts Meissen, Teil 3: 1423–1581, hg. von Ernst Gotthelf GERSDORF (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II/3), Leipzig 1867, S. 270, Nr. 1250; Georg MÜLLER, Reformation und Visitation sächsischer Klöster gegen Ende des 15. Jahrhunderts, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 38 (1917), S. 46–74, hier S. 50. Eine Abschrift dieses Privilegs befindet sich in LATh-HStA Weimar, EGA, Kop. F 6, fol. 38v–42v. 19 Zur franziskanischen Observanzbewegung vgl. Ferdinand DOELLE, Reformtätigkeit des Provinzials Ludwig Henning in der sächsischen Franziskanerprovinz 1507–1515 (Franziskanische Studien, Beiheft 3), Münster 1915; DERS., Die Observanzbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz (Mittel- und Ostdeutschland) bis zum Generalkapitel von Parma 1529 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 30/31), Münster 1918, passim; Volker HONEMANN, Die Reformbewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts in der Saxonia, in: Volker HONEMANN (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskaner-Provinz von der Gründung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Paderborn 2015, S. 45–163. Einen grundlegenden Überblick bietet: Kaspar ELM (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner historische Studien, 14), Berlin 1989. 20 VOLKMAR, Reform statt Reformation (wie Anm. 10), S. 259. 21 Vgl. SCHULZE, Fürsten und Reformation (wie Anm. 3), S. 143 f.

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Die zweite bevorzugte Art der Einmischung in klösterliche Belange bestand in der Einsetzung von Klostervorstehern oder Verwaltern, die die Aufsicht über die Klostergüter übernahmen.22 Auf diese Weise konnten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klöster kontrolliert werden. Insbesondere in Klöstern, die bisher nicht gut gewirtschaftet hatten, führte die Einsetzung eines solchen Klostervorstehers häufig zur Verbesserung der Finanzen. Dadurch konnten Reformen der bestehenden Verhältnisse gefördert werden. Die Wettiner erlangten auf diese Weise eine Kontrolle über die Klosterrechnungen. Zudem gab es seitens der Landesherrschaft häufig Versuche, auf die Wahl eines Abts oder einer Priorin Einfluss zu nehmen, die dann die eingeschlagene Reformpolitik fortsetzen sollten.23 Klostervorsteher sorgten auch hier für die notwendigen Hintergrundinformationen. Schließlich muss an dritter Stelle die strenge Aufsicht der Ernestiner über die Gerichtsbarkeit einzelner Klöster genannt werden. Häufig sind Streitigkeiten zwischen Klöstern und Amtleuten belegt, weil zum Beispiel beide Seiten die Gerichtsbarkeit über ein Dorf für sich beanspruchten.24 Die Ernestiner achteten in diesem Zusammenhang genau darauf, dass ihre Untertanen in weltlichen Angelegenheiten nicht vor geistliche Gerichte geladen wurden. So schrieb Herzog Johann beispielsweise am 6. Dezember 1516 an den Dekan des Domstifts zu Naumburg, dass der Offizial zu Zeitz verschiedene Frauen vor Gericht einbestellt habe. Zudem wurde von ihm auch ein Mann aus dem Amt Ronneburg vorgeladen, der über Nacht im Stock lag. Darüber seien Kurfürst Friedrich und er sehr befremdet, da dem Offizial dies nicht zustehe.25 Ähnlich gingen die beiden ernestinischen Brüder oder ihre Verwaltungseliten bei einer Reihe von Klöstern vor. Die Möglichkeiten der Einflussnahme durch einen Landesherrn auf Klöster seines Territoriums gingen aber noch über die drei angeführten Punkte hinaus: Grundsätzlich waren um 1500 fast alle Klöster im Bereich der Wettiner zu bestimmten Diensten oder Abgaben gegenüber dem Landesherrn verpflichtet. Dazu gehörte die Pflicht zur Beherbergung oder zur Stellung von Wagen für Fuhrdienste oder im Kriegsfall. Gerade im Herbst mussten Klöster häufig Fuhrwerke stellen, um die Ernte einzubringen und Teile davon, die der Landesherrschaft zustanden, im jeweiligen Amt als zuständigem Verwaltungszentrum abzugeben. Die meisten Klöster waren steuerpflichtig oder hatten bestimmte 22 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 95 f.; VOLKMAR, Reform statt Reformation (wie Anm. 10), S. 253 f. 23 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 97 f. 24 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 71; Reg. Kk 131a; Reg. Kk 184; Reg. Kk 459; Reg. Kk 471; Reg. Kk 491; Reg. Kk 1230. 25 Vgl. ebd., Reg. Kk 952, fol. 1rv.

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Naturalabgaben zu entrichten.26 Die Landesherren konnten die Klöster davon befreien,27 um beispielsweise eine begonnene Reform zu unterstützen.

2. Förderung der Klöster durch Reformation Reformation war ein Schlagwort, das im 15. Jahrhundert durchaus in aller Munde war.28 Nicht nur in den Orden gab es Bewegungen, die auf strenge Einhaltung der Regeln und Befolgung der Ideale der Ordensgründer drangen. Man wollte zurück zu den Anfängen. Auch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation sollte es eine Reformation geben. Die Reformation diente allgemein dazu, den Zustand einer Institution zu verbessern. Der Gedanke der Reformation war verknüpft mit spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ordnungsvorstellungen, die insgesamt der Sicherung des Friedens dienten. Friedrich und Johann von Sachsen setzten deshalb die reformerische Klosterpolitik ihrer Vorfahren, die auf eine Stärkung der Observanz zielte, fort und nutzten dafür auch das päpstliche Privileg zur Visitation einiger Klöster ihres Territoriums. Dieses brauchten sie auch dringend, da man sich die Situation in den Klöstern Mitteldeutschlands vor 1500 wohl gar nicht bunt genug vorstellen kann. Beispielsweise waren alle Bettelorden – also Dominikaner, Franziskaner und Augustinereremiten – in zwei Parteien gespalten, was zu zahlreichen Streitfällen führte, die bis vor den Kurfürsten gelangten, der sie schlichten sollte. Während Dominikaner und Franziskaner in mehreren Fällen um fürstliche Unterstützung nachsuchten, finden sich solche Belege für die Augustinereremiten nicht. Allerdings wirkten die Wettiner auch auf die Observanzbewegung der Augustinereremiten ein: Ihr Provinzial Andreas Proles (1429–1503) sollte überall ungehindert predigen dürfen.29 26 KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 89–94; Herbert HELBIG, Der wettinische Ständestaat. Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485 (Mitteldeutsche Forschungen, 4), Köln/Wien ²1980, S. 367–374. 27 Vgl. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen (im Folgenden: LATh-StA Meiningen), Kloster Allendorf/Urkunden, Nr. 454 = Johannes MÖTSCH, Fuldische Frauenklöster in Thüringen. Regesten zur Geschichte der Klöster Allendorf, Kapellendorf und Zella, Rhön (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe 5), München/Jena 1999, S. 174, Nr. A 443 (Herzog Johann befreit das Kloster Allendorf nach seiner Reform von allen Diensten und Fronen, 22. Mai 1514). 28 Vgl. Jürgen MIETHKE, Reform, Reformation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart 1995, Sp. 543–550; Heinz ANGERMEIER, Reichsreform und Reformation, München 1983. 29 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 104; WEINBRENNER, Klosterreform im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), bes. S. 136–221.

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In allen Fällen von Klosterreformen begünstigten Friedrich und Johann die jeweils strengere Richtung. Dies kann eindrucksvoll an Friedrichs Testament von 1493 belegt werden: Er wollte nur dann im gerade reformierten Benediktinerkloster Reinhardsbrunn begraben werden, wenn die Konventualen die Reform auch beibehielten. Andersfalls wünschte er eine Beisetzung in Meißen.30 1487 erließen beide Brüder einen Befehl an ihre Amtleute zu Jena, Plauen, Wartburg und Eisenach, in dem sie eine Sicherung der erreichten Reformen in den dortigen Dominikanerklöstern wünschten, die unter Kurfürst Ernst sowie den Herzögen Wilhelm und Albrecht begonnen worden waren. Sollten Handlungen von umherziehenden konventualen Brüdern gegen diese Reformen auftreten, so sollten die Amtleute dagegen einschreiten.31 Ein ähnliches Ausschreiben erließ Herzog Johann 1513 an alle Amtleute, Schosser, Bürgermeister, Stadträte und Gemeinden des Kurfürstentums. Die Kustoden des Franziskanerordens von Leipzig und Thüringen, Johann Weygnant und Johann Schambach, hatten ihn über die Nichteinhaltung der

30 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Urkunde 674. 31 Vgl. ebd., Reg. Kk 739 („Reformation des Predigerclosters zu Leipzigk 1487/88“), fol. 6rv: „Von gots gnaden Friderich churfurst etc. und Johanns gebrudere, hertzogen zu Sachßen. Lieben getreuen, es ist offennbar am tag, euch und andern bewußt, das in kurtzvorganngen jarn, die closter prediger ordens bey euch und annders in unnseren landen als die bruder dorinn in eym jaren unordenlichen stande gewest, an narunghe und aller enthaldunghe gar ubl gestanden. Aber syder dye durch mercklichen vleiss und nicht gerynnge ufflegung der hochgebornen fursten, unnsers lieben vaters, auch unnsers vedtern hertzogen Wilhelms seliger und loblicher gedechtnuß und unnsers vedtern hertzogen Albrechts zu der loblichen reformacion gebracht, dorinn mit ufrichtigem wesen gotlichem dienst und anderen geistlichem ordenlichen wesen, dazu entheltlicher narung scheynlich ufgestigen und alßo an uns komen seynd. Gelanngt uns an, wie durch die bruder deß selbigen ordens in unreformirtem, irrem wesen noch sthende, vileycht durch anreyssunghe deß bößen feyndes in manicherley verborgner list doruf arbeth, die reformirten closter irs ordenlichen wesens zuvorstoren und wider in das vorig ungotlich irrhe wesen infuren, das uns zugescheen ganntz wider und unleydlich were, dorumb ist unnser beger, heyssen und bevelen euch auch mit ernst, das ir deß ein vleissig ufsehen habt. Und ab ichts derhalben dem closter und brudern gemelts ordens bey euch zu widerwertigkeyt und schaden, durch wen oder wie das geschehe, furgenomen wurde, sye dann vor schnelligklichem infall, gewalt, unrecht und schaden von unnseren wegen notdurftigklich schützet und verteydinget. Nymands wider irn willen eynlasset, prior adder ambtbruder und person unentsatzt und unvoranndert behaldet, und sye bey irem hergbrachten reformirtten ordenlichen wesen hanndthabt, biß an uns. Doran thut ir unnserer meynung. Gegeben zu Nürmbergk uf Mitwochen nach Exaudi 1487. Item Ambtleuten und Rethen zu Plauen, Wartberg und Ißnach.“ Vgl. auch MÜLLER, Reformation und Visitation (wie Anm. 18), S. 51; Urkundenbuch der Stadt Leipzig. Bd. 3, hg. von Joseph FÖRSTEMANN (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II/10), Leipzig 1894, S. 177.

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Ordensregeln durch einige Brüder in Kursachsen informiert. Der Herzog ordnete nun an, dass die genannten Verwaltungseliten die Ordensoberen unterstützen sollten, wenn sie ihnen ungehorsame Brüder meldeten.32 Als am 23. April 1520 Hermann Rabe, der Provinzial der sächsischen Dominikaner, Kurfürst Friedrich um ein ähnliches Schreiben an dessen Amtleute, Bürgermeister und Richter bat, die die Ordensleitung gegen Personen schützen sollten, die die Messen störten oder das Terminieren beeinträchtigten,33 wurde ihm diese Bitte nicht erfüllt. Friedrich antwortete nach drei Wochen ausweichend: Er würde Rabe gern ein solches Schreiben ausstellen, könne dies jedoch nicht, weil er nicht wüsste, welche Orte und Personen davon betroffen seien. Nur auf eine konkrete Anzeige hin könnten er und sein Bruder handeln.34 An diesem Beispiel sieht man den Bruch der Reformation besonders deutlich: Während Friedrich und Johann von Sachsen vor 1520 dem Wunsch Rabes mit Sicherheit entsprochen hätten, war dies nun nicht mehr möglich. Die inzwischen eingetretenen theologischen Änderungen waren zu gravierend. Das probateste Mittel zur Durchsetzung einer angemessenen Klosterzucht vor 1520 war die Visitation. Dieses Instrument nutzen die Ernestiner ausgiebig, indem sie entweder die zuständigen Visitatoren eines Ordens aufforderten, in einem bestimmten Kloster nach dem Rechten zu sehen, oder die Bischöfe, beispielsweise von Naumburg, um die Erlaubnis zur Visitation baten. Nicht selten entsandten sie eigene Räte oder Amtleute, die eine Visitation durchführen oder rechtlich absichern sollten. 1493 wünschte Kurfürst Friedrich von Bischof Johann VI. von Meißen (1444–1518), nachdem sich die Antoniter über eine steigende Konkurrenz beim Sammeln von Almosen beklagt hatten, dass keine weiteren Stationierer oder Terminierer mehr in seinem Territorium zugelassen würden. Der Abbruch durch ihre Konkurrenz sei zu groß. Diese Maßnahme kann als Territorialisierung des Terminierwesens begriffen werden, die die Stellung der Mendikantenklöster im Kurfürstentum stärkte.35 Schließlich soll noch eine Möglichkeit zur Förderung der Klosterreform erwähnt werden: Dem Augustinereremitenkloster Herzberg, das kurz zuvor der Observanz zugeführt worden war, inkorporierte Kurfürst Friedrich 1493 die

32 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 756, fol. 1r. Zum Hintergrund vgl. SCHULZE, Fürsten und Reformation (wie Anm. 3), S. 184–191. 33 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 750, Bl. 1rv (Hermann Rabe an Kurfürst Friedrich. Leipzig, 23. April 1520). 34 Ebd., Reg. Kk 750, Bl. 2r–3v (Kurfürst Friedrich an Hermann Rabe. Lochau, 14. Mai 1520). 35 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 120 f.; SCHULZE, Fürsten und Reformation (wie Anm. 3), S. 146–148.

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Herzberger Pfarrei.36 Hierdurch sollten die Wirtschaft des Klosters und die Seelsorge in der Stadt gefördert werden. Allerdings funktionierte diese Lösung offenbar nicht so wie erhofft, so dass Friedrich die Inkorporation 1515 rückgängig machen wollte. Erst 1524 verzichtete der Konvent auf die ihm übertragenen Pfarreirechte.

3. Förderung der Klöster durch Stiftungen und Zuwendungen Trotz dieser wirtschaftlichen Eingriffe kann nicht gesagt werden, dass die Herzöge von Sachsen die Klöster ihres Territoriums ausbeuteten. Vielmehr belegen zahlreiche Stiftungen,37 dass die Herzöge das Leben in den Klöstern aktiv förderten.38 Die Klöster sollten vor allem ihren geistlichen Funktionen nachkommen, an denen Friedrich und Johann aufgrund ihrer Frömmigkeit einerseits und wegen des Landeswohls andererseits interessiert waren. Für das Interesse an klösterlicher Frömmigkeit spricht beispielsweise, dass Herzog Johann vor Ostern 1513 für drei Tage in das Weimarer Franziskanerkloster ging, um sich angemessen auf das Hochfest vorzubereiten.39 Ein herausragendes Zeugnis dieser aus innerem Antrieb heraus fördernden Seite der wettinischen Klosterpolitik stellen die Testamente Johanns und Friedrichs von Sachsen aus den Jahren 1516 und 1517 dar, in denen sie jeweils 50 Klöster mit Stiftungen bedachten.40 Dadurch sollten offenbar begonnene Reformen unterstützt werden. Zugleich dienten diese testamentarischen Stiftungen der Sicherung der Memoria der beiden Fürsten. Die geförderten Konvente hätten Friedrich und Johann von Sachsen im Gegenzug für die testamentarisch verfügte Vollstreckung der Stiftung zweifellos in ihre Fürbittenlisten aufgenommen.

36 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 87 f.; Adalbero KUNZELMANN, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten. Bd. 5: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden (Cassiciacum, 26,5), Würzburg 1974, S. 272–276; SCHULZE, Fürsten und Reformation (wie Anm. 3), S. 164. 37 Zum Stiftungswesen vgl. Anne-Katrin KÖHLER, Zu Formen der Stiftung und Stiftungspraxis im Spätmittelalter, in: Holger KUNDE u. a. (Hg.), Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg, Bd. 2, Petersberg 2005, S. 111–120. 38 Vgl. Georg BUCHWALD, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit am Kursächsischen Hofe kurz vor der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 27 (1930), S. 62–110, hier bes. S. 63 f. 39 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 95, fol. 141v. 40 Vgl. KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 105 f.

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Die Stiftungen der beiden Ernestiner waren sehr vielfältig: Häufig gaben sie Geld, damit Messen gelesen werden konnten.41 Gelegentlich stifteten sie aber auch Messgewänder42 oder Altartücher.43 Zudem finanzierten sie nicht nur Luther eine neue Kutte,44 sondern auch einer Reihe anderer Mönche.45 Weiterhin gaben sie regelmäßig Geld zum Bau eines Klosters,46 gern auch für ein neues Fenster, das ihr Wappen zeigte.47 Schließlich spendeten Friedrich und Johann von Sachsen mehreren Klöstern Geld zur Unterstützung ihres Unterhalts. Als besondere Form dieser Förderung ließen sie in einige Konvente beispielsweise Fisch liefern.48 Gegengaben für diese Unterstützung, auf die die Konvente wesentlich angewiesen waren, stellten nicht nur regelmäßige Gebete dar. 1514 übersandte Anna von der Lochau, Priorin des Augustinerinnenklosters Brehna, Kurfürst Friedrich ein Gebetbuch, das eine ihrer Ordensschwestern aus mehreren Gebetbüchern zusammengestellt hatte.49 Im gleichen Jahr bot Martin, der Abt des

41 Vgl. BUCHWALD, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 38), S. 77 (Franziskanerkloster Torgau, 1513) u. 97 (Vollzug der Torgauer Messstiftung von 1493, 1516). 42 Vgl. ebd., S. 74 (Zisterzienserkloster Dobrilugk, 1512). 43 Vgl. ebd. (Augustinereremitenkloster Wittenberg, 1512). 44 Vgl. das Bittschreiben Luthers an Kurfürst Friedrich von Sachsen vom November 1517, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 4: Briefwechsel, Bd. 1, S. 119 f., Nr. 51. 45 Vgl. BUCHWALD, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 38), S. 89 (für einen Dominikaner in Weida, 1515) u. 110 (für den Guardian des Franziskanerklosters Coburg, 1521). 46 Vgl. ebd., S. 80 (Franziskanerkloster Zerbst, 1513), 86 (Franziskanerkloster Zerbst, 1513), 90 (Franziskanerkloster Weida, 1515), 96 (Dominikanerkloster Herzberg, 1516) u. 106 (Zisterzienserinnenkloster Eisenberg, 1519). Kurfürst Friedrich unterstützte auch die Dominikanerinnen in Weida beim Bau eines neuen Schlafhauses, vgl. Stefan MICHEL, Ein religiöses Zentrum des Vogtlandes im Wandel. Institutionelle, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte der Vorreformation in Weida, in: Joachim EMIG/Volker LEPPIN/Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 1), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 233–250, hier S. 236. 47 Vgl. BUCHWALD, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 38), S. 79 (Dominikanerkloster Leipzig, 1513), 89 (Franziskanerkloster Wittenberg, 1515), 90 (Franziskanerkloster Weida, 1515), 94 (Augustinereremitenkloster Herzberg, 1516) u. 98 (Augustinereremitenkloster Grimma, 1516). 48 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 673, fol. 1rv (Bitte um Heringe für den Konvent des Augustinereremitenklosters zu Herzberg, Januar 1513); BUCHWALD, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 38), S. 79 (Franziskanerkloster Weimar, 1513), 81 (Zisterzienserinnenkloster Oberweimar, 1513) u. 83 (Franziskanerkloster Weimar, 1514). 49 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. O 900, fol. 3rv.

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Zisterzienserklosters Altzelle, Friedrich die Aufnahme in die Gebetsbruderschaft seines Klosters an.50 Beide Geschenke stellten mehr als bloße Ehrbezeugungen dar. Sie brachten die Angewiesenheit der Klöster auf die fürstliche Förderung und den landesherrlichen Schutz dankbar zum Ausdruck.

4. Obrigkeitlicher Schutz gegen Übergriffe Die beiden Ernestiner agierten als Schutzherren über die Klöster ihres Territoriums – eine Aufgabe, die ihnen als spätmittelalterliche Landesherren zukam. Entsprechend verwundert es nicht, dass in Briefen an den Kurfürsten oder seinen Bruder diese fürstliche Funktion besonders herausgestrichen wurde, wussten doch die jeweiligen Briefschreiber, dass die Ernestiner die monastische Lebensweise schätzten. So redeten die Leipziger Predigermönche Kurfürst Friedrich 1515 „als ein[en] hochlobliche[n] cristliche[n] furst“ an, „der allzceit der geistlichkeit geneygt“ sei.51 Ähnlich sprachen 1521 die Magdeburger Predigermönche von Friedrich als einem „liebhaber der orden, aller geistligkeit unnd gerechtigkeit“.52 Grundlage der Schutzfunktion des Landesherrn über die Klöster bildeten rechtliche Konstruktionen wie Vogtei, Schirm und Schutz, die als Elemente weltlicher Herrschaft im Spätmittelalter üblich waren.53 Rechtsgrund des weltlichen Schutzes von Klöstern bestand in der mittelalterlichen Vogtei. Demnach hatte ein adliger Laie ursprünglich die Aufgabe, Klöster oder kirchliche Institutionen in weltlichen Angelegenheiten vor allem vor Gericht zu vertreten. Ab dem 15. Jahrhundert begegnet in den Quellen dafür häufiger der Begriff Schirm. Die Schutzfunktion konnte sehr unterschiedlich wahrgenommen werden – vor Gericht, mit finanzieller Unterstützung oder militärischem Einsatz vor Übergriffen. Die Klöster erkannten die Schutzfunktion der sächsischen Kurfürsten durchaus an und wendeten sich entsprechend mit ihren Anliegen an Kurfürst Friedrich und seinen Bruder Herzog Johann. Immer wenn Vertreter eines Klosters an den Kurfürsten schrieben, bezogen sie sich darauf: So sollte der Kurfürst 1513 die Augustiner zu Herzberg gegen

50 Vgl. ebd., Reg. Kk 1553, fol. 1r–v. 51 Vgl. ebd., Reg. Kk 748, fol. 1r–v. 52 Vgl. ebd., Reg. Kk 866, fol. 1v. Weitere Belege lassen sich in zahlreichen Supplikationen an die beiden ernestinsichen Brüder leicht finden. So schreibt Abt Anthonius des Zisterziensierklosters Buch am 31.12.1515 an Kurfürst Friedrich und redet ihn als einen „besonder[n] liebhaber der gerechtigkeit und gotlicher dienst und gotsheußer“ an, vgl. ebd., Reg. Kk 131a, fol. 20rv. 53 Vgl. STIEVERMANN, Landesherrschaft und Klosterwesen (wie Anm. 2), S. 15–29.

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unberechtigte Steuerforderungen durch die Stadt verteidigen.54 Als es 1517 zu Streitigkeiten zwischen dem Zisterzienserkloster Sittichenbach und dem Schosser zu Allstedt, Hans Zeiss, kam, baten der Abt und der ganze Konvent um den Schutz und Schirm des Fürsten, unter dem ihr Grundbesitz lag.55 Vergleichbare Formulierungen finden sich in zahlreichen Bittschreiben und brechen auch mit dem Beginn der Reformation nicht ab. So stellte sich 1524 der neugewählte Abt zu Grünhain, Johannes, bei Kurfürst Friedrich brieflich vor. Zugleich unterstellte er sich dessen „Schutz und Schirm“. Er bat ihn darum, diesen auch weiterhin auszuüben.56 Doch auch umgekehrt waren sich Friedrich und Johann ihrer Aufgabe bewusst. Auch dafür seien Beispiele angeführt: Nachdem 1514 das Kloster Allendorf reformiert worden war, befreite es Herzog Johann von allen Diensten und Fronen und nahm es förmlich unter seinen Schutz und Schirm.57 1515 nahm Friedrich das Kloster Sitzenroda gegen Beschwerungen durch den Bischof von Meißen in Schutz. In einem Brief an den Bischof wies er auf diese von ihm übernommene Funktion hin. Der Bischof sollte daraus ersehen, dass er gegenüber dem Kloster Sitzenroda nicht willkürlich entscheiden konnte.58 Als Friedrich und Johann 1522 die Schutzbriefe für das Karthäuserkloster in Erfurt erneuerten, erinnerten sie ganz selbstverständlich daran, dass ihre Vorfahren dieses Kloster schon unter ihren „Schutz und Schirm“ genommen hatten.59 Auch dieses Recht diente dazu, Reformen zu fördern. Bestand bis nach 1520 eine ähnliche Klosterpolitik der Ernestiner und Albertiner, änderte sich dies durch die Reformation. Die Ernestiner gingen von nun an neue Wege, indem sie alte Rechte verschärft auslegten und anwandten.60 Ein Beleg dafür ist der Rückgang und schließlich das Verschwinden von Stiftungen nach 1520.

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Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 673, fol. 1rv. Ebd., Reg. Kk 1286, fol. 6r–8v. Ebd., Reg. Kk 587, fol. 13r–v u. 21r–v. LATh-StA Meiningen, Kloster Allendorf/Urkunden, Nr. 454. Vgl. außerdem MÖTSCH, Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 27), S. 174, Nr. A 443. 58 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. B 1031, fol. 4r. 59 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Magdeburg, U 15, X, Nr. 240. 60 Vgl. Uwe SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen. Vergleichende Anmerkungen zu Sequestration und Säkularisation im ernestinischen und albertinischen Sachsen (1523– 1544), in: Michael BEYER/Jonas FLÖTER/Markus HEIN (Hg.), Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg (Arbeiten zur Kirchenund Theologiegeschichte, 24), Leipzig 2008, S. 179–192.

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5. Reformation statt Reform (1520–1525) Auch wenn gerade für Friedrich den Weisen immer wieder konstatiert worden ist, dass er sich bis zu seinem Tode nicht eindeutig zur Reformation bekannte, können doch Modifikationen seiner Kirchenpolitik ab 1520/21 festgestellt werden. Nicht zuletzt die reformationsfreundliche Haltung Herzog Johanns dürfte dafür verantwortlich gewesen sein.61 Die Modifikationen führten dazu, dass das spätmittelalterliche Schlagwort „Reformation“ einen neuen Inhalt bekam. Es fand nun sozusagen eine „totale“ Reformation statt.62 Diese Modifikationen fanden parallel zum Erscheinen von Luthers großen Programmschriften der Jahre 1520/21 statt. Unter diesen stellt „De votis monasticis iudicium“ die entscheidende Schrift dar, in der der Reformator die Gültigkeit der monastischen Gelübde erstmals verneinte. Diese Position sollte sich bis 1523 noch verschärfen, indem Luther auch die geistliche Bedeutung der Klöster bestritt.63 Luther schlug zwar keine Vertreibung von Mönchen und Nonnen vor, sprach sich aber für einen Austritt der Klosterinsassen aus. Und tatsächlich kam es zu einer Welle von Klosteraustritten.64 Dies blieb natürlich auch dem kurfürstlichen Hof nicht verborgen: Am 29. Juni 1523 bat Abt Paul zu Altzella Kurfürst Friedrich um Unterstützung, weil 61 Vgl. Stefan MICHEL, Johann von Sachsen (1468–1532), in: Susan RICHTER/Armin KOHNLE (Hg.), Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien, Heidelberg 2016, S. 47–62. 62 Vgl. Berndt HAMM, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), S. 7–82. 63 An dieser Stelle sind vor allem zwei Schriften Luthers zu nennen: De votismonasticis (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Schriften (im Folgenden: WA), Bd. 8, S. 573–669 [Texteinleitung S. 564]) und seine Vorrede zur Leisniger Kastenordnung (WA, Bd. 12, S. 11–15 [Texteinleitung S. 1]). Vgl. Bernhard LOHSE, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 12), Göttingen 1963; Heinz-Meinolf STAMM, Luthers Stellung zum Ordensleben (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 101), Wiesbaden 1980; Wolf-Friedrich SCHÄUFELE, „… iam sum monachus et non monachus“. Martin Luthers doppelter Abschied vom Mönchtum, in: Dietrich KORSCH/Volker LEPPIN (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 53), Tübingen 2010, S. 119– 139; Athina LEXUTT/Volker MANTEY/Volkmar ORTMANN (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 43), Tübingen 2008. 64 Vgl. Antje RÜTTGARDT, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 79), Gütersloh 2007.

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aus seinem Kloster Mönche ausgelaufen waren, die damit ihre Ordensgelübde gebrochen hätten. Da sie sich nun nach seinen Informationen in Wittenberg aufhielten, sollte der Kurfürst ihm ein Schreiben an den Rat der Stadt ausstellen, der die Ordensleute daraufhin gefangen setzen sollte. Seine Argumentation zeugt davon, dass er über reiche biblische Kenntnisse verfügte.65 Friedrich antwortete ihm, dass er selbstverständlich sein Anliegen unterstützen wolle. Ohne nähere Kenntnis, vor allem der Namen der ausgelaufenen Mönche, könne er jedoch nicht handeln.66 Nachdem ihm Abt Paul den Namen von Thomas Richter von Oederan genannt hatte,67 stellte Friedrich das gewünschte Schreiben an den Rat zu Wittenberg aus. Der Rat wurde darin aufgefordert, den Abt oder einen seiner Boten, der dieses Schreiben vorzeigte, zu unterstützen.68 Als sich Abt Paul nochmals an Friedrich wandte, um ihn um direkte Hilfe zu bitten, die in der Gefangennahme und Überstellung des Mönchs bestehen sollte, lehnte dies Friedrich ab. Zunächst sollte sich der Rat zu Wittenberg der Sache annehmen.69 Der Ausgang dieses Falls ist nicht bekannt. Allerdings ist anzunehmen, dass der genannte Thomas Richter nicht mehr in das Kloster Altzella zurückkehrte. An diesem Fall zeigt sich Friedrichs geschicktes Vorgehen: Er unterstützte den Abt in seinem Anliegen, ohne ihm jedoch wirklich zu helfen. Als im Mai 1523 Anna von Miltitz, Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters Sitzenroda, sich bei Kurfürst Friedrich wegen der Entführung von Nonnen aus ihrem Konvent durch den Torgauer Bürger Leonhard Koppe († vor 1541) beschwerte, antwortete Friedrich kurz, dass er den Vorgang nicht beurteilen könne. Er bat die Äbtissin um weitere Informationen, insbesondere die Mitteilung, wieviele Nonnen noch in ihrem Kloster verblieben wären.70 Koppe, der zwischen 1512 und 1519 Schosser im Amt Torgau gewesen war, war dem Kurfürsten sicher nicht unbekannt. Über seine Bestrafung, wenn es sie gegeben hat, sind keine Nachrichten überliefert. Nur am Rande sei angemerkt, dass Herzog Georg in vergleichbaren Fällen sicher anders gehandelt hätte. In dem von Herzog Johann verwalteten Teil des Kurfürstentums wurde die Reformation schon deutlich früher unterstützt.71 Johann ließ zunächst Auseinandersetzungen mit den Franziskanern in Weimar durch seinen Hofprediger 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1556, fol. 1rv. Ebd., fol. 2r. Ebd., fol. 3rv. Ebd., 4r–5v. Ebd., 6r–8v. Ebd., Reg. Kk 1269, 3rv. Vgl. Joachim BAUER, Die „Weimarer Reformation“ unter Johann dem Beständigen und ihre Bedeutung für die reformatorische und gesellschaftliche Neuordnung in Kursachsen, in: Christopher SPEHR/Michael HASPEL/Wolfgang HOLLER (Hg.), Weimar und die Reformation. Luthers Obrigkeitslehre und ihre Wirkungen, Leipzig 2016, S. 59–82.

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Wolfgang Stein und den Eisenacher Prediger Jakob Strauß zu, die im Januar 1521 mit einer Disputation zwischen dem Leipziger Franziskaner Augustin von Alveldt (um 1480–um 1535) und Luthers Erfurter Freund Johannes Lang (um 1487–1548) begonnen hatten. Dabei ging es um die Bedeutung des Abendmahls. Weiterhin gab es wahrscheinlich am Weimarer Hof auch eine theologisch interessierte Person, die 1522/23 unter dem Namen Balthasar Stanberger in Erfurt drei reformatorische Drucke publizierte. Der erste nachweisbare Druck Stanbergers von 1522 trug den Titel „Ein Dialogus oder gesprech zwischen einem Prior/ leyenbruder und Bettler das wort gottes belanget“, der u. a. deutlich gegen Mönche polemisierte, wie das einleitende Gedicht illustriert: Nun höret zu, all christen leut, Von münchen, die der teuffel reut. Die sich beschönen falsch mit got Und doch vornichten al sein bot. Sie nehmen gottes wort nit acht Yr abgott ist des Babst macht. Ein Leyenbruder das erklert, Sein Prior er vorm bettler lert. Der münchen tuck vnd ebentheur Von schalckeit groß vnd vngeheur. Die sie vorborgen haben lang All welt vergifftet als die schlang. Die Euam auch verfüret hat, O menschen volgent hie mein rat. Hüt euch vor münchen standt vnd leer, Yr wesen gantz von got ist feer. Die sach ich wol betrachtet hab Ob ich wol bin ein ley vnd ein knab. Den text schreib ich mit der gloß, Von Weimar vß dem werden schloß.72

Möglicherweise spiegelt dieses Gedicht die in Weimar herrschende Stimmung gebündelt wider: Man nahm aktiv an den Auseinandersetzungen um die Reformation teil und interpretierte sie in eigenständiger Weise. Allerdings bemühte sich Herzog Johann, der sich sehr für diese Diskussionen interessierte, bis 1525 wie sein Bruder Kurfürst Friedrich darum, nicht zu offen für die Belange der Reformation einzutreten, sondern überließ seinen Amtsträgern – Hofräten und Amtleuten – die aktive Förderung.73 Dies lässt sich an den gehäuften antireformatorischen Eingaben an den Hof mit Klagen über die Amtleute ablesen, die in 72 Balthasar STANBERGER, Ein Dialogus oder gesprech zwischen einem Prior / leyenbruder vnd Bettler dz wort gottes belanget […], Erfurt 1522 (VD16 S 8539), S. A iv. 73 Vgl. Ernst MÜLLER, Martin Luther und Weimar (Tradition und Gegenwart. Weimarer Schriften, 6), Weimar 1983, S. 24–34.

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der Regel mit dem Hinweis, man wolle den Sachverhalt prüfen, beantwortet wurden, ohne dass dadurch eine Abstellung der Beschwerdegründe herbeigeführt worden wäre. Ein weiteres Beispiel für diese in den Klöstern kritisch gesehene Haltung ist das Verhalten des Weidaer Amtmanns Philipp von Feilitzsch (vor 1473–nach 1532) im Umgang mit reformatorischen Erscheinungen: Als am 29. Juni 1523 ein Mann in den Gottesdienst der Peterskirche, die zum Dominikanerinnenkloster gehörte, eindrang und gegen das Klosterwesen „predigte“, meldete er dies an den Hof. Der Mann hatte gesagt, dass Mönche und Nonnen lieber heiraten sollten, so dass das Klostergut aufgeteilt werden könnte.74 Am 9. August wiederholte sich diese Szenerie nochmals und am 15. August hing eine anonyme Flugschrift mit dem Titel „Von der München vrsprung“ an der Tür des Nonnenklosters, die gegen das Leben der Mönche und Nonnen gerichtet war.75 In drastischer Weise ist in einem Holzschnitt dargestellt, wie der Teufel Nonnen und Mönche aus seinem „hyndern“ ausscheidet. Das dazu gesetzte Gedicht erklärt den Inhalt des Bildes unmissverständlich. Wer also damals lesen konnte, bekam die Deutung gleich mitgeliefert. Sie entsprach in etwa der Predigt des unbekannten Mannes, der mehrfach in die Peterskirche eindrang: Nonnen und Mönche sollten aus ihren Klöstern austreten, heiraten und einer ordentlichen Arbeit nachgehen. Der Amtmann sorgte zwar dafür, dass die Angriffe gegen die Nonnen nicht überhandnahmen, tat allerdings nichts zu einer intensiven Strafverfolgung. Insofern wirkte sich seine Haltung förderlich auf die Reformation in Weida aus.

74 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1459, fol. 2v. 75 Ebd., fol. 5rv; Vgl. außerdem Hans EBERHARDT/Horst SCHLECHTE (Hg.), Die Reformation in Dokumenten aus den Staatsarchiven Dresden und Weimar und aus dem historischen Staatsarchiv Oranienbaum, Weimar 1967, S. 43; Georg PILTZ (Hg.), Ein Sack voll Ablaß. Bildsatiren der Reformationszeit, Berlin 1983, S. 63, Nr. 47; Hans HOFFMEISTER/ Volker WAHL (Hg.), Die Wettiner in Thüringen. Geschichte und Kultur in Deutschlands Mitte, Arnstadt/Weimar 1999, S. 126. Zu den Inhalten solcher Flugschriften vgl. Bernd MOELLER/Karl STACKMANN, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 3, 220), Göttingen 1996, bes. S. 300–350: Moeller und Stackmann nennen neben der eschatologischen Ausrichtung und der Konzentration auf das Wort Gottes, das Evangelium, den Glauben und die Rechtfertigung auch die „Absage an die Kirche des Mittelalters“ (Messe, Stiftungen, Bilder, Beichtpraxis), Menschenlehren, rechtes christliches Leben, Priestertum aller Gläubigen, Zölibat, Amtspflichten der Pfarrer, Sakramente und Bettelei als Inhalte der von ihnen untersuchten Flugschriften. Vgl. hierzu auch KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 9), S. 161.

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Bereits im Mai 1523 hatten sich Vertreter der kursächsischen Klöster auf dem Landtag zu Altenburg darüber beschwert, dass sich die Amtleute Rechte anmaßen würden, die ihnen nicht zustünden. Dadurch würden sie die Rechte der Klöster schmälern. Die Leute würden durch das Verhalten der Amtleute angestachelt, gegen die Klöster vorzugehen, ihre fälligen Fronen, Zinsen und Abgaben nicht zu entrichten.76 Die kurfürstliche Antwort auf diese Klagen war lapidar: Die Klöster sollten konkrete Fälle mit Namen und Orten benennen, damit ihnen nachgegangen werden könnte.77 Diese skizzierten Fallbeispiele, die durch weitere ähnliche Vorgänge untermauert werden könnten, bestätigen die Beobachtung von Enno Bünz, dass in Kursachsen zwischen 1521 und 1525 keine zielgerichtete Auflösung der Klöster betrieben wurde.78 Zugleich markieren diese Beispiele aber eine Modifikation im Umgang mit den Klöstern seitens der Herrschaftsträger: Die Klöster – und vor allem ihre wirtschaftliche Ausstattung – waren zu schützen. Dass Mönche und Nonnen die Klöster verließen, wurde mindestens toleriert. Zwischen 1521 und 1525 gab es nahezu kein Kloster im Kurfürstentum Sachsen, das nicht wenigstens eine Bitt- oder Klageschrift an den kurfürstlichen Hof oder Herzog Johann schickte. Übergriffe von Landadligen, Auftreten von Predigern, Verletzungen von angestammten Rechten, Auslaufen von Mönchen und Nonnen oder ausbleibende Steuern und Abgaben waren Themen dieser Briefe. In den seltensten Fällen konnten oder wollten die Landesherren helfen. Lediglich unberechtigte finanzielle Forderungen in mehreren Fällen, beispielsweise gegen das Augustinereremitenkloster Grimma durch die Stadt Grimma in den Jahren 1521 bis 1523, wurden zurückgewiesen.79

76 Vgl. Carl August Hugo BURKHARDT, Ernestinische Landtagsakten, Bd. 1: Die Landtage von 1487–1532, Jena 1902, S. 154 f., Nr. 283. 77 Vgl. ebd., S. 155, Nr. 284. 78 Vgl. Enno BÜNZ, Das Ende der Klöster in Sachsen. Vom „Auslaufen“ der Mönche bis zur Säkularisierung (1521–1543), in: Harald MARX/Cecilie HOLLBERG (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004, S. 80–90; DERS., Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108; Walter ZÖLLNER, Der Untergang der Stifte und Klöster im sächsisch-thüringischen Raum während der Reformationszeit, in: Leo STERN/Max STEINMETZ (Hg.), 450 Jahre Reformation, Berlin 1967, S. 157–169. 79 Vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 543-547.

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6. Resümee Als 1536 Georg Trützschler zum Amtmann von Grünhain bestellt wurde, stand in seiner Bestallungsurkunde: Er „Soll die ordens personen in der Cost halten und weil des orts kein weinwachs soll ehr sie mit tueglichem bier speisen, desgleichen soll ehr den armen leuthen im spitall auch ihre gebuer raichen“.80 Das einst blühende Zisterzienserkloster Grünhain hatte seine Funktion verloren. In ihm lebten nur noch alte Mönche, die versorgt werden mussten. Sie waren Versorgungsfälle und Almosenempfänger geworden wie die Bedürftigen im Spital. Hatten Friedrich und Johann von Sachsen bis zur Reformation die Klöster gebraucht, so hatten diese unter dem Einfluss der Theologie Martin Luthers nun ihre Aufgaben verloren.81 Bis zur Reformation konnte man sagen, die Landesherren brauchten die Klöster für das Landeswohl wie auch die Klöster ihre Landesherren zur Sicherung ihres Bestandes brauchten. Es herrschte sozusagen eine Symbiose zwischen ihnen. Doch nun brauchten nur noch die vorhandenen Mönche und Nonnen die Landesherren und ihre Verwaltungseliten, um von ihnen ihren Unterhalt und Schutz zu empfangen. Aufgrund der sich ändernden theologischen und gesellschaftlichen Kontexte änderte sich auch nach 1521 die ernestinische Kirchenpolitik. Dies führte dazu, dass sich die Klöster leerten. Schutz und Schirm übten die Landesherren trotzdem weiterhin aus: Mönche wurden abgefunden und Klostergut sequestriert,82 um damit zu wirtschaften. Möglicherweise kamen auch die Erfahrungen der vorreformatorischen Visitationen nach 1525 zum Tragen, als ab 1527 flächendeckende Visitationen aller Pfarreien und am Rande auch der Klöster durchgeführt wurden. Doch diesen Transformationsprozess zu untersuchen, wäre Thema eines anderen Beitrags.

80 Ebd., Reg. Rr. S. 1-316, Nr. 2014, fol. 1r. 81 Vgl. z. B. zur Armenversorgung: ebd., Reg. Kk 154 (Kurfürst Friedrich bittet den Abt des Klosters Buch um eine Unterstützung für Paul Papst, einen armen Mann aus Leisnig, 1523). 82 Vgl. HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter (wie Anm. 12).

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Frauenklöster in Thüringen in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation 1. Vorbemerkung zur Quellenlage Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Bandes zeigt, dass die meisten Aufsätze einem konkret zu benennenden Thema – einer geistlichen Institution, einem Orden oder einer Stadt – gewidmet sind. Wenn in der Überschrift dieses Textes ganz allgemein von „Frauenklöstern“ die Rede ist, muss dies begründet werden – und diese Begründung liegt in der Quellenlage. Die große Mehrzahl der Stifte und Klöster (nicht nur der Frauenklöster) sind bekanntlich bei Einführung der Reformation durch die Landesherren aufgehoben worden. Oft haben die Ereignisse des Bauernkrieges dabei den Fürsten und Grafen in die Hände gespielt. In der Regel haben die aufgehobenen geistlichen Einrichtungen als Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten weiter bestanden. Die in die Verfügung der Landesherren übergegangenen Besitzungen und Rechte sind beisammengeblieben, die abgabenpflichtigen Bürger und Bauern hatten weiterhin Geld und Naturalien abzuliefern. Daraus ergab sich für die Verwaltung die Notwendigkeit, die besitzbegründenden Urkunden weiter sorgfältig aufzubewahren. Die Urkunden zum inneren Leben dieser Institutionen, die in gleicher Weise – und hier ganz besonders – interessieren würden, waren für die genannten Verwaltungszwecke ohne Belang, sie sind deshalb häufig dem Verfall preisgegeben oder bewusst vernichtet worden. Weil das so ist, muss man die erhalten gebliebenen, ursprünglich für andere Zwecke entstandenen Urkunden gleichsam „gegen den Strich bürsten“, um ihnen die gewünschten Informationen zu entlocken. Es dürfte einleuchten, dass aus keinem der erhalten gebliebenen Urkundenfonds das gesamte hier interessierende Spektrum an Informationen zu gewinnen ist. Deshalb stammen die in der Folge herangezogenen Urkunden aus mehreren Klöstern, die zunächst kurz vorzustellen sind.

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2. Die Klöster: Allendorf, Kapellendorf, Trostadt Bei diesen Klöstern handelt es sich um Gründungen adliger Familien. Für diese stellte die Gründung und Ausstattung eines Klosters ein Statussymbol dar. Allendorf bei Bad Salzungen1 (heute ein Stadtteil auf dem rechten Werraufer oberhalb von Bad S.) war eine Gründung der Herren von Frankenstein, einer Nebenlinie der Grafen von Henneberg, die vor allem von der Abtei Fulda Lehen hatte. Die Herren von Frankenstein, deren Stammburg direkt oberhalb von Allendorf liegt, haben sich um den Aufbau eines eigenen kleinen Territoriums bemüht, sind dabei aber gescheitert. Die Gründung eines Frauenklosters, 1266 begonnen und spätestens 1289 abgeschlossen, gehört in diesen Zusammenhang. Allendorf war und blieb Tochterkloster der Abtei Fulda. Die dortigen Nonnen lebten nach den Gewohnheiten des Zisterzienserordens, waren aber nicht formell in diesen aufgenommen. In der hier interessierenden Zeit waren Landesherren je zur Hälfte die Wettiner (Ernestiner) und die Grafen von Henneberg-Römhild. Das zwischen Weimar und Jena gelegene Kapellendorf2 ist eine Gründung der Burggrafen von Kirchberg, die ebenfalls versucht haben, eine kleine Herrschaft zu errichten und ebenfalls gescheitert sind. Sie haben das Kloster 1235 an der vom Kloster Fulda zu Lehen gehenden Pfarrkirche in Kapellendorf gegründet. Die dortigen Nonnen lebten ebenfalls nach der Regel des hl. Benedikt und den Gewohnheiten des Zisterzienserordens. 1349 wurde die Herrschaft Kapellendorf von der Stadt Erfurt erworben, die sie 1508 an Kursachsen (Ernestiner) verpfändete.

1

2

Johannes MÖTSCH, Das Fuldische Frauenkloster Allendorf bei Bad Salzungen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998), S. 155–189; DERS., Allendorf, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchsund Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/1 u. 2), St. Ottilien 2011, S. 53–61; DERS. (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen. Regesten zur Geschichte der Klöster Allendorf, Kapellendorf und Zella/Rhön (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe, 5), München/Jena 1999. Hans APEL, Geschichte des Klosters Kapellendorf, Weimar 1935; Helge WITTMANN (Hg.), Die Kirche zu Kapellendorf. Studien zur Geschichte und Architektur einer ländlichen Pfarr- und Klosterkirche, Petersberg 2003; Johannes MÖTSCH, Kapellendorf, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 1045–1053; Vgl. die Regesten der Urkunden in: MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1).

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Trostadt3 liegt oberhalb Themar auf dem linken Werraufer, zwei Kilometer entfernt von Kloster Veßra, dem 1131 gegründeten Hauskloster der Grafen von Henneberg. Dort hatten ursprünglich, wie im Prämonstratenserorden auch andernorts üblich, Männer und Frauen beieinander gelebt. Die Gebäude des Frauenkonvents brannten 1175 ab, die Frauen siedelten auf das andere Werraufer über; dort sind sie 1177 belegt. Trostadt ist stets eng mit Veßra, dieses wiederum mit den Grafen von Henneberg, den Landesherren, verbunden gewesen. Geleitet wurden diese Klöster von einer Äbtissin (belegt in Allendorf ab 1300, in Kapellendorf ab 1263) bzw. einer Meisterin (in Trostadt ab 1273). Diese Damen stammten zumeist aus dem Adel. Für die geistliche Betreuung und die Verwaltung des Besitzes waren Pröpste zuständig; die Amtsinhaber in Allendorf entstammten dem Konvent des Klosters Fulda, die in Trostadt kamen aus Veßra. In Kapellendorf gab es im 15. Jahrhundert anstelle der Pröpste weltliche Vorsteher, die der Rat von Erfurt eingesetzt hatte. Aus der Tatsache, dass es sich bei diesen Frauenklöstern um Gründungen adliger Familien handelte, ergab sich ein Problemfeld, das bei näherem Hinsehen für die Mehrzahl der im Mittelalter gegründeten Klöster gilt. Adlige Familien4 – also auch die Gründer und Förderer der Klöster – standen in jeder Generation vor einem Dilemma: Einerseits sollten die Besitzungen und Rechte möglichst in einer Hand bleiben, weil nur so der soziale Status gehalten werden konnte. Andererseits war eine Beschränkung auf wenige Nachkommen in Zeiten hoher Kindersterblichkeit riskant. Es gab allerdings einen Ausweg: Die nicht für die Nachfolge in der Herrschaft bestimmten Söhne traten in den geistlichen Stand. Da so nur wenige Partner aus der gleichen sozialen Schicht zur Verfügung standen, wurde auch die Mehrzahl der Töchter in gleicher Weise versorgt. Die Entscheidung darüber wurde von den Eltern gefällt, oft schon im Kindesalter. Diese Kinder wurden vielfach nahen, im Kloster lebenden Verwandten zur Erziehung übergeben und 3

4

Günther WÖLFING, Das Prämonstratenserinnenkloster Trostadt, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 22 (2007), S. 33–42; Johannes MÖTSCH, Regesten der Urkunden des Klosters Trostadt, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 26 (2011), S. 21–62; DERS., Besitz und Personal des Klosters Trostadt, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 28 (2013), S. 41–46. Karl-Heinz SPIEß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang 16. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 111), Stuttgart 1993, 22015, hier besonders die Kapitel „Erbrecht und Versorgung der Kinder“ (S. 199–397) sowie „Konnubium und generatives Verhalten“ (S. 398–453). Der Niederadel und (im Fall Kapellendorf) die führenden Familien der Stadt Erfurt, die die hier interessierenden Klöster besetzten, verhielten sich in diesen Punkten nicht wesentlich anders als die im Zentrum der Arbeit von Spieß stehenden Hochadelsfamilien.

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so seit Kindesbeinen an den geistlichen Stand gewöhnt. Eine Neigung für diesen Stand oder gar eine Berufung, die wir heute vor einer solchen Entscheidung für selbstverständlich halten, spielte keine Rolle. Man wird davon auszugehen haben, dass sich ein kleiner Teil der Betroffenen mit dem Leben im Kloster identifiziert und die sich dort bietenden, sonst nicht üblichen Bildungschancen gern wahrgenommen hat. Die Mehrzahl hat sich wohl mit der Situation abgefunden. Vermutlich sind viele daran verzweifelt – auch wenn wir nur von wenigen Einzelfällen wissen. Daraus ergibt sich aber, dass in jedem Kloster Insassinnen lebten, die den Erfordernissen der Regel nur zögernd und ungern gefolgt sind. Eigentum war in der Regel nicht zugelassen. Die Belege dafür, dass Einkünfte, die beim Eintritt in das Kloster als Mitgift eingebracht wurden, in den Händen dieser Personen blieben, ja sogar auf dem Erbweg weitergegeben wurden, sind dennoch zahlreich. Hierzu einige Beispiele (allerdings meist nicht aus den letzten Jahrzehnten vor der Reformation, da die Quellenlage in dieser Zeit sehr dünn ist):  Im November 1400 verkauften ein adliges Ehepaar und seine Söhne ein Gütchen, von dem Zins anfiel, an vier Nonnen zu Allendorf „und die Kinder, die sie hinzunehmen“; den Kauf hatte der Propst vermittelt. Ein ähnlicher Fall ist im September 1404 belegt; hier wurde bestimmt, dass die Güter nach dem Tod der beiden Nonnen und „der Nachfolgerinnen, die diese zu sich nehmen“, an das Kloster fallen sollten. Im Juli 1416 verkaufte der Propst zu Allendorf drei genannten Nonnen sechs Acker Wiesen, die nach dem Tod einer Nonne den Überlebenden zufallen sollten. Nach dem Tod der Letzten standen sie wieder dem Kloster zu. Im Februar 1424 wurden Gülten, die einer verstorbenen Nonne gehört hatten und an das Kloster zurückgefallen waren, erneut auf Lebenszeit an drei Nonnen verkauft. Der letzte belegte Verkauf dieser Art datiert vom Mai 1490.5  1410 und im Februar 1420 war eine Nonne zu Kapellendorf im Besitz eines Zinses, der nach ihrem Tod an das Kloster fallen sollte. Im November 1450 wurde eine Nonne durch Propst, Äbtissin und Priorin mit einer Gülte „belehnt“. Im Februar 1469 verkauften Vorsteher, Äbtissin und Priorin an drei Nonnen einen Zins, der nach ihrem Tod an das Kloster zurückfallen sollte.6

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6

Belege in: MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 139 f., A 357 (1400); S. 142, A 362 (1404); S. 147, A 376 (1416); S. 150, A 385 (1424) und S. 163 f., A 418 (1490). Belege in: ebd., S. 298 f., K 208 (1410); S. 303, K 215 (1420); S. 309, K 230 (1450) u. S. 312, K 237 (1469).

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 Aus Trostadt, von dessen Archiv nur noch Reste vorhanden sind, ist ein vergleichbarer Verkauf durch den Konvent an drei Mitschwestern im Januar 1433 belegt.7 Derartige Missstände führten durchaus zu Reaktionen der geistlichen Obrigkeit: Bereits am 25. April 1336 hatte der Papst einen Geistlichen aus Mainz beauftragt, die entgegen der Regel und zum großen Schaden des Klosters Kapellendorf entfremdeten, gegen Zins an Kleriker und Laien verliehenen Güter zu ermitteln und in den Besitz des Klosters zurückzuführen. Ein inhaltlich identischer Auftrag an den Propst von Petersberg bei Fulda und betreffend Allendorf datiert vom 5. Juli 1353.8 Belege zu einer Umsetzung dieser Aufträge liegen allerdings nicht vor. Auch andere Verstöße gegen die Regel lassen sich durch Urkunden aus den Klosterarchiven belegen:  Im Februar 1456 beklagten sich Äbtissin und Konvent von Kapellendorf bei Ratsmeister und Rat zu Erfurt, dass Werner von Mellingen, offenbar ein Beauftragter des Rates, in das Kloster eingefallen war und die Türen vernagelt hatte im Glauben, dass die Kapläne „nach alter Gewohnheit“ mit den Nonnen Fastnacht feierten. Die Absenderinnen betonten, die Kapläne sowie zwei unbescholtene Männer seien „in Ehren und Züchten“ bei den Nonnen gewesen.9 Der Sachverhalt, dass sich Männer, die dort nichts zu suchen hatten, innerhalb der Klausur aufhielten, wurde demnach nicht bestritten.  Zwei im Kloster Kapellendorf lebende Weltpriester hatten zum Kloster gehörende Laien angegriffen und getötet. Der damalige Schreiber des Klosters, selbst Geistlicher, Zeuge der Tat und in der Folge von den Tätern der Mithilfe bezichtigt, besorgte sich im April 1497 in Rom einen Dispens des päpstlichen Großpönitentiars.10  Äbtissin und Konvent zu Allendorf hatten 1486 den Abt von Fulda, Kurfürst Friedrich und Herzog Johann von Sachsen, also das geistliche Oberhaupt und die Landesherren, um Ablösung des Propstes Philipp von Herda gebeten. Sie klagten nicht nur über dessen Wirtschaftsführung, sondern auch darüber, dass er eine unerlaubte Beziehung zu ihrer

7 8

DERS., Regesten der Urkunden des Klosters Trostadt (wie Anm. 3), S. 48, Nr. 52. DERS. (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 98 f., A 243 (Allendorf) u. S. 263 f., K 125 (Kapellendorf). Eine vergleichbare Urkunde für Trostadt datiert bereits vom Mai 1274 (DERS., Regesten Trostadt (wie Anm. 3), S. 28, Nr. 7). 9 MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 310 f., K 234. 10 Ebd., S. 316 f., K 246.

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Mitschwester Cäcilia von Kranlucken hatte, aus der ein Kind hervorgegangen war.11

3. Klosterreform Diese gleichsam systembedingten Missbräuche waren jeder kirchlichen Reformbewegung, die in regelmäßigen Abständen auftraten, ein Dorn im Auge. Von den Reformbestrebungen wurden auch die hier interessierenden Frauenklöster erfasst. Allerdings ging die Initiative nicht von den Insassinnen der Klöster aus, sondern von den Landesherren und der geistlichen Obrigkeit – und diese Aussage dürfte auf die Mehrzahl der Klöster im Lande zutreffen. Johann von Henneberg, ein Angehöriger des Grafenhauses, war von 1472 bis 1513 Abt von Fulda.12 Ihm unterstanden nicht nur die in seinem weltlichen Territorium liegenden Frauenklöster, sondern auch solche, die von Dritten auf Fuldischem Besitz oder mit Unterstützung früherer Äbte gegründet worden waren; dazu gehörten auch Allendorf und Kapellendorf. In seinem eigenen Kloster in Fulda stand er vor dem bereits beschriebenen Dilemma: formell war es ein Benediktinerkloster. Die Insassen, alle von adliger Herkunft, führten aber das Leben von Stiftsherren, sie bezeichneten sich selbst als Kapitulare. Für die Durchführung von Reformen musste der Abt daher auf die Mönche seiner Nebenklöster zurückgreifen, die bürgerlicher Herkunft und wohl zu einem größeren Teil aufgrund einer Berufung eingetreten waren. Mit Johann Löher, Mönch des Klosters Petersberg bei Fulda,13 fand Abt Johann einen Mann, der nicht nur über die für diese Aufgabe erforderlichen geistigen und geistlichen Eigenschaften, sondern auch über Organisationstalent verfügte. Er übernahm im Lauf von 25 Jahren die Propsteien der Fulda unterstehenden Frauenklöster Rohr bei Meiningen (1499), Thulba bei Hammelburg (1505),

11 Josef LEINWEBER, Das Hochstift Fulda vor der Reformation (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und Diözese Fulda, 22), Fulda 1972, S. 292 u. Anm. 195 (nach Hess. Staatsarchiv Marburg, Abt. 92/2, fol. 18). 12 Zur Person vgl. Heinrich WAGNER, Genealogie der Grafen von Henneberg (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 33), Kloster Veßra 2016, S. 146–149. Zu seiner Reformtätigkeit vgl. LEINWEBER, Das Hochstift Fulda vor der Reformation (wie Anm. 11), S. 283–294; Friedhelm JÜRGENSMEIER/Franziskus BÜLL (Bearb.), Die Benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Hessen (Germania Benedictina, VII), St. Ottilien 2004, S. 213–434, hier S. 251–253. 13 Zu seiner Tätigkeit vgl. LEINWEBER, Das Hochstift Fulda vor der Reformation (wie Anm. 11), S. 292–294 (mit Belegen für Rohr, Thulba und Höchst).

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Zella in der Rhön (1506),14 Allendorf und Höchst im Odenwald (1508), Frauenbreitungen (1515),15 Oberweimar (1519)16 und Kapellendorf (1524) – nicht immer erfolgreich. In Rohr konnten sich der Abt und sein Propst Löher letztlich nicht durchsetzen.17 Nach Thulba holte Löher bürgerliche Nonnen aus dem Benediktinerinnenkloster St. Ulrich in Würzburg, das dem der Bursfelder Union angehörenden Kloster St. Stephan unterstand. Drei adlige Nonnen, die die Reform nicht annehmen wollten, wurden nach Rohr versetzt.18 Zella, das 1506 ohne Nonnen war, besetzte Löher mit Nonnen aus Thulba. Nach Allendorf nahm er 1508 zwei dieser Benediktinerinnen mit (Elisabeth Nithart, 1508–1523 Äbtissin; Dorothea Pfannstein, 1508–1523 Priorin zu Allendorf).19 Diese Frauen waren offenbar nicht von ihren Familien ins Kloster gesteckt, sondern aus innerer Berufung Nonnen geworden. Mit dem Tod des Abtes Johann (gest. 2. Juli 1513) verlor Löher allerdings seine wichtigste Stütze. Fortan hatten in Fulda wieder die Reformgegner das Übergewicht. Deshalb reiste Löher 1514 im Auftrag von Äbtissin und Konvent zu Allendorf, aber ohne Erlaubnis seines Abtes nach Rom, um dort die Reformmaßnahmen kirchenrechtlich absichern zu lassen.20 Auch dank der Unterstützung durch die Landesherren konnte er 1517/18 die Vermögenstrennung zwischen Äbtissin und Konvent einerseits, dem Propst andererseits (die wichtigste Reformbestimmung) durchsetzen. 1518 verzichtete Löher auf die Propstei zu Allendorf.21

14 Johannes MÖTSCH, Das Benediktinerinnenkloster Zella unter Fischberg, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 53 (2001), S. 233–257. 15 Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Meiningen, Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv, Sektion IV, Nr. 71, Bl. 137. 16 Manfred von BOETTICHER, Oberweimar, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/2), St. Ottilien 2011, S. 1213–1227, hier bes. S. 1224 (Propstliste). 17 LEINWEBER, Das Hochstift Fulda vor der Reformation (wie Anm. 11), S. 292 f. 18 Ebd., S. 293; Heinrich WAGNER, Thulba, in: Maria HILDEBRAND u. a. (Bearb.), Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Bayern (Germania Benedictina, II/3), St. Ottilien 2014, S. 2367–2389, hier S. 2380. 19 Johannes MÖTSCH, Reform vor der Reformation. Die gescheiterte Reform der thüringischen Frauenklöster Allendorf und Zella / Rhön im Spannungsfeld benediktinischer, wettinischer, hennebergischer und fuldischer Interessen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 53 (1999), S. 25–43. 20 Ebd., S. 34 f. 21 Ebd., S. 40. Zur Vermögenstrennung siehe: MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 177–186, A 448 u. 449.

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Zu Reformen in Kapellendorf lassen die Quellen keine Aussage zu. Propst Johann Löher, Äbtissin und Konvent wehrten sich 1524 gemeinsam gegen den Versuch der Landesherrschaft, eine Pfründe im Kloster mit einem Anhänger Luthers zu besetzen.22 Nach Trostadt holte der Landesherr, Graf Wilhelm von Henneberg, im Sommer 1509 mit Zustimmung des Abtes von Veßra drei Nonnen aus dem Prämonstratenserinnenkloster Wenau bei Düren im Herzogtum Jülich. Sie übernahmen die Ämter der Äbtissin, Priorin und Zuchtmeisterin. Die frühere Meisterin und ihre Schwester, die sich der Reform widersetzten, erhielten eine Pension und wurden im November 1510 zu ihrer im nahen Henfstädt ansässigen Familie geschickt.23

4. Frauenklöster als Gnadenorte In Kapellendorf – stets mit dem Status einer Pfarrkirche versehen – hat man sich im 15. Jahrhundert offensichtlich intensiv darum bemüht, das nahe einer wichtigen Straße gelegene Kloster zu einem lokalen oder regionalen Wallfahrtsort zu entwickeln. Grundlage war ein Reliquienschatz, der zum Teil wohl schon in der Gründungsphase zusammengekommen war. Durch den Erwerb von Ablassprivilegien wurde die Attraktivität der Klosterkirche weiter erhöht. Solche Ablassverleihungen sind bereits im Dezember 1244, im Mai 1274 und im Juli 1389 belegt.24 Am 6. Juli 1427 verlieh der in Kapellendorf weilende Weihbischof des Mainzer Erzbischofs den Personen, die an aufgezählten Tagen das Kloster besuchten und bestimmte Gebetsleistungen erbrachten, einen Ablass von 40 Tagen. Im Zusammenhang mit dieser Verleihung entstand eine ausführliche Auflistung der in Kapellendorf vorhandenen Reliquien, insgesamt 82 Stück, die nach Aussage der Urkunde zum Teil von den Burggrafen von Kirchberg, Gründern des

22 APEL, Geschichte des Klosters Kapellendorf (wie Anm. 2), S. 121; Johannes MÖTSCH, Das Zisterzienserinnenkloster Kapellendorf, in: WITTMANN (Hg.), Die Kirche zu Kapellendorf (wie Anm. 2), S. 42. 23 MÖTSCH, Regesten der Urkunden des Klosters Trostadt (wie Anm. 3), S. 51 f., Nr. 62 (1509) u. 63 (1510). Dass man Nonnen aus Wenau holte, dürfte dadurch begründet sein, dass der dortige Landesherr Herzog Wilhelm von Jülich (gest. 1511) mit Sibille von Brandenburg (gest. 1524), Tochter des Kurfürsten Albrecht (Achilles) verheiratet und deren jüngste Schwester Anastasia (gest. 1534) die Ehefrau des Grafen Wilhelm IV. von Henneberg (gest. 1559) war. 24 MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 219, K 6 (1244); S. 232, K 36 (1274) u. S. 294 K 197, (1389).

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Klosters, gestiftet worden waren. Am 1. Mai 1449 fügte der damalige Weihbischof des Erzbischofs weitere 40 Tage hinzu.25 Kardinal Raimund Peraudi, Bischof von Gurk, der sich um die Jahreswende 1502/03 in Erfurt aufhielt, um durch Gewährung von Ablässen Mittel für den Kampf gegen die Türken zu gewinnen, gewährte am 26. November 1502 allen Nonnen des Klosters und den Besuchern, die die Klosterkirche an bestimmten Tagen aufsuchten, einen Ablass von 100 Tagen, der durch Teilnahme am Fest der heiligen Anna und an Fronleichnam um weitere 100 Tage erhöht werden konnte.26 Am 4. Januar 1505 kamen weitere 40 Tage Ablass hinzu, verliehen durch den Weihbischof des Mainzer Erzbischofs, der den neu erbauten Chor der Kirche weihte. Der Urkunde verdanken wir auch die Mitteilung, dass damals vier neue Altäre hinzugekommen sind.27 Auch für Allendorf sind etliche Ablassverleihungen erhalten geblieben (16. Februar 1266; 16. Oktober 1266; 12. September 1267; um 1270/75; 1288; nach dem 22. Februar 1289; vor dem 24. Dezember 1295; 1295; 17. November 1312; 2. Juni 1314; 20. September 1323; 11. Februar 1325; 9. September 1414; 16. Juni 1469).28 Laut Feststellung des Erzbischofs von Mainz beliefen sich die Ablässe im September 1295 auf sieben Jahre für lässliche Sünden, sechs vierzigtägige Bußzeiten und 1.380 Tage. Offenbar hat man sich nach 1325 aber nicht mehr intensiv um Ablässe bemüht (die beiden im 15. Jahrhundert erworbenen stammen von Mainzer Weihbischöfen). Reliquien, die einen Besuch des Klosters noch attraktiver gemacht hätten, werden in den Quellen nicht erwähnt. Aus Trostadt sind derartige Urkunden nicht erhalten geblieben. Die Kapellendorfer Nonnen haben sich auch um den Erwerb von Ablassgnaden für sich selbst bemüht: Am 1. August 1393 wurden Äbtissin und Nonnen von Kapellendorf, die wegen ihrer Ordensregel das Kloster nicht verlassen konnten, die gleichen Ablassgnaden verliehen, als ob sie im Jubiläumsjahr die

25 Ebd., S. 305 f., K 220 (Urkunde, 1427), K 221 (Reliquienverzeichnis) u. S. 308, K 228 (1449). Zum Reliquienverzeichnis vgl. Stefan TEBRUCK, Der Reliquienschatz der Kapellendorfer Zisterzienserinnen im 15. Jahrhundert, in: WITTMANN (Hg.), Die Kirche zu Kapellendorf (wie Anm. 2), S. 55–82. 26 MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 317 f., K 248. 27 Ebd., S. 318 f., K 251. 28 Ebd., S. 17 f., A 3 (1266); S. 18, A 5 (1267); S. 18, A 7; S. 19, A 9 (1288); S. 19 f., A 10 (1289); S. 22, A 15 u. 16 (1295); S. 31, A 43 (1312); S. 33, A 50 (1314); S. 41, A 76 (1323); S. 43, A 82 (1325); S. 146, A 373 (1414) u. S. 159, A 406 (1469). Zudem die Feststellung des Erzbischofs vom Sept. 1295 auf S. 21, A 12.

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vom Papst genannten Kirchen aufgesucht und dort die Jubiläumsablässe erworben hätten.29

Abb. 1: Ablassurkunde vom 29. April 1488

Der schon erwähnte Raimund Peraudi, damals noch Archidiakon in seinem französischen Heimatbistum, predigte in den 1480er Jahren im Auftrag des Papstes Innocenz VIII. einen Ablass zur Finanzierung des Kampfes gegen die Türken, die bekanntlich 1453 Konstantinopel erobert hatten. Wer bestimmte von Peraudi genannte Kirchen aufsuchte, konnte die gleichen Ablässe gewinnen, als wenn er die wichtigsten Kirchen der Stadt Rom in einem Jubiläumsjahr aufgesucht hätte. Peraudi machte am 29. April 1488 zehn namentlich genannte Kapellendorfer Nonnen (wohl den gesamten Konvent) der Wohltaten dieses Ablasses teilhaftig.30 Christian Bomhower (Baumhauer) aus dem Bistum Dorpat, der den sog. Livlandablass verkündete, durch den der Kampf des Deutschen Ordens gegen die „wilden Russen“ in Livland finanziert werden sollte, machte am 30. Mai 29 Ebd., S. 296, K 202 (ausgestellt durch den päpstlichen Nuntius für das Heilige Jahr in Vysehrad bei Prag). Der Jubiläumsablass war erstmals im Jahr 1350 verkündet worden. Eine Abschrift der damals vom Papst ausgestellten Urkunde ist im Bestand Kapellendorf erhalten geblieben. Sie dürfte bei dieser Gelegenheit oder bald darauf beschafft worden sein. 30 Ebd., S. 315, K 243.

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1509 in Jena die Äbtissin, die Priorin und eine weitere Kapellendorfer Nonne wegen ihrer Spenden dieses Ablasses teilhaftig.31

5. Das Ende Sowohl die Wettiner als auch die Grafen von Henneberg waren seit Langem darum bemüht, den Einfluss der geistlichen Oberhirten zurückzudrängen und ein landesherrliches Kirchenregiment zu errichten. Die Ideen Martin Luthers eröffneten ihnen dazu neue Möglichkeiten. Zur Existenzbedrohung aber wurde für viele Klöster und Stifte der Bauernkrieg des Jahres 1525. Vor dem drohenden Anmarsch der Bauern nahmen die landesherrlichen Amtleute im Frühjahr die Klöster – Gebäude, Inventar und Archivalien – in Verwahrung. Die Nonnen wurden zu ihren Familien geschickt oder fanden Zuflucht in benachbarten Städten. Nachfolger Löhers in Allendorf war seit 1522 Adolf von Biedenfeld, zuvor Propst in Zella, der dort übel gewirtschaftet hatte.32 Anfangs hatten die Nonnen gegen ihn die Unterstützung der Landesherren. Nachdem er sich jedoch 1523 mit dem Fuldaer Stiftskapitel überworfen hatte, suchte und erhielt er die Unterstützung der Wettiner. Im April 1525 flüchteten die Nonnen und der sächsische Amtmann zu Salzungen übernahm die Urkunden und Kelche. Das Kloster wurde schließlich zerstört. 1527 ist Biedenfeld als Klosterverwalter des Kurfürsten belegt.33 Laut Bericht des Amtmanns und des Klosterverwalters befanden sich im Oktober 1528 noch neun Personen, darunter fünf von Adel, in den Klostergebäuden; drei waren während des Jahres in den ehelichen Stand getreten.34 In der Folgezeit wurden mehrere vormalige Nonnen abgefunden, die adligen mit 100, die bürgerlichen mit 60 Gulden.35 In Kapellendorf hat man die Nonnen zwar wieder in die Gebäude gelassen, ihnen aber die Einkünfte nicht mehr ausgehändigt. Vergebens wandte sich Burggraf Sigmund von Kirchberg, ein Nachkomme der Klostergründer, Anfang 1526 in dieser Angelegenheit an Kurfürst Johann. Dies ist das letzte Lebens-

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Ebd., S. 320, K 254. Zum Folgenden: MÖTSCH, Reform vor der Reformation (wie Anm. 19), S. 40–42. MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 211, A 497. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen, Geheimes Archiv Meiningen, Nr. 438, Bl. 8. 35 Johannes MÖTSCH, Die Abfindung von Nonnen des Klosters Allendorf nach dem Bauernkrieg, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 62 (2010), S. 129–137.

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zeichen des Klosters. In einem im April 1527 erstellten Inventar ist von den Nonnen keine Rede mehr.36 Trostadt ist im Mai 1525 von den aufständischen Bauern besetzt und zerstört worden. Auch hier hat der Landesherr die Wiederentstehung klösterlichen Lebens nicht mehr zugelassen,37 obwohl in der Grafschaft Henneberg erst 1543 die Reformation eingeführt worden ist. Auch hier wurden die vormaligen Nonnen finanziell abgefunden: Sie erhielten die bei Eintritt in das Kloster gezahlten 50 Gulden zurück. Eine adlige Nonne, die sich in ein anderes Kloster ihres Ordens begeben wollte, erhielt zusätzlich 20 Gulden als „Verehrung“.38 Margarete, eine Tochter des Grafen, die – wohl als künftige Meisterin – in Trostadt gelebt hatte, kehrte an den Hof des Vaters zurück.39 Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch die geistliche und/oder weltliche Obrigkeit in Allendorf, Kapellendorf und Trostadt durchgeführten Reformen haben also das Bestehen dieser Klöster längerfristig nicht sichern können. 1530 waren sie alle untergegangen. Dieses Schicksal teilten sie bekanntlich mit vielen anderen geistlichen Institutionen in Thüringen.

36 APEL, Geschichte des Klosters Kapellendorf (wie Anm. 2), S. 94 f. (1526); MÖTSCH (Bearb.), Fuldische Frauenklöster in Thüringen (wie Anm. 1), S. 322 f., K 259 (1527). Die Akte zur im März 1533 begonnenen Visitation erwähnt in Kapellendorf u. a. zwei Vikarien Beatae Virginis und Nicolai, deren Patronat die Burggrafen von Kirchberg besaßen. Spuren der Stiftung durch deren Vorfahren, die das Kloster gegründet hatten, finden sich in: Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Ii, Nr. 4, Bd. II, Bl. 89r. 37 WÖLFING, Das Prämonstratenserinnenkloster Trostadt (wie Anm. 3), S. 35. 38 MÖTSCH, Besitz und Personal (wie Anm. 3), S. 45: Petronella von Herbstadt, die heiraten wollte, erhielt im April 1530 50 Gulden, Margarete von Schletten, die Nonne bleiben wollte, im August 1532 zusätzlich 20 Gulden. 39 Ebd., S. 45. Sie war 1508 geboren und heiratete 1534 Johann Grafen zu Sayn und Wittgenstein. Vgl. hierzu WAGNER, Genealogie (wie Anm. 12), S. 165. Als Nonne zu Trostadt (ebd., S. 172) wird dort ihre Schwester Elisabeth bezeichnet (geboren 1517, 1536 Pröpstin des Damenstifts Essen, 1538 Heirat mit Johann Grafen zu Salm-Reifferscheid).

E L K E -U R S E L H A M M E R REFORMATIONSSCHICKSALE ZISTERZIENSISCHER FRAUENKLÖSTER

Reformationsschicksale zisterziensischer Frauenklöster in Thüringen* Im Jahre des Heils 1522 am 24. Juni war das Zisterzienserinnenkloster in Roda (heute Stadtroda in der Nähe von Jena) festlich geschmückt. Wenige Jahre zuvor (1517) hatte ein Brand die Klosterkirche geschädigt; nun war sie instandgesetzt und wurde neu geweiht, und auch eine neue Glocke hatte angeschafft werden können. Ihr wurde an diesem Tag der Name Osanna verliehen.1 Eigens angereist für das feierliche Geschehen war, da Roda zur Erzdiözese Mainz gehörte, der Erfurter Weihbischof Paul Huthenne. Empfangen wurde er durch den Propst von Roda, Marten Reiche (1519–1522),2 der nicht nur priesterliche und seelsorgliche Dienste im Kloster versah, sondern auch für die Wirtschaftsverwaltung und die Rechtsvertretung von Äbtissin und Konvent verantwortlich war. Die Äbtissin verließ ebenso wie ihre Stellvertreterin, die Priorin und die übrigen acht Nonnen nur selten das Kloster, nicht zuletzt wegen der Klausurbestimmungen, die im Frauenkloster zuletzt zehn Jahre zuvor (1512) verschärft worden waren. Damals waren nach einer Visitation und Reform des geistlichen Lebens einige Zisterzienserinnen aus dem Kloster in Oberweimar nach Stadtroda gekommen, um vorzuleben, wie die neuen Bräuche durch alltäglichen Vollzug zu Gewohnheiten werden könnten.3 Ob auch zu diesem festlichen Anlass Äbtissinnen und Nonnen aus Oberweimar oder einem der vielen anderen Zisterzienserinnenklöster der weiteren Umgebung angereist waren, wissen wir nicht. Kontakte bestanden allerdings seit Jahrhunderten. Sie waren fast so alt wie die Klöster selbst und gelegentlich belegen sie eine Solidargemeinschaft, so beispielsweise als 1274 die Zisterzienserinnenklöster Frauenprießnitz, Ichtershausen, Kelbra, Roda, Oberweimar, Kölleda und Greißlau zusammenstanden, um die Nonnen aus Saalfeld bei ihrer Übersiedlung nach Stadtilm zu *

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Der für den Druck eingereichte Beitrag entspricht weitgehend der auf der Tagung „Thüringische Klöster- und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit“ (Erfurt, 30.06.– 02.07.2016) gehaltenen Vortragsfassung. Vgl. hierzu Elke-Ursel HAMMER, Stadtroda, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, IV/1 u. 2), St. Ottilien 2011, hier Teilbd. 1, S. 1413–1453, hier S. 1432. Amtslisten in: HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1450. Vgl. hierzu ausführlicher ebd., S. 1430 f.

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unterstützen.4 Männliche Vertreter des Zisterzienserordens waren sicherlich nicht anwesend, da die kleineren Frauenklöster in Thüringen dem Zisterzienserorden nicht inkorporiert waren. Sie unterhielten keine Kontakte zum Generalkapitel, wurden nicht durch Äbte des Ordens visitiert und erhielten auch keine Hausgeistlichen aus Zisterzienserabteien.5 Die Seelsorge in den im Jahr 1522 bestehenden 31 Frauenklöstern hätte die Personaldecke der Männerklöster schlicht überfordert. Vier Jahre später sollten es nur noch 13 Klöster sein und zur Jahrhundertmitte waren es lediglich noch fünf. Anwesend waren hingegen vermutlich Vertreter des niederen Adels der Umgebung und von Bürgerfamilien aus Roda und Jena,6 da ihre Schwestern, Töchter, Nichten und Tanten als Nonnen im Kloster lebten – aus manchen Familien gleich Angehörige mehrerer Generationen. Auch leibliche Schwestern im Konvent waren keine Seltenheit.7 Unbekannt ist, in welchem Ausmaß die Bevölkerung am Fest beteiligt war. Das Kloster war nicht irgendein in der Stadt begüterter Nachbar. Es hatte das Patronat über beide Stadtkirchen inne und ließ den Gottesdienst in der Stadt durch seine Klostergeistlichen versehen.8 Letzteres bot seit einigen Monaten zunehmend Anlass zu Diskussionen. So lag Roda mitten im Stammland der Reformation und die evangelische Lehre hatte bereits begonnen, die Menschen in ihren Bann zu ziehen.9 Und seit im Vorjahr Martin Luther scharfe Kritik am Klosterleben geäußert hatte, ja, es grundsätzlich infrage stellte, verließen die ersten Mönche und Nonnen ihre Gemeinschaften, betrachteten abgabepflichtige Bürger und Bauern die seit Generationen überkommenen Zinsen, Abgaben und Dienste gegenüber Klöstern mit wachsender Kritik. 4

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Die Klöster verpflichteten sich, jeden in ihre Bruderschaft aufzunehmen, der die Nonnen aus Saalfeld/Stadtilm mit Almosen und Hilfeleistungen unterstützt, vgl. Franz WINTER, Die Cistercienser des nordöstlichen Deutschlands. Ein Beitrag zur Kirchen- und Culturgeschichte des deutschen Mittelalters, Theil 1: Bis zum Auftreten der Bettelorden, Gotha 1868, S. 47 f. Vgl. hierzu ausführlicher HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1442–1444. Bis ins 15. Jahrhundert treten in den Führungspositionen der Gemeinschaft Angehörige der Lobdeburger Stifterdynastie auf, zudem Angehörige der Lobdeburger Ministerialen. Auf die nicht gegebene Adelsexklusivität verweisen die seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert verstärkt auftretenden Jenaer und Naumburger Bürgerfamilien. Vgl. hierzu ausführlicher ebd., S. 1445 f. Im Konvent der Zisterzienserinnen von Jena finden sich unter den 16 Nonnen drei Schwesternpaare, vgl. DIES., Jena, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 1007–1044, hier S. 1035. Vgl. hierzu DIES., Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1446. Nach Julius LÖBE/Ernst Conon LÖBE, Geschichte der Kirchen und Schulen des Herzogthums Sachsen-Altenburg mit besonderer Berücksichtigung der Ortsgeschichte, Bd. 3: Enthaltend die Ephorien des Westkreises, Altenburg 1891, S. 195, bereits seit 1521.

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Roda steht hier nur stellvertretend für ein typisches zisterziensisches Frauenkloster im Thüringen des frühen 16. Jahrhunderts – sowohl hinsichtlich seiner rechtlichen Stellung, seines Besitzes sowie seiner gesellschaftlichen und politischen Bedeutung als auch in Bezug auf die Größe und die Sozialstruktur der in ihm lebenden Gemeinschaft.10 Im Folgenden soll es jedoch nicht nur um Roda gehen, sondern um ein Kollektivschicksal: das der thüringischen Zisterzienserinnenklöster und der Frauen, die im frühen 16. Jahrhundert, im beginnenden Reformationszeitalter, in ihnen lebten. Es geht – vielleicht mit einer typisch altmodischen archivarischen Betrachtungsweise – um das Typische und um das Besondere. Zunächst soll ein kurzer Blick ins vorangehende 15. Jahrhundert geworfen werden, um aus der zeitlichen Distanz Entwicklungslinien besser erkennen zu können. Das reformfreudige ausgehende Spätmittelalter hatte auch in den Klöstern Anlass zu Besserungsmaßnahmen entdeckt: Die Ordensregeln wurden vielerorts nicht mehr mit der erwünschten Strenge befolgt, in Frauenklöstern betraf dies vornehmlich die Einhaltung der Klausur11 und der Bestimmungen bezüglich eines funktionierenden Gemeinschaftslebens: Kritik fand die deutliche Ausprägung des Sozialgefälles zwischen Nonnen aus reichen und aus wenig begüterten Familien.12 Persönliche Besitzlosigkeit war vielerorts einem eher 10 Im Frauenbergskloster Nordhausen dominierten Angehörige des niederen Adels und ortsansässige Patrizierfamilien, vgl. Peter KUHLBRODT, Nordhausen, Frauenbergskloster Neuwerk, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 1143–1186, hier S. 1174. Im Kloster St. Martini bei Erfurt lebten Töchter angesehener Familien der Bürgerschaft, vgl. Ulrich SIMON, Erfurt, St. Martini extra muros, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 677–705, hier S. 691. In Roßleben und Eisenberg dominierten adlige Familien den Konvent, zudem entstammten in Eisenberg die Äbtissinnen häufig dem Adel, vgl. Matthias LUDWIG, Roßleben, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 2, S. 1350–1363, hier S. 1358; DERS., Eisenberg, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 600–625, hier S. 616. Vergleichbar der Situation in Roda stammten im früheren Hauskloster Saalfeld/Stadtilm der Schwarzburger nahezu alle Äbtissinnen aus der Stifterdynastie, vgl. Johannes MÖTSCH, Saalfeld/Stadtilm, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 2, S. 1391–1412, hier S. 1401. 11 So wurde die Vernachlässigung der Disziplin in Beuren im 15. Jahrhundert beklagt, vgl. Anna EGLER, Beuren, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 225–265, hier S. 228 u. 246, und um 1500 in Eisenberg die Klausurbestimmungen angemahnt, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 610. 12 Zu den während der Visitation 1494 aufgedeckten Vermögensunterschieden in Jena vgl. HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1022 f.

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komfortablen Leben gewichen; manche Nonne verfügte über Eigentum und tätigte gewinnversprechende Geldgeschäfte.13 In zahlreichen Klöstern war das Gemeinschaftseigentum in Pfründen aufgeteilt. Zudem litt die Wirtschaftskraft der Klöster unter dem bekannten Prinzip der Privatisierung der Einnahmen und Gewinne bei gleichzeitiger Sozialisierung der Verluste und Kosten.14 Hinzu kamen in ungünstigem Fall Missernten. Nicht selten brannten auch Kirche, Konventgebäude oder Wirtschaftsgebäude ab. Wie eingangs erwähnt, waren in Roda, aber auch in Stadtilm, Dormitorium und Kreuzgang zerstört worden,15 so dass die Nonnen jahrelang Spenden für den Wiederaufbau sammeln mussten. Oft waren die Klöster zudem verschuldet. In wenigstens zwei Klöstern hatten die Nonnen wegen ihrer Finanznot das Privileg erhalten, Almosen sammeln zu dürfen,16 wie dies eigentlich nur bei Bettelorden üblich war. Dies war Anlass für öffentliches Ärgernis und obrigkeitliches Eingreifen. Da keine übergeordnete Ordensinstanz existierte – das zisterziensische Generalkapitel sah sich ja als nicht zuständig an –, kamen die Anregungen zur reformatio – zur Erneuerung des Klosters in geistlicher und weltlicher Hinsicht – vom jeweiligen Landesherren, vom Vogt oder vom Ortsbischof. Faktisch ausgeführt wurde sie bei den thüringischen Frauenklöstern meist durch den Abt der hoch angesehenen Benediktinerabtei St. Peter und Paul (Peterskloster) in Erfurt17 in Form einer Visitation, in deren Folge mitunter einige besonders widerspenstige Nonnen das Kloster verließen und in andere Gemeinschaften wechselten. 13 In Petersberg liehen begüterte Konventualinnen der eigenen Gemeinschaft erhebliche Summen und verfügten frei über den Zinsertrag, vgl. Elke-Ursel HAMMER, Petersberg, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 2, S. 1269–1287, hier S. 1282 f. 14 In Beuren geschah dies bereits ab dem 14. Jahrhundert, vgl. EGLER, Beuren (wie Anm. 11), S. 228, in Worbis erst im späten 15. Jahrhundert, vgl. Thomas T. MÜLLER: Worbis, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 2, S. 1593–1611, hier S. 1596 f. 15 Zum Brand von 1492 vgl. MÖTSCH, Saalfeld/Stadtilm (wie Anm. 10), S. 1395. 16 Dem Kloster Jena gestattete der Rat der Stadt im Jahr 1492 angesichts der prekären Lage, in der Kirche Almosen zu sammeln, vgl. Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 6, Teil 2 = NF Bd. 3: Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten, hg. von Ernst DEVRIENT, 3 Bde., Jena 1888–1936, hier Bd. 2: 1406–1525, Jena 1903, S. 343, Nr. 857 (1492). Für Worbis ist Vergleichbares aus dem Jahr 1521 überliefert, vgl. MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1596. 17 Zu Gunther von Nordhausen (1458–1501) vgl. ausführlicher Barbara FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 34; Studien zur Germania Sacra, 11), Göttingen 1973. Er visitierte und reformierte u. a. 1485 Döllstädt, 1486 Ichtershausen, 1492 Kelbra, 1493 Oberweimar, 1494 Jena und 1499 Roda (nicht durchgeführt).

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Damit wurde ein Akt vollzogen, der vor allem in den Klöstern der benediktinischen Ordensfamilie alles andere als selbstverständlich war. Im Gegenzug kamen Nonnen aus regeltreuen Klöstern neu hinzu, um die disziplinarisch verschärfte Lebensweise zu festigen.18 Die Dominanz des Petersklosters war so weitreichend, dass einige der Zisterzienserklöster sich später als Benediktinerinnenklöster bezeichneten und sich sogar als der einflussreichen Bursfelder Benediktinerkongregation zugehörig betrachteten.19 Die Reformmaßnahmen, mit denen auch das Gemeinschaftseigentum wieder erneuert wurde, führten in der Regel zu ökonomischem Aufschwung, der die Finanzierung von Baumaßnahmen ermöglichte – einem untrüglichen Zeichen für Lebendigkeit und Wohlergehen einer Gemeinschaft der benediktinisch-zisterziensischen Ordensfamilie. So wurden beispielsweise in Oberweimar im Jahr 1493 ein neues Dormitorium errichtet20 und zwischen 1504 und 1508 der Glockstuhl für eine zweite Glocke erweitert.21 Nicht unbeteiligt an den Reformmaßnahmen waren die Stadträte, die mit wachsender wirtschaftlicher Bedeutung zunehmend selbstbewusster agierten. In Anrode und in Jena wachten sie im Auftrag des Landesherrn über die Klosterdisziplin und zahlten bei Aufrechterhaltung regeltreuen Lebens eine „Observanzprämie“ aus.22 Die Räte nutzten geschickt jede momentane Schwäche der Klöster oder deren innere Zwistigkeiten,23 um eigene Interessen bzw. die Interessen der Bürgerschaft durchzusetzen. Schließlich besaßen die Klöster meist nicht nur das Patronat über die Stadtkirchen und verantworteten damit den Gottesdienst24 in der Stadt und den umliegenden, ihnen gehörenden Dörfern, sondern auch den Schulbetrieb. Da die aufblühenden Städte auf eine gute Schulbildung der Kinder ihrer Kaufleute und Handwerker angewiesen waren, 18 Zu Jena, das Nonnen aus Ichtershausen aufnahm und widerspenstige nach Roda abgab, vgl. HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1023. 19 So geschehen in Oberweimar, vgl. Manfred VON BOETTICHER, Oberweimar, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), S. 1213–1227, hier S. 1217. Eisenberg unterstellte sich im Jahr 1521 der Bursfelder Kongregation, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 610. 20 Vgl. VON BOETTICHER, Oberweimar (wie Anm. 19), S. 1222. 21 Vgl. ebd. 22 In Jena sollte ab 1494 eine jährliche Observanzprämie des Landesherrn den Erfolg der Reformmaßnahmen dauerhaft absichern, vgl. HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1024. Anrode erhielt im Jahr 1515 eine Schenkung unter Observanzvorbehalt, vgl. Anna EGLER, Anrode, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 62–112, hier S. 66. 23 So schlichtete der Stadtrat in Eisenberg im bischöflichen Auftrag einen Streit zwischen dem Klosterpropst und seinen Kaplänen, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 610. 24 So in Eisenberg, vgl. ebd., S. 617, und Roda, vgl. HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1425. Vgl. außerdem DIES., Petersberg (wie Anm. 13), S. 1084.

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häufte sich die Kritik an der Fähigkeit der von den Klöstern eingesetzten Schulmeister. Zunehmend wurde das Recht der Äbtissinnen und Priorinnen, die Schulmeisterstelle zu besetzen, bestritten.25 Ein weiteres Konfliktfeld betraf die Qualität der Seelsorge an der Klosterkirche, die oft auch Pfarr- oder Stadtkirche war.26 Die sich emanzipierenden Städter forderten hier ebenso eine bessere oder andere Seelsorge. In den 1520er Jahren ging man in Eisenberg in dieser Angelegenheit immer aggressiver vor. Höchstwahrscheinlich vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Reformationsbewegung finanzierte der Eisenberger Rat seit 1523 einen Geistlichen auf eigene Kosten; 1525 bat er den Kurfürsten, diesen Stadtgeistlichen künftig aus den Einkünften des Klosters zu unterhalten.27 Die Reformmaßnahmen hatten den Einfluss äußerer Kräfte auf die Klöster gestärkt; schon seit dem 15. Jahrhundert sahen sich die Klöster in ihren Rechten und Privilegien zunehmend bedrängt,28 nicht nur durch die Städte, sondern auch durch konkurrierende Landbesitzer der Umgebung. Erzwungene Kooperation und noch häufiger Konfrontation prägten das Verhältnis der Klöster zur Stadt- und Landobrigkeit. Die veränderten Machtverhältnisse erforderten mitunter weitreichende Zugeständnisse: In einigen Fällen musste das Patronat über die Stadtpfarrkirche der Stadt übergeben werden.29 Die Reaktion auf die reformatio Martin Luthers stand daher in einer Tradition emanzipatorischen Ringens. Die harsche Kritik am Klosterleben fiel auf fruchtbaren Boden. Der sich rasch verbreitende Flächenbrand der Geringschätzung, ja der Verachtung geistlichen Gemeinschaftslebens diente nun als willkommenes Argument, die Rechte der Klöster zu bestreiten und die auf dem Land oft drückende Abgabenlast zu vermindern. Infolgedessen verweigerten die Bauern ihre Abgaben und das Gesinde zeigte keinen Respekt mehr.30 Zudem entzog der Landesherr Fischereirechte31 und beschlagnahmte das Klostersiegel, was die weitere Geschäftstätigkeit empfindlich einschränkte. Wie die Gemeinschaften hingegen auf die lutherische Lehre reagierten, liegt großenteils im Dunkeln. Bekannt ist beispielsweise, dass die Zisterzienserinnen von Oberweimar sie noch 25 26 27 28

Zu Jena vgl. DIES., Jena (wie Anm. 7), S. 1013. Zu Worbis vgl. MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1603. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 611. Zu den seit dem 14. Jahrhundert währenden Konflikten des Altendorfer Klosters in Nordhausen vgl. Peter KUHLBRODT, Nordhausen, Altendorfer Kloster, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 1110–1142, hier S. 1117. 29 So in Gotha 1523, vgl. Hans-Peter SCHMIT: Gotha, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 824–838, hier S. 832. 30 Zu Roda vgl. HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1432. 31 DIES., Petersberg (wie Anm. 13), S. 1276.

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1524 ablehnten und darüber mit der Bürgerschaft in Konflikt gerieten.32 Von einem entschieden „altgläubigen“ Widerstand wird allerdings nur in wenigen Fällen berichtet. Die Reformation traf die Klöster in unterschiedlicher spiritueller Verfassung – es begegneten Auflösungserscheinungen des geistlichen Lebens ebenso wie ernsthafte Reformbemühungen. Das weitere Schicksal des Klosters verlief weitestgehend unabhängig von der spirituellen und disziplinarischen Situation und daher auch unbeeinflusst von Kriterien des religiösen, moralischen oder gar sittlichen Verfalls. Die Durchsetzung der Reformation war ebenso wie die Frage der Weiterexistenz des Klosters nicht unmittelbar vom Reformstatus des Klosters abhängig, um so mehr aber von äußeren Kräften. Einige Pröpste wandten sich früh und aktiv der Reformation zu und nahmen die Lehre Luthers an,33 ebenso einige Klosterkapläne und Vikare.34 Auch die Anstellung evangelischer Prediger ist überliefert. So wirkte an der zu den Zisterzienserinnen gehörenden Pfarr- und Klosterkirche St. Michaelis in Jena ein Anhänger der radikalen Reformationslehre Karlstadts, der wohl schon zu Weihnachten 1521 erstmals das Sakrament unter beiden Gestalten spendete.35 Im August 1524 predigte Martin Luther selbst in der Kirche des Jenaer Zisterzienserinnenklosters, die später zur protestantischen Stadtpfarrkirche erhoben wurde. Wenig später wurde einer seiner Vertrauten dort neuer Prediger; mit ihm etablierte sich der evangelische Gottesdienst.36 Vom Sturm der Bürger und Bauern blieb das Jenaer Zisterzienserinnenkloster 1525 verschont – vielleicht, weil es zu dieser Zeit nicht mehr als Hort des alten Glaubens angesehen wurde. Als Katalysator des Untergangs wirkte der Bauernkrieg. Er veranlasste in weiten Teilen Thüringens die Obrigkeiten dazu, die Klosterschätze, die Reliquien, die liturgischen Gerätschaften und andere Wertsachen zu entfernen bzw. sicher zu verfahren. Zugleich wurde auch angeordnet, die klösterlichen Archive (Registraturen) mit ihren Besitzurkunden und Siegeln in Sicherheit zu bringen.37 32 Vgl. hierzu VON BÖTTICHER, Oberweimar (wie Anm. 19), S. 1217. 33 Der in Eisenberg seit 1508 nachweisbare Propst resignierte 1523 seine Pfründe und wurde lutherischer Hofprediger in Erfurt, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 611. 34 In Nordhausen wurden 1526 die beiden Vikare des Klosters als evangelische Prediger bezeichnet, vgl. KUHLBRODT, Nordhausen, Altendorfer Kloster (wie Anm. 28), S. 1118. 35 Zum Wirken Martin Reinhards in Jena vgl. HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1026 f. 36 Zu den Aufenthalten Luthers und dem Wirken Anton Musas in Jena vgl. ebd., S. 1027. 37 Das Koster Frauenprießnitz gab Kleinodien, Messgewänder und fünf Kelche bei Vertrauensleuten in Verwahrung, vgl. Dagmar BLAHA, Frauenprießnitz, in: JÜRGENSMEIER/ SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 736–743, hier S. 737. Die beweglichen Besitztümer des Klosters Anrode wurden durch den Propst in den Turm der Stiftskirche von Heiligenstadt gebracht, vgl. EGLER, Anrode (wie Anm. 22), S. 67.

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Dies bewirkte nun, aufgrund der fehlenden Siegel, dass keine Rechtsgeschäfte mehr abgeschlossen werden konnten. Befanden sich die Klostergegenstände einmal in der Verwahrung des Stadtrates, konnten bis zur Rückgabe an die Eigentümer mehrere Jahre vergehen.38 Im schlimmsten Fall erfolgte überhaupt keine Rückgabe mehr. So verwendete der Nordhäuser Rat im Jahr 1532 das „Klostersilber“ des Frauenbergsklosters zur Finanzierung des Türkenkriegs.39 Vor den drohenden Bauern brachte sich auch die Mehrzahl der Konventsmitglieder in Sicherheit. Aus Angst vor der bevorstehenden Plünderung verkauften die Nonnen von Teistungenburg in letzter Minute noch die Hälfte des Viehbestandes zum Schleuderpreis. Die verbliebenen Tiere wurden hernach von den Bauern geraubt.40 Während bereits fremde Bauernheere im Anmarsch waren, bewaffneten sich die Bauern – gelegentlich auch Bürger – der Umgebung: Sie bedrängten die Klöster und entluden ihre Wut über Abgabenlast und Frondienste. Mehrfach sind Versuche überliefert, die heranstürmenden bewaffneten städtischen oder dörflichen Nachbarn durch Bewirtung zu besänftigen. In Stadtilm gelang es dem Propst, die Bauern auf diese Weise zum Abzug zu bewegen.41 In Anrode blieben die Nonnen mit dieser Taktik hingegen erfolglos;42 Propst und Nonnen flohen in der folgenden Nacht. Die Flucht war nicht unbegründet, wie Berichte von Misshandlungen gegenüber den Nonnen zeigen.43 Im Zuge des Bauernkrieges wurden schließlich viele Klöster geplündert:44 die Reliquien, gelegentlich die Kirchenglocken,45 der Hausrat,46 das Vieh und nahezu sämtliche Vorräte wurden gestohlen47 und die Gebäude anschließend in Brand gesteckt.48 38 Die Urkunden und Kleinodien des Klosters Worbis waren 1525 nach Duderstadt in Sicherheit gebracht worden, wo sie in die Obhut des Stadtrates kamen. Das Kloster erhielt sie erst 1537 zurück. Vgl. hierzu MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1601. 39 KUHLBRODT, Nordhausen, Frauenbergskloster Neuwerk (wie Anm. 10), S. 1153. 40 Anna EGLER, Teistungenburg, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 2, S. 1454–1496, hier S. 1458. 41 MÖTSCH, Saalfeld/Stadtilm (wie Anm. 10), S. 1395. 42 Zu den Ereignissen des 27. April 1525 vgl. EGLER, Anrode (wie Anm. 22), S. 67. 43 So in Marksußra Ende April 1525, vgl. DIES., Marksußra, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 1087–1097, hier S. 1089. 44 So Donndorf 1525, vgl. Matthias LUDWIG, Donndorf, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 370–382, hier S. 374, sowie Worbis im Mai 1525, vgl. MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1596. 45 Anrode am 27. April 1525, vgl. EGLER, Anrode (wie Anm. 22), S. 67. 46 Anrode am 27. April 1525, vgl. ebd. 47 Marksußra Ende April 1525, vgl. DIES., Marksußra (wie Anm. 43), S. 1089. 48 Worbis im Mai 1525, vgl. MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1596.

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Ebenso wurden die liturgischen Gewänder, Mess- und Gesangbücher zerstört.49 Die nicht evakuierten Teile von Archiv und Bibliothek gingen häufig verloren,50 wobei auch eine gezielte Vernichtung von Schuldbriefen stattfand.51 Das Kloster in Oberweimar blieb zwar von den aufständischen Bauern verschont, wurde aber mit der Einquartierung von Truppen des Landesherrn belegt, was wiederum zur Verzehrung sämtlicher Nahrungsmittelvorräte führte.52 Das Ergebnis war somit ebenfalls verheerend. Vielfach wurden die Klostergebäude nahezu vollständig zerstört.53 Da in der Folgezeit die Abgaben ausblieben und die Schadensersatzansprüche gegen die Täter aus den Dörfern nur selten Erfolg hatten, fehlte die ökonomische Basis für den Wiederaufbau und neue Investitionen. Aufgrund dessen konnten sich viele Klöster nach dem Bauernkrieg nicht mehr erholen.54 Die Konvente hatten durch Reformation und Bauernkrieg bis 1526 die meisten Mitglieder eingebüßt.55 Die Landesherren reagierten in dieser Situation sehr unterschiedlich. Im ernestinischen Sachsen strebte der von 1525 bis 1532 regierende Kurfürst Johann der Beständige die Aufhebung der Frauenklöster an. Im Kurfürstentum Sachsen wurden die Nonnen deshalb unter Druck gesetzt,56 die Klöster zu verlassen. Als Entschädigung wurde ihnen eine Abfindung zugesprochen; die Auseinandersetzungen um die von ihnen eingebrachte Mitgift konnten sich jedoch noch über Jahre hinziehen. Bei Ausscheiden forderten die Nonnen „ihren Kelch“ zurück,57 was sich schwierig gestaltete, da die Mitgiftzahlungen teilweise in Gold und Silber angelegt und in liturgische Geräte investiert worden waren. Generell lässt sich konstatieren, dass die Nonnen nach einer Abfindungsvereinbarung mehrheitlich die Klöster verließen.58 Sie gingen zu ihren Familien zurück oder heirateten, etwa Geistliche, ehemalige Mönche, wohlhabende Bürger oder ärmere Handwerker.59 Aus soziologischer Sicht dürften 49 Marksußra Ende April 1525, vgl. EGLER, Marksußra (wie Anm. 43), S. 1089. 50 In Donndorf 1525, vgl. LUDWIG, Donndorf (wie Anm. 44), S. 374. 51 So in Frankenhausen, vgl. Monika LÜCKE, Frankenhausen, in: JÜRGENSMEIER/ SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 717–735, hier S. 724. 52 Das Kloster blieb unversehrt, die Nonnen waren aber geflohen, vgl. VON BOETTICHER, Oberweimar (wie Anm. 19), S. 1217. 53 Marksußra 1525, vgl. EGLER, Marksußra (wie Anm. 43), S. 1093. 54 Zu Marksußra vgl. ebd., S. 1089. 55 Zur Situation in Großfurra um 1526 vgl. Monika LÜCKE, Ballhausen/Großfurra, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser (wie Anm. 1), Teilbd. 1, S. 201. 56 Zu Eisenberg vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 611. 57 Vgl. hierzu ausführlicher HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1027 f. 58 So in Oberweimar 1529, vgl. VON BOETTICHER, Oberweimar (wie Anm. 19), S. 1218. 59 Vgl. hierzu ausführlicher HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1029 f.

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unterschiedliche Gründe für eine Eheschließung vorgelegen haben: ein ähnliches Lebensalter, eine vergleichbare Biographie, sozialer Druck oder gesellschaftliche Erwartungshaltung. Stellvertretend für die zahllosen Einzelschicksale betroffener Frauen sollen hier zwei Biographien kurz skizziert werden: Ottilie von Einsiedel und Anna von Schaurodt. Ottilie von Einsiedel war Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters Roda. Sie verlor als Folge der Reform des Jahres 1512 ihr Amt und lebte fortan im Kloster Petersberg.60 Als dieses Kloster 1525 von der Aufhebung bedroht war, willigte sie in eine Abfindung ein. Möglicherweise wurde Ottilie von Einsiedel in ihrer Entscheidung durch den Umstand bestärkt, dass sie in Erfurt, finanziert aus persönlichen Mitteln, ein eigenes Haus besaß. Außerdem vermerkten die kurfürstlichen Kommissare, „sie werde nach einem manne trachten“, womit sie recht behielten. Tatsächlich heiratete sie wenig später. Als Ottilie Metzner stritt sie noch 1529 um die Auszahlung ihrer ursprünglich nach Roda eingebrachten Mitgift von immerhin 73 rheinischen Gulden. Sie benötige das Geld, um eine von ihr erworbene Wüstung als Ackerland urbar zu machen. Anna von Schaurodt war Zisterzienserin in Jena.61 Sie hatte als eine der ersten Nonnen bereits vor dem Bauernkrieg und der Aufhebung des Klosters ihre Gemeinschaft verlassen. Sie heiratete einen Naumburger Bürger namens Johann Gruneberger und forderte 1528 ihre Mitgift in Höhe von 130 Gulden vom Kloster zurück. Nach einigen Verhandlungen verständigten sich beide Parteien auf die Auszahlung, die aber nicht vollständig erfolgte, so dass es fünf Jahre später zu einem weiteren Prozess kam. Inzwischen war Anna von Schaurodt mit dem Jenaer Bürger Johann Franzbeck verheiratet, der im Namen seiner Ehefrau auf Auszahlung der noch ausstehenden Summe klagte. Aus dem Jahr 1544 sind weiterhin Überlieferungen von Anna von Schaurodt erhalten geblieben. Sie lebte nunmehr als Witwe und war mit dem Studium zweier Söhne – evtl. Stiefsöhne – finanziell so überfordert, dass sie den Landesherrn um Unterstützung bitten musste. Wir erfahren in diesem Zusammenhang, dass sie nicht nur eine beachtliche Mitgift ins Kloster eingebracht, sondern ihre Familie anlässlich des Eintritts auch eine größere Spende gegeben und die festliche Einsegnung finanziert hatte. Der Landesherr gewährte ihr daraufhin jährlich zwei Malter Korn auf Lebenszeit. Die Aufhebung der Klöster im ernestinischen Sachsen erfolgte ab 1525 systematisch vonseiten der landesherrlichen Obrigkeit. Nach einigen Jahren der Verwaltung der Klosterbesitzungen durch Amtleute des Landesherrn erwies sich diese Praxis angesichts der oft kleinteiligen und zersplitterten Abgaben als ineffizient; eine Veräußerung des Grundbesitzes an Äckern, Feldern und 60 Vgl. hierzu ausführlicher DIES., Petersberg (wie Anm. 13), S. 1277 f. 61 Vgl. hierzu ausführlicher DIES., Jena (wie Anm. 7), S. 1029 f.

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Wäldern versprach ungleich größeren Gewinn. Trefflich ließ sich dies in der konfliktreichen Zeit konfessioneller Auseinandersetzungen auch ideologisch begründen. Man verfolgte die Absicht – in Thüringen durchaus auch außerhalb des kursächsischen Territoriums –, eine „öde Pflanzung“ auszurotten, die Gottes Wort und Willen widersprach.62 Die Wiederansiedlung geistlicher Gemeinschaften sollte verhindert und die Einnahmen für wahrhaft christliche Zwecke verwendet werden: den Unterhalt von Pfarrern, Schulen und Armen. Tatsächlich wurden die laufenden Einnahmen oder der Verkaufserlös fast standardmäßig wenigstens in Teilen für das Armen- und Schulwesen und die Kirchen verwendet.63 Von der Säkularisierung der Klöster und dem Verkauf ihrer Güter profitierten neben dem Landesherrn64 vor allem adlige Konkurrenten sowie die Städte, deren Räte die Besitzungen erwerben konnten.65 Doch nicht alle Nonnen waren willens und in der Lage gewesen, das Kloster zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Die überlieferten Lebensdaten lassen darauf schließen, dass es sich hierbei um hochranginge und vor allem ältere Nonnen handelte. Vielfach wird von Alter, Krankheit, Gebrechlichkeit und Schwäche berichtet und deshalb ein Ortswechsel als kaum möglich beur62 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt, Hessesche Collectaneen, Nr. A VIII 2 d, Nr. 18, Bl. Vr–IXr, hier Bl. Vv: „[…] das ein öde pflanzung […] sol ausgerottet werden […] die closterordenn, als die gots ordenung vnd wort vngement auch gancz zuwider […] disselbenn zur notturfft in andernn, vnd christlichere milde wege zuvorderst zu underhaltung rechtschaffenner pfarrer, prediger, kirchendiener, auch lehr vnd zuchtschulenn vnnd denn armenn zu gut zuvor ordnenn.“ 63 So in Eisenberg 1543, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 611. Zur Säkularisierung der Klöster in mitteldeutschen Raum vgl. allgemein Enno BÜNZ, Das Ende der Klöster in Sachsen. Vom „Auslaufen“ der Mönche bis zur Säkularisation (1521–1543), in: Harald MARX/Cecilie HOLLBERG (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit, Dresden 2004, S. 80–90; Michael BEYER, Die Neuordnung des Kirchengutes, in: Helmar JUNGHANS (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 22005, S. 93–114; Günther WARTENBERG, Der Umgang mit Klostergut im mitteldeutschen Raum im 16. Jahrhundert, in: Winfried MÜLLER (Hg.), Reform – Sequestration – Säkularisation. Die Niederlassungen der Augustiner-Chorherren im Zeitalter der Reformation und am Ende des Alten Reiches. (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim, 6), Paring 2005, S. 9–24; Stefan OEHMIG, Mönchtum – Reformation – Säkularisation. Zu den demographischen und sozialen Folgen des Verfalls des Klosterwesens in Mitteldeutschland, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 10 (1986), S. 209–249. 64 Vgl. Uwe SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen. Vergleichende Anmerkungen zu Sequestration und Säkularisation im ernestinischen und albertinischen Sachsen (1523– 1544), in: Michael BEYER (Hg.), Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 24), Leipzig 2008, S. 179–192. 65 In Eisenberg 1543, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 611.

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teilt. Häufig verblieben nur sehr kleine Gruppen von sechs,66 vier,67 drei68 oder gar nur zwei69 Frauen. Oft hielt die Äbtissin noch gemeinsam mit einer weiteren Nonne aus.70 Angesichts der kleinen Restkonvente beabsichtigte der Landesherr schon im April 1525, mehrere Klöster zusammenzulegen: Die Nonnen von Petersberg und Eisenberg sollten nach Lausnitz übersiedeln, doch wehrten sich die dortigen Chorfrauen mit dem Argument, die Zisterzienserinnen seien „nicht ihres ordens regel und gepets“.71 Im Alltagsleben klausurierter Frauenkonvente mögen nach außen wenig Unterschiede erkennbar gewesen sein, doch von innen betrachtet blieben die Augustinus- und Benediktregel unvereinbar. Dieses Zitat kann zudem als Indiz dafür betrachtet werden, dass das altgläubige Gemeinschaftsleben weiterhin fortbestand. Es wurde das Chorgebet gehalten und wohl auch der katholische, jetzt als „papistisch“ bezeichnete Gottesdienst mit levitierten Hochämtern.72 Auch die Pfarrer mancher Klosterdörfer wurden bei Visitationen noch Jahrzehnte später als „ungeschickt“ und „ungelert“ oder vielmehr „ungeschickt und papistisch“ beschrieben,73 was dafür spricht, dass sie weiterhin Anhänger ihres alten Glaubens waren. In Roda hingegen nahmen die verbliebenen Frauen die Reformation an. Die nicht mehr benötigten liturgischen Geräte und der Kirchenschatz wurden durch den Stadtrat oder Landesherrn an Goldschmiede verkauft und eingeschmolzen.74 In den Jahren 1530 und 1545 wurden die „abgottischen“ Bilder aus der Kirche entfernt.75 In Oberweimar wurde 1525 sogar der Propst vom Landesherrn abgesetzt.76 Die geistliche Betreuung im (ehemaligen) Kloster übernahm anschließend ein evangelischer Prediger, der „mit Weib und Kinde“ im Kloster einzog.77 Vom letzten Propst des Zisterzienserinnenklosters in Frankenhausen ist ferner bekannt, dass er heiratete und Bürgermeister im Ort wurde.78 Auch in 66 67 68 69 70

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So in Roda zwischen 1527 und 1529, vgl. HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1446. In Petersberg 1525, vgl. DIES., Petersberg (wie Anm. 13), S. 1282. In Marksußra 1535, vgl. EGLER, Marksußra (wie Anm. 43), S. 1092. In Großfurra sind 1533 und 1538 nur zwei Nonnen belegt, vgl. LÜCKE, Ballhausen/ Großfurra (wie Anm. 55), S. 203. In Roßleben waren 1553 nur noch eine Äbtissin aus der Familie der Klostervögte von Witzleben und eine weitere Nonne anwesend, vgl. LUDWIG, Roßleben (wie Anm. 10), S. 1355. HAMMER, Petersberg (wie Anm. 13), S. 1276. Ebd., S. 1278; DIES., Jena (wie Anm. 7), S. 1030. DIES., Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1434. In Roda zu Weihnachten 1525, vgl. ebd., S. 1432. Ebd., S. 1435 f. Vgl. VON BOETTICHER, Oberweimar (wie Anm. 19), S. 1217. Vgl. ebd. Ebenso geschah dies in Roßleben 1540, vgl. LUDWIG, Roßleben (wie Anm. 10), S. 1355. Vgl. LÜCKE, Frankenhausen (wie Anm. 51), S. 726.

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anderen Fällen hatten Klostergeistliche geheiratet und mussten nun mit ihren Familien unterhalten werden,79 was einen erheblichen finanziellen und räumlichen Mehrbedarf bedeutete. Die (ehemaligen) Nonnen lebten weiter im Klostergebäude, später, als ihre Zahl sank, dann in einem anderen Haus auf dem Klostergelände. Meist zu Beginn der 50er Jahre des 16. Jahrhunderts,80 spätestens aber Mitte der 60er Jahre starben die letzten Bewohnerinnen.81 Anders erging es den Klöstern in Territorien, deren Herrscher die neue Glaubenslehre nicht annahmen. Nachdem etwa im albertinischen Sachsen der weiterhin altgläubige Herzog Georg der Bärtige (1500–1539) die aufständischen Bauern 1525 bei Frankenhausen vernichtend geschlagen hatte, forderte dieser die Wiedererrichtung der Klöster. Er ließ die geflohenen Nonnen zurückkehren und schützte die Klöster aktiv gegen äußere Bedrängungen durch territoriale Konkurrenten. Erst sein Nachfolger Heinrich der Fromme führte nach 1539 im Herzogtum Sachsen die Reformation ein. Dem neuen politisch-religiösen Kurs Herzogs Heinrichs konnten die Klöster dann keinen wirksamen Widerstand mehr leisten. Auch diejenigen Klöster, deren geistlicher Herr und Landesherr der Erzbischof von Mainz war, überlebten die Reformation, wenngleich mit durchaus unterschiedlichen Schicksalen im Bauernkrieg. Während einige, wie etwa das im Schutz der Stadt Erfurt liegende St. Martini, teilweise unbehelligt und unzerstört blieben, wurden andere massiv geschädigt oder zerstört und die darin lebenden Nonnen vertrieben. Sie teilten damit ein ähnliches Schicksal wie die kursächsischen Klöster. Als Beispiel sei Anrode im Eichsfeld angeführt. Das Kloster litt unter Zerstörungen und hohen Steuerzahlungen, aufsässigen Zinspflichtigen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und nicht zuletzt religiöser Verunsicherung – nicht einmal mehr das Chorgebet wurde gehalten.82 Auch hier lebten zeitweise nur noch fünf Nonnen. In Teistungenburg, das sich in einer sehr ähnlichen Situation befand, lebten sogar nur noch vier Nonnen.83 Unter dem Einfluss der Jesuiten und einer Mainzer Visitation wurde ab 1575 die Lage aber wieder verändert. Aufgrund tatkräftiger Äbtissinnen und Pröpste setzte ein neuer Aufschwung ein, so dass Anrode und Teistungenburg noch bis zur Säkularisation im frühen 19. Jahrhundert weiter fortbestehen sollten.84 Doch sind dies wenige Ausnahmen. Letztlich garantierte selbst die Unterstützung durch den Landesherrn oder einen Vogt noch nicht das Überleben des Klosters. Wenn immer 79 So beispielsweise in Roda 1527–1529, vgl. HAMMER, Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1435 f. 80 So zu Frankenhausen, vgl. LÜCKE, Frankenhausen (wie Anm. 51), S. 726. 81 Zu Jena vgl. HAMMER, Jena (wie Anm. 7), S. 1030; zu Roda vgl. DIES., Stadtroda (wie Anm. 1), S. 1446. 82 EGLER, Anrode (wie Anm. 22), S. 68 f. 83 DIES., Teistungenburg (wie Anm. 40), S. 1461. 84 DIES., Anrode (wie Anm. 22), S. 75; DIES., Teistungenburg (wie Anm. 40), S. 1468.

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mehr Dörfer den noch schuldigen Zins nicht zahlten, sanken die Einnahmen so dramatisch, dass die Klöster gezwungen waren, Kredite aufzunehmen, Land zu veräußern,85 oder Messbücher zu verkaufen, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern86 oder fällige Steuern zahlen zu können. Noch schwerer wog zudem der dramatische Rückgang an Nonnen aufgrund ausbleibender Neueintritte. So kam das Ende auch für von außen unbedrängte Klöster.87 Es stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung hätte verhindert werden können. Fest steht, dass der Handlungsspielraum vonseiten der Ordensleute relativ eingeschränkt war. Eine Unterstützung durch den Zisterzienserorden war nach dem Bauernkrieg noch unwahrscheinlicher als zuvor. Auch die einflussreiche Bursfelder Benediktinerkongregation fiel als Rückhalt aus, da sie durch die Verluste der Klöster in ihrem sächsischen Kernland schwer getroffen und dadurch paralysiert und kaum handlungsfähig war. Und auch die frühere Solidargemeinschaft der Zisterzienserinnenklöster konnte wenig Hilfe leisten, weil sich alle überlebenden Klöster in bedrängter Lage befanden. Unmittelbar daran anschließend stellt sich in diesem Zusammenhang außerdem die Frage, was aus den Klöstern wurde. Die Klostergebäude dienten nach Auszug der früheren Bewohner nahezu standardmäßig als Mädchen-, häufiger noch als Knabenschulen.88 In Roßleben wurde von Vogt Heinrich von Witzleben eine Schule gestiftet; auf dem ehemaligen Klostergelände befindet sich noch heute ein Gymnasium.89 Gelegentlich fungierten die Klöster auch als Hospital oder Armenhaus.90 Oftmals wurden die Kirchen und Klostergebäude schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts91 als Steinbruch für Häuser92 oder Schlösser93 genutzt. Mitunter wurde das Klostergelände planiert und in einen

85 So Großfurra 1527, vgl. LÜCKE, Ballhausen/Großfurra (wie Anm. 55), S. 201. 86 In Großfurra war dies 1530 auch erforderlich, um die Türkensteuer aufbringen zu können, vgl. ebd., S. 202. 87 Großfurra wurde 1538 durch Herzog Georg aufgehoben; unsicher ist, ob hier noch zwei Nonnen lebten, vgl. ebd., S. 203. Auch in Frauenprießitz war keine Wiederbelebung möglich, vgl. BLAHA, Frauenprießnitz (wie Anm. 37), S. 737 u. 740. 88 So in Frankenhausen, vgl. LÜCKE, Frankenhausen (wie Anm. 51), S. 726. 89 1554 wurde das Klostergebäude in Roßleben in eine Frei- und Landesschule umgewandelt; bis heute besteht auf dem ehemaligen Klostergelände ein Gymnasium, vgl. LUDWIG, Roßleben (wie Anm. 10), S. 1355. 90 Frauenprießnitz wurde 1549 verkauft; auf dem Gelände sollte ein Hospital für sechs arme Leute entstehen, vgl. BLAHA, Frauenprießnitz (wie Anm. 37), S. 737. 91 Kloster und Kirche wurden in Eisenberg im 16. Jahrhundert abgerissen, vgl. LUDWIG, Eisenberg (wie Anm. 10), S. 618. 92 So in Stadtroda noch heute in Fundamentbausteinen der Umgebung ersichtlich. 93 In Stadtilm waren um 1628 nur noch unbewohnte Reste des Klosters erhalten, auf denen ein Schloss errichtet wurde, vgl. MÖTSCH, Saalfeld/Stadtilm (wie Anm. 10), S. 1402.

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Friedhof umgewidmet.94 Aufgrund dessen sind von vielen Klöstern keine baulichen Reste erhalten geblieben.95 Dort, wo die Kirchen nicht in protestantische Pfarrkirchen umgewandelt wurden, finden sich heute Ruinen.96 Einige bauliche Relikte blieben durch eine Weiternutzung in protestantischer Zeit – wenngleich in anderer Funktion – bis heute erhalten. Mittels ihrer baulichen Form lassen sich Rückschlüsse auf ihre frühere klösterliche Funktion, etwa als Nonnenempore oder Beichterker,97 ziehen. Ausgesprochen selten stehen noch Wirtschaftsgebäude98 oder andere Häuser aus ehemaligen Klosterkomplexen.99 Dort, wo sie noch zu finden sind, liefern sie einige Orientierungspunkte für die ursprüngliche Beschaffenheit der Gesamtanlage. Gelegentlich werden bei Grabungen Fundamentreste mit Brandspuren freigelegt, die unmittelbar in den Bauernkrieg zurückführen.100 Hierbei wird deutlich, vor allem mit Blick auf die Vernichtung der vielen Klosterarchive und der anschließenden sukzessiven Aufhebung der Klöster, wie sehr eine Epoche ihrem Ende entgegenging. Von der flächendeckenden Verwüstung in der Reformationszeit sollte sich das religiöse Gemeinschaftsleben im Kernland der Reformation nicht mehr erholen. Nie wieder gewann es seine frühere gesellschaftsprägende Kraft. Es blieben einige Handschriften und frühe Drucke in großen Bibliotheken, die oft noch ihrer Zuordnung zu einem klösterlichen Vorbesitzer harren. Des Weiteren blieben eine überschaubare Zahl von Besitzurkunden und viel zu wenige Akten, die uns über das reale Leben, die alltäglichen Sorgen und die großen Nöte der Reformationszeit Aufschluss geben könnten. Immerhin haben sie sich in einer Anzahl und mit einer Aussagekraft erhalten, dass sie – oft „gegen den Strich“ ihres ursprünglichen Entstehungskontextes gelesen und interpretiert – schattenhaft und in vagen Umrissen mehr erahnen als erkennen lassen, welche Persönlichkeiten in diesen Zeiten des refor-

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In Gotha wurden um 1540 die Klostergebäude zugunsten eines Friedhofs abgerissen, vgl. SCHMIT, Gotha (wie Anm. 29), S. 833. 95 So in Worbis, vgl. MÜLLER, Worbis (wie Anm. 14), S. 1603. 96 In Stadtroda lässt eine Ruine die Dimension der Klosterkirche erkennen; in Frankenhausen sind Chor und Turm der Kirche erhalten, vgl. LÜCKE, Frankenhausen (wie Anm. 51), S. 730. 97 Zu Jena vgl. Dieter BLUME, Architektur und Baugestalt von St. Michael, in: Volker LEPPIN/Matthias WERNER (Hg.), Inmitten der Stadt, St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, Petersburg 2004, S. 83–104. 98 In Stadtilm ist ein Speichergebäude aus dem Jahr 1350 erhalten, vgl. MÖTSCH, Saalfeld/Stadtilm (wie Anm. 10), S. 1403. 99 In Frankenhausen ist das Propsteigebäude aus dem Jahr 1534 erhalten, vgl. LÜCKE, Frankenhausen (wie Anm. 51), S. 731. 100 So im Jahr 1991 in Marksußra, vgl. EGLER, Marksußra (wie Anm. 43), S. 1093.

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matorischen Umbruchs lebten. Nicht immer nur als passive Opfer, ein unabwendbares Schicksal erleidend und sich fügend, sondern auch ihren Widersachern mutig entgegentretend – und nicht zuletzt die Realitäten einer neuen Zeit annehmend und das Leben unter veränderten Bedingungen neu gestaltend.

ALEXANDER SEMBDNER DIE AUGUSTINER-CHORHERREN IN THÜRINGEN

Die Augustiner-Chorherren in Thüringen zwischen Reform und Reformation aus organisations- und strukturgeschichtlicher Perspektive 1. Einleitung „Er wher der hoffnung, mein gnedigister her würdt nicht fur Sie in die helle farenn“, ließ am 2. Dezember 1528 Benedikt Bischof, Propst des AugustinerChorherrenstifts Unser Lieben Frauen vor Altenburg, die Visitatoren des sächsischen Kurfürsten wissen. Mit „Sie“ meinte er dabei sich und die Brüder seines Konvents, die sich schweren Anfeindungen aus den Gemeinden der dem Stift inkorporierten Pfarrkirchen, wo sie u. a. als Pfarrer und Prediger fungierten, ausgesetzt sahen. Denn die Haltung der Chorherren stand in der Frage des sich rasant ausbreitenden evangelischen Glaubens jener der Gemeindemitglieder diametral entgegen. Auf Vorwürfe von „vnnzucht“ gegenüber seinen Brüdern hatte Benedikt Bischof zwar mit einem strikten Ausgehverbot reagiert, „wie wol Er darnach furgeben, Er wuste nicht annders dann das sich seine bruder wol hielten“. Und so fertigte der Propst die kurfürstlichen Amtleute kurzerhand mit der Belehrung ab, „Ir orden wer vor tausennt jhar gewest“ und interne wie externe Kritik habe es schon immer gegeben, man sei damit bisher ganz gut alleine zurechtgekommen.1 „Die Situation der Augustiner-Chorherrenstifte im Zeitalter der Reformation stellt sich ambivalent dar“, so bringt es Franz Brendle präzise auf den Punkt. „Einerseits waren die Stifte gekennzeichnet vom Verfall der Klosterdisziplin, andererseits in ihrer Existenz bedroht durch die Reformation. Dabei hatte das vorangegangene Jahrhundert gerade im Zeichen umfassender Reformen gestanden.“2 Ob die klassische Dichotomie von „Klosterverfall“ und „Reformfreudigkeit“ nicht eine allzu plakative Zuspitzung und nicht zuletzt das narrative Erbe der reformatorisch-evangelischen Historiographie darstellt, sei einmal dahinge1 2

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh – HStA Weimar), EGA, Reg. Ii 1, fol. 40r. Franz BRENDLE, Die Augustiner-Chorherren, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 3 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 67), Münster 2007, S. 39–64, hier S. 39.

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stellt.3 Unbestreitbar ist aber die hier zum Ausdruck gebrachte „problematische“ Vielfalt der mittelalterlichen Augustiner-Chorherren. Die regulierten Kanoniker, die im strengen Sinne keine Mönche waren,4 beriefen sich auf die Regel des Kirchenvaters Augustinus von Hippo (354–430), die das gemeinsame Leben der vita communis in privater Armut, maßvoller Askese und Keuschheit sowie den priesterlich-seelsorgerischen Dienst betonte.5 Bereits aus der mehr oder weniger strengen Auslegung der Regel – die zudem in zwei Fassungen, dem milderen Praeceptum und dem strengeren Ordo monsterii überliefert wurde – gingen im Zuge der sog. „Kanonikerreform“ des 11. und 3

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Vgl. Dieter MERTENS, Klosterreform als Kommunikationsereignis, in: Gerd ALTHOFF (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen, 51), Stuttgart 2001, S. 397–420, hier S. 398; Hartmut BOOCKMANN, Das 15. Jahrhundert und die Reformation, in: DERS. (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, 206), Göttingen 1994, S. 9–25; Berndt HAMM, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), S. 7–82; DERS., Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer, in: Zeitschrift für historische Forschung 39 (2012), S. 373–412. Zur begrifflichen Diskussion Wilhelm KOHL, Die Windesheimer Kongregation, in: Kaspar ELM (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner Historische Studien, 14; Ordensstudien, VI), Berlin 1989, S. 83–106, hier S. 88 Anm. 20. Die Quellen bezeichnen die Einrichtungen der Augustiner-Chorherren zwar als Klöster (monasteria), ihrer institutionellen Organisation nach sind sie aber Stifte. Vgl. Luc M. J. VERHEIJEN, La règle de saint Augustin, 2 Bde., Paris 1967; DERS., Art. Augustinusregel, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München/Zürich 1980, Sp. 1231; Adolar ZUMKELLER, Art. Augustinusregel, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin/New York 1979, S. 745–748. Vgl. auch Klaus SCHREINER, Ein Herz und eine Seele. Eine urchristliche Lebensform und ihrer Institutionalisierung im augustinisch geprägten Mönchtum des hohen und späten Mittelalters, in: Gert MELVILLE/Anne MÜLLER (Hg.), Regula Sancti Augustini. Normative Grundlage differenter Verbände im Mittelalter (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim, 3), Paring 2002, S. 1–48; DERS., „Communio“ – Semantik, Spiritualität und Wirkungsgeschichte einer in der Augustinusregel verankerten Lebensform, in: Ulrich KÖPF (Hg.), Frömmigkeit und Theologie an Chorherrenstiften (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 66), Ostfildern 2009, S. 63–89. Zu den Augustiner-Chorherren ganz allgemein vgl. Cosimo Damiano FONSECA, Augustiner-Chorherren, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München/Zürich 1980, Sp. 1219 f.; Manfred HEIM, Augustiner-Chorherren, in: Georg SCHWAIGER (Hg.), Mönchtum, Orden, Klöster. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Lexikon, München 1993, S. 59–66; Hubert SCHOPF, Augustiner-Chorherren, in: Peter DINZELBACHER/ James Lester HOGG (Hg.), Kulturgeschichte der Christlichen Orden in Einzeldarstellungen (Kröners Taschenausgabe, 450), Stuttgart 1997, S. 37–54.

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12. Jahrhunderts zwei grundsätzliche Stoßrichtungen (der ordo antiquus und der ordo novo) hervor, aus denen sich letztlich die Augustiner-Chorherren und die Prämonstratenser herausbildeten.6 Diese Entwicklung zeigt an, wie vielfältig die Formen des gemeinsamen (monastischen) Lebens nach der Regel des heiligen Augustinus sein konnten.7 Daher sind auch in jenen Institutionen, die sich wie die AugustinerChorherren explizit auf die Regel des Kirchenvaters beriefen, die Gewohnheiten des jeweiligen Konvents, die consuetudines, von entscheidender Bedeutung. Zwar lebten auch Benediktiner nach gewissen Gewohnheiten ihres jeweiligen Klosters, diese beruhten jedoch weiterhin auf der Benediktsregel und waren meist nur auf spezielle örtliche Besonderheiten hin geringfügig angepasst worden. Die 6

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Vgl. Stefan WEINFURTER, Salzburger Bistumsreform und Bischofspolitik im 12. Jahrhundert. Der Erzbischof Konrad I. (1106–1147) und die Regularkanoniker (Kölner Historische Abhandlungen, 24), Köln/Wien 1975; DERS., Grundlinien der Kanonikerreform im Reich im 12. Jahrhundert, in: Franz NIKOLASCH (Hg.), Studien zur Geschichte von Millstatt und Kärnten. Vorträge der Millstätter Symposien 1981–1995 (Archiv für Vaterländische Geschichte und Topographie, 78), Klagenfurt 1997, S. 751–770; DERS., Funktionalisierung und Gemeinschaftsmodell. Die Kanoniker in der Kirchenreform des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Sönke LORENZ/Oliver AUGE (Hg.), Die Stiftskirche in Südwestdeutschland. Aufgaben und Perspektiven der Forschung (Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde, 35), Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 107–121; Karlotto BOGUMIL, Das Bistum Halberstadt im 12. Jahrhundert. Studien zur Reichs- und Reformpolitik des Bischofs Reinhard und zum Wirken der Augustiner-Chorherren (Mitteldeutsche Forschungen, 69), Köln/Wien 1972; Thomas ZOTZ, Milites Christi. Ministerialität als Träger der Kanonikerreform, in: Stefan WEINFURTER (Hg.), Reformidee und Reformpolitik im spätsalischfrühstaufischen Reich (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 68), Mainz 1992, S. 301–328; Hedwig RÖCKELEIN, Die Auswirkung der Kanonikerreform des 12. Jahrhunderts auf Kanonissen, Augustinerchorfrauen und Benediktinerinnen, in: Franz J. FELTEN/Annette KEHNEL/Stefan WEINFURTER (Hg.), Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville, Köln/Weimar/Wien, S. 55–72. Helmut DEUTZ/Stefan WEINFURTER (Bearb.), Consuetudines canonicorum regularium Rodenses. Die Lebensordnung des Regularkanonikerstiftes Klosterrath (Fontes Christiani, 11/1), Freiburg i. Br. 1993, S. 35: „Die Kanoniker orientierten sich zunächst an Texten der patristischen Überlieferung, an Teilen der Aachener Gesetzgebung von 816 und an Bräuchen der regula canonica des 10. und 11. Jahrhunderts, eines vielfältigen Ganzen vermischter Schriften, das die über Jahrhunderte hin entstandene Kontinuität spiritueller Weisungen zur vita apostolica bewahrte. Augustinus war für sie hierbei eine Autorität unter anderen. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts wollten sie secundum regulam beati Augustini vivere, was aber noch nicht hieß ‚gemäß der Regel des heiligen Augustinus leben‘, sondern ‚gemäß seinem Beispiel und seien Grundsätzen‘. Erst vom frühen 12. Jahrhundert an beriefen sich die Kanoniker immer häufiger auf die geschriebene Regel des Augustinus als Regel ihres Gemeinschaftslebens, weil sie in ihr mehr und mehr den überzeugendsten Ausdruck der vita apostolica erkannten.“ Vgl. dazu kritisch SCHREINER, „Communio“ (wie Anm. 5), S. 64 f., Anm. 11.

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consuetudines der Regularkanoniker hingegen bewegten sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Textfassungen der Augustinusregel und den ganz eigenen Gewohnheiten, die z. B. aus einem Mutterkonvent oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Reformgruppe stammen konnten.8 „Problematisch“ wird die Vielfalt der möglichen Erscheinungsformen der Augustiner-Chorherrenstifte nun im Hinblick auf bestimmte Untersuchungskontexte wie etwa observante Reformbestrebungen oder die Reformation. Da sie niemals einen „wirklichen“ Orden bildeten (auch wenn die Quellen von diesem sprechen), also z. B. kein Generalkapitel besaßen oder eine hierarchisch klar geordnete Provinzenstruktur entwickelten, – was in Anbetracht der Vielzahl der möglichen consuetudines, nach denen die jeweiligen Konvente leben konnten, auch schwer möglich war – reagierten die Augustiner-Chorherren jeweils individuell, selten im Verbund, auf die Probleme ihrer Zeit. Zwar hatte es bereits vor der Konstitution „Ad decorem“ Papst Benedikts XII. aus dem Jahre 1339, welches die Bildung von Kongregationen und die regelmäßige Abhaltung von Provinzialkapiteln einforderte, Zusammenschlüsse einzelner Stifte gegeben.9 Doch war auch deren Zustandekommen wieder von der institutionellen Einbettung der jeweiligen Einrichtung bestimmt (im Sinne etwa der Gründungsgeschichte, der Bistumszugehörigkeit, der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Stifts usw.). Mit Blick auf die Frage nach dem Schicksal der thüringischen AugustinerChorherrenstifte zwischen den Reformbestrebungen des 15. und den Reformationsvorgängen des 16. Jahrhunderts ergibt sich aus diesen Überlegungen der Befund, dass man Agieren und Reagieren des jeweiligen Stifts auf die verschiedenen Zeitläufte nur vor dem Hintergrund einer gut fundierten Institutionen-

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SCHREINER, Herz und Seele (wie Anm. 5), S. 38–46; DERS., „Communio“ (wie Anm. 5); S. 65–68 u. 86–89; DEUTZ/WEINFURTER (Bearb.), Consuetudines (wie Anm. 7), S. 37 f.; HEIM, Chorherren (wie Anm. 5), S. 144; Gert MELVILLE, Ordensstatuten und allgemeines Kirchenrecht. Eine Skizze zum 12./13. Jahrhundert, in: Peter LANDAU/Joers MUELLER (Hg.), Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law, Munich, 13–18 July 1992 (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 10), Vatikanstadt 1997, S. 691–702, hier S. 693. KOHL, Windesheimer Kongregation (wie Anm. 4), S. 96. Vgl. auch Franz J. FELTEN, Die Ordensreformen Benedikts XII. unter institutionengeschichtlichem Aspekt, in: Gert MELVILLE (Hg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, 1), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 369–435. Kongregationsbildungen wurden allerdings schon unter Papst Calixt II. in der Blütezeit der mit den Augustiner-Chorherren verbundenen Reform befördert, vgl. BOGUMIL, Das Bistum Halberstadt (wie Anm. 6), S. 166–180.

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geschichte entsprechend begreifen und erklären kann.10 In dieser Hinsicht fällt der Forschungsstand für die Augustiner-Chorherren in Thüringen allerdings reichlich mager aus. Da das Thüringische Klosterbuch aus diversen Gründen nicht über eine fehlerhafte und weitgehend inhaltsleere Website herausgekommen ist,11 fehlen für fast alle thüringischen Chorherrenstifte moderne Untersuchungen.12 Fundierte Monographien als Grundlage weiterführender Forschungen, wie sie etwa kürzlich Dirk Martin Mütze für das Afrastift in Meißen vorgelegt hat,13 sind in Zeiten, da Kloster- und Stiftsmonographien bedauerlicherweise wohl keine Attraktivität mehr als Qualifikationsarbeiten besitzen, zu-

10 Vgl. Klaus SCHREINER, Dauer, Niedergang und Erneuerung klösterlicher Observanz im hoch- und spätmittelalterlichen Mönchtum. Krisen, Reform- und Institutionalisierungsprobleme in der Sicht und Deutung betroffener Zeitgenossen, in: MELVILLE (Hg.), Institutionen und Geschichte (wie Anm. 9), S. 295–341, hier S. 295: „Die Frage, wie sich Strukturveränderungen im sozialen Umfeld von Klöstern auf diese selbst auswirkten, läßt jedoch keine generalisierenden Antworten zu. Es bedarf der Unterscheidung von Fall zu Fall. Soziale und wirtschaftliche Wirkungen, die von der sozialen Umwelt eines Klosters ausgingen, konnten dessen Gestaltungswillen und Widerstandskraft überfordern. Umgekehrt gilt: Gesellschaftliche Strukturveränderungen konnten die Lebensordnung mittelalterlicher Mönchskonvente nur deshalb aus den Fugen geraten lassen, weil unter den Mönchen selbst die Fähigkeit zu spirituellem Leben erschöpft und der Wille zur Weltentsagung erschlafft waren.“ 11 https://www2.uni–erfurt.de/monasticon/info.htm [letzter Zugriff: 28.02.2017]. Auch für Sachsen-Anhalt fehlt ein solches dringend benötigtes Werk. Gut erforscht stellen sich dagegen die geistlichen Institutionen Sachsens und Brandenburgs mit ihren bereits erschienenen bzw. im Erscheinen begriffenen Klosterbüchern dar, vgl. Heinz-Dieter HEIMANN/ Klaus NEITMANN/Winfried SCHICH (Hg.), Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde. (Brandenburgische historische Studien, 14), Berlin 2007; Enno BÜNZ (Hg.), Die mittelalterlichen Klöster, Stifte und Kommenden im Gebiet des Freistaates Sachsen, in Zusammenarbeit mit Sabine Zinsmeyer und Dirk Martin Mütze (in Druckvorbereitung). 12 Einen Überblick bieten Alfred WENDEHORST/Stefan BENZ, Verzeichnis der Stifte der Augustiner-Chorherren und -Chorfrauen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 56 (1996), S. 1–110. Es sei angemerkt, dass auf der Website des Thüringischen Klosterbuches (wie Anm. 11) zum Teil Institutionen als Augustiner-Chorherrenstifte ausgewiesen werden, die Säkularkanonikerstifte (Kollegiatstifte) waren, wie etwa das Marienstift in Eisenach oder das Marienstift in Gotha. Vgl. dazu Alfred WENDEHORST/Stefan BENZ, Die Säkularkanonikerstifte der Reichskirche (Schriften des Zentralinstituts für Fränkische Landeskunde und Allgemeine Regionalplanung an der Universität Erlangen-Nürnberg, 35), Neustadt a. d. Aisch 1997. 13 Dirk Martin MÜTZE, Das Augustiner-Chorherrenstift St. Afra in Meißen (1205–1539) (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 54), Leipzig 2016.

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mindest für die geistlichen Einrichtungen der Augustiner-Chorherren in Mitteldeutschland selten, aber dennoch dringend erforderlich.14 In Anbetracht dessen will ich mich hier auf einige ausgewählte Chorherrenstifte des thüringischen Raumes beschränken, für die einige mehr oder weniger ältere Untersuchungen und vor allem Quellenmaterial in bereits gedruckter Form vorliegen. Denn wie oben angemerkt, würde eine grundsätzlich vergleichende Untersuchung der thüringischen bzw. mitteldeutschen Augustiner-Chorherrenstifte eine intensive Archivrecherche voraussetzen, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Ausschnittartig will ich hier diejenigen thüringischen Stifte in den Blick nehmen, die durch die observanten Reformbestrebungen des Windesheimer Chorherren und Propstes von Neuwerk, Johannes Busch, Mitte der 1450er Jahre berührt wurden.15 Es stellt sich zunächst die Frage, warum die Observanz nur in einem Teil der Stifte erfolgreich eingeführt werden konnte und welche Strategien etwa zur „Abwehr“ solcher Bestrebungen angewandt wurden. Daran schließt sich zweitens die Frage, auf welche Art und 14 Demgegenüber steht z. B. eine intensive Erforschung der Augustiner-Chorherren im süddeutschen Sprachraum sowie in ehemaligen habsburgischen Gebieten, vgl. Floridus RÖHRIG (Hg.), Die Stifte der Augustiner-Chorherren in Böhmen, Mähren und Ungarn (Österreichisches Chorherrenbuch. Die Klöster der Augustiner-Chorherren in der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 1), Klosterneuburg 1994; DERS. (Hg.), Die bestehenden Stifte der Augustiner-Chorherren in Österreich, Südtirol und Polen (Österreichisches Chorherrenbuch. Die Klöster der Augustiner-Chorherren in der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 2), Klosterneuburg 1997; DERS. (Hg.), Die ehemaligen Stifte der Augustiner-Chorherren in Österreich und Südtirol (Österreichisches Chorherrenbuch (Die Klöster der Augustiner-Chorherren in der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 3), Klosterneuburg 2005; Ursula BEGRICH (Bearb.), Die Augustiner-Chorherren und die Chorfrauen-Gemeinschaften in der Schweiz (Helvetia Sacra, Teilbd. IV,2), Basel 2004. Vgl. auch Enno BÜNZ, Zwischen Kanonikerreform und Reformation. Anfänge, Blütezeit und Untergang der Augustiner-Chorherrenstifte Neumünster-Bordesholm und Segeberg (12.–16. Jahrhundert) (Schriftenreihe der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim, 7), Paring 2002; Wilhelm KOHL (Bearb.), Das Bistum Münster, Bd. 2: Die Klöster der Augustiner-Chorherren (Germania Sacra, NF 5), Berlin/New York 1971. 15 Vgl. Bertram LESSER, Johannes Busch. Chronist der Devotio moderna. Werkstruktur, Überlieferung und Rezeption (Tradition, Reform, Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters, 10), Frankfurt/Main 2005; Friedrich Wilhelm BAUTZ, Art. Busch, Johannes (1399–1479), in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm/Westfalen 1990, Sp. 825 f.; Johannes MEYER, Johannes Busch und die Klosterreform des 15. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 47 (1949), S. 43–53. Vgl. auch KOHL, Windesheimer Kongregation (wie Anm. 4); Sönke LORENZ, Zu Spiritualität und Theologie bei der Windesheimer Kongregation, in: KÖPF (Hg.), Frömmigkeit und Theologie an Chorherrenstiften (wie Anm. 5), Ostfildern 2009, S. 169–184.

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Weise reformierte wie nicht-reformierte Augustiner-Chorherrenstifte auf die Herausforderungen der Reformation reagierten. Hierbei stehen, in Anbetracht der schwierigen Forschungslage, besonders institutionelle bzw. organisationssoziologische Aspekte im Vordergrund der Betrachtung. Die dabei in den Blick genommenen Institutionen sind zunächst das 1095 als Kanonikerstift gegründete und 1123 in ein Augustiner-Chorherrenstift umgewandelte St. Justin und Lorenz in Ettersburg16 und das sog. „Reglerkloster“ in Erfurt (1117 beim Allerheiligenhospital gegründet),17 welche Reformen im Sinne der Windesheimer Observanz annahmen (ohne allerdings zur Windesheimer Kongregation zu gehören). Demgegenüber stehen Konvente, die Johannes Busch zwar plante zu reformieren, welche sich jedoch im Verbund mit anderen mitteldeutschen Chorherrenstiften (im sog. Goslarer Provinzialkapitel18) mehr 16 Vgl. Betram LESSER, Zwischen Kanonikerreform und Bauernkrieg. Die Geschichte des Augustiner-Chorherrenstiftes Ettersburg bei Weimar, in: Blätter des Vereins für thüringische Geschichte 17 (2007), S. 14–33; Wolfgang HUSCHKE, Art. Ettersburg, Schloß, in: Hans PATZE (Hg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 9: Thüringen, Stuttgart 21989, S. 121 f. Die Urkunden dieses Stifts sind, versehen mit einer ausführlichen Einleitung, gedruckt in: Thuringia sacra. Urkundenbuch, Geschichte und Beschreibung der thüringischen Klöster, Bd. 2: Ettersburg, Heusdorf und Heyda. Urkundenbuch, Geschichte und bauliche Beschreibung mit genealogischen und heraldischen Anmerkungen und Siegelabbildung, hg. vom Wilhelm REIN, Weimar 1865. 17 Vgl. Erich WIEMANN, Die Reglerkirche zu Erfurt, Erfurt 1949; Gerhard KAISER, Die Reglerkirche zu Erfurt (Kleine Kunstführer, 2332), Regensburg 1998; Karl-Heinz MEIßNER, Zur älteren Geschichte der Erfurter Reglerkirche, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 63 (2002) S. 35–64; DERS., Wie das Reglerstift im Jahr 1539 beschaffen war. Untersuchungen zu einem Inventar und dem Testament seines Priors, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 70 (2009), S. 54–66. Ein Kopialbuch des Stiftes, welches 53 Urkunden von 1225 bis 1562 verzeichnete, hatte vor dem zweiten Weltkrieg noch Peter Acht in den Händen gehabt, vgl. Peter ACHT, Ein unbekanntes Kopialbuch des Allerheiligenspitals und späteren Reglerstiftes zu Erfurt, in: Sachsen und Anhalt 13 (1937), S. 90–116. Dieser hatte es im Archiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg entdeckt. Dort ist es aber heutzutage nicht mehr nachzuweisen, ebenso wenig in den einschlägigen Erfurter Archiven oder im Landesarchiv Sachsen-Anhalt. Dort jedoch findet sich am Standort Wernigerode (im Folgenden: LASA Wernigerode) unter der Signatur „A 37b I, II XVIII, Nr. 3b“ eine Akte mit serieller Rechnungsüberlieferung der späteren evangelischen Pfarrkirche bis 1633, aber auch des Augustiner-Chorherrenstifts. Diese älteren Rechnungen (fol. 194r–253r) reichen zunächst von 1466 bis 1473, setzen nach einem Bruch aber erst wieder 1491 ein und sind dann bis 1530 durchgängig vorhanden. Eine intensive Auswertung dieser Rechnungslegung würde sich sicherlich lohnen, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Vor allem aber finden sich in der Akte auch einzelne Stücke, die das Schicksal des Stiftes in der Reformation betreffen. 18 Vgl. Bertram LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel der Augustiner-Chorherren in Nord- und Mitteldeutschland vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, in: Dirk Martin MÜTZE

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oder minder vehement gegen solche Eingriffe verwehrten. Dazu gehörten u. a. das wohl 1172 durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa gegründete Marienstift vor Altenburg19 (das sog. „Bergerkloster“) und das heute zwar in Sachsen-Anhalt, im Mittelalter aber im Herrschaftsbereich der thüringischen Landgrafen liegende, um 1119 durch Bischof Dietrich I. eingerichtete Moritzstift20 vor Naumburg. Durch diese Perspektive gerät auch das 1118 durch den Grafen Wichmann gegründete Stift St. Johannes Evangelist zu Kaltenborn21 (bei Riestedt) in (Hg.), Regular- und Säkularkanonikerstifte in Mitteldeutschland (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 21), Dresden 2011, S. 103–142. 19 Vgl. Eduard HASE, Besitzungen des Bergerklosters zur Zeit der Reformation, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 5 (1859/62), S. 431–477; Paul MITZSCHKE/Julius LÖBE, Zur Geschichte des Bergerklosters, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 9 (1887), S. 389–425; Julius LÖBE, Die Pröbste des Bergerklosters in Altenburg, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 11 (1907), S. 213–251; Hans PATZE, Art. Altenburg, in: DERS. (Hg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands (wie Anm. 16), S. 6–13. Das von Hans Patze bearbeitete Altenburger Urkundenbuch ist im Druck leider nicht über den bis 1350 reichenden ersten Band hinausgekommen, vgl. Altenburger Urkundenbuch. 976–1350 (Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission, V), bearb. von Hans PATZE, Jena 1955. 20 Vgl. Johann Martin SCHAMELIUS, Kurze historische Beschreibung von dem ehemaligen Kloster zu St. Moritz, vor der Stadt Naumburg. Deßen Stiffter, Ordens-Personen, Gütern, Pröbsten und nachmahligen Evangelischen Predigern. Aus einigen Documenten und andern Schrifften verfaßet und mit gewißen Noten und Kupfern versehen etc., Naumburg 1729; Carl Peter LEPSIUS, Historische Nachricht vom Augustiner-Kloster St. Moritz zu Naumburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Naumburg, Naumburg 1835, wiederabgedruckt in: DERS., Kleine Schriften. Beiträge zur thüringisch-sächsischen Geschichte und deutschen Kunst- und Alterthumskunde, Bd. 1, Magdeburg 1854, S. 54– 141; Andreas LINDNER, Zur Geschichte des Moritzklosters und der Moritzkirche zu Naumburg, in: Saale-Unstrut-Jahrbuch 1 (1996), S. 17–27; Matthias LUDWIG, Das Augustiner-Chorherrenstift St. Mauritius in Naumburg – Kritische Überlegungen zur Gründungsgeschichte, in: MÜTZE (Hg.), Regular- und Säkularkanonikerstifte in Mitteldeutschland (wie Anm. 18), S. 31–55. Für Naumburg liegen gedruckte Urkundenbücher nur für die Zeit bis 1304 vor, vgl. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, NR 1: Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg, Teil 1: (967–1207), bearb. von Felix ROSENFELD, Magdeburg 1925; Quellen und Forschungen zur Geschichte SachsenAnhalts, Bd. 2: Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg, Teil 2: (1207–1304), hg. von Hans K. SCHULZE, Köln/Weimar/Wien 2000. 21 Vgl. Friedrich SCHMIDT, Das Kloster Kaltenborn, das Dorf Emseloh, das Rittergut Kaltenborn, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Naturwissenschaft von Sangerhausen und Umgegend 10 (1914), S. 1–139; BOGUMIL, Das Bistum Halberstadt (wie Anm. 6), S. 117–123; Berent SCHWINEKÖPER, Art. Kaltenborn, in: DERS. (Hg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 11: Provinz Sachsen Anhalt, Stutt-

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den Blick, welches heutzutage ebenso in Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Thüringen liegt. Der durch Johannes Busch verfasste „Liber de reformatione monasteriorum“ dokumentiert dessen Wirken als Visitator und Reformer im Mitteldeutschen Raum ausführlich – freilich aus dessen ganz subjektiver Perspektive, die immer kritisch zu hinterfragen ist –, womit eine ergiebige Quelle zur Situation der thüringischen Augustiner-Chorherrenstifte Mitte des 15. Jahrhunderts vorliegt, da Busch wohl bei der Niederschrift dieses Werkes von ihm bzw. von seinen Mitstreitern angefertigte Visitationsprotokolle benutzte.22 Für die Reformationszeit liefern nach wie vor die Akten und Briefe Herzog Georgs von Sachsen23 sowie Luthers Briefwechsel24 zahlreiches Material. Auch sind mittlerweile über das sog. „Reformationsportal Mitteldeutschland“ mitteldeutsche Visitationsakten und andere Quellen zur Reformationsgeschichte digital verfügbar.25

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gart 21987, S. 234 f. Die Urkunden des Stiftes Kaltenborn sind gedruckt als: Codex diplomaticus Monasterii Caldenborn, Dioeceseos Halberstadensis (im Folgenden: UB Kaltenborn), in: Diplomataria et scriptores historiae Germanicae medii aevi cum sigillis aeri incisis, T. 2: De itineribus eruditorum virorum rei historicae fructuosis, hg. von Christian SCHOETTGEN und Georg Christoph KREYSIG, Altenburg 1755, S. 689–824. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 19: Des Augustiner-Probstes Iohannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformatione monasteriorum, bearb. von Karl GRUBE, Halle/Saale 1887. Zum „Liber de reformatione monasterium“ vgl. jetzt ausführlich LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 259–292. Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen (im Folgenden: ABKG), Bd. 1: 1517–1524, bearb. von Felician GESS, Leipzig 1905; Bd. 2: 1525–1527, bearb. von Felician GESS, Leipzig/Berlin 1917; Bd. 3: 1528–1534, bearb. von Heiko JADATZ und Christian WINTER, Köln/Weimar/Wien 2010; Bd. 4: 1535–1539, bearb. von Heiko JADATZ und Christian WINTER, Köln/Weimar/Wien 2012. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 4: Briefwechsel (im Folgenden: WA Br), 18 Bde., Weimar 1930–1985. http://www.reformationsportal.de/startseite.html (letzter Zugriff: 28.02.2017). Vgl. Dagmar BLAHA, Das Digitale Archiv der Reformation (DigiRef). Ein Gemeinschaftsprojekt von Hessen, Sachsen–Anhalt und Thüringen, in: Archivnachrichten aus Hessen 14 (2014), S. 57–60; Christoph VOLKMAR/Vicky ROTHE, Schaufenster einer Zeitenwende. Das Digitale Archiv der Reformation, in: Sachsen und Anhalt 27 (2015), S. 253–258.

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2. Reformbestrebungen und organisierter Widerstand Die Reformbewegungen unter den Augustiner-Chorherren,26 die nicht nur aus der Windesheimer Kongregation bestanden, reihen sich ein in den umfassenderen und wirkmächtigen Konnex der spätmittelalterlichen Observanzbewegung27 und des landesherrlichen Kirchenregiments.28 Fürsten wie Reformer verfolgten 26 Vgl. z. B. Franz MACHILEK, Die Augustiner-Chorherren in Böhmen und Mähren, in: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 4 (1976), S. 107–144; Ulrich HINZ, Johannes Busch und die Altmark. Spätmittelalterliche Ordensreformen im Umfeld der Windesheimer Kongregation, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 63 (2001), S. 51–72; Winfried MÜLLER (Hg.), Reform – Sequestration – Säkularisation. Die Niederlassungen der Augustiner-Chorherren im Zeitalter der Reformation und am Ende des Alten Reiches (Publikationen der Akademie der AugustinerChorherren von Windesheim, 6), Paring 2005; Andreas RÜTHER, Reformbemühungen der Augustiner-Chorherren in Schlesien im 15. Jahrhundert, in: Winfried EBERHARD (Hg.), Kirchliche Reformimpulse des 14./15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 36), Köln/ Weimar/Wien 2006, S. 277–293. Vgl. allgemein BRENDLE, Augustiner-Chorherren (wie Anm. 2), S. 39 u. 46–49. 27 Vgl. KASPAR ELM, Verfall und Erneuerung des Ordenswesens im Spätmittelalter. Forschungen und Forschungsaufgaben, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 68; Studien zur Germania Sacra, 14), Göttingen 1980, S. 188–238; DERS., Reform- und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen. Ein Überblick, in: DERS. (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen (wie Anm. 4), S. 3–19; Dieter MERTENS, Reformkonzilien und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: ELM (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen (wie Anm. 4); S. 431–457; DERS., Monastische Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts. Ideen-Ziele-Resultate, in: Ivan HLAVÁCEK/Alexander PATSCHOVSKY (Hg.), Reform von Kirche und Reich. Zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), Konstanz 1995, S. 157–181; DERS., Klosterreform als Kommunikationsereignis (wie Anm. 3); SCHREINER, Niedergang und Erneuerung (wie Anm. 10); Ralph WEINBRENNER, Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustinereremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz (Spätmittelalter und Reformation, NR 7), Tübingen 1996; Gert MELVILLE, Aspekte zum Vergleich von Krisen und Reformen in mittelalterlichen Klöstern und Orden, in: Gert MELVILLE/ Anne MÜLLER (Hg.), Mittelalterliche Orden und Klöster im Vergleich. Methodische Ansätze und Perspektiven (Vita regularis. Abhandlungen, 34), Berlin 2007, S. 139–160. 28 Vgl. Hans Walter KRUMWIEDE, Art. Kirchenregiment, Landesherrliches, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin u. a. 1990, S. 59–68; Manfred SCHULZE, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation, NR 2), Tübingen 1991; Matthias WERNER, Landesherr und Franziskanerorden im spätmittelalterlichen Thüringen, in: Dieter BERG (Hg.), Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur Frühen Neuzeit (Saxonia Franciscana, 10), Werl 1998, S. 331–360; Dieter STIEVERMANN,

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dabei das gleiche Ziel, nämlich die Wiederherstellung eines strengeren monastischen Zusammenlebens im Sinne einer Rückbesinnung auf die vita communis und die vita apostolica, verbunden mit privater oder gar institutioneller Armut, auch zuweilen strenger Askese, intensivem Studium und dezidierter Konzentration auf den Gottesdienst und die liturgisch-memorialen Aufgaben. Angestrebt wurde gewissermaßen eine „Entweltlichung“ der Stifte und Klöster. Dieses Ansinnen wird verständlich, wenn man die konkreten Klöster und Stifte auf ihr grundsätzliches institutionelles Wesen als Organisationen abstrahiert. Organisationen sind „soziale Gebilde, in denen eine Mehrzahl von Menschen zu einem spezifischen Zweck bewußt zusammenwirkt […], unter dem Dach einer expliziten institutionellen Regel und ‚Verfassung‘ “.29 Monastische Einrichtungen sind dabei unter die organisatorische Spezialform der „korporativen Akteure“ zu subsumieren, d. h. sie stellen Organisationen dar, die als juristische Personen gleich natürlichen Personen agieren können. Dabei stellt sich freilich die Entscheidungsfindung, die einer jeden einzelnen Handlung voransteht, als eine Folge von „kollektiven“ Entscheidungen dar – und dies auch bei streng hierarchisch gegliederten Klöstern und Stiften.30 Sie gestaltet sich daher Landesherrschaft und Klosterwesen im spätmittelalterlichen Württemberg, Sigmaringen 1998; Enno BÜNZ/Christoph VOLKMAR, Das landesherrliche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Enno BÜNZ/Stefan RHEIN/Günther WARTENBERG (Hg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 5), Leipzig 2005, S. 89– 109; Christoph VOLKMAR, Die Stunde des Laienstandes? Landesherrliche Kirchenreform am Vorabend der Reformation, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 367–407; DERS., Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 41), Tübingen 2008; DERS., Armut unter Druck? Franziskanische Reform und landesherrliches Kirchenregiment um 1500, in: Heinz-Dieter HEIMANN u. a. (Hg.), Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn 2012, S. 411–422. Vgl. auch Felician GESS, Die Klostervisitationen des Herzog Georg von Sachsen. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1888; Paul KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche: seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517. Dargestellt nach den Akten im thüringischen Staatsarchiv zu Weimar (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 30), Leipzig/Berlin 1926, hier bes. S. 89– 106. 29 Hartmut ESSER, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt/New York 2000, S. 238. Vgl. auch ebd., S. 237–302 (das Kapitel 9 „Organisation“); als Überblick die Beiträge in: Alfred KIESER (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 72014; Günther ORTMANN (Hg.), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, Wiesbaden 22000. 30 So schreibt etwa Kapitel III der Benediktsregel vor, dass sich der Abt des Klosters bei wichtigen Angelegenheiten den Rat des gesamten Konvents einholen und diesen reflektieren solle. Zwar traf letztlich immer der Abt die endgültige Entscheidung, doch sind am

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ungleich komplizierter als bei „natürlichen“ Personen. Organisationen entstehen zudem nicht grundlos, sondern haben einen bestimmten Zweck, nämlich den der „kollektiven Erstellung spezieller Ressourcen und Leistungen“ bzw. der Produktion der „spezifischen Gewinne und Leistungen, wie sie nur aus der ‚geplanten‘ Organisation eines bestimmten kollektiven Handelns entstehen können und anders nicht zu realisieren sind“.31 Eine solche Reduktion auf die Kernfunktion(en) einer jeglichen Organisation (als sozial reale, kollektive Kooperation von Akteuren zur Umsetzung institutioneller Normen) mag zunächst etwas spröde oder gar „ökonomistisch“ erscheinen. Sie hat aber den wesentlichen Vorteil, das Handeln kollektiver bzw. korporativer Akteure auch dann erklären zu können, wenn über ihre innere Verfasstheit und besonders die jeweiligen subjektiven Einstellungen der beteiligten individuellen Akteure kaum etwas bekannt ist, wie dies ja z. B. für die thüringischen Augustiner-Chorherren (aber nicht nur diese) der Fall ist. Denn ohne Zweifel bestand der wesentliche Zweck von Klöstern und Stiften in der Sicherung bzw. Generierung von göttlichem Heil und individuellem bzw. kollektivem Seelenheil, nämlich erstens für die Mönche, Nonnen und Kanoniker selbst,32 zweitens speziell für gewisse Stifter und Wohltäter33 und drittens für die ChrisProzess der „kollektiven“ Entscheidungsfindung alle Mönche beteiligt gewesen. Georg HOLZHERR, Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige Text der Regel, Fribourg 2007, S. 89, cap. 3: „De adhibendis ad consilium fratribus. Quotiens aliqua praecipuae agenda sunt in monasterio, convocet abbas omnem congergationem et dicat ipse unde agitur. Et audiens consilium fratrum tractet apud se et quod utilius iudicaverit faciat. […] Sic autem dent fratres consilium cum omni humilitatis subiectione, et non praesumant procaciter defendere quod eis visum fuerit; et magis in abbatis pendat arbitrio, ut quod salubrius esse iudicaverit, ei cuncti oboediant.“ 31 ESSER, Soziologie (wie Anm. 29), Bd. 5, S. 239 u. 249 (die Hervorhebungen im Original). 32 Entweder in Form der durch Weltflucht und Askese zu erreichenden Selbstheiligung als Nachfolge Christi oder aber dem aktiven Eingreifen in die Lebenswelt der Laien durch Predigt, Armenfürsorge usw., vgl. Klaus SCHREINER, Mönchtum zwischen asketischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit, in: DERS., Gemeinsam leben. Spiritualität, Lebens- und Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters (Vita regularis. Abhandlungen, 53), hg. von Gert MELVILLE, Berlin/Münster 2013, S. 1–62; auch Ernst TREMP, Weltflucht und Verwandlung der Welt. Monastische Bewegungen in der Westschweiz im Früh- und Hochmittelalter, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 92 (1998) S. 125–163. 33 Waren doch gerade (theoretisch) auf Ewigkeit angelegte Institutionen wie Klöster und Stifte zur Sicherung gestifteter Memoria prädestiniert, vgl. Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 378; DERS., Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, in: Frühmittelalterliche Studien 17 (1983), S. 153–221; Otto Gerhard OEXLE, Mahl und Spende im mittelalterlichen Totenkult, in: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 401–420; DERS., Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Joachim HEINZLE (Hg.), Modernes

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tenheit insgesamt.34 Dies war umso mehr Aufgabe der monastischen Einrichtungen, als diese durch ihre ganz besondere normative (und auch bauliche) Verfasstheit auf eine wesentliche Konzentration des gesamten Lebens in Form von Kontemplation, Gebet und gemeinsamem Gottesdienst hin ausgerichtet waren, sie also hochspezialisierte Organisationsformen der Heilsproduktion darstellten.35

Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main 1999, S. 297–323; Michael BORGOLTE (Hg.), Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, unter Mitarbeit von Wolfgang Eric Wagner (Stiftungsgeschichten, 1), Berlin 2000; DERS. (Hg.), Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, 2 Bde., Berlin 2014–2016. 34 Entsprach dies doch dezidiert ihrer Aufgabe innerhalb der traditionellen mittelalterlichen Gesellschaftsordnung von Priester, Krieger und Bauer, vgl. Otto Gerhard OEXLE, Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter, in: Lutz FENSKE/Werner RÖSENER/Thomas ZOTZ (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 483–500; DERS., Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Winfried SCHULZE (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 12), München 1988, S. 19–51. 35 Vgl. SCHREINER, Niedergang und Erneuerung (wie Anm. 10), S. 296–300. Sie erfüllten damit eine der wesentlichen Funktionen von Organisationen, nämlich die „dauerhafte Absicherung spezifischer Investitionen, die Fixierung eines einmal erreichten Kooperations- und Produktionszusammenhangs gegen Zufälle, Launen und nicht kontrollierbare Risiken […]“ (ESSER, Soziologie [wie Anm. 29], Bd. 5, S. 253, die Hervorhebungen im Original). Im Sinne der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung bzw. Arbeitsteilung fiel den Klöstern und Stiften die zentrale Funktion der dauerhaften Herstellung göttlichen Heils zu. War erst einmal das Problem der kollektiven Organisation der Kooperation überwunden (etwa durch die Einigung auf und die Unterwerfung unter eine bestimmte Regel), so konnten Mönche, Nonnen und Kanoniker theoretisch in alle Ewigkeit zu diesem Ziel beitragen, da das Überleben ihrer Klöster und Stifte als juristische und korporative Akteure grundsätzlich nicht von ihrem individuellen Schicksal abhing. Das gleiche Prinzip verbirgt sich hinter der Übertragung von Pfarrkirchen in den Besitz von Heiligen, die als reale juristische Personen gedacht wurden. Dadurch perpetuierte sich der Besitz der jeweiligen Kirche und vermittelte potentiellen Stiftern „Investitionssicherheit“, da nun nicht die Gefahr bestand, dass eine Pfarrkirche nach dem Tod des Pfarrers wieder eingehen würde oder eben jener Pfarrer straffrei das Stiftungskapital veruntreuen konnte. Dieses Prinzip und sogar das konkrete Beispiel mittelalterlicher Pfarrkirchen findet sich bereits beim amerikanischen Großmeister der soziologischen Theorie und Sozialtheorie James S. COLEMAN, Macht und Gesellschaftsstruktur, Tübingen 1979, S. 4 f. Vgl. auch Hans-Jürgen BECKER, Der Heilige und das Recht, in: Jürgen PETERSOHN (Hg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen, 42), Sigmaringen 1994, S. 53–70.

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Reformerische Eingriffe in Klöster und Stifte, etwa im Sinne der Observanz, hatten daher vorrangig das Ziel, die Produktion des speziellen Gutes, welches diese korporativen Akteure herstellten (das individuelle wie kollektive Seelenheil), sicherzustellen.36 Denn es wurde angenommen, dass der „Produktionsablauf“ in den monastischen Einrichtungen durch tatsächlich oder vermeintlich wahrgenommene Probleme (etwa mangelnde Klosterzucht, Privatbesitz der Mönche, Auflösung der vita communis etc.) beeinträchtigt worden oder gar zum Erliegen gekommen sei.37 Hierbei ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass in diesem Punkt die Außen- und Innenwahrnehmung erheblich voneinander abweichen konnten. Wo Reformer durch in ihren Augen fehlerhafte Regelauslegung (oder Regelübertretung) den Zweck des monastischen Zusammenlebens an sich als entwertet angesehen haben werden, mochten die Insassen von Kloster und Stift sich auf althergebrachte Traditionen und consuetudines berufen, die, beruhend auf jahrzehnte- oder jahrhundertelanger Erfahrung, die Funktionalität der jeweiligen Einrichtung gerade erst gewährleistete.38 Das 15. Jahrhundert war gekennzeichnet durch eine regelrechte „Reformwut“, einen intensiven „Reformdiskurs“.39 Die „gesellschaftliche Erneuerung“ durch „kirchliche Reform“ war gewissermaßen das „gesamtgesellschaftliche Anliegen“ der Zeit.40 Ihr zugrunde lagen aber nicht Ideen von Modernisierung und Fortschritt, sondern die Überzeugung, dass nur durch die Rückführung der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche zu älteren Zuständen diese selbst gebessert werden könnten.41 Dementsprechend verband sich mit den spätmittelalterlichen Reformbewegungen ein intensives Geschichtsbewusstsein, nicht allein auf der Ebene der betroffenen Einrichtungen, sondern z. B. auch in der Stadt- und 36 Dass Organisationen nicht nur materielle, sondern auch (und vor allem) immaterielle Güter herstellen, leuchtet jedem ein, der an die Chiffre des „Kulturbetriebs“ und dessen Erzeugnisse denkt. Dass mittelalterliche Klöster und Stifte darüber hinaus durch ihre Grangien oder Skriptorien natürlich ganz konkrete materielle Güter erzeugt haben, steht auf einem anderen Blatt und hier nicht zur Debatte. 37 Vgl. ELM, Verfall und Erneuerung (wie Anm. 27), S. 196; LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 277–279, hier S. 279: „Die hier mit wenigen Strichen skizierte Auffassung von rechter Klosterreform als Wiederherstellung der fundamentalen klösterlichen Heilsfunktion […].“ – Hervorhebungen AS. 38 Ebd., S. 259 f.: „Da aus den Konventen, die sich der Reform verschlossen, kaum historiographische Zeugnisse überliefert sind, besteht die Gefahr einer perspektivischen Verzerrung, welche die Pluralität monastischer Lebensformen jenseits der von einer rekonstruierten historischen Ursprungsnorm her bestimmten strengen Regelobservanz nur schwer wahrnehmbar macht.“ 39 Vgl. MERTENS, Klosterreform als Kommunikationsereignis (wie Anm. 3); LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 279 f. 40 VOLKMAR, Armut unter Druck? (wie Anm. 28), S. 411 f. 41 Vgl. SCHREINER, „Communio“ (wie Anm. 5), S. 83–86.

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Fürstenchronistik.42 Besonders sahen sich die Landesherren dazu verpflichtet, die tragende Rolle bei der Erneuerung des religiösen Lebens in ihren Territorien zu übernehmen, lange schon bevor dies in der Reformation der Fall war. Die moralische und geistliche Besserung der Gesellschaft, u. a. über die Einrichtung bzw. die Reform von Klöstern und Stiften, bedeutete die Stabilisierung der eigenen Herrschaft, die Abwehr göttlicher Strafen und somit die Prosperität des eigenen Landes – indem sichergestellt wurde, dass die monastischen Einrichtungen ihrem spezifischen Zweck der Heilsproduktion nachkamen.43 Konkret verband sich für die Landesherren mit der Reform bestehender Klöster oder auch der Ansiedlung observanter Varianten die Möglichkeit „unmittelbaren Einfluss auf die Klöster ihres Landes und die Aufsicht über deren Vermögen zu gewinnen“, denn „Predigt und Unterweisung führten auch unmittelbar zu Eingriffen in die alltäglichen Probleme von Stadt und Herrschaft“, nicht nur bei den Bettelorden, sondern auch den Augustiner-Chorherren.44

42 Vgl. Winfried EBERHARD, Klerus- und Kirchenkritik in der spätmittelalterlichen deutschen Stadtchronistik, in: Historisches Jahrbuch 114 (1994), S. 349–380; Constance PROKSCH, Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, NF 2), Köln/Weimar/Wien 1994; Klaus SCHREINER, Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung im benediktinischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: Kurt ANDERMANN (Hg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien, 7), Sigmaringen 1988, S. 35–87; DERS., Geschichtsschreibung im Interesse der Reform. Die „Hirsauer Jahrbücher“ des Johannes Trithemius (1462–1516), in: DERS. (Bearb.), Hirsau St. Peter und Paul 1091–1991, Bd. 2: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in BadenWürttemberg, 10), Stuttgart 1991, S. 297–324. 43 WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 28), S. 341 f. 44 Walter ZIEGLER, Die Franziskaner-Observanten, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 2), S. 163–213, hier S. 182 u. 184; ELM, Reformund Observanzbestrebungen (wie Anm. 27), S. 14: „Sie verschaffte politische Eingriffsmöglichkeiten und ermöglichte schärfere Kontrolle. Die mit ihr einhergehende wirtschaftliche Konsolidierung machte die Stifte und Abteien als Einnahmequellen fruchtbar. Sie konnte in bestimmten Fällen zur Entmachtung des Adels und anderer intermediärer Gewalten führen, ja, sie bot die Möglichkeit, Besitz und Rechte der Klöster unter Berufung auf das Ius reformandi in den Aufbau der Territorien einzubeziehen und so die Entwicklung des modernen Staates zu forcieren. Bei den an der Reform der städtischen Klöster interessierten Kreisen war neben der Sicherung der Seelsorge, der Förderung des Schul- und Fürsorgewesens sowie der Vermeidung von Ärgernissen die Möglichkeit, Einfluß auf die geistlichen Anstalten auszuüben oder sie gar ihrem Regiment zu unterwerfen, von nicht geringer Bedeutung. In beiden Fällen entsprachen also die Reformbestrebungen den Tendenzen, die im 15. Jahrhundert auf Kosten der Kirche und des Adels

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Matthias Werner45 und Christoph Volkmar46 haben nun für Thüringen bzw. das albertinische Sachsen gezeigt, dass sich die Wettiner als Landesherren oft der observanten Franziskaner bedienten, um ihre Vorstellungen von einer Kirchen- und Klosterreform umzusetzen.47 Dabei ging es den Landesherren weniger um deren strenges Armutsideal als vielmehr um deren unerschütterlichen Gehorsam, den sich der jeweilige Landesherr über das Instrument der Prokuratur, also der weltlichen Verwaltung des Klosters, zunutze machen konnte. „Den Fürsten fehlte der Bezug zu ordensinternen Debatten, diese waren für sie nur das sprichwörtliche Mönchsgezänk, sie interessierte der Nutzen funktionierender Klöster für das Gemeinwesen, ihr Wirken in der Seelsorge, ihre Fürbitte für Land und Dynastie.“48 Die individuelle Frömmigkeit des Landesherrn war dabei ebenso ausschlaggebend wie persönliche Kontakte zu Ordensreformern oder das Selbstverständnis, der unumstrittene Schutzherr der Kirche im eigenen Herrschaftsbereich zu sein. Erst vor diesem Hintergrund wird auch der Einfluss der Windesheimer Kongregation und ihres Akteurs Johannes Busch in Thüringen verständlich. 1447 war Busch mithilfe des Magdeburger Erzbischofs Propst und Archidiakon des Stiftes Neuwerk bei Halle geworden und begann in den folgenden Jahren seine Reformtätigkeit, die sich nicht nur auf die mitteldeutschen Augustiner-Chorherrenstifte erstreckte, sondern auch Benediktiner- oder Frauenklöster umfasste. Er war Teil einer größeren, ganz Mitteldeutschland erfassenden „Reformeuphorie“, die etwa durch die Anwesenheit und publikumswirksame Predigttätigkeit des observanten Franziskaners Johannes de Capistrano in die Öffentlichkeit getragen wurde.49 Während sich Capistranos Wirken vor allem

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zu einer Konsolidierung der weltlichen Gewalt und Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft führten.“ WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 28). Vgl. auch ZIEGLER, Franziskaner-Observanten (wie Anm. 44), S. 183; Petra WEIGEL, Die franziskanische Observanzbewegung in Thüringen, in: Thomas T. MÜLLER/Bernd SCHMIES/Christian LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen, Paderborn 2008, S. 126–133; WEINBRENNER, Klosterreform im 15. Jahrhundert (wie Anm. 27), S. 128–130. VOLKMAR, Armut unter Druck? (wie Anm. 28). Für die Landgrafschaft Hessen vgl. Hans-Joachim SCHMIDT, Die Landgrafen von Hessen und die Bettelorden, in: BERG (Hg.), Könige, Landesherren und Bettelorden (wie Anm. 28), S. 127–151. VOLKMAR, Armut unter Druck? (wie Anm. 28), S. 422. Vgl. auch WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 28), S. 353; WEINBRENNER, Klosterreform im 15. Jahrhundert (wie Anm. 27), S. 21 f. Capistrano predigte vor großem Publikum auf Latein und ließ, als öffentlichkeitswirksame Exempel, Brettspiele oder unzüchtige Kleider verbrennen. Ende des Jahres 1452 hatte er sich für längere Zeit in Leipzig aufgehalten und dort mit seiner Predigt und seinen Aktionen wider den „gotteslästerlichen“ Lebenswandel der Bürger so großen Ein-

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auf die Einwohner der mitteldeutschen Städte konzentrierte, lag die Reform der geistlichen Institutionen der Erzdiözese Magdeburg im Interesse sowohl des Metropolitans als auch des in den Jahren 1451/52 durch Deutschland reisenden Kardinals Nikolaus von Kues. Johannes Busch hatte den berühmten Kirchenmann im Sommer des Jahres 1451 kennengelernt. Als dieser um den 10. Juni 1451 in Halle einzog, bereiteten ihm besonders die Konvente vom Neuwerk und St. Moritz einen festlichen Empfang.50 In den dabei geführten vertraulichen Gesprächen hatte Johannes Busch vom Kardinal sowohl einen 100-tägigen Ablass wie auch einige Privilegien für das Stift Neuwerk erwirken können.51 Auf der Magdeburger Provinzialsynode vom 28. Juni 1451 wurden schließlich Busch und sein Mitstreiter Dr. decr. Paulus Busse, Propst von St. Moritz bei Halle, zu Visitatoren und Reformatoren der Augustiner-Chorherrenstifte in Mitteldeutschland bestellt.52 Und gleich Capistrano besaß auch Busch die Unterstütdruck hinterlassen, dass sich der Stadtrat dazu bewogen fühlte u. a. züchtigere Kleidervorschriften einzuführen und die aktuell modischen Schnabelschuhe zu verbieten. Vgl. WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 28), S. 350 f.; Kaspar ELM, Johannes Kapistrans Predigtreise diesseits der Alpen (1451–1456), in: DERS./Dieter BERG (Hg.), Vitasfratrum. Beiträge zur Geschichte der Eremiten- und Mendikantenorden des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Festgabe zum 65. Geburtstag (Saxonia Franciscana, 5), Werl 1994, S. 321–360; Thomas KRZENCK, Predigt ohne Unterlass. Johannes von Capestrano und sein Aufenthalt in Leipzig im Herbst 1452, in: Leipziger Stadtgeschichte (2015), S. 7–38. 50 Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. 1, Lieferung 3a: 3. Januar 1451–5. September 1451, hg. von Erich MEUTHEN, Hamburg 1996, S. 928–930, Nr. 1371; BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 10, S. 739–742; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 127 f. Zur Legationsreise vgl. Erich MEUTHEN, Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/1452, in: Bernd MOELLER u. a. (Hg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik, Bildung, Naturkunde, Theologie. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, 179), Göttingen 1989, S. 421–499; DERS., Das Itinerar der deutschen Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/52, in: Joachim DAHLHAUS/Armin KOHNLE (Hg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 39), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 473–502. 51 Vgl. Acta Cusana (wie Anm. 50), Bd. 1, Lfg. 3a, S. 958, Nr. 1419–1421. 52 Ebd., S. 964–966, Nr. 1429. Vgl. auch BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 20, S. 759–763 u. Buch IV, Kap. 26, S. 769 f.; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 128 f. Das Mandat reiht sich ein in eine größere Anzahl von Visitationsaufträgen des Nikolaus von Kues in der Magdeburger Erzdiözese, der er eine allgemeine Kirchenreform angedeihen lassen wollte. So veranlasste er Visitationen und die Einrichtung von Provinzialkapiteln für die Klöster und Stifte der Benediktiner, Augustiner-Chorherren, Prämonstratenser und der Ritterorden, vgl.

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zung der Landesherren. Am 5. September 1451 bestätigte etwa Herzog Wilhelm III. von Sachsen die Rechte und Privilegien, die der Reformer durch das Kardinalsmandat erhalten hatte, und sicherte ihm den Schutz derselben in seinem Herrschaftsbereich zu. Zugleich forderte er im Sinne des landesherrlichen Kirchenregiments alle seine Untergebenen, besonders Vögte, Richter und Bürger, auf, Johannes Busch die nötige Unterstützung zukommen zu lassen.53 Mit dieser zweifachen Legitimierung durch Kardinal und hegemonialen Landesherrn begann Busch sein Reformwerk. Am 24. September 1451 hatte er zusammen mit Busse von Erfurt den Augustiner-Chorherrenstiften auf dem Lauterberg, in Leipzig, Erfurt, Naumburg, Ettersburg, Halberstadt, Hardisleben, Goslar und Altenburg angekündigt, sie kraft seines durch den Kardinal verliehenen Mandats visitieren und, wo nötig, reformieren zu wollen. Sie sollten sich daher auf die Ankunft seiner Delegation vorbereiten.54 Zuvor war er bereits in Erfurt selbst aktiv geworden. Denn noch bevor er zum Visitator und Reformator aller Augustiner-Chorherrenstifte in der Erzdiözese Magdeburg berufen wurde, hatte er am 5. Juni 1451 durch Nikolaus von Kues ein entsprechendes Mandat für das in der Erzdiözese Mainz liegende Erfurt und insbesondere das sog. „Reglerkloster“ erhalten.55 Die Hallenser Reformatoren verweilten nach eigenen Angaben vor Ort und kamen dabei im Peterskloster unter. An der recht großen Visitationsdelegation waren auch Vertreter der Universität und des Stadtrates beteiligt, was dafür spricht, dass die Erfurter Stadtväter die Situation nutzen und im Sinne eines eigenständigen Kirchenregiments weitere Klöster und Stifte gemäß der Observanz reformieren wollten. Denn Busch schreibt, dass er nicht nur das „Reglerkloster“, sondern zahlreiche Männer- wie Frauenkonvente (die Augustiner-Eremiten, Dominikaner, Franziskaner und Serviten sowie die Augustiner-Chorfrauen vom Neuwerk, das Magdalenerinnenkloster, die Zisterzienserinnen vom Mariengarten sowie die Benediktinerinnen von St. Cyriakus) visitiert habe.56 Allerdings traf er mit diesem Vorhaben bei den Erfurter AugustinerChorherren auf Widerstand. Denn Adolf von Nassau, der spätere Erzbischof Adolf II. von Mainz (1461–1475), untersagte zunächst als Provisor des Mainzer Metropoliten die Visitation des Reglerklosters „propter peticiones fratrum dicti monasterii dicens“. Das Recht zur Visitation und Reformation stehe allein dem Erzbischof zu, ließ er wissen. Jedoch konnten sich die Visitatoren unter Verweis

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Acta Cusana (wie Anm. 50), Bd. 1, Lfg. 3a, S. 960, Nr. 1423; S. 962 f., Nr. 1428 u. S. 966 f., Nr. 1430. BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 19, S. 758 f.; LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 286 f. BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 23, S. 765 f. Ebd., Buch IV, Kap. 21, S. 763 f. Ebd., Buch I, Kap. 26, S. 473 f. Vgl. auch ebd., Buch II, Kap. 22–24, S. 613–618.

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auf das Kardinalsmandat durchsetzen. Sie fanden das Stift in einem für sie verkommenen Zustand vor, in welchem weder die Augustinusregel noch die Statuten, geschweige denn die Observanz befolgt würden. Kurzerhand ließ Busch zwei Mitbrüder aus Neuwerk, Hermann von Arnheim und Heinrich von Molenbeek, kommen, Ersteren als Prior einsetzen und diesem die Leitung über alle inneren Angelegenheiten des Stiftes übertragen, „in spiritualibus in choro, refectorio et claustro“. Für das Verlassen des Stiftes benötigten die Erfurter Brüder nun die Erlaubnis der Prioren, auch brachte man das Konventskapitel in Ordnung. Dem Propst des Stiftes – als alt, debil und für die Reform unnütz charakterisiert – entzog man die geistliche Leitung, behielt ihn aber als symbolischen Repräsentanten für große Messfeiern oder Prozessionen. Aus dem Konvent ließ Busch einen Bruder zum Prokurator wählen, dem die Aufsicht über den Besitz des Stiftes sowie die Ausstattung der Chorherren, etwa mit Kleidung, übertragen wurde. Ihren bisherigen Habit mussten die Brüder ablegen und sich gemäß der Windesheimer Reform kleiden. Anschließend hätten Hermann von Arnheim und Heinrich von Molenbeek die Augustiner-Chorherren in der Observanz unterrichtet, zu der sich später auch die Augustiner-Chorfrauen vom Neuwerk in Erfurt bekannt hätten.57 In das Stift Ettersburg, welches durch die Erzbischöfe von Mainz gegründet worden war, wurde Johannes Busch laut eigener Aussage durch die Grafen Ludwig und Ernst von Gleichen, den weltlichen Schutzherren des Stiftes, eingeladen. Diese übertrugen ihm und Paulus Busse alle Vollmachten zur Reform des Konvents „in temporalibus et spiritualibus“. Die Reformer trafen nur sehr wenige Brüder an, von denen einige zudem den Pfarrdienst in den dem Stift zugehörigen Pfarrkirchen versahen. Den alten Propst ließen sie im Amt, sahen 57 Ebd., Buch I, Kap. 26, S. 473 f.: „In visitatione autem eorum [der Augustiner-Chorherren vom Reglerkloster] invenimus omnes sine reformatione et sine trium substantialium observatione nec regulam suam nec statuta observantes. Constituimus ergo ibidem duos de Novo Opere fratres Hermannum de Arnhem et Heynricum de Molenbeke primum in priorem qui regimen totius monasterii habuit in spiritualibus in choro, refectorio et claustro. Ab eo enim fratres a monasterio seu choro exituri licentiam petebant. Capitulum eis servavit et omnia ordinavit. Prepositum eorum, quia senex erat et debilis et ad regimen reformationis inutilis, a regimine in spiritualibus absolvimus, nomine tamen prepositi retento, ita quod in festis magnis missam summam cantavit atque in processionibus et stationibus locum tenuit prelati. Ordinavimus etiam procuratorem unum ex ipsis, qui regeret temporalia et fratribus de necessariis vitus et vestitus provideret. Habitum nostrum eos induimus, subtile videlicet seu roquetum romanum iuxta mandatum domini cardinalis scorlicio seu sarracio suo exuto. Frater autem Heynricus Molenbeke, quamvis cum fratre Hermanno fratres illos in regulari observantia cotidie informavit, monialium tamen in Novo Opere ad sanctam crucem ordinis nostri confessor fuit illas in confessione ante festa communionis expediendo.“

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sich aber bereits nach einem passenden Nachfolger für ihn um, den sie schließlich in Hermann von Arnheim, bereits als zeitweiliger Prior im Erfurter Reglerstift erprobt, fanden. Dessen Einsetzung zum Propst ließ man vor dem Windesheimer Kapitel sowie durch den Mainzer Provisor Adolf von Nassau bestätigen. Außerdem hatte der Konvent die Statuten der Windesheimer Kongregation sowie alle Gebräuche, Gesänge, den Habit und alles Weitere, was dem Stift Neuwerk schon seit 15 Jahren immer gut gedient habe, anzunehmen. Busch vergaß zudem nicht zu betonen, dass die Hallenser Mitbrüder die Reform im Stift Ettersburg und den neuen Propst Hermann tatkräftig unterstützt hätten.58 Bei der Visitation des Augustiner-Chorherrenstiftes St. Moritz vor Naumburg, die Busch und Busse mit Willen Landgraf Wilhelms III. von Thüringen durchführten, fanden die beiden nichts, was zu reformieren gewesen wäre („nullam invenientes ibidem reformationem“). Diese Aussage verblüfft zunächst, denn das Naumburger Moritzstift befand sich seit dem 13. Jahrhundert in einem beständigen finanziellen bzw. wirtschaftlichen Niedergang begriffen, ausgelöst durch einen strukturellen Schuldenkreislauf, der durch den kontinuierlichen Verkauf von Einkünften und Liegenschaften zugunsten kurzfristiger Finanzspritzen perpetuiert worden war.59 Dementsprechend desolat war der Zustand des Konvents. Doch gerade dessen Armut dürfte der observanten 58 Ebd., Buch I, Kap. 25, S. 471 f.: „Non multos fratres ibi invenimus, quorum aliqui in vicinis parrochiis erant plebani. Nos igitur antiquum prepositum ad tempus ibidem retinuimus, donec ad noticiam bonorum et personarum veniremus. Deinde nos fratrem unum Novo Opere fratrem Hermannum de Arnhem mihi a capitulo de Windesem datum ibidem in prepositum constituimus. Provisor autem domini Maguntini in Erfordia dominus Adolphus de Nassau, canonicus tunc ecclesie Maguntine, nunc vero ibidem archiepiscopus, dictum fratrem nostrum Hermannum in prepositum confirmavit, cui plures fratres de Novo Opere ipsi in adiutorium reformationis concessi. Assumpserunt ergo ibi statuta nostra capituli de Windesem, ordinarium cantum, habitum, cerimonialia et usque in presens satis bene cuncta observant, sicut in Novo Opere Hallis et per quindecim annos semper iam ita servaverunt.“ Es gehört zu Buschs Argumentationslinie, die ihn als erfolgreichen und gottgefälligen Reformer darstellen soll, dass er die Hälfte des Eintrages zum Stift Ettersburg darauf verwendet, dem Leser mitzuteilen, dass der von ihm eingesetzte Hermann von Arnheim später Propst „seines“ Stiftes Neuwerk geworden sei: „[…] sollicite regens dirigens et gubernans in temporalibus et spiritualibus competenter proficiens“. Vgl. auch LESSER, Zwischen Kanonikerreform und Bauernkrieg (wie Anm. 16), S. 25–32. 59 Ich verweise an dieser Stelle auf meine im August 2016 unter dem Titel „Das Werden einer geistlichen Stadt im Schatten des Doms. Zur Rolle der geistlichen Institutionen im Gefüge der Bischofsstadt Naumburg bis ca. 1400“ an der Fakultät für Geschichte, Kunst und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereichte Dissertation, die demnächst im Druck erscheint. Vgl. dort explizit das Kapitel 4.2 zum Naumburger Moritzstift.

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Überzeugung Johannes Buschs zugesagt haben, so dass er hier schon gewisse Voraussetzungen für die Einführung der Windesheimer Statuten gegeben sah. Zwar würden die Brüder wie Bauern herumlaufen und die Klostergebäude kurz vor dem Verfall stehen, doch wirklich eingreifen wollten die Visitatoren nicht. Sie legten dem Konvent vielmehr nahe, sich auf eine Reform vorzubereiten, indem sie die vita communis ohne Privatbesitz pflegen sollten. Wollten die Brüder die Windesheimer Observanz annehmen und, wie mehrfach betont wird, ihnen eine Reform auch (wirtschaftlich) möglich sein, sollten sie Rücksprache mit Busch und seinen Mitstreitern halten.60 Anders als in Erfurt oder Ettersburg provozierte dieses Vorgehen Buschs nun aber erheblichen, auch überregionalen Widerstand durch eine Reihe von sächsisch-thüringischen Augustiner-Chorherrenstiften, besonders jenen aus Leipzig, Altenburg und vom Lauterberg bei Halle. Das Thomasstift zu Leipzig hatte Busch zusammen mit Paulus Busse am 12. Oktober 1451 visitiert, wie aus einem darüber angelegten Notariatsinstrument hervorgeht.61 Busch beklagte, dass der Konvent keine vita communis mit gemeinsamem Tisch mehr pflegen, sondern stattdessen die Chorherren wie Fürsten auf ihren Burgen mit Dienerschaft leben würden.62 Er verpflichtete diese auf Reformmaßnahmen, etwa das Leben in Armut und privater Besitzlosigkeit, Schweigepflicht beim Chorgebet, im Refektorium, im Dormitorium und nach der Komplet sowie auf andere Regeln gemäß der Windesheimer Observanz. Zudem musste jeder Chorherr eine Verpflichtungserklärung über die Einhaltung der eingeführten Reformen gegenüber Bischof Johannes II. von Merseburg und den Visitatoren abgeben.63 Am 60 BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch I, Kap. 28, S. 477: „Monasterium sancti Mauricii ordinis nostri prope Nuemborch civitatem ego cum doctore Paulo auctoritate papali visitavimus nullam invenientes ibidem reformationem. Et quia pauperes erant, mandavimus eis, ut iuxta mandatum domini cardinalis Nycolai de Cusa a latere legati successive ad debitam reformationem ad vivendum in communi sine omni proprietate se prepararent, ut regulam almi patris nostri Augustini et statuta nostra a domino apostolico approbata assumerent nobis se conformarent. Edificia eorum pene omnia preter ecclesiam minabantur ruinam, et fratres ut rustici propter penuriam et labores continuos incedebant. Prepositus tamen et fratres omnem multum caritative nos receperunt et satis accurate, in quantum poterant, nos tractaverunt.“ 61 Codex diplomaticus Saxoniae Regiae, Haupttheil 2, Bd. 9: Urkundenbuch der Stadt Leipzig, Bd. 2 (im Folgenden: CDS II/9), bearb. von Karl Friedrich von POSERN-KLETT, Leipzig 1870, S. 263 f., Nr. 237. 62 BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch I, Kap. 23, S. 467: „Invenimus ibi prepositum et conventum sine debita regulari observantia, nisi quod communem habebant mensam sicut principes in castris cum sua familia.“ 63 CDS II/9, S. 263 f., Nr. 237: „Ego frater N. promitto praesentibus in manus reverendi in Christo patris domini mei domini Johannis Merseburgensis episcopi necnon dominorum Johannis et Pauli Novi operis in et extra Hallis praepositorum auctoritate apostolica visi-

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12. Dezember 1451, so berichtet Busch, habe er vom Propst und 15 Brüdern des Thomasstiftes ein Schreiben erhalten, in welchem diese sich zu den Reformen bekannt hätten.64 Nur zwölf Tage später aber appellierten Propst Burkhard und sein Konvent gegen diese Visitation vor der römischen Kurie.65 Nach Busch hätte die Kurie zwar die Appellation der Stifte abgewiesen, doch die Antwortschreiben des päpstlichen Auditors Agapitus Cencius de Rusticis vom 27. April und 5. Mai 1452 untersagten ihm jede weitere Reformtätigkeit in den appellierenden Stiften.66 Davon freilich berichtet Johannes Busch, der zuvor das Stift auf dem Lauterberg besucht hatte,67 nichts im „Liber de reformatione monasteriorum“, da es das Narrativ seines erfolgreichen Reformwerks erheblich gestört hätte.68 Das Protestschreiben des Thomasstifts an die Kurie drückte zunächst den grundsätzlichen Konflikt der observanten Reformbestrebungen aus. Deren Gelingen bzw. Misslingen hing ganz wesentlich von der Unterstützung und Durchsetzungsfähigkeit des landesherrlichen Kirchenregiments ab. Denn die Leipziger Chorherren argumentierten, unter Verweis auf ihren Schutzherrn und „Regierer“ („gubernator“) Kurfürst Friedrich II. von Sachsen, welcher alle ihre Rechte und Privilegien bestätigt hätte, dass sie nicht verpflichtet seien, irgendwelche Eingriffe oder Reformen von außen zu akzeptieren – jedenfalls nicht ohne

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tatorum et reformatorum per reverendissimum in Christo patrem dominum Nicolaum cardinalem ad vincula sancti Petri per provincias Magdeburgensem et Moguntinensem etc. ordinis canonicorum regularium utriusque sexus monasteriorum deputatorum, quod velim observantiam regularem et sanctam reformationem iuxta mandatum domini cardinalis mihi propositam abhinc successive in omni forma realiter et cum effectu suscipere et firmiter tenere et roketum Romanum in die natalis Christi induere et deinceps deferre sub poenis in mandato dicti reverendissimi patris contentis.“ Vgl. auch BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 24, S. 766–768. Ebd., Buch I, Kap. 23, S. 468. CDS II/9, S. 264–268, Nr. 238; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 133 f. CDS II/9, S. 268 f., Nr. 239 u. S. 269 f., Nr. 240; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 134 f. Auch der Konvent vom Lauterberg hatte anfangs den Reformbestrebungen offen gegenübergestanden. Laut Busch hätten der Propst und seine Mitbrüder sogar ein Schreiben verfasst, nach welchem sie sich verpflichteten, allen Anweisungen der Visitatoren Folge zu leisten: BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch I, Kap. 22, S. 464–468. Vgl. ebd., Buch I, Kap. 23, S. 468–470; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 134 f.: „An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Busch nicht scheute, die insgesamt misslungene Reform in Mitteldeutschland in seinem Sinne umzudeuten bzw. die Widerstände und die eigenen schlechten Ergebnisse völlig zu verschweigen.“

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Zustimmung des Landesherrn.69 Außerdem hatten sie sich erst sechs Jahre zuvor selbst einer gewissen Reform unterzogen und sich ihre Statuten und consuetudines, die sie vom Breslauer Sandstift übernommen hatten, durch den Merseburger Bischof bestätigen lassen.70 Die nun durch Busch eingeführten noch schärferen Reformen empfand man als belastend und übertrieben, die von den Visitatoren benutzten Zwangsmittel als unzumutbar. Unter Verweis auf das Kirchenrecht und Augustinus argumentierte man, dass unter Furcht angenommene Vorschriften nicht bindend seien.71 Zugleich reaktivierten die mitteldeutschen Augustiner-Chorherrenstifte einen älteren Zusammenschluss, das sog. „Goslarer Provinzialkapitel“. Zu diesem erstmals wohl 1221 zusammengetretenen Verbund gehörten die Stifte vom Neuwerk, St. Moritz und auf dem Lauterberg in bzw. bei Halle, St. Peter in Riechenberg, St. Johannes in Halberstadt, St. Moritz in Naumburg, Heilig Kreuz in Zschillen (Wechselburg), St. Thomas in Leipzig sowie St. Afra in Meißen. Dabei fungierte der Propst von St. Johannes in Kaltenborn nach Bertram Lesser wohl als pater des Goslarer Kapitels, sein Stift selbst gehörte aber zur sog. Halberstädter Gruppe. Diese Stifte waren zum ganz überwiegenden Teil selbst vom Stift Neuwerk bei Halle besetzt worden, so dass eine gemeinsame Verbindungslinie zum Salzburger Reformkreis um Erzbischof Konrad I. von Salzburg und

69 CDS II/9, S. 264–268, Nr. 238, hier S. 265: „[…] quod illustris princeps et dominus Fridericus dux Saxoniae sacri Reomani imperii archimarscalcus Thuringiae lantgravius ac marchio Misnensis dominus noster protector atque gubernator omnium bonorum temporalium monasterii nostri nobis specialiter litteris suis dederat in mandatis, quod eosdem aut alios quoscumque extraneos admittere non deberemus.“ 70 Ebd., S. 204–254, Nr. 225; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 132 f. Diese Aufstellung umfasste insgesamt 50 Kapitel zu allen Fragen des alltäglichen, wirtschaftlichen und religiösen Lebens im Stift. Mit der dazugehörigen Reform war Stanislaus Auriss, bis 1446 Magister an der Universität Leipzig, durch den Abt des Breslauer Marienklosters beauftragt worden, vgl. CDS II/9, S. 254, Nr. 226. Auriss bzw. die zahlreichen an der Universität tätigen schlesischen Magister werden auch den Kontakt nach Breslau vermittelt haben. Zum Einfluss der schlesischen Magister an der Leipziger Hohen Schule vgl. nun Beate KUSCHE, „Ego collegiatus“ – die Magisterkollegien an der Universität Leipzig von 1409 bis zur Einführung der Reformation 1539. Eine strukturund personengeschichtliche Untersuchung (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte A, 6), Leipzig 2009, dort S. 807 f. zu Stanislaus Auriss. 71 CDS II/9, S. 264–268, Nr. 238, hier S. 267: „Nos attendentes quod actus gestus per timorem nihil operatur, cum scriptum sit: Qui ex timore facit praeceptum, aliter quam debet facit et ideo iam non facit.“ Vgl. auch Corpus Iuris Canonici, Bd. 2: Decretalium Collectiones. Decretales Gregorii P. IX, bearb. von Emil Ludwig RICHTER und Emil FRIEDBERG, Leipzig 1881 (ND Graz 1959), X.5.41.8.

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ein enges Beziehungsgeflecht deutlich werden.72 Fassbar wird dieser Zusammenschluss im Aufruf Propst Bertholds von Kaltenborn und anderer Augustiner-Chorherrenstifte aus dem Jahre 1260 zur Unterstützung des durch Brand zerstörten Naumburger Moritzstiftes.73 Nunmehr einigten sich in einer Urkunde vom 8. November 1452 die Stifte von St. Thomas in Leipzig, St. Afra in Meißen, St. Georg bei Goslar, St. Peter auf dem Lauterberg, St. Lorenz bei Schöningen, St. Johannes in Kaltenborn und St. Maria in Altenburg zur Abhaltung eines jährlichen Provinzialkapitels und zur gegenseitigen Gebetsverbrüderung.74 Ausdrücklich wurde die Einmischung in die Angelegenheiten der zugehörigen Stifte durch andere geistliche Einrichtungen oder weltliche Amtsträger untersagt („invasiones aut molestationes per aliquam ecclesiasticam saecularemve personam“). Bei Rechtsangelegenheiten sollten die Kapitelsmitglieder geschlossen unter der Leitung des Präsidenten auftreten. Sollte das Kapitel in Gefahr geraten, verpflichtete man sich zur gegenseitigen Hilfe, wobei die Stifte St. Thomas in Leipzig und St. Peter vom Lauterberg ihren Führungsanspruch dadurch unterstrichen, dass sie zu höheren Hilfszahlungen bereit waren.75 Die Reaktivierung des Provinzialkapitels war die aus der Sicht dieser Einrichtungen einzig logische Antwort auf das Programm der observanten Reformer. Deren Betonung früherer, „besserer“ Zustände als Legitimation ihres Tuns begegnete man durch Rückgriffe auf die eigene institutionelle Tradition.76 Denn die Aktivität des Goslarer Provinzialkapitels war seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eingeschlafen. Die Rückbesinnung auf diese Organisationsform geschah daher nicht zufällig, es wurde von einer „bewussten“ Wiederherstellung unter dem Namen des Goslarer Kapitels gesprochen.77 Denn dass 72 LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 108, 111–113 u. 116 f. Vgl. WEINFURTER, Salzburger Bistumsreform (wie Anm. 6); BOGUMIL, Das Bistum Halberstadt (wie Anm. 6). 73 Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg (wie Anm. 20), Teil 2, S. 340 f., Nr. 309. 74 CDS II/9, S. 272 f., Nr. 243; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 135. 75 Vgl. auch einige Beschlüsse des Kapitels vom 20. September 1461 (CDS II/9, S. 287 f., Nr. 262), die die Mitglieder zu gegenseitiger Hilfe verpflichteten, gleichzeitig aber festlegten, dass nur diese berechtigt waren, Visitation in den anderen Stiften durchzuführen. 76 Vgl. auch Martial STAUB, Regula beati Augustini – Oder: Innovation als Tradition. Ein Epilog über Normativität als (In-)Fragestellung von Geschichte, in: MELVILLE/MÜLLER (Hg.), Regula Sancti Augustini (wie Anm. 5), S. 593–604. 77 CDS II/9, S. 272 f., Nr. 243: „[…] praedicto convenientes et capitulum provinciale multis retroactis temporibus praterissimum utique reinstaurare volentes, primo ipsum capitulum provinciale certis ex motivis animos nostros moventibus capitulum provinciale Goslariense appellamus volumusque illud eo nomine perpetuis temporibus appellari […].“

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zu diesem einstmals die Stifte Neuwerk und St. Moritz in Halle gehörten, war sicherlich nicht vergessen worden. Damit standen die der Windesheimer Kongregation nahestehenden Stifte, die sich etwa zur gleichen Zeit im sog. „Neuwerker Provinzialkapitel“ organisiert hatten,78 und insbesondere die Stifte von Johannes Busch und Paulus Busse, als unerhörte Neuerer da, während sich die Mitglieder des Goslarer Provinzialkapitels als „Traditionsbewahrer“ inszenieren konnten.79 Der Erfolg der Reformbestrebungen in den mitteldeutschen bzw. thüringischen Augustiner-Chorherrenstiften hing, so lässt sich festhalten, maßgeblich von zwei Faktoren ab: erstens von der Unterstützung durch die geistliche, vor allem aber durch die weltliche Obrigkeit und zweitens der organisatorischen Einbettung der jeweiligen Stifte in überregionale Verbände. Mithilfe der Grafen von Gleichen und des Erfurter Stadtrates war Johannes Busch in Ettersburg und im „Reglerkloster“, auch gegen internen Widerstand, erfolgreich vorgegangen. In Naumburg aber, wo doch gerade Herzog Wilhelm III. von Sachsen besonderes Interesse an der Reform der anwesenden monastischen Einrichtungen im Sinne seines landesherrlichen Kirchenregimentes zeigte,80 konnte Busch sich 78 Vgl. LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 135–140. 1471 wurde das Provinzialkapitel zu Neuwerk/Halle, zu dem auch Ettersburg gehörte und welches sich an den Statuten von Windesheim orientierte (aber nicht zur Kongregation gehörte) wiedereingerichtet bzw. erneuert, nachdem mit dem Rückzug Johannes Buschs 1454 wohl dessen Aktivität einen schweren Dämpfer hinnehmen musste, vgl. BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch IV, Kap. 17, S. 754–756. Vgl. auch Thuringia sacra, Bd. 2: Ettersburg, Heusdorf und Heyda (wie Anm 16), S. 91 f., Nr. 31; LESSER, Zwischen Kanonikerreform und Bauernkrieg (wie Anm. 16), S. 30 f. Bewusst hatte sich übrigens Johannes Busch dafür entschieden, auch das Neuwerker Provinzialkapitel am Tag der Kreuzerhöhung (14. September) stattfinden zu lassen, da dies der traditionelle Tag der Zusammenkunft des Goslarer Kapitels gewesen war, er hier also Anknüpfungspunkte zu bereits bestehenden Traditionen suchte, um seine Reformen durchsetzen zu können, vgl. DERS., Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 130 f. 79 In den Auseinandersetzungen mit den organisierten mitteldeutschen AugustinerChorherrenstiften und dem sie unterstützenden wettinischen Kurfürsten hatte Johannes Busch sein Blatt überreizt. Es steht daher zu vermuten, dass in diesen Streitigkeiten auch das Zerwürfnis Buschs mit Erzbischof Friedrich III. von Magdeburg seinen Ursprung hatte, welches schließlich 1454 dazu führte, dass der Reformer von seinem Amt als Propst vom Neuwerk zurücktrat, vgl. LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 13; DERS., Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 136. Ausschlaggebend war wohl auch, dass Busch durch Stanislaus Auriss, den führenden Kopf hinter der Reform des Thomasstiftes 1445, in einen Prozess vor der Universität Leipzig verwickelt wurde. 80 Wilhelm hatte 1451 nicht nur die Reform von St. Moritz und St. Georg angestrebt, sondern zugleich die Weichbildgrenzen der Ratsstadt bestätigt, von denen er explizit „seine“ Klöster St. Moritz und St. Georg, über welche die Wettiner die Schutzherrschaft ausübten, ausnahm, vgl. Domstiftsarchiv Naumburg, Urk. Nr. 665 sowie Kop. 3, fol. 22r–24r;

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gegen das wiederbelebte Goslarer Provinzialkapitel nicht durchsetzen.81 Die Organisation im Verbund ermöglichte es auch wirtschaftlich angeschlagenen Einrichtungen sich der offensichtlich nicht sonderlich beliebten Reform zu erwehren. Einmal mehr werden hier Diskrepanzen darüber sichtbar, wie genau man den letztgültigen Zweck der Stifte, die Produktion göttlichen Heils, zu bewerkstelligen suchte. Keinesfalls empfanden sich die Mitglieder des Goslarer Provinzialkapitels als „dysfunktional“, ganz im Gegenteil konnten sie die Berufung der Reformer auf Althergebrachtes sogar durch den Rückgriff auf noch ältere Traditionen kontern.82 Stadtarchiv Naumburg, Ms. 35, fol. 20r–21v, 131r–135r u. 229r–232r: „[…] vszgeslossen vnnser closter zcu sannct Jurgen vnd Moriczen, vor Numburg gelegen, mit yren luthen, gutern, erbgerichten vnd gerechtickeiten, die vnnser eldern vnd vorfarn seligen doran gehabt vnd vff vns herbrachtt haben.“ 81 Es muss für Busch schmerzhaft gewesen sein, die Unterstützung der sächsischen Kurfürsten in den Auseinandersetzungen mit dem Goslarer Provinzkapitel zu verlieren. So zeigt eine von Busch überlieferte Anekdote, die seinen Rückhalt und seine Beliebtheit bei den Mächtigen unterstreichen sollte, auch, wie relativ schnell sich dieses Verhältnis gewandelt hatte. Denn nachdem er mit der Reform in Erfurt erfolgreich war, wurden er und Paulus Busse durch Abt Christian von Petersberg gebeten, mit ihm das Benediktinerkloster St. Georg in Naumburg zu visitieren, was beide wohl auch gleich zur oben besprochenen Visitation des Moritzstiftes nutzten. Anschließend plante Busch den Besuch des nicht weit entfernten Altenburgs und seiner Augustiner-Chorherren zusammen mit dem Prior vom Stift Riechenberg. Beiden ließ die Herzogin von Sachsen aus Freundschaft zwei riesige Amphoren mit Bier und Wein durch den Abt von St. Georg zukommen. Diese seien so schwer gewesen, dass man sie hätte nicht tragen können, vgl. BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch I, Kap. 52, S. 539 f.: „Priori enim de Richenberge Iohanni Kolvekorne et mihi, in civitatem Nuemburgensem ad reformandum monasterium ordinis nostri Aldenborch nuncupatum per duxissam Saxonie nuncio cum solenni ad se vocatis, ipse dominus abbatis duas magnas misit amphoras, unam bono vino plenam, alteram bona cerevisia, qua melior ibi non trahitur, repletam, in signum pure dilectionis et vere amicitie.“ Herzog Wilhelm III. von Sachsen hatte bereits vor 1447 versucht, im Naumburger Georgenkloster im Sinne der Reform einzugreifen, woraufhin sich der eigentlich sehr selbstständig und selbstbewusst auftretende Konvent unter den Schutz des Naumburger Bischofs flüchtete, vgl. Domstiftsarchiv Naumburg, Kop. 3, fol. 1r; KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche (wie Anm. 28), S. 73 f.; WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 28), S. 344–350. Ob Busch aber je nach Altenburg gelangte, wird aus seinem Bericht nicht deutlich, doch es steht zu vermuten, dass ihm kein Einlass gewährt wurde, denn ansonsten hätte er davon wohl berichtet. Vgl. auch LÖBE, Die Pröbste des Bergerklosters (wie Anm. 19), S. 242, der das Wirken Johannes Buschs nicht erwähnt, wohl aber die Erneuerung des Goslarer Provinzialkapitels am 8. November 1452 unter Beteiligung des Propstes Otto Griß von Altenburg. 82 Zugleich stellte sich das monastische und religiöse Leben in den Stiften keineswegs als so verfallen dar, wie dies etwa Busch in seinen Schriften glauben machen wollte, wofür z. B.

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Die Organisation der Augustiner-Chorherrenstifte im Goslarer Provinzialkapitel sicherte diesen nicht nur gegenseitige Hilfeleistung zu, sondern sorgte auch für die Durchsetzung jener Statuten und consuetudines, die seit 1445 im Leipziger Thomasstift befolgt wurden. So zeigt ein Notariatsinstrument über die Visitation des Meißner Afrastiftes vom 11. Mai 1452 durch den Propst vom Lauterberg, dass in beiden Einrichtungen die entsprechenden Reformen durchgeführt worden waren.83 Da ohnehin Quellen zum religiösen und spirituellen Leben in den untersuchten Stiften größtenteils fehlen, lassen sich die Auswirkungen der Reformvorhaben zumeist nur über die innere Organisation der einzelnen Institutionen rekonstruieren. Die Einführung gleichartiger Statuten in den Stiften des Goslarer Provinzialkapitels führte so zu einer gewissen „Organisationskultur“, die sich aber eben nicht auf ein einzelnes Stift beschränkte. Durch gemeinsam geteilte Werte, Normen und Strukturen wurde der Zusammenhalt unter den Einrichtungen gestärkt und ein geschlossenes Auftreten nach außen hin erheblich erleichtert.84 Durch die Änderung der Organisationsstruktur – die natürlich immer einherging mit einer Änderung der Organisationskultur, wenn wir dazu auch religiöse und spirituelle Formen der Lebensführung rechnen – wollte Johannes Busch die in seinen Augen dysfunktionalen Augustiner-Chorherrenstifte zu ihrem ursprünglichen Zweck zurückführen. Er nahm dafür Anleihen bei den observanten Bettelorden wie auch der religiösen Laienbewegung der devotio moderna, aus welcher ja die Windesheimer Observanz maßgeblich stammte.85 Sie lassen sich grob in zwei große Stoßrichtungen unterteilen, nämlich erstens des Verdie oben angesprochene Reform des Thomasstiftes 1445 spricht, vgl. LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 132 f.; CDS II/9, S. 204–254, Nr. 225. 83 Codex diplomaticus Saxoniae Regiae, 2. Hauptteil, Bd. 4: Urkundenbuch der Stadt Meißen und ihrer Klöster, bearb. von Ephraim Gotthelf GERSDORF, Leipzig 1873, S. 223– 229, Nr. 278. 84 Vgl. ESSER, Soziologie (wie Anm. 29), Bd. 5, S. 262–264. Zum normativen Charakter der monastischen Regeln vgl. Klaus SCHREINER, Observantia regularis – Normbildung, Normkontrolle und Normwandel im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters, in: Doris RUHE/Karl-Heinz SPIEß (Hg.), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000, S. 275–313. 85 Vgl. KOHL, Windesheimer Kongregation (wie Anm. 4), S. 83–89; LORENZ, Zu Spiritualität und Theologie (wie Anm. 15), S. 173–176 u. 178–180; Kaspar ELM, Die „Devotio moderna“ und die neue Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Marek DERWICH/Martial STAUB (Hg.), Die ‚Neue Frömmigkeit‘ in Europa im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 205), Göttingen 2004, S. 15–29; Nikolaus STAUBACH, Das Wunder der Devotio Moderna. Neue Aspekte im Werk des Windesheimer Geschichtsschreibers Johannes Busch, in: Anton J. HENDRIKMAN (Hg.), Windesheim 1395–1995. Kloosters, teksten, invloeden (Middeleeuwse studies, 12), Nijmegen 1996, S. 170–185.

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zichts der Kanoniker auf privaten Besitz und eine verbesserte Wirtschaftsverwaltung und zweitens die organisatorische Verankerung der vita communis durch eine „Verflachung“ der Hierarchien, einer gewissen Entmachtung des Propstes und der stärkeren Einbindung der Kanoniker mittels einer breit gefächerten Verteilung der Verantwortlichkeiten an viele Mitbrüder. Nicht zufällig orientierte sich Busch am Konzept des „Prokurators“ der observanten Bettelorden, also eines (weltlichen) Verwalters des Klostergutes, der es den Institutionen erlaubte, Besitz anzunehmen und dennoch persönlich und (im Falle der Bettelorden wichtig) auch institutionell arm zu bleiben.86 Freilich war der Prokurator bei den Augustiner-Chorherren ein Bruder des Konvents, wie auch die Stifte sich nicht in die observante, institutionelle Armut begaben. Die 1466 einsetzenden Rechnungen des Erfurter Reglerstifts weisen 1466/67 einen frater Johannes Herden als Prokurator des Stiftes aus, 1468 lässt sich ein frater Petrus als Prokurator nachweisen. Der Prokurator verwaltete die Finanzen des Stiftes; Einnahmen und Ausgaben, zum Teil aber auch Bausachen und die Küche. Die Rechnungslegung ist leider zu knapp und pauschal gehalten, als dass man seine Kompetenzen detaillierter umschreiben könnte. Zudem rechnete er das sog. officium granarie ab, worunter aber nicht nur die Getreidebestände des Stiftes, sondern auch Mühlen, Weinberge und Vorwerke fielen. Zugleich wird ein frater Hermann als Sakristan und Vestiar genannt, dieser war also für Kirchengerät und Kleidung verantwortlich.87 Auch eine am 13. August 1496 durch den Propst von Neuwerk im Naumburger Moritzstifts durchgeführte Visitation und Reform im Sinne des Neuwerker Provinzialkapitels delegierte die Verwaltung von Kleidung und Kirchenschatz jeweils an einen Vestiar bzw. Sakristan.88 Die große Anzahl unterschiedlicher Schreiberhände in der Erfurter Rechnung, die von Eintrag zu Eintrag wechseln können (mitunter drei oder mehr Hände pro Blatt), lassen zum einen darauf schließen, dass die Rechnung keine Reinschrift am Ende des Rechnungsjahres darstellt, sondern diese sukzessive bearbeitet wurde. Zum anderen war die Finanzverwaltung und Rechnungslegung Gemeinschaftsaufgabe des Konvents geworden. Denn ganz besonders 86 Bernhard NEIDIGER, Armutsbegriff und Wirtschaftsverhalten der Franziskaner im 15. Jahrhundert, in: Kaspar ELM (Hg.), Erwerbspolitik und Wirtschaftsweise mittelalterlicher Orden und Klöster (Berliner Historische Studien, 17; Ordensstudien, 8), Berlin 1992, S. 207–229. 87 LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 194v–195r u. 197v–198r. Der Aufbau der Rechnungslegung und die darin aufscheinenden Zuständigkeiten von Prokurator und Sakristan bzw. Vestiar änderten sich in den folgenden Jahrzehnten augenscheinlich nicht mehr. 88 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 981, fol. 2v; Georg MÜLLER, Reformation und Visitation sächsischer Klöster gegen Ende des 15. Jahrhunderts, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 38 (1917), S. 46–74, hier S. 62 u. 73.

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auffällig ist das durchgängige Fehlen von Propst und Prior in diesen Rechnungen. Der Prokurator erledigte Aufgaben, die zuvor dem Keller- bzw. Küchenmeister zugestanden haben dürften, Sakristan und Vestiar übernahmen Zuständigkeiten von Kustos und Schatzmeister. Die bisherigen Ämter von Kustos, Keller-, Küchen- und Schatzmeister scheinen aber weiter bestanden zu haben, der Prokurator überwachte nunmehr deren Handeln in letzter Instanz. Die durch die Reformer betonte vita communis erstreckte sich damit nicht zuletzt auf die gemeinsame Stiftsverwaltung. Einige etwas altertümlich wirkende Hände der Stiftsrechnungen lassen zudem Anlehnungen an Buchschriften aufscheinen, so dass vermutet werden darf, dass zum Teil auch hauptsächlich im Skriptorium des Stiftes arbeitende Brüder herangezogen wurden.89 Die Entmachtung des Propstes als zentralem Akteur innerhalb der Konventshierarchie wird bereits in den Visitationsberichten Johannes Buschs deutlich, wenn er zwar in Ettersburg und Erfurt die alten Pröpste nicht absetzte, diese aber nur noch als symbolische Repräsentanten beibehielt.90 Die 1496 im Naumburger Moritzstift durchgeführte Reform wurde da noch sehr viel konkreter. Der Prior (und nicht der Propst) übernahm nun alle Korrekturgewalt im Konvent, er durfte strafen und züchtigen, aber auch absolvieren und dispensieren, sogar in „casibus mortalibus“. Ihm unterstand zudem die Aufsicht des Novizenmeisters und er hatte, zusammen mit Propst und Sakristan, die Schlüsselgewalt über die Kleinodien inne. Er war für die Einhaltung der Schweigegebote zuständig und sollte außerdem einmal im Monat dem Konvent die durch die Visitatoren erlassenen Ordnungen vorlesen und auslegen. Zu Sonn- und Festtagen hatte er zudem ein Kapitel aus den Ordensregeln und Statuten vorzulesen und zu erläutern. Ebenso sollte er sich des einzigen Konversen des Stiftes annehmen und diesen in seinen Vorschriften und Pflichten unterrichten.91 Im 89 Vgl. LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 200v u. 206r–v (hier sogar mit schmückenden Initialen). 90 BUSCH, Liber de reformatione monasteriorum (wie Anm. 22), Buch I, Kap. 25, S. 471 f. u. Buch I, Kap. 26, S. 473 f. 91 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 981, fol. 2v; MÜLLER, Reformation und Visitation (wie Anm. 88), S. 61–63 u. 73 f.: „Frater Adam sit prior in reliquum, qui eciam habebit plenam auctoritatem corrigendi, emendandi, absolvendi dispensandi secundum statuta et privilegia ordinis eciam in casibus mortalibus quod absit. Et prior servabit capitulum culparum singulis sextis feriis, aut aliis diebus capitularibus praesente praeposito. Sed praepositus non dicit culpas; potest autem proclamare fratres stantes ante matutinam et prior imponet penam secundum statuta. Ordinamus quod prior faciat diligentiam, vt fratres diligenter informentur secundum statuta celebrare, silentium servare et alia cermonialia ordinis, cantare, legere et inclinare etc. […] Volumus eciam, quod omni tempore servetur silencium in oratorio, dormitorio et refectorio secundum statuta et ordinaciones nostre communitatis. Et similiter ante primas vel tercias pro tempore et partibus completorum reliquis eciam temporibus et locis silencii videat prior sibi et alii coadiutores sui

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Stift Ettersburg war am 26. Juli 1492 sogar der Propst auf Druck des Konvents (und mit Unterstützung der Grafen von Gleichen) zurückgetreten, „se non posse proficere nostro monasterio“.92 Die Nivellierung bestehender Hierarchien innerhalb der monastischen Organisationen sollte zu einer Erneuerung der vita communis, einem verstärkten Zusammenhalt unter den Kanonikern führen und diese zugleich stärker in die Pflicht für ihr Stift nehmen, um so die empfundenen Missstände zu beseitigen sowie – etwas anachronistisch ausgedrückt – die Heilsproduktion wieder zum Laufen zu bringen. In wirtschaftlich angeschlagenen und schwachen Konventen wie Ettersburg oder Naumburg war dies wohl möglich, in Erfurt nur durch Druck zu erreichen. Dass sich potente und selbstbewusste Einrichtungen wie in Leipzig, Altenburg, Meißen oder auf dem Lauterberg mit aller Macht dagegenstemmten, ist nur allzu verständlich. Zudem betonten die Statuten des Goslarer Kapitels die Position des Propstes. Ihm allein oblag es, Exzesse und Vergehen innerhalb des Konvents strafen zu lassen. Auch besaß nur das Provinzialkapitel Straf- und Lösungsgewalt über seine Mitglieder.93 Der Widerstand der Stifte hatte daher nur bedingt etwas mit der Frage von Besitzstandswahrung oder gar „Verstocktheit“ zu tun, sondern vor allem mit der Einbindung der Konvente und ihrer Mitglieder in soziale und kulturelle Bezugsstrukturen (der bekannte Bourdieusche Habitus). Es bestand aus Sicht des größten Teils der thüringischsächsischen Augustiner-Chorherrenstifte schlicht kein Grund, sich einer observanten Reform zu unterwerfen; sie war für die Kanoniker weder wirtschaftlich noch religiös begründbar.94 ut cum tempore fratres pie inducantur et instruantur servare silencium et negligentes proclamentur et corrigantur. Item ordinamus quod prior singulis mensibus in conventu legat istas permissas ordinaciones et exponat ubi sunt obscure. Insuper quod singulis dominicis diebus et aliis celebribus legat unum capitulum ex statutis hora competenti post prandium et exponat in 2° et 3° patribus statuorum. Similiter aliquis fratri Nicolao converso sit consolatorius et informet eum eciam de statutis ipsum tangentibus cum pietate vel alteri committat.“ Vgl. auch KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche (wie Anm. 28), S. 74 f. 92 Thuringia sacra, Bd. 2: Ettersburg, Heusdorf und Heyda (wie Anm 16), S. 95 f., Nr. 40. 93 Vgl. CDS II/9, S. 332 f., Nr. 314 u. S. 348–350, Nr. 337. 94 Diese Sichtweise, die wir zunächst einmal unabhängig vom tatsächlichen Befund als für die Stifte des Goslarer Provinzkapitels handlungsleitend akzeptieren müssen, drückt sich ebenfalls in der in den Institutionen betriebenen Geschichtsschreibung aus, die vielleicht eine Reaktion auf das durch die Windesheimer Kongregation beförderte historiographische Projekt, die Reformtätigkeit in einer Heilsgeschichte zu verankern, darstellen, vgl. LESSER, Johannes Busch (wie Anm. 15), S. 44–56. So liegt für das Leipziger Thomasstift eine wohl um 1526/27 entstandene Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (im Folgenden: ÖNB Wien) unter der Signatur „Nr. 3004“ vor, die im Sinne eines Annalenwerks verschiedenste historische Notizen aller Art sammelte, darunter auch Nachrichten über die Stifte des Goslarer Provinzialkapitels. Bezeichnenderweise wird die

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Äußeres Zeichen der durch die Reformer angedachten Umwandlung der Organisationsstruktur und damit Organisationskultur war ein gegenüber dem traditionellen Habit der Chorherren verändertes Gewand. Genauer gesagt ging es um die Kleidung, die in der Öffentlichkeit getragen wurde.95 Diese bestand aus einem weißen Untergewand und einem schwarzen Mantel samt schwarzer Kappe.96 Inwieweit sich der Habit der reformierten Stifte davon unterschied, lässt sich aus den Quellen nicht recht erschließen, jedoch weist die abfällige Bezeichnung der Reformer als capuciati auf das Tragen einer Kapuze hin. Jedenfalls hielten schon einige Beschlüsse des Goslarer Provinzialkapitels aus dem Jahr 1461 fest, dass die beteiligten Stifte bei der traditionellen Kleidung zu bleiben hätten.97 Als die Mitglieder des Goslarer Provinzialkapitels 1499 vor Kurfürst Friedrich und Herzog Johann von Sachsen, den weltlichen Schutzherren des Moritzstiftes,98 gegen die in Naumburg durchgeführte Reform protestierten, verwiesen sie auch explizit auf den fremdartigen Habit der „Kapuziaten“, die nicht zur Gemeinschaft derjenigen gehören würden, die sich nach der Regel des heiligen Augustinus richten. Stattdessen hätten sie eine neue absonderliche Lebensform (religio) eingeführt.99 Die Annalen des Thomasstiftes bringen diese Angelegenheit explizit zum Ausdruck, wenn berichtet wird, dass durch das Einschreiten der Kapitelsmitglieder in Rom die Brüder des Moritzstiftes „ad priscinum habi-

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Visitation durch Johannes Busch im Jahre 1451 nicht erwähnt, wohl aber eine Visitation des Merseburger Bischofs am 25. Juli 1497. Über diese wird nur berichtet, dass der Bischof „visitavit primo cellas omnium dominorum. Et nichil correctione digna inveniens […]“ (ÖNB Wien, Nr. 3004, fol. 22v [I.106]). Vgl. auch Franz FUCHS, Wolle oder Leinen. Zum Streit um den rechten Habit in der Regularkanonikerbewegung des 12. Jahrhunderts, in: MELVILLE/MÜLLER (Hg.), Regula Sancti Augustini (wie Anm. 5), S. 219–238. Vgl. CDS II/9, S. 348–350, Nr. 337. Ebd., S. 287 f., Nr. 262. Diese wurden 1484 durch den apostolischen Legaten Bartholomeus de Maraschis bestätigt, vgl. ebd., S. 332 f., Nr. 314. Dieses war spätestens 1495 Mitglied, wurde es doch in einer päpstlichen Bestätigung der Statuten und Rechte des Kapitels als solches angesprochen, vgl. ebd., S. 348–350, Nr. 337. Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 991; ABKG, Bd. 2, S. 627–630, Nr. 1327; MÜLLER, Reformation und Visitation (wie Anm. 88), S. 63–65; LESSER, Das Goslarer Provinzialkapitel (wie Anm. 18), S. 140; KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche (wie Anm. 28), S. 74 f. Die grundsätzliche Argumentationslinie des Goslarer Provinzialkapitels war, dass der „Orden der Kapuziaten“ sehr viel jünger als die Augustinusregel sei, eigentlich aus den Bettelorden stammen und sich in Statuten, Liturgie und Kleidung eindeutig von den Augustiner-Chorherren unterscheiden würde. Damit hätten Angehörige dieses „Ordens“ also weder Legitimation noch Befugnis, in die Stifte des Goslarer Provinzialkapitels einzugreifen oder dort Recht zu sprechen.

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tum“ zurückgekehrt seien.100 Nicht ohne Grund wies der eingangs schon zitierte Propst des Altenburger Stiftes am 2. Dezember 1528 darauf hin, dass seine Brüder nicht einfach ihre Kleidung ablegen könnten, denn „sie trugen schwartz vnd weiß wie die schaff auch weis vnd schwartz wheren“.101 Neben einem klaren christologischen Bezug (Lamm Gottes) scheint hier der jahrzehntelange Konflikt mit der Windesheimer Reform um die „richtige“ Organisation der thüringischen Augustiner-Chorherrenstifte auf. Die Kleidung war das äußere, für jeden sichtbare Zeichen des Erfolgs der Stifte des Goslarer Provinzialkapitels gegenüber allen Anfeindungen von außen – und damit waren in den Augen des Altenburger Propstes auch die kurfürstlichen Visitatoren gemeint.

3. Die thüringischen Augustiner-Chorherren und die Reformation Die Reformation stellte die Stifte der thüringischen Augustiner-Chorherren vor gänzlich andere Probleme als die Reformbestrebungen Johannes Buschs und seiner Mitstreiter.102 Denn nun wurde nicht darum verhandelt, welche Form der Organisationsstruktur und -kultur besser dafür geeignet sei, den eigentlichen Zweck der monastischen Einrichtungen zu sichern. Nunmehr wurde ihre fundamentale Aufgabe, die institutionalisierte Produktion individuellen und kollektiven Heils, durch die Schriften Luthers grundsätzlich infrage gestellt. Schon in seiner 1520 veröffentlichten Adelsschrift zweifelte Luther am Mönchsgelübde als „zweiter Taufe“, denn das Gelübde stütze sich nicht auf die Schrift. Jedoch

100 ÖNB Wien, Nr. 3004, fol. 51r (I.264): „Das closter in Naumburg reformirt capuciati: Anno xiiiicxcvi in vigilia vigilie [23. Dezember 1496] in Naumburgk unionis nostre per episcopum Magdeburgensem et Naumburgensem cum capuciatis de Hallis, quos armata manu vi opresserunt. Demum causa fuit in romana curia discussa, redierunt fratres ad priscinum habitum.“ 101 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Ii 1, fol. 40v. 102 Zur Reformation einführend nach wie vor Olaf MÖRKE, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 74), München 22011. Für einen konzisen Überblick zur Forschungsgeschichte vgl. auch die Einleitung von Thomas Kaufmann in: Bernd MOELLER, Reichsstadt und Reformation. Neue Ausgabe. Mit einer Einleitung von Thomas Kaufmann, Tübingen 2011, hier S. 1–38. Zur Sequestration der Klostergüter vgl. Günther WARTENBERG, Der Umgang mit Klostergut im mitteldeutschen Raum im 16. Jahrhundert, in: MÜLLER (Hg.), Reform – Sequestration – Säkularisation (wie Anm 26), S. 9–24. Zur Windesheimer Kongregation und der Reformation vgl. BRENDLE, Augustiner-Chorherren (wie Anm. 2), S. 49–51.

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verwarf der Reformator das Mönchtum an sich noch nicht völlig.103 Bereits ein Jahr später aber unterzog er darauf aufbauend die klösterliche Lebensform in seinen Schriften „Iudicium de votis“ und „De votis monasticis“ einer Generalkritik.104 Gelübde widersprächen der evangelischen Freiheit, wenn sie unter der Erwartung abgelegt worden seien, nur durch den Ordensstand zum Heil finden zu können. Dieses könne man nur im Glauben zu Christus, nicht aber in der Hoffnung auf die Wirkung des Gelübdes erlangen. Damit, so Luther, intensivierten das monastische Leben und die Gelübde den Glauben an eine Werkgerechtigkeit, wo doch nur aus Gott allein dem Menschen Gnade zuteilwerden könne.105 Diese Gedanken zerstörten zum einen das korporative Band des Gelübdes, welches die Klöster und Stifte als Organisationen im Inneren zusammenhielt.106 Zum anderen entzog die Kritik an der Werkgerechtigkeit und die Ideen des sola fide und sola gratia den monastischen Einrichtungen ihre sinnstiftende Aufgabe. Man benötigte keine (hoch-)spezialisierten Institutionen zur Bereitstellung göttlichen Heils mehr, wenn dieses nur durch Gott, nicht durch die Menschen, gegeben wird. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich relativ rasch die Klöster und Stifte entleerten (das sog. „Auslaufen“ der Mönche und Nonnen), wobei natürlich auch die (nicht immer zielgerichtete) Kirchenpolitik der Landesherren großen Einfluss auf das Schicksal und das Ende einer monastischen Institution hatte.107 103 Thomas KAUFMANN, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Kommentare zu Schriften Luthers, 3), Tübingen 2014, S. 279–296. 104 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 8, Weimar 1889, S. 313–336 („Iudicium de votis“) u. 573–669 („De votis monasticis“). 105 Vgl. Bernhard LOHSE, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963; DERS., Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; Heinz-Meinolf STAMM, Luthers Stellung zum Ordensleben (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 101), Wiesbaden 1980. 106 Vgl. auch Joachim WOLLASCH, Das Mönchsgelübde als Opfer, in: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 529–545. 107 Vgl. dazu neben der Literatur in Anm. 28 jetzt umfassend Eike WOLGAST, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 89), Gütersloh 2014; Enno BÜNZ, Das Ende der Klöster in Sachsen. Vom „Auslaufen“ der Mönche bis zur Säkularisation (1521 bis 1543), in: Harald MARX/Cecilie HOLLBERG (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004, S. 80–90; DERS., Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesell-

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Es stellt sich die Frage, ob sich der institutionelle Zusammenhalt der sächsischthüringischen Augustiner-Chorherrenstifte als hilfreich bzw. unterstützend bei der „Abwehr“ des reformatorischen Drucks auf die Stifte auswirkte, ob sich also die solcherart organisierten monastischen Einrichtungen Auflösungs- und Säkularisierungstendenzen besser erwehren konnten als etwa die isolierten Stifte in Ettersburg oder Erfurt. Als geschlossen trat zumindest das, freilich im albertinischen Herzogtum gelegene Leipziger Thomasstift auf bzw. inszenierte es sich auf diese Weise. Denn dessen Annalen berichten, dass Bischof Adolf von Merseburg bei einer Visitation am 19. November 1522, die auf Druck Herzog Georgs von Sachsen durchgeführt wurde, keinerlei Missstände im Stift finden konnte. Mehr noch, auch keine einzige Schrift Luthers fand sich im Besitz der Brüder, wie mit einem gewissen Stolz betont wurde.108 Doch die Gedanken Luthers und der Reformation erodierten nicht nur den korporativen Zusammenhalt der Stifte, sondern brachten auch Dissens in die Konvente, ließen tiefer liegende Spannungen aufbrechen, zumal hinsichtlich der Außenbeziehungen der Einrichtungen, zu Untertanen oder zu versorgenden Pfarrkindern. Das Marienstift vor Altenburg sah sich seit Beginn der 1520er Jahre massiven Konflikten mit der Altenburger Bürgerschaft ausgesetzt. Denn dem Stift waren seit 1214 die beiden großen Pfarrkirchen der Stadt, die Bartholomäuskirche und die Nikolaikirche, inkorporiert.109 Die sehr aktiven Pfarrgemeinden, unterstützt vom Stadtrat, der ein städtisches Kirchenregiment durchsetzen wollte, bemühten sich früh und intensiv um evangelische Predigt und Gottesdienst.110 Im Frühjahr 1522 hatten 77 Altenburger Bürger mit einer schaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108; Sabine ZINSMEYER, Frauenklöster in der Reformationszeit. Lebensformen von Nonnen in Sachsen zwischen Reform und landesherrlicher Aufhebung (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 41), Stuttgart 2016. Vgl. auch GESS, Klostervisitationen (wie Anm. 28), S. 14–21. 108 ÖNB Wien, Nr. 3004, fol. 51r–v (I.265): „De visitacione episcopi Adolffi: Anno domini xvcxxii in die Elizabet [19. November 1522] dominus noster graciosus de Merßburgk dictus Adolffus de Anhalt examinavit omnes fratres singilatim, eciam prelatum, ex iussione principis Georgii ex multis causis. Sed gratia Dei nichil invenit correctione dignum. Eciam ex causa Martini Lutters et suorum librorum. Ex his nisi unum fratrem invenit suos libros habentes, quos ipse sue gratie presentavit ex obediencia.“ 109 Vgl. Hartmut KÜHNE, Stadt, Residenz und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Altenburg, in: Joachim EMIG/Volker LEPPIN/Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 1), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 273–305, hier S. 278 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 110 Vgl. auch Julius LÖBE, Mittheilungen über den Anfang und Fortgang der Reformation in Altenburg nach gleichzeitigen Acten, Briefen, Nachrichten, in: Mittheilungen der

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Petition an den Propst des Marienstiftes die Einsetzung eines evangelischen Predigers gefordert.111 Im April desselben Jahres wandten sich die Stadtväter an Luther mit der Bitte, dass dieser ihnen einen geeigneten Prediger zuschicken sollte, da der Propst ihrer Forderung nicht nachkam.112 In seinen Ratschlägen an den Rat griff Luther das Thema der Kleidung der Augustiner-Chorherren wieder auf, wenn er festhielt, dass „auffs erst Spricht Christus Matthei 7: huttet euch fur den falschen propheten, die ynn schaffs kleydern komen vnnd ynn wendig reyssende wollfe sind“. Mit diesem rhetorischen Kniff und unter Rückgriff auf die Schrift legitimierte Luther nicht nur das rechtlich fragwürdige Vorgehen des Stadtrates gegen die Altenburger Augustiner-Chorherren, sondern implizit auch gewaltsame Übergriffe gegen diese aus der Gemeinde heraus. Denn: Nu wollen wyr yhn die gunst thün vnnd sie bleyben lassen, Aber doch yhr wolffsche prediget bey vnßerm volck nicht leyden. Vnnd wissen, das wyr yhn darynnen keyn vnrecht, ßondern tzu wenig recht thün. Sondern sie haben vnß bißher an den seelen schaden than vnnd die tzinß mit allem vnrecht dafur eyngenommen. Nü sind sie nicht alleyne boße, Sondern auch schedlich reyssende wollf, die vnß hie Paulus heysset weg thün vnnd veriagen.113 Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 6 (1863–1866), S. 1–133 u. S. 469–527; Rosemarie JÄPEL, Charakter, Verlauf und Ergebnisse der Reformation in Altenburg, bearb. von Jörg Müller (Veröffentlichung des Landesarchivs Thüringen – Staatsarchiv Altenburg), Altenburg 2016. 111 KÜHNE, Stadt, Residenz und Frömmigkeit (wie Anm. 109), S. 275; LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 41 f., Nr. 5. 112 WA Br, Bd. 2, S. 502 f., Nr. 476 u. S. 504 f., Nr. 477; LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 42 f., Nr. 6. 1465 hatte Andreas Gruner, Kanoniker von St. Georg in Altenburg, eine Prädikatur in der Bartholomäuskirche gestiftet, die Kollatur aber dem Propst des Marienstiftes übertragen. Der anzustellende Prediger sollte Mitglied des Konvents des „Bergerklosters“ sein und den Magistergrad besitzen. Nach einem Streit aus dem Jahre 1490 zwischen Propst und Rat über einen zu diesem Zweck eingesetzten Chorherrn, einigte man sich darauf, dass der Rat bei Missfallen an den Landesherrn appellieren durfte. Vgl. Eduard HASE, Zur Geschichte der Bartholomäikirche zu Altenburg, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 5 (1859–1862), S. 224–330, hier S. 257–259, Nr. 18; S. 259 f., Nr. 19 u. S. 298–302, Nr. 36; KÜHNE, Stadt, Residenz und Frömmigkeit (wie Anm. 109), S. 290 f. In entsprechenden Verhandlungen mit dem Stadtrat ließ Propst Bischof diesen wissen, dass „wan es komen wurde, das der probst vffim berge eyn burgermeister zcu aldenburg zcu setzen macht hette, als dan solden die von aldenburgk, vnd nicht ehr, eyn prediger in die pfarkerchen zcuuordenen auch macht haben […]“ (LÖBE, Reformation in Altenburg [wie Anm. 110], S. 35–37, Nr. 1). 113 WA Br, Bd. 2, S. 505–509, Nr. 478. Daneben betonte der Wittenberger Reformator die freie Gewissensentscheidung des evangelischen Christenmenschen, wie er sich in der Glaubensfrage zu verhalten habe, ebd: „Vnnd ob sie wurden sagen, es gepur vnß nicht

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So sah sich nicht nur Propst Burkard Bischof ständigen Beleidigungen ausgesetzt,114 auch der restliche Konvent konnte sich in der Öffentlichkeit seiner körperlichen Unversehrtheit nicht mehr sicher sein; Angriffe waren keine Seltenheit.115 So wurde z. B. im Januar 1528 ein Kanoniker des Altenburger Stiftes verhört, warum er denn seinen Habit abgelegt habe. Seinen Angaben nach tat er dies mit Zustimmung seines Propstes, da er um sein Leben fürchten musste, wenn er vom Stift nach Langenleuba ziehe, wo er die dem Stift zugehörige Pfarrei zu versorgen hatte.116 Die Sache gelangte an den Kurfürsten, der durch eine

tzu vrteylen, wilchs das Euangelion sey, odder sey noch nicht entschieden durch eyn Concili, Das gestehn wyr yhn nicht, Dann die schrifft gibt nicht eynem Concilio, Sondern eynem iglichen Christen macht, die lere tzu vrteylen, 1. Cor. 14, vnnd die wolffe tzu kennen vnnd meyden, Matt. 7, vnnd stehet nicht darauff, was ander leutt schlieffen, wennß auch Engel weren, sondern auff eyns iglichen gewissen, denn eyn iglicher muß fur sich selb glewben vnnd vnterscheytt wissen tzwisschen rechter vnnd falscher lere.“ 114 Vgl. LÖBE, Die Pröbste des Bergerklosters (wie Anm. 19), S. 249. 115 Am 27. April 1525 meldete Propst Burkhard Bischof dem Kurfürsten: „Auch gnedigster [Herr] hat es sich am negsten palmtage begeben, das der [evangelische] prediger von Sanct Niclaus alhie zu eym dorff Sara gnant, dorinn er sich mit gwalt zu predigen gedrungen, am abendt mit seim anhange mit gewaptenter hant buchssen, spissen vnd helbarthen nicht cristo vnd seinen aposteln gmeß heym gegangen, do sy vff den ober teichtam gekomen vnd mein inne wurden, das ich vor dem closter gstanden, hat gnant prediger sampt seiner loßen rotthen semptlich angehoben zu schreyen: Ein monich, ein wolff, ein schalck, ein bube, Ein dip, dy weil do von aldenburgk solche prediger vnnd zcuchtmeister halden, ßo ertzeigen sich auch alßo ire ewangelische fruchte, das vorwar fromen christen vbel anstehet, Es hat auch einer eyn Handtbuchssen in teich nach mir geschossen, aber got sey lob mich nicht getroffen, Ist solchs christliche vnd euangelische liebe vnd frucht […] des closters kuchenmeister vnd ander bruder, dy vor das kloster keuffen mussen, mogen auff einem freyen margkte nicht fride haben, auch gnedigster herre Montags in der heiligen osterwochen, als einer der closters bruder frwe in das iungfrawen closter messen zu halten gehenn wollen, haben etliche burger auf ynen wegelagertt vnd gefengklich angenohmen, im sein angsicht mit seinem Eigen mantel vorblent vnd mit grossem geschrey gfurt durch eine lange gassen zu der bade pfutzen ynen dorein zu werffen […] Szo weren vnßere anschlege fort gegangen, es solde ynen wol gesewrt worden sein, das ich techlich sampt meinen brudern in grossem besorg vnd geuerde sein mussen […]“ (LÖBE, Reformation in Altenburg [wie Anm. 110], S. 130–133, Nr. 69). 116 ABKG, Bd. 3, S. 69 f., Nr. 1541. Nicht immer musste eine solche Rhetorik in gewaltsamen Übergriffen enden, doch die reformatorischen Ideen erodierten die rechtlichreligiösen Grundlagen der Bindungen geistlicher Institutionen zu ihrer Umwelt. So verweigerten die Altenburger Fleischermeister mit einer Eingabe vom 28. Februar 1524 offiziell die Zahlung einer dem Marienstift zustehenden Abgabe, vgl. LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 93 f., Nr. 49.

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Kommission eine Lösung herbeizuführen suchte, was aber letztlich scheiterte; die Fronten waren verhärtet.117 Luther bestärkte den Rat in seiner Position und erneuerte seine Auffassung, dass die Augustiner-Chorherren keine Autorität mehr über die Pfarrangelegenheiten hätten, „wenn sie dem Euangelio entgegen sind, Sondernn sind alß wolffe tzu meyden vnnd tzu verlassen“.118 Letztlich wurde im April 1522 Gabriel Zwilling gegen den Willen des Propstes als Prediger angestellt.119 Diesem folgte Wenzel Link als Prediger und späterer evangelischer Pfarrer der Bartholomäuskirche, bis dann 1525 Spalatin das Predigeramt übernahm.120 Es zeigt sich zugleich, dass der äußere Konflikt auch das Binnenklima des Konvents stark belastete. Denn kein Christenmensch, weder jener im Stift noch in der Pfarrgemeinde, traf seine Glaubensentscheidung allein aus seinem Gewissen heraus, sondern stand ohne Zweifel unter dem nicht geringen sozialen Druck seiner sozialen Bezugsgruppe.121 Der Faktor der alltäglichen sozialen Interaktion scheint mir für das Thema der Klosterflucht bzw. des Verbleibens von großer Bedeutung zu sein, er wird aber nicht immer explizit zur Kenntnis genommen. Für den Propst des Altenburger Marienstifts lautete die Strategie in unsicheren Zeiten die Reihen zu schließen und die Einheit der Gemeinschaft zu stärken. Abweichler bekamen die Konsequenzen zu spüren. So war im November 1522 der Chorherr Magister Mauritius Pfleumer aus dem Konvent in den Schutz des Stadtrates geflohen, nachdeme er aus beständigen und grundlichen Ursachen seinem Prälaten, dem Probst Unser Lieben Frauen Berge allhie zu Altenburg den Gehorsam ufzusagen beweget worden, darumb daß ihm das Wort Gottes auch zu horen, schweig dann zu lehren von

117 WA Br, Bd. 2, S. 519–522, Nr. 485. Vgl. auch LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 44–48, Nr. 8; S. 59–61, Nr. 20 u. S. 61 f., Nr. 21. 118 WA Br, Bd. 2, S. 522 f., Nr. 486; LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 53, Nr. 13. Die „Wolf im Schafspelz“-Metapher zieht sich in der Folge durch viele Schriften und Rechtfertigungen der evangelischen Seite in Altenburg, vgl. z. B. ebd., S. 94–101, Nr. 50. 119 WA Br, Bd. 2, S. 523 f., Nr. 487; S. 539 f., Nr. 496 u. S. 541 f., Nr. 598; LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 11–18 u. 65–67, Nr. 25. 120 Ebd., S. 476 f. sowie S. 71, Nr. 31 u. S. 85–87, Nr. 43. Vgl. auch Jürgen LORZ, Das reformatorische Wirken Dr. Wenzeslaus Lincks in Altenburg und Nürnberg (1523– 1547), Nürnberg 1978; Bernd MOELLER, Wenzel Links Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit, und Ehe in der frühen Reformation, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), S. 317–342; Björn SCHMALZ, Georg Spalatin und sein Wirken in Altenburg 1525–1545, Markkleeberg 2009. 121 Vgl. dazu Hartmut ESSER, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt am Main/New York 2001, S. 432–481.

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genanntem seinen Probst und Capitel verboten und darumb er von seinen Capitelsbrudern, wie er bericht, geschlagen.122

Die Versuche des Propstes Burkhard Bischof, seines entflohenen Kanonikers wieder habhaft zu werden, scheiterten zwar am Widerstand des Rates, doch schon der Versuch zeigt, dass durch die Intensivierung des kollektiven Zusammenhalts (freiwillig oder nicht) die für das Überleben der Stifte so wichtige Organisationskultur aufrechterhalten werden sollte – im Sinne der vita communis mussten die Brüder gerade jetzt „ein Herz und eine Seele“ sein.123 Dazu gehörte auch, dass man konsequent den Habit nicht ablegte, war er doch äußeres Zeichen der geistlichen Gemeinschaft.124 Nachdem aber das Stift die Kontrolle über die Pfarrkirchen verloren hatte,125 wurden auch seine Güter sukzessive auf Druck des sächsischen Kurfürsten dem Gemeinen Kasten der Stadt Altenburg zugeschlagen.126 Doch erst 1543 wurde das Marienstift aufgehoben und der bis dahin dort wohnende Propst mit einer Pension abgefunden.127 Der Versuch, über die Stärkung des inneren Zusammenhalts den Konvent gegen äußere Angriffe zu verteidigen, wie er ja schon gegen die Reformer der Windesheimer Kongregation recht erfolgreich gewesen war, scheiterte nun daran, dass sowohl der Rückhalt der sozialen Umwelt, in die das Stift eingebettet war, wegbrach 122 WA Br, Bd. 2, S. 615 f., Nr. 548. Pfleumer hatte sich im Sommer 1508 an der Universität Wittenberg immatrikuliert, war dort 1510 zum Bakkalar und 1514 zum Magister promoviert worden. Er war zunächst Pfarrer in Lohma, später in Werdau, wurde dann aber von seinem Propst aufgrund seiner Nähe zum reformatorischen Gedankengut abgesetzt. Später schlug Luther ihn Spalatin für die Pfarrei Schönwalde bei Herzberg vor, wobei er seine Herkunft vielsagend zusammenfasste, vgl. WA Br, Bd. 3, S. 114–116, Nr. 635: „Hunc Mauricium, defectorum Aldenburgensis Sodome, tibi commendo […].“ 123 Vgl. SCHREINER, Herz und Seele (wie Anm. 5); DERS., „Communio“ (wie Anm. 5). Vgl. auch Enno BÜNZ, Gezwungene Mönche, oder: Von den Schwierigkeiten, ein Kloster wieder zu verlassen, in: DERS./Stefan TEBRUCK/Helmut G. WALTHER (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 24; Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 19), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 427–446. 124 Zu Beginn des Jahres 1529 ließ der Propst die kurfürstlichen Visitatoren wissen, er hoffe, dass seine „claydung niemandts zu ergerung raichen, dan es wher ye wol vor vierhundert jaren, als so tragen worden […]“, LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Ii 1, fol. 61v. 125 Vgl. LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 73–75, Nr. 33; S. 75 f., Nr. 34; S. 78–80, Nr. 37; S. 81, Nr. 40; S. 82–84, Nr. 41; S. 88 f., Nr. 45; S. 91–93, Nr. 48 u. S. 106 f., Nr. 56. 126 Vgl. dazu LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Ii 1, fol. 61v, 71v u. 142r–144v; LÖBE, Reformation in Altenburg (wie Anm. 110), S. 523 f., Nr. 18. 127 LÖBE, Die Pröbste des Bergerklosters (wie Anm. 19), S. 249 f.

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(bzw. in Feindseligkeit umschlug), wie auch die landesherrliche Kirchenpolitik keine Hilfe anbot. Zudem fehlte die institutionelle Unterstützung durch die anderen thüringisch-sächsischen Augustiner-Chorherrenstifte des Goslarer Provinzialkapitels, hatten diese doch, jedes für sich, mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Dissens und Abschottung bestimmte wohl auch das Schicksal des Erfurter Konvents in der Reformationszeit. In einem nach 1532 zu datierenden Schreiben, das sich vermutlich an den Erfurter Stadtrat richtete, hatte Johannes Kilian, evangelischer Pfarrer der Augustiner- bzw. Reglergemeinde, nicht nur die Einnahmen des Stiftes zusammengetragen, sondern auch seine ganz persönliche Meinung über das monastische Leben an sich und besonders jenes im Reglerstift abgegeben.128 Denn Kilian kannte sich aus: Er war 1508 an der Universität Erfurt als Kanoniker des Reglerstifts immatrikuliert worden,129 seit 1522 aber als evangelischer Prediger und dann seit 1525 als Pfarrer in der Reglerkirche tätig gewesen.130 Er befand sich zudem 1537 unter den Unterzeichnern der Schmalkaldischen Artikel.131 Der vormalige Chorherr hatte keine allzu hohe Meinung von seinen ehemaligen Mitbrüdern. Er warf diesen ein unchristliches Leben des Müßiggangs vor. Sie würden die gestifteten Gelder nicht für die Armenpflege und die Verkündigung des Wortes Gottes benutzen, sondern um sich den Bauch vollzuschlagen.132 Sie würden sich zwar der Augustinusregel rühmen, aber statt sich der Gelehrsamkeit zu widmen, würden sie lieber in prächtigen weißen (!) Gewändern herumstolzieren. Zudem hätten sie im Jahre 1530 sowohl den Mainzer Erzbischof wie den Erfurter Rat über die wahren Verhältnisse im Stift getäuscht und würden diese seit Jahren an der Nase herumführen, „solche affenspiell(!) habenn die liebenn geistlichen vetter getriebenn vnd noch darnoch glaubt man solchen lüegenn“.133

128 LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 4r–7r. 129 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 8: Acten der Erfurter Universität, Theil 2: 2b-2o: Allgemeine und Facultätsstatuten von 1390–1636, 3b. Allgemeine Studentenmatrikel, 2. Hälfte (1492–1636), bearb. von Hermann WEISSENBORN, Halle 1884, S. 256. 130 MEIßNER, Zur älteren Geschichte der Erfurter Reglerkirche (wie Anm. 17), S. 63; KAISER, Die Reglerkirche zu Erfurt (wie Anm. 17), S. 7. 131 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 132010, S. 460, Nr. 40. 132 LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 4r: „Nun aber seint solche genante guetter gestifftet gegebenn zu gottes wordt wye gesagt, vnnd auff die empter vnnd nicht auff die perschon gestifft, es heist beneficium propter officium vnnd nicht beneficium propter orium, das ist lon vnnd solt vmbs ampts willen vnd nicht lon adder solt vmbs mussegangs willenn.“ 133 LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 7r.

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Die Rechnungen des Erfurter Reglerstifts weisen dessen Konvent tatsächlich noch bis 1530 als funktional aus. Doch bereits seit den Bauernunruhen 1525 besaß der Stadtrat die Kontrolle über die Stiftskirche, weshalb er dort einen evangelischen Prediger bzw. Pfarrer installieren konnte.134 Der Konvent scheint sich dann in den 1530er Jahren sukzessive aufgelöst zu haben; Johannes Kilian mag nicht der einzige Unzufriedene gewesen sein. Nach dem Tod des letzten Kanonikers 1540 bemächtigte sich der Rat der Stiftsgebäude und wies Ansprüche des Mainzer Erzbischofs kurzerhand ab. Man ließ die Kleinodien und Güter des Stiftes unter der Begründung, dass dieses auf dem Gebiet der Stadt liege und die Stiftgüter „bona publica“ wären, inventarisieren. Gleichzeitig versuchte der Mainzer Metropolitan den Stiftsbetrieb aufrechtzuerhalten, wofür besonders die Einsetzung eines Propstes als Vorsteher funktional war. Wir werden noch bei der Betrachtung des Vorgehens der sächsischen Kurfürsten sehen, dass sich gerade durch die Anwesenheit eines legitim gewählten und eingesetzten geistlichen Vorstehers das Schicksal eines Konvents entscheiden konnte. Jedenfalls erreichte der Mainzer Erzbischof 1549 die Provision eines Vorstehers für das Stift, den der Erfurter Rat akzeptieren musste, bis dann 1564 ein städtischer Verwalter eingesetzt und auch die Stiftsgebäude abgewickelt wurden.135 Landesherrliches wie städtisches Kirchenregiment, nicht die Einbettung in administrativ-korporative Strukturen etwa der Provinzialkapitel, erweisen sich somit als ausschlaggebend für das Fortbestehen der durch die Reformation bedrohten Augustiner-Chorherrenstifte. Dies umso mehr bei jenen, die mit den Auswirkungen des thüringischen Bauernkriegs 1524/25 in Berührung kamen.136 Dabei mussten die Stifte nicht einmal Kampfhandlungen und Plünderungen ausgesetzt sein. So bewegte die Angst vor einem heranrückenden Bauernhaufen den Propst und einen Teil des Konvents von Ettersburg zur Flucht, obwohl die Besitzungen des Stifts nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren.137 Am 22. August 1525 wandten sich die übriggebliebenen Brüder an Kurfürst Johann 134 Vgl. Dieter STIEVERMANN, Erfurt im Bauernkrieg von 1525, in: Günter VOGLER (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (Historische Mitteilungen, Beiheft 69), Stuttgart 2008, S. 135–156; DERS., Heilsverlangen und Freiheitsstreben. Bürgerschaft und Klerus in Erfurt zwischen 1450 und 1530, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 109), S. 71–98. 135 LASA Wernigerode, A 37b I, II XVIII, Nr. 3b, fol. 12r–14r. 136 Zum Bauernkrieg vgl. Peter BLICKLE, Art. Bauernkrieg, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Teilbd. 1, Berlin 22008, Sp. 471–475; DERS., Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488–1531, München 2015; DERS. (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg von 1525 (Wege der Forschung, 460), Darmstadt 1985; VOGLER (Hg.), Bauernkrieg (wie Anm. 134). 137 Vgl. Thuringia sacra, Bd. 2: Ettersburg, Heusdorf und Heyda (wie Anm 16), S. 26 f.; LESSER, Zwischen Kanonikerreform und Bauernkrieg (wie Anm. 16), S. 32 f.

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von Sachsen mit der Bitte, er möge die Wahl eines neuen Propstes gestatten, die aber abschlägig beschieden wurde.138 Das stellt gewissermaßen das letzte „Lebenszeichen“ des Ettersburger Konvents dar. Noch im gleichen Jahr wurde die Einrichtung von zwei kurfürstlichen Kommissaren visitiert und die Güter und Kleinodien inventarisiert; ab 1536 diese dann von einem kurfürstlichen Administrator verwaltet.139 Das Ettersburger Stift verschwand also relativ geräuschlos von der historischen Bildfläche. Hilfe oder Unterstützung, etwa durch das Neuwerker Provinzkapitel, sind nicht auszumachen, sondern vielmehr die Tatkraft des landesherrlichen Kirchenregiments, das die wettinische Hegemonialgewalt gegenüber den Grafen von Gleichen, den eigentlichen Schutzherren des Stiftes, durchsetzte. Auch in Naumburg, das ebenfalls nicht von Kriegshandlungen betroffen war, ging die Angst vor den marodierenden Bauern um, wie etwa der um 1600 schreibende Naumburger Bürgermeister Sixtus Braun in seiner Chronik der Stadt Naumburg berichtet.140 So waren auf ein Gerücht hin am 2. und 3. Mai 1525 bewaffnete Bürger in das Augustiner-Chorherrenstift St. Moritz vor den Toren der Stadt eingerückt, um dieses im Ernstfall verteidigen zu können. Man 138 Thuringia sacra, Bd. 2: Ettersburg, Heusdorf und Heyda (wie Anm 16), S. 113, Nr. 86: „Durchlauchtigster, hochgeborner Furst und Herre. Euwern kurfurstlichen Gnadenn sintt unsser innige Gebett jegin Gott unnd gehorssame schuldige Dinst alletzeit zcuvorenn bereitt. Gnedigster Herre, Ewern Churf. G(naden) ist sonder Zweyvel in hohem churfurstl. Gedenkenn, wie unser Probist in erhabner Emporung uns abereissig wurdenn unnd im Unrath unnd Unversorgung gelassen unnd nach tegelicher Abnemunge unser Narung unnd Gutter entspreust. ist derhalben an Euw. Churf. G(naden) unsser underthenig demuttigk Bitten, das wir ein Probist unter uns wie von alter herbracht mogen irwelenn und setzen, uff daz wir vorsorgitt u. des Closters Gutter mochten irhalten werdenn. Dinstag nach Assumpt Marie 1525. Der ganze Convent des Klosters zu Eyttersburgk.“ 139 Zur Sequestration der Stiftsgüter vgl. auch Rosalinde GOTHE, Die Ettersburger Urkunde von 1549, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 11 (1984), S. 154–173. 140 Sixtus BRAUN, Annales Numburgenses, bearb. von Felix KÖSTER, hg. von Siegfried WAGNER und Karl-Heinz WÜNSCH (Quellen und Schriften zur Naumburger Stadtgeschichte, 3), Naumburg 2009, S. 167: „[…] da die Bürger und Einwohner das scheußliche und wüste Empören hin und wieder im Lande gehöret, auch dass es ihnen hart an der Seiten wäre, vernommen, und ihnen täglichen neue Zeitungen und Geschichten zukommen, wie man die Clöster und Geistlichen vornehmlichen allhier im Lande, desgleichen im Lande zu Franken, sowohl die Edelleute geplündert, die Häuser und Wohnungen zerstöret und verbrennet, die Fischwässer und Hölze verwüstet, und was man also ihnen abraubete und nahm, unter sich ausgeteilet wurde.“ Braun hatte die Überlieferung seines eigenen Archivs durchgearbeitet, um sich ein umfangreiches Arbeitshandbuch zu schaffen, welches ihm u. a. in den zu seiner Zeit eskalierenden Auseinandersetzungen mit dem Naumburger Domkapitel als Nachschlagewerk und Kompendium dienen sollte.

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befürchtete, dass das nahe bei der Stadt gelegene Stift als militärischer Stützpunkt genutzt werden konnte.141 Abgesehen von den vorbeiziehenden Truppen Herzog Georgs von Sachsen hatten die Naumburger aber keinen Kontakt mit den Kriegshandlungen, so dass sich die gelangweilten Bürger und Knechte die Zeit damit vertrieben, die Hühner des Stiftes abzuschießen.142 Zu diesem Zeitpunkt dürfte der Konvent des finanziell schwer angeschlagenen Stiftes, wie in Ettersburg auch, bereits am Ende gewesen sein, zuvor schon hatte man die Kleinodien des Stiftes beim Stadtrat in Sicherheit gebracht. Das Moritzstift befand sich, wie bereits erwähnt, seit der Hälfte des 13. Jahrhunderts in einem strukturell bedingten Schuldenkreislauf, aus dem es sich bis zu seiner Auflösung im Zuge der Reformation nicht mehr befreien konnte. Zum Zeitpunkt der Sequestration bedrückte es eine Schuldenlast von rund 3.740 rheinischen Gulden. Währenddessen beliefen sich die jährlichen Zinseinnahmen Anfang des 16. Jahrhundert auf nur knapp über 50 Gulden.143 Damit konnte gerade einmal ein Viertel der jährlich für laufende Kredite fälligen Zinszahlungen, die sich im Jahre 1533 auf 187 Gulden beliefen, ausgeglichen werden.144 Nur noch durch das Aufbringen großer privater Geldmittel aus der Tasche Propst Neithards von Langenberg konnte der Konvent über Wasser gehalten werden. Doch erst 1533 griff Kurfürst Johann Friedrich direkt ein, und zwar mit einer Strategie, die auch in vielen anderen Stiften und Klöstern des Kurfürstentums angewandt wurde. Man wartete den natürlichen Tod des Vorstehers der jeweiligen Institution ab und verhinderte dann durch schnelles Eingreifen die Neuwahl. Ohne einen selbst gewählten Vorstand war ein Konvent mehr oder weniger handlungsunfähig, die rechtliche Souveränität der Institution war nicht mehr gewährleistet. Anstelle von Abt oder Propst wurden dann landesherrliche Amtleute eingesetzt, die die jeweiligen Institutionen abwickeln konnten. Im Fall des Naumburger Moritzstiftes hatte Kurfürst Johann Friedrich bei einem Besuch in Naumburg über Ostern des Jahres 1533 vom schlechten Gesundheitszustand des Propstes Melchior Mantzsch erfahren. Ganz im Sinne des landesherrlichen Kirchenregiments als Schutzherr aller Kirchen und Gläubigen in seinem Territorium handelnd, riet der Kurfürst vorsorglich, man solle doch

141 Ebd., S. 169; Karl SCHÖPPE, Zur Geschichte Naumburgs während des Thüringer Bauernkriegs 1525. Nach dem Rats-Kopialbuche, in: Neue Mitteilungen aus dem Gebiete historisch-antiquarischer Forschungen 19 (1898), S. 325–347, hier bes. S. 336 f. 142 BRAUN, Annales Numburgenses (wie Anm. 140), S. 169. 143 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1003, fol. 5r–v. 144 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 994, fol. 21r–22v. An Bargeld fanden die kursächsischen Amtleute 1533 nur noch 21 „Thaler groschen“ und 780 Pfennige in zwei Säcken.

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zum Nutzen des Stiftes schon einmal die Kleinodien inventarisieren lassen.145 Einige Wochen später, zu Pfingsten, war der Propst dann auch tatsächlich verstorben. Bereits am Dienstag nach Pfingsten, also nur wenige Tage später, war schon der kursächsische Amtmann Georg von Denstedt vor Ort.146 Jedoch hatte der Konvent inzwischen Christoph Drechsler zum neuen Propst gewählt, was der Kurfürst zähneknirschend akzeptieren musste, auch wenn er wissen ließ, dass er von der Schnelligkeit der Wahl überrascht und verärgert darüber sei, dass diese ohne Absprache mit ihm stattgefunden hätte.147 Der Kurfürst wollte es dabei bewenden lassen, jedoch musste sich der neue Propst ihm gegenüber dazu verpflichten, die Haushaltung und Verwaltung des Klosters zu verbessern und Rechenschaft abzulegen, wenn der Kurfürst oder seine Amtleute es einfordern würden. Geschehe dies nicht, so könne der kurfürstliche Statthalter jederzeit wieder in das Kloster einziehen und dort das Regiment übernehmen. Auf den Protest der bischöflichen Räte, die auf das Recht des Bischofs zur Wahlbestätigung pochten, reagierte der Kurfürst kurzerhand mit der Festnahme des bischöflichen Generalvikars Basilius Wilde.148 Hier zeigte sich die ganze herrschaftspolitische Tatkraft des landesherrlichen Kirchenregiments. Zwar existierte St. Moritz noch gute zehn Jahre weiter – Propst Drechsler war zum Beispiel 1542 an der Wahl Nikolaus’ von Amsdorf zum evangelischen Bischof von Naumburg beteiligt –, doch 1544 verkaufte Kurfürst Johann Friedrich das Stift samt allem Zubehör für die im Vergleich doch recht bescheidene Summe von 4.000 Gulden an den Naumburger Stadtrat.149 Auch 145 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 994, fol. 15r–19r. Ein zweites, weitaus kürzeres Inventar vom 9. Juli 1533 findet sich unter der Signatur LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 995. Eine Edition desselben bei Matthias LUDWIG, Das AugustinerChorherrenstift St. Mauritius in Naumburg – Kritische Überlegungen zur Gründungsgeschichte, in: MÜTZE (Hg.), Regular- und Säkularkanonikerstifte in Mitteldeutschland (wie Anm. 18), S. 31–55, hier S. 53–55. 146 Eine solche kurze Reaktionszeit weist auf ein gut funktionierendes Kommunikationsund Nachrichtennetz bzw. eine gewisse Planung im Voraus hin, vgl. Rainer Christoph SCHWINGES/Klaus WRIEDT (Hg.), Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen, 60), Stuttgart 2003; Klara HÜBNER, Im Dienste ihrer Stadt. Boten- und Nachrichtenorganisationen in den schweizerischoberdeutschen Städten des späten Mittelalters (Mittelalter-Forschungen, 30), Ostfildern 2010. 147 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 994, fol. 1r–14r u. 27r–38r. 148 BRAUN, Annales Numburgenses (wie Anm. 140), S. 191. 149 Vgl. Friedrich HOPPE (Hg.), Die Urkunden des städtischen Archivs zu Naumburg a. S., Naumburg 1912, S. 51, Nr. 269; BRAUN, Annales Numburgenses (wie Anm. 140), S. 265 u. 273. In einem Schreiben vom 13. April 1543 meldete der Stadtrat von Naumburg bei Kurfürst Johann Friedrich sein Interesse an den Gütern von St. Georg und St. Moritz an, da man vernommen hätte, „das der Landschafft vorhaben seyn sol,

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hier gibt es keinen Hinweis darauf, dass das Goslarer Provinzialkapitel in irgendeiner Art und Weise unterstützend aktiv geworden wäre. Tatsächlich von den Bauernunruhen betroffen war das Stift Kaltenborn, dessen Besitzungen geplündert und verwüstet sowie Stiftsgebäude in Brand gesteckt wurden.150 Da das Stift im Herrschaftsbereich Herzog Georgs von Sachsen lag, ging dieser mit voller Härte gegen die Aufständischen vor.151 Georgs diselben so wi andere in einen andern Standt zu bringen.“ Da man bereits mehr als 2.000 Gulden für die Einführung der Reformation habe aufwenden müssen und zudem durch Feuer und Brand schwer geschädigt sei, so wären die Einkommen aus den Klostergütern zur Aufbesserung des Gemeinen Kastens sehr willkommen, vgl. WA Br, Bd. 10, S. 291–293, Nr. 3866. 150 So berichten die Annalen des Thomasstiftes (ÖNB Wien, Nr. 3004, fol. 53v): „Haben auch [die Bauern] den edelleuten genummen yn irer behawsung, was sie gehat, aller halben vorhert und vorprast, was do gewest, und darnach angestackt und vorbrant, eyns teyls gancz und gar, als Kaldenborn, Roden, Siczenbach etc., neun closter umb den Harcz, auch zu Eyßleben die nunnen ausgetriben und das closter angestackt. Und alßo als man sagt am Harcze uber lx ader lxx closter zustoret, zubrochen, alles außgetriben und alles genummen, was do gewest.“ Ebd., fol. 81r: „In die Ambrosii [4. April 1522] hot er [der Bauernhaufen] das closter Kaldenborn an zcweyen enden angelegt, trefflichen schaden am gebeude, alles fyhe, kwe, pferde, schaff auch leut vorbrant.“ Siebenrot, Probst und Archidiakon zu Kaltenborn, und Michael Wirt, Propst zu Roda, melden am 4. Mai 1525 an Herzog Georg (ABKG, Bd. 2, S. 163 f., Nr. 911): „Wir armen ausgetriebenen tun E.F.G. clagend wyssen, dass wir von unsern eygen belenten zinsleuten der dorfschaften Reichstedt, Embßlo nechtsvorgangen sontags misericordia domini [30. April] auf den abent und nachfolgenden dinstag [2. Mai] ym mittag durch dy dorfschaften Blankenheym zu Rode... uberfallen. Und habe[n]s alles, was ym vorrate vorhanden gewest, mit gewalt hynweggenommen und, was sy nit haben konnen hynwegbringen, treyben und tragen, haben sie yn eynem haufen zustummelt, vorderbt und gar zunichtegemacht. Und habens dovor, das sie an beyden clostern uber 8000 gulden wert schaden getan. Und haben alzo aus großer not zu erettung unsers leibs und lebens trunnig und fluchtig werden mussen und liegen elend in der stadt Hall vorborgen. Derhalben rufen wir an E.F.G. dieselbigen umb gottes und elendes willen bitten, E.F.G. wolt gnediglich eynsehung haben […] Auch, G.H., hat myr E.F.G. abgesagter feynd montags nach judica [3. April] zwo scheunen, 14 stelle und darinne 42 melkekuhe, 31 kelber, 12 gute schweyn mitsamt vielem futter und anderm vorrate vorbrant […].“ Vgl. auch Manfred STRAUBE, Reformation, Bauernkrieg und „Klosterstürme“, in: VOGLER (Hg.), Bauernkrieg (wie Anm. 134), S. 381–395. 151 UB Kaltenborn, S. 798, Nr. 250 (13. 6. 1525): „[…] sunt menniglich, so bemelds Probsts vnd Closter Vieh, Getreyde adder ander Güter zu sich genohmen, hyrmit wyssen, wiewol etzliche vnder euch vnbedacht yrer gethanen Eyds Pflicht, an alle erbare vnd billige vrsachen, alleine aus bosen verkerten Gemüthe, bemelten Probst vnd sein Closter, als euren von Goth verordenten rechten Erbherrn, aus eigenem Dorst, freuel vnd Muthwillen, gewaldigklichen vberzogen, Sye Tyrannisch vnd vncristlich veriaget, auch alles, was sie in sulchem Closter ahn Zcierde, Cleynadt, Barschafft,

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Kirchenpolitik zielte freilich auf den Erhalt und die Wiederherstellung der Klöster und Stifte in seinem Territorium, eben weil sie in seinen Augen durch ihre Aufgabe als Produzenten kollektiven Seelenheils funktional signifikant für eine christliche, gottgefällige Landesherrschaft waren. Zu diesem Zweck griff der Herzog direkt in das Stift ein,152 bediente sich aber gleichzeitig auch der Organisationsstrukturen des Goslarer Provinzialkapitels. Er hatte im Jahr 1526 Propst Ulrich Pfister von St. Thomas zu Leipzig nach Kaltenborn geschickt, um das Stift visitieren zu lassen. Dieser fand nur noch wenige Brüder vor,153 die Gebäude waren nicht erst seit den Bauernunruhen baufällig, der Waldbesitz des Stiftes aus Gründen des Bauunterhalts völlig überforstet, die Kleinodien hatte man dem Rat von Sangerhausen auf Befehl Herzog Georgs anvertraut154 oder gar verkauft.155 Mithilfe des Herzogs versuchte man nun die größte Not zu lindern und die Besitzungen des Stifts einigermaßen zu restituieren.156

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Frucht vnd andern bestunden, genomen vnd hinweg gefurt, die Gemach vnd Gepeude zuestoret, verwustet, vnd also ganz vnmenschlichen widder Gott, Ehr, Recht, Billichkeit vnd Liebe des nehesten gehandelt habet, deshalb Ir nicht alleime In Gots Zorn, Sondern auch nach Ordenung der Rechtsstiffter hie Zeitlichen in Straffe der Obrigkeit mit Lieb vnd guth gefallen seit […].“ Im April 1525 meldete Melchior von Kutzleben, Amtmann zu Sangerhausen, dass sich der Propst von Kaltenborn auffällig verhalten habe; man verdächtigte ihn, Kirchengut zu veruntreuen (ABKG, Bd. 2, S. 146 f., Nr. 888): „[…] Auch so hab ich etliche kleinod und geschmeide aus den clostern Roda und Rorbich ins amt gefhurt, dieselbigen inventiren lassen, darmit sye nicht abhandig gemacht. Wiewol ichs bey den von Sittichenbach und Caldenborn auch gesucht, haben sie doch des eynen hintergang genommen, vielleicht in maynunge, sich selbst daraus zu teylen. Denn es hat der probst zu Caldenborn dye nehestvorgangene nach des closters beste kleinot und geschmeyde, zwene wagen voll, und wie ich berichtet, aus E.F.G. amt und furstentumb gefurt, was meynung, haben E.F.G. und meniglich zu bedenken. Darauf ich das closter eingenomen und eynen fursteher daringesetzt, an den ich das gesinde geweiset mit gegebnem befhelich, allenthalebn eyn gut fleißig aufsehen zu haben, die drey prister, so noch darinnen synd, mit zimlicher narunge zu vorsehen und darob zu seyn, das von dem closter nichts weyters abhandig gemacht ader schade zugewandt werde.“ Der größte Teil des Konvents war, wie auch in Ettersburg, geflohen, vgl. ebd., S. 175 f., Nr. 925. Vgl. ebd., S. 244 f., Nr. 1001. Ebd., S. 627–630, Nr. 1327. Am 24. Mai 1526 hatte Pfister als Präsident des Goslarer Provinzkapitels zugestimmt „8 mark silbers zu vorkaufen. Es hat aber unser alder herrer probst, her Johan Sibenthrodt, dasselbigs jar schere das ganze silberwerg vorkauft und vorsatzt hinder unserm wissen und willen, wie folget: 1 silbern monstranz ubergult, hatte 8 mark; 1 reuchfas hat 3 mark und 3 lot; 1 weirauchfas hat 16 lot; 1 par silbern ampullen haben 13 lot; 1 silbern pacem hat 1 mark; 1 silbern pacem hatte 8 lot; 1 silbern cruzgen ubergult hat 8 lot; 2 silbern cruzgen haben 7 lot; 7 kelche haben zusammen 16 mark; 1 silbern roere hat 4 lot. Als man sulchs innen ist worden, haben wir in im andern ja darnach anno 27 montag nach invocavit [11. März 1527] vor dem

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Im Oktober 1528 waren die Pröpste Ulrich Pfister von Leipzig und Johannes von Kanitz vom Lauterberg erneut zu einer Visitation in Kaltenborn eingetroffen. Der kleine, aber dennoch funktionstüchtige Konvent hatte recht erfolgreich die Schuldenlast des Stiftes reduziert, Missstände stellten die Visitatoren nicht fest, im Gegenteil bemühten sich die Brüder um ein geregeltes und gottgefälliges Leben.157 Doch in dieser verminderten Form ließ sich der Stiftsbetrieb auf Dauer nicht aufrechterhalten. Im Jahre 1533 mahnte Herzog Georg starke Schwankungen im Haushalt von Kaltenborn an, was ihn misstrauisch machte. Amtmann Melchior von Kutzleben meldete, dass nur noch drei Brüder im Stift lebten. Die Frage des Herzogs, ob sich einer von diesen als künftiger Propst eignen würde, verneinten sowohl der Amtmann wie der herangezogene Propst des Leipziger Thomasstiftes.158 Laut einem Revers vom 1. Februar 1537 musste schließlich der letzte Propst von Kaltenborn, Johann Heseler, das Archiv und die Kleinodien des Stiftes in zwei Kästen auf dem Leipziger Schloss einlagern.159 Er wurde dazu verpflichtet, die Einnahmen aus seinen Gütern dafür zu gebrauchen, die Schulden des Stiftes abzutragen. Im November 1538 wurde das Stift endgültig aufgehoben, da dessen Besatzung für den Betrieb nicht mehr ausreichte. Der amtierende Propst und der Senior wurden in der Pfarrei Beyernaumburg untergebracht und erhielten eine jährliche Pension von 30 bzw. zehn Gulden samt einiger Getreidezinse, der Prior 15 Gulden und 13 Groschen jährlich; das Stift wurde einem weltlichen Verwalter unterstellt.160

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praesidenten Udalrico Pfinster etc. aufm Peterßberge verclagt, und ist ein jar entsatzt und hats vor den visitatoribus berechent, wu es hinkommen ist.“ Zu den Kleinodien des Stiftes vgl. auch UB Kaltenborn, S. 805 f., Nr. 264. Vgl. ABKG, Bd. 3, S. 244, Nr. 1784; UB Kaltenborn, S. 801, Nr. 254; S. 802–805, Nr. 256–262; S. 807, Nr. 267–268; S. 818–820, Nr. 293 u. S. 821, Nr. 296. Ebd., S. 169 f., Nr. 1657. Ebd., S. 536 f., Nr. 2186. 1535 meldeten Georg von Breitenbach und Melchior von Ossa, dass nur noch vier Personen im Stift leben würden. Dieses sei „vorbrant vnd beraubt“, zudem würde es eine Schuldenlast von mehr als 650 Gulden bedrücken, vgl. ABKG, Bd. 4, S. 107, Nr. 2725. Ebd., S. 397 f., Nr. 3153: „[…] ein silbern Creutz mit edeln steynen besatzt, ein Silberne Monstrantz, ein vbergulter Kelch mit einer Cristall, zcwey Euangelien pucher, mit sylber beschlahen, sampt einem epistolar dorin, reliquien auch mit sylber beschlagen […].“ Ebd., S. 631, Nr. 3456; UB Kaltenborn, S. 823: „Tantum cum a. 1538. tres tantum Clerici superessent in conventu, Georgius Dux Sax. Praeposito Johanni Hesseler stipendium XXX. florenorum de censibus in Beyernaumburg, et Priori Johanni Lachs sive Esovis XV. florenum et XIII. grossorum, quotannis solvere jussit et administrationem Monasterii Provisori laico tradidit.“

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4. Zusammenfassung Die thüringischen Augustiner-Chorherrenstifte mussten sich im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert zwei grundsätzlichen Herausforderungen stellen, die zwar ganz unterschiedliche Ziele verfolgten, aber jeweils auf die organisatorische Verfasstheit der Stifte zielten. In beiden Fällen ging es um den grundlegenden Zweck der monastischen Institutionen, nämlich die diesen hochspezialisierten Einrichtungen eigene Aufgabe der kontinuierlichen Produktion individuellen und kollektiven Heils; für die Chorherren, Stifter und Wohltäter wie für die Territorien, ihre Landesherren und die christliche Glaubensgemeinschaft insgesamt. Die Frage nach dem Wie und dem Warum der Heilsproduktion besaß besondere gesellschaftliche Relevanz, gerade auch da die Landesherren Frieden und Wohlstand in ihren Gebieten mit göttlichem Segen, für den zwar nicht nur, aber eben auch die Stifte und Klöster verantwortlich zeichneten, verbanden. Die Mitte des 15. Jahrhunderts durch Johannes Busch vorangetriebenen Reformen im Sinne der Windesheimer Observanz, die letztlich (neben den Stiften Neuwerk und St. Moritz in Halle161) nur in Ettersburg und Erfurt durchgesetzt werden konnten, stellten den Sinn der Heilsproduktion nicht infrage. Dem Reformer ging es vorrangig darum, die Art und Weise, wie der Zweck der monastischen Institutionen bewerkstelligt werden sollte, nach Vorbild einer vermeintlich älteren und damit „besseren“ Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, zu verändern. Das Aufbrechen verfestigter Strukturen durch eine teilweise Entmachtung des Propstes, das Einführen „flacher“ Hierarchien und die Einbindung einer größeren Anzahl an Brüdern in die Verantwortlichkeit gegenüber ihrem Stift mittels einer intensivierten Ausdifferenzierung der Ämterstrukturen, machten den verfassungsmäßigen, institutionellen Kern seiner Reformvorhaben aus. Zugleich, und damit verbunden, wurde die Erneuerung einer verstärkten vita communis bzw. vita apostolica, strengere „Klosterzucht“, aber auch die vertiefte Hinwendung zur Tradition, zur „Geschichtlichkeit“ der eigenen Institution propagiert. Dies alles sollte dazu dienen, die Stabilität des durch die Kanoniker gebildeten sozialen Systems im regulierten Stiftsleben zu erhöhen und damit die kontinuierliche Heilsproduktion zu gewährleisten. Buschs Reformpläne in Mitteldeutschland scheiterten nicht etwa aufgrund einer latenten „Verstocktheit“ oder Reformunwilligkeit der sächsisch-thüringischen Augustiner-Chorherren, sondern an der korporativen Einbettung der einzelnen Institutionen in einen übergeordneten Organisationsverband, das sog. 161 Vgl. zu diesen auch Michael SCHOLZ, „… lyffen die monche mit weynenden äugen auß dem khor“. Das Ende der Augustiner-Chorherrenstifte St. Moritz und Neuwerk in Halle und Kardinal Albrecht von Brandenburg, in: MÜLLER (Hg.), Reform – Sequestration – Säkularisation (wie Anm. 26), S. 79–108.

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Goslarer Provinzialkapitel. Das erst in Reaktion auf die Reformbestrebungen wiederbelebte, einmal im Jahr am Tag der Kreuzerhöhung zusammentretende Kapitel erwies sich als einigendes Element der genuin so unterschiedlichen Stifte. Die gegenseitig durchgeführten Visitationen und Reformen innerhalb des Provinzialkapitels stellten Versuche dar, gemeinsam geteilte Werte, Normen und Strukturen zu etablieren, um so den Zusammenhalt unter den Stiften zu stärken. Eine gewisse einheitliche „Organisationskultur“ führte zu einem geschlossenen Auftreten nach außen hin und ermöglichte es, auch wirtschaftlich schwache und angeschlagene Stifte wie Naumburg oder Kaltenborn aufzufangen. Nicht ohne Grund glückte Busch nur in den Stiften Ettersburg und Erfurt, die nicht in solche überregionalen, korporativen Strukturen eingebunden waren, seine Reform. Als entscheidend erweist sich zudem der Faktor der landesherrlichen bzw. städtischen Kirchenpolitik. Busch handelte in Ettersburg und Erfurt mit der ausdrücklichen Unterstützung der Grafen von Gleichen bzw. des Erfurter Stadtrats. Zwar besaß er auch die Rückendeckung Herzog Wilhelms III. von Sachsen, doch konnte sich das Goslarer Provinzialkapitel auf Kurfürst Friedrich II. stützen, ohne dessen Zutun es sicherlich nicht effektiv hätte handeln können. Zur Zeit der Reformation wandelte sich jedoch das Verhältnis der Stifte zu ihren Landesherren. Nunmehr wurde die fundamentale Aufgabe der monastischen Einrichtungen, die institutionalisierte Heilsproduktion, grundsätzlich infrage gestellt. Die Kritik an der Werkgerechtigkeit entzog diesen ihre sinnstiftende Aufgabe. Zugleich ließen die lutherischen Lehren das korporative Band des Gelübdes, das die Klöster und Stifte als Organisationen im Inneren zusammenhielt, erodieren. Sie destabilisierten die legitimierende Grundlage des gemeinschaftlichen, religiösen Zusammenlebens, so dass sich nun auch Friktionen, die es sicherlich immer innerhalb der Konvente gegeben haben wird, für die Organisationskultur der betroffenen Einrichtungen destruktiv entluden. Die Auswirkungen der Bauernunruhen taten ihr Übriges, um den thüringischen Augustiner-Chorherrenstiften ihr endgültiges Ende zu bereiten. Möglicherweise hätte der korporative Verbund des Goslarer Provinzialkapitels diese existenzielle Krise der Augustiner-Chorherrenstifte abfedern können; von aufhalten kann keine Rede sein. Dies wäre aber nur in enger Zusammenarbeit mit den Landesherren gelungen. Doch die Zeiten hatten sich bekanntlich geändert, besonders im Hinblick auf den Umgang mit der Lehre Luthers in den albertinischen und ernestinischen Gebieten. Die Konvente waren auf sich allein gestellt und das gilt nicht nur für jene Einrichtungen, denen ohnehin die Unterstützung des Provinzialkapitels fehlte. Gerade die Stifte im Kurfürstentum wie Altenburg oder auch Naumburg erhielten keine Hilfe mehr durch die Mitglieder des Goslarer Kapitels, nicht nur, da diese mit sich selbst beschäftigt waren, sondern auch, da ihnen die für einen Zugriff nötige legitimierende Grundlage der landesherrlichen Unterstützung fehlte. Nur im Falle Kaltenborns funktio-

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nierten die Mechanismen noch, wurden nun aber durch Herzog Georg den Bärtigen im Sinne seiner eigenen Kirchenpolitik dazu genutzt, den schwer geschädigten Konvent abzuwickeln, nachdem sich die Aufrechterhaltung als zu aufwendig erwiesen hatte. Bekanntlich wurden nach dem Tode Georgs 1539 auch die Augustiner-Chorherrenstifte im albertinischen Herzogtum rasch sequestriert. Doch bereits zuvor war ihr korporativer Zusammenhalt von innen durch das reformatorische Gedankengut und von außen durch das landesherrliche Kirchenregiment aufgelöst worden. Erst die Verbindungen dieser beiden Faktoren bewirkte das endgültige Ende der thüringischen Augustiner-Chorherren, wie etwa Gegenbeispiele aus Bayern oder Österreich zeigen, welche die Zeit der Reformation, trotz starker Tendenzen der Konvente zum neuen Glauben, aufgrund intensiver landesherrlicher Eingriffe überdauerten.162

162 BRENDLE, Augustiner-Chorherren (wie Anm. 2), S. 51–57.

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Reichsstadt und Reformation aus franziskanischer Perspektive: Die Beispiele Nordhausen und Mühlhausen Wenn im Folgenden einige wesentliche Aspekte der Geschichte der Franziskaner in den thüringischen Reichsstädten Nordhausen und Mühlhausen in vorund frühreformatorischer Zeit zur Darstellung kommen, dann bringt das nicht allein aus ordensgeschichtlicher Perspektive einen Erkenntnisgewinn, sondern ist darüber hinaus auch in stadt- sowie reformationsgeschichtlicher Hinsicht aufschlussreich. Denn es werden mithin die nach Erfurt bedeutendsten Niederlassungen des ordo fratrum minorum in den – wiederum nach Erfurt – wichtigsten urbanen Zentren des thüringischen Raumes in den Blick genommen.1 Dass hier die Größe der Bedeutung von Stadt und Bettelordenskonvent korreliert, ist weder zufällig noch überraschend, handelt es sich doch um ein vielfach untersuchtes, äußerst komplexes Beziehungsgeflecht, das kirchlich-religiös wie gesellschaftlich-politisch und wirtschaftlich-sozial definiert ist.2 Das hier schlagwortartig umrissene Verhältnis von Stadt und Mendikanten im Allgemeinen gilt es in Bezug auf die Nordhäuser und Mühlhäuser Franziskaner im Besonderen zu konkretisieren.3 Dabei drängt sich ein komparatistischer Zugang geradezu 1

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Vgl. den instruktiven Beitrag von Petra WEIGEL, Klosterlandschaft – Frauenklosterlandschaft: Das Beispiel Thüringen, in: Franz J. FELTEN/Harald MÜLLER/Heidrun OCHS (Hg.), Landschaft(en). Begriffe – Formen – Implikationen (Geschichtliche Landeskunde, 68), Stuttgart 2012, S. 279–350; speziell zu den Franziskanern vgl. Thomas T. MÜLLER/ Bernd SCHMIES/Christian LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen. Text-und Katalogband zur Ausstellung in den Mühlhäuser Museen vom 29. März bis 31. Oktober 2008 (Mühlhäuser Museen. Forschungen und Studien, 1), Paderborn 2008; Johannes SCHLAGETER, Geschichte und Bedeutung der Franziskaner in Thüringen, in: Thuringia Franciscana NF 60 (2005), S. 290–304. Aus der Fülle an Literatur vgl. stellvertretend Eberhard ISENMANN, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 635–641; Monika ESCHER/Frank G. HIRSCHMANN, Die urbanen Zentren des hohen und späteren Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Städten und Städtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankreich, Bd. 1: Thematischer Teil (Trierer historische Forschungen, 50/1), Trier 2005, S. 297–329; Dieter BERG (Hg.), Bettelorden und Stadt. Bettelorden und städtisches Leben im Mittelalter und in der Neuzeit (Saxonia Franciscana, 1), Werl 1992. Für beide Städte liegen keine modernen Konventsgeschichten vor. Die ältere Literatur, in der Regel als Zeitschriftenbeiträge zu einzelnen Aspekten erschienen, ist genannt bei

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auf, und zwar in zweifacher Absicht, da nicht nur die zwei Reichsstädte in engen Beziehungen zueinander standen, sondern auch die dortigen Minderbrüderkonvente intensive Kontakte unterhielten und einen vielfältigen Austausch pflegten. In gewisser Weise spiegelt das Verhältnis der beiden Ordenskommunitäten dasjenige der Nachbarstädte im Konkreten. Mit dem Aufkommen der reformatorischen Bewegung änderte sich die Situation gravierend: Während die spätmittelalterliche Stadt mit der Einführung der Reformation prägnante Transformationen mentaler, institutioneller und materieller Art erlebte,4 erwies sich das Ordensleben als nicht kompatibel mit den reformatorisch bedingten Veränderungen: Unter der Prämisse der evangelischen Lehre von Gnade und Heil war das Leben als Mönch, Bettelbruder und Nonne ohne transzendentale Relevanz, somit auch ohne persönliche oder gemeinschaftliche irdische Zukunft.5 Für das Verhältnis von stadtsässigen Orden beziehungsweise Klöstern und Stadt resultierte daraus die Auflösung des normativen Verständnisses ihrer Beziehungen zugunsten eines nunmehr situativen Handelns und Duldens mit zeitlicher Beschränkung. So eindeutig die Zäsur durch die Reformation aus Sicht des betroffenen Religiosenwesens aus der Retrospektive auch erscheinen mag, so spezifisch verliefen im Einzelnen die Phasen bis zum Ende der Gemeinschaften. Insofern soll in einem ersten Schritt der Frage nach den spätmittelalterlichen ordensgeschichtlichen Kontexten und Entwicklungen der hier im Mittelpunkt stehenden Konvente in Nordhausen und Mühlhausen nachgegangen werden, um dann in einem zweiten Schritt deren Ende in frühreformatorischer Zeit zu erörtern.

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Bernd SCHMIES, Nordhausen, St. Maria und St. Franziskus, in: MÜLLER/SCHMIES/ LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 244–247; Christian LOEFKE, Mühlhausen, in: ebd., S. 240–243. Vgl. Volker LEPPIN, Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 86), Tübingen 2015; Joachim EMIG/DERS./Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 1), Köln/Weimar/Wien 2013. Vgl. Johannes SCHLAGETER, Die Sächsischen Franziskaner und ihre theologische Auseinandersetzung mit der frühen deutschen Reformation (Franziskanische Forschungen, 52), Münster 2012; Klaus-Bernward SPRINGER, Die Franziskaner in Thüringen zur Reformationszeit: ein Überblick, in: MÜLLER/SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 134–148; Athina LEXUTT/Volker MANTEY/Volkmar ORTMANN (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 43), Tübingen 2008; Chang Soo PARK, Luther und die Franziskaner, Hamburg 1996; Heinz-Meinolf STAMM, Luthers Stellung zum Ordensleben (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 101), Wiesbaden 1980.

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1. Die spätmittelalterlichen Konvente im Kontext von Provinz und Kustodie Die beiden hier im Interesse stehenden Kommunitäten zählten zur ersten Generation von Gründungen im Reich, deren Ursprünge noch in die Lebenszeit des Franziskus von Assisi (1181/82–1226)6 zurückreichten.7 Ein Teil der seit 1221 im Reich nördlich der Alpen agierenden und multinational zusammengesetzten Gruppe von Minderbrüdern erreichte im Herbst 1224 Erfurt. Im darauffolgenden Jahr sandte der Kustos und spätere Chronist der frühfranziskanischen Geschichte Thüringens, der umbrische Ordensbruder Jordan von Giano, Laienbrüder von Erfurt nach Eisenach und Gotha sowie im Frühsommer 1225 auch nach Nordhausen und Mühlhausen.8 Hierbei ließen sie sich von der Strategie ihres jungen Ordens leiten, vom urbanen Zentrum eines Gebietes aus auf die wichtigsten Städte des Raums – in diesem Fall des Thüringer Raums – auszugreifen und für den Orden zu besetzen, um dann durch weitere Expansion in kleinere Städte nachfolgend eine Region gewissermaßen franziskanisch zu verdichten.9 Insgesamt verlief die Etablierung des Franziskusordens in Thüringen durchaus erfolgreich, doch nicht frei von Schwierigkeiten und anfänglichen Rückschlägen: Weder in Nordhausen noch in Mühlhausen erwies sich die erste Ankunft als beständig. Wegen unzureichender örtlicher Unterstützung sowie aus Mangel an Priesterbrüdern zogen sich die Brüder wieder zurück, um dann 1230 nach Nordhausen und 1231 nach Mühlhausen erfolgreich zurückzukehren. Nach einer Anfang der 1230er Jahre einsetzenden Konsolidierungsphase – so zogen die bisher vor der Stadtmauer Erfurts ansässigen Brüder 1231/32 in 6

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Vgl. Christoph STIEGEMANN/Bernd SCHMIES/Heinz-Dieter HEIMANN (Hg.), Franziskus – Licht aus Assisi. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum und im Franziskanerkloster Paderborn, München 2011; André VAUCHEZ, François D’Assise. Entre histoire et mémoire, Paris 2009. Vgl. Johannes SCHLAGETER, Die Anfänge der Franziskaner in Thüringen, in: MÜLLER/ SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 32–37. Quellen zur franziskanischen Geschichte, Bd. 1: Chronik vom Anfang der Minderbrüder besonders in Deutschland (Chronica Fratris Jordani), bearb. und hg. von Johannes SCHLAGETER, Norderstedt 2012, hier cap. 39–47. Vgl. Bernd SCHMIES/Volker HONEMANN, Die Franziskanerprovinz Saxonia von den Anfängen bis 1517: Grundzüge und Entwicklungslinien, in: Volker HONEMANN (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz, Bd.1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Paderborn 2015, S. 21–44, hier S. 29–37; Kaspar ELM, Sacrum Commercium. Über Ankunft und Wirken der ersten Franziskaner in Deutschland, in: Paul-Joachim HEINIG/Sigrid JAHNS/Hans-Joachim SCHMIDT (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen, 67), Berlin 2000, S. 389–412.

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die Stadt – trieb der Minderbrüderorden um die Jahrhundertmitte erneut seine Bestrebungen voran, die thüringische Kloster- und Städtelandschaft noch stärker franziskanisch zu konnotieren. Während Gotha 1246/50 zugunsten von Arnstadt aufgegeben wurde,10 konnten in Meiningen11 (erstmals 1252 urkundlich belegt) und Saalfeld12 (erste urkundliche Erwähnung 1265) erfolgreich neue Niederlassungen etabliert werden. Die um 1280 erfolgte Ansiedlung im südlich des Rennsteigs gelegenen Coburg ist nicht nur die letzte Gründung des 13. Jahrhunderts,13 sondern markiert überdies auch einen vorläufigen Endpunkt im Aufbau der Kustodie Thüringen, wie sie in dem um 1340 abgefassten sog. „Provinciale vetutissimum“ des Ordens erscheint.14 Dort, wie in dem zweitältesten erhaltenen Verzeichnis, dem gegen 1390 niedergeschriebenen „Liber conformitatum“ des Bartholomäus von Pisa, fehlen die im 14. Jahrhundert neu hinzugekommenen Kommunitäten St. Elisabeth unterhalb der Wartburg bei Eisenach sowie im schwarzburgischen Mellenbach am Nordrand des Thüringer Waldes.15 Beide Niederlassungen stellen Sonderfälle dar: Die 1331 von Landgraf Friedrich dem Ernsthaften gegründete Zelle mit einer auf sechs Brüder limitierten Besetzung nahe der Wartburg diente vornehmlich der umfänglichen seelsorglichen Versorgung des wettinischen Hofes.16 Das 1383 von den Grafen Johann II. und Günther XXX. von Schwarzburg fundierte Kloster in Mellenbach nahm gleich in mehrfacher Hinsicht eine singuläre Stellung in der Sächsischen Franziskaner10 Vgl. Christian LOEFKE, Arnstadt, in: MÜLLER/SCHMIES/DERS. (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 212–214. 11 Vgl. Bernd SCHMIES, Meiningen, in: MÜLLER/DERS./LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 236 f. 12 Vgl. Petra WEIGEL, Die Gründung und spätmittelalterliche Reform des Franziskanerklosters Saalfeld, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 55 (2001), S. 77– 122. 13 Vgl. Christian LOEFKE, Zum Bau des mittelalterlichen Franziskanerklosters in Coburg, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 53 (2008), S. 299–326, der das bis dato mehrheitlich postulierte Gründungsjahr 1250 mit guten Gründen zugunsten der hier genannten späteren Datierung verwirft. Der erste urkundliche Nachweis liegt für 1307 vor, vgl. ebd., S. 301. 14 Vgl. Patricius SCHLAGER, Verzeichnis der sächsischen Franziskanerprovinzen, in: Franziskanische Studien 1 (1914), S. 230–242. Die im heutigen Bundesland Thüringen gelegenen Gründungen des 13. Jahrhunderts in Altenburg und Weida waren der Kustodie Leipzig zugeordnet. 15 Vgl. ebd., S. 235. 16 Vgl. Petra WEIGEL, Mellenbach, Maria und St. Katharina, in: MÜLLER/SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 238 f.; Matthias WERNER, Landesherr und Franziskanerorden im spätmittelalterlichen Thüringen, in: Dieter BERG (Hg.), Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur Frühen Neuzeit (Saxonia Franciscana, 10), Werl 1998, S. 331–360, hier S. 337–340.

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provinz ein: Den Anforderungen des Ordens an einen Standort sowie den pastoralen Prinzipien widersprechend, lag der Konvent stadtfern „in einem nahezu wüst gefallenen Dorf“,17 in dem die Brüder die reguläre Pfarrseelsorge versehen sollten, statt der ordensüblich praktizierten pfarrunabhängigen, paraparochialen Seelsorge.18 Damit sind unter dem Aspekt der Provinzorganisation die Konvente benannt, die seit dem 14. und bis nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zur Kustodie Thüringen zählten. Die 1453 gegründeten observanten Konvente in Langensalza und Weimar wurden – wie etwa in dem 1484 entstandenen Provinzverzeichnis auf dem Chorgestühl der Franziskanerkirche in Görlitz19 – zwar nominell der Thüringischen Kustodie zugeschrieben, blieben aber aufgrund der faktisch eigenständigen observanten Organisationsstruktur unabhängig von dieser. Folglich sind auf der anlässlich der Kapitelsversammlung der Observanten von 1472 in Celle erstellten Konventsliste neben den Neugründungen Langensalza und Weimar überdies auch die im Sinne der Observanz reformierten Häuser in Eisenach, Arnstadt und St. Elisabeth unter der Wartburg aufgeführt.20 Auf die spätmittelalterlichen Reformströmungen des Ordens in Thüringen und die damit verbundenen Kontroversen ist zurückzukommen. Die hier flüchtig skizzierte Entwicklungsgeschichte der Kustodie gewährt einen Einblick in die Eigenart des mendikantischen – hier namentlich franziskanischen – Ordensaufbaus, auf den kursorisch einzugehen ist, da nicht zuletzt in Anbetracht der Herausforderungen durch die Reformation ohne diese fundamentalen Hintergrundbedingungen Möglichkeiten und Grenzen franziskanischen Agierens unverständlich blieben.21 Der als Personenverband hierarchisch konstituierte Orden gliederte sich geographisch in Provinzen, die regional in 17 Vgl. WEIGEL, Mellenbach (wie Anm. 16), S. 238. 18 Zur Eigenart des mendikantischen – hier franziskanischen – Seelsorgemodells vgl. Isnard W. FRANK, Das mittelalterliche Dominikanerkloster als paraparochiales Kultzentrum, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 17 (1998), S. 123–142. 19 Vgl. Patricius SCHLAGER, Inschriften auf Chorstühlen in mittelalterlichen Franziskanerkirchen, in: Beiträge zur Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz vom heiligen Kreuze 1 (1908), S. 1–15, hier S. 14. 20 Vgl. Leonhard LEMMENS, Eine Kapitelstafel unserer Provinz aus dem Jahre 1472, in: Beiträge zur Geschichte der Sächsischen Franziskaner-Ordensprovinz (1907), S. 1–9, hier S. 1 f. 21 Zum Folgenden vgl. Bernd SCHMIES, Aufbau und Organisation der Sächsischen Franziskanerprovinz und ihrer Kustodie Thüringen von den Anfängen bis zur Reformation, in: MÜLLER/DERS./LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 38–49; SCHMIES/HONEMANN, Die Franziskanerprovinz Saxonia (wie Anm. 9), S. 37–43; Michael ROBSON/Jens RÖHRKASTEN (Hg.), Franciscan Organisation in the Mendicant Context. Formal and informal structures of the friars’ live and ministry in the Middle Ages (Vita regularis, 44), Berlin/Münster 2010; Heribert HOLZAPFEL, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens, Freiburg 1909, S. 171–205.

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Kustodien organisiert waren. Als oberstes Entscheidungsgremium fungierte das aus den Provinzialministern, bestimmten Kustoden und weiteren Discreti capituli generalis zusammengesetzte, periodisch tagende Generalkapitel. Dies wählte den Generalminister auf Zeit und besaß die letztinstanzliche ordensimmanente Entscheidungsbefugnis über rechtliche, disziplinarische, personelle und theologisch-spirituelle Fragen. Auf der Ebene der Provinz spiegelt sich der Aufbau des Gesamtordens: Das aus den Kustoden, den von den einzelnen Konventen gewählten Delegierten (Discreti) und ergänzt durch die Guardiane sowie Lektoren der Studienhäuser zusammengesetzte Provinzkapitel bildete das Wahl- und Entscheidungsgremium für sämtliche Belange der Provinz, die durch den Generalminister beziehungsweise einen Vertreter visitiert werden sollte. Zu den wichtigsten Aufgaben des Provinzials gehörten die Umsetzung der Generalkapitelsbeschlüsse sowie die regelmäßige Visitation der Konvente, eine Aufgabe, bei der er von den Kustoden unterstützt wurde. Zu den vornehmlichen Aufgaben der Kustodie zählten die Organisation des Noviziats und der sich diesem anschließenden Ausbildung in den Haus- und Partikularstudien, also der unteren beziehungsweise mittleren Stufe des weitestgehend autonom organisierten Bildungsund Studienwesens des Ordens. In der Konsequenz dieser Selbstorganisation legte der Ordenskandidat seine Gelübde vor dem Provinzialminister ab, trat demzufolge nicht einem bestimmten Kloster bei, sondern einem Orden, der seinen Mitgliedern keine benediktinische stabilitas loci garantierte, vielmehr die lebenslange Bereitschaft zur praktischen mobilitas im Sinne einer franziskanischen Itineranz abverlangte.22 Gerade für die jüngeren, sich noch im langjährigen Studium befindlichen Brüder, aber auch für die in Leitungspositionen amtierenden Brüder, Prediger, Lektoren und Terminierer waren permanente oder zumindest regelmäßige Konvents- beziehungsweise Ortswechsel nichts Ungewöhnliches. Die räumliche Gliederung in Provinzen und deren Binnenaufteilung in Kustodien orientierte sich nicht primär an weltlichen oder kirchlichen Grenzen und Einflussbereichen, sondern maßgeblich an den Erfordernissen einer flächendeckenden cura animarum, um die sich die Brüder intensiv bemühten.23 Eine bereits zur Zeit des Franziskus gegen seinen Willen einsetzende, tendenziell immer generösere Privilegienerteilung an den Orden durch das Papsttum sicherte den 22 Vgl. Benedikt MERTENS, „Vidi quasi vias ipsorum multitudine plenas“ (1 Cel 27). Die evangelische Wanderschaft in der Praxis und Debatte der Minderbrüder im 13. Jahrhundert, in: Wissenschaft und Weisheit 63 (2000), S. 9–60. 23 Vgl. Hans-Joachim SCHMIDT, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, 37), Weimar 1999, S. 373–432. Aus landesgeschichtlicher Warte macht Matthias WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 16), S. 335, auf die erheblichen Unterschiede der politischen Landkarte Thüringens gegenüber der ‚franziskanischen Thuringia‘ aufmerksam.

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Franziskanern spätestens seit den 1230er Jahren eine gegenüber Bischöfen, Diözesan- und Pfarrklerikern exemte Stellung, die, gepaart mit umfassenden Predigt-, Beicht- und Bestattungsrechten, eine weitreichende, freie Ausübung ihrer Seelsorgetätigkeiten gewährleistete.24 In diesem Zusammenhang müssen ausdrücklich auch die von den Päpsten und Kardinälen, in der Masse jedoch von den Bischöfen, erteilten Ablassprivilegien angeführt werden, die mittelbar ihren Beitrag zum materiellen Auskommen der Konvente leisteten, indem sie zur Steigerung der Nachfrage des seelsorglichen Angebots des Ordens beitrugen.25 An all diesen dem Gesamtorden gewährten Privilegien, Rechten und anderen Gunsterweisen partizipierten die nachrangigen Ordensebenen von den Provinzen über die Kustodien bis zu den Konventen als kleinste Entität des Ordens. Insofern ist der Konvent in seinen Handlungsweisen und -spielräumen nicht ausschließlich lokal zu verorten, vielmehr immer auch translokal zu begreifen, da er eingebunden war in einen Orden, der über die Grenzen der mittelalterlichen lateinischen Kirche hinaus aktiv und präsent war. Auf die Kommunitäten in Nordhausen und Mühlhausen heruntergebrochen bedeutet dies, dass sie als Angehörige der Ordensprovinz Saxonia Anteil an den personellen Netzwerken und Zugang zu den strukturellen Ressourcen hatten, insbesondere zu den ordensinternen Kommunikationswegen und zum Bildungssystem.26 Da die Kustodie Thüringen schon 1224/25 chronikalisch bezeugt ist, reichen ihre Ursprünge in die Zeit der 1221 gegründeten Provinz Teutonia zurück, die 1230 durch das Generalkapitel in eine Rheinische und Sächsische Provinz aufgeteilt wurde. Unter Beibehaltung ihres Namens wurde die Kustodie Thüringen der Provinz Saxonia zugeschlagen, die bis zum Ende des Jahrhunderts auf über 90 Konvente angewachsen war, welche sich auf insgesamt 12 Kustodien verteilten. Von Bremen im Westen über Kiel im Norden sowie Riga im Nordosten bis Eger im Süden reichte das Gebiet der Sächsischen Provinz, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts zur flächengrößten und konventsstärksten aller 24 Vgl. Williel R. THOMSON, Checklist of Papal Letters relating to the Three Orders of St. Francis. Innocent III. – Alexander IV., in: Archivum Franciscanum Historicum 64 (1971), S. 367–580; noch immer nicht überholt ist Burkhard MATHIS, Die Privilegien des Franziskanerordens bis zum Konzil von Vienne (1311). Im Zusammenhang mit dem Privilegienrecht der früheren Orden dargestellt, Paderborn 1928. 25 Mit Bezug auf die hier im Fokus stehenden Konvente vgl. Bernd SCHMIES, Gelobte und gelebte Armut. Mittelalterliche Minderbrüder zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Heinz-Dieter HEIMANN/Angelica HILSEBEIN/Bernd SCHMIES/Christoph STIEGEMANN (Hg.), Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn 2012, S. 285–305, hier S. 297. 26 Vgl. Annette KEHNEL, Der mendikantische Konvent: Lokale Schaltstelle einer universalen Kommunikationsgemeinschaft, in: ROBSON/RÖHRKASTEN (Hg.), Franciscan Organisation (wie Anm. 21), S. 179–224.

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32 Provinzen des Ordens der Minderen Brüder avancierte.27 Mithin sind die aus ordensgeschichtlicher Perspektive substanziellen Eckdaten benannt, die den Rahmen bilden, in denen sich die Barfüßer in Nordhausen und Mühlhausen bewegten und auf deren Entwicklung und Beziehungen zueinander jetzt in groben Zügen zu fokussieren ist. Vorab ist eigens zu betonen, dass beide Konvente über die hier zu erörternden Verbindungen zueinander aufgrund der Organisationsstruktur des Ordens selbstverständlich auch weiterreichende bilaterale und multilaterale Kontakte zu anderen Konventen sowie zu den Kustodie- und Provinzleitungen unterhielten, die aber vergleichsweise weniger zahlreich und konturiert aus den Quellen ablesbar sind, weshalb sie im Folgenden nur punktuell erwähnt werden. Nach ihrem frühen Scheitern in den beiden Städten gewannen die Barfüßer seit den frühen 1230er Jahren zunehmend an Akzeptanz für ihre moderne mendikantische Form der vita religiosa und Vertrauen in das wachsende Angebot ihrer Seelsorge und Predigtaktivitäten in weiten Kreisen der städtischen Bevölkerung, aber auch bei den Bewohnern des Umlandes. Diesbezüglich liefern die zwei frühesten Nachweise für Kontakte zwischen den Nordhäuser und Mühlhäuser Kommunitäten von 1268 vielsagende Indizien: Der Vogt Albert von Ebeleben bedachte in seiner Anniversarstiftung beide Konvente gleichberechtigt mit jeweils zwei Mark jährlich für guten und süßen Würzburger Wein, den er ausschließlich zur Verwendung als Messwein bestimmte.28 In der zweiten Urkunde des Jahres traten die Guardiane von Nordhausen („frater Ludewicus“) und Mühlhausen („frater Alexander“) zusammen mit „frater Conradus custos fratrum minorum Thuringie“ als Zeugen einer Schenkung des Ritters Heinrich von Allerstedt auf.29 Das gemeinsame Auftreten der zwei reichsstädtischen Franziskanerkonvente in den Urkunden von 1268 deutet – zumal noch der Kustos anwesend war – auf ein intern abgestimmtes Verhalten hin, zugleich aber ebenso auf die externe Wahrnehmung dieses nahen Verhältnisses. In die gleiche Richtung weisen auch die beiden Konventen zugedachten Indulgenzien, deren Aussteller auffallend häufig beide Konvente privilegierten. Von den acht kirchlichen Amtsträgern, die im 13. Jahrhundert den Nordhäusern Ablassprivilegien gewährten, erteilten sechs auch den Mühlhäusern gleichumfängliche Rechte, wie dem „Syllabus indulgentiarum“ im Anhang

27 Vgl. Hieron[ymus] GOLUBOVICH, Series provinciarum ordinis Fratrum Minorum saec. XIII et XIV, in: Archivum Franciscanum Historicum 1 (1908), S. 1–22, hier S. 20. 28 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 3: Urkundenbuch der ehemals freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen (im Folgenden: UB Mühlhausen), bearb. von Karl HERQUET, Halle 1874, S. 72, Nr. 188. 29 Ebd., S. 74, Nr. 192.

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zum Mühlhäuser Totenbuch der Franziskaner zu entnehmen ist.30 Deshalb liegt es durchaus nahe, von gemeinsamen Initiativen oder zumindest von gegenseitiger Unterstützung beim Werben um Ablassbewilligungen auszugehen, wie es für die Magdeburger Franziskaner belegt ist, die den Brandenburger Bischof Heinrich baten, eine Indulgenz zugunsten ihrer Nordhäuser Mitbrüder auszustellen.31 Als Ausdruck intensiven, geradezu ‚ewigen‘ Miteinanders und Füreinanders ist sodann das Totengedenken anzuführen, welches die Mühlhäuser für ihre Nordhäuser Mitbrüder liturgisch praktizierten und im „Liber mortuorum“ in Erinnerung hielten.32 Das Mühlhäuser Nekrologium macht mit „Henricus de Grunstete“,33 „Hinricus de Wydense“,34 „Conradus de Indagine“,35 „Albertus de Aldenmolhusen“,36 „Benedictus Seber“,37 „Cunradus Cesaris“,38 „Nicolaus 30 Für Kardinal Hugo von St. Cher vgl. Stadtarchiv Nordhausen (im Folgenden: StadtA Nordhausen), I. Abt. Lc, Nr.1; Stadtarchiv Mühlhausen (im Folgenden: StadtA Mühlhausen), 60/48, fol. 45v u. 47r-v. Für Bischof Withego I. von Meißen vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 3 u. 7; StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 46r u. 47r–48r. Für Erzbischof Werner von Eppstein vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 4; StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 46r u. 47r–48r. Für Bischof Berthold von Sternberg vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 6; StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 46r u. 48r. Für Bischof Peter von Wiborg vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 8; StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 46r u. 47r–48r. Für Bischof Hermann von Cammin vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 10; StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 46v, 47v u. 48v. 31 StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 9: „Ad peticionem fratrum minorum Magdeburgensium …“ (undatiert, vermutlich um 1276). 32 StadtA Mühlhausen, 60/48. Vgl. Richard SCHEITHAUER, Die Toten des liber mortuorum von Mühlhausen, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 24 (1923/24), S. 33–65; dazu kritisch und mit modifiziertem Forschungsstand Christian LOEFKE, Das Totenbuch (Liber mortuorum) der Franziskaner in Mühlhausen, in: MÜLLER/SCHMIES/DERS. (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 77–83. Eine Gesamtedition des Totenbuchs bereitet derzeit mein Kollege Christian Loefke (Münster) vor, dem ich für den regen Gedankenund Informationsaustausch (nicht nur) in dieser Sache herzlich danke. 33 „qui fuit custos in multis custodiis provincie, sepultus in Northusen in ecclesia fratrum minorum“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 26v, †1366, Gedenktag 10. August. 34 StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 30r, Gedenktag 6. September. Vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 25 (1392 Oktober 7); Bullarium Franciscanum. Romanorum Pontificum constitutiones, epistolas, ac diplomata continens tribus ordinibus Minorum […], T. 7: Urbani VI, Bonifatii IX, Innocentii VII, Gregorii XII, Clementis VII, Benedicti XIII, Alexandri V, Ioannis XXIII, Martini V documenta, hg. von Conradi EUBEL, Rom 1904, S. 118, Nr. 344 (1401 Januar 24). 35 „Northusensis gardianus“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 33r, † 3. Oktober (Jahr unbekannt). In der Nordhäuser Überlieferung ist er nicht nachweisbar. 36 „Northusensis lector“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 34r, † 12. Oktober (Jahr unbekannt). In der Nordhäuser Überlieferung ist er nicht nachweisbar.

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Frankinrode“39 sowie „Johannes de Tuderstad“40 mindestens acht Brüder namhaft, die auch für den Nordhäuser Konvent nachzuweisen sind.41 Mit dem Totenbuch öffnet sich ein Fenster, durch das schlaglichtartig neben dem spirituellen Zusammenhalt auch personelle Verflechtungen beider Konvente sichtbar werden. Hier sind die als „predicator et confessor“ ausgewiesenen Brüder hervorzuheben, die als Prediger und Beichtväter zentrale Aufgaben des pastoralen Dienstes ihrer Ordensgemeinschaft wahrnahmen und zwar an wechselnden Orten, was der franziskanischen Predigttätigkeit in den westthüringischen Reichsstädten neue Impulse und Attraktivität versprach.42 Leider hat sich das für 1445 bezeugte „gemeyne sele buch“ der Barfüßer Nordhausens nicht erhalten,43 doch ist anzunehmen, dass ebenda vergleichsweise häufig Mitbrüder verzeichnet waren, die auch im Nachbarkonvent tätig waren. Das soeben beschriebene, nach außen signalisierte und nach innen praktizierte ‚brüderliche‘ Verhältnis der benachbarten reichsstädtischen Konvente bewährte sich wiederholt bei schweren provinzinternen Konflikten. Als zu Beginn der 1380er Jahre sechs von 12 Kustodien der Sächsischen Provinz gegen ihren amtierenden Provinzialminister Burchard, einen Spross der Grafen von Mansfeld, offen opponierten und schwere Klagen gegen dessen Amtsverständnis

37 „predicator et confessor“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 34v, † 17. Oktober (Jahr unbekannt). In Nordhausen ist er am 7. August 1426 als Terminarius bezeugt, vgl. StadtA Nordhausen, II. Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 182. 38 „predicator et confessor“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 7v, † 22. Februar (Jahr unbekannt). In Nordhausen ist er am 22. Juni 1386 als Guardian bezeugt, vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 20. 39 „predicator et confessor“, StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 35r, † 23. Oktober (Jahr unbekannt). In Nordhausen ist er am 7. Oktober 1392 bezeugt, vgl. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 25. 40 Der Name wird als „predicator et confessor“ zwei Mal geführt: † 10. April und † 16. Oktober (ohne Jahr), vgl. StadtA Mühlhausen, 60/48, fol. 13r und 34v. 1381 wird Johannes de Tuterstad als Vizeguardian von Nordhausen erwähnt, vgl. Ludger MEIER, De Appellatione contra fr. Burchardum de Mansfeld, Ministrum Saxoniae, in: Archivum Franciscanum Historicum 42 (1949), S. 344–349, hier S. 346. 41 Auf eine tiefere prosopographische Untersuchung, die auf die Freilegung größerer Ordensnetzwerke oder familiärer Hintergründe abzielt, muss hier verzichtet und auf die künftige Edition von Christian Loefke verwiesen werden. 42 Es haben sich für 1390, 1392, 1412, 1440/42 und noch für 1521 vom Mainzer Erzbischof ausgestellte Predigt- und Beichtlizenzen für namentlich genannte Brüder der Thüringischen Kustodie erhalten, aus denen zu schließen ist, dass die Erlaubnis sich nicht auf eine bestimmte Stadt beschränkte. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 22, 25, 29 u. 37; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg (im Folgenden: LASA Magdeburg), Rep. U 15 Barfüsserkloster VII, Nr. 5b. 43 StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 38.

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(„absque misericordia“)44 und Amtsführung („ob tyrannidem et indebitam oppressionem“) führten, positionierte sich die Thüringische Kustodie nicht nur auf der Seite der Gegner Burchards, sondern profilierte sich als Zentrum des Widerstandes.45 In einer gesonderten Beschwerdeschrift formulierten die Vertreter der thüringischen Konvente ihre Gravamen gegen den Provinzial, teils sehr konkret auf eigenen Erfahrungen basierend, mit dem Ziel, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.46 Als ‚Erstunterzeichner‘ traten namentlich die Konventsleitungen von Mühlhausen (Guardian und Lektor) und Nordhausen (neben dem Guardian und zwei Lektoren auch der Vizeguardian „Ioannes de Tuterstad“, dessen Name schon im Zusammenhang mit dem Mühlhäuser Totenbuch begegnete) auf, denen Vertreter aus Eisenach, Erfurt und weitere Angehörige der Kustodie folgten. Der Widerstand gegen den umstrittenen Provinzial, der am 13. Juli 1383 in Leipzig mit dessen Absetzung erfolgreich endete, lässt eine selbstbewusste Thüringische Kustodie erkennen, in der die Konvente Nordhausen und Mühlhausen sich unmissverständlich positionierten und aktiv eigene Interessen wahrnahmen.47 Während das Gravitationszentrum48 der Provinz und infolgedessen auch der Kustodie in Erfurt zu verorten ist – hier fanden zusammen mit Berlin, Leipzig und Magdeburg mit jeweils 12 nicht nur die meisten Provinzkapitel der Saxonia im Mittelalter statt,49 sondern das Haus war nach der Mitte des 14. Jahrhunderts auch Sitz eines weit über die Provinzgrenzen ausstrahlenden Ordensstudiums

44 MEIER, De Appellatione contra fr. Burchardum de Mansfeld (wie Anm. 40), S. 345. 45 Vgl. dazu detailliert Petra WEIGEL, „Ob tyrannidem et indebitam oppressionem“. Die Absetzung des Ministers der sächsischen Franziskanerprovinz Burchard von Mansfeld (1383), in: Raphaela AVERKORN/Winfried EBERHARD/Reimund HAAS/Bernd SCHMIES (Hg.), Europa und die Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg, Bochum 2004, S. 1026–1058. 46 Druck in: MEIER, De Appellatione contra fr. Burchardum de Mansfeld (wie Anm. 40), S. 346–348. 47 Vgl. WEIGEL, „Ob tyrannidem et indebitam oppressionem“ (wie Anm. 45), S. 1039 f. 48 Ein nominelles ‚Hauptkloster‘ mit festem Sitz des Provinzials war der mittelalterlichen Provinz unbekannt. Vgl. Dieter BERG (Hg.), Management und Minoritas. Lebensbilder Sächsischer Franziskanerprovinziale vom 13. bis zum 20. Jahrhundert (Saxonia Franciscana, Beiheft 1), Kevelaer 2003. Die nun vorliegende Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz (vgl. Anm. 9) erinnert schmerzlich an das Desiderat einer Geschichte der Erfurter Franziskaner. Vgl. Petra WEIGEL, Zu Urkunden des Erfurter Franziskanerklosters in den Beständen des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt in Magdeburg, in: Wissenschaft und Weisheit 64 (2001), S. 290–320, hier besonders S. 293–297. 49 Vgl. HONEMANN (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz (wie Anm. 9), S. 858 f.

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im Rang eines Generalstudiums –,50 besetzten der Konvent in Nordhausen und diesem folgend die Mühlhäuser Niederlassung die nächsten Positionen innerhalb der Kustodie. So traf sich in Nordhausen die Provinz drei Mal zu ihrem Kapitel, in Mühlhausen wie in Arnstadt jeweils einmalig. Alle übrigen Konvente der Kustodie Thüringen blieben ohne die prestigeträchtigen Kapitelsversammlungen. Weitaus wichtiger noch sind die Standorte Nordhausen und Mühlhausen für das System der ordensinternen Bildung und Ausbildung. Zwar ist in Mühlhausen ein Hausstudium über die Nennung eines Lesemeisters für 1279 nachzuweisen51 und ist seitdem aufgrund der im Totenbuch verzeichneten Lektoren mit einem kontinuierlichen Studienbetrieb zu rechnen, doch scheint das erst später 1331 ersterwähnte Studium in Nordhausen mit zunehmender Dauer eine immer größere Bedeutung gewonnen zu haben.52 Jedenfalls lehrten dort im 15. Jahrhundert und bis in die frühen 1520er Jahre vermehrt gleichzeitig zwei Lesemeister, die oftmals auch am Erfurter Studium dozierten und überdies dort auch an der Universität eingeschrieben waren. Insofern sind die in einem Seelgerät, das die Schwarzburger Grafen zugunsten der Nordhäuser Barfüßer 1457 stifteten, aufgeführten vier Lesemeister sicher in ihrer Anzahl als sehr außergewöhnlich zu betrachten, nicht jedoch hinsichtlich ihres Werdegangs.53 An ihnen lässt sich das für die seelsorgliche Praxis und Predigt ungemein wichtige franziskanische Bildungssystem in Thüringen bezüglich seiner personellen Vernetzung exemplifizieren. Drei der vier Lesemeister sind näher zu fassen, lediglich der vierte, Hermann Hoffemann,54 ist nur aufgrund der Schwarzburger Urkunde bekannt. 50 Vgl. Jana BRETSCHNEIDER, Predigt, Professur und Provinzleitung – Funktion und Struktur des franziskanischen Bildungswesens im mittelalterlichen Thüringen, in: MÜLLER/ SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 109–118; Ludger MEIER, Die Barfüsserschule zu Erfurt (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen, 38/2), Münster 1958. 51 UB Mühlhausen (wie Anm. 28), S. 109, Nr. 272. 52 StadtA Nordhausen, I. Abt. F, Nr. 4. 53 StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 40. Auf eine vollständige Auflistung der für Nordhausen nachweisbaren Lektoren mit Biogrammen muss hier verzichtet werden, ist aber für eine in Vorbereitung befindliche Studie des Autors im Auftrag der FriedrichChristian-Lesser-Stiftung (Nordhausen/München) erarbeitet. 54 Der Familienname Hoffemann taucht unter den Nordhäuser Konventualen innerhalb einer Generation mit Martinus (1472, Repertorum Poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, Bd. 6: Sixtus IV., 1471–1484, Teil 1: Text, bearb. von Ludwig SCHMUGGE, Michael MARSCH und Alessandra MOSCIATTI, Tübingen 2005, S. 471 f., Nr. 3470) sowie Theodoricus (vor 1489, Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 8: Acten der Erfurter Universität, Theil 1: Päpstliche Stiftungsbullen. 2, Statuten von 1447. 3, Allgemeine Studentenmatrikel, 1. Hälfte [1392–

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Als der wohl profilierteste im Kreis der Nordhäuser Lektoren von 1457 ist Christian Borxleben (1400–1484) anzusehen. An seinem Ordensweg soll kursorisch aufgezeigt werden, wie eine Karriere in der Sächsischen Ordensprovinz im 15. Jahrhundert verlief, die signifikant nicht nur eine rein akademische, sondern zugleich immer auch eine Ämterlaufbahn im Orden implizierte.55 Borxleben stand wahrscheinlich schon 1431/32, sicher 1440 und bis 1445 als Guardian dem Nordhäuser Konvent vor und war hier spätestens seit 1440 zudem als Lektor tätig.56 Seine akademische Laufbahn setzte er in Leipzig fort, wo er als „lector principalis“ zum Sommersemester 1446 in die Universitätsmatrikel aufgenommen und dort wahrscheinlich 1450/51 seine Doktorpromotion erreichte.57 Seine Lehrtätigkeit in Leipzig scheint er nach der Jahrhundertmitte nur sporadisch beziehungsweise mit großen zeitlichen Unterbrechungen wahrgenommen zu haben, denn er begegnet uns in anderen Funktionen und an anderen Orten: So war er 1452 in Magdeburg als Dolmetscher für seinen Ordensbruder Johannes Kapistran58 und zwischen 1457 und 1463 erneut als Lektor in Nordhausen tätig.59 In dieser Zeit hatte er auch das Amt des Kustos von Thüringen inne und begleitete 1461 als Beichtvater Graf Heinrichs des Älteren von Stolberg, der sich seinerseits Herzog Wilhelm III. angeschlossen hatte, auf eine gemeinsame Pilgerfahrt ins Heilige Land.60 Im deutlich fortgeschrittenen Alter von 64 Jahren setzte Borxleben seine akademische Karriere in Erfurt fort und wurde 1464 als erster Franziskaner der Thüringischen Kustodie „magister regens“ am General-

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1492], bearb. von Johann Christian Hermann WEISSENBORN, Halle 1881, S. 427) noch zwei weitere Male auf. Vgl. zum Folgenden Bernd SCHMIES, Der Nordhäuser Franziskaner Christian Borxleben (geb. 1400, gest. 1484), in: Beiträge zur Geschichte aus Stadt und Kreis Nordhausen 29 (2004), S. 145–158. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 33, 34, 37 u. 38. Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae, Haupttheil 2, Bd. 16: Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409–1559, hg. von Georg ERLER, Leipzig 1895, S. 156; Katalog der Danziger Stadtbibliothek, Bd. 3: Katalog der Handschriften der Danziger Stadtbibliothek, Teil 3, bearb. von Otto GÜNTHER, Danzig 1909, S. 168 f. Zur Dolmetschertätigkeit Borxlebens vgl. Volker HONEMANN/Gunhild ROTH, Dolmetscher und Dolmetschen im Mittelalter. Eine Skizze, in: Hana ANDRÁSOVÁ/Peter ERNST/ Libuse SPÁCILOVÁ (Hg.), Germanistik genießen. Gedenkschrift für Hildegard Boková (Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft, 15), Wien 2006, S. 77–141, hier S. 113 f. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 40; ebd., II. Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 155–158 (undatiert). Zur Datierung SCHMIES, Der Nordhäuser Franziskaner Christian Borxleben (wie Anm. 55), S. 153 mit Anm. 46. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 40. Zur Pilgerreise vgl. Eduard JACOBS (Hg.), Graf Heinrich des Älteren zu Stolberg Meerfahrt nach Jerusalem und ins gelobte Land 21.–26. März bis 10. October 1561, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Alterthumskunde 1 (1868), S. 173–220, hier S. 189 f.

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studium in Erfurt.61 Mit der Leitung des Ordensstudiums übernahm er auch die franziskanische Professur an der Theologischen Fakultät und siedelte in die Universitätsstadt um. Noch 1482 ist er hier nachzuweisen, denn er präsentierte am 12. Oktober des Jahres seinen Ordensbruder und späteren Provinzialminister Johannes Heymstede zur Doktorpromotion.62 Borxleben starb 1484 mit 84 Jahren „[in] tempore pestilentie“ in Erfurt.63 Sein ‚Schüler‘ und Nachfolger auf dem franziskanischen Lehrstuhl, Johannes Heymstede, wurde 1504 in der Erfurter Barfüßerkirche zu seinen Füßen begraben.64 Immer wieder kreuzten sich die Wege Borxlebens mit denen von Hermann Wisse, dem nächsten Lektor aus der Riege der vier Nordhäuser Lesemeister des Jahres 1457: Wisse ist für 1431, 1432, 1445 und 1457 als Lektor in Nordhausen, 1438 als Guardian in Erfurt sowie 1440 und 1450 als Kustos, und endlich als Lektor in Erfurt bezeugt, wo er am 26. Februar 1462 verstorben ist.65 Der vierte genannte Lesemeister, Sebastian Riffenstein, immatrikulierte sich 1460 in Erfurt, schaltete sich an der Seite des Magister regens und künftigen Provinzialministers Nikolaus Lakmann seit 1460 in den Konflikt um die Reform der Konvente Magdeburg und Halle ein.66 Wie hier nur in Auszügen angedeutet, nahm ohne Zweifel das Nordhäuser Studienhaus im späten Mittelalter den Rang eines „studium particulare“67 ein, an dem der Ordensnachwuchs sich für die höchste Stufe des franziskanischen Studiensystems qualifizieren konnte und eine dem Erfurter Studium nachgeordnete, jedoch leistungsstarke Bildungsanstalt der Kustodie darstellte. Dementsprechend dozierten in Nordhausen erstaunlich viele Lesemeister, die ihre Karrieren 61 Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 54), Theil 1, S. 301. 62 Bistumsarchiv Erfurt, St. Marienstift, XIV 16, fol. 83v. 63 Jacob WICHNER, Eine Admonter Todtenrotel des 15. Jahrhunderts, in: Studien und Mittheilungen aus dem Benedictiner- und dem Cistercienser-Orden 5 (1884), H. 1, S. 61–82; H. 2, S. 314–340; H. 3, S. 28–56; H. 4, S. 313–339, hier H. 2, S. 328 f. Zu den abweichenden Todesdaten vgl. SCHMIES, Der Nordhäuser Franziskaner Christian Borxleben (wie Anm. 55), S. 154. 64 G. KÖHLER, Kalendarium Necrologium. Fratrum Minorum Conventus in Goerlicz, in: Scriptores rerum Lusaticarum. Sammlung ober- und niederlausitzischer Geschichtsschreiber NF 1 (1839), S. 265–307, hier S. 282. 65 Vgl. MEIER, Die Barfüsserschule zu Erfurt (wie Anm. 50), S. 29; ergänzend StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 33, 34, 37 u. 38; ebd., I. Abt. F, Nr. 11; Stadtarchiv Coburg, Urk. 43. 66 Zu Riffenstein vgl. MEIER, Die Barfüsserschule zu Erfurt (wie Anm. 50), S. 29. Zu Lakmann im Kontext der „Erfurter Franziskanerschule“ jetzt auch HONEMANN (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz (wie Anm. 9), bes. S. 129, 486–489 u. 697 f. 67 Vgl. BRETSCHNEIDER, Predigt, Professur und Provinzleitung (wie Anm. 50), S. 115 f.; Ferdinand DOELLE, Das Partikularstudium der Sächsischen Provinz im Mittelalter, in: Franziskanische Studien 14 (1927), S. 244–251.

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in Erfurt an der Universität zur Erlangung akademischer Grade sowie der „venia legendi“ fortsetzten und damit die Voraussetzungen schufen, um einen der Provinz zugesprochenen theologischen Lehrstühle an einer der im Provinzgebiet liegenden Universitäten besetzen zu können. Das Aufblühen des Nordhäuser Studiums seit den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts verlief zeitgleich mit dem Aufkommen der Reformbewegung in der Provinz, die diese fortan und bis in die Reformation stark in Anspruch nehmen sollte. Die seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts im Wesentlichen unveränderten organisatorisch-administrativen Strukturen von Provinz und Kustodie gerieten seit den 1440er Jahren durch die Frage der Ordensreform stetig unter Druck. Die kontrovers geführte Reformdebatte provozierte teils massive Verwerfungen, die weite Kreise zogen: Sie reichten ordensintern von den Konventen über die Kustodien bis hin zur Gesamtprovinz und darüber hinaus in städtische Obrigkeiten, zu Territorialherren sowie kirchliche Instanzen. Insgesamt dominierten diese Auseinandersetzungen nahezu ein Jahrhundert bis in die frühreformatorische Zeit die Politik der Provinzverantwortlichen mit erheblichen Auswirkungen auf jede einzelne Gemeinschaft. Ohne das Wissen um diese tiefgreifenden Reformkonflikte bleibt jedenfalls das Verhalten der Franziskaner in der Reformation unverständlich, weshalb nun die Reformfrage mit dem Hauptaugenmerk auf Thüringen in Grundzügen zu erläutern ist.

1.1. Von der Reform zur Reformation Vielerorts hatte sich das den Orden des Franziskus in seiner Frühzeit prägende ungesicherte Leben in strenger Armut zu einem materiell abgesicherten Klosterdasein entwickelt, das sich den spätmittelalterlichen Realitäten des kirchlichen und klösterlichen Lebens angepasst hatte. Anderen Orden gleich, verfügten die Barfüßer über dauerhafte, ihre Bedürfnisse mehr als ausreichend befriedigende Einnahmen, die aus Stiftungen und Schenkungen der Gläubigen resultierten und nicht nur Sachgüter und Lebensmittel, sondern regelmäßig ebenso Geldeinkünfte der Gemeinschaft sowie immer häufiger auch einzelner Brüder umfassten.68 In Italien, Spanien und Frankreich wurden unabhängig voneinander seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Rufe nach einer Reform des ordo minorum lauter und formierten sich Reformaufbrüche.69 Durch eine wieder 68 Konkret zu den wirtschaftlichen Verhältnissen in den Kustodien Thüringen und Halberstadt vgl. SCHMIES, Gelobte und gelebte Armut (wie Anm. 25), passim. 69 Vgl. Duncan NIMMO, Reform and Division in the Medieval Franciscan Order. From Saint Francis to the Foundation of the Capuchins (Bibliotheca Seraphico-Capuccina, 33), Rom 21995, S. 433–575.

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strengere Beobachtung der Ordensregel und insbesondere des Armutsgebots sollte das ursprüngliche Ideal des Franziskus und die vita franciscana der Frühzeit wiederbelebt werden.70 In der Saxonia gelang 1427/29 mit landesherrlicher Unterstützung die Reform des Konvents in Brandenburg an der Havel im Sinne der Observanz.71 Als nächster Konvent schloss sich auf Betreiben des thüringischen Landgrafen, Friedrichs des Friedfertigen, und im Konsens mit Provinzialminister Matthias Döring 1438 der Eisenacher Konvent der Observanz an.72 Unter Friedrichs Neffen, Wilhelm III., stieg Thüringen in der Jahrhundertmitte zum Zentrum der Observanzbewegung in der Sächsischen Franziskanerprovinz auf.73 Als Wilhelm 1445 die Regierung antrat, war er bereits ‚franziskanisch‘ geprägt, denn seit seinem sechsten Lebensjahr stand ihm und seinem Bruder Friedrich mit dem Guardian der Elisabeth-Zelle unterhalb der Wartburg, Heinrich Kulstedt, ein Beichtvater und Hofprediger zur Seite, der dem jungen Prinzen franziskanisches Gedankengut und Spiritualität vermittelt und dessen Frömmigkeit er beeinflusst hatte. Insofern war Wilhelms Engagement für die franziskanische Observanzbewegung mit Sicherheit auch von einer persönlichen Affinität zum Orden motiviert und erklärt mit, warum die franziskanische Reform im Mittelpunkt seiner Klosterpolitik stand.74 Neben der Reform der Konvente in Arnstadt (1445) und St. Elisabeth unter der Wartburg (1457) erfolgten 1452/53 im Zusammenwirken 70 Vgl. Kaspar ELM, Reform- und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen. Ein Überblick, in: DERS. (Hg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner Historische Studien, 14; Ordensstudien, 6), Berlin 1989, S. 3–19, hier S. 9 f. 71 Vgl. Ferdinand DOELLE, Die Observanzbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz (Mittel- und Ostdeutschland) bis zum Generalkapitel von Parma 1529 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 30/31), Münster 1918; in Teilen überholt durch Petra WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427–1461) (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 7), Frankfurt a. M. 2005, hier S. 27– 53 zu Brandenburg; jetzt auch Volker HONEMANN, Die Reformbewegungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts in der Saxonia, in: DERS. (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz (wie Anm. 9), S. 45–163. Vgl. auch Ludovic VIALLET, Les sens de l’observance. Enquête sur les réformes franciscaines entre l’Elbe et l’Oder, de Capistran à Luther (vers 1450–vers 1520) (Vita regularis, 57), Berlin 2014, der aber nur die Kustodien Goldberg und Breslau untersucht. 72 Vgl. WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus (wie Anm. 71), S. 62–75. 73 Zur landesherrlichen Kirchen- und Klosterreformpolitik in Thüringen vgl. Manfred SCHULZE, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation, NR 2), Tübingen 1991; mit Bezug auf die thüringischen Franziskaner vgl. WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 16); Petra WEIGEL, Die franziskanische Observanzbewegung in Thüringen, in: MÜLLER/ SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 126–133. 74 Vgl. WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 16), S. 344 f.

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mit dem Observantenprediger Johannes Kapistran die Gründungen von Konventen in Weimar und Langensalza.75 Konnte die Eisenacher Reform von 1438 noch im Konsens von Landesherr und Provinzleitung geschehen, so erfolgten die nachfolgenden thüringischen Reformen ohne Beteiligung des Provinzialministers und gegen seinen Willen. Die Gründe dafür lagen in der Gesamtentwicklung der franziskanischen Ordenserneuerung. Um eine nachhaltige Erneuerung zu gewährleisten, waren die Konstanzer Konzilsväter 1415 der Bitte französischer Reformkonvente nach einem eigenen Vikar großzügig nachgekommen. Was zunächst als französischer Sonderweg gedacht war, wurde 1446 durch die Bulle „Ut sacra“ Papst Eugens IV. zementiert: Die Observanten erhielten eine dauerhafte eigene Hierarchie mit General- und Provinzialvikaren sowie entsprechenden General- und Provinzkapiteln.76 Das Vikarsprivileg führte zu heftigen Konflikten im Orden, die auch die Sächsische Provinz und dort vor allem die Thüringische Kustodie erreichten.77 Die Franziskaner standen vor dem Dilemma, dass Observanz, also Regeltreue, und Obödienz, also regelgemäßer Gehorsam, in einen Gegensatz geraten waren. Der Sächsische Provinzial Matthias Döring, nach wie vor Reformen gegenüber aufgeschlossen, wehrte sich gegen eine weitere Expansion der Observanzbewegung, da er durch sie die Einheit seiner Provinz in Gefahr sah. Er setzte vielmehr auf Reformen „sub ministris“. Das Generalkapitel stimmte 1430 neuen Konstitutionen zu, die einen Kompromiss zwischen den reformwilligen und -unwilligen Fraktionen herstellen, indem sie eine insgesamt moderate Reform des ganzen Ordens herbeiführen und somit seine Einheit bewahren sollten. Die von Papst Martin V. approbierten, deshalb Martinianische Konstitutionen genannten Bestimmungen fanden in den Sächsischen Provinzialministern bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein beharrliche Verfechter.78 In der Saxonia konkurrierten fortan vor allem zwei Reformfraktionen um den richtigen Weg der Erneuerung.79 Daneben bestand eine dritte Fraktion von Konventen, die sich Reformen verweigerte. 75 Vgl. DERS., Johannes Kapistran in Jena, in: Johannes HELMRATH/Heribert MÜLLER (Hg.), Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, Bd. 1, München 1994, S. 505–520. 76 Vgl. WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus (wie Anm. 71), S. 168–188. 77 Vgl. DIES., Die franziskanische Observanzbewegung (wie Anm. 73), S. 130–132. 78 Neben der in Anm. 71 genannten Literatur vgl. auch Brigitte DEGLER-SPENGLER, Observanten außerhalb der Observanz. Die franziskanischen Reformen „sub ministris“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 89 (1978), S. 354–371; Bernhard NEIDIGER, Die Martinianischen Konstitutionen von 1430 als Reformprogramm der Franziskanerkonventualen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), S. 337–381. 79 Ende der 1450er Jahre formierte sich eine weitere Reformgruppe von zeitweise bis zu 14 Konventen innerhalb der Saxonia. Einer Gruppe von Klöstern, die zwar gemäß der regu-

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Zu dieser dritten, wahrscheinlich größten Gruppe von Klöstern der Provinz gehörten Mühlhausen und Nordhausen.80 In Mühlhausen hatte zwar der Rat im September 1452 Herzog Wilhelm gebeten, er möge Johannes Kapistran dazu bewegen, auch in Mühlhausen zu predigen, doch der städtische Versuch, auf die innere Gestalt des Konvents Einfluss zu nehmen, scheiterte am Widerstand der Mühlhäuser Brüder.81 In Nordhausen sicherten die Brüder dem Rat 1484 zu, dass „sie allesampt gantz eintrechtiglich jung v. alt, in meinunge sein eine from v. observantien leben“, allerdings fehlen klare Hinweise auf eine tatsächlich durchgeführte Reform.82 Vielmehr ist festzustellen, dass die Guardiane und Lesemeister beider Konvente zusammen mit den Provinzialministern aktiv in die Streitigkeiten um die Einführung der Observanz in anderen Konventen eingriffen und sie zu verhindern suchten. Namentlich taten sie dies bei der vom Magdeburger Erzbischof initiierten Einführung der Observanz in den für die Ausbildung und Administration der Provinz so wichtigen Konventen in Magdeburg und Halle in den frühen 1460er Jahren, denn der Verlust zentraler Konvente an Elbe und Saale drohte die Provinzstruktur weit über die Kustodiengrenze hinaus nachhaltig zu beschädigen.83 Entsprechend heftig wurde der

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lären Observanz reformiert waren, sich aber nicht der Obödienz des Vikars unterstellten, wurde ein „Visitator regiminis“ vorangestellt, der eine dem Kustos vergleichbare Position einnahm und auch der Jurisdiktion des Provinzialministers unterstand. In Thüringen war diese Reformfraktion ohne Konvente. Vgl. Ferdinand DOELLE, Die Reformbewegung unter dem Visitator regiminis der sächsischen Ordensprovinz, in: Franziskanische Studien 3 (1916), S. 246–298. Während die observante Reformbewegung für die Saxonia vergleichsweise gut erforscht ist, sind die anderen Reformen unter der Ägide der Provinziale weit weniger im Blick der Forschung, so gut wie gar nicht wird zu den Motiven der Reformverweigerung gearbeitet. StadtA Mühlhausen, Kopialbuch 6, fol. 129v. StadtA Nordhausen, II Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 343. Die nur abschriftlich erhaltene Nachricht ist nicht frei von Zweifeln und Unstimmigkeiten. Vgl. dazu SCHMIES, Der Nordhäuser Franziskaner Christian Borxleben (wie Anm. 55), S. 155. In der von Fromann lediglich paraphrasierten Urkunde bittet die Konventsgemeinschaft gemeinsam mit ihrem Kustos den Rat um Prokuratoren für das Kloster. Dies wertet Ferdinand DOELLE, Die martinianische Reformbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz im 15. und 16. Jahrhundert (Franziskanischen Studien / Beiheft, 7), Münster 1921, S. 69 als Indiz für die Einführung der martinianischen Reform. Allerdings sind Prokuratoren/Vormünder des Klosters seit 1349 (StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 14) häufiger (u. a. StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 42 [1468] u. Nr. 43 [1474]) erwähnt, so auch noch wenige Monate vor der Bitte an den Rat, vgl. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt (im Folgenden: LATh – StA Rudolstadt), Kanzlei Sondershausen, Nr. 3505 (Mai 1484). Vgl. WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus (wie Anm. 71), S. 239–274. Zu Halle auch Petra WEIGEL, „Zu der minneren bruder hant“. Wirksamkeit und Umfeld des Franziskanerordens in Halle im hohen und späten Mittelalter, in: Jahrbuch für Hallische Stadtgeschichte 4 (2006), S. 11–28.

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Konflikt zwischen observanten Reformern und deren Gegnern ausgefochten. Im Sommer 1461 klagten der seit einem Jahr in Erfurt studierende Nordhäuser Lesemeister Sebastian Riffenstein zusammen mit Nikolaus Lakmann im Auftrag ihres Provinzialministers Matthias Döring beim Subkonservator der Rechte und Privilegien der Sächsischen Franziskanerprovinz, dem Kantor von St. Severi in Erfurt, Hermann Greve. Dieser erklärte ohne Anhörung der Gegenseite die Herauslösung des Hallenser Konvents aus der Provinz für unzulässig, verurteilte die an der Refom beteiligten observanten Brüder – darunter der Guardian von Weimar, Bartholomäus Kaarstadt –, belegte sie mit Kirchenstrafen und verhängte das Interdikt über den Konvent. Für die öffentliche Verbreitung des Urteilsspruchs gegen die Observanten und die Bekanntmachung der Exkommunikation ihrer führenden Kräfte sorgten besonders die Guardiane von Mühlhausen und Nordhausen, gemeinsam mit den Erfurter Franziskanern. Die in Bedrängnis geratenen Observanten fanden Unterstützung bei Herzog Wilhelm, der sich – wie bereits erwähnt – u. a. auch von Nordhäuser Franziskanern begleitet, auf einer Pilgerfahrt ins Heilige Land befand. Seine Anwälte und Statthalter schalteten sich weisungsgemäß ein und forderten die Räte von Mühlhausen und Nordhausen am 28. Juli 1461 schriftlich auf, Maßnahmen gegen die Guardiane in ihren Städten zu ergreifen, damit sie die Observanten nicht weiter belästigen. Andernfalls – so die Warnung – würden sie die in Wilhelms Herrschaftsbereich liegenden Termineien aufheben sowie die Schutz- und Geleitbriefe der um Almosen bettelnden konventualen Brüder zurückziehen.84 Folglich drohte den Nordhäuser Brüdern der Verlust ihrer Terminei in Sangerhausen, das zum wettinischen Territorium gehörte. Zwar fehlen Hinweise auf eine konkrete Reaktion seitens der reichsstädtischen Barfüßer, doch werden sie spätestens mit dem Eingreifen Papst Pius II. im Oktober 1461 zugunsten der Hallenser und Magdeburger Reformkräfte ihr öffentliches Auftreten gegen die Reform eingestellt haben. Der Allianz aus landesherrlicher Obrigkeit und päpstlicher Gewalt waren sie nicht gewachsen und der drohende wirtschaftliche und seelsorgliche Schaden bei einem Ausfall der Sangerhäuser Terminei erschien wohl als ein zu hoher Preis für eine nicht mehr rückgängig zu machende Reform. Andererseits erwiesen sich die reichsstädtischen Mauern für den reformeifrigen Herzog Wilhelm als ein nur schwer zu überwindendes Hindernis. Einer ihm genehmen observanten Reform blieben die Klosterpforten dort verschlossen.85 Das Engagement der Nordhäuser und Mühlhäuser Brüder in diesem Streit unterstreicht hingegen, dass sie die Gefahr für ihr konventuales Leben 84 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. G 332, fol. 8r-v. Das Schreiben ist vollständig wiedergegeben in: WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus (wie Anm. 71), S. 256 (Anm. 96). 85 Vgl. WERNER, Landesherr und Franziskanerorden (wie Anm. 16), S. 358.

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erkannt hatten und offensiv begegnet waren. Ohne auf das taktische und strategische Verhalten der beiden reichsstädtischen Franziskanerniederlassungen im weiteren Verlauf der Reformauseinandersetzungen in Thüringen und darüber hinaus einzugehen, sei nur erwähnt, dass sich beide Kommunitäten doch noch der Reform – zumindest formal – öffnen mussten. Der Provinzial Ludwig Henning (1507–1515) forcierte den Druck auf reformresistente Konvente und schaffte es auf dem Provinzkapitel 1509 in Rostock, sämtliche Konvente auf die Annahme der sog. „Statuta Julii“ zu verpflichten.86 Diese nach Papst Julius II. benannten Statuten drängten alle Konvente zur Reform unter dem Gehorsam des Ministers. Inwieweit mit der formalen Annahme der Reform eine tatsächliche strengere Befolgung der franziskanischen Regel und Konstitutionen, insbesondere des Armutsgebots einherging, bleibt offen. Direkte Anzeichen für eine Umsetzung der Reformverpflichtung bieten weder die Nordhäuser noch die Mühlhäuser Überlieferung. Allein das Schreiben einiger Kustoden und Guardiane aus der Sächsischen Provinz an den Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen, den sie am 18. Juli 1514 baten, weiterhin die Martinianischen Konstitutionen beobachten zu dürfen und nicht die Observanz einzuführen, bringt einen indirekten Hinweis.87 Denn das Bittgesuch hatte auch der Kustos von Thüringen unterzeichnet und gesiegelt. Demnach galt für die Konvente seiner Kustodie zumindest die Reform nach den Martinianen. Diese hier nur angedeuteten, dauerhaften Konflikte hatten massive Auswirkungen auf die Gestalt und Handlungsfähigkeit der Thüringischen Kustodie – Saalfeld war 1463 zur Observantenvikarie gewechselt,88 der sich auch die 1501/02 erfolgte Neugründung in Schleusingen89 anschloss – und der Sächsischen Provinz insgesamt. Tatsächlich gab es innerhalb der Provinz unterschiedliche Hierarchien mit verschiedenen Leitungen und Konstitutionen, die nach den langen, Kräfte verschleißenden Auseinandersetzungen am Vorabend der Reformation über keine Konsensfähigkeit mehr verfügte. Infolgedessen trafen im Jahr 1517 zwei Ereignisse den Orden und speziell die Sächsische Provinz, die keinen unmittelbaren Zusammenhang besaßen, beide sich aber fortan beeinflussen und schließlich zum Untergang der Provinz führen sollten. Zum einen initiierten die von Luther zur Diskussion gestellten Thesen zum Ablassgebrauch die reformatorische Bewegung, zum anderen setzte Papst Leo X. nach erneut gescheiterten Unionsverhandlungen mit den auf dem 86 Vgl. Bernd SCHMIES, Ludwig Henning. Provinzialminister 1507 bis 1515, in: BERG (Hg.), Management und Minoritas (wie Anm. 48), S. 89–143, hier S. 114–120. 87 Edition in: DOELLE, Die Observanzbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz (wie Anm. 71), S. 256–258, Beilage 18. 88 Vgl. WEIGEL, Die Gründung und spätmittelalterliche Reform (wie Anm. 12), S. 109–121. 89 Vgl. Heike BECHERER/Christian LOEFKE, Schleusingen, in: MÜLLER /SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 251–254, hier S. 252 f.

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Generalkapitel in Rom anwesenden konkurrierenden reformwilligen sowie reformunwilligen Gruppen des Ordens einen (vermeintlichen) Schlusspunkt unter die Debatte und trennte den Orden in zwei eigenständige Zweige: Die verschiedenen Reformgruppen wurden zum „Ordo Fratrum Minorum“, fortan als Franziskaner bezeichnet, zusammengefasst und abgetrennt vom Ordenszweig der reformresistenten Minoriten, auch Konventuale genannt, dem sog. „Ordo Fratrum Minorum Conventualium“.90 Auf die Teilung des Ordens reagierte die Saxonia auf einem Provinzkapitel in Frankfurt an der Oder zu Beginn des Jahres 1518 mit der Union von Observanten und Martinianern, doch regelte das Generalkapitel im gleichen Jahr die Provinzeinteilung neu: Die Klöster der bisherigen Observanten wurden zur Sächsischen Provinz vom Heiligen Kreuz, die Martinianer zur Sächsischen Provinz des Heiligen Johannes des Täufers zusammengeführt.91 In der Folgezeit brachen verschiedene Konflikte um die Provinzzugehörigkeit von Kustodien und einzelnen Konventen aus: Die Konvente der Kustodien Breslau und Goldberg sollten der böhmischen Provinz zugeordnet werden, die Kustodie Holstein, bisher zur Dänischen Provinz zählend, wurde 1520 der Sächsischen Provinz vom Heiligen Kreuz zugeschlagen. Die Provinz vom Heiligen Johannes Baptist teilte sich 1521 eigenständig in eine Obersächsische, die auch Thüringische Provinz genannt wird, und eine Niedersächsische Provinz. Diese Maßnahme führte zu massiven Auseinandersetzungen mit der Generalleitung des Ordens. Mühlhausen und Nordhausen wurden der Provinz Johannes des Täufers zugeschlagen, ab 1521 dann der Thüringischen Provinz.92 Diese grundlegenden Umstrukturierungen und Neuorganisationen absorbierten für die Jahre ab 1517 einen Großteil der Kräfte nicht nur der Provinzleitungen, sondern auch der Konvente: Denn es musste in den Provinzen das Ausund Weiterbildungswesen neu aufgebaut, also Noviziats- und Studienhäuser bestimmt, geeignete Lektoren gefunden und eingesetzt, des Weiteren Termineigrenzen neu definiert, viele Ämter von der Provinzleitung über die Kustodien bis zu den Konventen besetzt und nicht zuletzt reformierte Statuten bestimmt 90 Vgl. Pacifico SELLA, Leone X e la definitiva divisione dell’Ordine dei Minori (OMin): la bolla Ite vos (29 Maggio 1517) (Analecta Franciscana, 14; Documenta et studia, 2), Roma 2001. 91 Vgl. Patricius SCHLAGER, Zwei Urkunden aus dem Schweriner Hauptarchiv, in: Beiträge zur Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuze 3 (1910), S. 107–112. 92 Vgl. die Überblicke von Christian PLATH, Die Franziskaner-Konventualen (Minoriten) und Martinianer, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 3 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 67), Münster 2007, S. 137–161; Walter ZIEGLER, Die Franziskaner-Observanten, in: ebd., S. 163–214.

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sowie im Alltag eingeübt werden. Nicht zu unterschätzen ist zudem der Einfluss, den Landesherren und städtische Obrigkeiten auf die Provinz- und Konventsoberen ausübten, um eigene Interessen bei den Provinzeinteilungen zu wahren. Mit anderen Worten: Die Neuordnung der getrennten Ordenszweige stand 1517 und in den Folgejahren im Vordergrund und bestimmte das Handeln der Provinzleitungen weitestgehend.93 Soweit sich Nachrichten von den Provinzkapiteln dieser Zeit erhalten haben, geben sie Auskunft über die ordensinternen Schwierigkeiten und Streitigkeiten, kaum aber über eine Positionierung zur reformatorischen Bewegung. So blieb offensichtlich die von Papst Leo X. beim Generalkapitel im April 1521 ausgesprochene Verpflichtung der Brüder, gegen die Reformation vorzugehen und die Schriften Luthers zu verbrennen, fast ohne erkennbare Resonanz bei den Provinzverantwortlichen. Nur ein Brief des in Weimar versammelten Provinzkapitels der Saxonia S. Crucis an Kurfürst Friedrich den Weisen vom 15. August 1521 ist bekannt, in dem die Brüder um kurfürstliche Unterstützung für das von ihnen vom Generalkapitel eingeforderte Handeln gegen Luther und seine Lehre warben. In dem von Georg Spalatin und Philipp Melanchthon entworfenen Antwortbrief ermahnte Friedrich die Brüder zur Zurückhaltung und beschrieb sie als Ursache von Konflikt und Spaltung.94 Die externe Herausforderung durch die Reformation wurde schließlich zur existenziellen, der sich die Sächsischen Franziskaner, gleich welcher Provinzzuordnung, individuell wie kollektiv stellen mussten. Da die Leitungsebenen geschwächt waren und bestenfalls partiell in die örtlichen Verhältnisse eingreifen konnten, gilt es, wieder auf die Konventsebene zu wechseln.

2. Die Franziskaner in der reichsstädtischen Reformation Die angedeuteten reformbedingten internen Querelen haben in den thüringischen Reichsstädten zu keinen erkennbaren Auswirkungen auf die pastorale Tätigkeit der Brüder in den Jahren unmittelbar vor beziehungsweise nach 1517 geführt. Ebenso sind keine Indizien für ein signifikant nachlassendes Interesse der Gläubigen an der franziskanischen Seelsorge bekannt. Verschiedene Quellen stützen eher den Eindruck einer bis zum Beginn der 1520er Jahre reichenden unveränderten Nachfrage. So schloss in Nordhausen die bedeutende Liebfrauenbruderschaft der Hauptleute und Diener, die seit 1423 an der Franziskanerkirche angesiedelt war, 1519 einen neuen Vertrag mit den Brüdern, der umfas-

93 Vgl. SCHLAGETER, Die Sächsischen Franziskaner (wie Anm. 5), S. 77–84, besonders S. 77–79. 94 Vgl. ebd. S. 78 f.

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send die Rechte und Pflichten der Vertragspartner regelte.95 Die Jahresrechnungen der Bruderschaft mit dem Konvent sind bis 1521 erhalten.96 In Mühlhausen nahm 1515 der Provinzial Ludwig Henning die dortige Schützenbruderschaft der Sieben Schmerzen Mariens in die Gebetsgemeinschaft des Ordens der Minderbrüder sowie der Klarissen auf.97 Eine am 19. Dezember 1521 erteilte erzbischöfliche Zulassung von diversen Brüdern vorzugsweise aus den Konventen Nordhausen, Mühlhauen und Erfurt zum Hören der Beichte und Erteilung der Absolution durch Kardinal Albrecht von Brandenburg deutet gleichfalls auf ein nach wie vor vorhandenes Vertrauen von Gläubigen zu den Brüdern.98 Mit einzubeziehen in diese Beobachtungen ist auch der Adel, denn noch 1520 stiftete Gräfin Katharina von Querfurt bei den Nordhäuser Franziskanern ein umfangreiches Gedächtnis und im darauf folgenden Jahr zogen die Grafen Heinrich XXII. von Schwarzburg-Arnstadt-Sondershausen und Ernst von Honstein nach.99

2.1. Die Franziskaner in der Reformation in Nordhausen Martin Luthers reformatorische Theologie fand mit großer Wahrscheinlichkeit in Nordhausen Eingang über zwei sich teils überschneidende Wege: Zum einen über die Nordhäuser, die in Wittenberg an der Universität studierten, zum anderen über Luthers Orden der Augustiner-Eremiten, der über Niederlassungen in beiden Orten verfügte, welche in einem intensiven Austausch standen. Darüber hinaus sind andere Wege über Erfurter Universitätskreise oder die anderen Bettelordenskonvente gut denkbar.100 95

Vgl. Kirsten SCHMIES, Bruderschaften an Franziskanerklöstern und -kirchen in Thüringen, in: MÜLLER/SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 84– 91, hier S. 87–90. 96 StadtA Nordhausen, II. Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 375 f. 97 StadtA Mühlhausen, Urkunde 0/1305. Vgl. dazu Kirsten SCHMIES, Bruderschaftsbrief des Provinzialministers Ludwig Henning, in: MÜLLER/SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 204, Kat.-Nr. 28. 98 LASA Magdeburg, Rep. U 15 Barfüsserkloster VII, Nr. 5b. 99 LATh – StA Rudolstadt, Sig. AC, Nr. 54; StadtA Nordhausen, I. Abt. Lc, Nr. 60. 100 Vgl. dazu ausführlich Ernst KOCH, Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen am Harz (Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 21), Nordhausen 2010, hier S. 40–55. Vgl. außerdem Armin KOHNLE, Stadt und Reformation in Nordhausen. Eine Nachlese, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 4), S. 155–166; Thomas T. MÜLLER, Frühreformation und Bauernkrieg – Die Thüringer Reichsstädte Nordhausen und Mühlhauen im Vergleich, in: Thomas LAU/Helge WITTMANN (Hg.), Reichsstadt im Religionskonflikt (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 4), Petersberg 2017, S. 161–176.

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Ein erstes deutlich erkennbares Zeichen einer Veränderung der kirchlichen Situation unter dem Eindruck der Reformation setzte die im Februar 1522 erfolgte Berufung des Lorenz Süße zum Pfarrer von St. Petri. Süße, mit seinem Ordensbruder Martin Luther eng verbunden, war seit 1519 Prior des Augustiner-Eremitenklosters der Stadt und stand nach Auskunft des dominikanischen Ordenschronisten Johannes Lindner unter dem Einfluss des Justus Jonas.101 Das Patronatsrecht an St. Petri stand dem Heilig-Kreuz-Stift zu, deshalb muss es der auf Betreiben des Rates hin erfolgten Berufung Süßes zugestimmt haben. Damit setzte sich frühzeitig der Rat an die Spitze der reformatorischen Bewegung, was „einen verhältnismäßig ruhigen und planvollen Übergang aus der alten in die neue Zeit zur Folge“ hatte.102 So blieb die Bewerbung Müntzers im selben Jahr um eine Anstellung in der Stadt erfolglos und der Rat setzte sich seit 1522 bei den Stellenbesetzungen an den Pfarrkirchen gegenüber dem Stift durch, so dass es zu einer völligen Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse kommen konnte. Hatte bis zu diesem Zeitpunkt das Heilig-Kreuz-Stift nahezu komplett die Verfügungsgewalt über das Pfarrkirchenwesen inne, so schaffte es der Rat – der zuvor lediglich über eine von insgesamt 117 Vikarien verfügt hatte – bis 1525 das Kirchenregiment an sich zu ziehen. Einen entscheidenden Schritt unternahm die Stadt, als der Rat im April 1524 den altgläubigen Pfarrer von St. Blasii zum Rückzug ins Heilig-Kreuz-Stift zwang und durch Johannes Spangenberg ersetzte, der zum eigentlichen Reformator Nordhausens avancierte.103 Ihm wird auch die „Northawsser Ratslagung Euangelium und Ceremonien betreffend“ vom Herbst 1524 zugeschrieben, in der der Rat seine Kirchenpolitik rechtfertigte und seine Leitlinien darlegte.104 Bezüglich des Klosterwesens konstatiert das für den Ulmer Städtetag verfasste Gutachten105 zunächst, dass das „closterleben solcher meynung gehalten eytel gift, teuffelisch dingk, gotslesterung und verleucknung Christi mit seinem euangelio und ein lauter verderben 101 Vgl. Klaus-Bernward SPRINGER, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, NF 8), Berlin 1999, S. 80, Anm. 28. Zu Süße vgl. Adalbero KUNZELMANN, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Bd. 5 (Cassiciacum, 26/5), Würzburg 1974, S. 247 f. mit Anm. 1298. 102 Vgl. Bernd MOELLER, Einige Überlegungen zur Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen, in: Justus Jonas 1493–1555, Beiträge zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages, Nordhausen 1993, S. 16–21, Zitat S. 18. 103 Vgl. Ernst KOCH, Kirchliche Probleme in Nordhausen zur Zeit Thomas Müntzers, in: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen 14 (1989), S. 6–14, hier S. 9. 104 Edition in: Martin BRECHT, Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung 63 (1977), S. 180–263, hier S. 252–263. 105 Vgl. ebd., S. 203–209, bes. S. 208.

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der sel zu verdamnus“ sei.106 Dann wird im folgenden Abschnitt die Absicht, „Das die closter uffzusperren und freyzulassen, auch diejhene, so herußkommen mit zimmlicher hilff zu bedencken sein“, formuliert.107 Richtete sich das Augenmerk der städtischen Obrigkeit in der Besetzung von Kirchenämtern auf das Pfarrkirchenwesen der Stadt und zielte damit gegen das Stiftskapitel, so trafen Spangenbergs Gutachten und das am 26. September 1524 erlassene Ratsmandat, nach dem alle Geistlichen der Stadt unter Androhung des Predigtverbots evangelisch zu predigen hatten, auch die Mendikanten Nordhausens.108 Die vom Rat betriebene Kirchenpolitik einer kontrollierten Überführung des Kirchen- und Klosterwesens in sein Regiment bedrohten seit 1524 Radikalisierungsversuche, die Nord- und Westthüringen erfassten und aus dem theologischen Umbruch einen sozialen ableiteten und verfolgten. In Nordhausen kam es 1524 zu einem ersten Bildersturm,109 dessen Ausmaß nicht bekannt ist. Wahrscheinlich erfolgte in diesem Kontext eine Inventarisierung und Verwahrung der Kleinodien des Franziskanerklosters auf dem Rathaus, worüber es im Dezember 1524 zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Rat und den Brüdern kam. Der Prokurator des Klosters, Bartholomäus Schober, beschuldigte den Rat in einem Schreiben an den Stolberger Grafen, die Inventarisierung der Kleinodien zur Einziehung der Güter genutzt zu haben. Das geht aus einem Schreiben des Guardians und Konvents an den Rat hervor, in dem die Brüder sich und das Verhalten ihres Prokurators verteidigten.110 Der Guardian verweist zunächst darauf, dass der Vormund „auss krafft vnser Regel nach altem gebrauch“ beauftragt sei, ihre Güter zu verwalten. Im vorliegenden Fall war der Guardian selbst nicht im Kloster („aussen closter in geschefften“) und nur eine Minderheit des Konvents von „acht personn“ hätten ihre Zustimmung zur Inventarisierung gegeben. Konkret ging es um „sibenn Kelch vnd neun pacifical mit yrenn reliquien besert“, die sie „heimlich in Sweinstaln vnd sunst vorborgen“ hatten, da sie befürchteten, eine Herausgabe würde ein „grosser ewiger nachteil schad“ bedeuten. Der Rat sah sich veranlasst, sein Verhalten in dieser Sache gegenüber den Stolberger Grafen zu rechtfertigen und sich über den Vertrauensbruch der Franziskaner zu beklagen,111 die sich schutzsuchend an den Grafen gewandt hatten. An einer Eskalation des Streits war – nach Ausweis des Briefwechsels – 106 Ebd., S. 261. 107 Vgl. ebd., S. 262 f., Zitat S. 262. 108 Vgl. ebd., S. 195 f.; KOCH, Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen (wie Anm. 100), S. 72–74. 109 Vgl. KOCH, Kirchliche Probleme in Nordhausen (wie Anm. 103), S. 9 f.; KOCH, Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen (wie Anm. 100), S. 69–72. 110 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Wernigerode (im Folgenden: LASA Wernigerode), Rep. H Stolberg-Wernigerode HA B 14, Fach 5, Nr. 10. 111 LASA Wernigerode, Rep. H Stolberg-Wernigerode HA B 14, Fach 5, Nr. 11–13.

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weder den Franziskanern noch dem Rat gelegen, doch belegt er eindeutig einen Wandel in dem Verhältnis von Kloster und Stadtführung. Am 5. Februar 1525 appellierten erneut namentlich Bruder Bartholomäus und der Lesemeister Heinricus Zcymerman im Namen des Konvents von Sondershausen aus an den Stolberger Grafen, er möge sich beim Nordhäuser Rat für die „armen brüder“ einsetzen, da ihr Kloster in große Not geraten sei und die Ratsherren in „grimmigen gemuths“ ihnen gegenüber seien.112 Eine Zukunft hatten die Franziskaner – wie die anderen Klostergemeinschaften – in Nordhausen Ende 1524 nicht mehr, wie sich an verschiedenen Auflösungserscheinungen ablesen lässt: Während die Predigerbrüder in dieser Zeit wahrscheinlich ihr Studium aufgeben mussten,113 entließ der Guardian Jacobus Rindelus zum Jahreswechsel 1524/1525 den Bruder Niclaüsze Köst mit einem Zeugnis („erlich redlich undt fromlich gehalten hadt“) versehen aus der brüderlichen Gemeinschaft, damit „er sich seynes handtwercks“ zuwenden konnte.114 Als es im Kontext des Bauernkrieges am 2. Mai 1525 in Nordhausen zu einem innerstädtischen Aufstand kam, plünderten die Aufständischen auch die Klöster. In einem Schreiben des Nordhäuser Schultheißen an den Bürgermeister von Sangerhausen vom 4. Mai berichtet der Schultheiß: „Alle closter in Northawsen und umbligent closter“ seien „jemerlichen zurissen und spuliert“.115 In dieser Situation verlangte der Rat am 3. Mai von den Geistlichen den Bürgereid und unterstellte sie der Steuerpflicht.116 Dennoch lösten sich zumindest die Konvente der Dominikaner und Franziskaner nicht sofort auf oder flohen die Brüder unmittelbar nach dem Klostersturm.117 Zwar leisteten sechs

112 StadtA Nordhausen, II. Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 866 f. 113 Vgl. SPRINGER, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung (wie Anm. 101), S. 88. 114 LASA Magdeburg, Rep. U 17 I Nordhausen, Nr. 33. Zum Schicksal der Ordensleute vgl. Enno BÜNZ, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformation. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108. 115 Felician GESS (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 2: 1525–1527, Leipzig/Berlin 1917, S. 166 f., Zitat S. 167, Nr. 914. 116 Walther Peter FUCHS (Hg.)/Günther FRANZ (Mitarb.), Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland, Bd. 2, Jena 1942, S. 185, Nr. 1298. 117 Vgl. SPRINGER, Dominikaner (wie Anm. 101), S. 90. Er konnte die bisherige Annahme der Nordhäuser Geschichtsschreibung für die Dominikaner korrigieren.

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Franziskaner den Bürgereid118 und am 22. Juni bat Caspar Horter,119 „armer mitbruder des ordens der barfusser der stad Northaußen“, den Rat um eine „ziemliche Versorgung“,120 doch müssen auch einige Brüder nach der Niederschlagung des Aufstandes im Kloster verblieben sein und um ihre Habe gekämpft haben. Jedenfalls wandten sie sich, ihre Notlage beklagend, mit einem Verzeichnis der bei ihnen geplünderten Gegenstände an den Rat, der sich wohl um die Rückführung der gestohlenen Gegenstände bemühte, denn hinter einigen Namen und Sachen ist die Rückgabe oder zumindest die Absicht dazu vermerkt.121 Es handelte sich bei den zurückgeforderten Dingen fast nur um Möbelstücke und alltägliche Textilien (Tische, Schränke, Betten, Tischtücher etc.) oder Lebensmittel („etzliche seiten speck und auch rinsfleisch us dem closter getragen“). Nur „der Sturtzenbecherin [hat] man zwei teil alt und neube testament und bibel“ und „Curth Schenk und sein son haben etliche grosse pfeiffen us der orgel“ aus dem Kloster und der Kirche mitgenommen. Aus dem Verzeichnis lässt sich rückschließen, dass die Brüder primär auf ihre materielle Existenzsicherung bedacht waren, während sie an einer Fortsetzung ihres franziskanisch-klösterlichen Lebens bestenfalls sekundäres Interesse bekundeten. Die für eine vita religiosa notwendigen liturgischen Bücher und Kleinodien (etwa die in dem Streit mit dem Rat im Dezember 1524 aufgeführten Kelche, Pacifikale und Reliquien, die ja zumindest einen Teil der zur Verfügung stehenden sakralen Gegenstände ausmachten) sucht man vergebens auf der eingereichten Liste. Über deren Verbleib ist nichts bekannt. Unterdessen bemühten sich Stifterfamilien um die Rückerstattung ihres Besitzes: Im Juni 1526 baten die drei Brüder Dietrich, Friedrich und Günther von Walferode den Rat, „weil daß Closter verwüstet“ sei, um die Rückgabe der Briefe, in denen ihre Vorfahren dem Barfüßerkloster ein Holz geschenkt hatten.122 Zu welchem Zeitpunkt genau der letzte Franziskaner das Nordhäuser Kloster verließ, ist nicht mehr zu bestimmen; auch nicht, wohin sich diejenigen Brü-

118 FUCHS (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkrieges (wie Anm. 116), Bd. 2, S. 185, Nr. 1298. 119 Horter, aus einer Nordhäuser Familie stammend, ist erstmals 1519 als Mitglied des Konvents bezeugt und wird 1520 als „Ältester“ tituliert, vgl. StadtA Nordhausen, II. Abt. R La 5, fol. 1r; LATh – StA Rudolstadt, I. AC, Nr. 549; LASA Magdeburg, Rep. U 15 VII, Nr. 5b. 120 FUCHS (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkrieges (wie Anm. 116), Bd. 2, S. 503, Nr. 1695. 121 Ebd., S. 503 f., Nr. 1695, Anm. 2. 122 StadtA Nordhausen, II. Abt. Za 5: Fromann, Bd. 11, S. 876 f.

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der wandten, die ihr Klosterleben fortsetzen wollten, beziehungsweise welche weiteren Lebenswege die ehemaligen Franziskaner gingen.123

2.2. Die Franziskaner in Mühlhausen in der Reformation Der Prozess der Einführung der Reformation in der zweiten thüringischen Reichsstadt unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht markant vom Verlauf in Nordhausen.124 Dies trifft auch auf die Rolle der Franziskaner zu: In Nordhausen setzte der Rat sich frühzeitig an die Spitze der sich formierenden reformatorischen Bewegung, während der Franziskanerkonvent sich passiv verhielt und nur auf reformationsbedingte Maßnahmen reagierte. Die Brüder engagierten sich weder für den reformatorischen Aufbruch in ihrer Stadt, noch leisteten sie energischen Widerstand dagegen. In Mühlhausen zeichnete sich ein gegenteiliges Bild ab.125 Im Verlauf der wechselvollen Geschichte um die Einführung der Reformation rückten Kloster und Kirche der Minderbrüder – nicht zuletzt wegen der zentralen Lage der Anlage am Kornmarkt und in Nachbarschaft zum Rathaus – wiederholt ins Zentrum der Ereignisse; der Konvent teilte sich in aktive Gegner und Befürworter der Reformation.126

123 Ob der bei Joh[ann] He[i]nr[ich] KINDERVATER, Nordhusa illustris oder Historische Beschreibung gelehrter Leute, welche in der kayserl. Fryen Reichs=Stadt Nordhausen gebohren […], Wolfenbüttel 1715, in der Vorrede genannte „Leonhard Kirchmajer, vorhero Vice-Guardian, Franciscaner-Ordens/A. 1544. aber Evangel. Prediger im Bruderhauss allhier; Entschlieff in Gott a. 1558“ dem Nordhäuser Konvent angehörte, ist nicht zu belegen. Eine Ausnahme bildet der Franziskaner Thomas Weiß, vgl. Petra WEIGEL, Thomas Weiß. Franziskaner in Eisenach – Guardian in Langensalza – Evangelischer Kaplan in Gotha, in: Enno BÜNZ/Stefan TEBRUCK/Helmut G. WALTHER (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 24), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 555–604. Es fehlen biographische Studien zu thüringischen Franziskanern in der Reformationszeit. 124 Vgl. MÜLLER, Frühreformation und Bauernkrieg (wie Anm. 100), passim. 125 Vgl. Thomas T. MÜLLER, Ein ehrbarer Rat, entlaufene Mönche und streitbare Weiber. Zu den reformatorischen Bestrebungen in der Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen bis zum Jahr 1525, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 4), S. 143–153. Eine moderne monografische Darstellung der Reformation in Mühlhausen fehlt. 126 Zum Folgenden vgl. Richard SCHEITHAUER, Das Franziskanerkloster zu Mühlhausen in Thüringen, in: Franziskanische Studien 10 (1923), S. 267–278, hier S. 270–274; Thomas T. MÜLLER, Das doppelte Ende des Mühlhäuser Franziskanerklosters, in: DERS./ SCHMIES/LOEFKE (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 1), S. 149–157.

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Ziemlich genau ein Jahr nachdem mit der Einsetzung des ehemaligen Priors der Nordhäuser Augustiner-Eremiten Lorenz Süße zum Pfarrer von St. Petri die Reformation in Nordhausen fassbar wird, regte sich im Februar 1523 auch in Mühlhausen reformatorischer Geist, folgenreich verkündet durch die Predigt des ehemaligen Zisterziensers Heinrich Pfeiffer vor der St. Marien-Kirche. Der Auftritt Pfeiffers löste Unruhen aus und es formierte sich eine reformatorische Bewegung in der Stadt, die gegen den Rat opponierte. Unterstützung fand dieser Aufbruch von zwei, beziehungsweise drei Franziskanern, die aus dem Konvent austraten, aber in der Stadt verblieben und fortan reformatorisch predigten: Johann Rothemeler127 und Johann Koler, die nicht nur in verschiedenen Kirchen und Kapellen in der Stadt, sondern auch in einigen Ratsdörfern im Umfeld evangelisch predigten und damit gewissermaßen ihre eingeübte franziskanische Predigtweise, aber auch ihre gewohnten Predigträume unter veränderten Vorzeichen weiterführten und nutzten. Als dritter nunmehr protestantischer Prediger aus dem Mühlhäuser Konvent wird Georg Koch genannt, der wie Johann Koler alsbald heiratete, jedoch im weiteren Verlauf der Ereignisse nicht mehr auftaucht.128 Eine stetig wachsende reformatorische Opposition setzte die zögerlichhinhaltende Ratsobrigkeit zunehmend unter Druck. Im Juli 1523 kam es dann zu Tumulten um die Einführung der Reformation und eine künftige Stadtverfassung, bei denen das Franziskanerkloster zu einem Schauplatz der Ereignisse und in Mitleidenschaft gezogen wurde, als sich dort eine aufgebrachte Menge zum Essen und Trinken versammelte, während eine Delegation mit dem Rat verhandelte. Ende Dezember 1524 eskalierte die Situation erneut, als es zu Ausschreitungen im Kloster kam und Rotemeler und Koler forderten, in der Klosterkirche predigen zu dürfen. Dies verweigerte ihnen der Guardian Johann Coci, woraufhin einer der beiden ehemaligen Franziskaner die Predigt des Lektors in der Klosterkirche unterbrach und es zu wüsten Beschimpfungen kam. Dem amtierenden Guardian warfen sie nach dem Eklat öffentlichkeitswirksam Amtsmissbrauch und Bereicherung vor, wodurch sich der Guardian zur Amtsaufgabe und Flucht veranlasst sah. Unmittelbar nach der Plünderung des Klosters begab sich am 28. Dezember 1524 der Rat ins Kloster. Dort forderte der Bürgermeister die Brüder auf, die noch vorhandenen liturgischen Gerätschaften, Messgewänder sowie Küchen- und anderen Hausrat dem Rat zu übergeben, um anschließend die Aufhebung des Konvents zu verkünden. Die ausgewiesenen 127 Vgl. Gerhard GÜNTHER, Johann Rothemelers Sendbrief an die Mühlhäuser vom Jahre 1525, in: Siegfried HOYER (Hg.), Reform, Reformation, Revolution. Ausgewählte Beiträge einer wissenschaftlichen Konferenz in Leipzig am 10. und 11. Oktober 1977, Leipzig 1980, S. 233–241, hier besonders S. 235. 128 Vgl. MÜLLER, Das doppelte Ende (wie Anm. 126), S. 151.

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Brüder – vermutlich sind sie nach Langensalza ausgewichen – wandten sich den ebenfalls betroffenen Dominikanern gleich, an den kaiserlichen Statthalter, der seinerseits die sächsischen Fürsten sowie den Landgrafen von Hessen aufforderte, sich für die Rückkehr der vertriebenen Mendikanten und Ordensfrauen nach Mühlhausen einzusetzen. Indes führte angesichts des Ausbruchs des Bauernkrieges die Initiative zu keinem greifbaren Ergebnis. Erst nach Ende des Krieges unter einem nunmehr wieder altgläubigen Rat und vor allem auf Betreiben Herzog Georgs von Sachsen, der alternierend mit dem hessischen Landgrafen sowie dem sächsischen Kurfürsten die Schutzherrschaft ausübte, gelang die Restitution des Konvents. Damit nicht genug, forderte der in der Kloster- und Ordensreform ebenso erfahrene wie ambitionierte Herzog die Mühlhäuser Brüder zum Obödienzwechsel auf.129 Auf dem Kapitel der Sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuz 1529 baten auf ausdrücklichen Wunsch Georgs die Mühlhäuser Brüder um die förmliche Aufnahme in die Provinz. Damit trafen sie eine Entscheidung, der sie sich über viele Jahrzehnte beharrlich verweigert hatten und überdies mehr als zehn Jahre nachdem Papst Leo X. den Richtungsstreit für beendet erklärt hatte. Dass diese Auseinandersetzung zumindest in Thüringen immer noch nachwirkte, zeigen die Mühlhäuser Ereignisse. Denn Georg Frobin, Kustos der Kustodie Thüringen der martinianischen Provinz vom Heiligen Johannes dem Täufer, zu welcher der Mühlhäuser Konvent seit 1518/21 gehörte, wehrte sich vehement gegen das Ansinnen der Mühlhäuser Brüder sowie ihres sächsischen Schutzherrn und suchte um Unterstützung beim Rat nach. Dieser positionierte sich nach anfänglichem Zögern aufseiten der Martinianer. Auslösendes Moment war wohl die Drohung verschiedener Familien Mühlhausens, ihre Stiftungen an das Kloster für den Fall eines Provinzwechsels einzuziehen. Dagegen insistierte Herzog Georg, der sich davon eine bessere franziskanische Predigttätigkeit versprach, die er angesichts eines protestantischen Umfelds als dringend erforderlich ansah, erfolgreich auf einen Anschluss an die observante Provinz. Dieser Wunsch des Herzogs erfüllte sich in der Folge aber wohl nicht wirklich, denn das Kloster blieb auf Unterstützung durch auswärtige Prediger des Ordens angewiesen. Jedenfalls bat der Rat 1541 den Provinzial in Gandersheim vergeblich um die Abstellung eines Predigers für Mühlhausen. Diese reichlich verspätete Reform des Konvents musste angesichts der Reformation eine Episode bleiben, denn unter Georgs († 1539) evangelischen Nachfolgern Heinrich (ab 1536 lutherisch) und dessen Sohn Moritz (ab 1541) erfolgte – nach 1524/25 – im Jahr 1542 die zweite Aufhebung des Mühlhäuser Franziskanerklosters. Als es 1548 zu einem erneuten Konfessionswechsel 129 Vgl. Christoph VOLKMAR, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 41), Tübingen 2008, hier speziell S. 552 f.

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kam, bemühte sich der Stadtrat zwar wieder um eine Besetzung des Klosters, doch sahen sich die angefragten Konvente in Halberstadt und Eger nicht imstande, Brüder nach Mühlhausen zu entsenden. Die Klosterkirche blieb bis Anfang 1566 Kirche der katholischen Minderheit, allerdings ohne personelle Beteiligung der Franziskaner. Nach allzu später Klosterreform und doppeltem Ende des Klosters (Thomas T. Müller) in der Reformation reüssierte in der franziskanischen Ordensgeschichtsschreibung, aber auch in der reichsstädtisch-protestantischen Chronistik des 17. Jahrhunderts mit Hermann von Gerstungen ein Mühlhäuser Franziskaner des 13. Jahrhunderts, der – als Heiliger verehrt – im Chor der Klosterkirche bestattet worden sein soll.130 Dieser historisch nur schwer fassbare Minderbruder erzielte aus konfessionell unterschiedlichen Gründen eine Bekanntheit, die im Sinne des hier thematisierten franziskanischen Selbstverständnisses verdeutlicht, dass der Mühlhäuser Konvent über das kollektive Gedächtnis als bleibender Bestandteil des Gesamtordens zu verstehen ist. So erinnert nicht allein die frühneuzeitliche Historiographie und Hagiographie des Ordens an Hermann von Gerstungen: Im Franziskanerkloster in Graz in der Steiermark bleibt er in bildhafter Erinnerung. Dort ist er als eine von insgesamt 42 Ordenspersönlichkeiten für einen Bilderzyklus im 17. und 18. Jahrhundert porträtiert worden und noch heute sichtbar.131

130 Vgl. Helge WITTMANN, „cujus corpus in hanc incorruptus inter Heterodoxos sub humo latitat Mühlhusii“ – Der hl. Hermann als katholischer Erinnerungsort in der protestantischen Reichsstadt Mühlhausen, in: LAU/WITTMANN (Hg.), Reichsstadt im Religionskonflikt (wie Anm. 100), S. 253–287. 131 Franziskanerkloster Graz, Franziskanerplatz 14, A–8010 Graz. Bruder Dr. Paul Zahner OFM (Graz) bereitet eine Publikation zum Grazer Bilderzyklus vor.

T H O M A S T. M Ü L L E R REZESSION UND KLOSTERSTURM

Rezession und Klostersturm Die Eichsfelder Monasterien in vor- und frühreformatorischer Zeit

1. Einleitung „[…] nach dem brande des closters Reifenstein wer ehr als ein bruder desselben closters ken Reifenstein kommen und do sein elend, wie das closter verprent, gesehen. Wer ein alt weib zu ime kommen, die hette gesagt, sie hette noch haus und hof doselbst zu Reifenstein. Die mönch hetten sie wollen vertreiben, doch were sie blieben und der teufel hette gleich wol die mönch alle hinwegk gefurt, das nimmer mehr keiner darkummn solle.“

Die Worte, der alten Frau, erklärte der ehemalige Reifensteiner Zisterzienser Bernhard Mutingk später im Verhör, hätten ihn in jenem Jahr 1525 zu dem Entschluss „bewegt, das ehr ader seine brueder nit mehr solten gen Reifenstein kommen und [er] das uberigk heuslein, so noch unvorbrennt da gestanden, angezunt und auch vorbrennt“.1 Mutingks Zeugnis stellt exemplarisch dar, in welchem Zwiespalt sich viele Mönche und Nonnen in jener Umbruchszeit befanden. Welcher Weg zum Heil der richtige sei, war keineswegs so deutlich vorgezeichnet wie noch wenige Jahrzehnte zuvor. Die einen traten aus ihren Klöstern aus und schlossen sich begeistert der Reformation an, andere kehrten in ihre Familien zurück, wieder andere hielten an ihrem bisherigen Lebensstil fest.2 Dies gilt auch für die Bewohner der Eichsfelder Monasterien. 1 2

Stadtarchiv Mühlhausen (im Folgenden: StadtA Mühlhausen), 10/K 3, Nr. 20, fol. 179v (Aussage des Bernhard Mutingk). Vgl. grundlegend zum Thema auch Johannes SCHILLING, Gewesene Mönche. Lebensgeschichten in der Reformation (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge, 26), München 1990; DERS., Klöster und Mönche in der hessischen Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 67), Gütersloh 1997; Enno BÜNZ, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015, S. 81–108. Im europäischen Kontext vgl. Eike WOLGAST, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte,

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In der Kurmainzer Exklave existierten zu Beginn des 16. Jahrhunderts sieben Klöster sowie ein Chorherrenstift.3 Eine entscheidende Zäsur für alle bildete vom 1. bis 5. Mai 1525 der sog. „Eichsfeldzug“ regionaler Aufständischer während des Thüringer Bauernkrieges. Jene hatten sich seit den letzten Apriltagen um die von der benachbarten Reichsstadt Mühlhausen aus agierenden radikalen Reformatoren Heinrich Pfeiffer und Thomas Müntzer geschart und erhielten auch aus dem Eichsfeld großen Zulauf.4 Letzteres hing insbesondere mit den hervorragenden Verbindungen Heinrich Pfeiffers ins Eichsfeld zusammen. Dort war er bis 1521 Mönch im Kloster Reifenstein gewesen. Nach seinem Austritt hatte er noch längere Zeit in der Region evangelisch gepredigt, bevor er 1523 in seine Heimatstadt Mühlhausen zurückgekehrt war.5 Direkt vom Eichsfeldzug waren in jenen ersten Maitagen des Jahres 1525 allerdings nur vier Monasterien betroffen, nämlich die Zisterzienserinnenklöster Beuren, Teistungenburg und Worbis sowie das Zisterzienserkloster Reifenstein. Allerdings kam es auch in den anderen drei Eichsfelder Niederlassungen in Anrode (Zisterzienserinnen), Gerode (Benediktiner) und Zella (Benediktinerinnen) sowie im Heiligenstädter St.-Martins-Stift zu teils schwerwiegenden Übergriffen. Eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse im April und Mai 1525 ist heute nur noch bedingt möglich. Als besonders ergiebige Quelle haben sich jedoch in diesem Kontext neben den späteren Protokollen der Verhöre von direkt oder indirekt Beteiligten insbesondere die Schadenslisten der betroffenen Klöster erwiesen. Zudem liefern diese aufgrund ihrer Detailliertheit nicht nur wichtige Informationen für eine Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse am Vorabend der Reformation, sondern geben auch Auskunft über die existentielle Bedrohung, mit welcher die Eichsfelder Monasterien durch die teilweise oder

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89), Gütersloh 2014. Zur Situation im Deutschen Orden vgl. exemplarisch Thomas T. MÜLLER, Frühreformation, Bauernkrieg und Deutscher Orden. Das Beispiel Mühlhausen in Thüringen, in: Thomas T. MÜLLER (Hg.), Der Deutsche Orden und Thüringen. Aspekte einer 800-jährigen Geschichte (Mühlhäuser Museen. Forschungen und Studien, 4), Petersberg 2014, S. 91–102. Einen Überblick gibt Bernhard OPFERMANN, Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte, bearbeitet und ergänzt von Thomas T. MÜLLER und Gerhard MÜLLER, Heiligenstadt 31998. Vgl. hierzu demnächst ausführlich Thomas T. MÜLLER, Mörder ohne Opfer. Die Reichsstadt Mühlhausen und der Bauernkrieg in Thüringen. Studien zu Hintergründen, Verlauf und Rezeption der gescheiterten Revolution von 1525, Petersberg 2018. DERS., Vom Zisterzienser zum Prediger im Bauernkrieg. Heinrich Pfeiffers Beziehungen zum Kloster Reifenstein, in: Cistercienser-Chronik 120 (2013), S. 381–388.

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vollständige Zerstörung ihrer Gebäude im Zuge des Bauernkrieges konfrontiert wurden.6 Vor allem auf jener Grundlage soll im Folgenden die in diesem kurmainzischen Herrschaftsgebiet, insbesondere durch den Aufstand von 1525 geprägte, frühreformatorische Situation näher betrachtet werden.

2. Die Eichsfelder Klöster vor der Reformation Das älteste Kloster des Eichsfeldes war die Benediktinerniederlassung in Gerode.7 Bereits um 1100 gestiftet und mit Besitzungen versehen, verfügte das Kloster im Mittelalter u. a. über Blutbann, Marktrecht und Münzrecht, die Freiheit der Abtwahl sowie eine Befreiung von Abgaben und Diensten. Bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gab es eine stetige Aufwärtsentwicklung, so dass Gerode neben dem im 12. Jahrhundert entstandenen Zisterzienserkloster Reifenstein8 zu einem der bedeutendsten Klöster der Region wurde. Für beide Männerklöster endete die stetige Prosperität bereits im ausgehenden 14. Jahrhundert. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang ein langjähriger Streit des Klosters Reifenstein mit Bauern des Mühlhäuser Ratsdorfes Horsmar in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.9 In Gerode wurde der amtierende Abt in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Abt des Erfurter Petersklosters wohl nicht zuletzt wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Situation zur Resignation gezwungen. Sein aus dem Erfurter Reformkloster stammender Nachfolger leitete den Anschluss des Monasteriums an die Bursfelder Kongre6

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Vgl. DERS., Der Bauernaufstand im Eichsfeld. Verlauf und Wirkungen im Spiegel der Schadenslisten der Klöster Reifenstein, Beuren, Teistungenburg und Worbis, in: Günter VOGLER (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008, S. 157– 177. Einen Überblick zur Klostergeschichte bieten Georg KOHLSTEDT/Helmut FLACHENECKER, Gerode, in: Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen (Germania Benedictina, X/1), St. Ottilien 2011, S. 443–463; Philipp KNIEB, Zur Geschichte des ehemaligen Benediktinerklosters Gerode, in: Unser Eichsfeld 8 (1913), S. 44–59, 83–100, 129–144 u. 218–233. Zum Folgenden vgl. Gerhard MÜLLER, Reifenstein, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/2), St. Ottilien 2011, S. 1288–1321. Zur Gründung des Klosters vgl. Holger KUNDE, Die Stiftungsurkunde des Zisterzienserklosters Reifenstein aus dem Jahre 1162, in: Eichsfeld-Jahrbuch 9 (2001), S. 5–20. Gerhard GÜNTHER, Bauern, Kloster und Stadt. Ein Streit zwischen dem Kloster Reifenstein und Bauern des reichsstädtischen Dorfes Horsmar aus dem 15. Jahrhundert, in: Eichsfelder Heimathefte 18 (1978), S. 4–26.

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gation ein. Dennoch konnte die wirtschaftliche Konsolidierung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts nicht erreicht werden. In Reifenstein sorgte 1514 indessen ein Überfall durch Mühlhäuser Bürger für einen Schaden von 1.000 Gulden, den der Mühlhäuser Rat erst nach wiederholter Aufforderung erstattete.10 Insgesamt war in der Zisterze der ehemals große Reichtum bis zum Jahr 1525 bereits deutlich zusammengeschmolzen. Aber auch um die geistliche Arbeit war es nicht zum Besten gestellt. Zwischen 1513 und 1524 hatten drei Äbte binnen weniger Jahre wieder resigniert und zum Konvent zählten 1524 nur noch sechs Patres.11 Trotz der fortschreitenden Rezession scheint die Niederlassung in Anbetracht der nach dem Bauernkrieg aufgelisteten Schäden in Höhe von rund 6.000 Gulden12 jedoch noch immer über in Ausstattung und Größe beachtliche Immobilien verfügt zu haben. Indirekt wird durch die Erwähnung von alter und neuer Abtei darüber hinaus von einer Bautätigkeit berichtet, die allerdings 1525 auch schon einige Jahrzehnte zurückgelegen haben könnte. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für die Frauenkonvente konstatieren. Spätestens für das 15. Jahrhundert ist auch im Benediktinerinnenkloster ZellaFriedenspring eine Rezession anzunehmen. 1517 werden in einer Urkunde neben der Priorin noch eine Küsterin und eine Kämmerin genannt. Da 1649 bei einem Brand im Mühlhäuser Klosterhof alle Unterlagen verloren gingen, lassen sich jedoch zum Zustand des Monasteriums kurz vor dem Bauernkrieg keine genauen Angaben machen.13 Anders verhält es sich mit der um 1200 fundierten Zisterze Beuren. Schon in den ersten Jahrzehnten des Bestehens hatte die Niederlassung umfangreichen Besitz hinzugewinnen und schließlich auch die niedere Gerichtsbarkeit erlangen können. Bereits um 1260 war Kloster Beuren überbesetzt und gründete in 10 Allerdings wird dieser Mühlhäuser Überfall von 1514 nicht selten fälschlich in das Jahr 1314 datiert, vgl. z. B. Wolfgang GRESKY/Hans PATZE, Art. Reifenstein, in: Hans PATZE/Peter AUFGEBAUER (Hg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 9: Thüringen, Stuttgart 21989, S. 346–348, hier S. 347. 11 Anlässlich der Einführung des neuen Abtes, Matthias Rüdiger, ließ Abt Nikolaus von Volkenroda in Reifenstein ein Inventar anfertigen, das eine recht einfache Ausstattung des Klosters zeigt. Aufgeführt wurden darin lediglich sieben Betten, 16 Zinnteller und nur zwei Tischdecken. Weit besser war die Ausstattung der Kirche mit Vasa Sacra. So gab es allein 15 Kelche. Vgl. Philipp KNIEB, Geschichte der Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfelde, Heiligenstadt 21909, S. 12. 12 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Magdeburg (im Folgenden: LASA Magdeburg), Rep. A 53 M, Nr. 52 II, fol. 5r–6v. 13 Philipp KNIEB, Zur Geschichte des Klosters Zella, in: Unser Eichsfeld 4 (1909), S. 13–22 u. 58–74; OPFERMANN, Die Klöster des Eichsfeldes (wie Anm. 3), S. 103–118; Klaus LEOPOLD, Kloster Zella und seine Dörfer Effelder und Struth im Bauernkrieg, in: Eichsfelder Heimathefte 27 (1987), S. 15–23.

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Teistungenburg ein Tochterkloster. 1311 erfolgte gemeinsam mit dem Zisterzienserinnenkloster Anrode eine weitere Tochtergründung in Worbis. Besonders der Eichsfelder Adel förderte Kloster Beuren, was wenig verwundert, da immer wieder Frauen aus diesen Adelsfamilien als Nonnen in Beuren zu finden waren. Ab etwa 1320 sind allerdings kaum noch Gütererwerbungen nachzuweisen. Für das 15. Jahrhundert wird von einem sittlichen und wirtschaftlichen Verfall berichtet.14 Für die Beurener Filiation Teistungenburg wurden die Jahrzehnte nach der endgültigen Loslösung vom Mutterkloster zur ersten Blütezeit. 1303 musste Erzbischof Gerhard von Mainz sogar die Zahl der Nonnen von 60 auf 40 herabsetzen. Die Fehden des 14. und 15. Jahrhunderts gingen jedoch auch an Teistungenburg nicht spurlos vorbei. Naturgewalten und schlechte Wirtschaftspolitik trugen außerdem dazu bei, dass es im frühen 16. Jahrhundert nicht besonders gut um das Kloster bestellt war. Dennoch sind durch die Schadenslisten noch kurz vor dem Bauernkrieg mehrere Neubauten (u. a. der Klosterküche sowie der Badestube) belegt.15 Wohl deutlich schlechter verhielt es sich mit dem Zisterzienserinnenkloster Anrode. Bereits seit dem 15. Jahrhundert war die Abtei anscheinend nicht mehr in der Lage gewesen, die umfangreichen Ländereien angemessen zu bewirtschaften und zu verwalten. 1476 hatte der Mainzer Erzbischof eine Visitation angeordnet, da der Administrator wegen seiner verlustbringenden Güterverwaltung angezeigt worden war. 1510 sollte eine erneute Visitation zu einer Reform des Konvents „in capite et membris“ führen.16 Auch von der erst 1311 gegründeten Worbiser Zisterze mussten bereits im 15. Jahrhundert Besitzungen verkauft oder verpfändet werden, um die Versor-

14 Zum Kloster vgl. Adalbert DÖLLE, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren im Eichsfeld, Duderstadt 1998; Anna EGLER, Beuren, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/1), St. Ottilien 2011, S. 225–265. 15 Zum Kloster vgl. Helmut GODEHARDT, Aus der Geschichte des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Teistungenburg, Duderstadt 1999; Anna EGLER, Teistungenburg, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchsund Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/2), St. Ottilien 2011, S. 1454–1496. 16 Zum Kloster vgl. Nikolaus GÖRICH, Geschichte des eichsfeldischen ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Anrode, Duderstadt 1932; Anna EGLER, Anrode, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/1), St. Ottilien 2011, S. 62–112.

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gung der Nonnen sicherzustellen. 1521 war die Not so groß, dass die Nonnen beim Kurfürsten um die Erlaubnis zum Sammeln von Almosen ersuchten.17 Insgesamt stellt sich die Lage in den Eichsfelder Monasterien am Vorabend des Bauernkrieges also durchaus differenziert dar. Während in den beiden Männerklöstern trotz schwindender Einnahmen anscheinend noch ein einigermaßen verträgliches Einkommen vorhanden war, scheint die Lage in den meisten Frauenklöstern deutlich schlechter gewesen zu sein. Um das geistliche Leben wird es hingegen überall nicht mehr besonders gut bestellt gewesen sein. Inwieweit reformatorische Ideen in den Eichsfelder Monasterien bis zum Jahr 1525 bereits Fuß fassen konnten, ist unklar. Lediglich für Reifenstein ist durch das Wirken Heinrich Pfeiffers ein eindeutig reformatorischer Einfluss nachweisbar.

3. Die Eichsfelder Klöster im Bauernkrieg Entgegen früheren Vermutungen konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass die Klöster Reifenstein, Beuren, Teistungenburg und Worbis bereits vor den Übergriffen und Brandlegungen während des Eichsfeldzuges durch die Einwohner der umliegenden Dörfer geplündert worden waren.18 Überhaupt nicht vom Eichsfeldzug tangiert wurden hingegen die Klöster Zella-Friedensspring und Anrode. Die Verantwortung für deren Plünderung dürfte vor allem bei einem bislang nicht näher bekannten Südeichsfelder Haufen unter der Führung des Diedorfers Hans Thomas gelegen haben. Jener hatte, allerdings angeregt durch entsprechende Schreiben der beiden Prediger aus Mühlhausen,19 kurz zuvor damit begonnen, selbst Briefe in die umliegenden 17 Thomas T. MÜLLER, Worbis, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/2), St. Ottilien 2011, S. 1593–1611; DERS., Das vergessene Kloster. Die Zisterzienserinnen in Worbis (1311–1540), in: DERS. (Hg.), Wurbeke – Worweze – Stadtworbis. Beiträge zur Geschichte der Stadt Worbis, Duderstadt 2005, S. 203–218. 18 Zu den Abläufen vgl. Thomas T. MÜLLER, Thomas Müntzer im Bauernkrieg. Fakten – Fiktionen – Desiderate (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, 23), Mühlhausen 2016, S. 34–48. 19 Vgl. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 266r (Aussage des Valentinus Buntingk). Die dortige Haltung gegenüber den Klöstern lässt sich leicht daran erkennen, dass bereits im September 1524 in Mühlhausen Beschwerden darüber eingegangen waren, dass die Mühlhäuser den Klöstern Zella und Anrode sowie dem Stift in Heiligenstadt fällige Zinsen und Renten nicht mehr zahlten; vgl. [Reinhard] JORDAN, Aus den Jahren 1524–1525, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 11 (1910/11), S. 1 f.

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Dörfer des Kurmainzer Amtes Bischofstein zu versenden, in denen er die Bauern zum Aufstand aufforderte.20

Abb. 1: Torhaus des Klosters Zella, 2017

Gemeinsam mit dem Reisigen Heinrich Keyser aus dem hessischen Volkershausen habe er ein „fennelin aufgericht“ und wäre mit seinen Anhängern zuerst nach Zella gezogen, heißt es in einer späteren Zeugenaussage. Dort angekommen, verschafften sie sich gewaltsam Zutritt und plünderten das Monasterium.21 Den Plünderern zum Opfer fiel vor allem Kirchengerät, aber auch Wachs und Lebensmittel wurden entwendet. Allem Anschein nach fand auch ein Kirchensturm statt, da auf einem Fragment einer Schadensliste u. a. die Zerstörung von Reliquien vermerkt ist. Demzufolge seien u. a. zwei antike Schädel eingeschlagen worden, von denen einer dem heiligen Bartholomäus, der andere hingegen einer der 11.000 Jungfrauen gehört haben sollte.22 Zudem beklagten Priorin Barbara 20 Vgl. die Aussagen des Hanns Weingarthen (StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 255r) und des Frantz Konig (LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 I, fol. 247r). 21 Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland (im Folgenden: AGBM), Bd. 2, hg. von Walther Peter FUCHS unter Mitarbeit von Günther FRANZ, Jena 1942, S. 940, Nr. 2146. 22 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (im Folgenden: SHStA Dresden), Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9136, Nr. 8, fol. 5r; Edition der vollständigen Schadensliste in LEOPOLD, Kloster Zella (wie Anm. 13), S. 19 f.

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Jakob und Propst Jakob Hentz die Entwendung von Rindern, Schweinen und Schafen sowie das Abstechen und Abfischen zweier Teiche.23

Abb. 2: Ansicht des Klosters Anrode, 2015

Nach der Stürmung des Klosters Zella24 zog derselbe Haufen angeblich zum Kloster Anrode, wo er durch die Einwohner der Klosterdörfer Verstärkung erhalten habe. Auch hier sei geplündert worden, bevor einer von „des closters eigen knechte“ sowie zwei Bickenrieder das Monasterium in Brand steckten.25 23 SHStA Dresden, Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9135, Nr. 5, fol. 10r; teilweise gedruckt in AGBM, Bd. 2, S. 525 f., Nr. 1710a. 24 Allerdings scheint das Kloster Zella erst „etlich zeit“ nach der Plünderung angezündet worden zu sein. So heißt es in einer Notiz des Mühlhäuser Rates für den Mühlhäuser Vertreter auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahr 1530. Vgl. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 1b, fol. 188v; R[einhard] JORDAN, Die Stadt Mühlhausen und die Verwüstung der Klöster und Schlösser des Eichsfeldes im Jahre 1525 (Schluß) [Teil 2], in: Unser Eichsfeld 5 (1910), S. 25-48, hier S. 27 u. 39. Hierfür spricht auch, dass die Schadenssumme für Kloster Zella von ursprünglich 400 Gulden später auf 1.144 Gulden und zehn Schneeberger heraufgesetzt wurde. Klaus Leopold hat darauf hingewiesen, dass die endgültige Zerstörung des Klosters durch die Brandstiftung auch im Zusammenhang mit den Aktionen flüchtiger Aufständischer im Sommer und Herbst 1525 gestanden haben könnte. Vgl. LEOPOLD, Kloster Zella (wie Anm. 13), S. 20. 25 AGBM, Bd. 2, S. 940, Nr. 2146.

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Die Verluste in Anrode bezifferte Äbtissin Elisabeth Luchtenwald auf rund 2.500 Gulden.26 Grundsätzlich wies das Vorgehen damit keinerlei Unterschiede zu jenem der Beteiligten am Eichsfeldzug auf. Auch die Übergriffe auf die Klöster Reifenstein, Beuren, Teistungenburg und Worbis liefen nach demselben Muster ab, fast immer auch von ikonoklastischen Ausschreitungen begleitet. Allerdings berichtete Hans Merfross, ein Dienstmann Hans von Entzenbergs, als Augenzeuge, dass auch die letztgenannten Klöster bereits vor dem Eintreffen des Mühlhäuser Haufens durch die Bewohner der umliegenden Dörfer geplündert worden waren. Die Brandlegung der Monasterien, so schränkte er ein, sei allerdings erst während des Eichsfeldzuges erfolgt.27 Bei Weitem am schlechtesten ist die Quellenlage zur Plünderung des Klosters Gerode. Sicher ist lediglich, dass es Übergriffe auf das Monasterium gegeben hat. So beklagte Abt Petrus II. u. a. die Zerstörung der Klosterkirche und aller Klosterbauten durch Brandlegung, die Entwendung von acht Glocken und der Orgel, den Verlust von zahlreichen Büchern sowie allen Vorräten aus dem Kloster. Auch das Vieh und landwirtschaftliches Gerät wurden entwendet, die Teiche abgestochen und abgefischt. Den Gesamtschaden veranschlagte der Abt auf 4.500 Gulden.28 Wie in Anrode und Zella sollen auch hier vor allem die Eichsfelder selbst, insbesondere die Einwohner der umliegenden Klosterdörfer, verantwortlich gewesen sein.29 Eine direkte Beteiligung des Mühlhäuser Haufens lässt sich hingegen nicht belegen. 26 Teilweise gedruckt in: AGBM, Bd. 2, S. 526, Nr. 1710a. 27 StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 173r (Aussage des Hans Merfross). Letzteres bestätigte auch Hans Gentzell, der selbst am Eichsfeldzug teilgenommen hatte. Er habe „gehoert, das etliche neben dem haufen umb die wagen her gangen, die hetten gesagt, wie sie die closter gepluendert und angestegkt. Ob das Eichsfelder und ander gewesen, das konne ehr nit sagen.“ Vgl. ebd., fol. 294r (Aussage des Hans Gentzell). Auch der vormalige Teistungenburger Propst, Stefan Hoegreff, gab indirekt zu, dass die Burgen und Klöster im Eichsfeld zuerst von den eigenen Untertanen geplündert worden seien. Die Brandlegung jedoch, so betonte er, sei vom Haufen ausgegangen, wenngleich diesem vielleicht auch Eichsfelder angehört hätten. Vgl. LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 IV, fol. 57v (Aussage des Stefan Hoegreff). Nahezu identische Aussagen liegen vom Reifensteiner Zisterzienser Daniel Hugk (LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 I, fol. 123r) und vom Seebacher Reisigen Hans Koch (ebd., fol. 136r) vor. Bezüglich des Klosters Teistungenburg gab Propst Hoegreff an anderer Stelle durchaus zu, dass unter den Plünderern auch Nachbarn des Klosters gewesen seien, denn nach dem Aufstand habe er bei einigen von ihnen Hausrat aus dem Kloster entdeckt, den diese dann zurückgeben mussten. Vgl. LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 IV, fol. 55r (Aussage des Stefan Hoegreff). 28 SHStA Dresden, Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 9135, Nr. 5, fol. 9r. 29 Philipp KNIEB, Geschichte der Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfelde, Heiligenstadt 21909, S. 28 f. Der Brief des Geröder Abtes Nikolaus zu den Plünderungen

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Entwendet wurde in den Klöstern prinzipiell alles, was irgendwie zu transportieren war. Allein in Reifenstein wurden Messgewänder, Altartücher, Tischtücher, verschiedene Kisten und Kästen, wertvoller Schmuck, Betten und anderer Hausrat im Gesamtwert von 100 Gulden davongetragen. Hervorzuheben ist hier der Verlust aller Bücher des Klosters, „so sie [diese] uf ihrer liberey“, in der Kirche oder andernorts im Kloster aufbewahrt hatten: „[…] etliche [Bücher wurden] verbrandt, etliche zerhawen, die andern sonst umpracht.“ Für den Verlust der Bibliothek veranschlagten Abt und Konvent die enorme Summe von 2.000 Gulden und damit ein Drittel der geforderten Entschädigung.30 Besonders begehrt war in allen Monasterien das Klosterbier. In Reifenstein wurden immerhin 18 Fass abtransportiert bzw. vor Ort verzehrt. Für das Bier samt dem Holz für die Fässer verlangten die Reifensteiner Mönche die Erstattung von 30 Gulden. Überhaupt hätten die Aufständischen überall schwer gewütet, „gefressen und gesoffen, und was sie nit gesoffen, die boden ausgeschlagen, und alles, was im closter gewesen, orgeln und anders, zubrochen und mit fussen getreten, darzu die glocken zusschlagen und sambt dem vihe hinwegk gefurt und ubell in diesem closter gehandelt, das nichts dablieben wer“, erklärte der Reifensteiner Mönch Bernhard Mutingk später bei einer Zeugenbefragung.31 Allerdings ist auch belegt, dass der ungebetene Besuch keines der Eichsfelder Klöster völlig überraschend heimsuchte. So hatte Anrodes Propst Arnold Luckart noch rechtzeitig veranlasst, dass die Kleinodien, Urkunden und Siegel aus Anrode sowie Zella nach Heiligenstadt in Sicherheit gebracht wurden.32 Er selbst war mit den meisten Nonnen nach Heiligenstadt geflohen.33 Zwei Anröder Zisterzienserinnen baten allerdings den Büttstedter Ackermann Hans

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den Duval zitiert (vgl. Carl DUVAL, Das Eichsfeld, oder historisch-romantische Beschreibung aller Städte, Burgen, Schlösser, Klöster, Dörfer und sonstiger beachtungswerther Punkte des Eichsfeldes, Sondershausen 1845, S. 254), bezieht sich nicht, wie dieser meint, auf den Bauernkrieg, sondern auf die Plünderung des Klosters im Dreißigjährigen Krieg. LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 II, fol. 5r–6v. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 178v (Aussage des Bernhard Mutingk). Auch der Reifensteiner Zisterzienser Daniel Hugk erinnerte sich, dass dabei das Chorgestühl und die Orgel zerbrochen worden seien (LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 II, fol. 66r–v). LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 III, fol. 87v (Aussage des Arnold Luckart). Auch in der direkten Nachbarschaft des Eichsfeldes zeigten sich Klostervorstände ob der Entwicklungen besorgt. So wird beispielsweise vermutet, dass die Einrichtung eines ausführlichen Lagerbuches für das Chorfrauenstift „St. Johannes“ zu Katlenburg im Jahr 1525 in direktem Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Bauernkrieg stand. Vgl. HansJoachim WINZER, Das Kloster Katlenburg und sein Lagerbuch von 1525, Duderstadt 1997, S. 40. LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 I, fol. 131v (Aussage des Arnold Luckart).

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Gerecke, sie gegen Bezahlung zu ihren Eltern zu bringen. Ein Geschäft, das sich der Mann nicht entgehen ließ.34 Auch die Beurener Zisterzienserinnen hatten noch kurz vor der ersten Plünderung des Klosters in aller Eile nach Heiligenstadt flüchten können.35 Mitgenommen hatten sie die wichtigsten Urkunden und alle ihre tragbaren Wertgegenstände. Der kurmainzische Schultheiß von Bodenrode, Jacob Meißener, hatte ihnen einen Wagen voll Korn, Hafer und Speck, „was sie in der eyll konnden uffwerffen“, nach Heiligenstadt gebracht.36 Auch der Propst von Teistungenburg hatte nicht nur die Nonnen, sondern auch die wichtigsten Dokumente, das Klostersiegel und die wertvollsten Vasa Sacra ins benachbarte Duderstadt in Sicherheit bringen können.37 In Reifenstein war sogar eine schriftliche Warnung des Eichsfelder Oberamtmanns mit dem Hinweis auf bevorstehende kriegerische Handlungen eingegangen. Veranlasst hatte das Schreiben der Erzbischöfliche Kommissar für das Eichsfeld, Jakob Stauffenbuell, der wenige Tage zuvor von einem bevorstehenden Zug der Mühlhäuser ins Eichsfeld erfahren hatte.38 Während der Abt und ein Teil des Konvents des Klosters Reifenstein auf die Burg Rusteberg flüchteten,39 ging ein anderer Teil nach Heiligenstadt.40 Dorthin wurden auf drei Wagen auch die wichtigsten Urkunden, das Abtssiegel und die „kleinen kirchen gezierde“ verbracht.41 Im Großen und Ganzen waren alle Eichsfelder Monasterien einer entsprechenden obrigkeitlichen Anordnung gefolgt, nach der die Kleinodien, Urkunden und Siegel der Eichsfelder Klöster in die Städte Duderstadt und 34 Ebd., fol. 289v (Aussage des Hanns Gerecke). 35 StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 184r (Aussage des Hans Koch). Vgl. auch ebd., fol. 85r. 36 LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 V, fol. 116v (Aussage des Jacob Meyßener). Beim Beladen des Wagens hatte den Nonnen u. a. die Frau des Heinrich Gera aus Niederorschel geholfen, während ihr Mann wenig später selbst am Eichsfeldzug teilnahm. Vgl. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 195r (Aussage des Heinrich Gera). 37 LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 IV, fol. 57v–58r (Aussage des Stefan Hoegreff). Widersprüchlich zur Aussage des Teistungenburger Propstes, er habe viel Wertvolles im Kloster zurückgelassen, ist die Aussage des Klosterdieners Paul Knoppe, der wiederum berichtete, dass dem Kloster an Kleinodien, Briefen und Siegeln sowie Vasa Sacra kaum Schaden entstanden sei, weil alles rechtzeitig nach Duderstadt in Sicherheit gebracht worden sei. Vgl. ebd., fol. 126r (Aussage des Paul Knoppe). 38 Vgl. die Aussage des Hans Stauffenbuell, der dies von seinem Bruder Jakob erfahren hatte (StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 227v–228r. 39 StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 18, fol. 79v (Aussage des Reifensteiner Mönches Daniel Hugk). 40 StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 85r (Aussage des Engelhart Iringk). 41 Ebd., fol. 180r (Aussage des Bernhard Mutingk) u. 221v (Aussage des Hanns Schleicher).

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Heiligenstadt in Sicherheit zu bringen wären, je nachdem, welche Stadt für sie näher lag.42 Teilweise konnte selbst das Vieh noch versteckt werden. Diese rechtzeitige Warnung erklärt letztendlich auch, weshalb die Aufständischen in keinem der Klöster auf Nonnen oder Mönche stießen und demzufolge auch keinerlei quellenfundierte Berichte über die Misshandlung von Klosterpersonen vorliegen.43

4. Die Eichsfelder Klöster nach dem Bauernkrieg Nach dem Aufstand setzte die Suche nach den Verantwortlichen für die Spur der Verwüstung ein, die der Eichsfeldzug vom 1. bis 5. Mai 1525 insbesondere in den Klöstern der Region hinterlassen hatte. Dies hing eng mit den Restitutionsforderungen der Anwälte des Mainzer Kurfürsten und der betroffenen Monasterien gegen die Reichsstadt Mühlhausen zusammen. Diesen Entschädigungszahlungen, um welche schließlich vor dem Reichskammergericht gestritten wurde,44 kam teilweise eine existentielle Bedeutung für das Weiterbestehen der Klöster zu. Somit ging es den Anwälten der beiden Parteien bei den Verhören auch nicht unbedingt um die reine Wahrheit, sondern vor allem um jenen Teil davon, der der jeweiligen Partei von Nutzen war. Insgesamt – und das verwundert wohl kaum – hatten die Plünderungen und Brandlegungen zu einem gänzlichen Einbruch im schon zuvor aufgrund wirtschaftlicher und sittlicher Probleme stark beschädigten klösterlichen Leben des Eichsfeldes geführt. Nahezu singulär ist jedoch, dass hier – im Gegensatz zu den meisten anderen Regionen Mitteldeutschlands – die geschwächten Monasterien nicht binnen der nächsten Jahrzehnte von reformatorisch gesinnten Fürsten aufgehoben wurden, sondern, bis auf eine Ausnahme, langfristig die Chance erhielten, sich wirtschaftlich und personell wieder zu restituieren (was natürlich mit dem Kurmainzer Landesherrn im Zusammenhang stand). Dennoch hatte die Vernichtung der Klostergebäude erst einmal fatale Folgen. Nach dem Brand des Klosters wohnte z. B. der Reifensteiner Abt in Ermangelung einer anderen Unterkunft für fünf Jahre beim Dingelstädter Pfarrer, Johann Koch.45 1532 gehörten der Reifensteiner Niederlassung neben dem Abt 42 LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 III, fol. 87v (Aussage des Arnold Luckart). 43 Allgemein zur Gewaltanwendung während des Eichsfeldzuges vgl. MÜLLER: Thomas Müntzer im Bauernkrieg (wie Anm. 18), S. 55–59. 44 Ludwig ROMMEL, Die Mainzer Prozeßakten von 1543 und ihr Aussagewert für die Forschung zum Bauernkrieg auf dem Eichsfeld, in: Eichsfelder Heimathefte 20 (1980), S. 301–320. 45 In Dingelstädt nahm der Abt auch die Abgaben für das Kloster entgegen. Vgl. Thomas T. MÜLLER, Bauernkrieg nach dem Bauernkrieg. Die Verwüstung der Mühlhäuser Dörfer

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nur noch vier Mönche an. 1539 musste auf Anordnung des Erzbischöflichen Stuhls in Mainz der gesamte Besitz außerhalb des Eichsfeldes – unter Vorbehalt des Wiedererwerbs – veräußert werden und von 1545 bis 1550 stand das Kloster sogar gänzlich leer. Erst 1550 erfolgte durch den Erzbischof eine Wiederbesetzung. Dennoch erholte sich das Kloster und stellte später sogar im Wechsel mit dem Benediktinerkonvent Gerode bis zum Ende des Kurfürstentums Mainz den Primas der Eichsfelder Landstände. Erst unter den Preußen erfolgte 1803 die Aufhebung der Zisterze.46

Abb. 3: Portal der Klosterkirche in Reifenstein, um 1900 Dörna, Hollenbach und Lengefeld durch Eichsfelder Adel und Klerus, Duderstadt 2001, S. 105. Bei der Niederschrift der Aussage des Johann Koch (LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 II, fol. 177r) muss es sich diesbezüglich um einen Schreibfehler handeln, da darin die Namen der Beteiligten vertauscht sind. 46 OPFERMANN, Die Klöster des Eichsfeldes (wie Anm. 3), S. 79 f.

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Auch in Teistungenburg dauerte es lange, bis der alte bauliche Umfang des Klosters wieder annähernd erreicht war. Den ersten Abschnitt des Wiederaufbaus der Kirche hatte Propst Stefan Hoegreff geleitet. Er umfasste lediglich den Chor und einen geringen Teil des Kirchenschiffs. Hoegreff gab bei einer Zeugenbefragung 1543 an, mit den vorhandenen Mitteln in Höhe von ungefähr 300 bis 400 Gulden sei das Gotteshaus bislang nur „kommerlich uff den zehenden theil widerumb gebaut“.47 Selbst 1575 waren Dormitorium und Refektorium noch immer nicht wieder errichtet. Die Zahl der Nonnen war auf drei gesunken. Erst der tatkräftige Propst Antonius Figulus (1575–1607) sorgte in jeglicher Hinsicht für die Restaurierung des Klosters. Am Ende seiner Amtszeit lebten in Teistungenburg wieder 50 Nonnen, die Gebäude waren neu errichtet und die wirtschaftliche Lage des Klosters galt als grundlegend saniert.48 Schlechter war es nach dem Bauernkrieg um die Klöster in Worbis und Beuren bestellt. Beide Niederlassungen waren nach der Zerstörung der Gebäude und der Entwendung ihres Viehs finanziell nicht mehr in der Lage, einen Wiederaufbau zu leisten. In Worbis bestand der gesamte Konvent 1532 nur noch aus der Äbtissin und einer Konventualin sowie dem Propst und dem Klosterkaplan. Die Klostergüter wurden zuerst an den Worbiser Adligen Siegfried von Bültzingsleben verpachtet, später zu großen Teilen auch an ihn verkauft. Dieser verpflichtete sich im Gegenzug, die letzten vier zum Kloster gehörigen Personen auf Lebenszeit mit einer Rente zu versehen. 1540 wurde das Zisterzienserinnenkloster in direkter Folge des Bauernkrieges offiziell vom Mainzer Erzbischof und Kurfürsten aufgehoben.49 Ähnlich wie in Worbis erging es den Nonnen in Beuren. Obwohl sich die Äbtissinnen Margaretha von Bodenhausen (1519/1537) und Barbara von Knorr (1539/1555) mit aller Macht dagegen wehrten, sorgte nicht zuletzt der Personalmangel dafür, dass 1555 zumindest das vorläufige Ende für die Zisterze kam. Erst 1617/1618 konnte durch große Anstrengungen des Tochterklosters in Teistungenburg eine erfolgreiche Wiederbelebung der alten Beurener Klostertradition initiiert werden. Endgültig aufgehoben wurde es wie fast alle Eichsfelder Frauenklöster schließlich 1810 durch ein Dekret Jerome Bonapartes, des Königs von Westphalen.50

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LASA Magdeburg, Rep. A 53 M, Nr. 52 IV, fol. 55v (Aussage des Stefan Hoegreff). OPFERMANN, Die Klöster des Eichsfeldes (wie Anm. 3), S. 172. Ebd., S. 187. Ebd., S. 128–131. Allgemein: Anne HEY (Hg.), Heiligenstadt unter König Jérôme Bonaparte. Beiträge zur Geschichte Heiligenstadts im Königreich Westphalen (1806–1813) (Heiligenstädter Schriften, 3), Heilbad Heiligenstadt 2017.

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Auch für das Kloster Anrode waren die Folgen des Aufstandes verheerend. Ebenso wie Zella und Gerode erhielt es keine Reparationen aus Mühlhausen, da für keines der drei Klöster eine maßgebliche Beteiligung von Mühlhäuser Untertanen an den Plünderungen nachgewiesen werden konnte. Für fast ein halbes Jahrhundert blieb die Zisterze in einem recht traurigen Zustand und musste die notwendigen Gelder durch Land- und Zinsverkäufe einbringen. Erst um die Mitte der 1570er Jahre sorgte der neue Propst, David Böddener, wieder für einen Aufschwung.51 Ähnlich verhielt es sich im Kloster Zella. Dort lebten 1532 nur noch zwei Nonnen; 1537 war die Äbtissin ganz allein. Zwei Jahre später musste auf Anweisung der Mainzer Regierung der gesamte Klosterbesitz außerhalb des Eichsfeldes, vor allem um Mühlhausen und Langensalza herum gelegen, verkauft werden. Ebenso wie in Anrode gelang es auch hier erst dem in beiden Klöstern amtierenden Propst, David Böddener, einen wirtschaftlichen Neustart zu initiieren.52 Nicht anders verhielt es sich in Gerode: Auch hier sollte 1539 Besitz zur Schuldentilgung verkauft werden. 1550 residierten im einst so bedeutenden Benediktinerkloster noch der Abt und ein Konventuale. Erst durch die Intervention des Rusteberger Vogtes und des Erzbischöflichen Kommissars für das Eichsfeld begann 1556, nach der Wahl eines neuen Abtes, die Entschuldung und der erfolgreiche Wiederaufbau des Klosters.53

5. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sich die Eichsfelder Monasterien bereits lange vor den ersten reformatorischen Anklängen um 1521, die sich quellenfundiert allerdings lediglich für die Zisterze Reifenstein belegen lassen, bestenfalls in einem Zustand wirtschaftlicher wie geistlicher Stagnation befanden. Im Zuge der Übergriffe Aufständischer während des Bauernkrieges sind abgesehen von den reinen Plünderungen mehrfach Aktionen nachweisbar, die in einem reformatorischen, mindestens aber einem antiklerikalen Kontext standen. Insbesondere trifft dies auf die fast überall belegten ikonoklastischen Ausschrei51 GÖRICH, Geschichte des eichsfeldischen ehemaligen Zisterzienserinnenklosters (wie Anm. 16), S. 52–71. 52 OPFERMANN, Die Klöster des Eichsfeldes (wie Anm. 3), S. 104. 53 Vgl. hierzu Helmut FLACHENECKER, Das Benediktinerkloster Gerode. Ein altgläubiges Kloster und seine gefährdete innere und äußere Autonomie im 16. Jahrhundert, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 120 (2009), S. 115–126.

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tungen zu. Auch die Zerstörung der dem Kloster Beuren gehörenden Wallfahrtskirche von Etzelsbach passt in dieses Muster.54 Neben Heinrich Pfeiffer, der im Nachgang des Aufstandes ebenso wie Thomas Müntzer am 27. Mai 1525 vor den Toren Mühlhausens hingerichtet worden war, lässt sich bislang nur für einen ehemaligen Eichsfelder Mönch die Hinwendung zum evangelischen Glauben klar nachvollziehen. Es handelt sich dabei um jenen Reifensteiner Zisterzienser Bernhard Mutingk, von dem bereits zu Beginn die Rede war. Zuvor jedoch musste jener am eigenen Leibe erfahren, dass weder seinem Abt noch dem Eichsfelder Oberamtmann die Argumentation jener alten Frau ebenso schlüssig erschien wie ihm selbst. Und so hatte das Niederbrennen des letzten, vom Aufstand halbwegs verschonten Klostergebäudes für Mutingk ein unschönes Nachspiel. Der damals 20-jährige Bernhard Mutingk wurde wegen jener Brandstiftung festgenommen und in „des ertzbischoffs zu Mentz zucht und gefengknus“ gelegt. Erst nachdem für ihn gebürgt worden war und er Urfehde geschworen hatte, kam er wieder auf freien Fuß.55 Um 1530 ist er als Pfarrer im Mühlhäuser Ratsdorf Dachrieden nachweisbar, wo er allerdings anscheinend erst 1541 im Zuge der zweiten Einführung der Reformation im Mühlhäuser Einflussbereich zum evangelischen Glauben übertrat. Mutingks Spur verliert sich nach 1549, als erneut ein katholischer Geistlicher die Pfarrstelle in Dachrieden übernahm, bevor der Ort schließlich 1564 endgültig evangelisch wurde.56

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Peter ANHALT/Thomas T. MÜLLER, Bauernkrieg in Etzelsbach. Zur Zerstörung der Eichsfelder Wallfahrtskapelle im Jahr 1525, in: Mühlhäuser Beiträge 34 (2011), S. 169– 174. 55 Vgl. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 179v (Aussage des Bernhard Mutingk). 56 Vgl. StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 18, fol. 83r–85r; StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 19, fol. 64v–66r; StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Nr. 20, fol. 175r–180r u. 289r. Bislang nicht bestätigen ließ sich die Information seines Bruders aus dem Jahr 1545, er sei als Pfarrer von Schwerstedt im Amt Weißenfels tätig. Vgl. ebd., fol. 289r (Aussage des Hans Mutingk).

J O S E F P I LV O U S E K ORDEN, KLÖSTER UND STIFTE IN ERFURT

Orden, Klöster und Stifte in Erfurt in der Reformationszeit „Erfurt muß auf den Glanz verzichten, mit dem die internationale Reformationsforschung Wittenberg, Nürnberg, Zürich, Straßburg oder Genf ausgestattet hat“1 resümierte Peter Blickle in seinem 1995 gedruckten Aufsatz anlässlich des Erfurter Stadtjubiläums. Zugleich meinte er, dass dieser Befund nicht gerechtfertigt sei. Denn nachdem Blickle die Reformationsprozesse im Schweizer Solothurn mit Erfurt verglichen hatte, kam er zu dem Ergebnis: „Erfurt hat wie kein zweiter Stadtstaat im Reich theologische Angebote der Reformation verfassungstheoretisch kreativ weiterentwickelt und auf den Punkt gebracht […]: auf eine repräsentative Ratsverfassung mit zwei gleichwertigen Kontrollorganen in Form bürgerlicher Gemeinde und bäuerlicher Landschaft.“2 Auch Bernd Moeller hob in einem Aufsatz über „Erfurts Bedeutung als Kommunikationszentrum“3 die Besonderheit Erfurts in den reformatorischen Prozessen hervor: In Erfurt habe es neben der Öffentlichkeit der Kanzel die Öffentlichkeit des Buches gegeben, die dazu führte, dass sich die lokale Diskussion um die Sache Luthers zu so etwas wie einem Netzwerk ausbildete, das wiederum Information speicherte, abrufbar machte und so zur Einprägsamkeit beitrug. Die Aufzählungen über die Bedeutung Erfurts als „paradigmatischen Fall“ der Reformationsgeschichtsforschung ließen sich fortsetzen.4 Sieht man das 1

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Peter BLICKLE, Die Reformation in Stadt und Landschaft Erfurt. Ein paradigmatischer Fall, in: Ulman WEIß (Hg.), Erfurt – Geschichte und Gegenwart (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 2), Weimar 1995, S. 257. Ebd., S. 272. Vgl. Bernd MOELLER, Erwägungen zur Bedeutung Erfurts als Kommunikationszentrum der frühen Reformation, in: WEIß (Hg.), Erfurt – Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 1), S. 275–282. Erich KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Bd. II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521 (Erfurter Theologische Studien, 22), Leipzig 21992; Bd. III: Die Zeit der Reformation und Gegenreformation 1521–1632 (Erfurter Theologische Studien, 42), Leipzig 1980; Volkmar JOESTEL, Konflikte um zwei Erfurter Kleriker in Ostthüringen während der Reformation, in: WEIß (Hg.), Erfurt – Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 1), S. 323–329; Friedhelm JÜRGENSMEIER, Kurmainz, in: Anton SCHINDLING/Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land

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Proprium der Reformationsforschung darin zu erklären, warum zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Christentum einen Sinneswandel hinsichtlich des Zentrums von Gottesdienst und Frömmigkeit vollzog, dann allerdings fallen Forschungsdesiderate auf. Sie lassen sich zusammenfassend so formulieren: Beide Konfessionen sehen in den Ereignissen dieses Zeitalters Defizite. Worin diese Ausfälle im Einzelnen bestehen, wird nur angedeutet; Ursachen, Hintergründe, frömmigkeitsgeschichtliche Darlegungen oder theologische Entwicklungen werden zumeist kursorisch abgehandelt. Die historischen Ereignisse und Abläufe der Reformation in Erfurt werden zwar benannt, eine theologische Reflexion findet jedoch kaum statt. Dass die katholische Partei Erfurts hier kaum Bedarf hatte, verwundert nicht, dass aber auch die evangelische Seite die Reformationsprozesse zurückhaltend oder gar nicht kommentierte oder beschrieb, fällt auf und verlangt nach einer Erklärung. Gängige Erklärungsmodelle sind die politische Abhängigkeit dieser „Semireichsstadt“5 Erfurt vom Mainzer Erzbischof, dessen Rekatholisierungsversuche und somit Behinderung der reformatorischen Bewegung. Schließlich wird als Argument angeführt, der Erfurter Reformation sei eine eigentümliche Führungslosigkeit inhärent, die sie von anderen Stadtreformationen unterscheide.6 Nicht zuletzt könnte die Kompliziertheit der „innenpolitischen“ Gegebenheiten Erfurts als Erklärung für mangelnde oder stagnierende Reformationsprozesse ins Feld geführt werden:  das stillschweigende Bündnis der evangelischen Partei mit dem Rat der Stadt, um die Mainzer Herrschaft zu beschränken;7  die Beschränkung der Privilegien des Klerus durch politische Aktionen des Rates und somit die Förderung des „Antiklerikalismus“ einerseits,

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6 7

und Konfessionalisierung 1500–1659, Bd. 4: Mittleres Deutschland (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 52), Münster 1992, S. 72–73; Bob SCRIBNER, Die Eigentümlichkeit der Erfurter Reformation, in: Ulman WEIß (Hg.), Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte – Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S. 241–254; Christian PETERS, „Erfurt ist Erfurt, wird’s bleiben und ist’s immer gewesen …“. Luthers Einwirkungen auf die Erfurter Reformation, in: ebd., S. 255–275; Ernst KOCH, Art. Thüringen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23, Berlin u. a. 1994, S. 505–507; Ulman WEIß, Zweikonfessionalität in Erfurt im 16. Jahrhundert, in: Gerlinde HUBER-REBENICH/ Walter LUDWIG (Hg.), Humanismus in Erfurt (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zur Erfurt. Acta Academiae Scientiarum, 7), Rudolstadt/Jena 2002, S. 241–259. Vgl. dazu Klaus-Bernward SPRINGER, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, NF 8), Berlin 1999, S. 100 f. SCRIBNER, Die Eigentümlichkeit (wie Anm. 4), S. 254. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 13–19.

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anderseits das Verbot des Rates für die evangelischen Prediger, mit den katholischen Gegnern einen Disput zu führen;8  das „Fehlschlagen der Reformation“, weil sie autonom, d. h. eine stadtinterne, auf die Stadt und das Land bezogene Angelegenheit blieb;9  die Eigentümlichkeit der Erfurter Reformation als Politik des kühnen Kalküls;10  der Hammelburger Vertrag von 1530 als Schlusspunkt der evangelischen Bewegung.11 Das Thema „Orden, Klöster und Stifte in Erfurt nach der Reformation“ ist ein Forschungsdesiderat; nur wenige Klöster und Stifte sind hinsichtlich der Fragestellung aktuell und ausführlich behandelt worden. Im Folgenden soll die Thematik kursorisch in den Blick genommen werden.

1. Erfurter Klöster und die Reformation Am Ende des 15. Jahrhunderts zeigten sich deutlich Krisen im Erfurter Ordensleben. Zunächst sind die Benediktiner zu nennen, deren Abt Johannes Hottenbach nur mühsam den alten Ordensgeist aufrechterhalten konnte. Bei den Kartäusern wurde die strenge Ordensregel nicht mehr eingehalten. Die traditionelle Funktion der Äbte des Schottenklosters als Konservatoren der Universität war von der Hochschule wegen etlicher Versäumnisse nicht mehr erwünscht. Bei den Dominikanern setzte der Ordensgeneral in Rom den eigenen Professor an der Universität wegen schlechter Amtsführung ab. Die franziskanische Ordensprofessur an der Alma mater war vielleicht sogar zwischen 1484 und 1519 zeitweise unbesetzt. Der Prior der Serviten hatte sich in der Klosterbibliothek mit Büchern bedient, um seine Überfahrt ins Heilige Land finanzieren zu können.12 Auch die in den vorherigen Jahrhunderten bewährte Praxis, aus den großen Orden den jeweiligen Weihbischof zu wählen, war nun auf Mitglieder des Kollegiatstiftes St. Marien übergegangen. Die wenigen Beispiele sind kennzeichnend für den Zustand der meisten Erfurter Klöster. Martin Luthers spätere Kritik vor allem an den Franziskanern und Dominikanern könnte durchaus auch diesen 8

Josef PILVOUSEK, Martin Luther und Erfurt, in: Josef FREITAG (Hg.), Luther in Erfurt und die katholische Theologie (Erfurter Theologische Studien, 29), Leipzig 2001, S. 13– 27, hier S. 23 f. 9 SCRIBNER, Die Eigentümlichkeit der Erfurter Reformation (wie Anm. 4), S. 253. 10 Ebd., S. 254. 11 Josef PILVOUSEK, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400–1555 (Erfurter Theologische Studien, 55), Leipzig 1988, S. 19–21. 12 Vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. II, S. 109–111.

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historischen Hintergrund haben.13 Eine Ausnahme in diesem Zerfall des Ordensgedankens machte in Erfurt der Augustinereremitenorden.14 Er hat wohl am stärksten die Observanz gepflegt und darf deshalb als das „strengste Kloster“ Erfurts am Vorabend der Reformation gelten.15 Das klassische Bild einer von den Observanten und den Reformatoren gepflegten These eines vorreformatorischen Niedergangs ist für Erfurt zu bestätigen. Nur in einigen wenigen Fällen sind kleinere Korrekturen anzubringen. Eine erste Erschütterung für das kirchliche Gemeinwesen brachte das „Tolle Jahr“ von 1509.16

2. Kirchliches und klösterliches Leben in Erfurt nach 1521 In Erfurt, wo man von einer eigenständigen Stadtreformation spricht,17 begann der Siegeszug der Reformation mit dem „Pfaffensturm“ von 1521.18 Insbesondere die zweite Hälfte des Jahres 1521 und das Jahr 1522 waren für die Reformation in Erfurt entscheidend.19 Seit Mitte des Jahres 1521 begannen allmählich Mönche und Nonnen, aus ihren Klöstern auszutreten. Die Zahlen waren keineswegs beträchtlich und sind ein Zeichen dafür, in welch behutsamer Weise

13 Tischreden oder Colloquia Doct. Mart. Luthers, so er in vielen Jaren gegen gelarten Leuten, auch frembden Gesten, und seinen Tischgesellen gefüret. Nach den Heubtstücken unserer christlichen Lere zusammen getragen, Eisleben 1566 (Faksimile-Druck der Original-Ausgabe), Leipzig 1981, S. 369v–370r u. 371v–372r. 14 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. II, S. 111. 15 Vgl. Josef PILVOUSEK/Klaus-Bernward SPRINGER, Die Erfurter Augustiner-Eremiten. Eine evangelische „Brüdergemeinde“ vor um mit Luther (1266–1560), in: Lothar SCHMELZ/Michael LUDSCHEIDT (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005, S. 37–57, hier S. 54. 16 Vgl. Th. Theodor NEUBAUER, Das tolle Jahr von Erfurt, hg. von Martin WAEHLER, Weimar 1948. 17 Johannes MERZ, Landstädte und Reformation, in: Anton SCHINDLING/Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 57), Münster 1997, S. 107–136, hier S. 114. 18 Vgl. PILVOUSEK, Die Prälaten (wie Anm. 11), S. 13–16. 19 Vgl. Robert W. SCRIBNER, Reformation, Society and Humanism in Erfurt c. 1450–1530, Diss. phil. (masch.) London 1972, S. 173. Die Arbeit wurde von Sr. Dr. Gerda BÄSLER 1975/76 ins Deutsche übersetzt und in einer maschinenschriftlichen Fassung veröffentlicht. Ich verwende im Folgenden diese Fassung.

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die Reformation in Erfurt ihren Verlauf nahm.20 Viel deutet darauf hin, dass ein solcher Schritt weder übereilt noch leichtfertig erfolgte. Die erste Eheschließung eines Ordensmannes war 1523 die des Franziskaners Ägidius Mechler.21 Ende 1521 gab es bereits den ersten Pfarrgeistlichen, der die lutherische Lehre predigte, 1522 kamen drei weitere dazu, 1523 waren es bereits acht.22 Der Magistrat favorisierte ein Aussterben der Klöster. Er versuchte seit 1524 alle Klöster und ihre Einnahmen einzuziehen und für Bildungsaufgaben zu verwenden. Um dies zu erreichen, ermöglichte er den Insassen mancher Klöster bis zu ihrem Tod dort zu leben; Eintritte wurden nicht erlaubt.23 Die Klostergelände nahmen in Erfurt einen beträchtlichen Raum in Anspruch. Die großen Klosterkomplexe besaßen ein beträchtliches Vermögen und gute Einkünfte, auch wenn das durch viele Zinsausfälle in den Jahren der Reformation geschmälert wurde. Das formale Recht war auf der Seite der Klöster bzw. des Erzbischofs. Auf der anderen Seite war es für den Rat schwierig zuzusehen, dass in jedem Kloster ein bis zwei Mönche saßen, die alle Zinsen und Gebäude für sich beanspruchten.24 Die Stadt hatte deshalb schon seit 1525 die Urkunden aller Klöster an sich gezogen, um detaillierte Kenntnisse zu besitzen und adäquat handeln zu können.25 Die Bauernunruhen von 1525 brachten schließlich eine auch durch den Magistrat geduldete bzw. befürwortete und partiell forcierte Destruktion „alter“ kirchlicher Verhältnisse.26 Unklar bleibt, wie Mönche und Nonnen 1525 prinzipiell behandelt wurden.27 Zwei Sichtweisen existieren hierzu: Während zum einen davon ausgegangen wird, dass alle Orden durch Prädikanten und Bauern vertrieben werden sollten, sprechen andere Berichte davon, dass der Rat die Mönche und Nonnen durch Boten dazu aufgefordert habe, sich zu entscheiden, ob sie im Konvent verbleiben oder ihn verlassen wollen. Die 25 Pfarreien sollten auf zehn zusammengezogen werden. Ebenso wurde allen Pfarrkirchen und Klöstern befohlen, sich „allem Metten-, Vesper- oder Messe-Singens oder Lesens gänzlich zu enthalten“. Der katholische Gottesdienst blieb zunächst verboten und wurde erst Ende 1525 wieder in vier Pfarrkirchen zugelassen. Seit Pfingsten 1526 wurde im Dom Frühgottesdienst für Kanoniker und 9.00 Uhr

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Vgl. ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 293. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 83. Ebd., S. 84. Vgl. Theodor EITNER, Erfurt und die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 24 (1903), S. 3–108. 27 SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 224.

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evangelischer Gottesdienst abgehalten.28 Ähnlich verhielt es sich bei den Franziskanern und Dominikanern; bei beiden predigten die Prädikanten in den jeweiligen Klosterkirchen. Die Mönche feierten die Messe in einer Kreuzgangkapelle mit geöffneten Türen (Barfüßer), in der Predigerkirche im Chor mit geschlossenen Türen.29 Zusammenfassend kann man festhalten, dass Konvente mit größerer Wirtschaftskraft bessere Chancen zum Überleben gehabt haben. Schwesternkonvente waren in Erfurt nicht von einer Aufhebung betroffen. Während Männerklöster eher nachgaben, kämpften viele Frauenkonvente entschieden gegen obrigkeitliche Reformationsversuche. Mit bloßer Besitzstandswahrung lässt sich dieser Befund allein nicht erklären.30 Wenn auch der Versorgungsaspekt eine Rolle gespielt haben dürfte, so gab es doch auch Frauen, die ihre altgläubige Identität wahren wollten. Den Ordenshabit durften sie weiter tragen.31 Alle Klöster litten neben ausbleibenden Zinsen vor allem unter Austritten und Repressalien. Während der Magistrat innerstädtisch auf Besteuerung der Klöster und Stifte bestand, war er nach außen durchaus bereit, sich schützend vor die Orden und Klöster zu stellen. Dies war beispielsweise der Fall, wenn auswärtige Forderungen an innerstädtisches Klostereigentum gestellt wurden. Ein denkwürdiges Phänomen ist, dass vor allem die sog. apostolisch tätigen Orden, deren Tätigkeit man mit dem neuzeitlichen Begriff der Seelsorge beschreibt – die Augustiner, Serviten, Franziskaner und Dominikaner – evangelisch wurden. Auch das Kloster der Augustinerchorherren und ihre Kirche, die zu Beginn der Reformation die größte Erfurter Gemeinde beherbergte und eine ähnliche Funktion wie die Bettelorden hatte, wurde aufgehoben. Die Erklärung, dies hänge auch damit zusammen, dass ihre Grundstücke städtisches Eigentum waren, greift meines Erachtens zu kurz. Die durch die Säkularisation der Bettelorden entstandene „pastorale“ Lücke versuchte dann seit Ende des 16. Jahrhunderts der Jesuitenorden zu schließen.

28 Vgl. ebd., S. 278. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Anja OSTROWITZKI, Die Benediktinerinnen, in: Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung. Vereinsschriften der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum, 65–67), 3 Bde., Münster 2005- 2007, hier Bd. 1, S. 47–72, hier S. 61. 31 Vgl. Ulman WEIß, Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Weimar 1988, S. 179.

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3. Der Hammelburger Vertrag Am 4. März 1530 war es durch Vermittlung des Schwäbischen Bundes zwischen Mainz und Erfurt zum Abschluss des Hammelburger Vertrages gekommen.32 Er gilt nach wie vor als entscheidende Zäsur in der Reformationsgeschichte Erfurts. Hinsichtlich des Verhältnisses von „Alt- zu Neugläubigen“ bzw. der vergangenen Kontroversen (1509, 1521, 1525) wurde festgelegt, dass der Erzbischof „alle und jede Ungnade“ wegen der Bauernunruhen nachlassen und die Erfurter sich als getreue Untertanen verhalten sollen. Ebenso sollte die Stadt Restitutionsforderungen erfüllen.33 In Abschnitt 3 wurde der Rat dazu aufgefordert, alles den Kirchen und Stiften zurückzugeben – falls noch vorhanden – was „konfisziert“ worden war. Zudem sollte zur Begleichung von 1.200 Mark Schulden an jedem Martinstag fünfzig Mark Feinsilber gegeben werden.34 In einer 7. Festlegung einigte man sich, dass in den zwei Stiften und St. Peter nur katholischer Gottesdienst gehalten werden sollte. Bei allen anderen Gotteshäusern wurde bezüglich der Glaubensangelegenheiten und der Zeremonien hingegen festgelegt: „[…] wollen wir hiemit und dißmal keiner Partei nichts gegeben, genommen, erleubt oder verboten haben.“35 Den kurzen und hinsichtlich des Verhältnisses der Konfessionen zueinander wenig präzisen zehn Bestimmungen wurde in der Regional- und Reformationsgeschichte eine Bedeutung beigemessen, die aus dem eigentlichen Text nicht erkennbar wird. So ist auch keine zahlenmäßige Aufteilung der Kirchen sowie Klöster zu finden, sieht man von der endgültigen Rückgabe der beiden Stiftskirchen und des Petersklosters ab. Ebenso fehlen konkrete Angaben für das Verhalten der Anhänger beider Bekenntnisse. Die eigentliche Bedeutung beruht auf einem von beiden Parteien optierten „Compromiss“, den sie „mit solcher Schleunigkeit aufrichten“ sollten, „das solich Irrung alle zwischen hie und dem nechsten Sanct Martins-Tag mögen entledigt werden“.36 Nicht der Vertragstext als solcher, sondern das Mandat, einen tragfähigen Kompromiss zu suchen und dessen Umsetzung schnell zu bewerkstelligen, sind das Herausragende des Vertrages. Zum ersten Mal akzeptierte zudem ein geistlicher Fürst – wenn auch mit Einschränkungen – Protestanten in seinem Territorium und überließ dem Rat einer ihm untergebenen Stadt die 32 Johann Heinrich von FALCKENSTEIN, Civitatis Erffurtensis Historia Critica et Diplomatica, oder vollständige Alt-Mittel- und Neue Historie von Erffurth, Erfurt 1739, S. 592– 597. 33 Ebd., S. 594. 34 Ebd., S. 594 f. 35 Ebd., S. 595 f. 36 Ebd., S. 597.

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Entscheidungsbefugnis in religiösen Angelegenheiten. Selbst der Territorialherr, der Mainzer Erzbischof, hatte offenbar verstanden, dass „Andersgläubigkeit“ nicht zwangsläufig Ungehorsam auf weltlichem Gebiet implizierte. So war es nun möglich, die religiösen Probleme von den politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnissen zu trennen. Vor allem ist festzuhalten, dass der Vertrag dem Erfurter Rat in der Folgezeit die Möglichkeit gab, die konfessionellen Verhältnisse so zu beeinflussen, dass die Interessen der städtischen Wohlfahrt stets über den vermeintlich unlösbaren Fragen der religiösen Überzeugung standen. In diesen Zusammenhang ist wohl auch der weitgehende Erhalt der Erfurter Klöster, die unter städtischer Kontrolle standen, zu nennen. Tatsächlich scheint der Hammelburger Vertrag dem Ordensklerus mehr Möglichkeiten zum Durchhalten gegeben zu haben, als es 1525 den Anschein gehabt hatte.37 Der Vertrag war u. a. geschlossen worden, um „alle Folgen der Sturmjahre 1521 und 1525“38 zu tilgen und „beiderseitiges Einvernehmen, Frieden und Eintracht“ herzustellen. Nach Abschluss des Hammelburger Vertrages bestanden evangelischer und katholischer Ritus relativ friedlich nebeneinander. Zu den vollständigen Rückerstattungen und vereinbarten Zugeständnissen kam es jedoch nie. Nach neun Jahren, am 8. Februar 1539 erklärten die Capitel [St. Marien und St. Severi] dem Rathe in feierlicher Urkunde, daß der Hammelburger Vertrag gegen ihren Willen und ohne ihr Zuthun geschlossen sei, eben so werde der bisher mit schweren Kosten geführte Prozess über die Angelegenheiten ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen geführt; sie verweigern deshalb jede Genehmigung des Geschehenen und verzichten, so weit es sie betrifft, nachdrücklich auf alle noch rückständigen Punkte jenes Vertrages. Um das Räthselhafte dieser Wandlung – räthselhaft wegen Abgangs aller motivierenden Acten – noch zu erhöhen, legierte jene standhafte Säule der katholischen Kirche, Dr. Conrad Klinge, dem Rathe eine Summe von 500 Thalern in dankbarer Anerkennung genossenen Schutzes, die auch am 17. April 1556 der Guardian des Barfüßer-Klosters, Jacob Schilling, als Testamentsvollstrecker auszahlte.39

Nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 gelang es der evangelischen Kirche in Erfurt, ein eigenes Kirchenwesen aufzubauen. Dennoch behielten die wenigen Katholiken in der Universität und partiell auch im Magistrat diverse Führungspositionen. Kaum erforscht ist bis heute der „menschlich-alltägliche“ Umgang von „Neu- und Altgläubigen“ in der Stadt. Die spätere konfessionelle Geschichtsschreibung hat vor allem die Konflikte herausgestellt und die Ursachen dafür 37 Vgl. SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 294. 38 Heinrich BEYER, Die Geschichte der Stiftskirche Beatae Mariae Virginis zu Erfurt, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 6 (1873), S. 125–222, hier S. 158. 39 Ebd.

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jeweils beim Anderen gesehen. Bei größeren Kontroversen und Konfrontationen, die vor allem Ende der 1570er Jahre historisch fassbar werden, ist darauf hinzuweisen, dass sie als Ereignisse wahrgenommen wurden, die den mühsam erreichten religiösen Status quo gefährdeten und die ohnehin schwierigen politischen Konstellationen verschlechtern konnten. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Hammelburger Vertrag beendete für Erfurt einen unruhigen, von desolaten Ereignissen erfüllten Jahrhundertbeginn, ermöglichte eine Zeit relativer Ruhe für einige Jahrzehnte und erlaubte somit der Stadt einen wirtschaftlichen Neuaufstieg. Erst jetzt waren die meisten Orden und Stifte bereit, den Steuerveranlagungen nachzukommen. Denn von den Petersmönchen, den Kartäusern, den Serviten, den Konventen der Weißfrauen, der Neuwerks- und der Cyriaksnonnen wurden die vom Magistrat geforderten Beträge gezahlt.40 Der Rat versuchte nun die 1524 begonnene Politik zum Abschluss zu bringen: Den Insassen der Klöster gestattete er bis zu ihrem Tod im Kloster zu bleiben, aber sämtliche Neuneintritte verbot er, um danach die klösterlichen Besitzungen einzuziehen.41 Erst mit dem Vertrag von 1618 zwischen Mainz und Erfurt, der zwar die freie Religionsausübung zusicherte, ansonsten aber Erfurt als „uraltes“ Eigentum des Erzstifts definierte, begann wieder verstärkt das Ringen um die kirchliche und politische Vorherrschaft.

4. Kursorische Bestandsaufnahme der Erfurter Klöster 4.1. Augustinerchorherren (Regler)42 Die Gemeinde der regulierten Augustinerchorherren war zu Beginn der Reformation die größte Erfurter (Pfarr-)Gemeinde. Seit 1525 gab es den ersten evan40 Vgl. SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 293. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 113; Bernhard OPFERMANN, Die thüringischen Klöster vor 1800, Leipzig/Heiligenstadt 1959, S. 47; Karl-Heinz MEIßNER, Die Reglerkirche in Erfurt und ihr Altar, Berlin 2011, S. 20; KarlHeinz MEIßNER, Wie das Reglerstift 1539 beschaffen war. Untersuchungen zu einem Inventar und dem Testament seines Priors, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 70 (2009), S. 54–66; Georg Adalbert MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis oder Uebersicht der in der Stadt Erfurt und deren Gebiete früher und noch jetzt bestehenden Stiftes, Klöster, Capellen, Hospitäler und frommen Bruderschaften sowie derjenigen Kirchen, deren Schutzheilige bekannt geworden sind, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 3 (1867), S. 145–175, hier S. 153 f.; Franz BRENDLE, Die Augustiner-Chorherren, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 39–64, hier S. 43.

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gelischen Pfarrer, und der Chor wurde nur noch für evangelischen Gottesdienst genutzt. Der Magistrat hatte die Kirche zur evangelischen Pfarrkirche erklärt. 1540 wurden auch die Stiftsgebäude durch den Rat eingezogen und 1560 zur evangelischen Schule deklariert. Nach dem Tod des letzten Propstes Liborius Ochsenkopf 1580 wurde das gesamte Stift beschlagnahmt. In die Stiftsgebäude zog auf kaiserlichen Befehl von 1615 bis 1660 das Jesuitenkolleg ein.

4.2. Augustinerchorfrauen (Neuwerkskloster)43 In der Reformationszeit blieb das Kloster katholisch; Teile der Thomas- und Vitigemeinde wurden dem Pfarrbezirk St. Crucis zugeteilt. Im Bauernkrieg 1525 wurde das Kloster vollständig ausgeplündert. Ende 1525 konnte wieder katholischer Gottesdienst gefeiert werden. Das Kloster hatte erheblichen Besitz. Auffallend ist, dass noch während der 1520er Jahre Vermögenswerte erworben werden konnten. Ab 1530 zahlten die Nonnen Steuern. 1554 konnten erstmals wieder Novizinnen aufgenommen werden. Das Kloster bestand bis 1819.

4.3. Weißfrauen (Magdalenerinnen)44 Das verarmte Kloster scheint weitgehend von den Bauernunruhen verschont geblieben zu sein. 1517 waren die letzten vier Novizinnen aufgenommen worden. Die nächsten Aufnahmen, ebenfalls vier Kandidatinnen, gab es 1554. Wie die Augustinerchorfrauen zahlten die Magdalenerinnen ab 1530 Steuern. 1667 wurde das Kloster durch Ursulinen in Besitz genommen. Die letzten vier Weißfrauen blieben bis zum Tod im Ursulinenkonvent. 43 Vgl. MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 160 f.; Bernhard OPFERMANN, Das Bischöfliche Amt Erfurt-Meiningen und seine Diaspora. Geschichte und Gegenwart. Ein Handbuch (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 30) Leipzig 1988, S. 129 f.; DERS., Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 52; Ernst HAETGE/Herman GOERN (Bearb.), Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, Abt. 2: Die Stadt Erfurt, Teil 2: Bartholomäusturm, Brunnenkapelle, ehemalige Egidiikirche, Georgsturm, großes Hospital, Johannessturm, Karthause, Kaufmannskirche, Lorenzkirche, Maria-Magdalenenkapelle, Martinikirche im Brühl, Martinikirche Erfurt-N., Michaeliskirche, Neuwerkskirche, Burg 1932, S. 537–579, hier S. 546; Annette von BOETTICHER, Die Augustiner-Chorfrauen, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 65–82, hier S. 69. 44 Heinrich BEYER, Geschichte des Klosters der Ursulinerinnen, ehemals der weißen Frauen in Erfurt, Erfurt 1867, S. 24–35; Wilhelm von TETTAU (Bearb.), Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Erfurt und des Erfurter Landkreises, Halle 1890, S. 200; OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 74; SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 294; PILVOUSEK, Die Prälaten (wie Anm. 11), S. 20.

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4.4. Augustinereremiten45 Unter der Führung von Johannes Lang verließen 1522 viele Augustiner den Konvent. Zuvor hatte die Augustinerprovinz offiziell entschieden, die Mitglieder des Ordens seien von ihren Gelübden entbunden, falls sie es wünschen sollten. Eine kleine Gruppe unter Führung von Johannes Nathin blieb im Kloster. Auch nach dem Hammelburger Vertrag bestand der personell stark zusammengeschmolzene Konvent weiterhin. In der Kirche war die protestantische Pfarrei eingezogen, der um 1550 die Gemeinden von Johannis und Gotthard angeschlossen wurden. Am 30. November 1556 starb Prior Johannes Wagner. Aus dem Würzburger Konvent wurde Leonhard Willigk als Prior geschickt. Er amtierte bis zu seinem Tod am 29. Mai 1560. Da der Erfurter Stadtrat den aus Würzburg entsandten sechs Konventualen den Eintritt in den Konvent verweigerte, starb mit dem Tod Willigks der Erfurter Augustinerkonvent aus.

4.5. Dominikaner (Predigerkloster)46 Bereits 1521 wurde in der Klosterkirche evangelisch gepredigt. 1522 erfolgte die Anstellung des ersten Prädikanten. Zu diesem Zeitpunkt schon verließen viele Dominikaner Erfurt. Studienort des Ordens wurde nun bis 1539 Leipzig. 1525 kam die Kirche in protestantischen Besitz und wurde 1559 zur evangelischen Hauptkirche und zur Ratskirche bestimmt. Ab 1528 wurde nur noch katholischer Gottesdienst im Chor bei geschlossenen Türen gehalten. Nur wenige Mönche lebten ab 1544 noch dort, bis schließlich 1588 das Kloster aufgehoben wurde. Der letzte Mönch verließ 1591 das Klostergebäude und 1591 wurde eine Knabenschule darin errichtet. Das Priorat blieb bis 1615 in klösterlichem Besitz.

45 Vgl. MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 54–57; SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 170; Michael Klaus WERNICKE, Die Augustiner-Eremiten, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 49–72, hier S. 52. 46 Vgl. OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 63; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 113; Alfred OVERMANN, Die Predigerkirche, Erfurt 1928, S. 10 f.; Klaus-Bernward SPRINGER, Die Dominikaner, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 9–48, hier S. 13, 22 u. 27; TETTAU (Bearb.), Beschreibende Darstellung (wie Anm. 44), S. 144; SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 294.

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4.6. Franziskaner (Barfüßerkloster)47 1522 wurde die Klosterkirche evangelische Pfarrkirche. Endgültig ging sie 1525 nach dem Bauernkrieg, in dem das Kloster geplündert wurde, in den Besitz der Stadt über. Konrad Klinge († 1556), der wohl bekannteste Franziskaner Erfurts, hatte seit 1525 im Dom gepredigt. Das Kloster hat, trotz geringer Insassen, noch längere Zeit bestanden; ab 1528 wurde katholischer Gottesdienst in der Kreuzgangkapelle gehalten. Nach dem Tod des letzten Franziskaners 1594 galt das Kloster als aufgehoben, auch wenn seitens der Stadtbehörde nie eine förmliche Aufhebung und Besitzergreifung erfolgte. Die Pfarrgemeinde richtete sich Zimmer zur Unterbringung einer Knabenschule ein. Mehrfache Versuche einer Retablierung des Ordens, wie in den Jahren von 1629 bis 1636 und von 1732 bis 1733, scheiterten.

4.7. Serviten (Marienknechte)48 Die Serviten waren eines der kleinsten und ärmsten Klöster Erfurts. Im Bauernkrieg wurden die Mönche vertrieben, und nur wenige kehrten zurück. Wirtschaftlich konnten sie sich nur halten, weil sie Grundstücke veräußerten. Der Rat bestimmte 1537 das Kloster zum Aufenthalt für übriggebliebene Mönche aus anderen Klöstern und Weltgeistliche, die hier bis zu ihrem Tod verköstigt wurden.1543 war es endgültig ausgestorben und ging an den Rat der Stadt, der es ab 1570 autonom verwaltete. 1629 scheinen die Serviten Anspruch auf ihr früheres Kloster erhoben zu haben, das aber bereits 1618 den Augustinern 47 Vgl. Ernst HAETGE (Bearb.), Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, Abt. 2: Die Stadt Erfurt, Teil 1: Allerheiligenkirche, Andreaskirche, Augustinerkirche, Barfüßerkirche, Burg 1931, S. 143–243, hier S. 155 f.; Johann Friedrich MÖLLER, Beiträge zur Geschichte der Barfüßer-Kirche zu Erfurt als das sechshundertjährige Jubiläum derselben begangen wurde, am 13. Mai 1832, Erfurt 1832, S. 25 f., TETTAU (Bearb.), Beschreibende Darstellung (wie Anm. 44), S. 165; Christian PLATH, Die Franziskaner-Konventualen Minoriten und Martinianer, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 137–161, hier S. 141 u. 154; OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 57 f.; MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 154 f.; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 104. 48 Vgl. August ZACKE, Ueber das Toten-Buch des Dominkaner-Klosters und die PredigerKirche zu Erfurt, Erfurt 1861, S. 123; OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 72; MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 156 f.; SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 193; Joachim MEISNER, Nachreformatorische katholische Frömmigkeitsformen in Erfurt (Erfurter Theologische Studien, 26). Leipzig 1971, S. 75; WEIß, Die frommen Bürger (wie Anm. 31), S. 219; Karl Suso FRANK, Die Serviten, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 161–172, hier S. 164.

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zugewiesen und bis 1631 von ihnen bewohnt worden war. Die Serviten gehörten zu jenen Konventen, die seit 1530 Steuern zahlten.

4.8. Benediktinerklöster a.) Peterskloster49 1524 wurde der Benediktinerabt Johannes Hottenbach durch den Rat angewiesen, austrittswilligen Mönchen kein Hindernis in den Weg zu legen, ihnen den Chorbesuch zu gestatten und die Eheschließung zu erlauben. Nach dem Rücktritt des Abtes 1525 kam es zum Versuch des Magistrats, die Neuwahl zu steuern, was zwar nicht gelang, aber zur Einsetzung eines weltlichen Administrators führte, der die Wirtschaftsführung überwachte und jegliche Verhandlung ohne Zustimmung des Rates verbot. Während das Kloster 1521 noch verschont wurde, kam es 1525 zur Besetzung durch aufständische Bürger und Bauern. Im Zuge dessen wurde es erheblich geschädigt. Bis 1530 gab es kein Chorgebet mehr. Noch sechs Mönche bewohnten das Kloster; nur zwei trugen noch den Ordenshabit. Der Hammelburger Vertrag war für das Kloster bestandssichernd; das Chorgebet wurde wieder aufgenommen, und allmählich kam es zu neuer wirtschaftlicher und geistlicher Blüte. St. Peter gehörte zu jenen Konventen, die seit 1530 Steuern zahlten.

b.) St. Jakobus (Schottenkloster)50 Schon vor der Reformation hatte es einen erheblichen Rückgang der Mönchszahlen im Schottenkloster gegeben. Im „Tollen Jahr“ sowie beim „Pfaffen49 Vgl. OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 8; Elke-Ursel HAMMER, Vom Bursfelder Reformzentrum zum Kloster in reformatorischer Bedrängnis – die Abtei St. Peter in Erfurt im 15. und 16. Jahrhundert, in: 700 Jahre Erfurt Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103–1803 (Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten. Forschungen und Berichte zu Schlössern, Gärten, Burgen und Klöstern in Thüringen, 7), hg. von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Regensburg 2004, S. 135–143, hier S. 140–142; Rudolph BÖCKNER, Das Peterskloster zu Erfurt, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 10 (1881) S. 1–118, hier S. 25–27 u. 66 f.; Ulrich FAUST, Die Benediktiner, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 11– 46, hier S. 14 u. 36. 50 Vgl. OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 10; TETTAU (Bearb.), Beschreibende Darstellung (wie Anm. 44), S. 165; Joseph SCHOLLE, Das Erfurter Schottenkloster, Düsseldorf 1932, S. 34–36; Helmut FLACHENECKER, Die Schottenklöster, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 139–151, hier S. 142 u. 146 f.

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stürmen“ und im Bauernkrieg wurde das Kloster ausgeraubt. 1529 war nur noch ein Mönch, der Abt, im Kloster. Das wirtschaftlich völlig darniederliegende Kloster wurde zwischen 1561 und 1577 vom Dekan des Marienstiftes verwaltet. Nach der schwedischen Besitznahme 1632 musste es aber 1635 zurückgegeben werden. 1820 wurde es säkularisiert.

4.9. Benediktinerinnen (Cyriakskloster)51 Das Kloster hat weniger als andere Konvente unter der Reformation gelitten. Bereits 1522 wurde die Kirche (Andreaskirche) als evangelische Gemeindekirche genutzt. Die Nonnen feierten ihre Liturgie im Nonnenchor auf der Westempore (bis 1689), die evangelische Gemeinde im Kirchenschiff. Im Bauernkrieg wurde das Kloster geplündert. Enge Verbindungen bestanden zum Peterskloster. Seit 1530 hatte man sich der Besteuerung unterworfen. Nach Verlegung zum städtischen Kornhof um 1689 wurde das Kloster schließlich 1803 aufgehoben.

4.10. Zisterzienserinnen (St. Martini extra muros)52 Seit 1500 gehörte das Kloster zur Bursfelder Kongregation. In der Reformation gab es weder Bestrebungen der Stadt das Kloster aufzuheben, noch kam es zum „Auslaufen“ von Konventsmitgliedern. Auch vom Bauernkrieg blieb es verschont. Der Konvent galt als arm aber zuverlässig; es wurden Seelgerätstiftungen für Arme und Totengedächtnisse auch für lutherisch gesinnte Geistliche 51 Vgl. MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 159; OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 17 f.; TETTAU (Bearb.), Beschreibende Darstellung (wie Anm. 44), S. 229 f.; Anja OSTROWITZKI, Die Benediktinerinnen, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 47–72, hier S. 50 u. 61; Eberhard LIPPMAN, 800 Jahre Andreaskirche und Gemeinde in Erfurt 1216– 2016, [o.O.] 2016. 52 Vgl. MÜLVERSTEDT, Hierographia Erfordensis (wie Anm. 42), S. 157; HAETGE/GOERN (Bearb.), Kunstdenkmale der Provinz Sachsen (wie Anm. 43), Abt. 2, Teil 2, S. 455; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 113; Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/1), St. Ottilien 2011, S. 678 u. 691; OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 37; Manfred EDER, Die Zisterzienserinnen, in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.) Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 73–124, hier S. 103; Die Kirche im Brühl. Festschrift anlässlich 250 Jahre Kirchenweihe nach barocken Neu- und Wiederaufbau der katholischen Kirche zu Erfurt, hg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Martini, Erfurt 2008.

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geschaffen. Die Nonnen kamen aus der angesehenen Erfurter Bürgerschaft. Da sich das Kloster in einem guten Zustand befand, wurde es 1578 in einem Bericht an den Erzbischof als lobendes Beispiel erwähnt. Es blieb bis zur Säkularisation 1819 bestehen.

4.11. Kartäuserkloster53 Das reich begüterte Kloster war zu Beginn des 16. Jahrhunderts relativ bedeutungslos geworden. Die Kartause musste 1525 wertvolle Kirchengeräte, Dokumente und Bücher an den Rat abliefern. Die Stadt beschlagnahmte zudem Teile der Gebäude der Laienbrüder und des Gartens, um die Stadtbefestigung auszubauen. Andere Gebäudeteile wurden von den aufständischen Bauern besetzt. Die Anzahl der Mönche ging so weit zurück (zeitweilig wohnte nur ein Mönch im Kloster), dass der Konvent zwischen 1525 bis 1620 nicht selbst den Prior wählen konnte, sondern vom Generalkapitel zugewiesen erhielt. 1563 versuchte der Erfurter Rat Kloster und Vermögen kurzzeitig zu beschlagnahmen, musste es aber zurückgeben. Das 1803 aufgehobene Kloster gehörte zu jenen Konventen, die seit 1530 Steuern zahlten.

5. Wandel und Umgestaltungen in Leben und Struktur des Kollegiatstiftes St. Marien Erfurt besaß drei Stifte: die Kollegiatstifte St. Marien und St. Severi und sowie das Stift der regulierten Augustinerchorherren. Die Kirche zum Heiligen Brunnen, ursprünglich ein kleines Kollegiatstift, befand sich schon immer in Abhängigkeit vom Marienstift und verlor 1555 endgültig seine Eigenständigkeit.54 St. Severi kann im Folgenden wegen der Parallelität der Abläufe subsumiert werden; das Stift der regulierten Augustinerchorherren wurde wegen der Andersartigkeit seines statuarischen Wesens und Charakters bereits im vorherigen Abschnitt erwähnt. Das bedeutendste Erfurter Stift war das Kollegiatstift St. Marien, das hier eingehender vorgestellt werden soll. Das Marienstift war das größte Sekundar53 Vgl. OPFERMANN, Die thüringischen Klöster (wie Anm. 42), S. 10; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 125; James HOGG, Die Kartäuser (OCart), in: JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 153–174, hier S. 146 u. 164; Ernst HAETGE/Herman GOERN (Bearb.), Kunstdenkmale der Provinz Sachsen (wie Anm. 43), Abt. 2, Teil 2, S. 335. 54 Vgl. Joseph KLAPPER, Die Kirche zum Heiligen Brunnen (Ecclesia Sacri Fontis) in Erfurt (Erfurter Theologische Schriften, 2), Leipzig 1957, S. 64–67.

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stift im östlichen Teil der Erzdiözese Mainz und bestand Ende des 15. Jahrhunderts aus etwa 100 Mitgliedern, Prälaten, Kanonikern, Vikaren, Dienern und Schülern.55 Es verfügte über einen umfangreichen Streubesitz und besaß Pfründe in vielen Orten Thüringens.56 Ähnlich der Stadt Erfurt, deren Besitzungen ebenfalls außerhalb der Stadtmauern lagen und häufig Anlass zu Streit mit den Territorialherren in Thüringen boten, hatte das Stift, um seine wirtschaftlichen Grundlagen nicht zu gefährden, auf politische Konstellationen Rücksicht zu nehmen. Als Stift, das zur Stadt gehörte und mit einer Stiftskirche auch das Gesicht der Stadt prägte, folgte es bis zur Reformation zumeist dem politischen Kurs des Stadtrates, wie überhaupt das Leben der städtischen Gemeinde durch Mitglieder des Marienstiftes und umgekehrt das Leben im Stift durch die Gemeinde geprägt wurde. Auch nachdem die Stadt zu einem großen Teil protestantisch geworden war, blieben partiell Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten bewahrt. Die Mainzer Stiftsfehde (1459–1484),57 das „Tolle Jahr“ (1509), das „Pfaffenstürmen“ (1521) und die „Bauernunruhen“ (1525) brachten für das Stift erhebliche Erschütterungen, die sich sowohl auf die Struktur und das Personal als auch auf den Besitz auswirkten. 1525 wurde sogar die Feier des Gottesdienstes eingestellt und evangelische Prädikanten predigten in der Marienkirche. Erst zu Pfingsten 1526 konnten die Marienkanoniker wieder die heilige Messe in der Stiftskirche feiern. Obwohl zahlreiche Mitglieder des Stiftes geflohen waren und kein Prälat anwesend war, blieb das Marienkapitel nicht ohne Leitung. Von „außen“ unterstützten und leiteten einige geflohene Prälaten das Stift. Finanzielle und personelle Verluste führten in dieser Zeit zu einer Verringerung der Mitglieder und zu Störungen im Stiftsleben. Erst allmählich kam es zu einer partiellen Restauration, die durch den Hammelburger Vertrag von 1530, an dessen Zustandekommen auch Marienkanoniker beteiligt waren, begünstigt wurde.58 55 Bisher gibt es zwei Untersuchungen über das Kollegiatstift St. Marien, den heutigen Mariendom: Franz Peter SONNTAG, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117– 1400 (Erfurter Theologische Studien, 13), Leipzig 1962; PILVOUSEK, Die Prälaten (wie Anm. 11). 56 Der Propst von St. Marien war Archidiakon des Archidiakonates Beatae Mariae Virginis (BMV). Zum Archidiakonat St. Marien gehörten 18 Sedes. Damit war er der größte der Erzdiözese Mainz. 504 Pfarreien lassen sich für den Archidiakonat nachweisen. Vgl. Martin HANNAPPEL, Das Gebiet des Archidiakonates Beatae Mariae Virginis Erfurt am Ausgang des Mittelalters. Ein Beitrag zur kirchlichen Topographie Thüringens (Arbeiten zur Landes- und Volksforschung, 10), Jena 1941, S. 371. 57 Vgl. Carl BEYER/Johannes BIEREYE, Geschichte der Stadt Erfurt von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Bd. I: Bis zum Jahre 1664, Erfurt 1935, S. 212 f. 58 Vgl. SCRIBNER, Reformation (wie Anm. 19), S. 261–265; PILVOUSEK, Die Prälaten (wie Anm. 11), S. 19–21 u. 114–117.

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5.1. Strukturelle, personelle und wirtschaftliche Veränderungen Aufgrund der konfessionellen Veränderungen in der Stadt in den 1520er Jahren verwundert es ein wenig, dass es hinsichtlich der äußeren Struktur des Marienstiftes kaum Veränderungen gab. So änderte sich die Zahl der Stiftsmitglieder – bereits seit Ende der 1520er Jahre zwischen 20 und 30 schwankend – bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts nur geringfügig. 1560 zählte man 14 Kanoniker, 1575 13 Kanoniker und einen Domizellar, 1589 14 Kanoniker, drei Brunnenvikare, 14 residierende Vikare und drei nichtresidierende Vikare und 1603 15 Kanoniker, zehn residierende Vikare, vier nichtresidierende Vikare und 33 Familiares.59 Die Anzahl der Kanonikate wurde dennoch nicht verringert, lediglich, wie es seit jeher Brauch war, diese nicht mehr besetzt und ihre Einkünfte vom Kapitel einbehalten.60 Die Prälaturen blieben besetzt, wenn auch öfter mit längeren Vakanzen. Das Dekanat war in den Jahren von 1552 bis 1557 und die Scholasterie zwischen 1550 und 1555 unbesetzt geblieben.61 Nichtresidierende Vikare waren Amtleute oder Pfarrer, die eine der restlichen katholischen Stadtpfarreien innehatten. Bäcker, Speichermeister, Baumeister und Glöckner sind weitere erhalten gebliebene Funktionsträger. Unverändert hoch waren die zu haltenden Gedächtnisgottesdienste, die wiederum eine Vielzahl von Priestern voraussetzten, die natürlich Residenz zu halten hatten. Die Zahl der Seelgerätsstiftungen hatte nur geringfügig abgenommen.62 An einem Tag konnten bis zu 20 Messen vorgeschrieben sein.63 Die Anzahl der Ämter blieb selbst dann gleich, wenn finanzielle Ausfälle aus den umliegenden Dörfern zu verzeichnen waren.64 Das Kapitel musste versuchen, neue Ländereien zu erwerben bzw. Gelder zu beschaffen, um für ein ausreichendes Einkommen der Stiftsmitglieder zu sorgen. 1539 liehen sich Dekan 59 Vgl. Bistumsarchiv Erfurt, Domarchiv Marienstift (im Folgenden: BA Erfurt, DA Marienstift), V d 1–6. 60 Vgl. PILVOUSEK, Die Prälaten (wie Anm. 11), S. 35–40. 61 Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, V d 1–6. 62 Vgl. Necrologium collegiatae b. Mariae Virginis ecclesiae Erfordensis. Badische Landesbibliothek zu Karlsruhe, Cod. St. Peter so auch Abschrift von Heinrich Beyer im: BA Erfurt, DA Marienstift, Hs Erfurt 10. 63 Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II S 2. 64 Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift: Officium Distributoris, I B 16, 1585–1596; Officium Canonicorum, I C 2, 1558; C 3, 1559; C 8, 1668; Officium Fabricae, I D 4, 1546–1563; D 5, 1564–1574; D 6, 1575–1588; D 7, 1588–1601; Officium Aequalitatis, I E 2, 1550– 1596; E 3, 1598–1620; Officium Cellariae, I G, 6 1552–1596; Officium Horrei, I J. 1549– 1566; Officium Decani, I L 4. 1587. Die Propstei (I A 9, 1554–1573; A 10, 1590; A 11, 1595, A 12, 1598; A 13, 1606) war nach wie vor, bedingt durch hohe Einnahmen, die attraktivste Prälatur.

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und Kapitel von der Thesaurie und einigen Kanonikern Geld, um den Besitz des Mainzer Petersstiftes in Großmonra zu kaufen.65 Das Mainzer Viktorstift verkaufte dem Marienstift 1545 für 250 Taler alle seine Besitzungen in Thüringen, die es seit 1465 an dasselbe verpfändet hatte.66 Dekan und Kapitel verpachteten 1543 28 ¾ Acker an das Ehepaar Eckhardt und erhielten dafür jährlich 5 Malter Korn und Gerste.67 Ein Bürger aus Molsdorf verpachtete 1546 an Dekan und Kapitel des Marienstiftes 3 Acker Artland.68 Auch Stiftungen für die „Präsenz“ des Stiftes wurden wieder getätigt. 1540 quittierte der Dekan 600 Gulden, die ein Stiftsmitglied dem Officium Aequalitatis vermacht hat.69 Im Dezember des gleichen Jahres bestätigte der Dekan die Stiftung eines Mitkanonikers über 200 Gulden für die Präsenz.70 Den Testamentsvollstreckern eines verstorbenen Kanonikus bestätigte 1546 der Dekan, dass die Memorienstiftung jenes Kanonikers in Höhe von über 500 Gulden ordnungsgemäß ausgehändigt wurde.71 Auch hinsichtlich der gemeinsamen Präsentation von Vikarien hatten Magistrat und Stift ab 1538 einen Modus vivendi gefunden. So präsentierten der Dekan und der Rat der Stadt 1545 gemeinsam einen neuen Vikar für die Vikarie St. Andreas in der Hospitalkirche.72 Von 1537 bis 1546 war die Stiftsschule geschlossen gewesen, weil es vermutlich zu wenige Schüler gab.73 1546 scheint die Anzahl der Schüler wieder so gestiegen zu sein, dass man einen Schulmeister bestellen musste. Die finanziellen Mittel und vermutlich auch das Gebäude waren nicht mehr vorhanden. So wurde eine Vikarie umgewidmet und dem „Schulmeisterampt“ inkorporiert. Ein Kleriker, der vom Dekan und Scholaster eingesetzt wurde, erhielt diese Vikarie gleichsam als Entlohnung.74 Die Stiftsschule war wieder eröffnet worden und die Schüler versahen, wenn auch nicht immer zur Freude der Kapitulare, ihre Pflichten beim Gottesdienst.75 Am 15. Juli 1538 gründeten der Dekan und das Kapitel von St. Marien zur „Bekämpfung der Irrlehre“ eine neue, schon lange vorbereitete Predigtstelle, die nur mit einem Doktor oder Lizentiaten der Theo-

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Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II 298 (29. Januar 1539). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, I 1476b (Mainz, 13. März 1545). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II 313 (12. November 1543). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II 328 (30. Juni 1546). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 237 (30. September 1540). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 238 (1. Dezember 1540). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 248 (5. Januar 1546). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II 323 (9. Dezember 1545). Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, V c 5. Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 68 (28. September 1452). BA Erfurt, DA Marienstift, III (4. Mai 1583): „Die Chorales kommen in den Chor, wann sie wollen, tragen mützen, gehen in der Kirchen spazieren, sind absent sine licentia.“

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logie besetzt werden durfte, vereinigten sie mit einer gestifteten Prädikatur und statteten sie mit ausreichend Kapitalien aus.76 Die großen Gottesdienste wurden weiter zelebriert77 und auch Prozessionen nahmen von der Marienkirche ihren Ausgang oder wurden hier beendet.78 Das Coelicum blieb Vorlesungssaal der Theologischen Fakultät und deren feierlicher Versammlungsort.79 Der Hochchor der Marienkirche war feierlicher Ort der Promotionen,80 und für die Lektoralpräbenden des Stiftes hatten der Rat und die Universität, sofern fähige Bewerber vorhanden waren, das Präsentationsrecht behalten.81 Und natürlich waren Mitglieder des Stiftes bei der erzbischöflichen Verwaltung und am Geistlichen Gericht in Erfurt tätig. Trotz dieser relativen Beständigkeit lassen sich aber auch Wandlungen feststellen.

5.2. Funktionelle Veränderungen Es fällt auf, dass trotz aller Renovation in der städtischen Öffentlichkeit kaum noch von Mitgliedern des Stiftes die Rede war und wenn, dann eher negativ wie beim sächsischen Kanzler Melchior von Ossa, der 1554 die Mitglieder der beiden Stifte als des geistlichen Standes völlig unwürdige Personen beschrieb, die in den Schänken ihr Unwesen treiben würden.82 Diese Darstellung relativiert sich schon dadurch, dass bei der geringen Zahl der Stiftsmitglieder und deren fortgeschrittenem Alter kaum an größere Exzesse zu denken ist. Ernster hat man wohl die Vorwürfe von Heinrich Knaust zu nehmen, der 1565 über sein Leben als Scholaster schrieb, er sei hier sehr übel dran und „daß man ihn gegen sein Gewissen dingen wolle“, die Messe zu halten. Außerdem sei man im Kapitel so eins wie Hund und Katze. Außerdem meinte Knaust mit Blick auf bestimmte Stiftsmitglieder, dass er unter ihnen „als eine Eule unter 76 Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, II 294 (15. Juli 1538); I 1475 (15. Juli 1538). 77 Vgl. Joseph KLAPPER, Die Blutkapelle des Erfurter Doms, in: Erich KLEINEIDAM/Heinz SCHÜRMANN (Hg.), Miscellanea Erfordiana (Erfurter Theologische Studien, 12), Leipzig 1962, S. 272–290, hier S. 272. 78 Zwar wurde die Verantwortlichkeit der sog. „Brühlprozession“ von den Kanonikern abgegeben, ohne die Stiftskirche St. Marien war sie dennoch nicht zu denken. Schließlich wurde sie 1660 an die Marienkirche verlegt; vgl. MEISNER, Nachreformatorische katholische Frömmigkeitsformen (wie Anm. 48), S. 27–47. 79 Vgl. Joachim MEISNER, Das Auditorium Coelicum am Dom zu Erfurt. Ein Beitrag zur Universitätsgeschichte Erfurts (Erfurter Theologische Studien, 6), Leipzig 1962, S. 27–47. 80 So beispielsweise 1561; vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 93. 81 Vgl. ebd. S. 166 f. 82 Vgl. Johannes JANSSEN, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, VII., Freiburg im Breisgau 1893, S. 112.

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den Krähen“ leben müsse und er nicht wissen könne, ob er ihnen „zu gelehrt oder ungelehrt“ sei.83 Was der eigentliche Grund dieser Klage war, wird aus einem Aktenvermerk aus dem Jahre 1574 deutlich. Ganz offensichtlich hatte man für alle Kanoniker die Befolgung der Statuten in einer Weise angeordnet, wie sie für die Entstehungszeit galten, aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schon längst nicht mehr gehalten wurden. So forderte Knaust, die Statuten zu ändern, weil sie von „1339 13. Juni sein, also 235 jare alt und nur dafür gemacht“.84 Diese besagten nämlich in § 1, dass Prälaten persönlich residieren müssten und ihre Pflichten und Ämter persönlich wahrzunehmen hätten.85 In § 41 wurde hinsichtlich der Messe entschieden, dass der Dekan oder sein Stellvertreter an bestimmten Festen zu zelebrieren gehalten seien.86 Offenbar hatte Knaust – er war Scholaster und somit Vertreter des Dekans – gegen diese zwei Paragraphen verstoßen, so dass ihm Gelder gesperrt worden waren. Die „schlimmen“ Zustände im Marienstift scheinen bis zum Ende des Jahrhunderts – folgt man der einschlägigen Literatur87 – nicht abgenommen zu haben. Selbst im Archiv des Marienstiftes findet sich eine Fülle von Akten, die von Auseinandersetzungen berichten. So scheint es notwendig, diese Streitigkeiten näher zu untersuchen, um dann möglicherweise dem anvisierten Ziel, der Darstellung funktioneller Veränderungen im Marienstift, näher zu kommen. Zwei Konfliktparteien lassen sich durch zwei Funktionsträger des Marienstiftes klar umschreiben. Zum einen ist es der Dekan des Marienstiftes, Dr. iur. can. Dietrich Buhemeier,88 zugleich Siegler des erzbischöflichen Gerichtes und zeitweise Vizekanzler der Universität, zum anderen Dr. theol. Nikolaus Elgard,89 83 Vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 106 (Anm. 393a). 84 BA Erfurt, DA Marienstift, Mar. V c 5. 85 So heißt es in den Statuten des Marienkapitels zu Erfurt: „Praelati debent personaliter residere et per se regere officia sua“. Badische Landesbibliothek zu Karlsruhe, Cod. St. Peter perg 50 a, fol. 96va–99rb, hier fol. 96va. 86 §41: „Item in festis in quibus deacanus vel eins vices gerens celebrare tenetur et celebrat seniores canonici diaconi et subdiaconi ministrabunt vel allos canonicos subrogabunt.“ (ebd., fol. 98va). 87 Besonders Lorenz DREHMANN, Der Weihbischof Nikolaus Elgard. Eine Gestalt der Gegenreformation. Mit besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit in Erfurt und auf dem Eichsfeld (1578–87) auf Grund seiner unveröffentlichten Briefe (1572–85) (Erfurter Theologische Studien, 3), Leipzig 1958, S. 49–60. 88 Zur Biographie vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 90 f., 94, 99, 105, 117 u. 150. 89 Zur Biographie und seiner Tätigkeit in Erfurt vgl. Christian GREBNER, Kaspar Gropper (1514 bis 1595) und Nikolaus Elgard (ca. 1538 bis 1587). Biografie und Reformtätigkeit. Ein Beitrag zur Kirchenreform in Franken und im Rheinland in den Jahren 1573 bis 1576 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 121), Münster 1982, S. 175–309.

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Weihbischof in partibus Thuringiae et Saxoniae, Propst des Marienstiftes und ebenfalls Vizekanzler der Universität. Beim ersten Zusammentreffen der beiden Prälaten könnte Buhemeier über 60 Jahre und Elgard 40 Jahre alt gewesen sein. Buhemeier war durch die konfessionellen Verhältnisse in Erfurt und die schmerzliche Erkenntnis ihrer Unwandelbarkeit geprägt, Elgard durch seine vielen Erfahrungen im Dienst der Reform der Kirche. Sah der Dekan seine vorrangige Aufgabe darin, den seiner Meinung nach notwendigen konfessionellen Frieden in der Stadt zu wahren, so wollte Elgard die Beschlüsse des Trienter Konzils durchsetzen. Hier prallten nicht nur zwei Meinungen aufeinander, sondern zwei nicht zu vereinbarende theologische Konzeptionen. Dementsprechend verlief dieser Streit und hatte am Ende keinen Sieger. Beide hatten ihre Gefolgsleute: Buhemeier vor allem die älteren Kapitelsmitglieder,90 Elgard vor allem jene Kleriker, die im Geiste des Tridentinums bei den Jesuiten ausgebildet worden waren und denen er, begünstigt durch erzbischöfliche Provisionen, zu Pfründen in Erfurt verhalf.91 Aus den Vorwürfen, die man sich gegenseitig machte, lässt sich, abgesehen von persönlichen Angriffen, sehr gut rekonstruieren, welche Aufgaben die zwei Gruppen für das Stift favorisierten. Die vielfältigen und ständigen Klagen Buhemeiers über die Anhänger Elgards – weniger über ihn – kreisten alle um das Problem der Einhaltung der Statuten.92 Im Besonderen warf der Dekan ihnen vor, sie hätten die Residenzpflicht verletzt und ihr Verhalten, vor allem ihre Kleiderordnung,93 wäre ungeistlich gewesen. Im speziellen Fall des Scholasters Heinrich Selge, monierte 90 Vgl. DREHMANN, Nikolaus Elgard (wie Anm. 87), S. 53. 91 Zunächst sind es Mitglieder des Marienstiftes, die früher mit Buhemeier in Konflikt geraten waren, so vor allem Johannes Corner, der wie Elgard in Bologna zum Doktor der Theologie promovierte und der vorher, gegen den Willen des Dekans, zum Magister Artium promoviert worden war; vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 4), Bd. III, S. 185 f. Hinzu kommen Germaniker, die entweder von Elgard nach Erfurt geholt worden waren, wie Michael Hertzig und Vitus Miletius, oder wie der in Rom zum Doktor beider Rechte promovierte Heinrich Selge, vgl. KLEINEIDAM, Universitas, Bd. III, S. 113 u. 206; GREBNER, Kaspar Gropper (wie Anm. 89), S. 276–281. 92 Vgl. den Aktenbestand im Staatsarchiv Würzburg, MRA Stifte und Klöster, K 745/2841: Klagen des Sieglers zu Erfurt wegen des ärgerlichen Lebenswandels und der unziemlichen Kleidertracht der Geistlichen beider dortigen Stifter S. Mariae und S. Severi. Außer um die Einhaltung der Residenz und der regelmäßigen Teilnahme am Chorgebet ging es um die Kleiderordnung. Elgard und seine Anhänger unterschieden sich von den Kanonikern des Stiftes dadurch, dass sie Bärte und Birette trugen. 93 1569 war vom Mainzer Erzbischof ein Mandat ergangen, das die Kleiderordnung der Kleriker bestimmte. Buhemeier bittet den Erzbischof 1582 darum, dieses Mandat zu erneuern, was dieser nur insofern tat, indem er die Mitglieder beider Stifte zu einem gottgefälligen Wandel aufforderte; vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III, 4; Staatsarchiv Würzburg, MRA Stifte und Klöster, K 745/2845, fol. 27r–28r.

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der Dekan diesem gegenüber, er hätte seine Amtspflichten verletzt. Selge wurde vorgeworfen, er habe die nötige Aufsicht über die Knaben im Chor vernachlässigt, was den Gottesdienst gestört hätte.94 Wieder findet sich, wie schon 20 Jahre vorher, die Forderung nach strenger Einhaltung aller Statuten. Dass Elgard und seine Parteigänger oft gegen die Gewohnheiten durch erzbischöfliche Provision ein Kanonikat erhalten hatten, dürfte den Dekan zusätzlich gereizt haben. Buhemeier reagierte auf die Verletzung der Statuten – wie vorgesehen – mit Sperrung oder Einbehaltung der Präsenzgelder.95 Die Klagen Elgards und seiner Anhänger erscheinen auf den ersten Blick diffus. Buhemeier hätte Reformen verhindert, seine Amtspflichten vernachlässigt und das Stift allein regiert. Außerdem würde er alles kontrollieren und sei nur auf das Geld bedacht.96 Die wenigen Beispiele, wie sie vor allem aus den Kapitelsprotokollen vorliegen, geben jedoch kaum Aufschluss darüber, was die Gegner Buhemeiers wirklich im Konkreten kritisierten. Es mag sein, dass Buhemeier aus persönlichen Motiven die Vorschriften strenger als gewöhnlich auslegte, aber sowohl das geschriebene Recht als auch das Gewohnheitsrecht beugte er damit nicht. Was die Gegner Buhemeiers, allen voran Elgard, zu formulieren suchten, schien noch so neu, dass es an Begrifflichkeiten fehlte, dies adäquat auszudrücken: Es ging im weitesten Sinne um die Effizienz apostolischer Tätigkeit und des missionarischen Einsatzes, und zwar in einer Form, wie es sie erst nach dem Tridentinum, inspiriert durch die Jesuiten, deren Schüler Elgard und seine Anhänger waren, gab.97 Um mobil und damit apostolisch effizient sein zu können, musste die Residenzpflicht und ebenso eine spezifische Kleiderordnung als störend empfunden werden.98 Durch Ignatius von Loyola selbst waren Grundlagen mönchischen („stiftischen“) Lebens relativiert worden: das gemeinsame Chorgebet und eine verpflichtende Lebensform in einem Konvent.99 So standen sich auch zwei völlig 94 Vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 4,5, 1584. 95 Vgl. PILVOUSEK, Prälaten (wie Anm. 11) S. 27–31. 96 BA Erfurt, DA Marienstift, V c 2: Beschwerden der Kapitulare über die Amtsführung des Dekans Buhemeier 1584. 97 Man kann sich gut vorstellen, dass Elgard die Aufgabe für die Stiftsmitglieder darin sah, in der Stadt Erfurt selbst und in den protestantisch gewordenen Orten Katechesen zu halten, zu predigen und Sakramente zu spenden, um möglichst viele Protestanten für die Kirche zu gewinnen, und dass er dabei die Jesuiten als Vorbild hatte; vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, Compendium historiae collegii Societatis Iesu Erfurti, 1586, fol. 1. 98 Vgl. Heribert SMOLINSKY, Kirchengeschichte der Neuzeit, Bd. 1, Düsseldorf 1993, S. 204. 99 Vgl. Günter SWITEK, Eigenart der Gesellschaft Jesu im Vergleich zu den anderen Orden, in: Michael SIEVERNICH/DERS. (Hg.), Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg 1990, S. 217–232.

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unterschiedliche Auffassungen über die Funktion von Weltpriestern in einem Stift, ja über die Aufgabe eines Stiftes generell gegenüber: Die eine Seite suchte die Rückbesinnung auf die Anfänge des Stiftes, insbesondere auf die Zeit der Statutengebung. Wie nie in der Stiftsgeschichte zuvor versuchten sie nun konsequent so zu leben, um der Aufgabenstellung, gemeinschaftlich Kleriker zum Lobe Gottes zu sein, zu entsprechen. Die andere Seite versuchte sich wegen der veränderten Zeitumstände im Vorausblick von allen Einschränkungen zu lösen, um apostolisch-missionarisch tätig sein zu können. Drohte der einen Seite die Erstarrung durch eine übertriebene Einschnürung in ein mittelalterliches Statutenwerk, so lief die andere Seite Gefahr, eine ursprünglich mittelalterliche Einrichtung durch eine neuzeitliche Aufgabenstellung zu destruieren oder, schärfer formuliert, ein Kollegiatstift in eine Niederlassung für Weltpriester mit jesuitischer Spiritualität umzuwandeln. Im Zwist der beiden Seiten fällt dabei auf, dass Buhemeier und seine Anhänger ebenso wie Elgard mit seinen Sympathisanten sich gegenseitig Kontakte zum Rat der Stadt Erfurt vorwarfen.100 Dies scheint etwas kurios, da beide Seiten bewusst diese Kontakte pflegten. Sie waren sich – wohl unabgestimmt nach verschiedenen gewalttätigen Übergriffen auf das Stift und die Stiftsfreiheit – darüber einig, dass in einer überwiegend protestantischen Stadt Konzessionen an die Stadtregierung notwendig waren, um das stiftische Leben nicht zu gefährden,101 auch wenn dies gegen die Intentionen des Mainzer Erzbischofs gewesen sein dürfte. Nikolaus Elgard starb 1587 und nur wenig später Dietrich Buhemeier 1589. Inzwischen hatten die Parteigänger Elgards die wichtigsten Positionen im Stift 100 So warf Buhemeier einem Anhänger Elgards vor, er kollaboriere mit dem Rat, weshalb er auch wisse, was hin und wieder mit diesem oder jenem zu tun ist. Vgl. Staatsarchiv Würzburg, MRA Klöster und Stifte, K 745/2841, fol. 21r u. 13 (November 1591). Buhemeier berichtete in seinem Tagebuch, dass er mit dem Rat verhandelt habe, um die Klagen wegen der Predigttätigkeit Elgards, den man für einen „neuwer Jesuiter“ hielt, abzuwehren; vgl. BA Erfurt, DA Marienstift, III 44. Im Jahr 1578 hatte Elgard das Ratsmitglied Jakob Nafftzer aufgesucht und versprochen, sich in seinen Predigten nicht gegen die Augsburger Konfession zu wenden; vgl. GREBNER, Kaspar Gropper (wie Anm. 89), S. 270. 101 Neben der Kalenderreform von 1583, die immer wieder zur Störung der Feiertage führte, ist vor allem ein Ereignis aus dem Jahre 1579 zu nennen, das leicht zu einem erneuten „Pfaffenstürmen“ hätte führen können. Buhemeier hatte zum Schutz der Prozessionen ein Brettertor an den Domstufen errichten lassen, so dass die Kavaten für die Bürger nicht mehr zugänglich waren. Aufgebrachte Bürger inszenierten Krawalle und rissen die Umzäunung teilweise nieder. Der in Form eines Galgens übriggebliebene Rest wurde als Hinrichtungsstätte der Jesuiten deklariert. Schließlich musste das Stiftskapitel das Brettertor wieder entfernen; vgl. MEISNER, Nachreformatorische Katholische Frömmigkeitsformen (wie Anm. 48), S. 14 u. 103.

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besetzt. In den nächsten Jahrzehnten sollte sich, was die Strukturen und Mitgliederzahlen des Stiftes betrifft, von der kurzen schwedischen Besatzungszeit von 1631 bis 1635 einmal abgesehen,102 nichts mehr ändern. Die Streitigkeiten im Kapitel hinsichtlich der Übertretung von Statuten hatten ihr Ende gefunden. Die 1585 wiederum in alter Form in Geltung gesetzten Statuten behielten auch weiter ihre Gültigkeit und waren lediglich durch einen Vorsatz aus dem Jahre 1576, der besagte, dass die Mitglieder des Stiftes einen Eid auf den katholischen Glauben abzulegen hatten,103 ergänzt worden. War also dieser Streit um die Funktion des Stiftes und seiner Mitglieder ohne Ergebnis geblieben? Mir scheint, dass man zwar im Marienstift einen Kompromiss finden wollte, letztlich aber an der Starrheit der Institution Stift scheiterte. Die konsequente Durchführung der von Elgard beabsichtigten Reformen hätte eine Destruktion der stiftischen Strukturen bewirkt: Ortsbeständigkeit, gemeinsames Chorgebet und die verpflichtende Form einer Kommunität hätten aufgegeben werden müssen. Dieser kollegial und korporativ verfassten, in einer überwiegend protestantischen Stadt beheimateten kirchlichen Institution wäre ihre Existenzgrundlage entzogen worden. Nicht zuletzt lebte man in einer überwiegend protestantischen Stadt, in der man vor allem auf die Toleranz des Rates angewiesen war. Wie die Geschichte der Reformation in Erfurt gezeigt hatte, war gerade das Marienstift mit seiner das Bild der Stadt prägenden Kirche ein durchaus provozierend wirkendes Symbol des Katholizismus sowie der Herrschaft des Mainzer Erzbischofs. Dass die Mitglieder des Marienstiftes sich auch in den nächsten Jahrzehnten in konfessionellen Fragen eher zurückhielten und dies den Jesuiten überließen, wird dadurch leichter verständlich. So lässt sich festhalten, dass das Erfurter Kollegiatstift St. Marien in Struktur und Verfassung trotz konfessioneller, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen kaum einen Wandel erfuhr, wohl aber funktionelle Veränderungen, die nur unzulänglich als ein Bewahren von Traditionen definiert werden können. Die Rückbesinnung auf die Ursprünge war bei den Statuten und ihrer strengen Befolgung stehengeblieben, weniger bei der ursprünglichen Intention, eine Gemeinschaft von Klerikern zu sein.104 Dazu hätte es auch, wie die Ursprünge zeigen, einer Vielzahl von Gläubigen bedurft, die es zu dieser Zeit in Erfurt und 102 BEYER/BIEREYE, Erfurt (wie Anm. 57), S. 532–536; Alfred KIRCHHOFF, Erfurt und Gustav Adolf, in: Ottomar LORENZ (Hg.), Erfurter Lutherfest-Almanach. Zum Besten des Luther-Denkmals in Erfurt, Erfurt 1883, S. 131–266. 103 BA Erfurt, DA Marienstift, V d 1–6: Juramentum Catholice fidei. 104 Vgl. Erich MEUTHEN, Stift und Stadt als Forschungsproblem der deutschen Geschichte, in: DERS. (Hg.), Stift und Stadt am Niederrhein. Referate der 3. Niederrheintagung des Arbeitskreises niederrheinischer Kommunalarchive (Klever Archiv. Schriftenreihe des Stadtarchivs Kleve, 5), Kleve 1984, S. 9–26, hier S. 10.

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den umliegenden Orten nicht mehr gab. Sieht man aber das Anliegen des Trienter Konzils darin, der faktischen Zerrissenheit der christlichen Kirchen das Bild einer klar und hierarchisch strukturierten katholischen Kirche entgegenzusetzen, die unverändert treu das Erbe ihres Stifters und geheiligte Traditionen weiterträgt, wer wollte behaupten, dass das Marienstift in Erfurt zu Beginn des 17. Jahrhunderts diesem Ideal nicht gerecht geworden wäre? Und je stärker sich in allen Konturen das Bild eines Stiftes nach innen und außen darbot, das unverändert nach alten Traditionen lebte, selbst ein Teil der Traditionen war, um so stärker glaubte man dem zu entsprechen, was man in dieser Zeit auch als Wesen des Katholizismus verstand. Es dauerte schließlich noch fast ein Jahrhundert, bis bestimmte Entwicklungen hinsichtlich der Orden, Klöster und Stifte zu einem einstweiligen Abschluss gekommen sind. Die Reduktion von 1664 ist dabei als terminus a quo anzusehen.

STEFAN MENZEL VON DER RELIQUIEN- ZUR OFFIZIENTRANSLATION

Von der Reliquien- zur Offizientranslation Der Erfurter Severus-Kult aus musik- und kulturhistorischer Perspektive (ca. 850–1500)

1. Einleitung Die systematische Auflösung von Klöstern und Stiften im Zuge der Reformation hatte den fast vollständigen Zusammenbruch der mitteldeutschen Choralpflege monastischer und kathedraler Prägung zur Folge. Der Verlust des institutionellen Rahmens bewirkte ein jähes Abreißen der Überlieferung. Von den einst umfangreichen Beständen an Antiphonaren, Gradualen, Sequentiaren, Tonaren etc. künden bestenfalls noch Fragmente, die in zeitgenössischen Einbänden verarbeitet wurden.1 Vor allem im Falle Erfurts wiegt dieser Verlust schwer: Am Vorabend der Reformation verfügte das ‚Rom Thüringens‘ über 31 Kirchen2 und darf rückblickend als eines der wichtigsten mitteldeutschen Zentren geistlicher Musik gelten. Die einzigen detaillierten Studien zur vorreformatorischen Erfurter Kirchenmusik sind jene Franz Körndles, wenngleich er mehrstimmige Prozessions-

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Im Text und Anmerkungsapparat werden folgenden Abkürzungen verwendet: CAO = Corpus Antiphonalium Officii, Bd. 3: Invitatoria et antiphonae. Editio critica, hg. von René-Jean HESBERT, Rom 1968; D-DÜlk = Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek; D-EFd = Erfurt, Bistumsarchiv; D-Hau = Halle, Universitäts- und Landesbibliothek; D-KA = Karlsruhe, Badische Landesbibliothek; D-KBs = Koblenz, Stadtbibliothek; D-Mbs = München, Bayrische Staatsbibliothek; D-TRs = Trier, Stadtbibliothek; F-AS = Arras, Bibliothèque Municipale; F-BSM = Boulogne-sur-mer, Bibliothèque Municipale; F-SOM = Saint-Omer, Bibliothèque Municipale. Einen sehr anschaulichen Überblick über das Phänomen bietet der Katalog zu einer diesen Fragmenten gewidmeten Ausstellung im Jahr 2011. Vgl. Andreas TRAUB/Annekathrin MIEGEL (Hg.), Musikalische Fragmente. Mittelalterliche Liturgie als Einbandmakulatur (= Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg und der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg), Stuttgart 22013. Vgl. Rainer MÜLLER, Erfordia turrita – das turmreiche Erfurt. Gestalt, Funktion und Bedeutung mittelalterlicher Kirchtürme, in: Mark ESCHERICH/Christian MISCH/DERS. (Hg.), Entstehung und Wandel mittelalterlicher Städte in Thüringen (Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte, 3), Berlin 2007, S. 127–153.

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Gesänge untersuchte, die in den Kreis der paraliturgischen Musik fallen.3 Studien zur einstimmigen liturgischen Gesangspraxis an Erfurter Kirchen, Klöstern und Stiften fehlen bis auf den heutigen Tag, obschon diese nicht nur fragmentarisch, sondern zum Teil durch vollständige Choralhandschriften dokumentiert ist. Zu nennen wären hier vor allem die beiden Graduale des Erfurter Neuwerkklosters aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts4 sowie zwei Chorbücher des Marienstiftes, ein Antiphonar (Ende 14. Jahrhundert) und ein Graduale (um 1500).5 Die noch ausstehende Erschließung der Handschriften kann im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Stattdessen soll der Versuch einer punktuellen historischen Verortung des in diesen Quellen dokumentierten liturgischen Singens unternommen werden. Anhand eines ausgewählten Beispiels sollen Verbindungen Erfurts zur liturgischen Musikkultur des Spätmittelalters sondiert werden. Dieses Vorgehen diktiert nicht nur die Quellenlage, sondern auch die Situation der zeitgenössischen Koexistenz zahlreicher kirchlicher und klösterlicher Gesangsinstitute in der Stadt, eingedenk derer es unmöglich erscheint, pars pro toto von e i n e r spätmittelalterlichen Musikgeschichte Erfurts zu sprechen. Als Beispiel soll ein Reimoffizium des heiligen Severus dienen, dessen Melodien im oben genannten Antiphonar des Marienstiftes überliefert werden.6 Der arme Wollweber, welcher im 4. Jahrhundert dank eines Wunders zum Bischof Ravennas gewählt wurde,7 erscheint als Idealtypus des spätmittelalterlichen Heiligen, transzendierte er als ‚Laienbischof‘ doch die traditionelle laikal-klerikale Sozialhierarchie, die Bruderschaften und Bettelorden seit dem Hochmittelalter

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Franz KÖRNDLE, Musikalische Mehrstimmigkeit an der Erfurter Marienkirche im Mittelalter, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 10 (2015), S. 91–110; DERS., Das zweistimmige Notre-Dame-Organum „Crucifixum in carne“ und sein Weiterleben in Erfurt (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, 49), Tutzing 1993. D-KA, St. Peter perg. 16 u. 44. Vgl. Felix HEINZER/Gerhard STAMM, Die Handschriften von St. Peter im Schwarzwald, Bd. 2: Die Pergamenthandschriften, Wiesbaden 1984, S. 38 f. D-EFd, Hs. Lit 6 und 6a. Vgl. Franz KÖRNDLE, Missale für St. Marien in Erfurt. Erfurt, Bistumsarchiv Hs. Lit 6, in: Christoph FASBENDER (Hg.), Bescheidenheit. Deutsche Literatur des Mittelalters in Eisenach und Erfurt, Gotha 2006, S. 54 f. D-EFd, Hs. Lit 6a, fol. 262v–265v. Als sich die Ravenneser in der Bischofskirche versammelten, um die Wahl abzuhalten, setzte sich eine Taube auf Severus’ Haupt. Das Ereignis wiederholte sich dreimal, worauf man dies als göttliches Zeichen interpretierte und ihn zum Bischof weihte. Eine deutsche Übersetzung der Legende findet sich in: Otto BUCHNER, Der Severi-Sarkophag zu Erfurt und sein Künstler, samt Übersetzung der Vita und Translatio Sancti Severi des Priesters Liutolf, Erfurt 1903.

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unterminiert hatten.8 Das institutionell eng mit dem Marienstift verbundene Severistift wurde Anfang des 12. Jahrhunderts gewissermaßen auf den Gebeinen des Heiligen errichtet, die bereits seit dem 9. Jahrhundert auf dem nach ihm benannten Berge ruhten. Die Severus-Reliquien zählen somit zu den ältesten der Stadt,9 die „Realpräsenz“10 des Heiligen dürfte die spirituelle Topographie Erfurts nachhaltig geprägt haben. Dass die jährliche Zelebration seines Festes am 22. Oktober von exponierter memorialkultureller Bedeutung für die beiden Stifte und Archidiakonate war, darf angenommen werden. Die Genese des Offiziums als Bestandteil der Erfurter Frömmigkeitskultur nachzuzeichnen, erscheint somit als klares Desiderat. Reim-, Vers- oder Heiligenoffizien, auch als historiae rhythmicae bekannt, sind (zumeist) in gebundener Rede verfasste Zyklen von Antiphonen und Responsorien, die im Stundengebet gesungen werden. Liturgisches Kernstück dieser Historien sind die Gesänge der Nokturnen, in deren Lektionen die Vita des jeweiligen Heiligen rezitiert wird. Ein Versoffizium liegt in der Regel als vollständiger, alle Horen des Festes umfassender Zyklus vor – einen entsprechend hohen Festrang vorausgesetzt, kann dieser von der ersten bis zur zweiten Vesper reichen. Heiligenoffizien fristen ein Schattendasein in der Musikgeschichtsschreibung, wohl weil diese sich stillschweigend dem Urteil Luthers anschloss, der dieselben nebst den Heiligenviten als nicht in der Heiligen Schrift gegründet ablehnte und dem Primat des Psalters unterwarf.11 Obschon zahlreiche Reim-

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Vgl. Klaus SCHREINER, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: DERS./Elisabeth MÜLLER-LUCKNER (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge (Schriften des Historischen Kollegs, 20), München 1992, S. 1–78. 9 Die Reliquien der Stadtheiligen Adolar und Eoban wurden erst im 12. Jahrhundert aufgefunden. Vgl. Arno WAND, Die Geschichte der Kirche Thüringens (6. bis 13. Jahrhundert). Von Radegundis bis Elisabeth, Heiligenstadt 2007, S. 182. 10 Vgl. Hartmut KÜHNE, Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 75), Berlin 2000, S. 817 f.; Arnold ANGENENDT, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg 22007, S. 183–189. 11 „Ich halte aber, daß kein feiner Exempelbuch oder Legenden der Heiligen auf Erden kommen sei, oder kommen möge, denn der Psalter ist. Und wenn man wünschen sollte, daß aus allen Exempeln, Legenden, Historien, das Beste gelesen und zusammengebracht und auf die beste Weise gestellet würde, so müßte es der jetzige Psalter werden. Denn hier finden wir nicht allein, was Einer oder zween Heiligen gethan haben, sondern was das Haupt selbst aller Heiligen gethan hat, und noch alle Heiligen thun.“ Vorrede auf den Psalter. 1528 oder 1529, in: Dr. Martin Luthers sämmtliche Schriften, Bd. 14: Vorreden.

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offizien – unter ihnen auch Teile der Severus-Historie12 – Anfang des 20. Jahrhunderts ediert wurden, hat die deutschsprachige Forschung sich bisher eher verhalten mit den historiae rhythmicae auseinandergesetzt.13 Gerade die lutherische Polemik zeigt jedoch, wie weit verbreitet diese lyrisch-musikalische Andachtsform in der vorreformatorischen Liturgie war. Es erscheint somit stringent, auch im Falle der vorreformatorischen Erfurter Kirchenmusik den Blick auf ein Versoffizium zu richten. Hinsichtlich der angestrebten musikhistorischen Kontextualisierung der Erfurter Choralpflege erweist sich das Severus-Offizium ebenfalls als geeignetes Beispiel. Es handelt sich nämlich um die Kontrafaktur einer nordfranzösischen Heiligenhistorie. Doch nicht nur Verbindungen Erfurts zur hochmittelalterlichen Choralkultur Frankreichs lassen sich am Beispiel dieses Offiziums nachHistorische und philologische Schriften, hg. von Johann Georg WALCH, St. Louis 1889, Sp. 20–25, hier Sp. 20. 12 Dreves überging den größeren Teil der Antiphonen und Responsorien mit der Begründung, diese seien prosaisch verfasst. Bei genauerer Betrachtung liegt diesen Texten allerdings ein Reimschema zugrunde, wenngleich dieses aufgrund der unregelmäßigen Silbenzahl ametrisch disponiert ist. Dieser Form der Textgestaltung begegnet man in der mittelalterlichen Hymnendichtung häufiger und sie stellte insofern kein Problem dar, da Hymnen, Antiphonen und Responsorien in der Regel mit Melismen versehen wurden. Im Zuge der Vertonung wurde die effektive Silbenzahl somit ohnehin verändert; die Melismierung bot jedoch auch die Möglichkeit, Zeilen mit unterschiedlicher Silbenzahl einander anzugleichen. Vgl. Analecta hymnica medii aevi, Bd. 45a: Historiae rhythmicae. Liturgische Reimofficien des Mittelalters, Achte Folge: Aus handschriftlichen und gedruckten Quellen, hg. von Guido Maria DREVES, Leipzig 1904, Nr. 73. Zum Problem des Verhältnisses metrischer und ametrischer Textformen in der mittelalterlichen Dichtung vgl. Ralph BRUCKER, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 176), Göttingen 1997, S. 23–35. 13 Zu nennen wären hier: Johannes E. WEIS-LIEBERSDORF, Die Choräle Julians von Speyer zu den Reimoffizien des Franciscus- und Antoniusfestes, München 1901; Guido Maria DREVES/Clemens BLUME, Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Eine Blütenlese aus der Analecta Hymnica mit literarhistorischen Erläuterungen, 2 Bde., Leipzig 1909; Franz WELLNER, Drei liturgische Reimhistorien aus dem Kreis der Minderen Brüder, München 1951; Zoltán FALVY, Drei Reimoffizien aus Ungarn und ihre Musik (Musicologia hungarica. Veröffentlichungen des Musikwissenschaftlichen Instituts in Budapest, NF 2), Kassel u. a. 1968; Walter BERSCHIN und David HILEY (Hg.), Die Offizien des Mittelalters. Dichtung und Musik (Regensburger Studien zur Musikgeschichte, 1), Tutzing 1999; Waltraud GÖTZ, Drei Heiligenoffizien in Reichenauer Überlieferung. Texte und Musik aus dem Nachtragsfakszikel der Handschrift Karlsruhe, BLB Aug. perg. 60 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 36: Musikwissenschaft, 222), 2 Bde., Frankfurt am Main 2002 sowie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Joachim KNAPE, „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext (Saecvla spiritalia, 10), Baden-Baden 1984.

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vollziehen, der Severus-Kult erlangte im 15. und 16. Jahrhundert über Erfurt hinaus Verbreitung, wodurch auch das Offizium seinen lokalen Wirkungsradius verließ. Die Umstände der französischen Provenienz und der überregionalen Wirkungsgeschichte erhöhen die Komplexität des hier zu zeichnenden Bildes, so dass dieses in mehreren ‚Schichten‘ aufgetragen werden soll. Zunächst soll rekapituliert werden, was über die Geschichte des Erfurter Severus-Kults bekannt ist, um mögliche Anlässe der Kontrafaktur und liturgischen Einführung des Offiziums einzugrenzen. Dann soll der Blick nach Nordfrankreich gerichtet werden, wo der Ursprung des Offiziums zu klären und weitere Anhaltspunkte für dessen Überführung nach Erfurt zu gewinnen sind. In diesem Zusammenhang soll auch die musikalische Metamorphose der Gesänge im Zuge der Kontrafaktur beleuchtet werden. Abschließend soll dann das Augenmerk auf die Verbreitung des Severus-Festes und die Überlieferung seines Reimoffiziums im vor- und frühreformatorischen Deutschland gerichtet werden, um den liturgisch-frömmigkeitskulturellen Ort der Severus-Historie zu bestimmen.

2. Der Erfurter Severus-Kult Um 1400 entstanden, ist das Antiphonar des Marienstiftes die älteste Quelle des Severus-Offiziums. Wie bereits erwähnt, ist der Kult selbst jedoch sehr viel älter. Die These der Entstehung und Einführung des Offiziums gegen Ende des 14. Jahrhunderts ist durch den Überlieferungsbefund allein nicht zu stützen. Das Verfassen von Versoffizien lässt sich als lyrisch-musikalisches Korrelat der Hagiographie bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen; sie waren bereits Teil der fränkischen Choralüberlieferung, als diese im Zuge der karolingischen Liturgiereformen in die Schriftlichkeit überging. Aus pauschaler gattungshistorischer Perspektive ergibt sich folglich kein brauchbarer terminus a quo für die Aufnahme der Historie in die Erfurter Liturgie. Anhaltspunkte können jedoch die Stiftsund Kultgeschichte liefern. Die einzige Quelle, welche über die Anfänge des Erfurter Severus-Kultes berichtet, ist die „Vita et translatio S. Severi“ des Mainzer Priesters Liutolf. Dieser zufolge wurde eine Gesandtschaft um den Mainzer Erzbischof Otgar von Ludwig dem Frommen nach Pavia geschickt, um Verhandlungen mit dessen Sohn Lothar zu führen.14 Den „Annales Bertiniani“ zufolge brach eine solche 14 Vita et translatio S. Severi auctore Luitolfo presbytero, editiert von Lothar von HEINEMANN, in: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores (in folio), Bd. 15.1: [Supplementa tomorum I–XII, pars III. Supplementum tomi XIII], Hannover 1887, S. 289–293, hier S. 292.

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Gesandtschaft nach Weinachten 835 auf, wenngleich Otgar nicht namentlich als Mitglied derselben erwähnt wird.15 In Pavia soll ein Kleriker namens Felix an ihn herangetreten sein, der ihm die Gebeine des heiligen Severus, seiner Gemahlin Vincentia und seiner Tochter Innocentia zum Kauf anbot. Er hatte die Reliquien zuvor aus einem Kloster bei Ravenna entwendet. Felix, je nach Quelle als Kleriker westfränkischer oder italienischer Herkunft bezeichnet, war offenkundig kein Gelegenheitsräuber von Reliquien. Neben den Gebeinen der Ravenneser Bischofsfamilie soll er Kaiser Ludwig auch jene des Apostels Bartholomäus angeboten haben.16 Dass der Mainzer Hagiograph den kriminellen Anteil der Translation in die Verantwortung einer Person legte, die explizit nicht der Jurisdiktion Otgars unterstand, lässt Spekulationen über den tatsächlichen Hergang der Reliquienakquise weiten Raum. Liutolf berichtet weiter, dass Otgar die Gebeine der drei Heiligen zunächst der Mainzer Stiftskirche St. Alban übergab, wozu er kostbare Reliquiare anfertigen ließ. Erst „geraume Zeit [aliquanto tempore]“ später erfolgte die Translation nach Erfurt.17 Die in der Literatur hartnäckig kolportierte Datierung derselben auf das Jahr 836 hat folglich keine Quellengrundlage. Sie geht auf eine Ergänzung unbekannten Ursprungs in den Annalen Lampert von Hersfelds zurück.18 Da Lituolf die Translation als von Otgar veranlasst beschreibt, ergibt sich dessen Todesjahr 847 als terminus ante quem. Das im 14. Jahrhundert geschriebene „Liber Cronicorum Erfordensis“ datiert den Vorgang auf das Jahr 842,19 da der Eintrag des Chronisten jedoch den Wortlaut der Vita paraphrasiert, ist nicht anzunehmen, dass ihm eine andere Quelle als diese vorlag. Ebenso ist Liutolfs Bericht dahingehend eindeutig, dass zunächst nur die Reliquien Severi nach Thüringen gebracht wurden. Die Überführung eines Teils der Reliquien seiner Tochter Innocentia erfolgte während des Archiepiskopats Karls von Aquitanien (856–863),20 welche Ludwig Friedrich Hesse in seinen Ergänzungen zu den Annalen Lampert von Hersfelds auf das Jahr 858 datierte21 – wiederum im 15 Monumenta Germaniae Historica: Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separatim editi, Bd. [5]: Annales Bertiniani, hg, von Georg WAITZ, Hannover 1883, S. 11. 16 Ernst DÜMMLER, Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, Berlin 1862, S. 858. 17 Vita et translatio S. Severi (wie Anm. 14), S. 292. 18 Annales minores Germaniae, in: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separatim editi, Bd. [3], hg. von Georg Heinrich PERTZ, S. 22–160, hier S. 45. 19 Karl WENCK, Liber Cronicorum (Erfordensis). [Chronicon Thuringicum Viennense], in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF 4/2 (1884), S. 185–251, hier S. 249. 20 Vita et translatio S. Severi (wie Anm. 14), S. 293. 21 Lamberti Hersfeldensis annales ex recensione Hessii, hg. von Georg Heinrich PERTZ, Hannover 1843, S. 14 f.

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Wortlaut der Vita. Darüber, wann und unter welchen Umständen die Gebeine seiner Frau Vincentia nach Erfurt kamen, schweigen die Quellen. In Erfurt übergab man die Gebeine Severi an eine „aecclesiam, in honorem sancti Pauli apostoli dedicatam“, jene Innocentias an ein „Alto-monasterio“.22 Beide Bezeichnungen dürften sich auf dieselbe Institution beziehen: das Benediktinerinnenkloster St. Paul. In verschiedenen Berichten über das Inbrandsetzen der Stadt durch die Truppen Heinrichs IV. im Jahr 1079 wird eben dieses ‚Hochmünster‘ nicht als Pauls-, sondern als Severi-Kloster bezeichnet.23 1123 wurden die Benediktinerinnen auf den Cyriaksberg umquartiert.24 Schon zwei Jahre zuvor war das Severistift erstmals in den Akten des Mainzer Erzbistums erwähnt worden.25 So ergibt sich für die Herausbildung einer stiftischen Severus-Liturgie der Beginn des 12. Jahrhunderts als terminus a quo.26 Die Gründung des Severistiftes wäre ein plausibler Anlass für die Verfertigung (bzw. Kontrafaktur) eines dem Stiftspatron gewidmeten Versoffiziums, allerdings lässt sich weder belegen, ob man sogleich nach der Gründung bestrebt war, das Stift als Kultort in der religiösen Öffentlichkeit der Stadt zu verankern, noch, ob bereits in dieser frühen Phase eine hinreichende Anzahl von Stiftungen zum Unterhalt von Vikaren bzw. Choralisten zur Verfügung stand. Nach dem Stadtbrand von 1142, dem zahlreiche Gotteshäuser zum Opfer fielen, scheint die Lage der Erfurter Klöster und Stifte keine sonderlich gute gewesen zu sein. Die Kirche des Petersklosters verblieb ganze 15 Jahre ohne Dach,27 und da man 1238/39 damit begann, Ablässe für einen Neubau der vom Verfall bedrohten

22 Vita et translatio S. Severi (wie Anm. 14), S. 293. 23 Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 2: Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen, hg. von Franz Xaver von WEGELE, Jena 1855, S. 129 u. 263; Chronicon Sampetrinum Erphordense, in: Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 1: Erfurter Denkmäler, hg. von Bruno STÜBEL, Halle 1870, S. 1–194, hier S. 10. 24 Regesta archiepiscoporum Maguntinensium, Bd. 1: Von Bonifatius bis Arnold von Selehofen. 742?–1160, hg. von Johann Friedrich BÖHMER und Cornelius WILL, Aalen 1966, Nr. 1511. 25 Ebd., Nr. 1478. Das Nonnenkloster dürfte jedoch nicht dem Stift, sondern der als ‚Krummhaus‘ bekannten Bischofsresidenz gewichen sein. Vgl. Karl BECKER/Margarethe BRÜCKNER/Ernst HAETGE/Lisa SCHÜRENBERG, Die Stadt Erfurt. Dom, Severikirche, Peterskloster, Zitadelle (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, 1), Burg 1929, S. 404. 26 Gegen eine Gründung der Stifte im späten 11. Jahrhundert, wie sie in der Literatur zumeist angenommen wird, sprechen die Quellen nicht. Die Gründung des Marienstiftes durch Bonifatius ist jedoch eine gedächtnispolitische Konstruktion des späten 13. Jahrhunderts. Vgl. Franz Peter SONNTAG, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117– 1400. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (Erfurter theologische Studien, 13), Leipzig 1962, S. 149. 27 Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen (wie Anm. 23), S. 319.

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Severikirche auszustellen,28 scheint auch das Stift in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts keinesfalls floriert zu haben. So finden sich auch erst im fortgeschrittenen 13. Jahrhundert Hinweise auf Träger des liturgischen Gesangs am Severistift. Während schon 1226 am Marienstift von einem „magister puerorum“ berichtet wird, erwähnen die Quellen erst 1259 einen „rectorem scolarium ecclesie S. Severi.“29 Wo eine Schola vorhanden war, wurde das Stundengebet mit Sicherheit als officium divinum publicum abgehalten, so dass auch das Vorhandensein von Chorbüchern anzunehmen ist. 1273–1290 wurde der Neubau der Kirche durch zahlreiche weitere Ablässe forciert; mit der Weihe des Hochaltars am 25. August 1308 dürfte er im Wesentlichen abgeschlossen gewesen sein.30 Während des Neubaus ist auch erstmals vom Gottesdienst in der Stiftskirche die Rede, denn mehrere Erlasse regelten die Aufrechterhaltung desselben während der Bautätigkeit.31 Explizite Hinweise auf einen Severus-Kult oder eine stadtöffentliche Relevanz seines Festes finden sich im 12. und 13. Jahrhundert jedoch nicht. Liutolfs Vita bleibt das einzige diesbezügliche Dokument, dessen Bericht jedoch nicht weit genug über den Akt der Translation hinausgeht, um Rückschlüsse auf die Gestalt der Erfurter Severi-Verehrung zu erlauben.32 Implizit gestattet bestenfalls die Bezeichnung des ‚Hochmünsters‘ als Severi-Kloster im 11. Jahrhundert die Annahme eines hier verorteten Reliquienkultes. Die zahlreichen Ablässe des späten 13. Jahrhunderts lassen jedoch unter Umständen auf eine gezielte volksfrömmige Verankerung des Kultes schließen: Die Gelder für den Kirchenbau mussten zu großen Teilen in der Stadt selbst aufgebracht werden. Das Stift war somit auf Arrangements mit den lokalen Gewerbetreibenden angewiesen. Zu den ältesten und einflussreichsten Zünften der Stadt zählte jene der Wollweber, die sich erstmals 1288 nachweisen lässt.33 Severus gilt heute als Patron dieses Berufstandes. Schon in der Vita wird er, wenn auch beiläufig, als Wollarbeiter („lanarius“34) bezeichnet. Trotz der hagiographischen Authentifizierung seines 28 BECKER u. a., Die Stadt Erfurt (wie Anm. 25), S. 405. 29 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, NR 5 = [3], Teil 1 (706–1330): Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, bearb. von Alfred OVERMANN, Magdeburg 1926, Nr. 94 u. 168. 30 BECKER u. a., Die Stadt Erfurt (wie Anm. 25), S. 405. 31 Edgar LEHMANN/Ernst SCHUBERT, Dom und Severikirche zu Erfurt, Leipzig 21988, S. 182. 32 Zum Beispiel in Form eines Katalogs etwaiger miracularum post mortem. 33 Werner MÄGDEFRAU, Städtische Produktion von der Entstehung der Zünfte bis ins 14. Jahrhundert. Ein Beitrag zu den sozialökonomischen Grundlagen des Thüringer Dreistädtebundes, in: DERS. (Hg.), Europäische Stadtgeschichte in Mittelalter und früher Neuzeit, Weimar 1979, S. 133–188, hier S. 142. 34 Vita et translatio S. Severi (wie Anm. 14), S. 290.

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Berufsstandes musste die Patronatsfunktion Severi zunächst kultiviert werden. Es wäre durchaus denkbar, dass die Herausbildung dieses Aspekts des Heiligenkultus das Ergebnis einer ‚Fundraising-Aktion‘ war, die sich dezidiert an die zahlungskräftigste der Erfurter Zünfte richtete. Faktisch wird der Severus-Kult erst im 14. Jahrhundert greifbar. Am 23. Oktober 1362 weihte der Mainzer Weihbischof Albert von Beichlingen in der Stiftskirche einen Altar zu Ehren des heiligen Severus, seiner Gemahlin und Tochter, der Heiligen drei Könige sowie Johannes des Täufers und des Evangelisten Lukas.35 Am 25. Mai 1363 beurkundete das Kapitel des Stiftes die Einrichtung einer Vikarie für den Dienst an einem jüngst errichteten Altar, der Severus, Johannes dem Täufer, Hieronymus und den Heiligen drei Königen geweiht war.36 1370 bestätigte der Mainzer Erzbischof Gerlach von Nassau dem Severistift die Errichtung eines Altars der Heiligen Severus, Bonifatius und Katharina.37 1379 richtete der Mainzer Domkantor und Severi-Kanoniker Theoderich Ilvelt ein Vikariat ein, das neben dem Leib und Blut Christi, drei Aposteln und dem Heiligen Martin auch Severus gewidmet war.38 Dass es sich hierbei nicht nur um das zufällige Korrelat einer (primär materiell motivierten) Stiftungs- und Pfründehäufung handelt, zeigt der Vergleich mit dem Marienstift. Für dieses sind im 14. Jahrhundert ebenfalls zahlreiche Altarund Vikariestiftungen belegt, von denen jedoch keine den Patron des Nachbarstifts berücksichtigt.39 Dies lässt die Weihehandlungen am Severistift als Maßnahmenbündel erscheinen, das die Institutionalisierung bzw. institutionelle Aufwertung des Kultes zum Ziel hatte. Die Weihehandlungen und Stiftungen der 1360er und 70er Jahre gingen auch mit der ersten greifbaren Ästhetisierung des Kultes einher – der Anfertigung der Reliefplatten des noch heute in der Kirche aufgestellten Sarkophags der Bischofsfamilie.40 Auch der größte Teil des heute erhaltenen spätmittelalter35 Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396, Abt. 2 (1354–1396), Bd. 1 (1354– 1371), hg. von Fritz VIGENER, Leipzig 1913, Nr. 1550. 36 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, NR 7 = [3]: Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, Teil 2: Die Urkunden der Stifter St. Marien und St. Severi (1331–1400), bearb. von Alfred OVERMANN, Magdeburg 1929, Nr. 572. 37 Ebd., Nr. 674. 38 Der Mainzer Erzbischof Ludwig von Meißen bestätigte dem Stifter Heinrich vom Rade von Oweleyben die Einrichtung des Vikariats in einer am 30. August 1379 zu Arnstadt ausgestellten Urkunde. Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 4 = NF Bd. 1: Das Urkundenbuch der Stadt Arnstadt 704–1495, hg. von Carl August Hugo BURCKHARDT, Jena 1883, Nr. 181. 39 Vgl. Die Urkunden der Stifter St. Marien und St. Severi (wie Anm. 36), S. 554 u. 558. 40 Buchners Vermutung, dass die Anfertigung der Platten mit der 1362er Altarweihe in Verbindung zu bringen ist, erscheint plausibel: Die Heiligen drei Könige gehören zum Bildprogramm desselben, Innocentia und Vincentia werden explizit genannt und das Fehlen

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lichen Figurenschmucks des Kircheninnenraums stammt aus der Zeit von ca. 1350 bis 1370.41 Dass diesem materiellen Schmuck auch ein immaterieller in Form eines eigenen Severus-Offiziums an die Seite gestellt wurde, wäre durchaus denkbar. Eingedenk der Datierung des Marien-Antiphonars, der recht genau mit den Reliefplatten korrespondierenden Altarweihe von 1362 und der Möglichkeit einer Neuausrichtung des Kultes im Interesse der Erfurter Wollweber erscheint es berechtigt, den terminus ante quem der Einführung des Reimoffiziums zunächst in den 60er und 70er Jahren des 14. Jahrhunderts anzusetzen. Gleichwohl bietet die (als solche freilich nur implizit greifbare) Kultgeschichte mit dem als Severi-Kloster firmierenden ‚Hochmünster‘ des 11. Jahrhunderts, der bald darauf erfolgten Gründung des eigentlichen Severistiftes und der in der Mitte des 13. Jahrhunderts erwähnten Schola auch Indizien, auf denen Hypothesen einer früheren Einführung des Offiziums Fuß fassen könnten. Ob diese sich erhärten lassen, soll nun durch Hinzuziehung eines Korrektivs ermittelt werden, der Überlieferungsgeschichte der oben genannten nordfranzösischen Vorlage der Severus-Historie.

3. Das Bertinus Offizium der ehemaligen Abtei St. Bertin (Sithiu) in Saint-Omer Angesichts des nahezu unüberschaubaren Vorrates an Heiligenoffizien griff man im späteren Mittelalter häufig auf präexistente Texte und Melodien zurück. Begünstigt wurde dieses Verfahren der Repertoiregewinnung durch den Umstand, dass zahlreiche Heilige nur in bestimmten Regionen verehrt wurden, die ihnen gewidmeten Gesänge in anderen jedoch völlig unbekannt waren. Die Umwidmung verlief dabei äußerst unkompliziert. Oftmals ersetzte man einfach Lukas’ und Johannes des Täufers könnte darüber erklärt werden, dass der Sarkophag ursprünglich kein solcher war, sondern erst im 15. Jahrhundert aus einem Rearrangement ursprünglich disparater Skulpturelemente hervorging. Ausgehend von stilistischen Divergenzen der heutigen Sarkophagbestandteile haben Lehmann und Schubert ein entsprechendes Szenario entworfen. Der These, dass die Vikarie von 1379 mit der Einweihung eines Reliquienaltars zusammenhinge, kann nur bedingt zugestimmt werden, da diese zuvörderst dem Leib und Blut Christi und drei Aposteln gewidmet war und bereits 1370 ein weiterer Severi-Altar geweiht wurde. Schon eher könnte die Vikarie von 1363, die in erster Linie Severus und auch den Heiligen drei Königen zugewiesen war, ein unmittelbarer Reflex auf eine neue Präsentationsform der Reliquien gewesen sein. Vgl. Otto BUCHNER, Der Severi-Sarkophag zu Erfurt und sein Künstler, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 24 (1903), S. 135–157, hier S. 141; LEHMANN/SCHUBERT, Dom und Severikirche zu Erfurt (wie Anm. 31), S. 257–259. 41 Ebd., S. 253.

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den Namen des Ursprungsheiligen in den Antiphonen- und Responsorientexten, ein Verfahren, das auch in der Pauschalliturgie des „Commune sanctorum“ praktiziert wurde und wird. Auch mit den Gesängen des SeverusOffiziums wurde ursprünglich nicht dieser, sondern ein gewisser Bertinus angerufen. Er war der erste Abt des im 7. Jahrhundert errichteten Klosters Sithiu (später Saint-Bertin), der Gründungszelle der heutigen nordfranzösischen Stadt Saint-Omer und Entstehungsort der „Annales Bertiniani“.42 Angesichts der großen Zahl mittelalterlicher Versoffizien und deren nach wie vor lückenhafter Erschließung ist die Identifizierung der Vorlage als reiner Glücksfall anzusehen. Sie gelang dem Autor nur mithilfe der verdienstvollen Studie Jean-François Goudesennes, welche der Forschung 33 bisher unbekannte nordfranzösische Heiligenoffizien des 8.-11. Jahrhunderts zugänglich machte.43 Die nordfranzösische Überlieferung kennt verschiedene Bertinus-Offizien. Für Erfurt übernahm man das älteste, mit dem Bertinus’ Todestag (5. September) begangen wurde.44 Die Tabelle im Anhang zeigt die textlichen Konkordanzen beider Offizien im Detail. Dennoch enthält das Severus-Offizium auch originäre Anteile: Bei dem im Erfurter Antiphonar mit dem Incipit „Iste confessor nobis“ vorgeschriebenen Hymnus handelt es sich um einen von drei im Spätmittelalter verbreiteten Hymnen auf den Heiligen.45 Der vollständige Text des Erfurter Hymnus ist u. a. im Brevier des Severistifts von 1518 enthalten.46 Bis auf den Textanfang hat er nichts mit dem Hymnus „Iste confessor domini“ aus dem „Commune Confessoris“ (CAO 8323) gemein. Gegen eine Erfurter Herkunft spräche nichts, gleichwohl hat sich bisher noch kein Hymnar gefunden, das die Melodien überliefern würde. Um augenscheinliche Neuschöpfungen handelt es sich auch bei den Responsorien „Verbum patris summi / Ut tue dextere, O Severe gloriose / Post vite cursum, Severus in gaudium / Anima eius und Vite huius caduce / Ut 42 Zu Kloster und Stadt vgl. Alain DERVILLE, Histoire de Saint-Omer (Histoire des Villes du Nord/Pas-de-Calais, 1), Lille 1981. 43 Jean-François GOUDESENNE, Les offices historiques ou historiae composés pour les fêtes des saints dans la province ecclésiastique de Reims (775–1030), Turnhout 2002. 44 Obschon sein Festtag im deutschsprachigen Raum nicht begangen wurde, war Bertinus in Thüringen kein gänzlich Unbekannter. Als wichtigem Ordensheiligen widmete ihm der Erfurter Benediktiner Nikolaus von Siegen Ende des 15. Jahrhunderts einen Abschnitt in seinem „Chronicon ecclesiasticum“. Vgl. Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen (wie Anm. 23), S. 127 f. 45 Die übrigen in: Lateinische Hymnen des Mittelalters, Bd. 3: Heiligenlieder, hg. von Franz Joseph MONE, Freiburg im Breisgau 1855 [Reprint Aalen 1964], Nr. 1152 u. 1153. 46 Breviarium Severiani Collegii Erphordiensis, Mainz 1518, D-HAu, AB 52 7/k, [Sanktorale], fol. 31v; Textedition: Analecta hymnica medii aevi, Bd. 43: Hymni inediti. Liturgische Hymnen des Mittelalters; Siebente Folge; aus Handschriften und Frühdrucken, hg. von Guido Maria DREVES, Leipzig 1903, Nr. 478.

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habitemus.“ Folgende Vorlagen ließen sich ermitteln: Der Versus „Post vite cursum“ weist Ähnlichkeiten mit einer Hymnenstrophe auf, deren Überlieferung sich zumindest bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.47 „Severus in gaudium“ basiert auf einer Passage aus den Homilien Gregors I.,48 der zugehörige Versus ist identisch mit Psalm 24,13. Der Versus „Ut habitemus“ entspricht Psalm 22,6 – womöglich wurde hier jedoch eine altlateinischen Variante herangezogen, eine gleichlautende lässt sich bei Sabatier jedoch nicht finden.49 Dass es insbesondere Responsorien waren, die dem Offizium neu hinzugefügt wurden, verwundert nicht, denn sie wurden im Anschluss an Lesungen aus der Vita des Heiligen gesungen und zitierten oder paraphrasierten diese häufig. Folglich konnten sie nur begrenzt mit den Viten anderer Heiliger kombiniert werden. Die Übernahme von Antiphonen gestaltete sich demgegenüber weniger problematisch. Schon beim Verfassen derselben musste dem Umstand wechselnder Psalmformulare Rechnung getragen werden. Zudem sind die Psalmen als Dichtung sowie in ihrer betrachtend-reflexiven Topik semantisch offener als prosaisch-narrative Heiligenviten und aufgrund dessen sehr viel flexibler mit verschiedenen Antiphonen kombinierbar. So übernahm man zwar nur vier von zehn Responsorien des Bertinus-Offiziums, die Antiphonen der SeverusHistorie stammen jedoch durchweg aus Nordfrankreich (siehe Tabelle im Anhang). Die Überlieferung des Bertinus-Offiziums lässt sich anhand von Quellen des 11.-16. Jahrhunderts nachvollziehen. Diese umfassen eine illuminierte Vita des Heiligen (im Folgenden: F-BSM Ms. 10750), ein notiertes Brevier des Klosters aus dem 12. Jahrhundert (im Folgenden: F-AS Ms. 26951) und ein Antiphonar

47 „Vitae meae rege cursum / post hunc vitam trahe sursum / animam ad gaudia.“ Lateinische Hymnen des Mittelalters, Bd. 3 (wie Anm. 45), Nr. 705 und Nr. 781. 48 „Tunc ad domini sui gaudium perfecte intromittiur, quando in aeterna illa patria assumptus, atque angelorum coetibus admixtus, sic interius gaudet de munere, ut non sit iam quod exterius doleat de corruptione.“ Grégoire le Grand. Homélies sur l’évangile, Bd. 1, hg. von Raymond ÉTAIX, Paris 2005, S. 228–230. 49 Bibliorum sacrorum latinae versiones antiqae seu vetus italica, Bd. 2, hg. von Pierre SABATIER, Remi 1743, S. 47. 50 Goudesenne datiert die Vita auf die Zeit um 1000. Allerdings enthält F-BSM Ms. 107 neben dem Offizium des ursprünglichen Gedenktages (fol. 73r–76r) bereits ein weiteres (fol. 76r–78r) zum Gedächtnis der Translation der Gebeine des Heiligen. Beide wurden von derselben Hand ingrossiert. Die Vita wiederum datiert die Translation auf das Jahr 1052. GOUDESENNE, Les offices historiques (wie Anm. 43), Anhang, S. [267]; [Folcardi] Vita S. Bertini Abbatis Sithivensis in Morinis, in: Acta Sanctorum Ordinis S. Benedicti in saeculorum classes distributa, Saeculum 3, Ps. 1: Quod Est Ab Anno Christi DCC Ad DCCC, hg. von Jean MABILLON, Venedig 1734, S. 93–150, hier S. 131. 51 Dort: fol. 97r–100r.

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von 1544 (im Folgenden: F-SOM Ms. 20452). Die drei Manuskripte überliefern das Sithiuer/Saint-Bertiner Offizium in unterschiedlichen textlichen und liturgischen Stadien. In der ältesten Fassung53 beschränken sich die Bertinusspezifischen Gesänge im Wesentlichen auf die Nokturnen und die LaudesAntiphonen. Die vier Psalm-Antiphonen der ersten Vesper sind dem „Commune Confessoris“ entnommen,54 das Formular einer etwaigen zweiten Vesper fehlt. In der Fassung des 12. Jahrhunderts wurden die Commune-Antiphonen der ersten Vesper bereits durch eine Bertinus-spezifische ersetzt und ein zweites Vesperformular angehängt. Im Antiphonar des 16. Jahrhunderts verfügt das Fest sogar über eine Vigil und eine Oktav. All das sind Indizien einer Jahrhunderte überspannenden Pflege des Offiziums, die eng mit der Dynamik der Kultentwicklung verknüpft war. Ließe sich innerhalb der verschiedenen Überlieferungsstadien eine mit dem Erfurter Offizium kongruente Fassung ermitteln, bestünden gute Möglichkeiten, den Zeitpunkt der Kontrafaktur zu bestimmen. Zum vorliegenden Kontrafakturverfahren ist jedoch noch eine Anmerkung zu machen: Die Sithiuer/Saint-Bertiner Überlieferung folgt selbstredend dem monastischen Ritus. Im Gegensatz zum im Erfurter Antiphonar beobachteten kathedralen Ritus weist dieser umfangreichere Nokturnen auf. Im monastischen Ritus verfügt jede der drei Nokturnen über sechs Psalmen und Antiphonen sowie vier Lektionen und Responsorien; die kathedralen Nokturnen umfassen jeweils nur drei Antiphonen und Responsorien. Entsprechend mussten die Gesänge der Nokturnen neu disponiert werden. Die Sithiuer/Saint-Bertiner Reihenfolge der Antiphonen blieb unangetastet: Die Antiphonen 1–3 der (monastischen) ersten Nokturn wurden der (kathedralen) ersten, die Antiphonen 4–6 der zweiten zugewiesen. Die ersten drei Antiphonen der (monastischen) zweiten Nokturn fielen der dritten (kathedralen) Nokturn zu. Die übrigen neun Antiphonen des monastischen Kursus übernahm man nicht (siehe Tabelle im Anhang). Diese Umarbeitung muss nicht zwingend auf deutschem Boden erfolgt sein. Es gibt einen französischen Präzedenzfall für die Migration des Bertinus-Offiziums in die Kathedralliturgie. In Saint-Omer gab es seit Beginn des 9. Jahrhunderts ein Marienstift, gegründet durch den Sithiuer Abt Fridugisus († 834).55 Dass die hiesige Liturgie die des Bertinus ebenfalls berücksichtigte, 52 Dort: fol. 181r–188v. 53 Goudesenne datiert das Offizium auf das 10. Jahrhundert und nennt den Sithiuer Mönch Folquin († 975) als möglichen Autor. GOUDESENNE, Les offices historiques (wie Anm. 43), Anhang, S. 244. 54 „Euge serve bone et fidelis“ (CAO 2732), „Iste homo ab adolescentia sua“ (CAO 3429), „Iste cognovit justitiam“ (CAO 3418), „Iste est qui ante deum“ (CAO 3426). 55 Emmanuel WALLET, Description de l’ancienne cathédrale de Saint-Omer, Pas-de-Calais, ci-devant Artois, autrefois Notre-Dame de Sithiu, en Morinie, maintenant paroisse de Notre-Dame, Saint-Omer 1839, S. 8.

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zeigt ein Diurnal des 13. Jahrhunderts.56 Freilich enthält ein Diurnal keine Nokturnen, so dass sich nicht überprüfen lässt, ob die Disposition der Antiphonen mit jener der Erfurter Überlieferung identisch ist.57 Auch aufgrund ihrer schlechten Erreichbarkeit wurde von einer Konsultation der Quelle abgesehen. Im Folgenden sollen daher die greifbaren Offizientexte und ­melodien miteinander verglichen werden, um einer etwaigen Filiation auf die Spur zu kommen. Die Tabelle im Anhang offenbart bereits, dass nur in seltenen Fällen nennenswerte Textabweichungen auftreten. Die philologisch relevanten sind die Folgenden: Ein äußerst aufschlussreicher Befund ist das Fehlen der Antiphon „Gloria sanctorum“ in F-BSM Ms. 107. Wie bereits angedeutet, handelt es sich um eine spätere Hinzufügung, die in Zusammenhang mit der nach und nach erfolgten Erweiterung der Bertinus-Liturgie stehen dürfte. Erstmals begegnet sie in der Überlieferung des 12. Jahrhunderts. Von der Saint-Bertiner Textfassung weicht die Erfurter jedoch ab („vota precantum“ anstelle von „vota tuorum“). Die Textabweichung in F-SOM Ms. 204 gegenüber F-AS Ms. 269 („nostr[i]s“ anstelle „nostros“) geht vermutlich auf einen Fehler des Schreibers zurück: Das „i“ wurde in der Quelle durch Rasur getilgt (fol. 181v). In derselben Antiphon begegnet überdies eine nicht unbeträchtliche melodische Abweichung. In F-SOM Ms. 204. verläuft die Melodie während der Zeile „respice placatus nostros“ eine Quarte tiefer als in F-AS Ms. 269 und D-EFd Hs. Lit. 6a (siehe Notenbeispiel auf S. 303). Weiterhin erwähnenswert sind textliche Differenzen in der Magnificat-Antiphon „Magnificemus in excelsis“. Sie tritt in allen drei französischen Quellen auf und fällt somit unter die ältesten Gesänge des Offiziums. Der Text der Erfurter Antiphon steht erstaunlicherweise der französischen Überlieferung des 16. Jahrhunderts am nächsten. Das Adverb „veneranter“ wurde hier wie dort in das Partizip „venerantes“ umgewandelt. Die Konkordanzen umfassen sogar orthographische Details („olympi“ anstelle „olimpi“, „dyademate“ anstelle „diademate“). Da das Erfurter Offizium bereits die spezifische Vesper-Antiphon „Gloria sanctorum“ enthält, scheidet das Bertinus-Offizium in der Fassung F-BSM Ms. 107 als Vorlage der Severus-Historie aus. Damit sind Hypothesen einer bereits im 11. Jahrhundert erfolgten Einführung des Offiziums, sei es in die Liturgie des ‚Hochmünsters‘ oder des eventuell bereits existenten Severistiftes, zu verabschieden. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Kontakte nach Nordfrank56 F-SOM, Ms. 205, fol. 127v–129r; GOUDESENNE, Les offices historiques (wie Anm. 43), Anhang, S. [267]. 57 Vgl. ebd. Es existiert ein Antiphonar des Stiftes aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, über welches sich diese Frage klären ließe. Allerdings befindet es sich in Privatbesitz und konnte für diese Studie nicht eingesehen werden.

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reich bis in diese Zeit zurückreichten. Das Sithiuer Kloster wurde im 10. Jahrhundert benediktinisch reorganisiert.58 Die Nonnen des Erfurter Severi-Klosters waren ebenfalls Benediktinerinnen. Auch lassen sich in dieser Zeit bereits Sithuer Mönche auf Reichsboden nachweisen. 1015 wurden dem Kloster und dem Audomarsstift zu Saint-Omer durch Heinrich II. und 1056 erneut durch Heinrich IV. verschiedene Besitzungen im Reich bestätigt, ihren Angehörigen Zollfreiheit im Falle von Reisen durch das Reichsgebiet zugesichert.59 Die Erfurter Textvariante in der Antiphon „Gloria sanctorum“ könnte sowohl ein Indiz auf eine von F-AS Ms. 269 verschiedene Vorlage, aber auch kosmetischer Natur sein. Letzteres erscheint insofern plausibler, da diese Antiphon auch melodisch stärker als die übrigen Gesänge überarbeitet wurde (siehe unten). Gegen eine unmittelbare Abhängigkeit des Erfurter Offiziums von F-AS Ms. 269 sprechen jedoch die Textabweichungen, welche F-SOM Ms. 204 und D-EFd Hs. Lit. 6a in der Antiphon „Magnificemus in excelsis“ gemein haben. Nicht nur die Datierung von F-SOM Ms. 204, sondern auch das Fehlen der dortigen Quarttransposition60 in der Erfurter Überlieferung lassen somit auf 58 Karine UGÉ, Relics as Tools of Power. The Eleventh-Century Inventio of St Bertin’s Relics and the Assertion of Abbot Bovo’s Authority, in: Arnoud-Jan BIJSTERVELD/Henk B. TEUNIS/Andrew WAREHAM (Hg.), Negotiating Secular and Ecclesiastical Power. Western Europe in the Central Middle Ages (International medieval research, 6), Turnhout 1999, S. 51–71, hier S. 52. 59 Die Besitzungen lagen überwiegend im Rheinischen, u. a. in den Ortschaften Frechen, Huissen, Golzheim und Gelsdorf. Regesta Imperii II: Sächsisches Haus 919–1024, Abt. 4: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich II. 1002–1024, hg. von Johann Friedrich BÖHMER und Theodor GRAFF, Innsbruck u. a. 1979, Nr. 1870. Regesta Imperii III: Salisches Haus 1024–1125, Teil 2: 1056–1125, Abt. 3.1: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich IV. 1056 (1050)–1065, hg. von Johann Friedrich BÖHMER und Tilman STRUVE, Köln u. a. 1984, Nr. 85. 60 Es könnte sich hierbei einerseits um einen Fehler des Schreibers von F-SOM Ms. 204 handeln. Womöglich las er einen Schlüssel falsch. Zum anderen könnte die Transposition auch auf einen bewussten Eingriff zurückgehen, denn bei genauer Betrachtung hat die fragliche Passage (in der älteren Form) durchaus etwas Ungewöhnliches: Verbleibt die Melodie während der gesamten Antiphon im Tonraum c–b, schwingt sie sich an dieser Stelle in fast schon extrem zu nennende Höhen auf. In F-AS Ms. 269 erreicht sie e1, in der Erfurter Version sogar f 1 (siehe Notenbeispiel auf S. 303). In beiden Fällen wird der theoretische Ambitus des hier vorliegenden 1. Modus durchbrochen, die Erfurter Antiphon erreicht sogar den Grenzton des empirischen. Gerade mit Blick auf den in Versen, d. h. gleichmäßig geformten Text hätte die musikalische Exponierung einer einzelnen Zeile durchaus als Formbruch verstanden werden können. Ein Schreiberfehler oder Eingriff ist somit die plausibelste Erklärung der Transposition. Auf eine von F-AS Ms. 269 unabhängige Saint-Bertiner Überlieferung deutet sie wohl kaum hin. Zur Modusfrage vgl. Bernhard MEIER, Alte Tonarten. Dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts (Bärenreiter Studienbücher Musik, 3), Kassel u. a. 1992, S. 17 f.

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eine Vorlage schließen, die zeitlich zwischen F-AS Ms. 269 und F-SOM Ms. 204 steht. Somit scheidet auch die Saint-Bertiner Überlieferung des 12. Jahrhunderts als Vorlage des Severus-Offiziums aus. Die oben genannte (fragmentarische) Überlieferung des Marienstiftes zu Saint-Omer wäre somit eine mögliche Quelle, zumal das Offizium hier bereits in stiftsliturgischem Format vorgelegen haben dürfte. Allerdings sollte die Abhängigkeit von der Überlieferung SaintBertins eingedenk der bis in orthographische Details reichenden Textkonkordanzen in D-EFd Hs. Lit. 6a und F-SOM Ms. 204 nicht vorschnell ausgeschlossen werden. Somit scheint die Kontrafaktur des Bertinus-Offiziums frühestens in das 13. Jahrhundert zu fallen. Es mag kein Zufall sein, dass zu dieser Zeit erstmals eine Schola am Severistift belegt ist. Ebenfalls im 13. Jahrhundert erfolgte der Neubau der Stiftskirche, für den man die Stadtöffentlichkeit mit zahlreichen Ablässen zu mobilisieren suchte – möglicherweise zuvörderst die Erfurter Wollweber. Unter den potentiellen äußeren Anlässen der Einführung einer neuen Severus-Liturgie verbleiben die Einweihung der Kirche im Jahr 1308 und die Altarstiftungen der 1360er Jahre als die hervorstechendsten.

4. Zur melodischen Kontrafaktur des Bertinus-Offiziums Dass es sich bei dem Severus-Offizium um mehr als eine bloße Kopie seines französischen Pendants handelte, wurde bereits mit Blick auf die Responsorien hervorgehoben. Während die textlichen Unterschiede in den übernommenen Antiphonen und Responsorien zwar für die Frage der Filiation bedeutsam sind, darüber hinaus jedoch keine substantielle lyrisch-stilistische bzw. semantischtheologische Abgrenzung ermöglichen, sind die melodischen Abweichungen der Gesänge zum Teil alles andere als marginal. Exemplarisch sei dies an der Vesper-Antiphon „Gloria sanctorum“ veranschaulicht, für welche Notenbeispiel Notenbeispiel auf Seite 303 eine Synopse der Melodien Erfurter und französischer Überlieferung bietet. Die verschiedenen Vergleichssegmente zeigen, dass die Kontrafaktur offenbar mit einer intervallischen Weitung einzelner Melodieabschnitte einherging. In Segment a wurde durch das Anheben der dritten Note von a auf b ein Terzschritt in die zuvor stufengängige Melodie eingeführt. In Segment b wurde durch das Herabsetzen des vierten Tons (e → c) ein Quartsprung eingeführt. In Segment c wurden die Intervalle des Melodieabschnitts g–a–f durch Anhebung des Binnentons auf b ebenfalls geweitet. Durch Erhöhung der vorletzten bzw. zweiten Note in den Segmenten d und e wurde aus einem Terz- ein Quart-, aus einem Sekund- ein Terzschritt. Segment f zeigt die bereits erwähnte Transposition der Melodie um eine Quarte nach oben in der Erfurter und älteren

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St. Bertiner Fassung. Während die französische Variante den Registerwechsel gewissermaßen verschleiert, indem sie mit „respice“ neu auf a ansetzt, wurde die Transposition im Erfurter Offizium genutzt, um die neue Verszeile mit einem Quintsprung zu eröffnen.

Notenbeispiel: Bertinus- und Severus-Offizium, Antiphon „Gloria sanctorum“.

In ihrer Häufung und morphologischen Stringenz müssen die genannten Abweichungen bereits als Angleichung an differente praktische oder ästhetische Gegebenheiten angesehen werden. Benannt und auf den Begriff gebracht wurde die hier zutage tretende Kluft zwischen (nord-)französischer und deutscher, d. h. ehemals west- und ostfränkischer Gesangskultur durch den Musiktheoretiker Aribo, der im 11. Jahrhundert an der Freisinger Domschule wirkte.61 61 Vgl. Wolfgang HIRSCHMANN, Art. Aribo, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Personenteil, Bd. 1: Aa–Bae, Kassel u. a. 21999, Sp. 905–908.

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Aribo erläutert die Unterschiede zwischen der italienischen (lombardischen) Gesangstradition und jener, in der er sich verwurzelt sieht,62 am Beispiel ihrer Notation. Er unterscheidet vier Neumenformen bzw. ­elemente, die er spissa bzw. continua, saltatrix, ternaria und quadrupla nennt. Alle vier beziehen sich auf bestimmte Möglichkeiten der melodischen Realisation einer Intervallspezies. Die spissa durchläuft das Intervall stets in Gänze, Ton für Ton („tangit cordas […] cunctas“), in auf- oder absteigender Richtung. Während die spissa sowohl als zweitöniger Melodieschritt als auch als mehrtöniger Stufengang erscheinen kann, ist die saltatrix immer zweitönig. Sie springt von einem Grenzton der Intervallspezies zum anderen („duas ultimas tangit chordas“). Unter ternaria versteht er wiederum verschiedene Modi des melodischen Durchmessens eines Quart- oder Quintraumes unter Verwendung von drei, unter quadrupla des Durchmessens eines Quintraums unter Verwendung von vier Tönen. Beide können dabei sowohl als spissa als auch unter Einbezug einer oder mehrerer saltatrices ausgeführt werden.63 Entscheidend ist, dass Aribo diese notationstheoretischen Aspekte ins Ästhetische wendet, denn er unterstellt den Deutschen eine Vorliebe für den häufigeren Gebrauch der saltatrix, den Lombarden eine Präferenz für das engmaschigere („spissior“) Singen.64 Zu Zeiten der Kontrafaktur des BertinusOffiziums hatte Aribos Systematik ihre notationsseitige Relevanz bereits eingebüßt, denn Neumen waren weitgehend außer Gebrauch geraten. Das Erfurter Antiphonar bedient sich bereits der moderneren Hufnagelnotation, in der die von Aribo als quadrupla, ternaria etc. bezeichneten Neumenelemente nicht mehr erkenntlich sind. Dennoch darf davon ausgegangen werden, dass das ästhetische Korrelat dieser Systematik, nämlich die Präferenz für bestimmte Gestaltungsoptionen von Melodiesegmenten eingedenk der weitgehend unangetasteten Persistenz des liturgischen Melodienkanons auch über das 11. Jahrhundert hinaus wirksam blieb. Dass die von Aribo unterschiedenen Qualitäten nicht nur den Deutschen, sondern auch den Franzosen geläufig waren, zeigt eine Erörterung 62 Italienische und französische Gesangsart dürfen hier synonym verstanden werden. Aus einer ästhetischen Makroperspektive unterscheidet die Choralforschung zwischen einem romanischen und einem germanischen Choraldialekt. Vgl. Peter WAGNER, Germanisches und Romanisches im frühmittelalterlichen Kirchengesang, in: Bericht über den Musikwissenschaftlichen Kongreß der deutschen Musikgesellschaft in Leipzig 1925, Leipzig 1926, S. 21–34. 63 Aribo Scholasticus, De Musica, in: Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum ex variis Italiae, Galliae & Germaniae codicibus manuscriptis collecti et nunc primum publica luce donati, Teil 2, hg. von Martin GERBERT, [Sankt Blasien] 1784 [Reprint Hildesheim 1963], S. 197–220, hier S. 212; Hugo RIEMANN, Studien zur Geschichte der Notenschrift, Leipzig 1878 [Reprint Hildesheim 1970], S. 138 f. 64 Aribo Scholasticus, De Musica (wie Anm. 63), S. 212.

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der Intervallspezies durch den Pariser Theoretiker Johannes de Muris (ca. 1300– 1360). Noch dieser empfand die viertönig, d. h. stufengängige durchmessene Quarte als „spissior“.65 Auch wenn sich die Vergleichssegmente im angegebenen Notenbeispiel nur bedingt als quadrupla oder ternaria begreifen lassen, stechen der häufigere Gebrauch der spissa, d. h. der stufengängigen Fortschreitung, und der saltatrix, d. h. größerer Intervallschritte, als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Erfurter und Saint-Bertiner Fassungen ins Auge. Mit Rekurs auf Aribo kann die Kontrafaktur des Bertinus-Offiziums als durchaus als ‚melodische Eindeutschung‘ beschrieben werden. Bei aller Abhängigkeit von der geistlichen Lyrik Nordfrankreichs erreicht das Offizium also gerade über seine musikalische Gestaltung kulturelle Eigenständigkeit.

5. Ausblick: Überlieferung des Severus-Offiziums und Verbreitung des Kultes bis ca. 1500 Dass es sich bei der Erfurter Severus-Historie keinesfalls um französischen Wein in deutschen Schläuchen handelte, mögen die Neudichtungen etlicher Responsorien und die melodischen Kontrafakturen gezeigt haben. Zugleich eröffnen sich hier Einblicke in Mechanismen der religiösen Kulturgewinnung, die für die noch zu leistende musik-, liturgie- und kulturwissenschaftliche Aufarbeitung der vorreformatorischen Kloster- und Stiftskultur Erfurts und Mitteldeutschlands auf eine weiterreichende Relevanz zu prüfen wären. Abschließend soll nun das weitere Schicksal des Severus-Offiziums nach seiner Einführung in die Stiftsliturgie beleuchtet werden. Eine eigene musikalische Überlieferung des Severistiftes existiert nicht, die Texte des Offiziums sind u. a. in einem Brevierdruck desselben von 1518 enthalten.66 Zusätzlich zeigt ein gedrucktes Brevier des Marienstiftes aus dem Jahr 1497,67 dass das Reimoffizium noch am Vorabend der Reformation an beiden Stiften gepflegt wurde.68 Ohne Zweifel war das Erfurter Severistift Heimstatt 65 „Spissior dicatur dyatessaron si habeat quatuor voces quam si tres vel duas.“ Scriptorum de musica medii aevi novam seriem a Gerbertina alteram, Bd. 2, hg. von Charles Edmond Henri de COUSSEMAKER, Paris 1867 [Reprint Hildesheim 1987], S. 301. 66 Breviarium Severiani Collegii Erphordiensis (wie Anm. 46), fol. 31v–33v. 67 Analecta hymnica medii aevi, Bd. 45a: Historiae rhythmicae (wie Anm. 12), S. 179. 68 Die beiden Stiftschöre sangen zwar dieselben Antiphonen und Responsorien, jedoch lassen sich feine liturgische Nuancen feststellen. So disponierte das Marienstift die Vesperpsalmen nach dem Ferialformular, während man am Severistift, wo der 22. Oktober zugleich Patronatsfest war, die Laudate-Psalmen verwendete. D-EFd, Hs. Lit 6a, fol. 262v; Breviarium Severiani Collegii Erphordiensis (wie Anm. 46), fol. 31v.

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und Zentrum des Kultes, doch zeigt bereits die Überlieferung der Gesänge im Antiphonar des Nachbarstiftes, dass spätestens um 1400 eine Rezeption des Kultes und seiner Liturgie einsetzte. In der Tat finden sich die Texte des Reimoffiziums auch in Mainzer Diözesanbrevieren des 15. und frühen 16. Jahrhunderts.69 Gedruckte Breviere richteten sich zuvörderst an Kleriker im Einzugsbereich der ausstellenden Institutionen.70 Die oben genannten Severi- und Marienbreviere legen nahe, dass das Offizium in den beiden Archidiakonaten verbreitet war,71 die Mainzer Breviere lassen vermuten, dass dies auch auf die außerthüringischen Gebiete des Erzstiftes zutraf. Die Aufnahme des Offiziums in die Mainzer Diözesanbreviere scheint auf einen Erlass aus dem Jahr 1433 zurückzugehen, in dem der Mainzer Erzbischof Konrad von Dhaun anordnete, dass der Gedenktag Severi in allen Kirchen des Erzbistums in den Rang eines Apostelfestes zu erheben und mit entsprechendem Aufwand zu begehen sei.72 In anderen Bistümern der Mainzer Kirchenprovinz scheint das Fest von geringerer Bedeutung gewesen zu sein. In einem Straßburger Brevier aus den späten 1480er Jahren ist die Severus-Liturgie nur in Form dreier Lektionen greifbar. Infolge von Okkurenzen wurde das Fest hier außerdem ohne Vespern gefeiert; nur in der zweiten Vesper des Vortages ist dem Heiligen ein knappes Mitgedächtnis gewidmet. Antiphonen oder Responsorien aus dem Erfurter

69 Breviarium Moguntinum, [Straßburg] 1487; D-Mbs, 2 Inc.c.a. 1883 l, fol. 282v–283v; Breviarium Moguntinens[em] novisseme impressum, Mainz 1509; D-Mbs, Res/4 Liturg. 704e, fol. 413v–415v. 70 Vgl. z. B. das „Mandatu[m] d[omi]ni gratiosi Magdeburgsen[sis] archiepiscopi [d. h. Albrecht von Brandenburgs] ad clericos quoscum[que] eisde[m] dyocesis“, in: Breviarium Magdeburgensis, Leipzig 1513; D-HAu, 87 L 1028, unfol. 71 Ende des 15. Jahrhunderts unterstanden dem Archidiakonat St. Marien auf 18 Sedessprengeln 469 Pfarren sowie 740 Kapellen und Vikarien in Erfurt und im östlichen Thüringen. St. Severi gebot auf fünf Sedessprengeln über 107 Pfarren sowie 174 Kapellen und Vikarien in Erfurt und im westlichen Thüringen. Enno BÜNZ, „Die Kirche im Dorf lassen …“. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen, in: Werner RÖSENER (Hg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 156), Göttingen 2000, S. 77–167, hier S. 92. 72 „[V]olumus & ordinamus, Festum translationis eiusdem S. Severi, quod XI. Kal. Novembris peragitur, de cetero perpetuis futuris temporibus per vos in omnibus & singulis vestris ecclesiis, opidis, villis atque locis […] a Clero & populo cum omni devotione & honore, quemadmodum Apostolorum festa peraguntur, solemniter celebrari.“ Codex diplomaticus anecdotorum, hg. von Valentin Ferdinand von GUDENUS und Heinrich Wilhelm Anton BURI, Frankfurt am Main/Leipzig 1758, S. 205 f.

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Reimoffizium finden sich jedoch nicht.73 Im Augsburger Brevier von 1481 fehlt das Fest vollständig.74 Überprüft man (stichprobenhaft) die Verbreitung des Festes außerhalb der Mainzer Kirchenprovinz, kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis: Im Kölner Erzbistum war das Fest nicht bekannt, da man am 22. Oktober der heiligen Cordula gedachte.75 Im Kalendarium eines Missales des Trierer Erzbistums von 1547 wird der Festtag Severi zwar genannt,76 ein Brevier vom Anfang des Jahrhunderts weist jedoch nur das Offizium der 11.000 Jungfrauen von Köln (21. Oktober) sowie der Reliquientranslation des Bischofs Maternus (23. Oktober) auf77 – ein Indiz für eine erst im 16. Jahrhundert erfolgte Einführung des Festes. In der Magdeburger Kirchenprovinz beging man das Fest Anfang des 16. Jahrhunderts ebenfalls, allerdings nicht mit einem Versoffizium, sondern mit Gesängen aus dem Commune.78 Das Fest des Heiligen scheint um 1500 außerhalb des Mainzer Erzstiftes nur sporadisch verbreitet, die Überlieferung des Reimoffiziums auf dieses beschränkt gewesen zu sein. Der erzbischöfliche Erlass von 1433 legt die Vermutung nahe, dass das Offizium bis zu diesem Zeitpunkt als Erfurter Lokalliturgie gepflegt wurde. Das Szenario einer relativ spät angestoßenen überregionalen Kanonisierung würde auch die Überlieferungslage außerhalb des Mainzer Erzstiftes erklären helfen: Womöglich wurde die Rezeption des Festes in anderen Bistümern erst durch die um 1480 aufkommenden gedruckten Breviere katalysiert, die, z. B. als Buchbesitz nicht residierender Kleriker, auch außerhalb der ausstellenden Diözesen Verbreitung fanden. Da Breviere jedoch keine Melodien überlieferten – die ersten gedruckten Antiphonare erschienen erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts –, war man bei der Einführung des Festes ‚gezwungen‘, auf die überall verfügbaren Gesänge des „Commune“ zurückzugreifen. Auch innerhalb des Mainzer Erzstiftes und den Thüringer Archidiakonaten ist somit nicht zwingend von einer auch musikalischen Verbreitung des Severus-Offiziums auszugehen, denn Breviere waren zuvörderst Instrumente des officium divinum

73 Breviarium Argentinense, Straßburg 1489; [Sanktorale], D-Mbs, Inc.c.a. 63-1/4, fol. 481v–482r. 74 Liber hora[rum] p[ar]s Estivalis […] s[e]c[un]d[u]m Choru[m] ecclesie August[ane], Augsburg 1481, unfol. 75 Breviarium Coloniense, Köln 1500; D-DÜlk, PRTHEOL-2-147:INK, [Kalendarium], unfol. 76 Missale Treverense, Koblenz 1547; D-KBs, AB 4o 1/140, [Kalendarium], unfol. 77 Breviarium Treverense, [Basel] 1501; D-TRs, 1/82a, fol. [360v]–[360r]. 78 Breviarium Magdeburgensis, Nürnberg 1514; D-HAu, 87 L 1029a, [Sanktorale], fol. 109r– 110r.

308

STEFAN MENZEL

privatim. Im Gegensatz zum officium divinum publicum fand dieses extra chorum statt, wurde gelesen bzw. rezitiert, aber nicht gesungen.79 Das Reimoffizium scheint bis ins 15. Jahrhundert hinein eine Erfurter Spezialität gewesen zu sein. Wie die Magdeburger und Straßburger Breviere zeigten, ging die Verbreitung des Festes mit der Ausprägung anderer liturgischer Formate einher, was auch insofern naheliegt, als der Severus-Kult außerhalb Erfurts und des Mainzer Erzstifts, wo er als Stadtheiliger, Stiftspatron bzw. im Rang eines Apostels verehrt wurde, anderen Bedürfnissen zu gehorchen hatte. Welche Bedeutung Severus in der deutschen Heiligenverehrung um 1500 innehatte, ließe sich nur auf Basis einer systematischen Auswertung der zahlreichen Breviere und Missalien dieser Zeit eruieren. Die recht späte Kanonisierung im altgläubigen Trierer Erzbistum deutet jedoch darauf hin, dass das Expansionspotential des Kultes keinesfalls erschöpft war, als die Reformatoren damit begannen, die Kalendarien von Heiligenfesten zu ‚reinigen‘. Das Reimoffizium des Marien-Antiphonars erscheint auf den ersten Blick als ein keinesfalls spektakulärer Vertreter dieser von Luther geächteten Gattung. Das kulturhistorische Panorama, das es skizzieren hilft, überrascht hingegen durch seine Weite und Komplexität. Es zeigt uns einen Erfurter Lokalheiligen mit italienischem ‚Migrationshintergrund‘, über dessen Gebeinen zahlreiche Erfurter Kirchen niederbrannten und verfielen; der wahrscheinlich Ende des 13. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Heiligen der Stadt und ihrer Zünfte aufstieg und dessen Kult dafür Sorge trug, dass nordfranzösische Heiligenlyrik aus einem fast 800 km entfernten Kloster nicht nur in Erfurt, sondern auch in Thüringen und im Mainzer Erzstift eine erkleckliche Verbreitung fand – wohlgemerkt musikalisch ‚germanisiert‘. Die Musikkultur mitteldeutscher Klöster und Stifte mag zu großen Teilen verloren sein. Mit dem Severus-Offizium und seiner französischen Vorlage liegen jedoch weit mehr als nur Fragmente derselben vor. Es bleibt zu hoffen, dass sie dereinst wieder zum Klingen gebracht werden.

79 Gleichwohl deuten die Texte der Responsorien und Antiphonen in den Mainzer Diözesanbrevieren darauf hin, dass die Gesänge zumindest dem Domchor von St. Martin bekannt waren. Von den 24 Antiphonaren und 12 Gradualen, die noch 1545 vom dortigen Domkapitel inventarisiert wurden, konnte bisher allerdings nur ein Graduale aus dem 14. Jahrhundert identifiziert werden (Kiedrich, Chorstiftsbibliothek Codex A). Vgl. Adam GOTTRON, Mainzer Musikgeschichte von 1500 bis 1800 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 18), Mainz 1959, S. 18; DERS., Tausend Jahre Mainzer Musik (= Katalog der Ausstellung im Gutenberg-Museum, Mainz), Mainz 1957, S. 7; Georg TOUSSAINT, Neue Quellen zur Geschichte des Chorstifts Kiedrich, in: Archiv für Musikwissenschaft 19/20 (1962/63), S. 257–264.

VON DER RELIQUIEN- ZUR OFFIZIENTRANSLATION

309

Anhang: Text- und Strukturvergleich zwischen Severus- und Bertinus-Offizium80 D-EFd Hs. Lit. 6a

F-BSM Ms. 107

F-AS Ms. 269

F-SOM Ms. 204

Gloria sanctorum Deus accipe vota precantum nosque tuas laudes in Severo venerantes respice placatus nostros solvendo reatus. Verbum patris summi vera salus unica spes et consolacio mundi tue tuisque presulis Severi laudi assistentes nos clementer exaudi. / Ut tue dextere defensione mereamur protegi in die extreme ultionis. Iste confessor nobis intercessor… Magnificemus in excelsis Christum venerantes qui sanctum Severum in sede locavit olympi angelico fruitur ubi nunc dyademate gaudens unde pater humiles odas tu respice nostras.

deest

Gloria […] vota tuorum […] in Bertino […] nostros […] reatus.

Gloria […] vota tuorum […] in Bertino […] nostr[i]s […] reatus.

deest

deest

deest

deest

deest

deest

Magnificemus […] veneranter […] Bertinum […] olimpi […] diademate […] nostras.

Magnificemus […] veneranter […] Bertinum […] olimpi […] diademate […] nostras.

Magnificemus […] venerantes […] Bertinum […] olympi […] dyademate […] nostras.

1. Vesper

Antiphon (Ps)

Responsorium / Versus

Hymnus

Antiphon (Magnificat)

80 Das liturgische Formular ist das des Erfurter Antiphonars. Abweichungen von diesem wurden in Klammern kenntlich gemacht: So bedeutet „(II.3)“ im Falle eines Responsoriums, dass dieses in der französischen Quelle in der zweiten Nokturn nach der dritten Lesung zu singen ist, im Falle einer Antiphon, dass es sich um jene des dritten Psalms handelt.

STEFAN MENZEL

310 Matutin 1. Nokturn

Antiphon (Ps)

Responsorium / Versus

(1) Beatus confessor Severus virtutum precipuus via iniquorum spreta Dei lege permansit sine regna. (2) Qui habitat in celis rex regum constituit confessorem Severum super multitudinem gentium predicare regnum celorum. (3) Filii hominum scitote quoniam mirificavit dominus sanctum Severum ipse exaudit orationem eius pro nobis miseris factam. (CAO 2879) (1) O Severe gloriose servis tuis condescende sub obtentu meritorum solvens nexus delictorum. / Post vite cursum trahe nos ad gaudia sursum. (2) Mellifluum florem divino rore madentem sicut apes studio mellis sic quique frequentant Severum presulem vite documenta docentem. / Ut gelidos fontes cervi querunt sicientes. (3) Verbum patris summi… / Ut tue dextere… (s. o.)

Beatus […] Bertinus virtutum meritis […] regna.

identisch mit F-BSM Ms. 107

identisch mit F-BSM Ms. 107

Qui […] caelis […] antestitem Bertinum […] celorum.

Qui […] celis […] confessorem Bertinum […] celorum

identisch mit F-AS Ms. 269

Filii […] Bertinum […] factam. (I.4)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.3)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.3)

deest

deest

deest

deest

Mellifluum […] Bertinum patrem […] docentem. / Ut […] sitientes. (V, II.3)

identisch mit F-AS Ms. 269 (II.3)

deest

deest

deest

VON DER RELIQUIEN- ZUR OFFIZIENTRANSLATION

311

2. Nokturn

Antiphon (Ps)

Responsorium / Versus

(1) Verba almi confessoris Severi Dominus patulis auribus perpendit clamoremque eius clementer intellexit. (2) Domine minuisti tuum fidelem Severum paulominus ab angelis gloria et honore coronasti illum in celis. (3) Equitatem vultus Dei quia novit contemplari hunc in monte sancto palma letum ditat sempiterna. (1) Rex celorum pie Deus ad te spectat laus illius tu per eum nobis parce ac redemptis miserere. / Plasma tuum Christe defende benignus ab hoste. (2) Sancte Severe Christi presul audi rogantes servulos et impetratam celitus tu defer indulgenciam. (CAO 7580) / O sancte Severe sydus aureum domini gracia servorum gemitus solita suscipe clemencia. (CAO 7580a) (3) Severus in gaudium est ingressus angelorumque cetibus admixtus sic de munere gaudet interius ut iam non

Verba […] Bertini […] intellexit. (I.5)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.4)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.4)

Domine […] Bertinum […] celis. (I.6)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.5)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (I.5)

deest

Equitatem […] hunc […] sempiterna. (I.6)

Equitatem […] huic […] sempiterna. (I.6)

deest

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a (III.1)

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a (III.1)

deest

deest

deest

deest

deest

deest

STEFAN MENZEL

312 sit quod doleat de corruptione exterius. / Anima eius in bonis demorabit et semen eius hereditabit terram. 3. Nokturn

Antiphon (Ps)

Responsorium / Versus

(1) Ad hunc montem suspirare fac nos pater sanctissime ut exuta carne gravi excipiat aula celi. (2) Prevenisti domine dilectum confessorum tuum Severum in benedictionibus dulcedinis posuisti in capite eius coronam de lapide precioso. (3) Sacerdos Dei Severus non accepit in vano animam suam ipse suscepit benedictionem a Domino et modo triumphat in celis. (1) Vite huius caduce contemptor et eterne glorie amator assidue Severe doctor boni exempli et doctrine per tuum dogma geminum sancta sequamur ad regnum. / Ut habitemus in domo domini in longitudine dierum. (2) Miles Christi Severe sanctissime tuo pio interventu culpas nostras ablue. (CAO 7155) / Ut celestis regni sedem valeamus scandere. (CAO 7155a)

deest

Ad […] exutos […] celi. (II.1)

identisch mit F-AS Ms. 269 (II.1)

Prevenisti […] antestitem tuum Bertinum […] precioso. (II.1)

Prevenisti […] confessorum tuum Bertinum […] precioso. (II.2)

identisch mit F-AS Ms. 269 (II.2)

Sacerdos […] Bertinus […] celis. (II.2)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (II.3)

identisch mit F-BSM Ms. 107 (II.3)

deest

deest

deest

deest

deest

deest

VON DER RELIQUIEN- ZUR OFFIZIENTRANSLATION

313

(3) Gloriosus igitur Dei adletha [sic] ac eximius sacerdos Severus in prolixa etate ieuniis et oracionibus famulans regi superno hodie suscepit meritorum premia ab ipso in angelorum choro. / Diversis ut apes floribus onusta ita iste sanctus extitit virtutum omnium nectare oneratus.

Gloriosus […] atletha […] Bertinus […] aetate […] orationibus […] suscipit […] choro. / identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a (III.4)

Gloriosus […] atletha […] Bertinus […] etate […] orationibus […] suscepit […] choro. / identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a (III.4)

identisch mit F-AS Arras Ms. 269 / identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a (III.4)

(1) Induit omnipotens virtutum nectare sanctum Severum pietatis opus de corde sequentem. (2) Servivit Domino sanctus pangendo sacerdos et meruit penetrare polorum regna beata. (3) Aurora croceo clari sub tegmine solis pausante hic psallebat ovanter carmina Christo. (4) Per vigili sanctus cura Severus ovile Christi commissumque gregem sine labe regebat. (5) Laudibus omnigenis confessor corde canebat ore etiam Domino psallens non deficiebat.

Induit […] Bertinum […] sequentem.

identisch mit F-BSM Ms. 107

identisch mit F-BSM Ms. 107

Servivit […] penetrere […] beata.

Servivit […] penetrare […] beata.

identisch mit F-AS Ms. 269

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a

Per […] Bertinus […] regebat.

identisch mit F-BSM Ms. 107

identisch mit F-BSM Ms. 107

Laudibus […] Domino haud segniter organizabat.

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a

identisch mit D-EFd Hs. Lit. 6a

Laudes

Antiphon (Ps)

STEFAN MENZEL

314 Antiphon (Benedictus)

2. Vesper Antiphon (Ps)

Antiphon (Magnificat)

O Severe tuis pie pastor celitus assiste memorem nostri faciat clemencia Christi ac per eum Christe nobis petimus miserere.

deest

O Bertine […] clementia […] miserere.

identisch mit F-AS Ms. 269

Hic adletha tuus celebris pietate patronus post invictorum certamina plena laborum migrat ad ethereas hodie gaudendo choreas. Exultemus Deo omnes hunc in sanctis collaudantes o Severe sacer ave preces audi culpas dele nos hiis festis fac adesse et eternis non deesse.

deest

Hic athleta […] choreas.

identisch mit F-AS Ms. 269

deest

Exultemus […] o Bertine […] his […] deesse. (V.)

identisch mit F-AS Ms. 269 (V.1/3)

MATTHIAS EIFLER GEISTIGES LEBEN, BUCHKULTUR UND BIBLIOTHEKSAUSBAU

Geistiges Leben, Buchkultur und Bibliotheksausbau im Erfurter Peterskloster im Kontext der Bursfelder Reform Das 1060 gegründete Erfurter Benediktinerkloster St. Peter und Paul ist als eines der bedeutendsten Klöster Thüringens anzusehen. Dem Kloster kam nicht nur als hirsauisches Reformzentrum eine bedeutende Rolle zu. Seit dem Anschluss an die Bursfelder Reform 1447/51 erlebte es eine zweite, mindestens ebenso bedeutende Blütezeit. Es wurde zu einem Zentrum der Kongregation, war aktiv an der Ausbreitung der Reform beteiligt und stellte aus den Reihen seiner Mönche zahlreiche Äbte und Prioren der reformierten Klöster. Mit Stolz bezeichnete der Chronist Nikolaus von Siegen 1495 das Erfurter Peterskloster als „principium et principale cenobium“ der Bursfelder Observanz.1 Durch die Dissertation von Barbara Frank aus dem Jahr 19732 ist die Reformgeschichte des Petersklosters mustergültig aufgearbeitet worden. Einen spürbaren Anstoß erfuhr die Bearbeitung verschiedener Aspekte der Klostergeschichte durch ein im Jahr 2003 durchgeführtes Symposium.3 Für das vor-

1

2

3

Im Fußnotenapparat werden folgende Abkürzungen verwendet: 1.) Für Datenbanken (letzter Zugriff jeweils 30.10.2016): GW = Gesamtkatalog der Wiegendrucke (http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de), ISTC = Incunabula Short Title Catalogue (http://www.bl.uk/catalogues/istc), VD16 = Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (www.vd16.de). 2.) Für Bibliotheken: BA = Bistumsarchiv, FB = Forschungsbibliothek, HAAB = Herzogin Anna Amalia Bibliothek, RSB = Russische Staatsbibliothek, SBB-PK = Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, SLUB = Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, UB = Universitätsbibliothek, ULB = Universitäts- und Landesbibliothek. Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 2: Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen O.S.B., hg. von Franz X. WEGELE, Jena 1855, S. 456: „Nam hoc in tempore monasterium montis S. Petri Erfordie fuit quodammodo principium et principale cenobium observancie Bursfeldensis, nec fuit locus sive cenobium idoneor pro capitulo servando eiusdem reformacionis.“ Vgl. Barbara FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Bursfelder Union (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 34), Göttingen 1973. Das von Prof. Dr. Matthias Werner und Prof. Dr. Dieter Blume (Friedrich-SchillerUniversität Jena) organisierte Herbstsymposium der „Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten“ zum Thema „Mönche auf dem Petersberg – Geschichte und Kunst des Erfurter

316

MATTHIAS EIFLER

liegende Thema sind vor allem die in diesem Zusammenhang von Elke-Ursel Hammer vorgelegten Beiträge zur Geschichte der Abtei im 15. und 16. Jahrhundert von Bedeutung.4 Der entsprechende Artikel im Germania-BenedictinaBand für Ostdeutschland von 20125 fasst den Forschungsstand zusammen. Im Folgenden sollen nicht die ereignisgeschichtlichen Fakten wiederholt werden, die in diesen Arbeiten dargestellt worden sind. Stattdessen soll der Fokus auf einen anderen Aspekt gerichtet werden: die Bibliothek des Petersklosters im 15. und frühen 16. Jahrhundert im Kontext der Bursfelder Reform. Eines der Hauptziele der zu diesem Thema verfassten Dissertation war es, die seit der Klosterauflösung 1803 weit verstreute Bibliothek zu rekonstruieren.6 Von der um 1525 ca. 1.000 Bände umfassenden Sammlung konnten über 640 Handschriften, Fragmente, Inkunabeln und Frühdrucke, weit verstreut über ca. 90 Bibliotheken, vor allem Europas und Nordamerikas, ermittelt werden.7 Damit bietet das Erfurter Peterskloster reiches Material für eine Untersuchung des Zusammenhangs von Klosterreform und Bibliotheksausbau, die exemplarischen Charakter haben kann. Die Rekonstruktion der Bibliothek ist dabei nicht Selbstzweck, sondern in den historischen Kontext einzuordnen. Zu fragen ist, inwiefern sich aus bibliotheks- und rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen Aussagen über das innere, geistige und spirituelle Leben des reformierten Konventes ableiten lassen. Lässt sich der Aufschwung der Schriftlichkeit im Kontext der Bursfelder

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Petersklosters 1103–1803“ fand am 19. und 20. September 2003 in der Erfurter Peterskirche statt. Die Vorträge sind gedruckt in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg (Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, 7), hg. von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Regensburg 2004. Vgl. Elke-Ursel HAMMER, Vom Bursfelder Reformzentrum zum Kloster in reformatorischer Bedrängnis – die Abtei St. Peter im 15. und 16. Jahrhundert, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster (wie Anm. 3), S. 135–143; DIES., Reform und Reformation: Das Erfurter Peterskloster zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 122 (2011), S. 51–96. Vgl. Anja FRECKMANN/Christof RÖMER/Michael SCHOLZ, Art. Erfurt, St. Peter, in: Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, X/1 u. 2), St. Ottilien 2012, hier Teilbd. 1, S. 341–443. Vgl. Matthias EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters im späten Mittelalter. Buchkultur und Literaturrezeption im Kontext der Bursfelder Klosterreform (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 51), Köln/ Weimar/Wien (im Druck). Ausführliche Kataloge der erhaltenen Codices (370 Handschriften, 22 separate Handschriftenfragmente, 18 in der Literatur genannte und nicht mehr nachweisbare Bände) sowie Drucke (230 Inkunabeln und Frühdrucke bis 1525) [Stand: 07.08.2017] befinden sich künftig in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6).

GEISTIGES LEBEN, BUCHKULTUR UND BIBLIOTHEKSAUSBAU

317

Reform auch für das Peterskloster nachweisen? Welche Rolle spielten Buchstiftungen? Welche Personen waren die treibenden Kräfte beim Bibliotheksausbau und wie wurde dieser organisiert? Kann man aus den erhaltenen Beständen etwas wie ein „Profil“ der Klosterbibliothek ableiten? Bei der Rekonstruktion der Bibliothek und der Auswertung der erhaltenen Bände steht man vor einem methodischen Problem. Vom Vorhandensein eines Werkes in der Sammlung kann man nicht automatisch auf dessen Rezeption schließen. Nicht bei jeder Handschrift oder jedem Druck ist von einer bewussten Erwerbung auszugehen; mancher gestiftete Band spiegelt eher die Interessen des Stifters als die der Beschenkten wider. Umso wichtiger ist es, nicht nur die vorhandenen Texte an sich, sondern auch kodikologische Aspekte und Benutzungsspuren zu berücksichtigen. So lässt sich der Zeitpunkt, zu dem ein Band in die Sammlung gelangte, durch Besitzeinträge oder die Einbände festlegen. Einträge des Bibliothekars, z. B. Signaturen oder Eigentumsvermerke, zeigen, wie ein Werk in die Sammlung integriert wurde; Marginalglossen zeugen davon, in welchem Kontext bestimmte Werke studiert wurden.

1. Schriftlichkeit und Buchkultur im Kontext der Reform Seit 1447 wurde das Peterskloster auf Betreiben des Mainzer Erzbischofs Dietrich Schenk von Erbach (1434–1459) der Bursfelder Reform angeschlossen.8 Abt Hartung Herling (seit 1437) wurde vom Amt suspendiert und eine Reformkolonie von Bursfelde nach Erfurt gesandt. Am 16. Februar 1451 wurde Christian Kleingarn (1451–58) zum ersten Reformabt gewählt; am 6. Mai 1451 erfolgte der Anschluss an die Bursfelder Union. Unter Christian Kleingarn, vor allem aber unter Abt Gunther von Nordhausen (1458–1500)9 wurde eine grundlegende Reform umgesetzt, die alle Bereiche des monastischen Lebens betraf. Eine Ökonomiereform schuf die Voraussetzungen für umfangreiche, vor allem unter Abt Gunther durchgeführte Baumaßnahmen. Seit 1463 wurde der gesamte Kreuzgang neu aufgezogen; bis 1466 war der Ostflügel fertigstellt, der die für die Wiederbelebung der vita communis zentralen Orte beherbergte: Kapitelsaal, Refektorium und Bibliothek. 1460 wurde das Kongregrationsarchiv von Bursfelde nach Erfurt verlegt, was zeigt, dass damals bereits geeignete Räume für die Unterbringung des Archivs und fähige Personen für dessen Verwaltung vorhanden waren. Gleichzeitig war dies die Voraussetzung dafür, dass das Erfurter 8

9

Zu den Ereignissen, die zum Anschluss des Klosters an die Bursfelder Union führten, vgl. ausführlich FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 16–40. Biographische Angaben zu beiden Äbten: ebd., S. 245 f. u. 248 f.

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MATTHIAS EIFLER

Kloster der beliebteste Tagungsort der Bursfelder Generalkapitel wurde. Hier fanden seit 1463 bis zum Jahrhundertende 21 der 41 Äbteversammlungen statt.10 Nachdem die materiellen Grundlagen geschaffen worden waren, konnte der Bibliotheksausbau in Angriff genommen werden. Der enge Zusammenhang zwischen der Klosterreform und der Belebung der Studien sowie dem Bibliotheksausbau ist von der Forschung mehrfach konstatiert worden. Was Thomas Kock für die Devotio moderna formuliert hat, gilt auch für die reformierten Benediktinerklöster: „Dem Gebrauch von Buch und Schrift, dem Lesen und Schreiben kommt die Rolle der wichtigsten Reformtechnik zu“.11 Grundsätze der Reform wurden durch geschriebene oder gedruckte normative Texte (Generalkapitels- und Visitationsrezesse, Consuetudines etc.) an die Konvente vermittelt. Durch das Schreiben und Lesen normativer Texte sowie theologischer und asketischer Schriften (zu Themen der Ordensrefom) sollte der einzelne Mönch befähigt werden, die Vorgaben der Reform im eigenen Leben umzusetzen. Dazu mussten entsprechende Texte bereitgestellt werden: durch Vervielfältigung im Skriptorium, Schenkungen oder die Erwerbung von Drucken. Phasen der Reform waren deshalb stets mit einer besonderen Pflege der Buchkultur und einer Erweiterung der Klosterbibliotheken verbunden. Bereits unmittelbar nach dem Anschluss an die Reform kam es im Erfurter Peterskloster zu einer Neubelebung der Schreibtätigkeit im Skriptorium. Welchen hohen Stellenwert die Bursfelder Kongregation der Buchproduktion beimaß, zeigt eine Passage in den 1474/75 gedruckten Consuetudines: Der Abt muss dafür sorgen, dass die einzelnen Brüder sich an eine spezielle Handarbeit gewöhnen, damit sie nicht […] anfangen, den Müßiggang zu lieben […]. Die Tätigkeiten, mit denen die Brüder sich beschäftigen sollen, sind folgende: Bücher schreiben oder mit farbigen Initialen versehen oder binden, Pergament und das übrige Notwendige vorbereiten und dem Ähnliches. Unter diesen Tätigkeiten hält man die Arbeit des Schreibens in dem Maße für nützlicher, wie sie der geistigen Arbeit benachbarter ist.12

10 Im Erfurter Peterskloster wurden die Generalkapitel der Jahre 1463, 1465–68, 1472, 1479–81, 1483–86, 1488–89, 1491–92, 1494, 1497 und 1500 durchgeführt. Vgl. Paulus VOLK, Die Generalkapitel der Bursfelder Reformkongregation (Beiträge zur Geschichte des Alten Mönchtums und des Benediktinerordens, 14), Münster 1928, S. 45–57. 11 Thomas KOCK, Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels (Tradition, Reform, Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters, 2), Frankfurt am Main u. a. 22002, S. 12. 12 Caeremoniae Bursfeldensis, hg. von Marcel ALBERT (Corpus Consuetudinum Monasticarum, XIII), Siegburg 2002, S. 30311–16 (cap. III, 9), Übersetzung von P. Leo TRUNK OSB (1985).

GEISTIGES LEBEN, BUCHKULTUR UND BIBLIOTHEKSAUSBAU

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Abb. 1: Register einer um 1457–62 angelegten theologischen Sammelhandschrift

Angelegt wurden Codices, die Texte für die klösterliche Lektüre, mit Bezug zu Reformanliegen, enthielten. Dies zeigt exemplarisch die Weimarer Handschrift Q 45, die um 1457–62 von vier anonymen Schreibern hergestellt wurde.13 Der Codex enthält – wie das Register (siehe Abb. 1) zeigt – 22 Texte: Traktate von 13 Zur Handschrift vgl. Bibliographien und Kataloge der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar. Die lateinischen Inschriften bis 1600, Bd. 2: Quarthandschriften (Q) (im Folgenden: BK HAAB 2), beschrieben von Matthias EIFLER unter Verwendung von Vorarbeiten von Betty C. BUSHEY, Wiesbaden 2012, S. 198–211.

320

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Hugo von St. Viktor und David von Augsburg zur Novizenerziehung, Werke von Heinrich von Friemar über Tugenden und Laster, Texte über die Beichte, das Stundengebet und die Eucharistie.14 Auffällig ist der starke Einfluss der Kartäuser: Einer der vier Faszikel wurde aus einer Handschrift der Erfurter Kartause kopiert, ein anderer enthält vier Texte des Erfurter Kartäusers Johannes Hagen († 1475).15 Die Erfurter Benediktiner bezogen sich auf die monastische Tradition und rezipierten für die Ausbildung der Mönche geeignete Schriften der Theologen verschiedener Orden (Franziskaner, Dominikaner, Augustinereremiten, vor allem der Kartäuser). Das ausführliche Register zeigt, dass die Texte vom Bibliothekar sorgfältig verzeichnet wurden: Dabei gab er exakte Titel- und Autorangaben und empfahl einzelne Texte mit Bemerkungen wie Tractatus egregius besonders zur Lektüre. Für die Systematisierung des Buchbestandes waren vor allem die Bibliothekare verantwortlich. Der Bibliothekar und spätere Chronist Nikolaus von Siegen († 1495) initiierte seit der Mitte der 1470er Jahre eine Neuordnung der Klosterbibliothek: Die Bände wurden durch Signaturen, Titelschilder und Register erschlossen und der Bestand somit gegliedert. Sein Nachfolger Gallus Oswalt († 1520) führte spätestens seit den 1480er Jahren dieses Werk fort.16 Beide Bibliothekare sahen ihre Aufgabe darin, den Bücherschatz zu ordnen und den Mönchen zugänglich zu machen. Sie gaben auch Impulse für die Anlage neuer Handschriften, die aus älteren Teilen zusammengebunden oder neu geschrieben wurden. Bei der Auswahl der Autoren beriefen sich die Benediktiner auf Lektüreempfehlungen wie die des Frömmigkeitstheologen Johannes Gerson († 1429), „De libris legendis a monacho“, die in einer von Gallus Oswalt

14 Einzelnachweise der Autoren und Texte in: ebd. 15 Der nach Wasserzeichenbefund um 1458–60 entstandene Faszikel II (Bl. 47–184) von Q 45 überliefert in fast identischer Reihenfolge dieselben Texte (mit denselben Abweichungen, Schlussformeln etc.) wie eine in der Berliner Staatsbibliothek befindliche Handschrift: SBB-PK, Ms. theol. lat. qu. 165 (Erfurt, Kartause Salvatorberg, 15. Jh., 2. Viertel, alte Signatur: F 53). Es ist anzunehmen, dass es sich um eine (Teil-?)Abschrift der Handschrift der Kartause handelt. Der nach Wasserzeichenbefund um 1461 entstandene Faszikel IV überliefert vier Texte des Johannes Hagen (Johannes de Indagine), von denen zwei im Jahr 1460 in der Erfurter Kartause abgeschlossen wurden. Zu den Texten und Wasserzeichenbelegen vgl. BK HAAB 2 (wie Anm. 13), S. 201–207 u. 209 f. 16 Zur Neuordnung der Bibliothek und zur Tätigkeit der Bibliothekare vgl. ausführlich EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. III.4; DERS., Bücher in den Händen von Klosterbibliothekaren. Befunde aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert am Beispiel der Kartause und des Benediktinerklosters in Erfurt, in: Corine SCHLEIF/Volker SCHIER (Hg.), Manuscripts Changing Hands (Wolfenbütteler MittelalterStudien, 31), Wiesbaden 2016, S. 207–253.

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angefertigten Abschrift in einer Handschrift des Petersklosters17 enthalten ist. Das Kloster, so erklärte Gerson darin, sei keine Schule der Theologie oder Philosophie, sondern eine Schule christlicher Disziplin, die nicht zur Lehre, sondern zur Disziplin und zum guten Handeln erziehen solle.18 Statt mit scholastischen Quaestionen, die den intellectus schärfen, sollten sich die Mönche mit solchen Texten beschäftigen, die den affectus entflammen. Jedes Buch, es mag sich mit historischen, ethischen oder eschatologischen Gegenständen befassen, von dem ein Mönch den Eindruck gewinnt, dass er durch dessen Lektüre stärker zur Frömmigkeit bewegt wird, soll von ihm gelesen und immer wieder memoriert und ruminiert werden.19

Zur Lektüre empfahl Gerson: historische Erbauungsgeschichten, die Klassiker des geistlichen Lebens, vor allem Gregor den Großen, Hugo und Richard von St. Viktor, Bernhard von Clairvaux und Bonaventura. Die Mönche sollten nicht ständig neue Bücher verschlingen, sondern einige wenige intensiv lesen, sie memorieren und ruminieren (d. h. ‚wiederkäuen‘ und meint den verinnerlichten Umgang mit dem Gelesenen). Es ist kein Zufall, dass viele namentlich bekannte Schreiber aus der zweiten Jahrhunderthälfte Inhaber von Klosterämtern waren. Das betrifft etwa Johannes Münzenberg junior, der 1465 als Novize in das Peterskloster eingetreten war, hier als Cellerar und Novizenmeister wirkte und 1492 als Prior einer Reformkolonie nach Goseck entsandt wurde.20 Vom Chronisten Nikolaus von Siegen wird er als „optimus et preciosus scriptor“ bezeichnet.21 Während sich die von Münzenberg geschriebenen Chorbücher22 nicht erhalten haben, sind noch vier theologische Handschriften zu ermitteln, in denen er einzelne Texte schrieb und durch Kolophone kennzeichnete. So kopierte er 1475 einen Gerson-Text zur 17 SLUB Dresden, Mscr.Dresd.P.157, Bl. 248v–251v. Vgl. auch EIFLER, Bücher in den Händen von Klosterbibliothekaren (wie Anm. 16), S. 237, Abb. 11. 18 Vgl. Klaus SCHREINER, Benediktinische Klosterreform als zeitgebundene Auslegung der Regel. Geistige, religiöse und soziale Erneuerung in spätmittelalterlichen Klöstern Südwestdeutschlands im Zeichen der Kastler, Melker und Bursfelder Reform, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 86 (1986), S. 105–195, hier S. 159 f. 19 Jean Gerson. Œuvres complètes, Vol. 9: L’œuvre doctrinale (423–491), hg. von Palemon GLORIEUX, Paris 1973, S. 609–613, hier S. 612: „Liber omnis, sit historiacus, sit moralis, sit anagogicus, in quo plus reperiet ad devotionem se moveri, legatur, iterum memoretur et ruminetur […].“ 20 Biographische Angaben bei: FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 263 f., Nr. 111. Das Todesdatum ist nicht bekannt. 21 Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen (wie Anm. 1), S. 501. 22 Der Mönch Johann Kircher bezeichnete Münzenberg noch um 1630 in seinem Katalog der Mönche des Petersklosters (BA Erfurt, Hs. Erf. 17, Bl. 4–22, hier Bl. 13r) als „olim insignis scriptor choralium librorum“.

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Warnung vor den Gefahren der Astrologie (siehe Abb. 2), und vor 1492 einen Text des Kartäusers Heinrich Egher von Kalkar zur Meditation über die Passion Christi. Münzenberg schrieb aber auch die im Kloster sehr beliebte „Imitatio Christi“ des Thomas von Kempen ab und studierte 1483 die Predigten Gregors des Großen.23 Die von Münzenberg kopierten Texte zeigen auf, welche Texte für die Novizenerziehung verwendet wurden.

Abb. 2: „Trilogium astrologiae theologisatae“ des Johannes Gerson, am 20. April 1475 abgeschlossen vom Novizenmeister Johannes Münzenberg dem Jüngeren

Ebenfalls im Zusammenhang mit einem Klosteramt steht ein zwischen 1478 und 1485 von zwei Schreibern zusammengestellter, heute in Berlin aufbewahrter Codex.24 Er enthält Kommentare zur Benediktregel von Petrus Boerius und Bernhard von Monte Cassino, päpstliche Reformstatuten (z. B. die „Summa magistri“ Papst Benedikts XII.) und Texte zur Ordensreform (etwa Job Veners Traktat gegen den Eigenbesitz und Nikolaus von Dinkelsbühls Traktat gegen den Fleischgenuss unter Ordensleuten). Enthalten ist auch eine 1484 abgeschlossene Abschrift der Benediktregel mit einem umfangreichen Kommentar, der sehr wahrscheinlich im Peterskloster verfasst wurde.25 Auf den Verwendungszusammenhang verweist ein Eintrag auf dem Vorsatzblatt (siehe Abb. 3), der übersetzt lautet: „[Das Buch] ist angefertigt worden, damit der Prior es 23 Einzelnachweise in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. IV.2.2. 24 Vgl. SBB-PK Berlin, Ms. lat. fol. 857. 25 Auf eine Entstehung im Erfurter Peterskloster verweist eine Formulierung im Kommentar zu Kap. 41 zu den Speise- und Fastenvorschriften. Ebd., Bl. 145v: „[…] ut consuetudo nostro in monasterio ad sanctum Petrum Erffordie tenet.“

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immer in seiner Zelle aufbewahre wegen des darin Enthaltenen, das er für die Auslegung der Regel und die Bewahrung der regulären Disziplin […] benötigt“.26 Es handelt sich also um einen Codex, der die zentralen Reformtexte beinhaltete und deshalb dem Prior ständig zur Hand sein sollte. Prior im Peterskloster war von 1477 bis 1497 Georg Kistener; vermutlich wurde der Band für ihn und vielleicht auch zum Teil von ihm angelegt.

Abb. 3: Eintrag auf dem Vorsatzblatt einer Handschrift mit Reformtexten

Welche Bedeutung der Codex für das Selbstverständnis des Konvents hatte, zeigen zwei ehemals als vorderer und hinterer Spiegel eingeheftete Blätter, die heute in der Fragmentsammlung der UB Erfurt aufbewahrt werden.27 Sie wurden von den beiden Schreibern der Handschrift mit chronikalischen Aufzeichnungen zu Ereignissen der zweiten Jahrhunderthälfte beschrieben. Der hintere Spiegel enthält Einträge zu den Jahren 1463 bis 1469. Der Verfasser nennt sich in der 1. Person („ego frater Nicolaus de Egra“) und berichtet u. a. von einem Unfall bei den Bauarbeiten am Kreuzgang 1463, bei dem ein Mitbruder ums Leben kam, während er selbst schwer verletzt wurde und bleibende Schäden davontrug. Der ehemals vordere Spiegel vermerkt Todesfälle im Kloster während der Pestepidemien der Jahre 1484 und 1495. Diese Einträge wurden sukzessive vom zweiten Hauptschreiber, vielleicht also dem Prior Georg Kistener, angelegt. 26 Ebd., Vorsatzblatt: „Liber monasterii sancti Petri ordinis sancti Benedicti in Erfordia. Et expedit, ut eundem [librum] prior semper in cella sua retineat propter inibi contenta, qui pro exposicione regule ac conseruacione discipline regularis necnon conscienciarum puritate deseruiunt etc.“. 27 UB Erfurt, Dep. Erf. CE 2°64.

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Nikolaus von Egra war einer der produktivsten Schreiber des Klosters in der zweiten Jahrhunderthälfte. Er gehörte um 1458 zu den ersten Mönchen, die unter Abt Gunther die Profess im reformierten Konvent abgelegt hatten, wirkte nach seinem Unfall 1463 u. a. als Kustos und starb 1501 oder 1502 als Senior.28 Er scheint ein besonderes Interesse an Texten des Erfurter Kartäusers Johannes Hagen gehabt zu haben, kopierte aber auch zahlreiche Schriften Gersons. Daneben stellte er Sammlungen von Heiligenviten zusammen – von seiner Hand stammt etwa die einzige erhaltene Abschrift der Vita der heiligen Paulina.29 Die Bücher wurden nicht nur im Kloster geschrieben, sondern hier auch gebunden. Um 1455 richtete man im Peterskloster eine Einbandwerkstatt ein, die bis ca. 1525 bestand und zu den produktivsten in Erfurt gehörte. Mittlerweile können dieser Werkstatt über 140 Einbände zugeordnet werden. Im Kontext dieses Beitrags wird nicht auf diese Einbandwerkstatt eingegangen;30 es sollen nur einige prinzipielle Beobachtungen angestellt werden. Durch die Untersuchung der Einbände und die Schaffung einer verlässlichen Chronologie der Tätigkeit dieser Werkstatt kann man ermitteln, wann bestimmte Bücher in die Bibliothek gelangten. Auch zeigen die Einbände eindrücklich, wie der Medienwechsel von der Handschrift zum gedruckten Buch verlief. Im ersten und zweiten Werkstattabschnitt (1455–75) wurden ausschließlich Handschriften, darunter sehr alte, neu gebunden. Im dritten Abschnitt (1475–1500) handelte es sich bei zwei Drittel der gebundenen Bücher um Manuskripte, bei einem Drittel um Drucke. Obwohl schon Drucke angeschafft wurden, verlor das Schreiben zunächst keineswegs an Bedeutung. Das Verhältnis veränderte sich dann nach 1500 drastisch: Im 4. und 5. Werkstattabschnitt (1500–1525) wurden nur noch ca. 5 % Handschriften und 95 % Drucke gebunden. Seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts bestand also zunehmend immer weniger die Notwendigkeit, Bücher handschriftlich anzulegen, weil benötigte Texte durch Stiftungen oder Ankauf von Drucken in die Bibliothek gelangten. Wurden nach 1500 noch Manuskripte angefertigt, so handelte es sich dabei um individuelle Textzusammenstellungen, etwa liturgischer Texte. Im Zusammenhang mit der Bindung wurde in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts auch die Entscheidung über den Erhalt älterer Handschriften der Biblio28 Vgl. FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 165, Kat. Nr. 83. 29 HAAB Weimar, Q 49, Bl. 90r–117v. Vgl. auch BK HAAB 2 (wie Anm. 13), S. XV, XXXVI u. S. 257 mit Abb. 8; EIFLER, Bücher in den Händen von Klosterbibliothekaren (wie Anm. 16), S. 235 mit Abb. 10. 30 Zu diesem Aspekt vgl. ausführlich Matthias EIFLER, Die Bibliothek und Einbandwerkstatt des Erfurter Petersklosters im 15. und ersten Viertel des 16. Jahrhunderts – eine Bestandsaufnahme, in: Einband-Forschung 29 (2011), S. 7–28 sowie DERS., Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. V.

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thek getroffen. Der Bibliothekar wählte Codices aus, die durch eine Neubindung wieder zugänglich gemacht oder in einen neuen Kontext gestellt wurden (etwa indem sie mit neuen Faszikeln verbunden wurden). Alte Handschriften, die man nicht mehr benötigte, wurden hingegen ausgesondert und makuliert. Als Beispiel für die Aufwertung einer Handschrift durch die Neubindung ist ein um das Jahr 1000 geschriebener Codex zu nennen, der als einer der ältesten erhaltenen Codices aus Klosterbesitz anzusehen ist.31 Er enthält Werke von Hrabanus Maurus, Augustinus und Johannes Chrysostomus, Bibelkommentare, aber auch katechetische Werke, wie die sog. „Disputatio puerorum“ Alkuins über das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis. Bald nach 1455 wurde der Codex im Kloster neu gebunden, was beweist, dass die enthaltenen Texte der Kirchenväter und karolingischen Autoren im Kontext der Reform von neuem Interesse waren. Ebenfalls zu erwähnen sind zwei Codices des 12. Jahrhunderts mit den Dialogen Gregors des Großen und dem „Liber prognosticon“ des Julian von Toledo,32 die um 1465–75 neu gebunden wurden. Auch im letzten Viertel des Jahrhunderts erhielten neben zahlreichen neu angelegten Handschriften vereinzelt ältere Codices der Bibliothek in der Einbandwerkstatt des Klosters neue Bindungen, etwa ein Band des 12. Jahrhunderts mit dem Werk des Abtes Smaragdus über das ideale Mönchsleben „Diadema monachorum“33 oder ein Codex des 13. Jahrhunderts mit Augustinus zugeschriebenen Predigten und Sentenzen des Anselm von Laon.34 Dies könnte für eine erneute Rezeption der enthaltenen Texte im Zusammenhang der Reform sprechen. Andere Handschriften, etwa ein Codex aus dem späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert mit einem theologischen Kommentar und einer Passio der heiligen Juliana35 wurden nicht aufbewahrt, sondern makuliert, vielleicht weil man die frühkarolingische Schrift mit ihren vielen Abkürzungen nicht mehr lesen konnte oder bereits moderne Abschriften oder Drucke besaß. Besonders häufig wurden liturgische Handschriften makuliert, weil ihr Inhalt – etwa nach der Bursfelder Liturgiereform und aufgrund der Erwerbung liturgischer Drucke – überholt war. Das betrifft z. B. ein illuminiertes Sakramentar aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, von dem die Buchbinder am Ende des 15. Jahrhunderts mehrere Einzelblätter als Spiegel und Vorsatzblätter für die Einbände von Inkunabeln und einer Handschrift verwendeten.36 31 32 33 34 35

HAAB Weimar, Q 39. Vgl. auch BK HAAB 2 (wie Anm. 13), S. 126–133. SBB-PK Berlin, Ms. theol. lat. fol. 702 und FB Gotha, Memb. II 134. FB Gotha, Memb. II 132. HAAB Weimar, Q 46. Vgl. auch BK HAAB 2 (wie Anm. 13), S. 212–218. Das Fragment dient heute als Vorsatzblatt einer nach 1473 angelegten Handschrift mit asketischen Texten: SBB-PK Berlin, Ms. lat. oct. 304. 36 Auf Einzelblätter dieses Sakramentars, u. a. ein qualitätvolles Kanonbild, wies zuerst Beate Braun-Niehr hin, vgl. BRAUN-NIEHR, Unbekannte Handschriftenfragmente aus der

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Vom Urteil der Bibliothekare und Buchbinder hing es also ab, welche Texte auch weiterhin Teil der Bibliothek blieben und durch die Neubindung eine neue Rezeption und Kontextualisierung erfuhren, und welche vernichtet und – von makulierten Einzelblättern abgesehen – verloren gingen.

2. Buchstiftungen und Erwerbung von Drucken Ein wichtiger Faktor bei der Erweiterung des Buchbestandes waren Buchstiftungen. Zu unterscheiden ist zwischen Büchern, die Mönche bei ihrem Klostereintritt mitbrachten, und solchen, die durch Wohltäter des Konvents gestiftet wurden. Als Beispiel für den Buchbesitz eines Mönchs seien die Codices von Georg Erber genannt. Erber stammte aus Aibling (Oberbayern) und studierte seit 1452 in Erfurt und später in Wien und Paris. Um 1464 war er Schulleiter (scholasticus) in Coburg, 1466 wurde er Novize im Erfurter Peterskloster, wo er bereits um 1470 verstarb.37 In der Bibliothek befanden sich mindestens vier Handschriften aus Erbers Besitz.38 Sie wurden während seines Studiums oder seiner Tätigkeit als scholasticus angelegt und enthalten entsprechende Texte: Kommentare zu Aristoteles und Avicenna, Quaestiones zur vetus ars und zur nova logica aus der Feder des Johannes Versoris († 1481), ferner moralphilosophische Werke wie das „Breviloquium de virtutibus“ des englischen Franziskaners Johannes Guallensis († 1285) oder die „Formula honestae vitae“ des Martinus Bracarensis.39 Erber hat einige Texte selbst geschrieben, andere von Lohnschreibern kopieren lassen, einen Band in Paris gekauft. Rubrizierte Explicits geben Auskunft über Erbers Lebensstationen. So schloss er den Avicenna-Kommentar 1461 während Bibliothek des Erfurter Petersklosters, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster (wie Anm. 3), S. 119–124. Mittlerweile konnten elf Einzel- und sieben Doppelblätter des Sakramentars ermittelt werden, die sich entweder ausgelöst in der Fragmentsammlung der UB Erfurt oder noch als Makulatur in Inkunabeln der UB Erfurt sowie in der Handschrift Q 49 der HAAB Weimar befinden. Vgl. die Einzelnachweise in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. V.3. sowie DERS., Bücher in den Händen von Klosterbibliothekaren (wie Anm. 16), S. 247–249 mit Abb. 16–17 u. Farbabb. 12. 37 Zu den Lebensdaten vgl. FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 259f., Nr. 95; Kurt HEYDECK, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock (Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock, I), Wiesbaden 2001, Einleitung sowie S. 33–36 (mit weiteren Einzelnachweisen). 38 Heute in Berlin (SBB-PK, Hdschr. 435), Rostock (UB, Mss. philol. 72 und Mss. theol. 50) und Weimar (HAAB, Q 77). 39 Zu den Texten ausführlich: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. VII.1.

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seines Studiums in Paris ab.40 1464, als scholasticus in Coburg, fügte er in derselben Handschrift auf dem letzten Blatt einen Nachtrag hinzu (siehe Abb. 4). Darin schildert er, wie er sich von einem früheren (getauften?) Juden und Rabbi namens Benjamin, der sich nun Matthäus Gutgegen de Marburgk nannte, das hebräische Alphabet eintragen ließ und unter dessen Anleitung die lateinische Umschrift hinzugefügt habe.41

Abb. 4: Hebräisches Alphabet mit lateinischer Umschrift am Ende einer Handschrift des Georg Erber, 1464 40 SBB-PK Berlin, Hdschr. 435, Bl. 6ra (explicit am Ende des Avicenna-Kommentars): „Scriptum perfinis in Collegio Magne Marchie anno domini 1461 in die trinitatis [31.05.] finitum per manus Georgii Erber ibidem tunc temporis studentis.“ 41 Ebd., Bl. 243v: „Ego Georgius Erber i[n] artibus magister pro tunc scolasticus in Coburgk hoc alphabetum rogaui scribere quendam nomine Matheum Gutgeg[e]n de Mapurck olim existentem (?) Judeum nomine Beniamin cum uxore Maria quorum filius Abraham et filia Rachel, morientes pro tunc in Montua [Mantua?] anno domini 1464 in die sancte trinitatis [27.05.]. Ego autem prenominatus hoc alphabetum litteris latinis sic signaui eo presente et me in hoc docente, qui et olim rabbi iudeorum fuit.“

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Abb. 5: Andachtsbild zur Matutin aus dem Gebetbuch des Johannes Eckhard von Langheim

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Bücher wurden auch von Personen gestiftet, die dem Konvent durch ein Amt verbunden waren. Vier Bände waren im Besitz des Johannes Eckhard von Langheim, der nach einem Studium in Erfurt seit 1472 als Priester in einer Außenstation des Klosters, der Propstei Martinszelle in Falken an der Werra, wirkte und seit 1491 seinen Lebensabend im Peterskloster verbrachte.42 Es handelt sich um Handschriften, die er als Landpfarrer gebrauchen konnte: Vokabulare und Glossare für die Predigt,43 Texte zur geistlichen Lesung44 und Anleitungen zur Meditation. Ein kleinformatiges Gebetbuch aus Eckhards Besitz enthält neben Meditationstexten45 die „Horae de sancta cruce“, verbunden mit einem 18-teiligen, teils kolorierten Bilderzyklus zur Passion.46 Den Horen des Stundengebets werden darin Andachtsbilder von der Gefangennahme Jesu bis zur Grablegung an die Seite gestellt. Das Bild zur Matutin (siehe Abb. 5) zeigt einen knienden Benediktiner vor dem Kreuz; die beigegebenen Gebete rufen zur compassio mit dem Gekreuzigten und seiner Mutter auf. Dass Johannes Eckhard den Band zur persönlichen Meditation verwendete, zeigt eine eingebundene handschriftliche Beichte mit seinem Namen.47 Besonders enge Verbindungen bestandenen zu den Professoren der Erfurter Universität. Dies zeigen eindrucksvoll die Buchstiftungen des Theologen Johannes Milbach.48 Er war seit 1465 Doktor und Professor der Theologie 42 FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 285, Nr. 2 (Johannes Eckhard) und Nr. 4 (Johannes Langheim) unterscheidet zwei Pfründner des Klosters, die vor 1472 und seit 1472 Propst in der Martinszelle waren. Die Namensform „Johannes Eckart de Minore Lanckheym“ im Bakkalarenregister der Erfurter Universität bzw. „Johannes Eckhardus de Langheim“ in der Weimarer Handschrift Oct 51 zeigt aber, dass es sich um dieselbe Person handelte. 43 SBB-PK Berlin, Ms. germ. fol. 954 (Vocabularius Ex quo, 1461) und Ms. lat. qu. 803 (Auctoritates theologicae secundum ordinem alphabeticum, 1374). 44 UB Erfurt, Dep. Erf. CE 8° 18 (u. a. Werke des Kartäusers Rodgerus de Herfordia: De institutione novitiorum, Formula spiritualium exercitiorum, um 1482). 45 Der Band enthält u. a. ein „Exercitium spirituale pro religiosis fratribus praecipue ordinis sancti Benedicti“ des Bursfelder Abtes Theoderich von Homburg († 1485), Meditationen zur Passion Christi sowie anonyme Texte zur Beichte und Gewissenserforschung. 46 HAAB Weimar, Oct 51, Bl. 1r–28v: Horae de sancta cruce, mit 18-teiligem Bilderzyklus zur Passion Christi, nur zum Teil (bis Bl. 11v) kolorierte Federzeichnungen, den Teilen des Stundengebets zugeordnet. 47 HAAB Weimar, Oct 51, Bl. 29r–32v: Confessio, im Text erwähnt: „Ego Johannes Eckhardi de Langheim confrater monasterii nostri sancti Petri in Erffordia ordinis sancti Benedicti“. 48 Biographische Angaben in: FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 285 f.; Erich KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392–1521, Teil II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521 (Erfurter Theologische Studien, 22), Leipzig 21992, S. 10 u. 273.

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und amtierte als Dekan der philosophischen Fakultät. 1489 verzichtete Milbach auf Rat des Abtes Gunther von Nordhausen auf seine Professur und seine Präbende im Marienstift und wurde Pfründner und confrater im Peterskloster, dem er seinen gesamten Besitz übereignete.49 Er starb am 5. März 1493 und wurde in der Peterskirche begraben.

Abb. 6: Eintrag zur Buchstiftung des Erfurter Theologen Johannes Milbach

Mittlerweile konnten zwei Handschriften und zwölf Drucke50 ermittelt werden, die Milbach dem Konvent vermacht hat. Bei den Drucken sind vor allem die Autoren der Bettelorden des 13. Jahrhunderts vertreten, z. B. Albertus Magnus oder Vincenz von Beauvais. Milbach stiftete dem Kloster auch den „Mammotrectus“ (übersetzt: „Säugling“), ein Lehrbuch des italienischen Franziskaners Johannes Marchesinus zu schwierigen Begriffen der Bibel, außerdem eine Gesamtausgabe der Werke Gersons. Die Bände wurden vom Bibliothekar Gallus Oswalt unter Q- und R-Signaturen in die Bibliothek eingegliedert und mit Schenkungseinträgen versehen. Sie lauten übersetzt z. B. im Band mit der Signatur Q 33 (siehe Abb. 6): „Buchstiftung des Magisters Johannes Milbach an das Kloster St. Peter, getätigt im Jahr 1489“ sowie „Im Jahr des Herrn 1490 stiftete der ehrenwerte Doktor Herr Johannes Milbach, Professor der heiligen Theologie, dieses Buch den Brüdern vom Berg des hl. Petrus. Dem dieser Schlüsselträger [also der Klosterpatron Petrus] die Himmelstür öffnen möge.“51 49 Vgl. Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen (wie Anm. 1), S. 484; FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), Nr. 5, S. 285 f.; KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis (wie Anm. 48), Teil II, S. 10. 50 Nachweise in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. VII.2.1. 51 Zum Beispiel: UB Erfurt, Dep. Erf. I 4° 125 (GW 00612): „Legacio magistri Johannis Milbach ad monasterium montis sancti Petri in Erffordia facta anno 1489“. Darunter (von der Hand des Bibliothekars Gallus Oswalt): „Anno dni millesimo quadringentesimo

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Abb. 7: Kolophon des im Erfurter Peterskloster gedruckten Bursfelder Lektionars, 24. Dezember 1479

Durch solche Buchstiftungen gelangten im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts verstärkt Drucke in die Bibliothek und lösten die Handschriften ab. Die Bursfelder Kongregation hatte sich im Zuge einer umfassenden Liturgiereform seit 145952 zunehmend des Buchdrucks bedient, um Normexemplare der Liturgica und die „Consuetudines“ zu verbreiten. Das Peterskloster nahm in dieser Beziehung eine Vorreiterrolle ein: 1479 wurde hier die erste Druckwerkstatt der Kongregation errichtet, die zugleich die erste Druckerei Erfurts war. Am Heilignonagesimo egregius doctor dominus Johannes Milbach sacre theologie professor legauit hunc librum fratribus montissancti Petri in Erffordia. Cui idem clauiger celi ianuam patefaciat.“ 52 Psalterium Benedictinum Bursfeldense, Mainz: Peter Schöffer und Johann Fust, 29.VIII.1459 (GW M36286).

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abend 1479 wurde, laut Kolophon „in monasterio montis S. Petri Erffordensis“ der Druck des Bursfelder Lektionars abgeschlossen (siehe Abb. 7).53 Von den ca. 150 gedruckten Exemplaren haben sich nur wenige erhalten.54 Leider ist über diese Werkstatt wenig bekannt; selbst die Frage, ob außer dem Lektionar noch weitere Drucke (etwa ein „Gebet von den Zwölfboten“ von 1495)55 produziert wurden, ist nicht abschließend geklärt. Auch in den folgenden Jahren setze sich das Peterskloster intensiv für die Verbreitung von gedruckten Liturgica in der Kongregation ein, etwa im Zusammenhang mit dem Druck des Bursfelder Missale 1481 in Bamberg.56 Neben Drucken, die durch Stiftungen in das Kloster gelangten, stehen solche, die angekauft wurden. In einem Kölner Druck der Predigten des Jacobus de Voragine von ca. 1478 findet sich ein Eintrag, der übersetzt lautet: „Gekauft für 60 Landsberger Groschen, weder korrigiert noch illuminiert noch gebunden“.57 Im Kloster wurde also die Ausstattung und Bindung übernommen. Als Rubrikator und Buchmaler war dabei um 1478–80 in mindesten zwei Drucken ein „frater Rutgerus“58 tätig, der wahrscheinlich mit dem Schreiber eines verlorenen Kapiteloffiziumsbuchs Rutger von Venlo († 1495)59 gleichgesetzt werden kann. 53 Erfurt: In Monasterio Montis Sancti Petri, 24.XII.1479. 2° (GW M05741). 54 Vollständige Exemplare in der Nationalbibliothek Paris, der Landesbibliothek Oldenburg und in der Forschungsbibliothek Gotha. Unvollständige Exemplare in Dombibliotheken Hildesheim und Trier und in der UB Würzburg. Vgl. die Nachweise im GW und ISTC. 55 „Gebet von den Zwölfboten mit den zwölf Stücken des christlichen Glaubens“ (GW M27879; ISTC ig00112650). Als Druckort ist jeweils angegeben: „Erfurt: [In Monasterio Montis Sancti Petri, 14]95“. 56 Missale Benedictinum, Bamberg: Johann Sensenschmidt, 31.VIII.1481 (GW M24117). Das Erfurter Peterskloster sammelte innerhalb der „circaria Saxonum“ im Vorfeld die Gelder für den Druck ein und sorgte für die Verteilung an die Unionsklöster. 57 UB Erfurt, Dep. Erf. I 4° 121 : Jacobus de Voragine: Sermones de tempore, [Köln: Konrad Winters, nicht nach 1478] (GW M11634). Eintrag auf dem Vorsatzblatt: „Emptus pro i sexag[ensis] Land[sbergensis] non correctus non illuminatus nec ligatus“. Vgl. auch EIFLER, Bücher in den Händen von Klosterbibliothekaren (wie Anm. 16), S. 239–241 mit Abb. 13. 58 In einem Druck der „Vita Christi“ des Ludolf von Sachsen (RSB Moskau, Ink.1206.1– 1/2 = GW M19215) findet sich unter dem Kolophon von Band 2 der Eintrag: „Presens lib[er] cum precedenti rubricati sunt per f[ratum] Rutger[um] a[nn]o quo sup[ra]“ (= 1478). Im Druck der „Sermones aurei de sanctis“ des Leonardus de Utino von 1478 (UB Leipzig, Ed.vet.1478,22 = GW M17891) findet sich auf der letzten Seite unter dem Kolophon der handschriftliche Eintrag: „Rubricatus extitit per fratrem R. V. anno 2° quo supra“ (= 1479/80). 59 Zur Biographie vgl. FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 266, Nr. 116. Zur Tätigkeit Rutgers als Schreiber und Rubrikator vgl. EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. IV.2.2.

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3. Ausbau und „Profil“ der Bibliothek Durch die Schreibtätigkeit und durch Buchstiftungen war die Bibliothek bis in die 1470er Jahre in einem bis dahin unbekannten Maß angewachsen. Deshalb führten die Bibliothekare Nikolaus von Siegen und später Gallus Oswalt eine grundlegende Neuordnung der Bibliothek durch. Die Bände wurden mit Besitzeinträgen versehen. Während im 3. Viertel des 15. Jahrhunderts ein schlichterer Besitzvermerk (vom Typ „Liber sancti Petri in Erfordia“) gebräuchlich war, verwendete man ab ca. 1475 konsequent die ausführlichere Formel, die beide Klosterpatrone nannte: „Liber sanctorum [bzw. beatorum] apostolorum Petri et Pauli In Erffordia [bzw. Erffordie]“ (siehe Abb. 8).60

Abb. 8: Besitzeintrag und Inhaltsverzeichnis in der Sammelhandschrift D 18, um 1476 60 Zu den verwendeten Typen von Besitzeinträgen des 14. bis 18. Jahrhunderts vgl. ausführlich ebd., Kap. III.4.1.

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Die Bücher wurden außerdem mit Signaturen gekennzeichnet, indem Signaturschilder auf dem Einband befestigt oder entsprechende Einträge auf die Vorsatz- oder Titelblätter, neben bzw. unter den Besitzvermerken, geschrieben wurden. Der Zeitpunkt der Einführung des Signaturensystems lässt sich durch die Vorsatzblätter einer Gruppe von im Kloster geschriebenen und gebundenen Handschriften61 bestimmen, die 1476 in einem Arbeitsgang mit Besitz- und Bindevermerken sowie Signaturen (D 18, D 27 und D 48) versehen wurden. Da man 1476 bereits die Signatur D 48 vergab, dürfte mindestens ein, zwei Jahre zuvor mit der Neuordnung begonnen worden sein.62 Einerseits reagierte man damit direkt auf die Vorschriften der 1474 gedruckten Bursfelder „Consuetudines“ zu den Aufgaben des Bibliothekars (s. u.). Andererseits könnte die Neuordnung der Erfurter Bibliothek auch einen konkreten Anlass gehabt haben: Als 1474 eine Visitation im Peterskloster durchgeführt wurde, ermahnten die Visitatoren Abt Gunther, den Mönchen zum Zweck der Ausbildung Zugang zu entsprechenden Büchern der Bibliothek zu gewähren.63 Die Einführung des Signaturensystems im Peterskloster erfolgte sehr wahrscheinlich um 1474/75 und somit zeitgleich mit der Anlage des berühmten Bibliothekskatalogs in der Erfurter Kartause.64 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bibliothekare der befreundeten Abteien, also Jacobus Volradi in der Kartause und Nikolaus von Siegen im Peterskloster, sich gegenseitig berieten und beeinflussten. Anders als bei der Kartause hat sich aus dem Peterskloster kein mittelalterlicher Bibliothekskatalog (sondern lediglich einer von 1783)65 erhalten. Dass aber bereits im Mittelalter ein Bücherverzeichnis vorhanden gewesen sein dürfte, legen die erwähnten „Consuetudines“ (Kapitel II/8) nahe. Darin wird vorgeschrieben, dass der Bibliothekar alle Bände mit Titelschildern versehen und die Vollständigkeit wie den Zustand des Bestandes regelmäßig überprüfen sollte, um zu verhindern, dass Bücher verlorengingen oder durch Wurmfraß oder 61 Es handelt sich um die Bände: SBB-PK Berlin, Ms. lat. qu. 804 (D 18), Ms. lat. qu. 816 (D 27) und Ms. lat. qu. 663 (D 48). 62 Ausführliche Argumentation zur Einführung des Signaturensystems in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. III.4.2. 63 Vgl. Charta visitatoria, 1474: „Insuper pro fratrum erudicione ordinetur, ut fratres valeant habere accessum ad aliquod libros pro eorum studio et institucione“, vgl. FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 381, Z. 3 f. 64 Vgl. Almuth MÄRKER, Das Prohemium longum des Erfurter Kartäuserkatalogs aus der Zeit um 1475. Edition und Untersuchung (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, 35), 2 Bde., Bern u. a. 2008, hier Bd. 2, S. 341–360. 65 BA Erfurt, Hs. Erf. 22. Der Katalog von 1783 dokumentiert den Buchbestand vor der Auflösung im Jahr 1803 und erlaubt Rückschlüsse auf heute verlorene Bände. Abdruck der Abschnitte zu Handschriften und Inkunabeln sowie Frühdrucken in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Anhang II u. III.

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anderes beschädigt wurden.66 Der Abt sollte ein kurzes Verzeichnis aller Bücher besitzen, damit er vom Bibliothekar jederzeit Rechenschaft fordern konnte.67 Von einem Katalog ist nicht explizit die Rede. Die Bestimmungen legen aber das Vorhandensein von zwei Bestandsregistern nahe: eines ausführlicheren für den Bibliothekar (vielleicht also eines Katalogs) und eines kürzeren für den Abt. Obwohl ein mittelalterlicher Katalog fehlt, erlauben die erhaltenen Signaturen eine Rekonstruktion des um 1475 eingeführten Aufstellungssystems im Erfurter Peterskloster.68 Am Beginn standen unter A historische, kirchengeschichtliche und hagiographische Werke (mind. 46 Bde.). Mit B und C folgten Sermones-Sammlungen und Literatur zur Predigtvorbereitung (mind. 139 Bde.) sowie unter D asketische Werke zur Lektüre und Novizenerziehung (mind. 61 Bde.). Die kirchen- und zivilrechtliche Literatur nahm mit E, F und G drei Signaturengruppen ein (mind. 108 Bde.). Unter H (mind. 45 Bde.) waren Werke zu pastoraltheologischen Themen sowie Ausgaben und Kommentare der Sentenzen des Petrus Lombardus aufgestellt. Werke scholastischer und monastischer Autoren fanden sich unter M (mind. 45 Bde.), Bibelkommentare unter N (mind. 42 Bde.), Abschriften und Kommentare der Benediktregel sowie Texte zur Ordensreform unter O (mind. 29 Bde.). Eine untergeordnete Bedeutung besaßen hingegen Werke zum Studium der Sieben freien Künste (K: mind. 33 Bde.) sowie zur Medizin (I: 35 Bde.). Weil der Platz nicht ausreichte, wurden vor 1489/90 neue Pulte aufgestellt. Die inhaltliche Ordnung konnte nun wegen der Fülle von Neuerwerbungen nicht mehr so konsequent eingehalten werden. Die Gruppen P bis S (mind. 163 Bde.) umfassten Bände aus Themenbereichen, die schon in den früheren Gruppen enthalten waren, aber auf den ersten Pulten keinen Platz fanden. Die Signaturen T bis Z wurden erst Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts für Inkunabeln und Frühdrucke sowie umsignierte Bände vergeben. Rechnet man die jeweils höchste erhaltene Signatur jeder Gruppe (ein nur zufälliger Befund) zusammen, so ergibt sich eine Gesamtzahl von mindesten 807 Bänden. Dabei wird die tatsächliche Zahl sicher weit höher gewesen sein, da z. B. aus den Signaturengruppen T, Y und Z nur wenige

66 Caeremoniae Bursfeldensis (wie Anm. 12), S. 2577–10 (cap. II/8): „Armarius omnes monasterii libros ad diuinum officium non spectantes in custodia sua habeat, quos eciam propriis nominibus aut titulis singillatim annotatos habere debet ac sepius recensire, ne forsan distrahantur, sed et ne in eis aliquid vel tinea vel alia qualibet corruptela infectum sit vel exesum, diligenter considerare.“ 67 Ebd., S. 25710 f.: „Abbas quoque omnes libros, qui sub sua [= armarii] seruantur custudia, similiter breui annotatos habeat, ut de omnibus racionem exigere aut dare sciat, cum fuerit opus.“ 68 Ausführliche Übersicht der erhaltenen Signaturen in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Anhang I, Auswertung in Kap. III.4.2 u. III.4.3.

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Exemplare erhalten sind,69 diese aber mit hoher Wahrscheinlichkeit umfangreicher waren. Legt man für diese Pulte eine durchschnittliche Belegung von je 40 Bänden pro Pult zugrunde,70 ergibt sich eine Gesamtzahl von 914 Bänden.71 Nicht berücksichtigt sind dabei die Liturgica, die in der Kirche und im Kapitelsaal aufbewahrt und nicht mit Signaturen versehen wurden, des Weiteren unsignierte Bände im Privatbesitz einzelner Mönche. Rechnet man solche Bände hinzu, ist also davon auszugehen, dass der Umfang der Bibliothek des Erfurter Petersklosters um 1525 mindestens 1.000 Bände (Handschriften und Drucke) betrug. Die Bibliothek gehörte somit am Ende des Mittelalters neben den Sammlungen der Erfurter Kartause, der Zisterzienser in Altzelle (ca. 1.250 Bände) sowie der Leipziger Dominikaner (ca. 1.170 Bände) zu den umfangreichsten mitteldeutschen Klosterbibliotheken.72 Lässt sich aus dem rekonstruierten Signaturensystem etwas wie ein „Profil“ der Sammlung ableiten? Bei der Bibliothek des Peterklosters handelte es sich um eine repräsentative Klosterbibliothek. Anhand der Signaturen lässt sich der Umfang einzelner Disziplinen ermitteln. Zählt man die 12 Signaturengruppen zusammen, die dem Fachgebiet der Theologie zuzurechnen sind,73 ergibt sich eine Gesamtzahl von 511 Bänden. Theologische Literatur machte also rund 63 % der gesamten Bibliothek aus, mithin fast zwei Drittel. Ein zweiter Schwerpunkt lag – mit großem Abstand – bei kirchen- und zivilrechtlicher Literatur (108 Bände, ca. 13,5 %). Spezialliteratur zur Medizin (I), zum Studium der Artes (K) oder zur Rhetorik und Literatur (L), aber auch Bände volkssprachiger Literatur (S) nahmen eine marginale Stellung ein. Bemerkenswert ist, dass die erste Signaturengruppe (A) historischen, kirchengeschichtlichen und hagiographischen Werken vorbehalten war. Dies stand im Zusammenhang mit der Förderung historischer Studien durch Abt Gunther von Nordhausen, wie sein 1481 an das Generalkapitel gerichteter Traktat über den Wert historischer Aufzeichnungen deutlich macht.74 Der Abt stimmte darin eine „Laudatio auf die Historie“ an. Ohne Geschichte – also die Rückbesinnung auf die Vergangenheit und die Weitergabe der Erfahrungen der Gegenwart an

69 T und Y: nur bis 6; Z: nur 1. 70 Errechnet aus den Werten für die Pulte A-S sowie U und X. 71 Eine Gesamtzahl von 920 Bänden ergibt sich, wenn man 23 Pulte mit einer durchschnittlichen Belegung von 40 Bänden pro Pult zugrunde legt. 72 Zum Vergleich mit dem Umfang anderer Klosterbibliotheken im mitteldeutschen Raum siehe EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. III.4.3. 73 Dies sind die Gruppen A, B, C, D, H, M, N, O, P, Q [?], R und T. 74 Ediert in: FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 382– 387. Die inhaltliche Zusammenfassung in: ebd., S. 135–143.

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die Zukunft – ist der Mensch nicht Mensch, dies gelte auch für die Mönche.75 Die Zusammenfassung lautete: „Die Geschichte regiert, bestärkt, ziert, erfreut und erhält die ganze Welt.“76 Gunther forderte, in jedem Kloster einen „doctus historiarum magister“ zu bestimmen, der die Mönche über die Geschichte des Konvents informieren und Quellen zur Klostergeschichte sammeln sollte77 – diese Aufgabe übernahm im Peterskloster 1494/95 Nikolaus von Siegen. Alle Klöster sollten ihre Privilegien und Urkunden sammeln, damit man sie in Zeiten der Not und Verfolgung wie einen „Taschen-Homer“ mit sich tragen könne. Diese Anregung wurde vom älteren Bruder des Abtes, dem Cellerarius Hermann von Nordhausen († 1494) umgesetzt, der in den folgenden Jahren Zinsbücher und 1487 ein Kopialbuch des Klosters anlegte.78 Unmittelbar nach den historischen Werken folgte die umfangreiche Gruppe der Predigtsammlungen und homiletischen Werke (B und C, insges. 101 Bände, entspricht 12,5 %). Da die Benediktiner nicht als Seelsorgeorden anzusehen sind, ist nach Erklärungen dafür zu suchen. Nach dem Anschluss an die Bursfelder Kongregation nahmen Predigten eine wichtigere Stellung ein als zuvor. Mönche wurden als Prediger und Seelsorger in anderen Konventen, z. B. in Frauenklöstern, eingesetzt79 und mussten mit Literatur zur Vorbereitung versorgt werden. Predigtsammlungen wurden aber auch zur Lesung im Konvent (bei den Mahlzeiten oder den abendlichen „Collationes“) sowie zur persönlichen Lektüre benutzt. Bei den Drucken dieser Gruppe handelt es sich um Predigtausgaben von Autoren der Bettelorden, häufig italienischer und französischer Herkunft. Man beschaffte sich also bewusst neue Standardausgaben von für ihre Predigten berühmten Autoren, um sie für die eigene Tätigkeit innerhalb und außerhalb der Klostermauern zu nutzen. Ebenfalls umfangreich (mind. 61 Bände) war die Signaturengruppe D mit asketischen Texten zur Lektüre und Novizenerziehung, in der auch Anleitungen zur Meditation, insbesondere über die Passion Christi, enthalten waren. Inhaltlich deckungsgleich ist die später eingerichtete Gruppe P (mind. 63 Bände) mit Sermones-Sammlungen und Texten zu asketischen und pastoraltheologischen 75 Vgl. ebd. S. 385, Z. 34 f.: „Sine historia homo non est homo. Sine ea non sumus monachi, imo sine ea nemo potest salvari aeternum.“ 76 Ebd., S. 383, Z. 19: „Summa: historia universum mundum regit, firmat, ornat, delectat et sustentat.“ 77 Ebd., S. 383, Z. 24–27: „Merito igitur in singulis coenobiis doctus historiarum magister constituendus est, qui iuniores – at quid de iunioribus dico, immo etiam seniores; nam et hi plerique infantes sunt in hoc studio! – certis horis fideliter informet.“ Vgl. außerdem ebd., S. 141. 78 Vgl. ebd., S. 244 f., Nr. 40. 79 Zahlreiche Beispiele für Mönche, die in anderen Konventen eingesetzt wurden, in: ebd., S. 311–335 und im Katalog der Konventualen.

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Themen. Dass beide Gruppen einen solchen Umfang besaßen, ist als Reflex auf eine typische Bursfelder Spiritualität anzusehen, in deren Mittelpunkt eine auf das Praktische und die Bedürfnisse des alltäglichen Ordenslebens ausgerichtete Lektüre stand. Bemerkenswert ist weiterhin, dass eine eigene Signaturengruppe zur Benediktregel und mit Texten zur Ordensreform eingerichtet wurde (O, mind. 26 Bände). Eine mindestens 27 Bände umfassende Signaturengruppe (S) war für volksprachige Literatur vorgesehen, die aber im Vergleich zur lateinischen Überlieferung eine deutlich marginale Stellung besaß. Zwar finden sich in dieser Gruppe wichtige Textzeugen deutscher Texte, etwa Historienbibeln oder deutsche Predigtsammlungen.80 Dass diese Bände explizit für die Rezeption im Kloster angelegt und hier geschrieben wurden, lässt sich aber nicht beweisen. Eher handelt es sich Buchstiftungen laikaler Förderer und Familienangehöriger. Explizite Ansätze zu einem „Klosterhumanismus“, also eine verstärkte Beschäftigung mit klassischen oder humanistischen Texten, sind im Peterskloster nicht feststellbar. Zwar gibt es zahlreiche Klassikerhandschriften – etwa aus dem 12. Jahrhundert –, jedoch ist nicht zu erkennen, dass man diese im 15. oder frühen 16. Jahrhundert intensiv studiert oder Drucke der Klassiker angeschafft hat. Ähnliches gilt für Humanistica: Die wenigen humanistischen Texte sind hauptsächlich durch Buchstiftungen in die Bibliothek gelangt und zeugen keineswegs von einer bewussten Erwerbungsstrategie.

4. Ausblick: Das Kloster in der Reformationszeit 1501 wurde mit Johannes Bottenbach von Siegen,81 dem jüngeren Bruder des Chronisten, ein erfahrenes Konventsmitglied zum Abt gewählt. Die Abtei, in der 1502 41 Mönche lebten, befand sich in guter wirtschaftlicher Verfassung. Allerdings kam es bereits in den ersten Jahren der Regierung von Abt Johannes zu Auseinandersetzungen mit dem Konvent einerseits und dem Rat der Stadt andererseits. Im Vergleich zu seinem Vorgänger Gunther von Nordhausen war seine Stellung auch innerhalb der Kongregation deutlich geschwächt, vor allem da seit 1521 ein Streit um die Fleischabstinenz die Einheit des Klosterverbandes gefährdete.82 Die kirchenreformatorischen Umbrüche, die auf die Veröffentlichung von Luthers Ablassthesen im Jahr 1517 folgten, trafen das Erfurter Peterskloster 80 Erhalten sind aus dieser Gruppe eine Psalterübersetzung (S 4), Johannes Rothes „Weltchronik“ (S 15), ein Meißner Rechtsbuch (S 16), die Predigtsammlung „born des lebens“ (S 17) sowie die Predigtsammlung Dietrichs von Gotha (S 18). 81 Vgl. FRANK, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 271, Nr. 127. 82 Vgl. HAMMER, Reform und Reformation (wie Anm. 4), S. 78–80.

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„unmittelbar und mit großer Heftigkeit“.83 Elke-Ursel Hammer hat darauf hingewiesen, dass das Erfurter Kloster einerseits unter den Bursfelder Klöstern „in größter räumlicher Nähe zum Epizentrum Wittenberg“ lag und andererseits Erfurt als ehemalige Wirkungsstätte Luthers die erste Großstadt war, in der die Auseinandersetzungen um die neue Lehre mit Vehemenz ausgetragen wurden.84 Seit 1524 griff der Stadtrat unmittelbar in die inneren Verhältnisse der Abtei ein. Der Rat unterstützte eine Gruppe von Konventualen, die versuchte, reformatorische Veränderungen einzuführen, und forderte den Abt auf, den Mönchen die Heirat und das Tragen weltlicher Kleidung zu gestatten: Forderungen, die an die „Grundfesten des monastischen Selbstverständnisses“ rührten.85 Während der Bauernunruhen wurde die Abtei im April 1525 von aufständischen Bauern besetzt. Dass auf dem Höhepunkt dieser Ereignisse zu Ostern (16. April) 1525 Abt Johannes „in jeglicher Bedeutung dieses Wortes“ resignierte,86 verschärfte die Krise zusätzlich. Die Stadt griff massiv in die inneren Angelegenheiten des Konvents, etwa bezüglich der Wahl des neuen Abtes, ein und setzte Ratsherren als Vormunde ein.87 Zwischen 1524 und 1526 traten insgesamt elf Mönche aus der Gemeinschaft aus, um sich der lutherischen Lehre zuzuwenden.88 Während der Konvent auf diese Weise vor allem die jüngeren Mönche verlor, verblieben nur sechs bis neun Benediktiner im Kloster. Die Frage, wie intensiv sich die Mönche des Petersklosters seit den 1520er Jahren mit der Lehre Martin Luthers und seiner Gegner auseinandergesetzt haben, ist aufgrund der Überlieferungslage nur schwer zu beantworten. Ende 1521 gab es Kontakte einzelner Konventualen zu radikalen Vertretern der reformatorischen Lehre, etwa Thomas Müntzer, die aber offensichtlich nur Episode blieben.89 Nach Elke-Ursel Hammer war das Kloster in der beginnenden Neuzeit „eingebettet in die eher schlichte Frömmigkeit und große Zurückhaltung gegenüber intensiven theologischen Studien, die als Charakteristika der Bursfelder Interpretation benediktinischen Mönchtums […] gelten“. Daraus sei eine „geistliche Hilflosigkeit“ resultiert, die sich etwa im Ausbleiben jeglicher Beteiligung an den theologischen Auseinandersetzungen der Erfurter Geistlichkeit mit der neuen Lehre geäußert habe.90 Dass die Einschätzung allerdings auch durch den 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. ebd., S. 69. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. DIES., Bursfelder Reformzentrum (wie Anm. 4), S. 140. Vgl. DIES., Reform und Reformation (wie Anm. 4), S. 76 f. Ausführlich dazu ebd., S. 75 f. Zwei aus Stolberg stammende Benediktiner (Martin Gentzel und Veit Goldschmidt) wollten Ende 1521 eine Anstellung Thomas Müntzers (vielleicht als Lehrer der lateinischen Sprache) im Peterskloster betreiben. 90 Vgl. HAMMER, Reform und Reformation (wie Anm. 4), S. 69.

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Zufall der Überlieferung maßgeblich beeinflusst wird, soll abschließend zumindest angedeutet werden.

Abb. 9: Makulierter Luther-Druck von 1519

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Anhand der erhaltenen Buchbestände ist bislang nicht nachzuweisen, dass eine Rezeption der Schriften Luthers und seiner Anhänger stattfand. Dass auch hier mit dem Überlieferungszufall zu rechnen ist, zeigt ein Sammelband in Erfurt, der aus zwei Drucken, dem Sentenzenkommentar des Johannes Adelphus Muling von 1517 und dem „Formicarius“ des Johannes Nider von 1519, zusammengesetzt ist.91 Die Bindung erfolgte um 1520–25 in der Einbandwerkstatt des Petersklosters. Als Makulatur, nämlich als Spiegelbeklebung des vorderen Deckels, wurde ein Blatt aus einem Wittenberger Luther-Druck von 1519 („Eyn Sermon von dem Elichen Standt“) verwendet (siehe Abb. 9).92 In diesem Werk – auf der hier verborgenen, auf den Deckel geklebten Seite – führt Luther u. a. aus, dass die Geburt und Erziehung von Kindern verdienstvollere Werke als alle Wallfahrten sowie Kirchen- und Messstiftungen seien.93 Da die Bindung im Kloster erfolgte, dürfte auch die Makulierung des Luther-Drucks hier vorgenommen worden sein. Sie geschah wohl nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als der Erfurter Rat den Abt dazu zwingen wollte, den Mönchen die Heirat und das Tragen weltlicher Kleidung zu gestatten. Die Makulierung der Luther-Schrift könnte ein Indiz für Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der lutherischen Lehre innerhalb des Konvents bzw. deren strikte Beendigung sein. Sie zeigt gleichzeitig, dass das Fehlen von Luther-Schriften (etwa im Katalog von 1783) nicht voreilig als Zeichen mangelnden Interesses gedeutet werden darf, sondern auch Ergebnis einer konsequenten Säuberung der Bibliotheksbestände sein könnte. Auch ein sicheres Urteil über die Frage, in welchem Umfang im Peterskloster antireformatorische Schriften rezipiert wurden, ist beim jetzigen Kenntnisstand nicht zu treffen. Im Bibliothekskatalog von 1783 sind zahlreiche antilutherische Drucke verzeichnet, etwa vom Ingolstädter Professor Johannes Eck

91 UB Erfurt, Dep Erf. 6 - Tp 2304, mit: zwei Drucken von Johannes ADELPHUS (Sequentiarum luculẽta interpretatio […], Hagenau 1519 [VD16 S 5981]) und Johannes NIDER (Formicarius Joannis Nyder theologi profundissimi […], Straßburg 1517 [VD16 J 636]). 92 Auf dem vorderen Spiegel kopfständig ein vollständiges Blatt aus: Martin LUTHER, Eyn Sermon von dem Elichen Standt vorendert vnd corrigiret, Wittenberg: Rhau-Grunenberg 1519 [VD16 L 6317], Bl. Aiii, nach Vergleich mit dem Digitalisat des Exemplars der Stadtbibliothek Worms: http://www.dilibri.de/stbwodfg/content/pageview/437321 (letzter Zugriff: 30.10.16). 93 Auf der durch die Makulierung verborgenen Seite (LUTHER, Eyn Sermon [wie Anm. 92], Bl. Aiiiv) heißt es z. B.: „Es ist nichts / mit walfarten gen Rhom / gen Hierusalem / zu sanct Jacob. Es ist nichts [mit] kirchen bawen / messe stiften / adder waßer werck genendt werden mugen / gegen dysem eynigen werck / das die ehlichen yhre kinder zyhen / dan dasselb ist yhre gerichte straß gen hymell / muegen auch / den hymell / nit nehr und besser erlangen / dan mit dysem werck. […]“.

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(1486–1543)94 oder vom Pariser Kontroverstheologen Jodocus Clichtoveus (1472–1543).95 Auch Leipziger und Dresdner Drucke der Werke des Johannes Cochlaeus (1479–1552),96 der als theologischer Berater Kardinal Albrechts († 1545) und Hofkaplan Herzog Georgs († 1539) einer der entschiedensten Gegner Luthers war, sind im Katalog nachgewiesen.97 Die bislang aufgefundenen Exemplare aus Klosterbesitz tragen keine exemplarspezifischen Merkmale, die eine zeitgenössische Rezeption sicher bezeugen. So sind etwa drei Cochläus-Drucke von 152498 und 152999 mit Besitzeinträgen des Klosters aus 94

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Vgl. BA Erfurt, Hs. Erf. 22, Bibliothekskatalog von 1783 (wie Anm. 65), S. 44, Nr. 13: „Eckii Joan.: Prima et secunda pars operum contra Ludderum, Ingolstadt 1530“, wohl identisch mit VD16 E 389 (Augsburg: Weißenhorn 1530; Ingolstadt: Krapf 1530); S. 50, Nr. 62: „Eckii Joan.: Enchiridion locorum communium adversus Lutheranos, Landshut 1525“ (VD16 E 331). Zur Biographie Ecks vgl. Johann Peter WURM, Art. Eck (von, Eccius, Eckius, Maier, -or, -yer), Johannes, in: Franz Josef WORSTBROCK (HG.) Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1: A–K, Berlin 2008, Sp. 576–579. Vgl. BA Erfurt, Hs. Erf. 22, Bibliothekskatalog von 1783 (wie Anm. 65), S. 46, Nr. 34 (2. Druck): „Clicthovei, Jodoci: Antilutherus, Colon. 1525“ (evtl. VD16 C 4189); S. 50, Nr. 63: „Clicthovei, Jodoci: Propugnaculum Ecclesiae adversus Lutheranos, Colon. 1526“ (VD16 C 4206). Zur Biographie des J. Clichtoveus vgl. Ronny BAIER, Art. Clichtoveus, Jodocus (Josse) (ca. 1472–1543), in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 22: Ergänzungen IX, Nordhausen 2003, Sp. 208–213. Zur Biographie vgl. Gernot Michael MÜLLER/J. Klaus KIPF, Art. Cochlaeus, Johannes, in: WORSTBROCK (Hg.) Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 94), Bd. 1, Sp. 439–442. Vgl. BA Erfurt, Hs. Erf. 22, Bibliothekskatalog von 1783 (wie Anm. 65), S. 47, Nr. 42: „Cochlei Joan. Bericht von der heil. Messe und Priesterwey, Dresden 1534“; S. 48, Nr. 49: „Cochlei Joan. Dialogus de erroribus Lutheri. Wie verkehrt Luther den 7. Psalm wider Herrn Georg Herzog zu Sachsen verdeutscht, Dresden 1529“ (VD16 C 4427); S. 50, Nr. 62: „d) Cochlei Joan. Antwort auf Luthers neue Schmeschrift wieder den Cardin. und Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Leipzig 1535“ (VD16 C 4260), „e) De matrimonio Serenissimi Regis Angliae Heinrici VIII., Lipsia 1535“ (VD16 C 4343). UB Erfurt, Dep. Erf. 6 - Ts. 8° 03410c: Johannes COCHLAEUS, OB SANT PETER ZV Rom sey geweßen. Antwort Doctor Jo. Cochlei. Auff Martin Luth. Disputatiõ/ Ob Sant Peter zů Rom sey gewesen. Durch Doct. Johañ. Dietẽ. [v]tütscht, Straßburg: Grüninger 1524 (VD16 C 4255). Der Band trägt einen Besitzeintrag des 17. Jahrhunderts sowie einen modernen Einband des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts. ULB Münster, COLL. ERH. 637: Johannes COCHLAEUS, Septiceps Lutherus,vbi[que] sibi, suis scriptis, cõtrari[us], in Visitationẽ Saxonicã, [pro] D.D.Ioã. Coclęũ, editus, Leipzig: Schumann 1529 (VD16 C 4386, Digitalisat: http://sammlungen.ulb.unimuenster.de/hd/content/titleinfo/811744); COLL. ERH. 643 (nach Bibliothekskatalog von 1783 [wie Anm. 65], S. 48, Nr. 49): Johannes COCHLAEUS, Wie verkerlich widder den durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten und herrn, herrn Georgen, Hertzogen zu Sachssen etc. Martin Luther den sibenden Psalm verdewtzscht und gemißbraucht,

GEISTIGES LEBEN, BUCHKULTUR UND BIBLIOTHEKSAUSBAU

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der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bzw. aus dem 17. Jahrhundert versehen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass nach dem Tod des Bibliothekars Gallus Oswalt († 1520) und angesichts der schwierigen materiellen und personellen Verhältnisse, in denen sich der Konvent in den 1520er Jahren befand, Maßnahmen zur Bibliotheksverwaltung (wie die Kennzeichnung der Bände mit Besitzeinträgen) zweitrangig gewesen sein dürften. Fehlende Besitzeinträge müssen also nicht zwingend gegen eine zeitnahe Erwerbung sprechen. Dennoch ist bei den bislang aufgefundenen Exemplaren nicht sicher zu entscheiden, ob diese Drucke bereits unmittelbar nach dem Erscheinen angeschafft wurden und so von einer direkten Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre zeugen, oder ob sie erst später, etwa durch Übernahme von Beständen aufgelöster Klöster oder jüngere Ankäufe, in die Bibliothek der Erfurter Benediktiner gelangten. Dies zeigt auch eine 1524 in Erfurt gedruckte Streitschrift „Contra Lutheranos“ des Erfurter Augustinereremiten und Predigers am St. Marienstift Bartholomäus Arnoldi von Usingen († 1532),100 die gegen den einstigen Franziskaner und späteren evangelischen Prediger Aegidius Mechler († 1547) gerichtet ist.101 Der Band war nach Ausweis eines Schenkungseintrags (siehe Abb. 10)102 im Besitz des Heinrich Hartbach († 1531), der aus einem in der Reformationszeit aufgelösten Kloster (Homburg oder Oldensleben?) in das Peterskloster geflohen war.103 Ob Hartbach den Band bei seiner Flucht mit sich gebracht oder erst in Erfurt erhalten hat, kann bislang nicht entschieden werden.

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[Dresden]: [Stöckel] 1529 (VD16 C 4427; Digitalisat: http://sammlungen.ulb.unimuenster.de/hd/content/titleinfo/812138). Beide Drucke tragen moderne Einbände der 1980/90er Jahre. Zur Biographie vgl. Willigis ECKERMANN/J. Klaus KIPF, Art. Arnoldi (Textoris), Bartholomäus, von Usingen, in: WORSTBROCK (Hg.) Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 94), Bd. 1, Sp. 47–57. ULB Münster, COLL. ERH. 595: Libellus F. Bartholomei de Vsingen augustiniani Jn quo respondet confutationi fratris Egidij Mechlerij monachi fra[n]ciscani sed exiticij laruati et co[n]iugati: Nitentis tueri errores et p[er]fidiam Culsameri. qui illi clitellas suas archadicas imposuit […] Co[n]tra Lutheranos, Erfurt: Maler 1524 (VD16 A 3719; Digitalisat: http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/titleinfo/812870). Auf dem Titelblatt: „Pro venerando viro domino Henrico Harpach ordinis sancti Benedicti Bursfeldii unionis de conuentu [durchgestrichen: „S. Pe“, von anderer Hand ergänzt:] Monasterij S. Petri Erff[ordia]e.“ Vgl. hierzu den um 1630 von Johann Kircher verfassten Katalog über die Mönche des Petersklosters. BA Erfurt, Hs. Erf. 17, Bl. 10r: „Heinricus Hartbach, non videlicet monasterii huius professus, sed vel ex Homborg aut Oldesleben monasteriis deficientibus huc confugit, vix[it] sub D. Benedicto, 1531 ob[iit] die 6. Januar.“ Zu Heinrich Hartbach vgl. auch HAMMER, Reform und Reformation (wie Anm. 4), S. 82 f. mit Anm. 192.

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MATTHIAS EIFLER

Abb. 10: Streitschrift des Bartholomäus Arnoldi, Erfurt 1524, mit Schenkungseintrag für Heinrich Hartbach

Nachdem im Hammelburger Vertrag von 1530 die Grundlagen für ein Nebeneinanderbestehen beider Konfessionen geschaffen worden waren, konnte der Konvent des Petersklosters die tiefe Krise, in die er durch die reformatorischen Auseinandersetzungen und die Bauernunruhen geraten war, allmählich überwinden. Das Kloster wurde zu einem Zufluchtsort von Mönchen aus aufgelösten Benediktinerklöstern, die teilweise auch Bücher mitbrachten – nachweisbar

GEISTIGES LEBEN, BUCHKULTUR UND BIBLIOTHEKSAUSBAU

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ist dies für Reinhardsbrunn, Clus, Homburg und Merseburg.104 Die nach 1530 eingesetzten Äbte105 schufen die Grundlagen für eine dauerhafte Überwindung der Krise und das Weiterbestehen des Konvents. Dass die Mönche ab 1530 erneut Habit tragen und das sechs Jahre ausgesetzte Chorgebet wieder aufnehmen konnten, war ein „auch nach außen hin deutliches Zeichen des Bemühens um einen entschlossenen monastischen Neubeginn“.106 Es sollte jedoch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts dauern, bis das Kloster (nach der wiederholten Gefährdung seiner Existenz im Dreißigjährigen Krieg) erneut zu einem Zentrum der „Wissenschaftskultur“ mit einer über die Klostermauern hinausreichenden Ausstrahlung werden konnte.107 Es ist als überlieferungsgeschichtlicher Glücksfall für die historische und bibliotheksgeschichtliche Forschung anzusehen, dass – trotz mancher Verluste und der nach der Klosterauflösung im Jahr 1803 einsetzenden weiten Verstreuung der Buchbestände – umfangreiche Teile der mittelalterlichen Klosterbibliothek erhalten geblieben sind. Die Auswertung der Handschriften und Drucke bietet reiches Material für eine Erforschung des geistigen und spirituellen Lebens in einem der bedeutendsten thüringischen Klöster in vor- und frühreformatorischer Zeit.

104 Eine Handschrift und vier Inkunabeln aus Reinhardsbrunn sowie vielleicht auch eine Handschrift aus Homburg wurden durch den ehemaligen Prior von Homburg Wilhelm Listemann († 1552) in das Peterskloster gebracht. Mindestens eine Handschrift gelangte mit Andreas Lüderitz († 1598) aus Clus in das Peterskloster. Aus dem Merseburger Kloster St. Peter und Paul stammen eine Handschrift und sechs Inkunabeln, weiterhin eine Inkunabel aus der Clusa Beatae Mariae Virginis, die zum Merseburger Kloster gehörte. Ausführliche Nachweise in: EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 6), Kap. III.4.4. 105 Liborius Vogt (1530/31), Benedikt Hoffmann (1531–1540) und Johann Specht (1540– 58), vgl. HAMMER, Reform und Reformation (wie Anm. 4), S. 82–84. 106 Vgl. ebd., S. 82 f. 107 Vgl. Christof RÖMER, Von der Scholastik zur Aufklärung. Wissenschaftskultur im Benediktinerkloster St. Peter zu Erfurt 1661–1803, in: Erich DONNERT (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 7: Unbekannte Quellen, Aufsätze zu Entwicklung, Vorstufen, Grenzen und Fortwirken der Frühneuzeit in und um Europa, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 153–167.

JOACHIM OTT SPUREN VON BIBLIOTHEKEN AUFGELÖSTER THÜRINGER KLÖSTER

Spuren von Bibliotheken aufgelöster Thüringer Klöster in den Beständen der Thüringer Universitätsund Landesbibliothek Jena Die Frage, wie viele und welche Bücher Thüringer Klöster früher besaßen, ist ebenso wichtig wie schwer zu beantworten. Generell steht die Forschung zum Thema Kloster und Buchwesen vor oft kaum lösbaren Schwierigkeiten.1 Sieht man von dem vorauszusetzenden Grundbedarf an Liturgica ab, so waren Klosterbibliotheken – wie alle Bücherhorte – letztlich das Produkt von Zufällen, günstigen (etwa ein bibliophiler Prior oder schenkungsfreudiger Stifter) wie ungünstigen (Brand, Raub, Verwahrlosung). Wurden Klöster aufgelöst, ging dies zumeist mit der Vernichtung, bestenfalls Zerstreuung ihrer Bibliotheken und der auf diese bezogenen Quellen einher. Die mit Thüringen befasste Forschung hat sich sicherlich auch wegen dieser Problematik dem Gegenstand bislang nicht übergreifend zugewandt.2 Als Baustein hierzu sollen im Folgenden die in den

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Vgl. jetzt v. a. Jana BRETSCHNEIDER, Predigt, Professur und Provinzleitung – Funktion und Struktur des franziskanischen Bildungswesens im mittelalterlichen Thüringen, in: Volker HONEMANN (Hg.), Von den Anfängen bis zur Reformation (Geschichte der Sächsischen Franziskaner-Provinz von der Gründung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, 1), Paderborn 2015, S. 325–339, bes. S. 336–338; Volker HONEMANN, Bücher und Bibliotheken der Saxonia von ihren Anfängen bis zur Reformation, in: ebd., S. 521–601; ferner Eva SCHLOTHEUBER, Bildung und Bücher. Ein Beitrag zur Wissenschaftsidee der Franziskanerobservanten, in: Dieter BERG (Hg.), Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur Frühen Neuzeit, Werl 1998, S. 419–434; Sönke LORENZ (Hg.), Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward POTKOWSKI, Stuttgart 2002; Enno BÜNZ, Das Buch in den Händen von Geistlichen. Beobachtungen zum kirchlichen und klerikalen Buchbesitz im 12. bis 16. Jahrhundert, in: Enno BÜNZ/Thomas FUCHS/Stefan RHEIN (Hg.), Buch und Reformation. Beiträge zur Buch- und Bibliotheksgeschichte Mitteldeutschlands im 16. Jahrhundert (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in SachsenAnhalt, 16), Leipzig 2014, S. 39–68; Annelen OTTERMANN, Die Mainzer Karmelitenbibliothek. Spurensuche – Spurensicherung – Spurendeutung, Berlin 2016, S. 43–46 u. 173– 190. Zu einzelnen Thüringer Klöstern vorbildhaft: Kathrin PAASCH, Die Bibliothek der Augustiner-Eremiten in Erfurt, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 52 (1998), S. 93–134; Matthias EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters im

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JOACHIM OTT

Beständen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena bislang identifizierten Bücher aus dem Vorbesitz Thüringer Klöster3 sowie ergänzende Textquellen benannt und erörtert werden. Die betreffenden zwölf Klöster werden alphabetisch behandelt: das Franziskaner- und das Bergerkloster in Altenburg, das Dominikanerkloster Eisenach, die Klöster der AugustinerEremiten, Benediktiner und Kartäuser in Erfurt, jene der Dominikaner, Karmeliten und Zisterzienserinnen in Jena, das Prämonstratenserkloster Mildenfurth, das Benediktinerkloster Reinhardsbrunn sowie das Franziskanerkloster Weimar.

1. Altenburg – Franziskanerkloster und Bergerkloster Die in der ThULB Jena bislang identifizierten Handschriften und Drucke aus früherem Altenburger Klosterbesitz betreffen das wohl um 1230/35 gegründete Franziskanerkloster und das 1172 gegründete Augustinerchorherrenstift St. Marien, also das Bergerkloster.4 Das Kloster der Franziskaner wurde am 9. Februar 1529 von den Visitatoren dem Rat der Stadt übergeben und damit aufgelöst. Eine an diesem Tag geschriebene Bestandsaufnahme erwähnt Bücher, die man in den Zellen des Vizeguardians und des Lektors vorfand, sowie die Bibliothek des Klosters, deren Bestände als „doch gar nichts werdt vnd der stelle nicht wol wirdig“ bezeichnet werden; eigens genannt werden liturgische Bücher.5 Als 1543 das Bergerkloster aufgelöst wurde, ließ Georg Spalatin (1484–1545) dessen „beste“ Bücher in die Bibliothek des Franziskanerklosters verbringen; „geringe unnütze bücher, pergamenern und papyrn“ überließ er leider dem Buchbinder zur Verwertung.6 Ein „Vorczeichnuß der Bucher In der Liberey zu Aldemburg

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späten Mittelalter. Buchkultur und Literaturrezeption im Kontext der Bursfelder Klosterreform, Köln/Weimar/Wien 2017. Der Beitrag bezieht sich auf Klöster im Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen. Zum Franziskanerkloster vgl. Barbara LÖWE, Altenburg, in: Thomas. T. MÜLLER u. a. (Hg.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen, Paderborn 2008, S. 209–211; HONEMANN, Bücher und Bibliotheken der Saxonia (wie Anm. 1), S. 565; Zum Bergerkloster vgl. Markus ANHALT, Die Gründung des Augustinerchorherrenstiftes St. Marien zu Altenburg. Eine Quellenstudie, in: Altenburger Geschichts- und Hauskalender NF 18 (2009), S. 106–109. Vgl. auch Björn SCHMALZ, Georg Spalatin und sein Wirken in Altenburg (1525–1545), Beucha 2009, bes. S. 35, 46 f.; DERS., Spalatin und die Altenburger Klöster, in: Armin KOHNLE/Christina MECKELNBORG/Uwe SCHIRMER (Hg.), Georg Spalatin. Steuermann der Reformation, Halle/S. 2014, S. 90–101, bes. 94–96. Ferdinand DOELLE, Reformationsgeschichtliches aus Kursachsen. Vertreibung der Franziskaner aus Altenburg und Zwickau, Münster 1933, S. 21, 288–290 (Bestandsliste; Zitat: S. 290). Brief Spalatins an Johann Friedrich I., Altenburg 26. Mai 1543, Abschrift Paul Dietzes, in: Wittenberg, Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars, Sammlung Dietze 15,7,

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Im Closter dern Parfüßer“ wurde erstellt. Es führt die angesichts der Dezimierungen noch relativ stattliche Anzahl von 396 Büchern auf, ein Großteil davon Handschriften.7 Spätestens zu jener Zeit könnte die Bibliothek bereits in die Obhut der 1529/30 in das Kloster gezogenen Lateinschule gelangt sein.8 Diese wurde 1713 von Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg zum Gymnasium erhoben. Das Friedrichsgymnasium wechselte später mehrfach seinen Ort. Seine Bibliothek mit den Resten der Klosterbücher wurde im späten 19. Jahrhundert schrittweise aufgelöst. Zunächst wurden 1877/79 etwa 2.000 Bände, darunter 76 Inkunabeln, in die Altenburger Landesbibliothek gebracht. Dorthin gelangten 1938 auch die noch im Gymnasium verbliebenen restlichen Inkunabeln und Drucke des frühen 16. Jahrhunderts. Die Altenburger Landesbibliothek war 1686 von Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg als Hofbibliothek gegründet worden. Sie hieß ab 1834 „(Herzogliche) Landesbibliothek“ und wurde 1923 „Thüringische Landesbibliothek“. Im Zuge einer Bibliotheksreform der DDR fiel 1950 die verhängnisvolle Entscheidung, die Bibliothek aufzulösen. Rund 70.000 der zuletzt etwa 119.000 Altenburger Bände wurden daraufhin in die Universitätsbibliothek Jena geschafft und dort etwa zur Hälfte eingearbeitet. 15.000 weitere Bände, die zunächst in die Thüringische Landesbibliothek Weimar gelangt waren, wurden 1957 nach Jena abgegeben, darunter mit 135 Exemplaren fast alle Altenburger Inkunabeln. Das Bücherverzeichnis von 1543 als zentrale und ergiebigste Quelle für das Altenburger Klosterbibliothekswesen bietet eine gewisse Möglichkeit, herauszufinden, welche der dort aufgeführten Bände über die Altenburger Zwischen-

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Bl. 23r–26r (Zitate: Bl. 23v). Die Kastenrechnung der Stadt Altenburg von 1543/44 (Stadtarchiv Altenburg, XII.i.1, Nr. 4) führt Ausgaben für Schlösser, Pulte und Eisenstangen für die Bibliothek im Franziskanerkloster auf (freundlicher Hinweis von Andreas Dietmann). Vgl. Paul DIETZE, Die Reformation und das Schulwesen zu Altenburg, Altenburg 1922, S. 26 f. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Altenburg, Z 339, Bl. 311r–316v (datiert 1543). Vgl. außerdem HONEMANN, Bücher und Bibliotheken der Saxonia (wie Anm. 1), S. 565– 567, Abb. 15; ferner M. GEYER, Verzeichnis der bis zum Jahre 1517 einschliesslich gedruckten Werke der Gymnasialbibliothek, in: Vierundachtzigste Nachricht von dem Friedrichs-Gymnasium zu Altenburg über das Schuljahr Ostern 1890 bis Ostern 1891 (Programm 677), Altenburg 1891, S. 1–30, hier S. 1; DIETZE, Reformation und Schulwesen (wie Anm. 6), S. 26 f.; Jana BRETSCHNEIDER, Predigt, Professur und Provinzleitung – Funktion und Struktur des franziskanischen Bildungswesens im mittelalterlichen Thüringen, in: MÜLLER u. a. (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 4), S. 109–118, hier S. 118 sowie S. 319, Nr. 45 (Bernd SCHMIES). Zum Folgenden vgl. Joachim OTT/Hanno WIJSMAN (Mitarb.), Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Bd. 3: Die mittelalterlichen französischen Handschriften der Electoralis-Gruppe; mittelalterliche Handschriften weiterer Signaturreihen (Abschluss), Wiesbaden 2016, S. 24–26 u. 122–132.

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stationen bis nach Jena gelangt sind. Da es wie üblich nur Kurztitel und zudem mehrfach rein summarische Angaben enthält (z. B. Bl. 312v: „Sonst xxix bucher gecolligirte bucher von pergament und papir“), sind hier freilich Grenzen gesetzt. Ein Abgleich des Verzeichnisses mit dem in der ThULB Jena befindlichen Bestand Altenburger Herkunft steht noch aus.9 Bereits jetzt aber können den beiden Klöstern einige Bände zugeordnet werden.10 Zunächst sind zwei Handschriften zu nennen, die insofern ein Sonderfall sind, weil sie nicht erst nach 1950, sondern bereits 1549 als Teil der ehemaligen Wittenberger Kurfürstlichen Bibliothek (Bibliotheca Electoralis) nach Jena gekommen sind.11 Der erste Teil von Ms. El. f. 29 (Bl. 1–93), eine Abschrift der „Aurora“ von Petrus Riga aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts enthaltend, weist drei Besitzvermerke des Bergerklosters aus dem 13. und 15. Jahrhundert auf; ein solcher des frühen 16. Jahrhunderts findet sich in Ms. El. f. 52, einer um 1300 entstandenen Handschrift mit den Dekretalen Gregors IX.12 Wann diese Handschriften von Altenburg nach Wittenberg gelangt waren, ist unbekannt; das Altenburger Bücherverzeichnis von 1543 enthält keine ihnen zuzuordnenden Einträge. Zu diesem mit zwei Bänden mehr als schmalen Rest des Handschriftenbesitzes der Altenburger Klöster gesellen sich – teils mit Fragezeichen – drei Mischbände:13 Der in 2 I 90 9

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Die Altenburger Inkunabeln tragen die spezielle Signierung „2 I“ (Folio) und „4 I“ (Quart); die Altenburger Drucke nach 1500 sind in der umfangreichen Signaturengruppe „MS“ („Monographia Seria“) verstreut. Ein Teil von ihnen kann dank GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7) identifiziert werden. Lotte HELLINGA, Das Mainzer „Catholicon“ und Gutenbergs Nachlaß, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 40 (1993), S. 395–416, hier S. 409 f., benennt aus dem Vorbesitz des Bergerklosters mit Ms. El. f. 29, Ms. El. f. 52, 2 I 4 und 2 I 131 vier der nachfolgend erörterten Bände, außerdem das „Catholicon“ Mon. typ. fol. 1460,1 der Forschungsbibliothek Gotha. Zur 1547 aus Wittenberg nach Weimar abtransportierten, 1549 zum weitaus größten Teil in das Jenaer Dominikanerkloster überführten Bibliotheca Electoralis siehe die Internetpräsenz der ThULB Jena (http://projekte.thulb.uni-jena.de/index.php?id=221; letzter Zugriff: 30.04.2017). Vgl. außerdem Joachim OTT, Bücherschätze von Fürsten und Gelehrten. Das Kulturerbe in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Jena 2012, S. 12–45; Joachim BAUER, Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858, Jena 2012, S. 72, 96–112 u. 197–201; Thomas LANG, „bucher gud unde beße“ – Die Wittenberger Schlossbibliothek und der kursächsische Hof in der Regierungszeit Friedrichs des Weisen (1486–1525). Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung von Rechnungsquellen, in: BÜNZ/FUCHS/RHEIN (Hg.), Buch und Reformation (wie Anm. 1), S. 125–171. Bernhard TÖNNIES, Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Bd. 1: Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Electoralis-Gruppe, Wiesbaden 2002, S. 87 f. u. 149 f. Digitalisate: urn:nbn:de:urmel-6bc14be6-511b-4f3d8d9b-ef56cbfbc12c9; urn:nbn:de:urmel-98ba9734-a618-4bfb-a966-df1fc5b5163a4. Vgl. OTT, Die Handschriften (wie Anm. 8), S. 122–126 u. 128–132.

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eingebundene Straßburger „Vitas patrum“-Druck von 1483 enthält einen Schenkungsvermerk, demzufolge Nicolaus Oechsner, Pfarrer in Altenkirchen bei Altenburg, zumindest diese Inkunabel – wahrscheinlich aber den gesamten Band, dessen handschriftlicher Teil aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts Predigten und andere theologische Texte enthält – Mitte 1491 dem Franziskanerkloster Altenburg schenkte. Im Verzeichnis von 1543 ist der Titel „Vitas patrum“ aufgeführt (Bl. 311v). Den Vorbesitz dieses Klosters darf man auch für den Band 2 I 147 voraussetzen, der neben drei Inkunabeln eine im späten 15. Jahrhundert entstandene Abschrift des „Dialogus Salomonis et Marcolfi“ enthält. Der im Verzeichnis von 1543 nicht sicher identifizierbare Band zeigt Einbandmerkmale, die auch 2 I 90 und ein Buch des Altenburger Franziskaners Vitus Pempel (s. u.) aufweisen. Für 2 I 145, bestehend aus vier Inkunabeln und kurzen, um 1480/85 geschriebenen juristisch-theologischen Texten, kann die Herkunft aus einem der beiden Altenburger Klöster vermutet werden, zumal das Buch zu einem Eintrag im Verzeichnis von 1543 passen könnte. Auch mehrere reine Inkunabelbände stammen teils sicher, teils vermutlich aus den beiden Klöstern.14 Dem Bergerkloster sind ausweislich von Besitzvermerken des späten 15. Jahrhunderts drei Bücher zuzuordnen: Gleich fünf Vermerke finden sich in 2 I 13, Thomas von Aquins „Catena aurea“ (Basel 1476), drei davon bringen den Zusatz, dass der Band von Johannes Glauch, Prior des Klosters, gekauft worden sei.15 Dieselbe Hand schrieb den Besitzvermerk in 2 I 131, enthaltend Thomas von Aquins „Postilla in Hiob“ (Esslingen 1474). Außerdem findet sich ein Besitzvermerk des Bergerklosters in 2 I 4 mit Predigten Jordans von Quedlinburg (Straßburg 1483).16 Alle genannten drei Bände 14 Vgl. neben HELLINGA, Das Mainzer „Catholicon“ (wie Anm. 10) schon Christian Heinrich LORENZ, Geschichte des Gymnasii und der Schule in der uralten Fürstlich Sächsischen Residenzstadt Altenburg, Altenburg 1789, S. 338–340; Herman Anders KRÜGER, Altenburger Bibliothekswesen, Altenburg 1930, S. 5 f. (jeweils zu 2 I 2 und 2 I 131). 15 Thomas DE AQUINO, Catena aurea, [Basel: Michael Wenssler] 1476 (Gesamtkatalog der Wiegendrucke [im Folgenden: GW, http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/]: M46089; Incunabula Short Title Catalogue [im Folgenden: ISTC, http://www.bl.uk/ catalogues/istc/]: it00229000), Bl. [1]v u. [245]v: „liber monasterii beate virginis extra muros aldenburgk“; Bl. [2]r: „Liber Monasterii beate marie virginis extra muros aldenburgk emptus per dominum iohannem glauch priorem“; unwesentlich variiert auch Bl. [153]r und [305]r. LORENZ, Geschichte des Gymnasii (wie Anm. 14), S. 339 f., schreibt, Glauch habe das Buch 1479 dem Kloster geschenkt. KRÜGER, Altenburger Bibliothekswesen (wie Anm. 14), S. 5 verwechselt 2 I 13 mit 2 I 94, HELLINGA, Das Mainzer „Catholicon“ (wie Anm. 10), S. 410 mit 2 I 131. 16 2 I 131: Thomas DE AQUINO, Postilla in Hiob, [Esslingen]: Konrad Fyner 1474 (GW M46296; ISTC it00236000). Bl. [24]v: „liber monasterii beate virginis extra muros aldenburgk“; 2 I 4: Jordanus VON QUEDLINBURG, Sermones de tempore, Straßburg: [Drucker des Jordanus von Quedlinburg] 1483 (GW M15120; ISTC ij00477000); GEYER, Ver-

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können im Verzeichnis von 1543 identifiziert werden.17 Angesichts mit 2 I 131 übereinstimmender Einbandstempel könnte auch der Sammelband 2 I 94, in dem kein Besitzvermerk steht, dem Bergerkloster zuzuordnen sein.18 2 I 84 mit Werken von Augustinus, Johannes Chrysostomus und Albertus Magnus in Drucken der 1480er Jahre enthält ebenfalls keinen Besitzvermerk, dafür aber eine hochinteressante Notiz auf dem hinteren Spiegel, die eine Zuordnung des Bandes zum Bergerkloster ermöglicht: „anno domini m vc xxiiii in sexagesima feria iiii renuit confraternitatem nostram frater Johannes Lipcz. pastor ecclesie trebensis qui et sperabat racione sectarum martinianistarum hanc curam vi possidere“.19 Vermutlich stammt der Eintrag aus dem angegebenen Jahr 1524, was jedenfalls vom Schriftstil her passen würde. Die bisher nicht beachtete Notiz kann sich nur auf Johannes Voit, der von 1515 bis 1527 Pastor der dem Bergerkloster unterstehenden Pfarre Treben war, beziehen. Voit war, wie man aus anderen Quellen weiß, wegen seiner Hinwendung zum Luthertum – in der Notiz als „sectae martinianistae“ bezeichnet – für Benedikt Bischoff, den Propst des Bergerklosters, ein Ärgernis, worüber er sich 1525 bei Kurfürst Johann dem Beständigen beschwerte. Nachdem Voit Treben verlassen hatte, wurde er 1528 evangelischer Pfarrer in Ronneburg und später u. a. Propst in Zeitz. Zuletzt war er Pfarrer in Bürgel; er starb 1559 oder 1562.20 Die Notiz in 2 I 84, mutmaßlich niedergeschrieben von einem verärgerten Konventsmitglied, spiegelt jene Um-

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zeichnis (wie Anm. 7), S. 18, Nr. 154. Bl. [166]r: „Liber monasterii beate virginis extra muros aldenburg“. 2 I 13: „Super 4 Evangeliis thom: de aquino“ (Bl. 315r). 2 I 131: „Thom: aquas: super: Job“ (Bl. 315r). 2 I 4: „Opus postillarum“ (Bl. 312r). Fünf Inkunabeln, beginnend mit ARISTOTELES, Copulata novae logicae Aristotelis, [Köln: Heinrich Quentell] 1489 (GW 2402; ISTC ia01000000); GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 27, Nr. 257 u. ö.; dieser Band könnte im Verzeichnis von 1543 dem Eintrag „iii opera thom de aquino“ (Bl. 315r) zuzuordnen sein. Vier Inkunabeln, beginnend mit Aurelius AUGUSTINUS, De trinitate, [Basel]: Johann Amerbach 1489 (GW 2926; ISTC ia01343000); GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 7, Nr. 24 u. ö., mit fehlerhafter Transkription der Notiz und dem zielführenden Hinweis, dass Treben dem Bergerkloster unterstand. Das Verzeichnis von 1543 führt auf Bl. 315r „Augustus de trinitate“ auf, womit 2 I 84 gemeint sein könnte. Zur Person: Julius LÖBE, Nachträge und Berichtigungen zur Altenburger Kirchengallerie, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 7 (1874), S. 371–380, hier S. 376–378; Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 9: Biogramme Tr–Z, Leipzig 2009, S. 148; Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 6: Das Herzogtum Sachsen-Altenburg, Leipzig 2013, S. 506, Nr. 2156; Bischoffs Beschwerdebrief vom 27. April 1525 ist abgedruckt in: Walther Peter FUCHS (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd. 2, Jena 1942, S. 134 f., Nr. 1220. Ein Ioannes Voigt de Leyptzk wurde im Sommersemester 1503 an der Leipziger Universität immatrikuliert und graduierte dort 1512 zum Bakkalar, vgl. Georg ERLER, Die Matrikel der Universität Leipzig, 3 Bde., Leipzig 1895–1902, hier Bd. 1, S. 454 u. Bd. 3, S. 902.

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wälzungen der 1520er Jahre, welche letztlich auch zur Folge hatten, dass der Band seiner bibliothekarischen Heimat, dem Bergerkloster, entzogen wurde. Für das Franziskanerkloster können zwei Bände benannt werden: 2 I 102, ein Kölner Druck von 1481 des Quadragesimale von Conrad Gritsch, trägt einen Besitzvermerk des Vitus (Veit) Pempel, der zu den letzten verbliebenen Insassen des Altenburger Franziskanerklosters gehörte. Aus der oben erwähnten Bestandsaufnahme vom 9. Februar 1529 geht hervor, dass man Pempels Zelle bei der Klosterbegehung wegen Gestanks und Unordnung ausließ und dass man dem betagten Mönch (er starb noch 1529) eine Unterhaltszahlung zubilligte.21 Blindstempel von 2 I 102 finden sich auch auf dem Einband der Koberger-Bibel von 1479 im Exemplar 2 I 2. Auf dem vorderen Spiegel steht ein Vermerk, demzufolge der aus dem fränkischen Hilpertshausen stammende Johannes Kelner, Pfarrer in Rasephas (heute ein Stadtteil von Altenburg), den Band zusammen mit anderen Büchern 1495 dem Altenburger Franziskanerkloster schenkte.22 2 I 102 und 2 I 2 können mit Einträgen im Verzeichnis von 1543 in Verbindung gebracht werden.23

21 Conradus GRITSCH, Quadragesimale, [Köln]: Heinrich Quentell 1481 (GW 11547; ISTC ig00498000); GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 16, Nr. 131. Hinterer Spiegel: „Frater [auf Rasur: Vitus pempel] ordinis minorum conventus aldenburgensis filius“. Zur Person vgl. LORENZ, Geschichte des Gymnasii (wie Anm. 14), S. 12–14; DOELLE, Reformationsgeschichtliches aus Kursachsen (wie Anm. 5), S. 19–22 u. 289 f. 22 Biblia. Mit Beig. von Menardus monachus, Nürnberg: Anton Koberger 1479 (GW 4239; ISTC ib00564000); GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 9, Nr. 55. „Ego johans Kelner plebanus in Raßvas natus de franconia et de civitate hilperhausen do et lego liberum [!] istum cum aliis liberis ad laudem et honorem omnipotentis dei et virginis marie matris eius gloriosissime et sancti francisci nec non ad utilitatem tocius conventus et omnium confratrum meorum in monasterio minorum in aldenburck pro salute anime mee et parentum meorum felici recordacione anno domini 1495“. Transkription (mit falscher Lesart 1497) bei LORENZ, Geschichte des Gymnasii (wie Anm. 14), S. 338 f. und GEYER, Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 9. Der Band ist erwähnt bei KRÜGER, Altenburger Bibliothekswesen (wie Anm. 14), S. 5 f. Zu Johannes Kelner (Keller), dem „letzte[n] katholische[n] Pfarrer in Rasephas“, als Stifter vgl. Julius LÖBE, Rasephas (Beschluß), in: Kirchen-Galerie des Herzogthums Sachsen-Altenburg, 1. Abt.: Die Ephorien Altenburg und Ronneburg, Dresden 1848, S. 62 f.; DERS., Fortgesetzte Nachrichten über das Georgenstift, in: Mittheilungen der Geschichts- und Alterthumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes 2 (1845/48), S. 83–94, hier S. 88–91. 23 2 I 102: „Quadrigesimale Brysch“ (Bl. 314v); 2 I 2: „Biblia latina gedruckt“ (Bl. 315v).

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2. Eisenach – Dominikanerkloster Am Vorabend der Reformation verzeichnete Eisenach mit sieben Klöstern sowie weiteren kirchlichen Einrichtungen eine besonders reiche geistliche Tradition.24 Man muss hier also von größeren Bücherbeständen ausgehen. Eine Handschrift aus diesem Kontext ist in die ThULB Jena gelangt.25 Sie trägt die Signatur Ms. Bud. q. 12 und ist als Autograph der Chronica Thuringorum „Pistoriana“ (nach ihrem ersten Herausgeber Johannes Pistorius) wie u. a. eines Eisenacher Legendars eine namhafte Quelle der Thüringer Landesgeschichte.26 Die um 1400 von einem Mitglied des Dominikanerklosters Eisenach geschriebene Handschrift ist durch zahlreiche Hände gegangen, was man ihr deutlich ansieht: Sie weist Fehlstellen auf, auch Schmierereien der kleinen Söhne eines Entleihers des 15. Jahrhunderts. Ein Besitzvermerk (Bl. 57r) zeigt, dass sie sich (noch) 1520 im Eisenacher Dominikanerkloster befand. Dieses war um 1240 gegründet worden; 1525 wurde es geplündert, die Konventsmitglieder gingen ins Exil nach Leipzig.27 1625 wurde die Handschrift vom Substitut eines Pfarrers in Rothenstein bei Jena als „donum“ abgegeben, möglicherweise der Zeitpunkt ihres Übergangs an die Jenaer Bibliothek.28 24 Vgl. Franziska LUTHER, Die Klöster und Kirchen Eisenachs (1500–1530). Prologe zur Reformation und wie die Geistlichkeit vermeynen die Zinse aus etzlichenn armenn zu kelterenn, in: Joachim EMIG/Volker LEPPIN/Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 1), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 403–435. 25 Möglicherweise auch zwei, da vermutet wurde, die u. a. von der „Pistoriana“ abhängige Thüringer Chronik „Eccardiana“ (Ms. Prov. f. 39) könnte im Franziskanerkloster Eisenach entstanden sein, vgl. unten zum Weimarer Franziskanerkloster. 26 Vgl. Bettina KLEIN-ILBECK/Joachim OTT, unter Mitarbeit von Gerhardt POWITZ und Bernhard TÖNNIES, Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Bd. 2: Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Signaturreihen außerhalb der Electoralis-Gruppe, Wiesbaden 2009, S. 26 u. 124–128. Digitalisat: urn:nbn:de:urmelef19f588-cbbd-4bbf-80e2-f906cb4bbc8d0. 27 LUTHER, Klöster und Kirchen Eisenachs (wie Anm. 24), S. 414; Klaus-Bernward SPRINGER, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999, S. 258–271. 28 Vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 125. Mit der Signierung „Ms. Bud.“ wurde die Handschrift offenbar irrtümlich der 1763 an die Jenaer Bibliothek gelangten Büchersammlung Christian Gottlieb Buders (1693–1763) zugeordnet, denn Burcard Gotthelf Struve (1671–1738) hatte sie schon Jahrzehnte früher von der Jenaer Bibliothek zur Benutzung erhalten („usi sumus ex Bibliotheca nostra publica“), vgl. Rerum Germanicarum scriptores aliquot insignes, qui historiam et res gestas Germanorum medii potissimum aevi, inde a Carolo M. ad Carolum V usque per annales litteris consignarunt, Bd. 1, Regensburg 31726, S. 1326, Anm. c.

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3. Erfurt 3.1. Kloster der Augustiner-Eremiten Das 1266 gegründete Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten mit seiner herausragenden Bibliothek hatte seine Blütezeiten im Mittelalter – die Reformation bildete dann auch hier eine Zäsur – und im 17./18. Jahrhundert. 1814 wurden Teile der Bibliothek geplündert; 1822 wurde das Kloster aufgehoben. Über 2.300 Bände sind erhalten: rund 20 Handschriften, über 130 Inkunabeln, ansonsten Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts. Diese Bestände befinden sich heute in der Universitätsbibliothek Erfurt (als Dauerleihgabe der Stadt Erfurt) sowie zu einem kleinen Teil in der Berliner Staatsbibliothek; einzelne Bände gelangten an andere Orte.29 Eine Inkunabel der Erfurter Augustiner-Eremiten befindet sich in der ThULB Jena (4 Jur. XXI, 31). Wann und auf welche Weise sie dorthin gelangte, lässt sich nicht feststellen. Es handelt sich um Heinrich Kramers berühmten „Malleus Maleficarum“ („Hexenhammer“) in einem Nürnberger Druck Anton Kobergers von 1496. Auf dem zweiten Blatt steht ein um 1500 zu datierender Besitzvermerk des Erfurter Klosters („FF. Eremit: S. Augustini Erfordiæ“).30 Dort besaß man das Werk mindestens doppelt: Mit gleichlautendem Besitzvermerk findet sich der „Malleus Maleficarum“ in einem gegen 1490 entstandenen Speyerer Druck Peter Drachs in der Universitätsbibliothek Gießen.31

3.2. Benediktinerkloster Das Benediktinerkloster (Peterskloster) Erfurt,32 dessen Entstehung zeitlich ungeklärt ist und dessen urkundliche Überlieferung im 11. Jahrhundert einsetzt,

29 Vgl. PAASCH, Die Bibliothek der Augustiner-Eremiten in Erfurt (wie Anm. 2). 30 Henricus INSTITORIS/Jacobus SPRENGER, Malleus maleficarum, Nürnberg: Anton Koberger 1496 (GW M12473; ISTC ii00168000). Ich danke Kathrin Paasch (Gotha) und Thomas Bouillon (Erfurt) für den Hinweis, dass der Besitzvermerk noch der alten Bibliothek, die sich bis zur Reformation im Augustinerkloster befand, zuzuordnen ist. 31 UB Gießen, Ink. S St 1385 (2) (Henricus INSTITORIS/Jacobus SPRENGER, Malleus maleficarum, [Speyer: Peter Drach d.M. um 1489/94] [GW M12482; ISTC ii00164000]), vgl. Hermann SCHÜLING, Die Inkunabeln der Universitätsbibliothek Giessen, Gießen 1966, S. 112, Nr. 486. 32 Vgl. zum Folgenden Anja FRECKMANN/Christof RÖMER/Michael SCHOLZ, Erfurt, St. Peter, in: Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen (Ger-

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zeichnete sich im Hohen Mittelalter durch ein namhaftes Skriptorium und eine große Bibliothek aus. Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgte ein systematischer Bibliotheksaufbau. Während der Reformation kam es zur beinahe völligen Auflösung des Konvents, dabei blieben die Gebäude und die Bibliothek von Zerstörungen oder Plünderungen verschont. Ab 1530 erlangte das Peterskloster nach und nach neue Bedeutung, auch die Bücherbestände wuchsen. 1803 wurde das Kloster aufgelöst. Die weit über 2.000 heute noch erhaltenen Bücher der ehemaligen Klosterbibliothek liegen zum weitaus größten Teil in der Universitätsbibliothek Erfurt (als Dauerleihgabe der Stadt Erfurt), außerdem in der Berliner Staatsbibliothek und zahlreichen weiteren Sammlungen, darunter die Forschungsbibliothek Gotha und die Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar. Zumindest vier, möglicherweise bis zu sechs Handschriften aus dem Peterskloster besitzt die ThULB Jena. Sie sind auf unterschiedlichen Wegen in die Bibliothek gelangt. Als Teil der Wittenberger Kurfürstlichen Bibliothek (Bibliotheca Electoralis; vgl. oben zu Altenburg) kam bereits 1549 Ms. El. f. 46 nach Jena. Die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandene Handschrift, die eine Auslegung der Benediktsregel enthält, trägt Bl. 1r einen Besitzvermerk des Petersklosters.33 Dass Ms. Bud. f. 366, ein Missale-Sakramentar des frühen 13. Jahrhunderts, in diesem Kloster entstand, kann aufgrund liturgischer Textmerkmale vermutet werden.34 Der Signatur zufolge gehörte der Codex zu der rund 17.000 Bände umfassenden Bibliothek des Jenaer Juristen und Historikers Christian Gottlieb Buder (1693–1763), die 1763 an die Jenaer Bibliothek kam. Viele Handschriften des Petersklosters (wie auch solche der Erfurter Kartause, s. u.) hatte Friedrich Gottlob Julius von Bülow (1760–1831), Stiftsregierungsrat in Beyernaumburg bei Sangerhausen, besessen. Bei der Versteigerung seiner Bibliothek in Eisleben 183635 kaufte Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–1883), einer der drei Enkel des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe, drei Handschriften des Petersklosters (und eine der Erfurter Kartause, s. u.). Sie kamen als Teil seiner umfangreichen Bibliothek 1883 an die Jenaer Bibliothek. Alle drei tragen Besitzvermerke des Petersklosters. Es handelt sich um die 1456/57 in Erfurt geschriebene juristische Sammelhandschrift Ms. G. B. f. 17, die juristisch-theologische Sammelhandschrift Ms. G. B. f. 18, deren aus mania Benedictina, X/1), St. Ottilien 2012, S. 341–441, hier bes. S. 414–423 zur Bibliothek (Freckmann); EIFLER, Die Bibliothek des Erfurter Petersklosters (wie Anm. 2). 33 TÖNNIES, Die Handschriften (wie Anm. 12), S. 122–124. Digitalisat: urn:nbn:de:urmel973403ee-fabb-4d71-b360-017e6d94a9f80. 34 KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 111–114. 35 Vgl. Renate SCHIPKE, Neue Funde aus den ehemaligen Bibliotheken von St. Peter und der Kartause in Erfurt, in: Ulman WEIß (Hg.), Erfurt. Geschichte und Gegenwart (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 2), Weimar 1995, S. 341–345; FRECKMANN/RÖMER/SCHOLZ, Erfurt, St. Peter (wie Anm. 32), S. 421 f.

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unterschiedlichen Phasen des 15. Jahrhunderts stammende Faszikel teils in Erfurt entstanden sein könnten, und Ms. G. B. f. 18a, eine im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts möglicherweise in Erfurt geschriebene juristisch-theologische Sammelhandschrift, die auch bemerkenswerte ostmitteldeutsche Texte wie etwa Waffenbeschwörungen und eine Fechtlehre enthält.36 Eine weitere Erfurter Handschrift erwarb Goethe 1863 in Wien bei der Versteigerung der Bibliothek des Historikers und Archäologen Josef Feil (1811–1862): Ms. G. B. f. 13, ein Kalendarium Benedictinum aus dem frühen 14. Jahrhundert mit Nekrologeinträgen, die auf seine Entstehung im Peterskloster deuten.37

3.3. Kartause Die Bibliothek der 1372 gegründeten Erfurter Kartause hatte um 1520 den stattlichen Umfang von über 1.000 Bänden. Das Kloster war von den Umbrüchen der Reformationszeit massiv betroffen, existierte aber weiter und wurde wie auch das Peterskloster erst 1803 aufgelöst. In der Folge wurden die Bücher der Erfurter Kartäuser in alle Winde verstreut. Handschriften dieser Herkunft sind in über 60 Bibliotheken weltweit nachweisbar, in Deutschland vor allem in der Berliner Staatsbibliothek und der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.38 Bei der Versteigerung der Bülowschen Bibliothek 1836 (s. o.) kaufte Wolfgang Maximilian von Goethe neben den schon genannten Handschriften des Petersklosters auch eine der Kartause: Ms. G. B. o. 12 der ThULB Jena. Es handelt sich um eine Exempel- und Mirakelsammlung, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von einem Mönch der Kartause geschrieben wurde und

36 KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 171–184 (S. 40 über Goethe und seine Bibliothek). Digitalisate: urn:nbn:de:urmel-09de1320-c8ac-49f5-9f1703f112d2a46e9; urn:nbn:de:urmel-692e4916-dc9d-46d0-8338-256f213b0b488; urn:nbn: de:urmel-759ffd0d-cb1b-4886-9e7f-cce82d9885720. 37 Ebd., S. 165. Digitalisat: urn:nbn:de:urmel-23d7e823-be27-42e6-a581-ec11737f840d7. Die Handschrift gehörte früher offensichtlich dem Wiener Antiquitätensammler Franz Goldhann (1782–1856), vgl. hierzu Klaus GRAF, Altdeutsche Handschriften Josef Kastners und Franz Goldhanns, https://archivalia.hypotheses.org/7312 (letzter Zugriff: 30.04.2017). 38 Vgl. Joachim KURT, Die Geschichte der Kartause Erfurt Montis Sancti Salvatoris 1372– 1803, Teil 1, Salzburg 1989, S. 172–192; SCHIPKE, Neue Funde aus den ehemaligen Bibliotheken (wie Anm. 35), S. 342 f.; Matthias EIFLER, „Ich habe sehr neugierig gesucht und gelesen und fast alle Bücher der Bibliothek unseres Hauses durchgelesen“. Beobachtungen zur Lektüre- und Studienpraxis in der Erfurter Kartause am Beispiel der Sammelhandschrift des Bruders N., in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 73 (2012), S. 103–132.

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auf zahlreichen Seiten deren Besitzvermerk aufweist. In dem beeindruckenden Bibliothekskatalog der Kartause von 1475 ist sie verzeichnet.39

4. Jena In den Beständen der ThULB Jena Reste der Bibliotheken der drei ehemaligen Jenaer Klöster, also des Dominikaner-, des Karmeliten- und des Zisterzienserinnenklosters, zu vermuten, liegt auf der Hand. Es ist möglich, dass schon ab 1549, als mit der Ankunft des größten Teils der vormaligen Wittenberger Bibliotheca Electoralis im aufgelösten Jenaer Dominikanerkloster (vgl. oben zu Altenburg) die Geschichte der ThULB begann, ab und an aufgetauchte Jenaer Klosterbücher in die Bibliothek übernommen wurden. Gesichert ist dies jedoch erst für das Jahr 1759.40 Damals erhielt die Jenaer Bibliothek eine größere Anzahl von Büchern, die zuvor unter ungünstigen Bedingungen in einer als Mehlkammer genutzten ehemaligen Kapelle der Kirche St. Michael gelagert gewesen waren. Der ab 1756 als Bibliothekar amtierende Johann Gottfried Müller (1728– 1792) hatte den Bestand bereits 1749 gesichtet. Sein dabei angelegtes Inventar trägt den Titel „Verzeichnis derienigen Bücher u. Handschriften welche als der Ueberrest der ehemaligen ClosterBibliotheken zu Jena in der HauptKirche zu S. Mich. daselbst aufbehalten werden“. Aufgeführt sind, nach Folio- und Quartformat geordnet, 143 Nummern (stellenweise mehrbändige) Druckbände, vier nachgetragene Druckbände ohne Nummer sowie zehn Handschriften. Hauptsächlich handelt es sich um Foliobände. In einem kurzen „Vorbericht“ macht sich Müller Gedanken über die Herkunft dieser Bücher, von denen nach seiner Ansicht die wenigsten den Zisterzienserinnen, die meisten aber den Dominikanern und Karmeliten Jenas gehört hätten. Müller hebt den großen Anteil an Kettenbänden hervor, beklagt den schlechten Gesamtzustand, für den er neben „Fäulnis und Moder“ das Wüten in den Klöstern zur Zeit ihrer Auflösung verantwortlich macht, und plädiert für die Erhaltung des Bestands.41 Im September 1759 erzielte man darüber eine Einigung mit der Stadt Jena, der die Bücher gehörten. Sie wurden am 5. Oktober an die akademische Bibliothek übergeben.42 Dort blieb die so bezeichnete „Kirchenbibliothek“ als Einheit aufgestellt, bis 39 KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 238 f. Zum Katalog von 1475 siehe EIFLER, Beobachtungen zur Lektüre- und Studienpraxis (wie Anm. 38), S. 106 f. 40 Zum Folgenden vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 31–33. 41 ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AC II 17 (Vorbericht: Bl. 3r). 42 Vgl. die „Privat Protokolle über die akademische Bibliothek geführt von Hofrath Müller 1759=1762“, ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AB I, hier Bl. 10r–13r. Auf Bl. 11r wird der Lagerort als „sogenannte Mehlkammer“, eine ehemalige Kapelle „sub turri“, bezeichnet.

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ihre Bände 1817/24 im Zuge einer Reform auf neu geschaffene Signaturengruppen verteilt wurden.43 Müller begründet seine Auffassung, die Bücher in der Mehlkammer hätten den Jenaer Klöstern gehört, nicht. Ein wichtiges Indiz dürften ihm handschriftliche Einträge gewesen sein – drei das Dominikanerkloster betreffende zitiert er im Inventar (s. u.). Er könnte den kirchlichen Fundort ebenso ins Kalkül gezogen haben wie die Tatsache, dass alle Bände aus der Zeit vor der Auflösung der Jenaer Klöster stammen. Zudem ist das inhaltliche Profil einschlägig: Neben Bibeln und Kommentaren dazu sowie patristischen Werken finden sich kanonistische Grundlagentitel, Sentenzenkommentare, Moraltheologisches und etliche Predigtsammlungen. Mit Blick auf die Jenaer Dominikaner fällt auf, dass ihr großer Ordensvertreter Thomas von Aquin besonders stark vertreten ist. 1759, als man die Stadt von der Notwendigkeit zur Abgabe der Bücher überzeugen musste, war jedenfalls der ideelle Gedanke, dass damit Altbesitz des Dominikanerklosters dorthin – nämlich in die im Kloster untergebrachte akademische Bibliothek – zurückkehren könnte, ein Hauptargument.44 Mehrfach gab es Versuche, die von Müller gelisteten Bände im Bestand der Jenaer Bibliothek zu identifizieren. Davon zeugen Notizen aus dem 19. und 20. Jahrhundert in seinem Inventar. Streichungen und „fehlt“-Vermerke zeigen, dass der Umfang nach und nach etwas dezimiert worden war. In Publikationen spiegelte sich das Inventar bislang nur punktuell. In einem Tageszeitungsbeitrag von 1926 besprach der Jenaer Bibliotheksdirektor Karl (Carl) Georg Brandis elf Bände des Inventars, in denen er Vermerke gefunden hatte.45 Auch wurde das 43 Vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 39 f. Laut Generalbericht zur Bibliotheksreform von Georg Gottlieb Güldenapfel (1776–1826) wurde zunächst 1817 „die ganze Kirchenbibliothek in die vordere Abtheilung des ManuscriptenCabinets“ verbracht, vgl. Joachim BAUER/Gerhard MÜLLER/Thomas PESTER (Bearb.), Statuten und Reformkonzepte für die Universität Jena von 1816 bis 1829, Stuttgart 2016, S. 286. 44 ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AB I, Bl. 10r: „weil diese kl. BücherSammlung gröstentheils den hiesigen Dominicaner- Mönchen zugehöret und bis ins J. 1525 an eben diesem Orte, wo itzt bibl. nostra ist, gestanden hat.“; Bl. 12v: Entwürfe für zwei Schilder von 1759 zum Gedenken daran, dass man „bibliothecae veter. Pavllinae reliqvias in pristinvm locvm“ rückgeführt hatte. 45 Carl Georg BRANDIS, Aus dem ältesten Schul- und Bibliothekswesen Jenas, in: Jenaische Zeitung 30.11.1926, S. 6; 1.12.1926, S. 7 (zu 2 Op. theol. III, 36; 2 Op. theol. IV, 11–12, 61; 2 Ph. V, 10; 2 Phil. IV, 24; Ms. Klosterbibl. 1–2, 5; Ms. Prov. f. 35; Ms. Prov. q. 72); hiernach Rolf SCHULZE, Die gesellschaftliche Bedeutung der Jenaer Klöster besonders in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht vom Ende des 13. Jahrhunderts bis zur Reformation, Diss. phil., Jena 1951, S. 103–105. Vgl. auch Wilhelm SCHMITZ, Die Übergabe der ehem. Klosterbibliothek an die akadem. (Universitäts-) Bibliothek zu Jena im Jahre 1759, in: Jenaische Zeitung 1.3.1929, Beilage Thüringer Heimat- und Volkskunde, S. 7; Joachim

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Inventar herangezogen, als die dort aufgeführten zehn Handschriften zu katalogisieren waren; die Beschreibungen wurden 2009 publiziert.46 Eine grundlegende Gesamtauswertung des Inventars stand somit noch aus. Um dies für den vorliegenden Beitrag realisieren zu können, wurde zunächst ein Abgleich der von Müller aufgeführten Druckbände mit den Beständen der ThULB Jena vorgenommen. Die früher schon bezifferten Verluste bestätigten sich; darüber hinaus konnten einige weitere Nummern nicht respektive nicht sicher zugeordnet werden. In einem zweiten Schritt wurden alle identifizierbaren Bände auf Provenienzspuren untersucht. Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser Prüfung vorgestellt werden, verbunden mit Beobachtungen zum Buchwesen in den drei Jenaer Klöstern.

4.1. Dominikanerkloster Das älteste der drei Jenaer Klöster war das der Dominikaner. Gegründet 1286, wurde es in den Wirren des Bauernkrieges 1525 überfallen und teils geplündert. Der Prior floh mit einem Teil der Mönche nach Leipzig; wenige verblieben in Jena. Liturgische Geräte und Gewänder aus Klosterbesitz wurden auf Weisung Kurfürst Johann Friedrichs I. verkauft; der Erlös kam an die Stadt Jena. 1527/28 und 1535/36 nahm die Wittenberger Universität auf der Flucht vor der Pest vorübergehend Quartier in den Klosterräumen. 1548 wurde dort eine Hohe Schule eingerichtet, die 1557 zur Universität erhoben wurde. Wie schon erwähnt, war 1549 auch der größte Teil der Wittenberger Bibliotheca Electoralis im Kloster untergekommen. Bis 1858 blieb das als Collegium Jenense bezeichnete Klosterareal Standort der Jenaer Bibliothek.47 Die Dominikaner selbst hatten seit früher Zeit eine Bibliothek besessen. Bereits eine Urkunde von 1333 BAUER/Thomas PESTER/Helmut G. WALTHER (Red.), Aufbrüche – 450 Jahre Hohe Schule Jena. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 18. Oktober bis 8. November 1998 im Senatssaal der Friedrich-Schiller-Universität, hg. von der Friedrich-SchillerUniversität Jena, Gera/Jena 1998, S. 111. 46 Vgl. die Übersicht in: KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 32. 47 Vgl. Herbert KOCH, Die „Electoralis“, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 66 (1952), S. 343–358; Volker WAHL, Das Collegium Jenense – die Gründungsstätte der Universität Jena in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens, in: Bernd WILHELMI (Hg.), 750 Jahre Jena, Jena 1985, S. 635–666; BAUER/PESTER/WALTHER (Red.), Aufbrüche (wie Anm. 45), S. 108–111; SPRINGER, Die deutschen Dominikaner (wie Anm. 27), S. 272–291; Jörg VOIGT, Die Gründung des Dominikanerklosters in Jena, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 7–26; Joachim BAUER/Dagmar BLAHA/Helmut G. WALTHER, Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548–1558, Weimar/ Jena 2003; Helmut G. WALTHER (Hg.), Universitäres Leben im Collegium Jenense 1548 bis heute. Katalog zur Dauerausstellung, Jena 2008.

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besagt, dass ihnen Graf Günther XVI. von Schwarzburg drei Bände mit Thomas von Aquins Evangelienkommentar geschenkt habe, aus Mitleid über seit Langem bestehende Schäden respektive Mängel („defectus“) der Klosterbibliothek.48 In einer Urkunde von 1397 gelobt Albrecht von Buttelstedt aus Golmsdorf, einen von ihm der Jenaer Dominikanerkirche gestifteten Altar u. a. mit Büchern auszustatten; 1399 wurde die Stiftung bestätigt.49 Bücher waren nicht nur für die liturgische und geistliche Versorgung des Jenaer Klosters unentbehrlich, sondern auch für den dort angesiedelten Studienkonvent.50 Eine zentrale Quelle zum Jenaer Dominikanerkloster ist die Handschrift Ms. Prov. f. 17 der ThULB Jena, von der nicht bekannt ist, wann sie in die Bibliothek gelangte (in Müllers Verzeichnis ist sie nicht enthalten). Sie umfasst ein Anniversarium von 1509 mit Nachträgen sowie ein vermutlich kurz nach 1380 begonnenes Necrologium, das bis ins erste Viertel des 16. Jahrhunderts fortgeführt wurde. Dort finden sich auch Hinweise auf die Klosterbibliothek: Unter dem 9. Juli ist Johannes Seytwicz, Doctor decretorum, eingetragen, „ex parte cuius conventus recepit bonum thesaurum librorum“. In einem Register der „Sacerdotes“ am Schluss der Handschrift heißt es zu ihm: „Doctor Johannes Seytwitz de quo multos libros habemus.“51 Zu seinen Gaben gehörte offensichtlich eine 1475 in Venedig gedruckte, aus der Mehlkammer in St. Michael in die Jenaer Bibliothek gelangte Ausgabe von Augustinus’ „De civitate Dei“, da sich

48 Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten, hg. von Ernst DEVRIENT, 3 Bde., Jena 1888–1936, hier Bd. 1, S. 131 f., Nr. 155 f. Vgl. außerdem Bernhard WILLKOMM, Jenaer Klosterleben am Ende des XIV. Jahrhunderts, in: Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte. Festschrift für Otto DOBENECKER zum siebzigsten Geburtstage am 2. April 1929, Jena 1929, S. 139–162, hier S. 151. 49 Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 466 f., Nr. 511 u. S. 473–475, Nr. 522 sowie Bd. 3, S. 240: Eintrag Albrechts als Wohltäter im Necrologium des Klosters (s. u.; Ms. Prov. f. 17, Bl. 27vb–c). Zur Person: Jörg VOIGT, Die Inkluse Elisabeth von Beutnitz (1402–1445). Zum Inclusenwesen in Thüringen, in: Enno BÜNZ/Stefan TEBRUCK/ Helmut G. WALTHER (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2007, S. 347–395, hier S. 365 f., 369, 371, 375 u. 386 f. 50 Vgl. Fritz BÜNGER, Studienordnungen der Dominikanerprovinz Saxonia (ca. 1363–1376); Aktenfragment eines Provinzialkapitels der Dominikanerprovinz Saxonia (zwischen 1418 und 1430), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 35 (1914), S. 40–63 u. 502–528, hier S. 50, 52, 510 u. 518. 51 Ms. Prov. f. 17, Bl. 24rb u. 36vb. Ediert in: Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 221–270, hier S. 222 u. 236. Vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 266–269. 1413 ist an der Universität Leipzig ein Iohannes Sitewicz (Natio Misnensium) immatrikuliert, vgl. ERLER, Die Matrikel der Universität Leipzig (wie Anm. 20), Bd. 1, S. 43.

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darin ein Vermerk mit der Nennung eines Doktors Johannes Cittwicz findet.52 In Ms. Prov. f. 17 ist unter dem 3. August Johannes Herwici genannt, „qui in ligandis libris multum fideliter conventui servivit“. Dies ist die früheste Erwähnung eines Jenaer Buchbinders.53 Weitere Aufschlüsse über die Bücher der Jenaer Dominikaner bringen Dokumente aus der Zeit nach der Auflösung des Klosters. Ein 1529 vom Rat der Stadt Jena erstellter Bericht über das Eigentum und Einkommen des Dominikanerklosters enthält die folgende Passage: „Item vil bucher fast ein wagen vol, clein und gros, ligen in der capellen ufm rathhauße, dorundter seindt 9 grosse pergament sangkbucher.“ Weiter heißt es: „Item der probste hat drei karren vol bucher von den beuthmeistern gekauft und inen ein pferde dofur gegeben.“54 Die Bibliothek war folglich von nicht geringem Umfang gewesen; von den erwähnten neun Chorbüchern fehlt jede Spur. Offenbleiben muss, ob die Jenaer Dominikaner bei ihrer Flucht Bücher mitgenommen hatten, sich im Rathaus also lediglich das Zurückgelassene befand.55 Zur vorherigen Unterbringung der Bibliothek im Kloster selbst gibt es einen Hinweis aus dem Jahr 1548: Als damals bei der Suche nach einer geeigneten Räumlichkeit für die in Weimar zwischengelagerte Bibliotheca Electoralis das Jenaer Dominikanerkloster in den Blick geraten war, zog man das dortige „gemach, das die Monchenn vorzeitten zu einer Liberej gebraucht“, in Erwägung. Da dieses allerdings kein Gewölbe und daher einen schlechten Brandschutz aufwies, erschien es als Aufstellungsort für die Bibliotheca Electoralis als ungenügend.56 Man erfährt jedenfalls hier, dass es im Kloster einen separaten Bibliotheksraum gegeben hatte.

52 2 Op. theol. III, 47: Aurelius AUGUSTINUS, De civitate Dei, Venedig: Nicolas Jenson 1475 (GW 2879; ISTC ia01235000); MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 100. Vorderspiegel: „Orate pro Egregio doctore, domino Johanne Cittwicz totaque eius progenie, huius libri collatore“. 53 Ms. Prov. f. 17, Bl. 26rd; Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 238. Vgl. Hellmuth HELWIG, Das Jenaer Buchbinderhandwerk von ca. 1500–1933, Teil 1: Von den ersten Anfängen bis zur Innungsgründung im Jahre 1609, in: Das deutsche Buchbinderhandwerk 4 (1940), S. 5 f. 54 Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 287 f., Nr. 22 (Zitate S. 288). Die „sangkbucher“ erwähnt Otto LÖW, Jena, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Zweite Ausgabe, Sachteil, Bd. 4, Kassel u. a. 1996, Sp. 1446–1451, hier Sp. 1447. 55 In der Universitätsbibliothek Leipzig sind Bücher der Jenaer Dominikaner nicht nachweisbar (freundlicher Hinweis von Thomas Döring); wie erwähnt, waren mehrere von ihnen nach Leipzig geflohen. 56 Brief Johann Friedrich des Mittleren und Johann Wilhelms an Johann Friedrich I. vom 12. März 1548, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv (im Folgenden: LATh-HStA Weimar, EGA), Reg. L, pag. 153–165 B 4,

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Neben Ms. Prov. f. 17 ist lediglich für eine weitere Handschrift der ThULB Jena die Herkunft aus dem Dominikanerkloster Jena gesichert: Ms. Prov. q. 86, Rest einer um 1500 kompilierten Sammlung von Predigten und Entwürfen dazu. Laut einem verlorenen Vermerk, den Müller noch sah und zum Glück in seinem Inventar zitierte, war Johannes Weltz de Kunstadt (Burgkunstadt), Mitglied des Jenaer Dominikanerkonvents, der Schreiber. Warum die Handschrift nicht schon 1759, sondern – gegenüber Müllers Umfangsangabe stark dezimiert (74 statt 407 Blätter) – erst 1898 an die Jenaer Bibliothek kam, ist nicht zu ergründen. Wiederholt enthält sie persönliche Notizen von Weltz, darunter Hinweise auf von ihm benutzte Bücher des Jenaer Dominikanerklosters.57 Die neben Ms. Prov. q. 86 übrigen eindeutigen Zuweisungen von Titeln auf Müllers Liste an das Dominikanerkloster betreffen gedruckte Bücher; eine von Johannes Seytwicz (Cittwicz) gestiftete Inkunabel wurde oben bereits genannt. Nur ein einziger Druckband weist einen Besitzvermerk des Klosters im eigentlichen Sinne auf. Es handelt sich um den zweiten Band einer Kölner Gerson-Ausgabe von 1483/84. Das vordere Vorsatzblatt trägt folgende Aufschrift des späten 15. Jahrhunderts: „Liber iste pertinet fratribus Ihen ordinis predicatorum“.58 Ein anders gelagerter Fall ist ein weiterer, ebenfalls schon von Müller registrierter Vermerk. Er betrifft ein Exemplar mit Teilen einer 1496 in Nürnberg gedruckten Ausgabe der „Summa theologiae“ Thomas von Aquins: „Ad Conventum Ihenensem Ordinis Predicatorum / Pertinet presens liber Fratri Antonio de Frickenhausen ad incertum usum concessus“.59 Antonius (Hoffmann) de Frickenhausen, dem dieser im Besitz des Klosters befindliche Band leihweise überlassen war, studierte 1513/14 im Jenaer, teils auch im Magdeburger und Kölner Dominikanerkonvent, war dann Lektor in Leipzig sowie Halle und ist 1531/32

Bl. 3–5. Vgl. außerdem KOCH, Die „Electoralis“ (wie Anm. 47), S. 346 f.; BAUER/ PESTER/WALTHER (Red.), Aufbrüche (wie Anm. 45), S. 56, Nr. 15. 57 Vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 299–302, hier bes. S. 300; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 1 der Quarthandschriften. Für den Mischband 2 Ph. V, 10 (MÜLLER, Nr. 123 der Drucke; Nr. 7 der Foliohandschriften) wurde eine Zuordnung zum Jenaer Dominikanerkloster diskutiert, vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 382–385, hier bes. S. 383. Die Handschrift Ms. Prov. o. 255 (MÜLLER, Nr. 4 der Foliohandschriften) enthält auf die Dominikaner bezogene Texte, vgl. ebd., S. 326–331. 58 2 Op. theol. IV, 81b: Johannes GERSON, Opera, Köln: Johann Koelhoff d. Ä. 1483/84 (GW 10713; ISTC ig00185000); MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 81. Vorsatzblatt mit dem Besitzvermerk 1898 separiert, Signatur Ms. Fragm. Lat. 17. 59 2 Op. theol. IV, 12 (Vorderspiegel): Thomas DE AQUINO, Summa theologiae, Nürnberg: Anton Koberger 1496 (GW M46440; ISTC it00196000); MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 29.

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als Prediger in Mühlhausen bezeugt.60 Mit ihm verbindet sich auch ein Sammelband: Ein Vermerk darin, von derselben Hand wie der gerade zitierte, besagt, dass das Buch seinem verstorbenen leiblichen Bruder Johannes, dann einem Nicolaus Schaur und schließlich Antonius gehört hatte; das Jenaer Kloster wird hier nicht genannt.61 Gelegentlich ist der Vorbesitz des Jenaer Dominikanerklosters in Schenkungsvermerken dokumentiert. Besonders auffällig ist eine monumentale vierbändige glossierte Bibelausgabe, gegen 1480 wohl in Straßburg gedruckt. Im dritten Band findet sich eine längere Notiz, die schon Müller zitiert. Sie besagt, dass der aus Jena gebürtige Doktor der Rechte Conradus Stein, Ordinarius und Kanoniker in Erfurt, die Bände „hunc in locum“ gestiftet habe.62 Gemeint ist das Dominikanerkloster, was sich daraus ergibt, dass Stein († 1499), der lange Jahre Rektor der Universität Erfurt war und in Jena mehrere Vikarien besaß, im bereits genannten Anniversarium und Necrologium der Jenaer Dominikaner aufgeführt ist. Dort liest man, dass er dem Dominikanerkloster auch eine Ausgabe des „Repertorium iuris utriusque“ von Giovanni Bertachini schenkte; sie

60 Zur Person vgl. Gabriel M. LÖHR, Die Kapitel der Provinz Saxonia im Zeitalter der Kirchenspaltung 1513–1540, Vechta 1930, S. 47*, 12, 75, 80, 118, 165, 175, 184, 195 u. 205. Eine Anweisung von 1519 zum Umgang mit Büchern „ad incertum usum“ ebd., S. 110. 61 4 Op. theol. IV, 19: Hermannus DE SCHILDESCHE, Speculum sacerdotum, Nürnberg: Fratres Ordinis Eremitarum S. Augustini 1480 (GW 12298; ISTC is00316500); Johannes GEUSS, De vitiis linguae/Albertanus Causidicus BRIXIENSIS, De arte loquendi et tacendi, Nürnberg: Fratres Ordinis Eremitarum S. Augustini 1479 (GW 10904; ISTC ig00300000); Werner ROLEVINCK, De fraterna correctione, [Köln: Arnold ter Hoernen um 1477] (GW M38824; ISTC ir00252000); MÜLLER, Verzeichnis [wie Anm. 41], Nr. 136. Vorderspiegel: „Presens liber fuit Johannis Hoffman de Frickenhausen / Post mortem vero eius venit ad manus venerabilis domini Nicolai Schaurs. Qui et posthac contulit fratri Antonio Hoffman de Frickenhausen uterino fratri predicti Johannis etc. 151 10 15 [?]“. Ferner im dritten enthaltenen Druck (s. o.), auf Bl. a3v, ein Eintrag mit den Initialen AF, also sicher von Antonius de Frickenhausen. Ein 1513/19 in den Dominikanerkonventen Mühlhausen und Berlin studierender Johannes de Frickenhausen, zuletzt Vikar in Meißen, wird 1530 als verstorben benannt, vgl. LÖHR, Die Kapitel der Provinz Saxonia (wie Anm. 60), S. 14, 57, 77, 118 u. 208. 62 2 Theol. XXII, 1a–d (GW 4282; ISTC ib00607000); MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 1–4. Bd. 3, Vorsatzblatt: „Prestabilis et Egregius dominus Conradus Stein Oriundus ex Ihenis; utriusque Iuris doctor: Ordinarius Iuris Canonici in Erffordia ac Ecclesiarum gloriose virginis marie sanctique Severi istic Canonicus. Hoc volumen cum reliquis tribus voluminibus Vetus et Novum Testamentum Glosam quoque ordinariam pariter et Interlinialem complectentibus hunc in locum legavit ac reponi ordinavit In Usum studii Ad laudem dei omnipotentis Qui eundem in Sinum Abrahe collocare dignetur.“ Zur Person vgl. Klaus HALLOF, Die Inschriften der Stadt Jena bis 1650, Wiesbaden 1992, S. 30 f.

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gilt als verloren.63 Einen Teilband eines Sentenzenkommentars schenkte 1525 ein Michael (nur der Vorname wird genannt), Pfarrer in Niedersynderstedt nahe Jena; das Klostermitglied Henricus de Gestingshausen nahm das Buch in Empfang.64

4.2. Karmelitenkloster Das Karmelitenkloster St. Maria und Heiligkreuz in Jena wurde 1414 gegründet. Offenbar beherbergte es auch eine Schule. Einen Großteil der Wertsachen des Klosters nahm 1524 der Stadtrat an sich. Am 3. Mai 1525 wurde das Kloster von Bauern und Landbewohnern geplündert. In der Folge wurde es der Verwaltung des Gemeinen Kastens unterstellt; wann genau die Aufhebung erfolgte, ist nicht überliefert.65 Ab 1554 erlangten die Klosterräume neue Bedeutung als Ort der Druckerei Christian Rödingers und seiner Nachfolger, aus der vor allem die 1555/58 in der Erst- und später in Nachauflagen erschienene Jenaer Luther63 Ms. Prov. f. 17, Bl. 16v (Necrologium, 14. März, Nachtrag): „Anniversarium Conradis Steyn Gerdrud uxor viventes“; Bl. 10ra (Anniversarium, Nachträge, 15. März): „Conradt Steyn, Gerdruth uxoris“; (29. Juni): „Hans Steyn von der Gynne. patris doctoris Steyn. pro parte cuius conventus habet in libraria tres partes Repertorii Bardochini“. Vgl. außerdem Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 227 u. 268; HALLOF, Die Inschriften der Stadt Jena (wie Anm. 62), S. 31, Anm. 4. Bertachinis Repertorium ist in Müllers Inventar nicht aufgeführt; die in der ThULB Jena vorhandenen Exemplare des Werks weisen andere Provenienzen auf. 64 2 Op. theol. IV, 44: Petrus LOMBARDUS, Sententiarum libri IV. Mit Komm. des Bonaventura, hg. von Johannes BECKENHAUB […], [Nürnberg:] Anton Koberger [1491] (GW M32527; ISTC ip00486000); MÜLLER, Verzeichnis [wie Anm. 41], Nr. 53. Bl. 1r: „Hunc librum habet Conventus Jhenensis predicatorum fratrum ab honorabili domino Michaele [folgt Leerstelle, keine Rasur] plebano In Sindersteth ex parte anime domini Georgii Truis Kemnatensis [Kemnath/Oberpfalz] sacerdote / consanguinem quondam antedicti domini Qui Erffordie defunctus pie cuiusque corpusculum sepulture traditum fuit In conventum fratrum predicatorum eadem / Cuius anima in pace sancta requiescat. Receptus ad conventum per fratrem Henricum de Gestingshausen [Gestungshausen bei Coburg] Ihenensis conventus Conventualem sacerdotem. Anno 1525. Die secundo Pasche que erat 17a arpprilis [sic!]“. Zu Henricus (Herdan) de Gestingshausen vgl. Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 192 u. 203; Jean Michel MASSING, From Manuscript to Engravings. Late Medieval Mnemonic Bibles, in: Jörg Jochen BERNS/ Wolfgang NEUBER (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750, Tübingen 1993, S. 101–115, hier S. 114. 65 Matthias RUPP, Das Karmelitenkloster Zum Heiligen Kreuz in der Jenaer Vorstadt Zweifelbach, Jena 2002; Dagmar BLAHA, Jena, in: Edeltraud KLUETING u. a. (Hg.), Monasticon Carmelitanum. Die Klöster des Karmelitenordens (O. Carm.) in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Münster 2012, S. 370–376.

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ausgabe hervorging.66 In einem Bericht des Stadtrats von 1529 über die Güter des Karmelitenklosters werden Bücher nicht erwähnt, könnten sich aber unter denjenigen Dingen, die „uber das alles vorhanden“ und „ufs raths capellen“ unter Verschluss gehalten wurden, befunden haben.67 Es liegen jedenfalls eindeutige Hinweise vor, dass die Jenaer Karmeliten Bücher besaßen. Bei Ausgrabungen auf dem Gelände des nur noch in geringen Resten erhaltenen Klosters fanden sich punzierte Buchschließen des späteren 15. Jahrhunderts.68 Der Jenaer Stadtchronist Adrian Beier (1600–1678) erzählt, er habe 1637 einen „Bonaventura“ geschenkt bekommen. Dieser Band sei „übrig gewesen“ von „etzlichen Büchern“ des Karmelitenklosters, die sich im St.-Nicolai-Spital befunden hatten.69 Während offenbleiben muss, wo dieser Bonaventura geblieben ist (jedenfalls nicht in der ThULB Jena), darf heute ein anderer Band als einzig nachweislicher Überrest der Bibliothek der Jenaer Karmeliten gelten: die 1445 fertiggestellte Handschrift Ms. Klosterbibl. 2, eine Abschrift der „Secunda secundae“ von Thomas von Aquins „Summa theologiae“. Der in Müllers Inventar aufgeführte Band enthält einen Vermerk, demzufolge ihn Johannes Nauman, Vikar des Altars der heiligen Maria Magdalena in der Jenaer Michaelskirche, dem Karmelitenkloster am 30. März 1509 geschenkt habe. Johannes Naumann (Neumann) ist von 1487 bis zu seinem Tod 1511 als Vikar urkundlich bezeugt.70 Derselbe Besitzvermerk wie in der Handschrift („Johannes Nawman[n]“) findet sich auch in vier Druckbänden aus Müllers Inventar.71 Es ist zu vermuten, dass

66 Vgl. RUPP, Das Karmelitenkloster Zum Heiligen Kreuz (wie Anm. 65), S. 28–30 u. 89– 97; Stefan MICHEL, Die Kanonisierung der Werke Martin Luthers im 16. Jahrhundert, Tübingen 2016, S. 175–187. 67 Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 3, S. 288–290, Nr. 23 (Zitate: S. 289). 68 Vgl. RUPP, Das Karmelitenkloster Zum Heiligen Kreuz (wie Anm. 65), S. 57 (Anm. 170) u. S. 56 (Abb.). An anderer Stelle wurden Buchschließen aus der Zeit der Druckerei ausgegraben, vgl. ebd., S. 93 mit Abb. und S. 97. 69 Herbert KOCH (Hg.), Architectus Jenensis des Mag. Adrian Beier, Jena 1936, S. 181 f.: „In diesen Niclaß-Spittel sind etzliche Bücher aus dem An. C. 1525. im Bauren-Krieg zerstörten Carmeliter-Kloster oder alten Spittel kommen, davon noch übrig gewesen ist der Bonaventura, der mir von den Brüdern An. C. 1637 ist verehret worden.“ Vgl. RUPP, Das Karmelitenkloster Zum Heiligen Kreuz (wie Anm. 65), S. 20; BLAHA, Jena (wie Anm. 65), S. 374 f. Beiers „Architectus Jenensis“ wurde 1681 und nochmals 1687 in Jena gedruckt. 70 MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 2 der Foliohandschriften. Zur Handschrift, mit Zitat des Vermerks, vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 250 f. Zur Person vgl. Enno BÜNZ, Der niedere Klerus im spätmittelalterlichen Thüringen. Studien zu Kirchenverfassung, Klerusbesteuerung, Pfarrgeistlichkeit und Pfründenmarkt im thüringischen Teil des Erzbistums Mainz, Diss. phil., Jena 1999, Teil III/2, S. 470. 71 2 Jur. VII, 1; 2 Jus. can. III, 5; 2 Jus. can. IV, 5; 2 Op. theol. IV, 109; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 18, 10, 17 u. 94.

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auch sie zu den Jenaer Karmeliten gelangt sein könnten, doch lässt sich dies nicht belegen.

4.3. Zisterzienserinnenkloster Die von Müller 1749 inventarisierten Bücher lagerten, wie bereits erwähnt, in der Kirche St. Michael. Diese wurde von den Jenaer Zisterzienserinnen als Gotteshaus genutzt. Ihr um 1300 gegründetes und 1525 in landesherrliche Verwaltung übergegangenes Kloster grenzte baulich direkt an.72 Schon von daher wäre es möglich, dass in der Mehlkammer auch einige Bücher dieses Konvents die Zeiten überdauert hatten. Diese Überlegung könnte eine Bemerkung des bereits genannten Jenaer Chronisten Adrian Beier stützen. Ihm zufolge befanden sich zwischenzeitlich in einem als Sakristei genutzten Teil der Krypta der Michaelskirche „die reliquien der Bibliothec des Probsts und der Eptissin, davon die Pergamen-Bücher unlängst Tobiæ Völckern dem Buchbinder verkaufft worden. Es sind aber diese Bücher unlängst An. C. 1672. von daraus gebracht worden auff das Chor, welches unlängst die Schul-Diener mit ihren Schul-Knaben inne hatten, nunmehr aber inne haben die F. S. Hoffbedienten.“73 Es waren somit Bücher, als deren Vorbesitzer der Propst und die Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters galten, innerhalb der Kirche verlagert worden. Leider erfährt man auch, dass Pergamenthandschriften (vermutlich Liturgica) aus diesem Restbestand als Einbandmakulatur endeten. Auf den Umgang der Zisterzienserinnen mit Büchern im Mittelalter deutet eine Urkunde vom 30. Mai 1365 hin, in der Propst Johannes von Kochberg den Nonnen Geld für die Anschaffung von Büchern oder für andere Dinge überlässt.74 Ein Lektürebestand wird den Nonnen auch deshalb verfügbar gewesen sein, weil ihnen lange Zeit eine Schule unterstand. Allerdings lässt sich einstweilen keines der Bücher aus Müllers Inventar und auch sonst keines in der ThULB Jena dem Vorbesitz des Jenaer Zisterzienserinnenklosters zuordnen.

72 Vgl. Elke-Ursel HAMMER, Jena, in: Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina, IV/2), St. Ottilien 2011, S. 1007–1044, hier bes. S. 1036. 73 KOCH, Architectus Jenensis (wie Anm. 69), S. 255. 74 Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 303, Nr. 321: Die „closterfrawen […] mogen den zcins legen an buechere adir brenge an iren nutz, wie es yn allen bequemelist ist“.

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4.4. Fazit zu den Buchbeständen aus den Jenaer Klöstern In den vorangegangenen Ausführungen ließen sich aus Johann Gottfried Müllers über 150 Nummern umfassendem Inventar der Mehlkammersammlung in St. Michael von 1749 gerade einmal ein Dutzend Bände (darunter ein vierbändiges Werk) benennen, die ohne Zweifel aus dem Vorbesitz der Jenaer Dominikaner oder Karmeliten (keiner der Zisterzienserinnen) stammen. Bei Johannes Naumanns (Neumanns) vier Druckbänden ist dies möglich. Hinzu kommt die nicht bei Müller verzeichnete Handschrift Ms. Prov. f. 17. Dieser Auflistung noch anzufügen ist ein Sentenzenkommentar, den Adam Schilink, Pfarrer in Crossen, „conventui Ihenensi“ schenkte, was also offen lässt, welcher Konvent gemeint ist.75 Es ist ferner möglich, dass auch einige Inkunabelbände, die der Jenaer Vikar Johannes Ubirkossenitz (Oberkosenitz) stiftete, einem der Klöster vor Ort zugutekamen.76 Noch einige weitere Bücher aus Müllers Inventar stammen aus dem Vorbesitz von Geistlichen aus Jena und Umgebung: Die Handschrift Ms. Prov. f. 35 wurde 1463/66 von Johannes Winckeler, zunächst Vizepleban in Dornburg, ab 1465 Pfarrer im benachbarten Wilsdorf, geschrieben.77 Jahrzehnte später füllte ein Gleichnamiger den Sammelband 2 Phil. IV, 24 mit Notizen. Er nennt seinen Namen „Johannes Wingkeler de Jh[enis]“ und listet Lehrveranstaltungen sowie die Quaestionen einer Disputation an der Universität Leipzig auf, wo er ab 1496 studierte. In Jena ist 1504/06 ein Vikar dieses Namens nachweis-

75 2 Op. theol. IV, 2: Petrus LOMBARDUS, Sententiarum libri IV cum conclusionibus Henrici de Gorichem, [Freiberg: Kilian Fischer um 1492] (GW M32492; ISTC ip00494000); MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 37. Schlussblatt verso: „hunc librum dedit conventui Ihenensi Reverendus dominus Adam Schilink plebanus in Crosen in remedium anime sue et petit idem dominus librum istum applicari ad communem usum fratrum et petit quod omnes legentes in eo debent diligenter dominum exorare pro felici statu ipsius et suorum.“ 76 2 Jus. can. IV, 9; 2 Jus. can. IV, 7; 2 Hist. eccl. VI, 3; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 73, 74 u. 98. Die drei Bände enthalten den Vermerk „Dominus Johannes vbirko[e]ssenitz legavit“ gekennzeichnet. Eine identische Kette wie 2 Hist. eccl. VI, 3 weist der Band 2 Jus. can. VII, 12 (Müller, Verzeichnis [wie Anm. 41], Nr. 119) auf, der auf den ersten Seiten stark beschädigt ist, so dass nicht mehr untersucht werden kann, ob dort früher ein Vermerk stand. Johannes Ubirkossenitz ist 1506 als Vikar des St. Fabian und Sebastian-Altars von St. Michael bezeugt. Nach BRANDIS, Schul- und Bibliothekswesen Jenas (wie Anm. 45), S. 7 stammt auch Ms. Klosterbibl. 1 aus seinem Vorbesitz, was sich an der Handschrift selbst, die 1963 einen neuen Einband erhielt, freilich nicht (mehr) zeigen lässt; vgl. dazu und zur Person KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 244. 77 MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 3 der Foliohandschriften; KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 271–275.

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bar.78 Dem Jüngeren gehörten außerdem vier gleichfalls von ihm annotierte Bände mit seinem Besitzvermerk „Johannes Wyngkeler“.79 In einem dieser Bände notierte jemand – die Zuweisung an Winckeler ist eher fraglich –, er habe 1507 vom „prior prelorum conventus Ihenensis“ unheilvolle Voraussagen für das Jahr 1524 erfahren.80 Auch hier ist unklar, welcher Konvent gemeint ist und in welcher Relation dazu der Notizschreiber stand. Zwei 1508 und 1518 erschienene Teilbände des „Rosarium sermonum“ von Bernardinus de Bustis tragen den Besitzvermerk „Johannes Breunigk“, sicher identisch mit einem vor 1506 in Apolda und 1506/35 in Jena nachweisbaren Vikar dieses Namens.81 Sechs Bände enthalten jeweils einen Vermerk, dass sie von Nicolaus Gunther weitergegeben wurden; jedoch fehlt die Information, wem er die Bücher vermacht hat. Gunther (Günther) ist 1507/12 als Lektor und Vikar am Altar der heiligen Anna, Fabian und Sebastian in der Margarethenkirche in Kahla bezeugt.82 Es ist nicht erkennbar, dass die Bücher der beiden Winckelers, Breunigks und Günthers zwischenzeitlich im Besitz eines der Jenaer Klöster gewesen wären. Diese Bücher könnten eher ein Hinweis darauf sein, dass sich infolge der 78 Vgl. MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 124; BRANDIS, Schul- und Bibliothekswesen (wie Anm. 45), S. 7. Zur Person vgl. ERLER, Die Matrikel der Leipziger Universität (wie Anm. 20), Bd. 1, S. 413; Urkundenbuch Jena (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 388, Nr. 1021; Bd. 3, S. 181, Nr. 413; BÜNZ, Der niedere Klerus (wie Anm. 70), Teil III/2, S. 526, der als Studienort Erfurt angibt und darauf hinweist, dass 1519 in Dielsdorf nahe Sömmerda ein Pfarrer „Iohannes Winckeller“ instituiert wurde. Der von Bünz genannte, schon 1478, dann 1490 und 1495 urkundlich erwähnte Jenaer Bürger, Ratsmann und Bürgermeister Hans Winckler (vgl. Urkundenbuch Jena, Bd. 2, S. 269, Nr. 644; S. 329, Nr. 825; S. 350, Nr. 879) ist wiederum eine andere Person. 79 2 Op. theol. III, 36; 2 Op. theol. IV, 6; 2 Op. theol. IV, 11; 2 Op. theol. IV, 61; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 6, 57, 28 u. 91. 80 2 Op. theol. IV, 6. Letztes Blatt verso (durch Kettenrost beschädigt): „In anno 1524 plures apparertiones [?] impressiones monstra et mirabilia apparere dicuntur. Tunc enim coniunctio magna humidorum signorum concurret. Audivi in collatione anno 1507 in 4ta feria post oculi a priore prelorum conventus Ihenensis.“ 81 2 Op. theol. IV, 102a–b; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 110 f. Zur Person vgl. BÜNZ, Der niedere Klerus (wie Anm. 70), Teil III/2, S. 363 f. Ein Johannes Breunig wurde 1539 Pfarrer in Markersdorf/Penig und ging 1546/50 nach Claußnitz, vgl. Günter WARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546, Weimar 1988, S. 169. 82 2 Op. theol. IV, 43; 2 Op. theol. IV, 89a–b; 2 Op. theol. IV, 90a–b; 2 Op. theol. IV, 101; MÜLLER, Verzeichnis (wie Anm. 41), Nr. 51, 61 f., 65 f. u. 112. Besitzvermerk (mit Varianten): „Liber Domini Nicolai Guntheri testatus / In Kael Vicarius“. Zur Person vgl. Ernst LÖBE, Nachrichten über die St. Margarethenkirche zu Kahla, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichts- und Alterthumskunde zu Kahla und Roda 1 (1876), S. 22–41, hier S. 30 u. 41; Heinrich BERGNER, Urkunden zur Geschichte der Stadt Kahla, Kahla 1899, S. 71–74, Nr. 64 u. S. 76, Nr. 67.

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Umbrüche der Reformation nicht ausschließlich klösterlicher Bestand in St. Michael angesammelt hatte.

5. Mildenfurth – Prämonstratenserkloster Zum spätmittelalterlichen Bücherbesitz des 1193 gegründeten Prämonstratenserklosters Mildenfurth gibt es eine gute Quellenlage, die Bernhard Tönnies aufgearbeitet hat.83 Es genügt hier, seine Ergebnisse kurz zu referieren: Aus den Beständen der ThULB Jena können vermutlich insgesamt 30 Handschriften des 10. bis 15 Jahrhunderts, acht Inkunabelbände und neun Bände mit Drucken des frühen 16. Jahrhunderts Mildenfurth zugeordnet werden. Sie waren in der Folge des in den 1520er Jahren eingetretenen Niedergangs des Klosters, dessen Besitz ab 1529 von Beamten des sächsischen Kurfürsten verwaltet und 1531 der Sequestration unterzogen wurde, auf Betreiben Georg Spalatins an die Wittenberger Kurfürstliche Bibliothek (Bibliotheca Electoralis) gegeben worden, mit der sie dann 1549 nach Jena kamen.84 Zwei der Handschriften enthalten wichtige Quellen zur Mildenfurther Bibliothek: zum einen eine Bücherliste von 1478, angelegt von einem auch in weiteren Mildenfurther Handschriften nachweisbaren Schreiber, vielleicht dem Bibliothekar des Klosters. Dort sind 196 Titel aufgeführt, verbunden mit dem Hinweis, dass weitere vorhanden seien. Hauptsächlich handelt es sich um Handschriften, ganz überwiegend theologischen Inhalts, darunter zahlreiche Predigtsammlungen. Zum anderen findet sich eine um 1400 zu datierende Liste von zwölf vorwiegend juristischen Handschriften, die zwei Pfarrer aus Tinz und Berga nebst anderen Büchern dem Kloster gestiftet hatten. Zudem liegt in Weimar die Mildenfurther Sequestrationsliste von

83 Bernhard TÖNNIES, Drei Bücherverzeichnisse aus dem Prämonstratenserkloster Mildenfurth, in: Scriptorium 62 (2008), S. 286–327 mit Pl. 28–32 (Signaturenübersicht: S. 325); zuvor TÖNNIES, Die Handschriften (wie Anm. 12), S. 19–22 (Katalogisate: ebd., passim); KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 339–241; Franzjosef PENSEL, Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena, Berlin 1986, S. 324–326 u. 511–514. Digitalisate: http:// archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/templates/master/template_collections/index.xml (letzter Zugriff: 30.04.2017). 84 Zu Spalatins Rolle bei Klostersequestrationen, mit Verweis auf Mildenfurth, vgl. Christoph FASBENDER, Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert – Mit einem Rückblick auf das 15. Jahrhundert, in: Jens HAUSTEIN/Franz KÖRNDLE (Hg.), Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Codex – Geschichte – Umfeld, Berlin/New York 2010, S. 163–179, hier S. 170 f.

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1531, die für die Bibliothek des Klosters 187 Titel angibt.85 Auffällig ist, dass die Angaben der beiden Verzeichnisse von 1478 und 1531 nur zum geringeren Teil (bei etwas mehr als 80 Titeln) deckungsgleich sind. Neben Merkmalen wie Besitzvermerken oder der Hand des Schreibers der Liste von 1478 sind die drei Verzeichnisse die Grundlage für die Identifizierung der Mildenfurther Bände im Jenaer Bestand.

6. Reinhardsbrunn – Benediktinerkloster Auch für die Erforschung der Bibliothek des Benediktinerklosters Reinhardsbrunn hält die ThULB Jena eine wichtige Quelle bereit: die Handschrift Ms. App. 22 A (8).86 Der am 4. April 1514 geschriebene „Index bibliothecae Rainhersbrunnensis MDXIIII“ mit einem Umfang von zwölf Blättern listet rund 300 Titel auf, fast ausschließlich damals gängige theologische und juristische Werke, unterteilt in Handschriften (Bl. 3r–7r) und Drucke (Bl. 7v–11v). Die zitierte Titelaufschrift (Bl. 1r) stammt von der Hand Georg Spalatins. Nur ein einziges Buch der Liste kann als noch erhalten identifiziert werden: die im 15. Jahrhundert entstandene Handschrift Ms. Cas. 102 der Coburger Landesbibliothek mit Viten Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen und der heiligen Elisabeth sowie der Guda-Legende.87 Das Reinhardsbrunner Verzeichnis ist eines von acht in der ThULB erhaltenen Klosterbibliotheksverzeichnissen von 1514, die als Teil der Wittenberger Kurfürstlichen Bibliothek (Bibliotheca Electoralis) 1549 nach Jena gelangt sind. Sie waren jeweils in den Klöstern erstellt und nach Wittenberg geschickt worden, um dem von Friedrich dem Weisen als

85 Verzeichnis 1478: ThULB Jena, Ms. El. f. 30, Bl. 162va–163va. (Digitalisat: urn:nbn: de:urmel-3b8c9a78-d80a-4f6f-8533-6218f516d1d75); Stiftung um 1400: ThULB Jena, Ms. El. f. 31, Bl. 101ra (Digitalisat: urn:nbn:de:urmel-ef98c9a8-a686-449b-aa3dc12671711db84); Sequestrationsliste 1531: LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Oo, Nr. 560, Bl. 189r–194v. 86 KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 64 f. Digitalisat: urn:nbn:de: urmel-2ac88ec3-5584-4d25-9202-076022a0a3585. 87 Ms. App. 22 A (8). Bl. 5v: „Vita beate elisabet et incliti ludewici thuringorum lantgravii etc. in Reinhersbron pie in domino quiescentis una cum miraculis eorundem in stilo vulgari.“ Zur Handschrift vgl. Dieter BLUME/Matthias WERNER (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige. Katalog, Petersberg 2007, S. 440 f., Nr. 293; Jürgen WOLF, Aspekte thüringischer Hagiographie im 15. Jahrhundert. Ludwigswunder und GudaLegende. Mit Editionsanhang, in: Martin SCHUBERT/Jürgen WOLF/Annegret HAASE (Hg.), Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 162–177.

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Bibliothekar eingesetzten Spalatin eine Orientierungshilfe für den Aufbau und die Ordnung der dortigen Bibliothek zu geben.88 Die Bibliothek des 1085 gegründeten Klosters Reinhardsbrunn, über dessen frühes Buchwesen Erkenntnisse aus der Reinhardsbrunner Briefsammlung gewonnen werden können, erlebte zwei schwerwiegende Zäsuren.89 1292 wütete im Kloster ein Brand, dem auch die bis dahin gesammelten Bücher zum Opfer fielen. Somit spiegelt die Liste von 1514 nur die spätere Bibliotheksentwicklung wider. Deren Ende war besiegelt, als im Verlauf des Bauernkrieges Ende April 1525 zahlreiche Personen aus den umliegenden Orten das Kloster überfielen, die Insassen vertrieben und die Gebäude verwüsteten. Am 27. April richtete sich das Wüten auch gegen die Bibliothek. In einem Bericht des Priors Wilhelm Listemann vom 27. Oktober 1525 heißt es dazu: „item die sangbücher, meßbücher, betebücher mit allen andern geschriben und gedruckten büchern der ganzen librarei, geschatzt vor 3000 gulden, zuhauen, zuschniten, zurißen und mitten im hoffe des closters verbrant.“90 Die hier hervorgehobenen liturgischen Bücher sind im Verzeichnis von 1514 übrigens nicht berücksichtigt, was zeigt, dass es nicht den gesamten Bücherbesitz des Reinhardsbrunner Klosters aufführt. Anders als Listemann es vermittelt, scheinen nicht alle Bücher der Bibliothek verbrannt worden zu sein. Denn in der Folge eines Strafgerichts gegen die Plünderer am 15. Mai 1525 wurde das aus dem Kloster in alle Richtungen verschleppte Beutegut zurückgefordert, in Waltershausen gesammelt und dann nach Weimar überführt. Dazu gehörten auch Bücher.91 Das rechtliche Ende

88 Ms. App. 22 A (1–8); betrifft neben Reinhardsbrunn die Zisterzienserklöster Altzelle, Grünhain und Lehnin, die Dominikanerklöster Leipzig und Nürnberg sowie das Augustinerkloster Nürnberg und das Servitenkloster Halle, vgl. KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 14 f. u. 57–65. Zu Spalatins Anfängen als Bibliothekar vgl. auch FASBENDER, ‚Jenaer Liederhandschrift‘ (wie Anm. 84), S. 164 f.; Christina MECKELNBORG/Anne-Beate RIECKE, Georg Spalatins Chronik der Sachsen und Thüringer. Ein historiographisches Großprojekt der Frühen Neuzeit (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, 4), Köln u. a. 2011, S. 46–48. 89 Vgl. Christof RÖMER, Reinhardsbrunn, in: DERS./Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen (Germania Benedictina, X/2), St. Ottilien 2012, S. 1225–1302, hier bes. S. 1286– 1290 zur Bibliothek; Sigmar LÖFFLER, Geschichte des Klosters Reinhardsbrunn nebst einer Baugeschichte des Schlosses Reinhardsbrunn, Erfurt/Waltershausen 2003, S. 135 f. u. 195–203; DERS., Geschichte der Stadt Waltershausen, Bd. 1, Teil 1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts (…), Erfurt/Waltershausen 2004, S. 265–276. 90 FUCHS, Akten zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 20), S. 706–710, Nr. 1919 (Zitat: S. 708). 91 Vgl. LÖFFLER, Reinhardsbrunn (wie Anm. 89), S. 198 f. mit Anm. 499 f.; DERS., Waltershausen (wie Anm. 89), S. 271.

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des Klosters Reinhardsbrunn kam mit dem Amtsverzicht des letzten Abts am 17. September 1525.

7. Weimar – Franziskanerkloster Aus dem Vorbesitz des Klosters der Weimarer Franziskaner-Observanten, das 1453 gegründet und 1533 aufgelöst wurde,92 kam ein Buch an die ThULB Jena: ein Straßburger Druck von 1498 der „Casus longi super quinque libros Decretalium“ des Bernardus Bottonius (2 Jus. can. IV, 8) mitsamt einer Handschrift. Letztere wurde um 1800 separiert und neu gebunden (Ms. Prov. f. 39). Sie ist für die thüringische Geschichtsschreibung bedeutend. Es handelt sich um den einzigen bekannten Überlieferungsträger der Chronica Thuringorum „Eccardiana“, einer Geschichte der Thüringer Landgrafen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, benannt nach ihrem ersten Herausgeber Johann Georg Eckhart (Eccard). Die Handschrift wurde frühestens 1476/82 geschrieben; es gibt deutliche Hinweise auf Eisenach als Entstehungsort (vielleicht das dortige Franziskanerkloster).93 Im vormaligen Trägerband mit dem Druck steht ein Schenkungsvermerk, demzufolge der 72-jährige „miles“ Theodericus de Witzleben in Wolmirstedt bei Magdeburg um seines, seiner 66-jährigen Frau und aller Ahnen Seelenheil willen das Buch 1505 dem Weimarer Franziskanerkloster vermachte. Vermutlich nach dessen Aufhebung gelangte er in die Wittenberger Kurfürstliche Bibliothek (Bibliotheca Electoralis). Als diese 1547 von Wittenberg fürs Erste nach Weimar überführt wurde, machte der Band mit der „Eccardiana“ noch einmal Station am vormaligen Aufbewahrungsort: Die Transportkisten und -fässer mit den Bänden der Bibliotheca Electoralis fanden in den Räumlichkeiten der ehemaligen Bibliothek des Weimarer Franziskanerklosters Unterkunft,94 bevor sie dann 1549 zum weitaus größten Teil nach Jena transportiert wurden.

92 Vgl. Bernd SCHMIES, Weimar, in: MÜLLER u. a. (Hg.), Für Gott und die Welt (wie Anm. 4), S. 259–261. 93 KLEIN-ILBECK/OTT, Die Handschriften (wie Anm. 26), S. 277–279; Volker HONEMANN, Franziskanische Geschichtsschreibung, in: DERS. (Hg.), Von den Anfängen bis zur Reformation (wie Anm. 1), S. 731–844, hier S. 800–805. Digitalisat: urn:nbn:de:urmelb1fe5505-a26a-4fd5-aec2-3cdbe4281e146. 94 Vgl. BAUER/BLAHA/WALTHER, Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena (wie Anm. 47), S. 97.

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Die Überlieferung der schriftlichen Quellen im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar zur Sequestration der Klöster im Kurfürstentum Sachsen 1. Die Sequestration innerhalb des Prozesses des Klosterauflösung Die Beschäftigung mit der Überlieferungssituation der Schriftquellen zur Sequestration der Klöster im Hauptstaatsarchiv Weimar hegt für den ersten Moment die Befürchtung, das Thema könnte eine gewisse Spröde und Sperrigkeit aufweisen. So besteht die Gefahr, mit einer bloßen Auflistung der verwahrten Bestände oder gar mit einer Vielzahl von in den Raum gestellten Aktentiteln und Signaturen den Leser mehr zu verwirren als zu erhellen. Findbücher, Bestand, Signatur und Titel stellen allerdings den unverzichtbaren Kompass für die Orientierung in den Archivmagazinen dar. Nur mit solchen Hilfsmitteln können die archivalischen Schätze ans Licht gebracht und mit Nutzen verwertet werden. Dieser Beitrag möchte deshalb eine Orientierungshilfe für die zur Schrift geronnene Geschichte der Sequestration liefern. In den Publikationen zu den Klöstern protestantischer Landesteile finden sich zumeist am Schluss einige kurze Bemerkungen zur Säkularisierung der jeweiligen Einrichtung. Beispielhaft sei auf die Bände der Germania Benedicitina oder die Geschichte des Augustiner-Eremiten-Klosters in Neustadt an der Orla von Enno Bünz verwiesen.1 Aufgrund des Handbuchcharakters bzw. der Darstellung der gesamten Klostergeschichte wird die Sequestration als Teil der Säkularisierung dabei lediglich in wenigen Absätzen oder auf wenigen Seiten abgehandelt. Der Schwerpunkt liegt naturgemäß immer in der Zeit vor der

1

Friedhelm JÜRGENSMEIER/Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER (Bearb.), Die Mönchsund Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, IV/1 u. 2), St. Ottilien 2011; Christof RÖMER/Monika LÜCKE (Bearb.), Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, 2 Teilbde. (Germania Benedictina, X/1 u. 2), St. Ottilien 2012; Enno BÜNZ, Martin Luthers Orden in Neustadt an der Orla. Das Kloster der AugustinerEremiten und seine Mönche, Jena 2007, S. 96–100.

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Infragestellung der klösterlichen Institutionen. Somit bestehen beträchtliche Forschungsdesiderate gerade für die Endzeit der Klöster. Die Literatur zur weltlichen Verwaltung und Aufhebung der Monasterien im mitteldeutschen Raum ist überschaubar. Zu nennen sind hier immer noch die Arbeiten von Albert Hilpert aus dem Jahre 1911 zur Sequestration in den kursächsischen Landkreisen Meißen, Vogtland und Sachsen – das thüringische kursächsische Gebiet bleibt bei ihm ausgespart – und von Helga-Maria Kühn zur Einziehung des geistlichen Gutes bei den Albertinern von 1966.2 In den letzten Jahren haben Stefan Oehmig, Michael Beyer, Gunter Wartenberg und Uwe Schirmer zu einzelnen Aspekten des Umgangs mit Klostergut unter den beiden wettinischen Hauptlinien publiziert.3 Für das Verhältnis zum geistlichen Besitz als allgemeines Phänomen innerhalb der Reformations- und Reichsgeschichte sei auf den von Irene Crusius im Jahre 1996 herausgegebenen Aufsatzband zur Säkularisation geistlicher Institutionen verwiesen.4 Schließlich muss in diesem Zusammenhang unbedingt auf die vielfältigen Publikationen des Staats- und Kirchenrechtlers Martin Heckel mit weiterführenden Literaturangaben hingewiesen werden.5 2

3

4

5

Alfred HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter in den kursächsischen Landkreisen Meißen, Vogtland und Sachsen 1531 bis 1543, Plauen 1911; Helga-Maria KÜHN, Die Einziehung des geistlichen Gutes im albertinischen Sachsen 1539–1553 (Mitteldeutsche Forschungen, 43), Köln/Graz 1966. Stefan OEHMIG, Stadt und Säkularisation. Zum Verlauf und zu den Folgen der Aufhebung der Leipziger Klöster, in: Erich DONNERT (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5: Aufklärung in Europa, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 135–186; Michael BEYER, Die Neuordnung des Kirchengutes, in: Helmar JUNGHANS (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 22005, S. 93–114; Günter WARTENBERG, Der Umgang mit Klostergut im mitteldeutschen Raum im 16. Jahrhundert, in: Winfried MÜLLER (Hg.), Reform – Sequestration – Säkularisation. Die Niederlassung der Augustiner-Chorherren im Zeitalter der Reformation und am Ende des Alten Reiches (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim, 6), Paring 2005, S. 9–24; Uwe SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen. Vergleichende Anmerkungen zu Sequestration und Säkularisation im ernestinischen und albertinischen Sachsen (1523–1544), in: Michael BEYER/Jonas FLÖTER/Markus HEIN (Hg.), Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 24), Leipzig 2008, S. 179–192. Irene CRUSIUS (Hg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./19. Jahrhundert (Studien zur Germania Sacra, 19; Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 124), Göttingen 1996. Beispielhaft: Martin HECKEL, Das Problem der „Säkularisation“ in der Reformation, in: CRUSIUS (Hg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen (wie Anm. 4), S. 31–56; DERS., Weltlichkeit und Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Probleme in der Reformation und im Konfessionellen Zeitalter, in: Bernd MOELLER (Hg.), Luther in der Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 192), Gütersloh 1993, S. 34–54.

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Der Prozess der Aufhebung der Klöster lässt sich mit den drei Schritten Visitation – Sequestration – Säkularisation beschreiben. Günter Wartenberg charakterisierte den Umgang mit Klostergut im ernestinischen Sachsen ebenfalls mit einer Einteilung in drei Abschnitte: Einer Frühphase bis 1531 folgte die Zeit der Sequestration bis 1543, der sich die Eingliederung der verbliebenen Klostergüter in die kurfürstliche Ämterverwaltung anschloss.6 Grundsätzlich erfolgten diese Maßnahmen tatsächlich in chronologischer Abfolge. Eine erste landesherrliche Visitation ausgewählter kursächsischer Monasterien fand bereits im Frühjahr 1526 statt, ehe ab dem folgenden Jahr begonnen wurde, flächendeckend ernestinische Kirchen zu visitieren.7 Allerdings wurde vereinzelt schon seit 1521, zunehmend seit Mitte der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts Kirchengut unter weltliche Verwaltung gebracht.8 Das oben erwähnte Augustiner-EremitenKloster in Neustadt übernahm beispielsweise bereits 1523 der städtische Rat, ehe es 1524 unter die Verwaltung des Amtes Arnshaugk kam.9 Durch die Reformation aufgelassener geistlicher Besitz gelangte aus ganz pragmatischen Gründen unter landesherrliche Amtsverwaltung, noch bevor ein rechtlicher Rahmen dafür aufgestellt war.10 So erscheinen in den in Weimar überlieferten Hauptrechnungen Thüringer Klöster seit Mitte der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts Vorsteher und Verwalter, die gegenüber dem Kurfürsten die Rechnung für das Kloster als Wirtschaftseinheit ablegten.11 Diese Vorsteher und Verwalter lassen sich dann auch in den einzelnen Klosterrechnungen nachweisen.12 6 7

Vgl. WARTENBERG, Umgang mit Klostergut (wie Anm. 3), S. 13. Vgl. Stefan MICHEL, Eine kursächsische Klostervisitation aus dem Jahr 1526, in: Dagmar BLAHA/Christopher SPEHR (Hg.), Reformation vor Ort. Vom Quellenwert von Visitationsprotokollen, Leipzig 2016, S. 107–119. 8 Vgl. Uwe SCHIRMER, Kursächsische Staatsfinanzen (1456–1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 28), Stuttgart 2006, S. 374 f.; DERS., Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 179 u. 181. 9 Vgl. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh – HStA Weimar), Ernestinisches Gesamtarchiv (im Folgenden: EGA), Reg. Bb 3280, Bl. 1r–5v; BÜNZ, Martin Luthers Orden in Neustadt an der Orla (wie Anm. 1), S. 98. 10 Vgl. SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 182. 11 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 3280, Reg. Bb 3280a. Genannt werden die Klöster in: Bürgel (Benediktiner, 1525–1526), Creuzburg (Augustinerchorfrauen), Eisenach (Benediktinerinnen, Zisterzienserinnen, Dominikaner und Kartäuser, 1526–1527), Ettersburg (Chorherren), Georgenthal (Zisterzienser, 1525–1526), Gotha (Zisterzienserinnen und Augustineremiten, 1525–1526), Ichtershausen (Zisterzienserinnen, 1526), Neustadt an der Orla (Augustinereremiten, Rat 1523–1524 und Schösser 1525–1526), Oberweimar (Zisterzienserinnen), Reinhardsbrunn (Benediktiner, 1526–1526) und Roda (Stadtroda, Zisterzienserinnen, 1523–1526). 12 Für das Kloster Oberweimar zeichnete beispielsweise in der Rechnung von Michaelis 1524 bis Walpurgis 1525 noch der Propst als Verantwortlicher (vgl. LATh – HStA Wei-

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Die landesherrliche Verwaltung oder „wilde Sequestration“ von Klostergut setzte also in großem Umfang schon vor 1531 ein.13 Oft wird jedoch gerade dieses Jahr als Zäsur mit der eigentlichen Zeit der Sequestration in Verbindung gebracht. Dafür steht die von Kurfürst Johann von Sachsen am 1. Juni erlassene Instruktion.14 Die laufenden Prozesse der Sequestration der Klöster sollten damit vereinheitlicht und verrechtlicht werden. Auf diese Instruktion wird später noch näher einzugehen sein. Das Jahr 1543 setzt schließlich mit der Auflösung des kleinen landständischen Ausschusses zur Verwaltung des finanziellen Überschusses aus den alten Monasterien eine neue Zäsur. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen hatte damit die Verfügungsgewalt über das Klostergut erlangt. Es dominierte nun die massenhafte Veräußerung von geistlichen Grundherrschaften. Der Schwerpunkt lag seitdem in der Säkularisierung.15 Diese hier skizzenhaft dargestellte Abfolge landesherrlicher Maßnahmen zur Neuregelung des Umgangs mit kirchlichem Besitz mit einer ersten Bestandsaufnahme des möglichen und wirklich Vorhandenen, mit dessen Verwaltung und Nutzung unter mehr oder minder landständischer Teilhabe und mit der letztlichen Veräußerung oder dem Eigengebrauch stellt lediglich einen orientierenden Überblick dar. Betrachtet man die Geschehnisse am einzelnen Kloster, wird schnell deutlich, dass mit dieser Dreiteilung Visitation – Sequestration – Säkularisation nur die Dominanz eines der drei Schritte gegenüber den beiden anderen im Prozess zur Aufhebung der Klöster herausgestellt wird. Eine zeitliche Überlagerung oder Parallelität der Phasen war typisch. Es wurde also auch vor 1531 sequestriert und auch vor 1543 bereits säkularisiert. Ein bekanntes Beispiel für die frühe Säkularisierung bietet das Antoniterkloster Eicha. Bereits am 4. Dezember 1525, also sogar noch vor Beginn der reformatorischen Visitationen, verkaufte Kurfürst Johann das südöstlich von Leipzig gelegene Monasterium an seinen Rat Hans von Minkwitz. Durch die Reformation bedingte Auflösungserscheinungen im Kloster ließen es dem Vorsteher von Eicha angeraten sein, das feste und bewegliche Klostergut dem Landesherrn zum Kauf

mar, EGA, Reg. Bb 3842); die folgende Rechnung bis Michaelis 1525 oblag dem Schreiber des Klosters (vgl. ebd., Reg. Bb 3843), während die Rechnung von Michaelis 1525 bis Walpurgis 1526 dann bereits der Vorsteher Johann Prosse ablegte (vgl. ebd., Reg. Bb 3844). 13 Der Begriff „wilde Sequestration“ wurde von Stefan Michel in der Diskussion auf der Tagung für diesen Zeitraum gebraucht. 14 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1, Bl. 2r–12r. 15 Vgl. SCHIRMER, Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 8), S. 404–407; DERS., Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 187f.

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anzubieten. Somit war dieser Säkularisation der Weg bereitet und der Orden erhielt eine Entschädigung.16

2. Das Ernestinische Gesamtarchiv innerhalb des Hauptstaatsarchivs Weimar Sämtliche archivalische Quellen zum Thema befinden sich im Ernestinischen Gesamtarchiv, einem historisch abgeschlossenen Archivkörper innerhalb der Abteilung Hauptstaatsarchiv Weimar im Landesarchiv Thüringen. Als eine der Thüringer Staatskanzlei nachgeordnete obere Landesbehörde ist das Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar aktuell für die archivwürdigen Unterlagen der Ministerien und Landesämter des Freistaates Thüringen zuständig. Darüber hinaus besitzt das Weimarer Staatsarchiv zusätzlich einen lokalen Archivsprengel für die nachgeordneten Behörden des Bundes und des Freistaates in der Region. Die historische Zuständigkeit bis 1918 umfasst die thüringisch landgräfliche, kursächsische sowie sächsisch-weimarische und eisenachische landesherrliche Überlieferung.

Abb. 1: Historisches Archivgebäude des Hauptstaatsarchivs Weimar am Beethovenplatz 16 Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Patrimonialgericht Pomßen, OU Nr. 1. Vgl. auch SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 180.

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Abb. 2: Blick in das Ernestinische Gesamtarchiv

Insgesamt verwahrt das Hauptstaatsarchiv gegenwärtig 20.000 laufende Meter Akten (lfm), 16.000 Urkunden und 80.000 Karten. Zeitlich datieren diese Stücke von 944 – einer Urkunde Ottos des Großen – bis in unser Jahrtausend hinein. Das Weimarer Staatsarchiv ist somit eine moderne Verwaltungs- und wissenschaftliche Dienstleistungseinrichtung, deren Wurzeln bis in das Urkundendepot der ludowingischen Landgrafen reichen. Das älteste wettinische Dokument stellt eine Urkunde des Staufers Friedrich II. von 1243 mit der Eventualbelehnung der meißnischen Markgrafen mit der Landgrafschaft Thüringen dar.17 Bekanntermaßen konnte bereits nach fünf Jahren mit dem Aussterben der Ludowinger im männlichen Stamm diese Belehnung eingefordert werden. Damit war zugleich der Grundstein für das spätere Ernestinische Gesamtarchiv gelegt. Das älteste in das Gesamtarchiv gelangte Original datiert freilich 140 Jahren früher: eine Naumburger Bischofsurkunde für das dort ansässige Georgenkloster von 1103.18 Das Urkundenarchiv der Naumburger Benediktiner war im Zuge der Klosterauflösung – damit sind wir wieder beim Thema – in landesherrliche Hände gelangt.19 17 LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunde Nr. 947. 18 LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunde Nr. 4539. 19 Vgl. Matthias LUDWIG, Naumburg, St. Georg, in: RÖMER/ LÜCKE (Bearb.), Germania Die Mönchsklöster der Benediktiner (wie Anm. 1), Teil 2, S. 993–1031.

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Die Leipziger Hauptteilung von 1485 zwischen den wettinischen Brüdern Ernst und Albrecht hatte auch für das Archivwesen gravierende Folgen. Seit dem 14. Jahrhundert lassen sich verschiedene wettinische Archive nachweisen, die bereits über bloße Urkundendepots hinausreichten. Gemäß den Landesportionen wurden die Archivalien der Wettiner auf die Ernestiner und Albertiner aufgeteilt.20 Weimar und Dresden etablierten sich in der Folge als zentrale Archivstandorte. Das Kurarchiv blieb bis 1802 unter gemeinschaftlicher Verwaltung in Wittenberg. Dann erfolgte die Aufteilung unter die mittlerweile verschiedenen wettinischen Speziallinien.21 Mit der ersten ernestinischen Landesteilung von 1572 entstanden zunächst ein Weimarer und ein Coburg-Eisenacher Zweig der Ernestiner, den spätere Teilungen weiter aufsplittern und verästeln ließen. Die enge Verbindung von politischer Geschichte und Archivgeschichte zeigt sich nun auch darin, dass jede dieser Landesportionen ein eigenes Spezialarchiv begründete. Daher existieren heute noch drei weitere Staatsarchive in ehemaligen Residenzstädten sächsischernestinischer Herzogtümer: in Altenburg, Gotha und Meiningen. Die bis 1572 vorhandenen Unterlagen blieben jedoch als gemeinsam verwalteter Besitz aller ernestinischen Zweige in Weimar. Damit war die Geburtsstunde des Ernestinischen Gesamtarchivs gegeben. Gleichzeitig endete aber auch der aktenmäßige Zuwachs. Es erhielt den Charakter eines historischen Archivs für die schriftliche Überlieferung aus dem Herrschaftsgebiet der Wettiner bzw. Ernestiner vom Hohen Mittelalter bis zur Erfurter Teilung von 1572.22 In seiner heutigen Gestalt repräsentieren das Gesamtarchiv reichlich 6.200 Urkunden und 500 lfm Akten. Einzigartig in ihrer Geschlossenheit und in ihrer Informationsdichte sind beispielsweise die knapp 120 lfm umfassenden und bis ca. 1547 reichenden Überlieferungen zu den Amts- und Zentralrechnungen ab der Mitte des 15. Jahrhunderts sowie die in ihrer Bedeutung weit über Thüringen hinausragenden Bestände zur Geschichte der Reformation bis hin zum Schmalkaldischen Krieg. 20 Vgl. Dagmar BLAHA, Wissen und Macht. Zur Genese und Funktion des Ernestinischen Gesamtarchivs in Weimar, in: Franziska BOMSKI/Hellmuth Th. SEEMANN/Thorsten VALK (Hg.), Mens et Manus. Kunst und Wissenschaft an den Höfen der Ernestiner (Klassikstiftung Weimar, Jahrbuch 2016), Göttingen 2016, S. 17–33, hier S. 20 f. 21 Vgl. Ernst MÜLLER (Bearb.), Abteilung A. Ernestinisches Gesamtarchiv, in: Hans EBERHARDT (Hg.), Übersicht über die Bestände des Thüringischen Landeshauptarchivs Weimar (Veröffentlichungen des Thüringischen Landeshauptarchivs Weimar, 2), Weimar 1959, S. 1–3. 22 Ausführlich zur Entstehung und Geschichte des Ernestinischen Gesamtarchivs: Carl August Hugo BURKHARDT, Geschichte des Sachsen-Ernestinischen Gesamt-Archivs. Zweite Bearbeitung nach amtlichen Quellen, Weimar 1862 (Typoskript in der Dienstbibliothek des Hauptstaatsarchivs Weimar).

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Bis 1583 wurde das Gesamtarchiv nach sachlichen Gesichtspunkten – sog. Pertinenzen – neu geordnet und in 42 Repertorien verzeichnet. Noch heute existiert diese grundlegende Tektonik. Auf die wechselvolle Geschichte des Archivs, die zeitweise bis zur existenziellen Bedrohung führte, aber ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Archivar Carl August Hugo Burkhardt beginnend, auch Verbesserungen brachte, kann hier nicht weiter eingegangen werden.23 Die Findbücher aus dem späten 16. Jahrhundert werden zum großen Teil noch bis dato im Dienstbetrieb und in der öffentlichen Benutzung im Lesesaal zusammen mit den Ergänzungsrepertorien von Burkhardt verwendet. Verwahrt und benutzt werden diese Archivalien im historischen Archivgebäude des Hauptstaatsarchivs am Weimarer Beethovenplatz. In seinem Magazin findet sich ein Großteil der zur Schrift geronnenen ernestinischthüringischen Geschichte bis zur Bildung unseres Freistaates im Jahre 1920 konzentriert. Der heute wie ein Archivmuseum anmutende Zweckbau von 1885 eröffnete seinerzeit ein neues modernes Kapitel im Archivbau.24 Durch eine grundlegende Sanierung in den Jahren 1999 bis 2001 gelang es, dieses architektonische Kleinod am Rande des Goetheparks in seiner ursprünglichen denkmalgeschützten Substanz soweit wie möglich zu erhalten und gleichzeitig eine zeitgemäße Umgebung für die Archivalien und den Dienstbetrieb mit öffentlicher Benutzung zu schaffen.

3. Quellen zur Sequestration im Ernestinischen Gesamtarchiv – ein Überblick In diesem Abschnitt wird nur auf direkte Quellen zur Sequestration verwiesen. Die Überlieferungen zum innen- und außenpolitischen Umfeld, zur Arbeit der ständischen Ausschüsse sowie zum schwierigen Verhältnis der Sequestratoren zu den kursächsischen Visitatoren wie auch die Faszikel mit den Einzelfällen müssen dagegen weitgehend unbeachtet bleiben.25 23 Vgl. Dagmar BLAHA/Frank BOBLENZ, Carl August Hugo Burkhardt (1830–1910). Vorstand des Ernestinischen Gesamtarchivs 1859–1907 und des Geheimen Haupt- und Staatsarchivs in Weimar 1862–1907, in: Katrin BEGER (Red.), Lebensbilder Thüringer Archivare, hg. vom Vorstand des Thüringer Archivarverbandes, Rudolstadt 2001, S. 28– 37. 24 Vgl. Volker GRAUPNER, Der Archivzweckbau in Weimar. Ein architektonisches Kleinod, in: Katrin BEGER/Dagmar BLAHA/Frank BOBLENZ/Johannes MÖTSCH (Hg.), „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßtes Neue“. Festschrift für Volker Wahl zum 65. Geburtstag, Rudolstadt 2008, S. 433–457. 25 Hier ist neben der Überlieferung im Bestand Reg. Oo selbst, vor allem auch auf die Bestände Landtage, Landgebrechen (Reg. Q) und Tranksteuer (Reg. Qq) des Ernestinischen Ge-

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Im Bestand Klosterurkunden, geistliche Urkunden und Sequestrationsangelegenheiten mit dem Kürzel Reg. Oo (= Registrande Oo) verweist der Name bereits auf den Inhalt. Die Bestandsübersicht von 1959 führt dazu aus: „Sequestration der geistlichen Güter in Sachsen, Meißen, Vogtland, Thüringen und Franken: Allgemeine Akten von 1531 bis 1546 und spezielle Akten, alphabetisch nach Orten geordnet, von 1525 bis 1560.“ Die allgemeinen Akten umfassen 21 Faszikel (Nr. 1–12d), wohingegen innerhalb der gesamten Rubrik Sequestration mehr als eintausend Signaturen vergeben und 47 Urkunden dazu nachgewiesen sind.26 Der Umfang beträgt immerhin viereinhalb lfm. Die Archivalien wurden Ende des 19. Jahrhunderts zum Großteil neu formiert, verzeichnet und eine Ergänzungsregistrande zum Findbuch von 1582 erstellt. Heute sind daher nur noch in wenigen Fällen die originalen Einbände vorhanden. Gleichermaßen wurden seiner Zeit die verschiedenen organisch entstandenen zeitgenössischen Überlieferungsstränge und Provenienzen zu einem Betreff bzw. zu einer Akte zusammengeführt. Die im allgemeinen Teil des Findbuches zu Reg. Oo ausgewiesenen Faszikel beziehen sich auf sämtliche Landesteile des Kurfürstentums Sachsen. Im weitaus größeren Teil der alphabetisch nach Orten geordneten Überlieferung finden sich nun aber auch die Stichpunkte „Franken (Nr. 301–316)“, „Meißen (Nr. 559–590)“, „Sachsen (Nr. 814–837)“ und „Thüringen (Nr. 874a–951a)“. Damit sind übergreifende Akten für diese Landesteile gemeint. Somit kristallisieren sich drei Gruppen von Akten zur Sequestration heraus: 1. Akten mit Relevanz für das gesamte Kurfürstentum, 2. Akten, die einen oder mehrere Landesteile betreffen und 3. Unterlagen zu den Einzelfällen. Den Beginn der Überlieferung bildet ein Faszikel mit den Instruktionen des Kurfürsten Johann zur Sequestration der Klöster, Stifte und anderen geistlichen Güter vom 1. Juni 1531 (siehe Abb. 3).27 Diese Weisung basiert auf der Antwort des Kurfürsten auf die Bedenken des großen landständischen Ausschusses zur Sequestration der geistlichen Güter vom 19. März dieses Jahres.28 Der Landsamtarchivs zu verweisen. In Letzterem befinden sich Unterlagen zum Finanzwesen des sog. kleinen landständischen Ausschusses. Weiterhin sind hierfür die Bestände Reichstage (Reg. E), Finanzangelegenheiten (Reg. Aa), Rechnungen (Reg. Bb), Kirchen und Schulvisitation, Bewidmung (Reg. Ii), Klöster (Reg. Kk) und Pfarrbestallungen, Pfarrer und Pfarrangelegenheiten (Reg. Ll) des Ernestinischen Gesamtarchivs heranzuziehen. 26 Vgl. MÜLLER (Bearb.), Abteilung A. Ernestinisches Gesamtarchiv (wie Anm. 21), S. 43 f. 27 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1 (49 Bl.). 28 Das Konzept der Erwiderung Johanns an den Ausschuss ist in Weimar überliefert (LATh – HStA Weimar, Reg. Oo 3, Bl. 1r–13v), wohingegen der ursprüngliche Antrag der Stände und die Ausfertigung der kursächsischen Kanzlei heute im Staatsarchiv Coburg verwahrt werden (Lokat F 4). In Auszügen abgedruckt sind diese Vorgänge in:

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tagsausschuss war Anfang 1531 in Zwickau aus adligen und bürgerlichen Eliten eingerichtet worden.29 In seiner Stellungnahme hatte Johann nun den Ständen eine stärkere Einbindung in die Verwaltung des Klosterguts zugestanden. Zur Umsetzung berief er nun vier mit dem Ausschuss der Stände abgesprochene Kommissionen für die schon für frühere Steuererhebungen oder für die Visitationen eingerichteten Hauptkreise Sachsen, Meißen, Thüringen und Franken. In ihnen saßen jeweils zwei landesherrliche Räte und zwei Ständevertreter. Dabei besaßen auch die kursächsischen Räte zum Teil selbst Landstandschaft. Für Thüringen werden beispielsweise genannt: Burkhardt Hund und Ewald von Brandenstein als Räte Johanns sowie Felix von Brandenstein und der Gothaer Bürgermeister Johann Oswald als ständische Mitglieder.30 Beide herzogliche Räte und Oswald saßen bereits im zu Jahresbeginn 1531 eingerichteten Ausschuss, der dann mit dem Kurfürsten über die Sequestration verhandelt hatte.31 Die Verantwortlichkeit für die Verwaltung des Klosterguts übertrug Johann damit vor allem auf seine Stände.32 Zurück zum oben angesprochenen Faszikel: In ihm befinden sich nun die besiegelten Instruktionen für die Landesteile Sachsen (Kurkreis), Thüringen und Franken. Für das Gebiet Meißen, das mit dem Vogtland zusammengefasst worden war, hat sich diese Handlungsanweisung im Weimarer Archiv nicht erhalten. Die drei Ausfertigungen unterscheiden sich hauptsächlich durch die verantwortlichen Sequestratoren. Weiterhin sind Abschriften zur Verpflichtung der Kommissionsmitglieder in diesem Band überliefert.33 Schließlich folgen Weisungen an die landesherrlichen Unterbehörden sowie an alle Klostervorsteher mit der Aufforderung, die Arbeit der Sequestrationskommissionen zu unterstützen.

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Thüringische Geschichtsquellen, Bd. 8 = NF Bd. 5: Ernestinische Landtagsakten, Bd. 1: Die Landtage von 1487–1532, bearb. von Carl August Hugo BURKHARDT, Jena 1902, S. 225, Nr. 418 u. S. 226 f., Nr. 419. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Q 23, Bl. 29r–35v. Vgl. auch Ernestinische Landtagsakten (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 213 f., Nr. 404; Ernst MÜLLER, Die ernestinischen Landtage in der Zeit von 1484 bis 1572 unter besonderer Berücksichtigung des Steuerwesens, in: Hans EBERHARDT (Hg.), Forschungen zur thüringischen Geschichte (Veröffentlichungen des Thüringischen Landeshauptarchivs Weimar, 1), Weimar 1958, S. 201. Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1, Bl. 11v. Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Q 23, Bl. 29v u. 93v; Reg. Q 23a, Bl. 5v. Vgl. SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 184; HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter (wie Anm. 2), S. 9. Die personelle Zusammensetzung der Kommissionen änderte sich in den Folgejahren mehrmals. Im Bestand Reg. Oo des Ernestinischen Gesamtarchivs sind diese Personalsachen aktenmäßig nachgewiesen.

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Abb. 3: Erste Seite der Instruktion des Kurfürsten Johann von Sachsen zur Sequestration der Klöster, Stifter u. a. geistlichen Güter vom 1. Juni 1531

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Diese Instruktion regelte nunmehr auf landesrechtlicher Basis die Verwaltung des Klosterguts. Was vorher schon geduldete Praxis war, wurde nun legitimiert und der Verwaltungsablauf genau festgelegt. Landesherrschaft manifestierte sich damit auch im Handeln der Sequestrationskommissionen. Damit kann zu Recht das Jahr 1531 als zäsurbildend für den Prozess der Verrechtlichung und Institutionalisierung der Sequestration angesehen werden. Die Arbeit der Sequestratoren galt zunächst einer Bestandsaufnahme: Anfenglich sollen sie alle und jede unser Clostere, Stiffte und andere gaistlichen gueter in unserm Churfurstenthumb zu Sachsen gelegen, besuchen, besichtigen vnd fleissige Erkundung haben, wie es ytziger zeit mit den selbigen allenthalben gewandt, wie sie bestaldt, wes nutz und einkommen ain jedes […] hat und ertragen thuet.

Hierzu sollten Inventare angefertigt werden, die auch das „Silberwergk, Cleinodien und allen andern Vorradt“ mit beinhalteten.34 Vorschläge zur Verbesserung der Verwaltung waren ausdrücklich erwünscht. Ungeeignet erscheinende Klostervorsteher konnten abgesetzt und neue vorgeschlagen werden, die der kurfürstlichen Bestätigung bedurften. Die Vorsteher waren schließlich sämtlich auf den Landesherrn zu vereidigen. Für die finanziellen Überschüsse aus den geistlichen Gütern in den Landesteilen besaßen die Sequestratoren eigene Kassen, in welche zunächst die Guthaben nach halbjähriger Rechnungslegung und nach Abzug der notwendigen Ausgaben der Kommission oder solcher auf ausdrücklichen kurfürstlichen Befehl hin, flossen. Die Instruktion nennt bereits verschiedene vom Kurfürsten gesetzte Vorgaben für die Ausgaben. Beispielhaft seien anteilige Zahlungen für den Unterhalt der Universität Wittenberg, solche für Pfarrer und Schulmeister oder für die Abfindung von Ordenspersonen erwähnt.35 Für das dann verbliebene Geld war für Thüringen Gotha als Standort der Kasse ausgewählt worden. Als weitere Verwahrorte nennen die Anweisungen Altenburg, Wittenberg und Coburg.36 Je ein Schlüssel für die mit drei verschiedenen Schlössern versehenen Kassen befand sich beim Kurfürsten, bei der Kommission und einer beim jeweiligen Rat der Stadt. Damit sollte einer Veruntreuung eingelegter Geldmittel vorgebeugt werden. Neben der Bestandsaufnahme oblag es den Sequestrationskommissionen auch, das seit dem Bauernkrieg entfremdete geistliche Gut mithilfe der Amtsleute und der Schosser wieder „an ain yedes ort, dahin es gestifft und gewidembt ist, ane Nachlassung“, zu bringen.37 Die Einkünfte der von Städten gestifteten geistlichen Lehen sollten dem Gemeinen Kasten des Stiftungsortes zugute kommen. Bis Bartholomei, also dem 24. August, des laufenden Jahres sollten 34 35 36 37

LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1, Bl. 2v. Vgl. ebd., Bl. 5v–6v. Vgl. ebd., Bl. 11v; HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter (wie Anm. 2), S. 10. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1, Bl. 5r.

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diese vielschichtigen und komplizierten Aufgaben erledigt sein. Eine illusorische Vorgabe der Politik, wie die Aktenüberlieferung zeigt. Ursprünglich war die Sequestration insgesamt auf zwei Jahre angelegt. Das seit mehreren Jahren erhoffte „Cristlich Concilium in Deutscher Nation“ sollte einen Weg eröffnen, den Umgang mit Kirchengut „zu Cristlichen, auch milden und andern Nothwendigen Sachen“ zu regeln.38 Falls ein solches freies gemeines Konzil nicht ausgeschrieben werde, behält sich der Kurfürst in der Instruktion vor, zusammen mit seinen Räten und den Ständen Weiteres zu verordnen. Bekanntlich kam ein konfessionsübergreifendes Konzil nicht zustande. Erst entschieden die Waffen im Schmalkaldischen Krieg, ehe der Passauer Vertrag und der Augsburger Religionsfrieden schließlich einen reichsrechtlichen Kompromiss brachten. Kurz nach dem Regierungsantritt des Kurfürsten Johann Friedrich – Johann war im August 1532 gestorben – erfolgte eine wichtige Präzisierung für die Finanzverwaltung der sequestrierten Güter: Der bereits noch unter Johann eingerichtete neue kleine landständische Ausschuss kontrollierte nun die Arbeit der Sequestratoren. Im Einvernehmen mit den Ständen gelangte der finanzielle Überschuss über die Sequestrationskassen in die Kasse des kleinen Ausschusses und dann an den Kurfürsten. Der Gewinn diente zur Sanierung der landesherrlichen Finanzen.39 Damit waren die wesentlichen rechtlichen Rahmenbedingungen für diese bis Anfang 1543 reichende Hauptphase der Sequestration gegeben. Eine zweite Aktengruppe soll nun im Fokus stehen: Die Inventare zum festen und beweglichen Besitz und zu den Rechten der einzelnen Klöster. Diese waren die Basis für eine präzise Rechnungslegung bei der Sequestration. Hier ist eine Verbindung zu den seit 1526 laufenden landesherrlichen Visitationen zur Neuorganisation des Kirchenwesens zu verzeichnen. Vollständige Gesamtinventare der einzelnen Klöster sind im Bestand Reg. Oo selten. Glücklicherweise verfügen wir allerdings über ein reichlich 200 Blätter umfassendes Inventar für die Klöster des Meißner und vogtländischen Landesteils (siehe Abb. 4).40 Der dafür zuständige Sequestrationsschreiber Paul Rudel 38 Ebd., Bl. 6v–7r. 39 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 4; Reg. Q 27. Vgl. außerdem SCHIRMER, Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 8), S. 399 u. 407–413; DERS., Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 185 f.; MÜLLER, Ernestinische Landtage (wie Anm. 29), S. 206; HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter (wie Anm. 2), S. 20 u. 25. 40 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 561. Behandelt werden die Klöster in: Altenburg (Augustiner-Chorherrenstift St. Marien, Magdalenerinnen und Kollegiatstift St. Georg), Buch (Zisterzienser), Crimmitschau (Kartäuser), Cronschwitz (Dominikanerinnen), Frankenhausen (Crimmitschau, Zisterzienserinnen), Grimma (Augustinereremiten), Grünhain (Zisterzienser), Mildenfurth (Prämonstratenser), Nimbschen (Zisterzienserinnen), Plauen

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stellte es 1531 zusammen. Insgesamt 17 Klöster sind darin enthalten. Im überlieferten Konzeptband befinden sich zudem noch Bücherverzeichnisse des Franziskanerklosters zu Weida und der Prämonstratenser zu Mildenfurth.41 Das hätte man in diesen Archivalien nicht erwartet.

Abb. 4: Deckblatt aus einem Inventar für 17 Klöster des Meißner und vogtländischen Landesteils von 1531 (Dominikaner), Remse (Benediktinerinnen), Sitzenroda (Zisterzienserinnen), Weida (Franziskaner und Magdalenerinnen) und Zwickau (vormalige Franziskaner). 41 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 560, Bl. 179r–184v (2 Exemplare) u. Bl. 189r–194v (2 Exemplare).

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Abb. 5: Ausschnitt aus einem Inventar des unter landesherrlicher Verwaltung stehenden Klosters Oberweimar von 1530

Der Umfang und die Tiefe der Inventare sind allerdings unterschiedlich. Beispielhaft seien die einzelnen Gliederungspunkte für das seit 1525 landesherrlich verwaltete Kloster Buch aufgeführt: Geldvorrat und Schulden, das Silberwerk, die Kleinodien, der Grundbesitz mit Vorwerken, die bewegliche Habe an Tieren sowie die Einnahmen von Geld- und Naturalzinsen.42 Danach stehen die Ausgaben, „was jerlich das Closter widderumb wegkgeben und zuerhaltung der 42 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 561, Bl. 2r–17v.

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Haushaltung haben muss“.43 Schließlich folgen noch die seit dem Bauernkrieg dem Kloster entfremdeten Güter und weitere Ausgaben auf Geheiß der kursächsischen Beamten für den Prediger im Kloster, den Pfarrer und Schulmeister sowie Auszahlungen für immer noch zehn Ordensbrüder im Konvent und andere Angestellte im Kloster und auf dem Vorwerk.44 Als Ergebnis des Besuchs in Buch verfassten die Sequestratoren einen Abschied für den Klosterverwalter, Adolf von Zehmen, worin seine Pflichten und Aufgaben schriftlich festgehalten wurden.45 Eine solche schriftliche Regelung fehlt vergleichsweise wiederum für das Magdalenerinnenkloster zu Altenburg. Die Nonnen konnten hier noch bis 1538 ihre Position in Teilen behaupten.46 Somit nahm die Kommission neben dem Inventar noch zusätzlich die Beschwerungen der weiterhin im Kloster anwesenden Priorin und des Konvents mit insgesamt 14 Schwestern auf.47 Der zur Klosteraufhebung hinführende Prozess war noch in vollem Gange.48 Für den Thüringer Landesteil sind solche umfassenden Inventare der Klöster leider nicht in diesem Bestand überliefert.49 Aber zumindest finden sich verschiedene Einzelspezifikationen zum festen und beweglichen Gut oder zu den wirtschaftlichen Verhältnissen. Zwei der umfassendsten Bände sollen Erwähnung finden. Für 1530 existiert ein knapp 50 Blätter umfassender Band mit Auflistung der Nutzungen und Einkommen „der Closter, so der Churfurst zu Sachssen […] in seiner […] aufsehen habende und der Renterey zu Weimar in rechnung zunemen befohlen seint“.50 Für 26 zumeist thüringische Klöster werden sämtliche Einnahmen und Ausgaben in Geldwert gegenübergestellt, dem eine Gesamtübersicht folgt (siehe Abb. 5).51 Die Verantwortung oblag den 43 Ebd., Bl. 10v–12r. 44 Vgl. ebd., Bl. 12r–16v. Vgl. Außerdem LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Ii 6, Bl. 152r– 154r: Die eigentliche Visitation fand 1534 statt. Zu dieser Zeit waren nur noch acht Ordensbrüder im Kloster. 45 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 561, Bl. 17r–v. 46 Vgl. Bernhard OPFERMANN, Die thüringischen Klöster vor 1800. Eine Übersicht, Leipzig/Heiligenstadt 1959, S. 75. 47 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 561, Bl. 64r–68v. 48 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Ii 1, Bl. 42r–v u. Bl. 145r–170v; Reg. Ii 6, Bl. 39v– 43r (Visitationsakten). 49 Für Inventare thüringischer Klöster muss auch auf die Bestände Finanzangelegenheiten (Reg. Aa) und Klöster (Reg. Kk) des Ernestinischen Gesamtarchivs verwiesen werden. Beispielsweise befindet sich in Letzterem ein auf kurfürstlichen Befehl aufgestelltes Inventar des Klosters Oberweimar von Ende April 1525 (LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1074a). 50 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 875a. 51 Behandelt werden die Klöster in: Allendorf (Zisterzienserinnen), Bürgel (Benediktiner), Creuzburg (Augustinerchorfrauen), Crimmitschau (Kartäuser), Eisenach (Benediktinerinnen, Zisterzienserinnen, Dominikaner und Kartäuser), Eisenberg (Zisterzienserinnen),

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beiden kursächsischen Räten Wolf von Ende und Burkhard Hundt. Letzterer saß bekanntlich ein Jahr später auch in der Sequestrationskommission für Thüringen. Für 1530 konnten beide einen finanziellen Gesamtüberschuss von immerhin 8.694 Gulden konstatieren.52 Bereits 1526 hatte Johann den Zustand der thüringischen Klöster durch seine Räte Wolf von Ende und Hans von Gräfendorf in einem Register zusammenfassen lassen.53 Auf knapp 150 Blättern sind wirtschaftliche und personelle, aber auch Angaben zum Inventar von 18 geistlichen Instituten aufgeführt.54 Eine Zusammenfassung wie beim Band von 1530 fehlt. Mit diesen Quellen bzw. Inventaren lassen sich sowohl das Handeln der obrigkeitlichen Verwaltung als auch personelle Kontinuitäten im Vorfeld der Bildung der Kommissionen abbilden. Sie bieten zudem einen umfassenden Einblick in das Innenleben der Klöster in der Reformationszeit und dokumentieren Rechte, die bis in das Spätmittelalter zurückreichen. Zu dieser Aktengruppe der übergreifenden Inventare und Verzeichnisse seien unkommentiert und stellvertretend für Weitere noch drei Faszikel genannt, die für sich sprechen: 1. „Verzaichnus, was jherlich [zwischen 1531 und 1540, V.G.] aus dem Clostern zu Duringn zu unterhaltung der Ordenspersonen auf Leibe auch Etzlichen vorschrieben und entliche abfertigung an gelde und anderm gegeben wirdt.“55 2. Summarischer Gesamtnachweis aller Einnahmen aus den Klöstern in Thüringen und Franken mit Gesamtausgaben in der Sequestration.56

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Ettersburg (Chorherren), Frankenhausen (Crimmitschau, Zisterzienserinnen), Georgenthal (Zisterzienser), Gotha (Augustinereremiten und Zisterzienserinnen), Ichtershausen (Zisterzienserinnen), Jena (Zisterzienserinnen), Johannisthal (Eisenach, Zisterzienser), Kapellendorf (Zisterzienserinnen), Lausnitz (Klosterlausnitz, Augustinerchorfrauen), Neustadt an der Orla (Augustinereremiten), Oberellen (Benediktiner), Oberweimar (Zisterzienserinnen), Orlamünde (Wilhelmiten), Petersberg/Saalfeld (Benediktiner), Reinhardsbrunn (Benediktiner) und Roda (Stadtroda, Zisterzieserinnen). LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 875a, Bl. 36r–37r. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 874a. Behandelt werden die Klöster in: Bürgel (Benediktiner), Creuzburg (Augustinerchorfrauen), Eisenach (Benediktinerinnen, Zisterzienserinnen, Dominikaner und Kartäuser), Eisenberg (Zisterzienserinnen), Ettersburg (Chorherrenstift), Georgenthal (Zisterzienser), Gotha (Zisterzienserinnen), Heusdorf (Benediktinerinnen), Ichtershausen (Zisterzienserinnen), Jena (Zisterzienserinnen), Johannisthal (Eisenach, Zisterzienser), Lausnitz (Klosterlausnitz, Augustinerchorfrauen), Oberweimar (Zisterzienserinnen), Petersberg/ Saalfeld (Benediktiner) und Reinhardsbrunn (Benediktiner). LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 940 (66 Bl.). Vgl. dazu auch für 1544: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 951a, Bl. 36 ff. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 951 (8 Bl.).

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3. „Vortzaichnis und Anschlag [von 1544, V.G.] alles erblichen und widerkeufflichen einkhomens an gelde, getreide, hunern und andern zinsparen Stucken der Clostere zu Dhuringen […] und was widerumb dargegen den Kirchen und schuldienern in die gemeine kesten und den gewesenen Ordenspersonen jherlichen geraicht wirt.“57 Als dritte große Quellengattung sollen nun die Rechnungen der Sequestratoren vorgestellt werden. Sie umfassen jeweils einen Landesteil. Demnach sind solche für Thüringen, Sachsen, Franken und für Meißen mit dem Vogtland überliefert. Im Findbuch sind sie unter den jeweiligen übergreifenden Klassifikationen innerhalb des Bestandes Reg. Oo verzeichnet. Die thüringische Überlieferung steht dabei pars pro toto. Insgesamt sind drei Rechnungsbände für die Jahre 1532 bis 1540 nachweisbar, zwei davon noch im originalen gelben Pergamenteinband.58 Der Aufbau der Bände folgt formal der Gliederung üblicher Amtsrechnungen. Zunächst werden Einnahmen und Ausgaben aufgelistet und die jeweiligen Summen zusammengestellt. Am Schluss der Rechnung steht schließlich die Nettoeinnahme bzw. der finanzielle Überschuss. Das Guthaben reichten die Sequestratoren an die Verordneten des landständischen Ausschusses weiter. Der Zeitpunkt fiel häufig mit dem Neujahrs-, Oster- oder Michaelismärkten in Leipzig zusammen.59 Auf die zweckgebundene Verwendung der Gelder zur Sanierung der kurfürstlichen Finanzen ist bereits verwiesen worden.60 Der früheste überlieferte Band umfasst den Zeitraum vom November 1532 bis Dezember 1534.61 Als Grundlage dieser Rechnung dienten die vorausgegangenen einzelnen Rechnungslegungen der Klostervorsteher und Verwalter. Diese Finanzunterlagen der Einzelklöster sind ebenfalls im Ernestinischen Gesamtarchiv im Bestand Rechnungen (Reg. Bb) überliefert.62

57 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 950 (34 Bl.). 58 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 886c: 19. November 1532–13. Dezember 1534 (41 Bl., Originaleinband); Reg. Oo 916: 1. Mai 1533–1. Mai 1538 (126 Bl., Originaleinband); Reg. Oo 927: 1539–1540 (15 Bl., Handrechnung der Sequestratoren für Thüringen und Franken auf zwei Jahre). 59 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunden Nr. 5343 bis Nr. 5348. 60 Vgl. SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3), S. 186; HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter (wie Anm. 2), S. 118 f. 61 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 886c. 62 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 3339 bis Reg. Bb 4060 (Rechnungen der einzelnen Klöster, Stifter, Stiftsgüter, Komturhöfe).

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Abb. 6: Ausschnitt aus der Rechnung der Thüringer Sequestrationskommission von November 1532 bis Dezember 1534

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Die geldwerten Überschüsse aus den geistlichen Einrichtungen kamen zunächst in die Sequestrationskasse und bildeten das Gros der Einnahmen. Immerhin gelangten in den beiden Jahren von November 1532 bis Dezember 1534 reichlich 16.400 Gulden in die Kasse.63 Der Anteil vom verkauften Kirchenschmuck betrug gerade einmal bescheidene 301 Gulden.64 An erster Stelle der Ausgaben stehen 5.000 Gulden für den Kurfürsten. Davon flossen 3.000 Gulden direkt in die Kammer und 2.000 Gulden unterstützten den kurfürstlichen Festungsbau in Gotha.65 Diese Summe ging am kleinen Ausschuss der Stände vorbei. Dorthin waren am Leipziger Neujahrs- und am Michaelismarkt 1534 insgesamt 4.500 Gulden gelangt.66 Dieser Betrag floss aber in die Gesamtausgabe von 13.713 Gulden mit ein (siehe Abb. 6).67 Zum Rechnungsschluss befanden sich noch 2.695 Gulden in der Gothaer Sequestrationskasse. Die Witwe des mittlerweile verstorbenen Bürgermeisters und Kommissionsmitglieds Johann Oswald übergab davon 2.439 Gulden an Ewald von Brandenstein und Burkhardt Hund als kurfürstliche Befehlshaber. Der Rest verblieb in der Kasse.68 Den weiteren Weg der Geldsumme erhellt eine Urkunde im Ernestinischen Gesamtarchiv.69 Darin quittierte Anfang 1535 der kleine Ausschuss der Landstände den Erhalt der 2.439 Gulden. Diese Quittung soll stellvertretend für die weitere urkundliche Überlieferung zur Sequestration stehen. Zusammen mit den Haupt- und Einzelrechnungen der Klöster sowie den Finanzunterlagen der Thüringer Sequestrationskommission könnte versucht werden, die von Hilpert vorgelegte Untersuchung zur Sequestration in den kursächsischen Landkreisen Meißen, Vogtland und Sachsen auch für Thüringen durchzuführen.70 In der Arbeit „Reformation und Staatsfinanzen“ analysierte Uwe Schirmer 2008 u. a. den Umfang des Anteils der Sequestrationsgelder an den kursächsischen Staatsfinanzen insgesamt.71 Dabei zog er vor allem die seit 1527 überlieferten Rechnungen der kurfürstlichen Schatulle und Kammer 63 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 886c, Bl. 7v. 64 Vgl. ebd., Bl. 5r. Dabei ist aber zu beachten, dass ein großer Teil der Kirchenschätze bereits bis 1532 vom Kurfürsten eingezogen worden war. So war das bekannte Wittenberger Heiltum, die große Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen, zu diesem Zeitpunkt bereits vernichtet. 65 Vgl. ebd., Bl. 8r. 66 Vgl. ebd., Bl. 10r. 67 Vgl. ebd., Bl. 35r. 68 Vgl. ebd., Bl. 35r. 69 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunde Nr. 5344. 70 Vgl. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 3280 bis Reg. Bb 3338 (Hauptrechnungen, aus den Rechnungen ausgezogene Hauptsummen der Klöster, Stifter und Ordenshäuser); vgl. auch Anm. 58 und Anm. 62. 71 Vgl. SCHIRMER, Reformation und Staatsfinanzen (wie Anm. 3).

DIE ÜBERLIEFERUNG DER SCHRIFTLICHEN QUELLEN

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heran.72 Eine systematische Auswertung der hier vorgestellten Schriftquellen wird das bisher dazu gewonnene Bild ergänzen und präzisieren. Möglicherweise lässt sich mit den landesherrlichen Hauptrechnungen der Klöster für 1526 die fehlende anderweitige Überlieferung für dieses Jahr etwas kompensieren.73 Der Fächer der Schriftquellen zur Sequestration innerhalb des Ernestinischen Gesamtarchivs ist damit aufgetan. Sichtbar gewordene Konturen bieten eine Fülle von Anhaltspunkten, sich diesem Thema als historischem Phänomen der Ausgestaltung der Reformation vor Ort und der Herrschaftsausübung der Landesverwaltung zu nähern. Je intensiver man sich mit der Art der Überlieferung und deren vielfältigen Inhalten beschäftigt, desto mehr weicht die eingangs befürchtete Spröde und Sperrigkeit des Themas. Neue Fragen entstanden und stellen bisheriges Wissen zur Sequestration infrage. Mit diesem Aufsatz werden allerdings nicht das Ziel und die Absicht verfolgt, die Quellen historisch auszuwerten. Das kann ein einzelner Beitrag zu solch einem komplexen Gebiet nicht leisten. Dieser Schritt steht noch aus. Wenn die hier skizzierte Bestandsaufnahme dazu beiträgt, die Vertreter der Historikerzunft an den einzelnen Blättern des dargebotenen Fächers der Schriftquellen zu interessieren und diese zu nutzen, hat der Archivar sein Ziel erreicht.

72 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 4344. 73 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 3280; Reg. Bb 3280a.

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Die Formierung evangelisch-lutherischer Domkapitel Beobachtungen aus dem nordost- und mitteldeutschen Raum (1525 bis 1581)

1. Vorbemerkungen Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gehörten die Domkapitel zu Brandenburg, Cammin, Havelberg, Magdeburg, Meißen, Merseburg und Naumburg oder die Stiftsdamen des Reichstifts in Quedlinburg fast ausnahmslos der Augsburger Konfession an. Nur einzelne Gemeinschaften, wie beispielsweise das Domkapitel zu Halberstadt, waren konfessionell zweigeteilt – römisch-katholisch und evangelisch-lutherisch. Das Weiter- und Fortleben lutherischer Kapitel ruft gelegentlich Verwunderung hervor, da ihre Existenz scheinbar nicht mit der reformatorischen Lehre übereinstimmt. Neben den Domkapiteln existierten obendrein im Norden und Nordosten des Alten Reiches noch einige wenige Kollegiatstifte, die ebenfalls der Augsburger Konfession angehört haben. Weder ihnen noch den Domkapiteln drohte die Säkularisation. All diese Gemeinschaften genossen den Schutz evangelischer Landesherren; fernerhin konnten sie sich aber auch auf den Augsburger Religionsfrieden berufen, der ihnen eine gewisse Rechtssicherheit gewährte. Um bzw. nach 1600 wurde nur ein einziges Stift säkularisiert. Am 25. Mai 1608 verfügte Kurfürst Joachim Friedrich von Brandenburg die Auflösung des Kollegiatstifts zu Cölln an der Spree. Der Kurfürst ordnete an, dass die Stiftskirche in eine oberste Pfarrkirche umzuwidmen sei und dass nach dem Tod der einzelnen Stiftsherren die Pfründen an die brandenburgische Landesuniversität Frankfurt an der Oder zu weisen seien. Die Erträge aus dem Stiftungsvermögen sollten in einen Stipendienfonds fließen, um leistungsstarke Studenten finanziell unterstützen zu können.1

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Gustav ABB/Gottfried WENTZ (Bearb.), Germania Sacra, Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 1: Das Bistum Brandenburg, Berlin 1929, S. 220; Walter VOSS, Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Universität Frankfurt a. O. 1506–1653, Diss. phil. Berlin 1939, S. 29–34.

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Die Entscheidung des Kurfürsten von 1608 erscheint als eine verspätete reformatorische Maßnahme, da – zumindest in der Frühzeit der Reformation – die Frage nach der Nutzung des Kirchengutes radikal im Sinne traditionell urkirchlicher Aufgaben beantwortet worden ist. Nach reformatorischem Verständnis waren die wirklichen Aufgaben einer evangelischen Kirche die Verkündigung und Seelsorge, die Fürsorge für die Armen und Notleidenden sowie schließlich die Bildung.2 Vor allem in der Frühzeit der Reformation hat sich Luther dezidiert – man denke an die Leisniger Kastenordnung – in diesem Sinne geäußert.3 Welche Konstellationen und Begleitumstände führten nun dazu, dass sich – trotz teilweise deutlicher Stellungnahmen der Reformatoren in den frühen 1520er Jahren – die Domkapitel sowie einige weitere Stifte als Körperschaften des protestantischen Kirchenrechts behaupten konnten? Diese Frage kann aus einer real- und machtpolitischen Perspektive (Integration von formal reichsständischen geistlichen Territorien in die mächtigen weltlichen Fürstentümer), aus einer pragmatischen Sichtweise (die Kapitel als Versorgungsanstalten für Konsistorien und Bildungseinrichtungen), aber auch aus einem juristischen Blickwinkel traktiert werden. Aus einer vorrangig kirchenrechtlichen Perspektive hatte Johannes Heckel Anfang der 1920er Jahre eine grundlegende Abhandlung vorgelegt, die auch gegenwärtig als das Standardwerk heranzuziehen ist.4 Da jedoch nach Erscheinen dieses wegweisenden Werkes inzwischen eine Vielzahl an kirchen- und profanhistorischen Studien vorgelegt wurde, erscheint es als geboten, das Thema der protestantischen Dom- und Kollegiatstifte abermals aufzurollen. Hinsichtlich der neueren Arbeiten sind einerseits Abhandlungen über die mittel- und norddeutschen Bischöfe und Domkapitel in vorreformatorischer Zeit,5 anderer2 3

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Michael BEYER, Die Neuordnung des Kirchengutes, in: Helmar JUNGHANS (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig ²2005, S. 93–114, hier S. 94. Martin BRECHT, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521– 1532, Berlin 1989, S. 74–77; BEYER, Neuordnung des Kirchengutes (wie Anm. 2), S. 98– 100. Johannes HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter Preußens, insbesondere Brandenburg, Merseburg, Naumburg-Zeitz. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 100 u. 101), Stuttgart 1924. Zu nennen sind besonders die Arbeiten von Enno BÜNZ. Vgl. Enno BÜNZ, Unter Krummstab und Schwert. Die mitteldeutschen Bistümer und ihre Bischöfe um 1500, in: Markus COTTIN (Hg.), Thilo von Trotha. Merseburgs legendärer Kirchenfürst, Merseburg 2014, S. 15–35; DERS., Mittelalterliche Domkapitel als Lebensform, in: Karin HEISE (Hg.), Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg, Petersberg 2004, S. 13–32. Zu neuerer Literatur und neuesten Forschungsergebnissen vgl. außerdem Hartmut KÜHNE/Enno BÜNZ/Thomas T. MÜLLER (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013; Enno BÜNZ/Hartmut KÜHNE (Hg.), Alltag und Frömmigkeit

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seits die grundlegenden, wenngleich noch nicht abgeschlossenen Forschungen zur Germania Sacra im mittel- und nordostdeutschen Raum und damit zum großen Teil zur Kirchenprovinz Magdeburg zu nennen.6 Ferner müssen die politik- und verfassungsrechtlichen Studien zu den protestantischen Bischofserhebungen7 sowie letztlich aber auch die Arbeiten (ebenfalls in Auswahl) zur allgemeinen Reformationsgeschichte und zum Weiterleben katholischer Lebensformen und/oder zum institutionellen Fortbestand von (nicht regulierten) Kanonissen- und Kanonikergemeinschaften benannt werden.8

2. Reformatorisches Bischofsamt, Superintendenten, evangelische Konsistorien (1521–1539) Da in den Domkapiteln alle mit einer Pfründe versehenen Weltgeistlichen umfasst waren, die an den Kathedralkirchen der Bischöfe ihren Dienst versahen bzw. verrichten sollten, gerieten die Dom- und Stiftsherren wie auch der katho-

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am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“ (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 50), Leipzig 2015. ABB/WENTZ (Bearb.), Das Bistum Brandenburg (wie Anm. 1); Gottfried WENTZ (Bearb.), Germania Sacra, Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 2: Das Bistum Havelberg, Berlin 1933; Fritz BÜNGER/Gottfried WENTZ (Bearb.), Germania Sacra, Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 3, Teil 2: Das Bistum Brandenburg, Berlin 1941; Heinz WIESSNER (Bearb.), Das Bistum Naumburg, Teil 1,1 u. 1,2: Die Diözese (Germania Sacra, NF 35/1 u. 2), Berlin 1997/1998; Hermann KINNE (Bearb.), Das (exemte) Bistum Meißen 1. Das Kollegiatstift St. Petri zu Bautzen von der Gründung bis 1569 (Germania Sacra, Dritte Folge 7), Berlin 2014. Vgl. u. a. Peter BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf als Bischof von Naumburg. Eine Untersuchung zur Gestalt des evangelischen Bischofsamtes in der Reformationszeit (Schriftenreihe des Vereins für Reformationsgeschichte, 179), Gütersloh 1961; HansUlrich DELIUS, Das bischoflose Jahr. Das Bistum Naumburg-Zeitz im Jahr vor der Einsetzung Nikolaus von Amsdorfs durch Luther, in: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 9 (1973/74), S. 65–95; Günther WARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 10), Weimar 1988, S. 190–203; Peter GABRIEL, Fürst Georg III. von Anhalt als evangelischer Bischof von Merseburg und Thüringen 1544–1548/50 (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII, 597), Frankfurt/Main u. a. 1997. In Auswahl: Clemens BLEY (Hg.), Kayserlich – Frey – Weltlich. Das Reichsstift Quedlinburg im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Studien zur Landesgeschichte, 21), Halle/Saale 2009; Annette KUGLER-SIMMERL, Bischof, Domkapitel und Klöster im Bistum Havelberg 1522–1598. Strukturwandel und Funktionsverlust (Studien zur brandenburgischen Landesgeschichte, 1), Berlin 2003.

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lische Episkopat ins Blickfeld der Reformatoren. Die Domkapitel waren integrativer Bestandteil der mittelalterlich-vorreformatorischen Bistumsverfassung. Aus diesem Grund erscheint es als notwendig, sich auf die reformatorischen Auffassungen hinsichtlich des Bischofsamtes zu konzentrieren. Aus Luthers Sicht verkörperten die Bischöfe sowie die Dom- und Stiftsherren das „Standespriestertum“ der alten Kirche. Sie lehnte er als privilegierte Standesgruppe grundsätzlich ab.9 Jedoch schätzte er einen Bischof als geistlichen Oberhirten, der sich verantwortungsvoll um seine Gemeinde kümmert, per se nicht gering. Im Gegenteil. Beispielsweise polemisierte er bereits im Jahr 1521 in der Kontroverse gegen Hieronymus Emser: „Priester und Bischof sind ein Ding in der Schrift“ – so die zugespitzte Formulierung in der im Frühjahr ausgegangenen Streitschrift „Antwort auf das überchristliche, übergeistliche und überkünstliche Buch des Bocks Emser zu Leipzig“.10 In der Frühphase der Reformation, als es auch noch bei Luther Vorstellungen von einer „Kirche in der Gemeinde“ gab, hofften er und seine Mitstreiter, eine evangelische Kirche von unten, also von den Gemeinden heraus, aufbauen und etablieren zu können. Dazu sollten die freie Wahl des Pfarrers sowie sogar Lehrentscheidungen durch die Gemeinde bzw. durch die Patronatsherren gehören. Für ein privilegiertes Standespriestertum war da kein Platz. In dieser frühen Aufbruchszeit sollte eine Kirchgemeinde – wie im Fall von Leisnig und der von Luther entworfenen Kastenordnung – unter Einbeziehung der lokalen kirchlichen und weltlichen Amtsträger versuchen, ihre Angelegenheit selbst zu regeln. Dies sollte konstitutiv für den Aufbau des evangelischen Kirchenwesens werden.11 Unabhängig von der Frage nach dem Kirchengut war ein offenes Problem, wer zukünftig die Geistlichen ordinieren sollte, obgleich dies in den frühen Zwanzigerjahren natürlich noch nicht als eine vordergründige Aufgabe angesehen wurde. Da es den Reformatoren in jenen Jahren selbstredend nicht um eine Kirchenspaltung, sondern allein um eine Reform der Kirche ging, hofften sie, dass die (alten) Bischöfe generell für Ordination und Konfirmation zuständig sein müssten – namentlich wegen der apostolischen Sukzession. Umso freudiger begrüßte daher Luther im Januar 1524 die Nachricht, dass sich der Bischof von Samland, Georg von Polenz, der Reformation angeschlossen hatte. Im Februar 1525 stellte er Polenzens Verhalten allen amtierenden Bischöfen im Reich vor Augen. Luther pries ihn, weil er das Evangelium angenommen habe, in bischöf9 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 6. 10 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1: Werke, Bd. 7, Weimar 1897, S. 614–688, hier S. 631. 11 Ralf THOMAS, Wirkungen der Reformation auf die Kirchenverfassung des EvangelischLutherischen Landeskirche Sachsens, in: DERS., Stiftsland Wurzen – Sächsische Kirchenverfassung – Historische Kirchenkunde. Aufsätze zur sächsischen Kirchengeschichte (Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 15), Leipzig 2011, S. 140–155, hier S. 145.

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licher Verantwortung lehre und reformatorische Prediger unterstütze.12 Das Beispiel des Samländer Bischofs zeigt, dass Luther wohl in der Zeit des Aufbruchs noch hoffte, die traditionellen episkopalen Strukturen reformieren zu können. Zu dieser Zeit erfuhr er jedoch bereits durch eigene Einsichten – zum Beispiel auf seiner Visitationsreise durch Ostthüringen im Spätsommer 1524 –, dass es infolge der theologischen, religiösen und liturgischen Heterodoxien, obwohl sich diese allesamt gegen das römische Dogma stellten und evangelische Lehren postulierten, zwingend notwendig erschien, im Sinne bischöflicher Aufsichtspflicht und Ordnung einzugreifen. Für ihn sowie für den späteren Kurfürsten Johann und für Herzog Johann Friedrich erschien es als zweckmäßig und notwendig, innerkirchliche Hierarchien zu stärken – nicht zuletzt und vor allem aufgrund der Erfahrungen mit den „Schwärmern“. Die Stärkung bzw. der Neuaufbau kirchlicher Strukturen hatte demnach nicht ausschließlich etwas mit dem Kampf um die Deutungshoheit unter den Reformatoren zu tun, sondern es ging vielmehr um die „Ordnung und Abgrenzung“ (Martin Brecht) der evangelischen Lehre. Aus dem Grund beantragte Luther am 22. November 1526 beim Kurfürsten eine Kirchen- und Schulvisitation.13 Die landesfürstliche Administration sollte und musste dieses Vorhaben unterstützen. Luthers Antrag erscheint umso bemerkenswerter, da er fast zeitgleich, nämlich im Januar 1527, den Entwurf einer Gesamtordnung für eine hessische Landeskirche abgelehnt hatte.14 Dort, in Hessen, war er gegen eine zu starke Einflussnahme landesherrlicher Gewalt, in Kursachsen hingegen erachtete er ihr Mitwirken als notwendig. Sehr offensichtlich setzte sich erst allmählich und in einem widersprüchlichen Erkenntnisprozess bei den Wittenberger Theologen die Einsicht durch, dass es notwendig sei, die Ordinations-, Visitations- und Inspektionsgewalt zu bewahren und zu stärken. Wie sehr es Luther dabei um die Wiederherstellung und Neubelebung episkopal-apostolischer Autorität ging, zeigen nicht zuletzt seine Schreiben aus dieser Zeit an Spalatin in Altenburg, Hausmann in Zwickau und Myconius in Gotha, die er allesamt als Bischöfe ansprach; Justus Jonas wurde – aufgrund seiner überörtlichen Tätigkeit – sogar als „Erzbischof“ von Sachsen bzw. von Meißen bezeichnet.15 Während der wenig erfolgreichen Visitation im Jahr 1527 durch kurfürstliche Räte sowie Wittenberger Juristen und Theologen entwarf Melanchthon Artikel, 12 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 28. 13 BRECHT, Martin Luther (wie Anm. 3), S. 253–256; GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 16. 14 THOMAS, Wirkungen der Reformation (wie Anm. 11), S. 145. Luthers ablehnendes Schreiben an Landgraf Philipp von Hessen vom 7. Januar 1527 in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 4: Briefe, Bd. 4: 1526–1528, Weimar 1933, S. 157 f., Nr. 1071. 15 BRECHT, Martin Luther (wie Anm. 3), S. 254.

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die als praktische Handhabe und theologische Richtschnur für eine landesweite Visitation im Kurfürstentum Sachsen anzuwenden seien. Sein Entwurf wurde von einer Kommission überarbeitet und für die Veröffentlichung vorbereitet. Luther steuerte für den Druck eine Vorrede bei. Schließlich lag der „Unterricht der Visitatoren“ im März 1528 gedruckt vor.16 Sowohl in Luthers Vorrede als auch im „Unterricht“ selbst wurden die Aufgaben der Episkope deutlich benannt. Ausdrücklich ist davon die Rede, dass – da die amtierenden Bischöfe unwillig sind, ihre Aufgaben wahrzunehmen – die landesfürstliche Autorität als eine von Gott verordnete Obrigkeit anzuhalten sei, die bischöflichen Aufgaben wieder neu aufzurichten.17 Im „Unterricht der Visitatoren“ wurde angedacht, diese Angelegenheiten den Superintendenten als „evangelische Bischöfe“ zu übertragen. Die Idee, Superintendenten einzusetzen, war bereits in der ersten Visitationsinstruktion von 1527 formuliert worden.18 Infolge der evangelischen Visitationen von 1527 und 1528/29 sowie der Einsetzung von Superintendenten mussten die Widersprüche zwischen dem sächsischen Kurfürsten einerseits und den in seinem Herrschaftsbereich amtierenden Bischöfen andererseits schroff zusammenstoßen. Formal herrschten allerorts noch die katholischen Bischöfe, obgleich ihre realpolitische Wirkmacht inzwischen – wie beispielsweise im Bistum und Hochstift Naumburg – eingeschränkt war.19 Wie erwähnt, sehnte Luther in den Zwanziger- und Dreißigerjahren noch keine kurfürstliche Staats- oder Landeskirche herbei. Mit Blick auf den katholischen Episkopat im Reich war es indes besonders problematisch, dass ein jeder Bischof über die geistliche und weltliche Herrschaft verfügt hat. Die deutschen Bischöfe waren nicht allein die kirchlichen Oberen, sondern sie waren zugleich auch – wie dies bereits 1231 der askanische Herzog Albrecht von Sachsen formuliert hatte – „Fürsten und Herren“.20 Auf diese Weise übten Kardinal Albrecht (1514–1545), als Erzbischof 16 Zum Forschungsstand vgl. Joachim BAUER/Stefan MICHEL (Hg.), Der „Unterricht der Visitatoren“ und die Durchsetzung der Reformation in Kursachsen (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 29), Leipzig 2017; Doreen VON OERTZEN BECKER, Die Kirchenpolitik Kurfürst Johann des Beständigen, in: WERNER GREILING u. a. (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel (Veröffentlichungen der Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 50), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 93–121; Dagmar BLAHA, Die Entwicklung der Visitationen als Mittel zur Durchsetzung der Kirchenreformation in Kursachsen, in: ebd., S. 123–144, hier S. 142 f. 17 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 17. 18 Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Abteilung 1: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten, 1. Hälfte: Die Ordnungen Luthers. Die ernestinischen und albertinischen Gebiete, hg. von Emil SEHLING, Leipzig 1902, S. 142–148. 19 WIESSNER (Bearb.), Bistum Naumburg (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 152–178. 20 BÜNZ, Unter Krummstab und Schwert (wie Anm. 5), S. 15.

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von Mainz und Magdeburg und Administrator von Halberstadt, sowie die Bischöfe zu Brandenburg (Dietrich von Hardenberg, 1520–1526), Merseburg (Adolf von Anhalt, 1514–1526), Meißen (Johann von Schleinitz, 1518–1537) und Naumburg (Philipp von Wittelsbach, 1517–1541) im Jahr 1525, also in jenem Jahr, in dem sich der Kurfürst Johann von Sachsen offen und eindeutig zur Reformation bekannt hat, im erweiterten mittel- und nordostdeutschen Raum Herrschaft in ihren Erz- und Hochstiftsgebieten aus. Zu dieser Zeit scheint das religiös-geistliche Leben in vielen Gemeinden komplett zusammengebrochen zu sein. Ein Indikator dafür sind die lokalen Kirchenrechnungen, die für eben jenes Jahr in weiten Teilen Kursachsens fast komplett fehlen.21 Das Wirken der ersten Superintendenten nach der erfolgreichen Visitation von 1528/29 ist schwer zu beurteilen. Die evangelischen Superintendenten bekamen eine größere (und einkommensstarke) Stadtpfarre zugewiesen, von wo sie – wie ursprünglich die katholischen Bischöfe – ordinieren, visitieren und inspizieren sollten (ordinatio, visitatio et inspectio). Nicht unwichtig erscheint die Beobachtung, dass alle der circa 25 Superintendenturen in unmittelbarer Nähe zu einem kursächsischen Amtsschloss eingerichtet wurden. Nichts verdeutlicht die enge Verbindung von geistlicher Aufsicht und Kontrolle sowie von weltlicher Herrschaft besser als dieser Umstand – hier der evangelische Superintendent, dort der kursächsische Amtmann.22 Die Wirksamkeit der ernestinischkursächsischen Superintendenten hing vorerst im hohen Maße von ihrem persönlichen Einsatz ab. Georg Spalatin hat sich beispielsweise als Altenburger Superintendent im hohen Maße engagiert, jedoch auch aufgerieben.23 Ob man in Kursachsen zwischen dem Frühjahr 1528 und der Übergabe der Confessio auf dem Reichstag zu Augsburg im Juni 1530 noch an die Fortexistenz der überkommenden episkopalen Verfassung der Kirche insgesamt geglaubt und gehofft hat, muss mangels Quellen offenbleiben. Die Installation von Superintendenten spricht im Grunde dagegen. Sie lässt es auch als wenig wahrscheinlich erscheinen, dass man aus kursächsisch-wittenbergischer Sicht in den evangelischen 21 Uwe SCHIRMER, Unerschlossene Quellen zur Reformationsgeschichte: Kirchenrechnungen aus dem ernestinischen Kursachsen (1514–1547), in: Winfried MÜLLER (Hg.), Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Kleine Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 12), Dresden 2008, S. 107–123. 22 THOMAS, Wirkungen der Reformation (wie Anm. 11), S. 147; Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2, Jena 1947 [ND Weimar 2000], S. 25–33 u. 143–145; Karl PALLAS, Die Superintendenten des Kurkreises, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 3 (1906), S. 88–129. 23 Björn SCHMALZ, Georg Spalatin und sein Wirken in Altenburg (1525–1545) (Veröffentlichung des Thüringischen Staatsarchivs Altenburg), Beucha 2009, S. 71–76.

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Bischöfen im inzwischen säkularisierten Deutschordensland Preußen (Georg von Polenz, Erhard von Queiß, Paul Speratus) ein handhabbares Vorbild oder Modell gesehen hat. Zum einen war die realpolitische und weltliche Macht der dortigen Bischöfe infolge der engen Inkorporation in den Deutschen Orden von vornherein nur gering – dies unterschied sie gravierend vom Episkopat im Reich. Noch schwerer wog, dass die samländischen und pomesanischen Domkapitulare als Ordenspriester dem Orden angehört haben und dass sie sich nicht – trotz der reformatorischen Tätigkeit der Bischöfe Georg von Polenz und Erhard von Queiß – an der Reformation beteiligt haben. Die samländischen Domherren ließen sich nach 1525 über ein Kammeramt versorgen. Die pomesanischen Herren leisteten anfänglich sogar Widerstand gegen die evangelischlutherische Lehre. Erst als ihnen eine angemessene Versorgung zugesagt wurde, gaben sie 1527 ihren Widerstand auf. Beide Kapitel hörten um 1527 als geistliche Körperschaften auf zu existieren, obgleich die noch lebenden Kapitulare weiterhin ihre Pfründen nutzten.24 Der Bruch mit der episkopalen Verfassung der römischen Kirche zeichnete sich letztlich 1530 ab. Nach dem Augsburger Reichstag versicherten die Reformatoren wiederholt in „solenner Weise“ (Peter Brunner), an der alten Kirchenverfassung gern festhalten zu wollen; jedoch nur unter der Bedingung, dass die Bischöfe die zukünftigen evangelischen Pfarrer auch ordinieren und konfirmieren.25 Die Stellung und Meinung des katholischen Episkopats in dieser Frage war eindeutig. Eine konditionalgeschichtliche Rückschau erscheint hinsichtlich der Frage, wer denn nunmehr für die sich abzuzeichnende Kirchenspaltung die Verantwortung zu tragen habe, als wenig erkenntnisfördernd. Weitaus wichtiger ist indes der Hinweis, dass die Ordinationen um und nach 1530 vorrangig von Luther und Bugenhagen vorgenommen worden sind und nicht von den evangelischen Superintendenten.26 Am 12. Mai 1535 befahl Kurfürst Johann Friedrich schließlich den Superintendenten, die Kandidaten für das geistliche Amt nach erfolgter Prüfung an die Theologische Fakultät der Wittenberger Universität zu 24 Bernhart JÄHNIG, Die evangelisch-lutherischen Bistümer des Herzogtums Preußen (bis 1587), in: Klaus NEITMANN (Hg.), Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat. Die Religionsfrage in den brandenburgisch-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Brandenburg/Havel 2017 (im Druck). – Ich habe Herrn Bernhart Jähnig für die Überlassung des druckfertigen Manuskripts zu danken. 25 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 11. 26 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 20 f.; Georg BUCHWALD (Hg.), Wittenberger Ordiniertenbuch, Erster Band: 1537–1560, Leipzig 1894. Zum herausragenden Wirken Bugenhagens bei den Ordinationen seit 1537 vgl. Norbert BUSKE, Johannes Bugenhagen. Sein Leben, seine Zeit, seine Wirkungen. Mit Beiträgen von Irmfried Garbe, Felix Biermann, Heinrich Kröger, Doris Dunsch und Gottfried Naumann (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 14), Schwerin 2010, S. 43–46.

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verweisen, so dass fortan die dortigen Professoren, allen voran Luther und Bugenhagen, als kursächsische Ordinatoren agierten. Die Superintendenten wurden demnach in den 1530er Jahren wohl nur als ein Provisorium betrachtet.27 Den Anstoß, feste und dauerhafte kirchenrechtliche Strukturen neben den bzw. über die Superintendenturen zu schaffen, gaben die kursächsischen Landstände auf dem großen Ausschusstag zu Torgau im Jahr 1537. Sie beantragten beim Kurfürsten die Errichtung von vier speziellen Behörden, die für die Rechtsprechung in Kirchensachen zuständig sein sollten. Die vier Dienststellen sollten offensichtlich in den vier kursächsischen Landesteilen (Kurkreis, Meißen, Vogtland/Osterland, Thüringen/Franken) eingerichtet werden. Im Antwortschreiben des Kurfürsten aus dem Jahr 1538 werden diese Behörden erstmals als „Konsistorien“ im evangelischen Sinne bezeichnet.28 Ob die in Gang gekommene eigene kirchenrechtliche Entwicklung durch den Lauf der allgemeinen politischen Geschichte bestärkt wurde – man denke an die leidlichen politischen Einigungen im Nürnberger und Frankfurter Anstand (1532, 1539) – muss unbeantwortet bleiben.29 Jedenfalls war es vom episkopalen Wirken der Wittenberger Theologischen Fakultät und der landständischen Forderung von 1537 bis zum ersten evangelischen Konsistorium, das 1539 in Wittenberg eingerichtet worden ist, sowie zur allmählichen Herausbildung eines protestantischen Kirchenrechts nur noch ein kleiner, wenngleich äußerst beschwerlicher Schritt.30 Kurfürst Johann Friedrich übergab das landständische Ersuchen im Jahr 1538 einer Kommission zur Begutachtung, die sich aus den Theologen Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Caspar Cruciger und Johannes Bugenhagen sowie den Juristen Hieronymus Schurff und Benedikt Pauli zusammensetzte. Geraume Zeit später lagen „Bedenken“ der Theologen vor. Der weitere Fortgang der Diskussion kann knapp zusammengefasst werden: Die Kommission äußerte sich zu den Kompetenzen und zur personellen Ausstattung der Konsistorien. Die Frage, wo sie ihren Sitz haben sollten (Wittenberg und Saalfeld waren vorgesehen), sowie das Problem, wie viele Personen zu berufen seien und wie man sie zu besolden habe, wurden vorerst nicht erörtert. Als in Wittenberg sodann ein Konsistorium eingerichtet worden ist, wurde es mit gelehrten Personen besetzt (Johannes Agricola, Basilius Monner, Justus Jonas d. Ä., Kilian 27 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 21. 28 Heiner LÜCK, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423–1550 (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, 17), Köln/Weimar/Wien 1997, S. 144 f. 29 Uwe SCHIRMER, Sachsen und die Reichspolitik, in: JUNGHANS (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation (wie Anm. 2), S. 219–237, hier S. 228. 30 Vgl. dazu generell Ralf FRASSEK, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit. Der Aufbau neuer Rechtsstrukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums (Jus Ecclesiasticum, 78), Tübingen 2005; LÜCK, Kursächsische Gerichtsverfassung (wie Anm. 28), S. 142–155.

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Goldstein d. Ä.),31 die, außer Agricola, alle dem Lehrkörper der Leucorea angehört haben, so dass die Besoldungsfrage größtenteils als gelöst erschien.32 Ohne vorzugreifen, sei angemerkt, dass zwischen 1539 und 1544/45 fortwährend im Umkreis der maßgeblichen Theologen, Juristen und Hofräte erörtert wurde, in welchen Städten man sowohl im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen als auch im albertinischen Herzogtum, in dem im Frühjahr 1539 die Reformation eingeführt worden war, evangelische Konsistorien einzurichten gedenke. Die auf den ersten Blick nur logistisch-organisatorische Frage berührt endlich auch das eingangs aufgeworfene Problem, auf welchem Weg es zur Herausbildung evangelischer Domkapitel kommen konnte. Neben Wittenberg sind als möglich Standorte Plauen, Zeitz, Zwickau, Saalfeld, Leipzig, Merseburg und Meißen genannt worden. Unschwer ist zu sehen, dass es entweder landschaftliche Zentralorte (Plauen im Vogtland, Zwickau fürs Erzgebirge), die beiden Universitätsstädte oder eben die drei unter wettinischer Oberherrschaft stehenden Bischofsstädte Naumburg-Zeitz, Meißen und Merseburg waren. Nach dem Schmalkaldischen Krieg wurden schließlich im inzwischen albertinischen Kurfürstentum Sachsen Konsistorien in Wittenberg, Meißen und Leipzig sowie Stiftskonsistorien in Merseburg, Zeitz und Wurzen eingerichtet.33 Die Wahl von Wurzen, wo es ein Kollegiatstift gab, hing mit dem nach wie vor katholischen Bischof fürs Bistum Meißen zusammen. Er, Bischof Johann IX. von Haugwitz, amtierte von 1555 bis zu seiner Kapitulation im Jahr 1581. Auf alle Fälle hatte die lutherische Kirche im albertinischen Kursachsen nach der Jahrhundertmitte mit den Superintendenten, den einschlägigen Kirchenordnungen und mit den Konsistorien institutionelle Gestalt angenommen.34 Und welchen Platz sollten die Kapitulare der Domkapitel einnehmen? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick in die vorreformatorische Universitäts- sowie in die Merseburger Reformationsgeschichte überaus lehrreich.

31 Ebd., S. 146. 32 Monner und Goldstein gehörten der Juristischen, Jonas der Theologischen Fakultät an. Vgl. Heiner LÜCK, Lehrpersonal und Lehrprofil der Leucorea zwischen Neufundation (1536) und Tod Melanchthons (1560) – Die Juristische Fakultät, in: Matthias ASCHE u. a. (Hg.), Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 26), Leipzig 2015. S. 165–189, hier S. 176–178; Armin KOHNLE, Lehrpersonal und Lehrprofil der Leucorea zwischen Neufundation (1536) und Tod Melanchthons (1560) – Die Theologische Fakultät, in: ebd., S. 149–163, hier S. 156. 33 LÜCK, Kursächsische Gerichtsverfassung (wie Anm. 28), S. 149–151. 34 Ebd., S. 153.

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3. Das (gescheiterte) Merseburger Modell – das Domkapitel als „Senatus et Consistoria Episcopales“ des evangelischen Bischofs Georg von Anhalt (1544–1548/50)35 Es wurde angedeutet, dass die Frage nach der Versorgung der evangelischen Konsistorialräte vorerst ungelöst blieb. Eine Möglichkeit war es – wie in Wittenberg im Jahr 1539 –, auf besoldetes Universitätspersonal zurückzugreifen. Eine derartige Praxis entsprach durchaus spätmittelalterlichen Gepflogenheiten – nicht zuletzt im wettinischen Herrschaftsbereich. So wurden an der Universität Leipzig seit 1413 bzw. 1421 insgesamt sechs Ordinariate über Meißner, Naumburger, Zeitzer und Merseburger Stiftskanonikate finanziert.36 Bekanntermaßen griff Markgraf Friedrich IV. im Zuge der Leipziger Universitätsgründung im Jahr 1409 auf Kirchenvermögen zurück, um die Hohe Schule aufzurichten. Dafür boten sich die Kanonikate von Dom- oder Kollegiatstiften an, besonders wenn der Universitätsgründer die Patronats- und ggf. Präsentationsrechte bzw. die Kollatur besaß. Als Beispiele sind faktisch alle mittelalterlichen Universitäten des Reiches anzuführen.37 Auch die Universität Wittenberg muss genannt werden. Ihre materielle Keimzelle war das Wittenberger Allerheiligenstift, dass 1507 in die Universität inkorporiert wurde. In der nachfolgenden Zeit wurde das Stift weiter mit reichen Zuwendungen bedacht und ausgestattet; u. a. wurde es um den sog. Neuen Chor erweitert. Er umfasste fünf neue Präbenden, so dass es anstatt der sieben alten Kanonikate nunmehr derer zwölf gab, die allesamt für den universitären Lehrbetrieb in Wittenberg reserviert waren und nach 1507 sukzessive dafür auch verwendet worden sind.38 35 Zu diesem Abschnitt vgl. generell und grundsätzlich GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7). 36 Markus COTTIN, Die Leipziger Universitätskanonikate an den Domkapiteln von Meißen, Merseburg und Naumburg sowie am Kollegiatstift Zeitz im Mittelalter (1413–1542), in: Detlef DÖRING (Hg.), Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen (Beiträge zur Leipziger Universitätsund Wissenschaftsgeschichte. Reihe A, 4), Leipzig 2007, S. 279–312, hier S. 280 f. 37 Christian HESSE, Pfründen, Herrschaften und Gebühren. Zu Möglichkeiten spätmittelalterlicher Universitätsfinanzierung im Alten Reich, in: Rainer Christoph SCHWINGES (Hg.), Finanzierung von Universität und Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 6), Basel 2005, S. 57–86. 38 Uwe SCHIRMER, Die finanziellen Grundlagen der Universitäten Leipzig, Wittenberg und Jena im Vergleich (1409–1633), in: Stefan MICHEL/Christian SPEER (Hg.), Georg Rörer (1492–1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 15), Leipzig 2012, S. 75– 103, hier S. 98–98

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Auf dieses Finanzierungsmodell wollte man hinsichtlich der Versorgung der Konsistorialräte im albertinischen Herzogtum 1544/45 bzw. im Merseburger Stiftsgebiet zurückgreifen. Die Schutzherrschaft über das Bistum beanspruchten seit 1485 die albertinischen Wettiner. Nachdem im Hochstift Merseburg die Reformation im Mai 1544 eingeführt worden war, verfolgte Herzog Moritz eine Kirchenpolitik, die – im Gegensatz zur ernestinischen Politik in Naumburg nach 1542 – auf Konsens und nicht auf Konfrontation ausgerichtet war. Der albertinische Herzog visierte die territoriale Integration des Merseburger Stiftsgebietes in das albertinische Sachsen an. Parallel dazu sollten die kirchlichen Verhältnisse im Stiftsterritorium mit Billigung des Kaisers und unter Berücksichtigung der Interessen des Domkapitels neu geordnet werden: Letztendlich stand die Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt auf dem Plan. Ein evangelischer Bischof sollte eingesetzt und an seine Seite ein Administrator gestellt werden; der Administrator hatte für weltliche Sachen die Verantwortung zu tragen.39 Für das Administratorenamt hatte Herzog Moritz seinen Bruder, den Herzog August, im Blick. Für das Bischofsamt war der Magdeburger Dompropst und Merseburger Kapitular Fürst Georg III. von Anhalt vorgesehen. Er erschien als die geeignete Persönlichkeit. Bereits bei der Naumburger Bischofswahl 1542 war er im Gespräch gewesen. Luther und Melanchthon hatten sich für ihn ausgesprochen; Kurfürst Johann Friedrich zog schließlich Nikolaus von Amsdorf vor, da in den Augen des ernestinischen Fürsten der Naumburger Bischof nur als hervorgehobener Superintendent fungieren sollte.40 Georg von Anhalt, geboren 1507, hatte mit Unterstützung seines Onkels, des Bischofs Adolf von Merseburg, 1518 ein Merseburger Kanonikat erlangt. Bereits 1520 wurde er zum Koadjutor und Nachfolger des Fürsten Magnus von Anhalt als Magdeburger Dompropst ernannt, wozu er 1518 ausersehen worden war.41 1524 wurde er zum Priester geweiht, um seinem Onkel Magnus († 1524) im Amt des Magdeburger Dompropstes nachfolgen zu können. Georg, umfassend humanistisch gebildet, suchte seit 1530 Kontakt zu den Wittenberger Reformatoren. Nach dem Tod seiner Mutter (1530) übernahm er zusammen mit seinen Brüdern die weltliche Herrschaft in ihrem Teil des anhaltinischen Fürstentums und beförderte die evangelische Lehre. 1534 wurde sie im gesamten Fürstentum Anhalt-Dessau eingeführt. Seit 1537 beriet er den brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. in der Kirchenpolitik. Georg wird als Hauptverfasser der märkischen Kirchenordnung 39 WARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (wie Anm. 7), S. 191. 40 Franz LAU, Georg III. von Anhalt (1507–1553), erster evangelischer „Bischof“ von Merseburg. Seine Theologie und seine Bedeutung für die Geschichte der Reformation in Deutschland, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 1953/54 (Heft 2/3), S. 139–152. 41 Zu Georg von Anhalt vgl. GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 70–86.

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des Jahres 1539/40 angesehen.42 Nicht nur unter diesen Gesichtspunkten erschien er als Kandidat für das Merseburger Bischofsamt bestens geeignet. Wie erwähnt, gehörte er selbst dem Kapitel an und fungierte 1544 als dessen Senior. Unmittelbar nach dem Tod von Bischof Sigismund, der seit 1535 die Cathedra inngehabt hatte, traten die albertinischen Räte in Verhandlungen mit Georg von Anhalt sowie mit dem Kapitel, um die Wahl und Einführung reibungslos durchzuführen. Zwar traten nicht wenige Probleme auf, die indes aus dem Weg geräumt werden konnten, so dass Georg von Anhalt letztlich im Mai 1544 als Koadjutor eingeführt wurde. An seiner Seite stand als Administrator für weltliche Sachen Herzog August von Sachsen, der Bruder des regierenden Herzogs Moritz. Die Grundlage für dieses „Verfassungsmodell“ war ein Vertrag vom 14. Mai 1544, den die beiden albertinischen Herzöge mit dem Merseburger Domkapitel geschlossen hatten.43 In dem Vertrag sicherten die albertinischen Wettiner dem Kapitel alle althergebrachten Rechte zu. Im Gegenzug billigte das Domkapitel die Einsetzung des Koadjutors sowie des Administrators. Wie erwähnt, oblag Herzog August als Administrator die weltliche Herrschaft über das gesamte Stiftsterritorium. Koadjutor in geistlichen Sachen wurde Georg von Anhalt, dem Herzog Moritz außerdem die Religionsaufsicht über das albertinische Thüringen übertrug. Hinsichtlich der Präbenden der Domherren wurde selbstverständlich keine Änderung vorgenommen. Interessant erscheint indes, wie Herzog August und Georg von Anhalt versorgt worden sind. Die kompletten Einkünfte des Merseburger Stiftsterritoriums (ohne die der Domherren) verwaltete Herzog August. Sie schwankten in der Mitte der Vierzigerjahre zwischen 12.000 und 16.000 Gulden.44 Da jedoch die fürstliche Hofhaltung des Administrators August weit mehr Mittel verschlang, als ihm aus den Stiftsgütern zuflossen, billigte sein Bruder Moritz, dass August außerdem die Einnahmen aus thüringischen Ämtern, Städten und sequestrierten Klöstern nutzen konnte.45 Damit 42 Franz SCHRADER, Anhalt, in: Anton SCHINDLING/Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfessionen 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 50), Münster 1996, S. 88–101; WARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (wie Anm. 7), S. 197 f. 43 Erich BRANDENBURG (Hg.), Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bd. 2 (Bis zum Ende des Jahres 1546) (Aus den Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte, [9]), Leipzig 1904, S. 84–87, Nr. 602. 44 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 8030, Acta, die Teilung zwischen Hz. Moritz und Hz. August betreffend (1544), fol. 25r–48r. 45 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 8030, Acta, die Teilung zwischen Hz. Moritz und Hz. August betreffend (1544). Vgl. hierzu auch Woldemar WENCK, Kurfürst Moritz und Herzog August, in: Archiv für sächsische Geschichte 9 (1871), S. 381–427.

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stand ihm tatsächlich eine fürstliche Versorgung zu, was nicht zuletzt Moritzens Absicht gewesen war. Als ruchbar wurde, dass dem Herrn Administrator alle altbischöflichen Einkünfte zur Versorgung bereitstanden, protestierte Luther scharf. Unverhohlen sprach er von einem „Raub der Kirchengüter“; nie habe er zu einer Umwandlung von bona ecclesiastica in bona politicia geraten.46 Damit wies Luther auf die Unzulänglichkeiten des „Merseburger Modells“ hin: Zweckentfremdung von Kirchengut. Jedoch barg das „Merseburger Modell“ auch Chancen in sich. Es gründete sich auf den Konsens mit dem Domkapitel, es erfüllte eine grundlegende Forderung der Reformation (Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt), und Georg von Anhalt verlieh dem Bischofsamt auch ohne weltliche Macht eine geistliche und kirchliche Selbständigkeit, die es – sucht man den Vergleich mit Nikolaus von Amsdorf – so in Naumburg nicht gegeben hatte. Hinsichtlich der materiellen Versorgung bewegten sich die Einkünfte des Georg von Anhalt auf bedeutend niedrigerem Niveau. Ihm blieben die Erträge aus der Magdeburger Dompropstei erhalten; außerdem überwies ihm August jährlich 3.000 Gulden sowie verschiedene Naturalien. Die Weihe zum evangelischen Bischof von Merseburg und Thüringen erfolgte am 2. August 1545 im Merseburger Dom durch Martin Luther.47 Da Georg von Anhalt nur die geistliche Herrschaft ausübte, hatte ihm Herzog Moritz auch Gebiete zur Aufsicht angetragen, die zwar aus einer weltlich-territorialpolitischen Perspektive betrachtet zum albertinischen Herzogtum zählten, die indes bezüglich der (alten) Diözesanstrukturen zur Kirchenprovinz Mainz gehört haben – vor allem betraf es albertinisches Territorium westlich der Saale bzw. an der Unstrut. Aus diesem Grund führte Georg von Anhalt auch den Titel eines Bischofs von Thüringen. Für die inzwischen mehrfach aufgeworfene Frage nach der Zukunft der Domherren ist die Person des Georg von Anhalt besonders aufschlussreich. Es wurde gesagt, dass er selbst dem Merseburger Kapitel angehörte und über ein Magdeburger Kanonikat verfügt hat. Insofern verkörpert er idealtypisch einen canonicus ecclesiae maioris, der sich gänzlich Luthers Lehre angeschlossen hatte. Aufschlussreich ist indes auch seine Bischofsweihe. Neben Martin Luther, der als Ordinator agierte, nahmen als Zelebranten die Amtsinhaber der Superintendenturen von Leipzig (Johannes Pfeffinger), Merseburg (Anton Musa), Halle (Justus Jonas d. Ä.) und Weißenfels (Wolfgang Stein) sowie Pastoren aus Merseburg, Lützen, Laucha und Roßlau teil. Entscheidend erscheint, dass auch der Dekan des Merseburger Kapitels, Sigismund von Lindenau (ein Verwandter des gleichnamigen im Jahr 1544 verstorbenen katholischen Bischofs), eng ins Zeremoniell eingebunden war. Ferner wohnten die Domherren Franz von Schön46 WARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (wie Anm. 7), S. 201. 47 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 148 f.

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berg, Johannes Storck, Jodocus Maler und Franziskus Judicis dem Weihegottesdienst persönlich bei.48 Letzterer besaß eine Lektoralpräbende und lehrte folglich an der Universität Leipzig. Georg von Anhalt sah sich selbstverständlich in der Tradition mittelalterlicher Episkope. Dies unterstreicht auch die Tatsache, dass der gesamte Weiheakt in die seit 1469 ununterbrochen geführten Merseburger Matricula ordinatorum Aufnahme gefunden hat.49 Nach Georgs Ordination stand die Einrichtung eines evangelischen Konsistoriums auf der Agenda. Dies entsprach seinen Vorstellungen hinsichtlich der Ausübung des Bischofsamtes, obgleich es in Merseburg mit Anton Musa bereits einen Superintendenten gab. Bezüglich der Besetzung des Konsistoriums wünschte Bischof Georg, jeweils zwei Theologen und Juristen ernennen zu können, die mittels erledigter Präbenden versorgt werden sollten. Im noch zu schaffenden bischöflichen Konsistorium sollten ferner ein Protonotar, ein Vorsitzender sowie weitere Notare und Schreiber angestellt sein. Betreffs der Besoldung sowie bezüglich der Kompetenzen sah Georg von Anhalt im bischöflichen Konsistorium einen Senatus et Consistoria Episcopales, die durchaus in der Tradition des vorreformatorischen Domkapitels stehen sollten. Über personelle Kontinuitäten schwieg sich Georg aus. Möglich wären sie gewesen, da von den oben genannten vier bei der Weihe anwesenden Domherren mindestens drei promoviert waren. Auf alle Fälle hoffte Georg – die letzte Entscheidung behielten sich die albertinischen Fürsten bzw. ihre Hofräte vor –, dass die Präbenden des Kapitels dafür zur Verfügung stünden. Da dies im Sommer 1545 jedoch unrealistisch war, schlug er vor, vorerst Mittel aus dem Merseburger Peterskloster zu nutzen. Kurzfristig reichte aber auch dies nicht aus, um das Vorhaben zu verwirklichen. Der evangelische Bischof betonte ausdrücklich, dass es „stattlicher Stipendien“ bedürfe, um „geschickte Leute“ gewinnen zu können.50 Es ist bemerkenswert, dass fast zeitgleich auch in Wittenberg derartige Fragen erörtert worden sind. Am 11. Februar 1540 schrieb Philipp Melanchthon an den Stadtrat von Quedlinburg, dass es nicht recht gewesen sei und auch jetzt nicht recht ist, dass man die Pfarrherren und Schulen wüst macht und daneben „müßige Personen, sie heißen Domherren, Mönche oder Nonnen“, versorgt.51 Demnach war für ihn das „Standespriestertum“ scheinbar entbehrlich und besaß offenkundig 48 Ebd., S. 149. 49 Georg BUCHWALD (Hg.), Die Matrikel des Hochstifts Merseburg 1469 bis 1558, Weimar 1926, S. 177 f. 50 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 198–200. 51 Max LORENZ, Die Kirchenordnungen des Stifts und der Stadt Quedlinburg, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 4 (1907), S. 32–93, hier S. 54 (zitiert nach der aktuellen Orthographie, U.S.); HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 14.

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keine Existenzberechtigung. Die konkreten Wittenberger Verhältnisse widersprechen jedoch dieser Annahme. Ohne die Reform- und Reformationsvorgänge am Wittenberger Allerheiligenstift und an der Universität im Detail rekonstruieren zu wollen,52 muss darauf verwiesen werden, dass es aus Sicht der Reformatoren zu keiner Zeit um eine Beseitigung der Dom- und Kollegiatstifte ging, sondern vor allem um deren Reform. Noch Luthers Vorstellungen – man denke an seine Adelsschrift von 1520 oder an seine Reformvorschläge bezüglich des Kultus und der Liturgie im Wittenberger Allerheiligenstift von 1523 – sollten die Weltgeistlichen vorrangig für Ausbildung und Erziehung an Universitäten und Schulen herangezogen werden.53 In gewisser Weise diente auch das Wittenberger Allerheiligenstift als Vorbild für derartige Transformationsprozesse. Prägnanter wurde es indes in der Wittenbergischen Reformation von 1545 (Kirchenordnung) formuliert. Sie wies den die Reformation gefolgten Dom- und Stiftsherren ausnahmslos eine bevorzugte Stellung in Schule und Studium, in den Konsistorien sowie in der Landesregierung zu.54 Insofern knüpften die Reformatoren hinsichtlich der Versorgung leitender Persönlichkeiten im Kirchen- und Staatsdienst abermals an spätmittelalterliche Traditionen an. Mehr noch: Luther selbst – so zumindest in seiner Adelsschrift – ging noch weiter, denn er wollte den deutschen Adel aus historischen Gründen auf den Kanonikaten bevorzugt berücksichtigt finden. Ein eheloses Leben sollte von den Herren nicht verlangt werden. Bugenhagen griff diese Vorstellung 1542 in der Kirchenordnung für Schleswig-Holstein und in der für Wolfenbüttel im Jahr 1543 auf. Ähnlich, wie erwähnt, war es in der Wittenbergischen Reformation von 1545 formuliert worden.55 Der Schmalkaldische Krieg führte indes dazu, dass diese Vorhaben im Ansatz stecken geblieben sind. Doch war es nicht nur der Krieg und die damit verbundene Restitution katholischer Bischöfe in Naumburg und Merseburg, sondern auch machtpolitisches Stückwerk, die es verhindert haben, dass das Merseburger Modell als Vorbild im protestantischen Bereich zur Anwendung kam. In dieser Hinsicht ist ein Rückblick nach Naumburg in die Jahre nach 1535 lehrreich.

52 Vgl. BÜNGER/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 6), S. 75–164, hier S. 111–113. 53 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 14 f. 54 Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Abt. 1 (wie Anm. 18), S. 219 f. 55 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 14–16.

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4. Konfrontation mit den Kapiteln: Nikolaus von Amsdorf als evangelischer Bischof in Naumburg (1542–1547/48) Ohne den weiteren Ausführungen vorzugreifen, sei angemerkt, dass im Allgemeinen die Kapitulare in den Dom- und Kollegiatstiften bis um 1544/45 heftigen Widerstand gegen die Reformation geleistet haben. Das Wittenberger Allerheiligenstift stellt selbstredend eine Ausnahme dar. Gleiches gilt für die beiden Kollegiatstifte St. Marien in Coswig und St. Bartholomäi in Zerbst, was mit der Nähe zu Wittenberg sowie vor allem mit der Landesherrschaft der Fürsten von Anhalt zu erklären ist.56 Versuche, evangelische canonici in den Kapiteln vor 1542/44 nachzuweisen, sind äußerst schwierig. Georg III. von Anhalt ist natürlich anzuführen. Es ist jedoch nicht allein das Festhalten am katholischen Glauben per se zu benennen. Ebenso ist die materielle Versorgung anzuführen. Abermals mögen die samländischen und pomesanischen Domherren angeführt werden, deren Widerstand erst brach, als ihnen die weitere Versorgung zugesichert worden war. Ein Indiz für ein ungebrochenes Festhalten am römischkatholischen Glauben in den Domkapiteln zu Meißen und Naumburg ist das martialische Auftreten des Kurfürsten Johann Friedrich und des Herzogs Heinrich von Sachsen im August 1539. Nach der Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen zu Pfingsten 1539 stand im Hochsommer des Jahres eine evangelische Kirchenvisitation an, gegen die sich die Bischöfe von Naumburg und Meißen selbstverständlich verwehrten. Daraufhin ließen die wettinischen Fürsten die Straßen in die Hochstiftsgebiete sperren, so dass die Versorgung in den Städten Bischofswerda, Stolpen, Mügeln, Wurzen, Naumburg und Zeitz arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Weiterhin versuchten die Fürsten, die Einkünfte der Domherren und sonstigen Stiftsprälaten zu sperren. Einzelne Herren sind sogar persönlich bedroht und bis in ihre Kurien verfolgt worden.57 Letztlich stärkten derartige Maßnahmen nur den Widerstand in den Kapiteln. Es kommt hinzu, dass vor allem der landständische Niederadel im Herzogtum Sachsen von Anbeginn an skeptisch gegenüber dem neuen Landesherrn Herzog Heinrich, war. Vor allem hing dies mit der Installation des Anton von Schönberg und der Entmachtung der alten adligen Führungsriege um Georg von Karlowitz zusammen. Schließlich und endlich beäugte der einheimische Niederadel skeptisch die das Recht missachtende Politik des Kurfürsten Johann Friedrich.

56 BÜNGER/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 6), S. 5 f. u. 35–40. 57 Erich BRANDENBURG, Herzog Heinrich der Fromme von Sachsen und die Religionsparteien im Reiche (1537–1541), Zweiter Teil, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 17 (1896), S. 241–303, hier S. 266.

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In Naumburg, aber auch in Merseburg sowie späterhin in Meißen ist bezüglich des Konfessionswechsels einzelner Kapitulare nachdrücklich auf den engen Zusammenhang zwischen landesfürstlicher Herrschaft, landständischer Mitsprache sowie der Ausbreitung und Festsetzung der Reformation in den wettinischen Territorien zu verweisen. Letzteres war im höchsten Maße von den Landesfürsten und ihren Landständen abhängig. Damit gerät der Niederadel bzw. die Ritterschaft ins Blickfeld. Typisch für den Niederadel im Nordosten des Reiches – also in einer Adelslandschaft, die sich grundlegend vom Süden, Westen und Nordwesten unterschied – war die starke adlige Vormachtstellung am Hofe des Landesfürsten und in seiner Verwaltung, im Corpus der Landstände sowie natürlich in den Domkapiteln und Kollegiatstiften. Der religiösen und späterhin konfessionellen Haltung des weitverzweigten und mächtigen Niederadels im Territorium und folglich im lokalen Umfeld der Kapitel kommt somit eine herausragende Stellung bei der weiteren Betrachtung zu, ohne dass in dieser Miszelle ausdrücklich die lokale und regionale Adelsgeschichte rekonstruiert wird.58 Wie sich die Landesfürsten, die Stände und damit letztlich der Niederadel der neuen Lehre geöffnet haben, so schlossen sich – jedoch mit bemerkenswerten zeitlichen Verzögerungen – die Kapitel an. Voraussetzung für deren Glaubenswechsel war die Zusicherung des Landesherren und/oder des evangelischen Bischofs, die Pfründen weiterhin nutzen zu können. Eine weitere Bedingung war die protorechtliche Absicherung. Zwar wurde dies letztlich erst im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erreicht, jedoch haben Georg III. von Anhalt als evangelischer Bischof in Merseburg, aber auch die Wittenberger Reformatoren sowie der den politischen Rahmen vorgebende Herzog Moritz von Sachsen – das war angeführt worden – in den Jahren 1544/45 Bedeutendes geleistet. Luthers Schrift über das Bischofsamt ist ausdrücklich im Umfeld der Naumburger Ereignisse von 1542 entstanden;59 ohne jedoch auf fruchtbaren 58 Christoph VOLKMAR, Was hatte der Niederadel in Mitteldeutschland durch die Reformation zu verlieren? in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/ Weimar/Wien 2015, S. 373–400; Uwe SCHIRMER, Der obersächsisch-thüringische Niederadel in der Frühzeit der Reformation (1520–1525), in: Kurt ANDERMANN/ Wolfgang BREUL (Hg.), Ritterschaft und Reformation (Archiv für Reformationsgeschichte, Beiheft), Gütersloh 2017 (im Druck); DERS., Landstände und Reformation: das Beispiel Kursachsen (1523–1543), in: Klaus NEITMANN u. a. (Hg.), Reformation(en) vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im Zeitalter der Reformation, Brandenburg/Havel 2017 (im Druck). 59 Bernhard LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 315 f.; Martin BRECHT (Hg.), Martin Luther und das Bischofsamt, Stuttgart 1990; Dorothea WENDEBOURG, Die Reformation

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(realpolitischen) Boden zu fallen. Kurfürst Johann Friedrich hat sie schlichtweg ignoriert. Obgleich sich in der Diözese Naumburg, die sich größtenteils über das ernestinische Kurfürstentum erstreckte, die Reformation relativ schnell und obendrein auch irreversibel ausbreiten und festsetzen konnte, leisteten das Naumburger Domstift, das Kollegiatstift zu Zeitz sowie das Naumburger Stift Unser Lieben Frauen bis in die 1550er Jahre Widerstand gegen die Reformation. Dies ist umso bemerkenswerter, da sich große Teile des Niederadels in der Naumburger Diözese bereits frühzeitig Luthers Lehre angeschlossen hatten.60 Die Widerspenstigkeit in den Kapiteln ist einerseits mit der reformatorischen Polemik erklärbar, da doch nicht wenige Mitstreiter Luthers die Dom- und Stiftsherrn in ihren Streitschriften als eitle Müßigänger diffamiert haben. Andererseits trug auch und vor allem unkluges politisches Agieren dazu bei. Kurfürst Johann Friedrich ist hierbei ebenso zu nennen wie der erste evangelische Bischof von Naumburg, Nikolaus von Amsdorf, sowie vor allem der vom Kurfürsten bestellte Stiftshauptmann Melchior von Creutzen. Seine Aufgabe bestand indes nicht darin, den evangelischen Bischof als Koadjutor in weltlichen Angelegenheiten zu sekundieren, sondern er vollzog allein die ihm vom Kurfürsten bzw. von Amsdorf angetragen Befehle. Insofern war 1542 in Naumburg die Trennung von geistlicher und weltlicher Machtausübung hinsichtlich des Bischofsamtes noch nicht endgültig vollzogen.61 Der Wittelsbacher Philipp von der Pfalz hatte im Jahr 1517 die Naumburger Cathedra in Besitz genommen. Zugleich war er seit 1498 Fürstbischof von Freising, so dass er faktisch nicht in der Saalestadt residierte. Aus diesem Grund hat sich für ihn die Bezeichnung Philipp von Freising eingebürgert. Bereits in der Mitte der 1530er Jahre war abzusehen, dass es im Falle seines Ablebens zu einem machtpolitischen Kampf zwischen dem Kurfürsten Johann Friedrich und dem Domkapitel kommen würde; immerhin beanspruchten die Ernestiner seit der Leipziger Teilung die Ober- und Schutzherrschaft über das Bistum. Die komplizierte Gemengelage offenbarte sich, als sich im Jahr 1534 der Bischof mit und das bischöfliche Amt, in: DIES., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000, S. 195–224. 60 WIEßNER (Bearb.), Bistum Naumburg (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 171 f. Heinz Wießner führt neun Adlige namentlich an, die gegen die Reformation Widerstand geleistet haben. Indes ist zu beachten, dass seine Angaben alle aus den Visitationsakten stammen. Das heißt zugleich, dass es in den knapp 100 amts- und schriftsässigen Rittergutsherrschaften in der Naumburger Diözese nur wenige Adlige gab – also ca. ein Zehntel –, die sich der neuen Lehre widersetzt haben. 61 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 101–103, hier das Zitat auf S. 102: „Aber der Bischof Amsdorf, der […] einen Vorrat an Kugeln und Pulvern anlegt und die Zeitzer Streitkräfte persönlich mustert, bleibt doch eine fragwürdige Gestalt.“

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Unterstützung seines Domkapitels darum bemühte, einen Koadjutor einzusetzen. Nicht zuletzt scheiterte dies am Widerstand des Kurfürsten, der zudem die Hochstiftsvogtei innehatte und sich – wie auch seine Vorfahren – als bischöflicher Schutzherr gebärdete. Als schließlich der Naumburger Bischof Philipp am 6. Januar 1541 in Freising verstarb, war davon auszugehen, dass diejenigen, die zuerst von seinem Ableben erfuhren, im Vorteil waren. Die Todesnachricht erreichte zuerst das Kapitel, das umgehend den Propst des Kollegiatstifts zu Zeitz, Julius Pflug, einstimmig zum Bischof wählte. Das einmütige Votum war und ist indes nicht die Signatur für ein uneingeschränktes Bekenntnis gegen die evangelisch-lutherische Lehre. Vielmehr war die Geschlossenheit des Kapitels eine Bezeugung für den Zeitzer Propst sowie zur geltenden Verfassung des Naumburger Stifts.62 Der nunmehr offen zutage tretende Widerspruch wurde obendrein dadurch verschärft, da Kurfürst Johann Friedrich spätestens seit 1539 eine intime Feindschaft zu Pflug pflegte. Julius Pflug selbst stammte aus einer weitverzweigten und politisch einflussreichen einheimischen Adelsfamilie. Er war 1499 in dem südlich von Leipzig gelegenen Eythra geboren worden.63 Einer seiner Brüder war Andreas Pflug zu Knauthain, der nach 1541 bei Herzog Moritz von Sachsen hochrangig beamtet war. Ende Januar 1541 protestierte der Kurfürst gegen Pflugs Wahl. Der Fürst gab an, er fühle sich verpflichtet, die reine Lehre und den wahren Glauben verteidigen zu müssen. In seinen Augen erschien Pflug dafür gänzlich ungeeignet, so dass Johann Friedrich im Sommer 1541 den Naumburger Domdechanten Günther von Bünau bzw. den Fürsten Georg III. von Anhalt als geeignete Kandidaten für ein evangelisches Bischofsamt favorisierte. Mitte Oktober 1541 hatten Luther, Melanchthon, Bugenhagen und Cruciger ein Gutachten für den Kurfürsten erstellt, in dem sie sich zum weiteren Verfahren äußerten. Sie plädierten natürlich für die Durchsetzung der Reformation im Hochstiftsgebiet. Die Aufhebung des Domkapitels schlossen sie aus. Die Kanonikate sollten als Studienmöglichkeiten für den Adel und als Stellen für die Kirchen- und Landesverwaltung genutzt werden. Personelle Veränderungen sollten erst nach Ableben der Domherren erfolgen. In einem weiteren Gutachten vom November 1541 empfahlen sie, die Stiftspfründen unter kurfürstliche Oberaufsicht zu stellen.64 Komplex und zum Teil auch widersprüchlich waren ihre Ansichten zum 62 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 16–21. 63 Georg MENTZ, Johann Friedrich der Großmütige (1503–1554) (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens, 1), 2 Bde. [in 3 Teilen], Jena 19031908, hier Teil 3: Vom Beginn des Schmalkaldischen Krieges bis zum Tode des Kurfürsten, Jena 1908, S. 116 f.; Wieland HELD, Julius Pflug (1499–1564). Der letzte katholische Bischof von NaumburgZeitz als Vermittler zwischen den Konfessionen und als Kirchen- und Landesfürst, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 71 (2000), S. 53–93. 64 Ebd., S. 60.

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Umgang mit Julius Pflug sowie einer möglichen Investitur eines evangelischen Bischofs.65 Unter einer Vielzahl realpolitischer, kirchenrechtlicher und religiöstheologischer Probleme ragten zwei zentrale Fragen heraus: Wie steht das – ihrer Meinung nach reformierte – Kapitel zum Papst? Und welche Haltung gedachte das Domkapitel gegenüber dem Kurfürsten einzunehmen? Mit diesen Fragen war verbunden: Wie soll zukünftig die Aufnahme ins Domkapitel geregelt werden? Und auf welche Weise soll ein (evangelischer) Bischof gewählt werden?66 Insgesamt wurde dem Kurfürsten geraten, keinen evangelischen Gegenbischof oder einen Bischofsverweser einzusetzen, sondern die Wahl Julius Pflugs stillschweigend zu billigen. Bekanntermaßen richtete sich Kurfürst Johann Friedrich nicht danach und setzte Nikolaus von Amsdorf durch. Er wurde ohne Zustimmung des Domkapitels zum evangelischen Bischof ernannt. Seine Weihe erfolgte am 20. Januar 1542 durch Luther selbst. Das Domkapitel war erklärlicherweise nicht eingeladen worden. Anwesend waren jedoch sechs Adlige und Vertreter der Stadträte von Naumburg und Zeitz, die allesamt die Stiftsstände repräsentierten. Trotz der offenen Konfrontation wohnten der Dompropst Graf Ernst von Reinstein und der Senior des Kapitels, Georg Forstmeister, der Weihe bei. Die Motive ihrer Teilnahme – politische Loyalität oder evangelisches Bekenntnis – bleiben im Dunkeln. Wahrscheinlich war es politisches Kalkül, denn der mit Luthers Lehre sympathisierende Dechant von Bünau war nicht anwesend. Angeblich sollen über 5.000 Menschen dem Gottesdienst beigewohnt haben.67 Da Julius Pflug noch nicht vom Papst Paul III. approbiert worden war und ohnehin zur Flucht gezwungen wurde, sah sich das Domkapitel wie bei einer Sedisvakanz als Träger der bischöflichen Oberhoheit. Dies ignorierten der Kurfürst und seine Räte, in dem sie die Domherren als „Götzendiener“ verunglimpften. Der Kurfürst entriss ihnen jegliche Verantwortung und übertrug auch die weltliche Herrschaft dem Bischof Amsdorf. Als Stiftshauptmann wurde Melchior von Creutzen installiert.68 Creutzen fungierte als strenger und unnachsichtiger Gefolgsmann des Kurfürsten im Stiftsgebiet. Die Teilnahme der sechs Vertreter aus der Stiftsritterschaft sowie die des Dompropstes und Seniors am Weihegottesdienst sagen kaum etwas zur realpolitischen Situation im Hochstift Naumburg aus. Es zeichnete sich weniger ein konfessioneller, sondern vielmehr ein verfassungsrechtlicher und politischer Machtkampf ab. Das Naumburger Domkapitel war infolge der Einsetzung des 65 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 24–35. 66 Ebd., S. 35. 67 HELD, Julius Pflug (wie Anm. 63), S. 60 f.; BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 61. 68 Ebd., S. 38 f.

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Melchior von Creutzen entmachtet worden. Dieses Vorgehen belastete nicht zuletzt die innerwettinischen Beziehungen. Nikolaus von Amsdorf glaubte sogar, dass seine Amtseinsetzung mit zum Ausbruch der sog. „Wurzener Fehde“ im Frühjahr 1542 geführt habe. Dazu passt, dass zu den albertinischen „Rädelsführern“, die im Auftrage des Herzogs Moritz federführend die Insurrektion in Wurzen vorbereitet haben, Andreas Pflug zu Knauthain gehört hat. Er war der Bruder des vertriebenen Bischofs. Erst im letzten Moment war es schließlich dem Landgrafen Philipp zu Ostern 1542 gelungen, die militärische Eskalation zwischen Johann Friedrich und Moritz zu verhindern.69 Auch im Naumburger Stiftsgebiet formierte sich eine Adelsopposition. Amsdorf hielt die Gefahr für so akut, dass er Naumburg aufrüstete. Er – obgleich er im Lutherischen Sinne nur die geistliche Aufsicht besitzen sollte – nahm sogar Musterungen ab. Insofern verkörperte Amsdorf einen Bischof, der wenig bis nichts mit dem Verständnis der Reformatoren gemein hatte. Er sowie Creutzen und der Kurfürst witterten allerorts Gefahren und Verschwörungen. Sie sahen den Niederadel des Hochstifts samt seinen Verbindungen ins albertinische Sachsen als die Träger des Widerstandes – nicht zu Unrecht. Von Quartal zu Quartal manövrierten sich Amsdorf und Creuzen in die Isolation. Das Domkapitel selbst wurde aus der Ferne von Julius Pflug schriftlich angewiesen und geleitet; u. a. ließ er umgehend vakante Präbenden und Vikarien neu besetzen. Dagegen schritten der Kurfürst, der evangelische Bischof sowie der Stiftshauptmann ein.70 Vor allem an der Frage der Vergabe vakanter Stellen entbrannte ein heftiger Streit. Daher versuchte Amsdorf 1545 eine Visitation durchzuführen. Sein vorrangiges Ziel war es, Übersicht und Kontrolle über das Stiftsvermögen insgesamt zu erhalten. Creutzen unterstützte ihn dabei nicht nur, sondern agierte – wahrscheinlich seine Kompetenzen überschreitend – auch sehr eigenmächtig. Aufgrund seiner „tyrannischen Selbstherrlichkeit“ (Peter Brunner) protestierte Amsdorf beim Kurfürsten. Bereits 1543 war Creutzens harte Rücksichtslosigkeit bis zu Luther vorgedrungen, der in einem Brief an Amsdorf den Hauptmann als den „Nebenbischof“ bezeichnet hat.71 Kurzum: Amsdorf und noch viel stärker Luther mussten erkennen, dass Kurfürst Johann Friedrich und sein Stiftshauptmann kompromisslos machtpolitisch agierten. Vor allem der Stiftshauptmann von Creutzen respektierte nicht im Entferntesten die alten Verfassungsverhältnisse. Ausdrücklich belegt es sein Befehl, im Falle der Resignation oder des Ablebens von Domherren die Stellen unbesetzt zu lassen 69 Ebd., S. 85. Neben Andreas Pflug haben Ende März 1542 Christoph von Ebeleben und Ernst von Miltitz einen bewaffneten Trupp angeführt, der handstreichartig Wurzen besetzt hat. Vgl. Wieland HELD, 1547. Die Schlacht bei Mühlberg/Elbe. Entscheidung auf dem Wege zum albertinischen Kurfürstentum Sachsen, Beucha ²2014, S. 35–38. 70 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 86 f. 71 Ebd., S. 87.

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und die Einkünfte zu sperren. Vor allem aus diesem Grund leistete das Naumburger Domkapitel erbitterten Widerstand. Ihn gedachte der tyrannisch vorgehende Stiftshauptmann zu brechen. Nachdem es unter Befehl von Creutzen sogar zu Hinrichtungen gekommen sein soll, stellte Luther seine Beratertätigkeit enttäuscht ein; Amsdorf bat um die Resignation, die der Kurfürst jedoch ablehnte. Naumburg muss bereits vor Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges als ein gescheitertes Modell betrachtet werden.72 Im November 1546 zog schließlich Herzog Moritz infolge des Schmalkaldischen Krieges in Naumburg ein, das Amsdorf inzwischen verlassen hatte. Am 23. Mai 1547 erfolgte die abermalige Einsetzung des Julius Pflug als katholischer Bischof. Die seit 1541 vorgenommenen kirchlichen Veränderungen tastete er nicht an. Allein im Naumburger Dom sowie in der Zeitzer Stiftskirche wurden die katholischen Gottesdienste wieder eingeführt. Die inzwischen säkularisierten Klöster blieben aufgehoben und ihr Besitz wurde von der Stiftskammer verwaltet.73 Das Naumburger Domkapitel und die Kapitulare des Zeitzer Kollegiatstifts standen loyal hinter Julius Pflug; indes waren es politisch-ständische und viel weniger religiöse Bekenntnisse.

5. Fürstliche Machtpolitik: Dom- und Kollegiatstifte im Visier der Obrigkeit (1539–1552/55) Die Beispiele aus Naumburg und Merseburg zeigen, dass die Wittenberger Reformatoren – trotz gelegentlich widersprüchlicher Ansichten (Melanchthons Brief an die Quedlinburger von 1540) – grundsätzlich die Fortexistenz von Domkapiteln seit dem Ende der 1530er Jahre nicht infrage gestellt haben. In diesem Zusammenhang gingen sie davon aus, dass sich die Kapitulare – wie auch die Bischöfe – der Reformation anschließen würden. Wenn nicht, dann sollte bis zu ihrem Ableben gewartet werden. Die auf diese Weise vakant gewordenen Präbenden sollten weiter zur Verfügung stehen und neu besetzt werden. Jedoch mussten sich die neuen Stelleninhaber zur evangelischen Lehre bekennen und Pflichten in Bildung und Erziehung übernehmen bzw. in den protestantischen Staats- und Kirchendienst treten. An eine wie auch immer geartete Präsenzpflicht an den Kathedral- und Stiftskirchen wurde nicht gedacht – nicht zuletzt weil die gemeinsamen Chorgebete obsolet geworden waren; die Ehelosigkeit war ebenso hinfällig geworden. Als Vorbild – auch aufgrund der lokalen Nähe zwischen Merseburg und Wittenberg sowie aufgrund des guten persönlichen Verhältnisses zwischen Luther und Georg III. von Anhalt – hätte 72 Ebd., S. 87–135. 73 HELD, Julius Pflug (wie Anm. 63), S. 63 u. 71 f.

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das „Modell Merseburg“ dienen können. Das Merseburger Modell, obgleich es selbst als nicht vollkommen erschien (Besetzung des Postens des Koadjutors mit Herzog August von Sachsen), war nicht zuletzt deshalb möglich geworden, da sich Herzog Moritz merklich aus der Religions- und Kirchenpolitik heraushielt. Zudem unterschied er strikt zwischen Real- und Machtpolitik einerseits sowie individuellem Glauben und persönlichem Bekenntnis andererseits. Völlig anders verhielt es sich in Naumburg. Das ungeschickte politische Agieren des Kurfürsten Johann Friedrich war erläutert worden. Er ignorierte die Ratschläge seiner Juristen und Theologen. Sein Handeln darf man – sicherlich etwas zugespitzt formuliert – als fundamentalistisch und wenig pragmatisch bezeichnen. Allerdings offenbart Johann Friedrichs Tun in überragender Weise, welchen Stellenwert den agierenden Reichsfürsten in dieser Zeit zukam. Trotz aller Bedeutung der Reichs-, Land- und Stiftsstände waren sie es, die letztlich die politische und verfassungsrechtliche Entwicklung zwischen 1525 und 1552/55 bestimmt haben. Die herausragende Rolle der Landesfürsten war obendrein rechtlich verankert, waren sie es doch, welche die Hochstifts- oder Stiftsvogteien innehatten. Dies war beispielsweise ein Argument des Kurfürsten, um Naumburger Einkünfte sperren zu lassen. Hinsichtlich der religiösen und kirchenrechtlichen Veränderungen in den Erz-, Hoch- und Kollegiatstiften, die Ende der 1530er anstanden, gab es natürlichen keinen Masterplan, der in der Folge für die mächtigen Landesherren aus der Mitte und dem Nordosten des Reiches als Blaupause hätte angewendet werden können. Die samländischen und pomesanischen Bistümer und Domkapitel im alten Deutschordensland können als Beispiele, das war angedeutet worden, nicht in Betracht gezogen werden, wenngleich sich die dortigen Bischöfe besonders früh der Reformation angeschlossen haben. Die dortigen Kapitel waren nach 1527 faktisch aufgelöst worden, obwohl einzelne Kapitulare bis zu ihrem Lebensende weiterhin ihre Pfründen nutzen durften.74 Es erscheint vielversprechend, Beispiele zu suchen, wo das Stiftungsgut geistlicher Institutionen unangetastet blieb und es den Pfründnern zudem möglich war, die gestiftete Vermögensmasse – unabhängig von der Konfession – weiter zu nutzen. Ein derartiges Exempel wurde – soweit zu sehen ist – erstmals 1539/40 in Erwägung gezogen: Es betrifft das Reichsstift Quedlinburg. Die Quedlinburger Äbtissin, Anna II. von Stolberg, zeigte sich bereits in den frühen 1520er Jahren gegenüber der Reformation aufgeschlossen.75 Indes widersetzte sich der Inhaber der Stiftsvogtei, 74 JÄHNIG, Evangelisch-lutherische Bistümer des Herzogtums Preußen (wie Anm. 24). 75 Clemens BLEY, Tradition – Reformation – Legitimation. Zur Einführung der Reformation im Reichsstift Quedlinburg und ihren Folgen, in: Ute KÜPPERS-BRAUN/Thomas SCHILP (Hg.), Katholisch – Lutherisch – Calvinistisch. Frauenkonvente im Zeitalter der Konfessionalisierung (Essener Forschungen zum Frauenstift, 8), Essen 2010, S. 49–68, hier S. 51.

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Herzog Georg der Bärtige von Sachsen, energisch ihrem Ansinnen und ging gegen evangelische Umtriebe in der Stadt und im Stiftsgebiet vor.76 Erst infolge des Todes von Georg konnte die Äbtissin Anna die Reformation im Damenstift einführen. Ausdrücklich sicherte der nunmehrige Stiftsherr, der Bruder des verstorbenen Georg, Herzog Heinrich der Fromme von Sachsen, den Fortbestand des Stifts zu. Zumindest stellte er die Existenz nicht infrage. Heinrichs Entscheidung muss machtpolitisch erklärt werden, denn in den betreffenden Schriften – die seitens des albertinischen Herzogs natürlich religiös verbrämt sind – ist auch davon die Rede, dass seine Vorfahren erst vor geraumer Zeit in Besitz der Stiftsvogtei gelangt sind. Der Besitzstand müsse gesichert werden. Der Herzog spielte damit auf die gewaltsame Übernahme der Stiftsvogtei durch Kurfürst Ernst in den Jahren 1477/79 an.77 Die Konfession bzw. der Glaube der Stiftsdamen sowie der Fortbestand des Stifts als evangelisches Rechtsinstitut werden seitens der albertinischen Räte des Herzogs kaum problematisiert. Aus ihrer Sicht ging es vorrangig darum, die Schutzherrschaft über das Reichsstift und damit letztlich territorialpolitische Rechte im magdeburgisch-brandenburgischen Grenzraum abzusichern. Das zweite Beispiel führt in die Mark Brandenburg. Kurfürst Joachim II. hatte sich nach dem Frankfurter Anstand von 1539 der Reformation zugewendet. Am 1. November 1539 empfing er zusammen mit dem märkischen Adel in der Spandauer Nikolaikirche das Abendmahl unter beiderlei Gestalt.78 Die Abendmahlsfeier hatte der Bischof von Brandenburg, Matthias von Jagow, in der Form des Hochamtes vorgenommen. Der brandenburgische Bischof hing spätestens seit der Mitte der 1530er Jahre Luthers Lehre an. Jagow führte auch die Reformation in seinem Hochstift ein. Schließlich trat der inzwischen sechzigjährige Matthias von Jagow im Juni 1541 in den Ehestand.79 Zuvor, im Sommer 1540, hatte Kurfürst Joachim II. eine evangelische Kirchenordnung 76 Die Quellen borden diesbezüglich nur so über. Vgl. Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 2: 1525–1527, hg. von Felician GESS, Leipzig 1917; Bd. 3: 1528–1534, hg. von Heiko JADATZ/Christian WINTER, Köln 2010; Bd. 4: 1535–1539, hg. von Heiko JADATZ/Christian WINTER, Köln 2012. 77 Michael VOLLMUTH-LINDENTHAL, Äbtissin Hedwig von Quedlinburg. Reichstift und Stadt Quedlinburg am Ende des 15. Jahrhunderts, in: Werner FREITAG (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im späten Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 69–88, hier S. 78–83. 78 Robert STUPPERICH, Die Eigenart der Reformation in der Mark Brandenburg, in: HansUlrich DELIUS u. a. (Hg.), „Dem Wort nicht entgegen …“. Aspekte der Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin 1988, S. 13–30, hier S. 16–19; Michael HÖHLE, Universität und Reformation. Die Universität Frankfurt (Oder) von 1506 bis 1550 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, 25), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 385–415. 79 ABB/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 1), S. 19.

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nach Nürnberger Vorbild für sein Herrschaftsgebiet unter ausdrücklicher Zustimmung seiner Landstände erlassen. Der Kurfürst hatte den Ständen die Kirchenordnung sowie eine Forderung vorgelegt, landesfürstliche Schulden in Höhe von 1.145 Millionen Gulden zu übernehmen. Das haben die Stände letztlich insgesamt gebilligt.80 Nochmals sei wiederholend betont, dass es selbstverständlich keinen politischen Masterplan bezüglich des Umgangs mit den Bischöfen und ihren Kapiteln in diesen Jahren gab. Und so verfolgte Kurfürst Joachim II. nach 1540 anfänglich eine Politik, die sich mit dem vergleichen lässt, was nach 1541/42 in Naumburg geschah. Beispielsweise gingen die Aufgaben des Brandenburger Bischofs Matthias infolge der Annahme der evangelischen Kirchenordnung allmählich in die Hand des Kurfürsten und seiner Räte über. Joachim II. meinte, sein energisches Handeln sei durch die Landstände – zumindest durch den Adel und die Städte – legitimiert. Die drei landständischen Domkapitel zu Brandenburg, Lebus und Havelberg widersetzten sich hingegen heftig den Veränderungen, zumal ihr Dasein in diesen Jahren als überflüssig erachtet wurde.81 Das Prämonstratenser-Domkapitel St. Petri auf der Burg zu Brandenburg stand von Anbeginn an in Opposition zur Reformation. Im April 1540 wurde Johannes Meiendorff, der Kanonikate in Halberstadt und Magdeburg besaß, zum Dompropst gewählt. Er war ein Feind jeglicher reformatorischer Neuerung und organisierte den Widerstand des Kapitels gegen Luthers Lehre.82 Im Zuge dieses Konflikts wurden dem Kapitel 1544 sogar die Einkünfte aus der bischöflichen Residenz in Ziesar und die Verwaltung der Stiftsgüter entzogen.83 Obgleich wohl einige der Brandenburger Prämonstratenser-Domherren mit Luther sympathisiert haben (zum Beispiel Wolfgang von Arnim), widersetzten sie sich passiv dem Landesfürsten. Er drohte dem Kapitel 1543/44 sogar einen Prozess an, zu dem es aber nicht kam, weil sich die Domherren formal dem Fürsten unterworfen haben. Nicht zuletzt sahen sie sich zur Demütigung gezwungen, da Joachim II. ihnen mit der Sperre sämtlicher Einkünfte gedroht hatte. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, bis sich das Domkapitel im Jahr 1544 „bequemte“ (Gottfried Wentz), die neue Kirchenordnung im Dom einzuführen.84 Wie spannungsreich das Verhältnis zwischen Domkapitel und Kurfürsten in den

80 Wolfgang SCHÖSSLER, Die Reformation im Domstift Brandenburg, in: DELIUS (Hg.), „Dem Wort nicht entgegen …“ (wie Anm. 78), S. 49–62, hier 53. 81 Zu Havelberg vgl. WENTZ (Bearb.), Das Bistum Havelberg (wie Anm. 6); S. 27 f.; KUGLER-SIMMERL, Bischof, Domkapitel und Klöster (wie Anm. 8), S. 165–169. 82 ABB/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 1), S. 112 u. 120. 83 Ebd., S. 57 f. 84 Ebd., S. 112; SCHÖSSLER, Reformation im Domstift Brandenburg (wie Anm. 80), S. 54– 56.

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Jahren 1543/44 war, offenbart der Konflikt um die Nachfolge des 1544 verstorbenen Bischofs Matthias von Jagow. Der Kurfürst nominierte den Herzog Joachim von Münsterberg, der als Koadjutor fungieren sollte. Münsterberg gehörte zum erweiterten Familienverband der Hohenzollern – sein Urgroßvater war kein Geringerer als Albrecht Achilles. Als Graf von Glatz besaß Münsterberg Anrechte auf die Herrschaft Crossen an der Oder, die er nach erfolgter Postulierung zum Bischof von Brandenburg an Joachim abzutreten gedachte – was auch geschah. Anfänglich weigerte sich das Kapitel vehement, einen Wahltag anzusetzen – letztlich vergeblich. Die Einigung auf die Nachfolge Jagows war ein „Gentlemen’s Agreement“ zwischen dem Landesfürsten, Münsterberg und dem Kapitel, dem die Fortexistenz zugesichert wurde. Fernerhin – und dies unterscheidet den brandenburgischen Kurfürsten vom sächsischen Kurfürsten – wurde das Domkapitel als autonom agierendes Rechtssubjekt seitens Joachims II. akzeptiert. Nach dem Tod von Meiendorff im Oktober 1545 wurde der ebenso streng katholische Domherr Johannes Horneburg 1546 zum Propst gewählt. Horneburg war indes seit 1543 auch ein geschätzter Rat des Kurfürsten Joachim II.85 Horneburg setzte die Politik Meiendorffs fort, wenngleich ihm dies nach des Kaisers Sieg bei Mühlberg erleichtert wurde. 1551 wurde er zum Bischof von Lebus postuliert; die 1546 erlangte Dompropstei hatte er bis zu seinem Tod 1555 inne. Er war der letzte katholische Propst zu Brandenburg.86 Die Personalien Meiendorff und Horneburg sowie die „Wahl“ Münsterbergs offenbaren den Strategiewechsel Joachims II. Vor allem das Beispiel des Johannes Horneburg zeigt, wie sich beim brandenburgischen Landesfürsten und seinen Räten zwischen dem Beginn und der Mitte der 1540er Jahre ein Sinneswandel hinsichtlich des Umgangs mit dem Domkapitel zu Brandenburg ergeben hat. Für Joachim ging es – ähnlich wie bei Herzog Moritz von Sachsen in Merseburg – vorrangig um die territoriale Integration der landständischen Hochstifte zu Brandenburg, Havelberg und in Lebus. Da die Kanonikate in den drei Stiften stets mit Brandenburgern besetzt worden sind – vorrangig mit Adligen –, besaßen nicht zuletzt die Landstände ein lebhaftes Interesse an der Fortexistenz dieser Einrichtungen. Inwieweit für den brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. seit der Mitte der Vierzigerjahre das „Merseburger Modell“ als Beispiel diente bzw. seinen Sinneswandel beeinflusst hat, muss offenbleiben. Und letztlich sei nicht nur am Rande erwähnt, dass sich Joachim von Münsterberg im Gegensatz zu allen anderen evangelischen Bischöfen und Administratoren nach 1547 behaupten konnte. Weniger 85 ABB/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 1), S. 121; HÖHLE, Universität und Reformation (wie Anm. 78), S. 181 u. 555. 86 ABB/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 1), S. 120 f.

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Münsterberg, sondern vielmehr Horneburg und mit ihm das Domkapitel ließen sogar nach 1547 in ihren unmittelbar unterstehenden Dörfern bei den evangelischen Pfarrern nachträglich die „ordines minores et maiores“ von einem katholischen Priester erteilen. Erst 1557 gab das Domkapitel zu Brandenburg den Widerstand gegen die neue Lehre auf.87 Ein anderes Beispiel aus der Mark Brandenburg ist das im Jahr 1465 begründete Kollegiatstift in Cölln an der Spree, das bereits 1466 als „Domstift“ bezeichnet worden ist. Praktisch fungierte die Cöllner Stiftskirche als Hauptkirche für den kurfürstlichen Hof der Markgrafen. Aus diesem Grund hatte der Kurfürst Joachim II. auch die Verlegung des Kapitels in das an der Südseite des Schlosses gelegene Dominikanerkloster im Jahr 1536 erwirkt. Damit sollten sein Domstift gefördert und gestärkt werden – vor allem gegen die virulente lutherische Lehre.88 Jedoch teilte bereits im Jahr 1539 Matthias von Jagow in ihr das Abendmahl unter beiderlei Gestalt aus. Die bereits erwähnte Märkische Kirchenordnung von 1540 veränderte zwar den Gottesdienst in der Stiftskirche – die liturgische Grundordnung blieb jedoch mit Zustimmung Luthers unverändert. Ebenso wurden die innere Organisation des Stifts sowie seine Statuten nicht angetastet. Infolge der (geringen) Veränderungen resignierte der katholische Propst Wolfgang Redorffer. Er zog sich nach Fürstenwalde, wo das Domkapitel von Lebus residierte, zurück. Die Fortexistenz des bald darauf vollständig evangelischen Kollegiatstifts Cölln wurde testamentarisch durch Kurfürst Joachim II. abgesichert.89 Gänzlich anders verhielt es sich hingegen mit Lebus. Infolge der Übernahme des Bischofssitzes durch den 1546 geborenen Hohenzoller und nachmaligem Kurfürsten Joachim Friedrich im Jahr 1555 begann der Auflösungsprozess des Lebuser Domkapitels. Schließlich wurde es unter seiner Mithilfe 1563 säkularisiert. Im Gegenzug hatte Joachim Friedrich, der zum Zwecke seiner Versorgung 1553 Bischof von Havelberg, 1555 von Lebus, 1560 Bischof von Brandenburg und 1566 Administrator zu Magdeburg geworden war, die Fortexistenz von Havelberg und Brandenburg zugesichert.90 Bewusst ungeklärt blieb in jenen Jahren (1553–1560), ob die Kapitel zu Havelberg und Brandenburg als Versorgungsanstalten für den Märkischen Adel oder als Reservoir für brandenburgische Kirchen- und Staatsdiener zur Verfügung stehen sollten. Als letztes Beispiel sei Cammin angeführt. Am 27. Januar 1544 verstarb der Camminer Bischof Erasmus von Manteuffel. Die Inhaber der Hochstiftsvogtei 87 88 89 90

HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 86. ABB/WENTZ (Bearb.), Bistum Brandenburg (wie Anm. 1), S. 217 u. 219. Ebd., S. 219–222. HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 80), S. 85; SCHÖSSLER, Reformation im Domstift Brandenburg (wie Anm. 4), S. 55.

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waren die Herzöge von Pommern, die ihr Territorium im Herbst 1532 in Pommern-Stettin (Herzog Barnim IX.) und Pommern-Wolgast (Herzog Philipp I.) geteilt hatten.91 In den Städten Pommerns hatte sich die Reformation bereits in den frühen 1520er Jahren festgesetzt; sie breitete sich fortan schnell auf dem flachen Lande sowie im Stift Cammin aus. Das Stiftsgebiet blieb jedoch formal bis 1544 katholisch. Offiziell wurde die Reformation in Pommern auf dem Landtag zu Treptow an der Rega im Dezember 1534 eingeführt. Prominentester Gast auf diesem Ständetag war Johannes Bugenhagen.92 Die Frage nach der künftigen Leitung des pommerschen Kirchenwesens war in Treptow offengeblieben. Da die Herzöge von Pommern die Reichsstandschaft des Bistums Cammin grundsätzlich infrage gestellt haben und der amtierende Bischof Manteuffel eine zurückhaltende Haltung gegenüber der Lehre Luthers eingenommen hatte, wurde ihm nicht nur die Leitung der „evangelischen Landeskirche Pommerns“ angetragen, sondern er sollte auch mit der Durchführung der Visitation sowie mit der Umgestaltung des Kirchen- und Schulwesens im evangelischen Sinne beauftragt werden. Im Gegenzug erwarteten die Greifen, dass Manteuffel die Landstandschaft des Stifts anerkenne. Zugleich boten die Fürsten ihm an, alle seine Güter und Einkünfte weiterhin zu nutzen. An eine Auflösung des Domkapitels dachten die Greifen nicht. Jedoch lehnte Manteuffel das Angebot, als evangelischer Bischof tätig zu werden, nach langem Überlegen im April 1535 ab.93 Allein die Tatsache, dass er sich eine längere Bedenkzeit erbat, erscheint als Signatur eines weit- und bereits festverwurzelten evangelischlutherischen Glaubens, der sich inzwischen auch im Camminer Domkapitel festgesetzt hatte. Roderich Schmidt scheint eine „Mehrheit evangelischer Mitglieder“ im Kapitel nicht ausschließen zu wollen.94 Infolge Manteuffels Entscheidung vom April 1535 blieb formal im Hochstift Cammin alles beim Alten. Unterschwellig breitete sich jedoch die Reformation im Hochstiftsgebiet weiter aus. Und so sahen sowohl die Domherren als auch die Landesfürsten dem Ableben des Bischofs, der zum Jahreswechsel 1543/44 mit dem Tode rang, mit Spannung entgegen. Wie die Todesnachricht Ende Januar 1544 die Herzöge erreichte, wurden sie als Hochstiftsvögte aktiv. Die beiden Greifen nahmen umgehend Verhand91 Hans BRANIG, Geschichte Pommerns, Teil I: Vom Werden des neuzeitlichen Staates bis zum Verlust der staatlichen Selbstständigkeit 1300–1648, hg. von Werner BUCHHOLZ, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 97. 92 Joachim WÄCHTER, Die Reformation in Pommern, in: Haik Thomas PORADA (Hg.), Beiträge zur Geschichte Vorpommerns. Die Demminer Kolloquien 1985–1994, Schwerin 1997, S. 179–188, hier S. 184 f. 93 Ebd., S. 185; Roderich SCHMIDT, Pommern, Cammin, in: SCHINDLING/ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs, Bd. 2 (wie Anm. 42), S. 182–205, hier S. 194. 94 Ebd., S. 197.

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lungen mit dem Domkapitel auf, das schließlich im Juni 1544 Johannes Bugenhagen zum neuen Bischof wählte.95 Die Camminer Bischofswahl vom Sommer 1544 ist somit neben der Merseburger die erste Wahl eines evangelischen Bischofs, die im Konsens erfolgte. Im Gegensatz zu Merseburg sollte in Cammin sogar an der alten Verfassung festgehalten werden. Demnach sollte dem Bischof auch die weltliche Herrschaft zustehen. Dies erklärt sich mit dem Ansinnen der Herzöge, den zukünftigen Bischof auf Landstandschaft hinab zu drücken und das Hochstiftsgebiet ins Herzogtum Pommern zu integrieren. Bugenhagen sollten ferner die altbischöflichen Einkünfte zustehen. Das Problem war nur, dass sich Johannes Bugenhagen – ganz im reformatorischen Sinne – gegen die Vermischung von geistlichen und weltlichen Belangen wandte und aus diesem Grunde absagte. Nach Verhandlungen zwischen den Fürsten und dem Domkapitel einigte man sich auf den verheirateten evangelischen Stettiner Kanzler Bartholomäus Swawe (Suawe), den das Kapitel am 4. Mai 1545 zum „geistlichen und weltlichen Administrator“ wählte. Unter Beteiligung „etlicher Domherren“ (Peter Gabriel) ist er am nächsten Tag als evangelischer Bischof eingeführt worden.96 Somit erhielt in Cammin der Bischof die geistliche Aufsicht übers Bistum sowie zugleich weiterhin die weltliche Herrschaft über das Hochstiftsgebiet. Infolge des Schmalkaldischen Krieges sowie des Augsburger Reichstages und Interims bequemte sich Swawe erst zum 1. August 1549 zum Verzicht. Einen Tag später wählte das Domkapitel den unverheirateten Stettiner Vizekanzler Martin Weiher zum neuen Bischof. Der Humanist und Melanchthon-Schüler Weiher wurde von Kaiser Karl V. akzeptiert und erlangte sogar im Oktober 1551 die päpstliche Bestätigung. Weiher soll sogar versucht haben, die päpstliche Konsekration zu erlangen, was indes scheiterte.97 Auf alle Fälle war das Camminer Domkapitel bereits vor dem Passauer Vertrag von 1552 größtenteils evangelisch. Die endgültige Abkehr des gesamten Kapitels vom katholischen Glauben erfolgte in den Fünfzigerjahren; 1560 setzte ein Landtagsabschied unwiderruflich die evangelische Verfassung des Kapitels fest. Im Kollegiatstift St. Maria zu Kolberg geschah dies 1586.98 Insofern vollzog sich der Konfessionswechsel im Bistum Cammin außerordentlich widerspruchsarm. Das Quedlinburger Damenstift, die Kollegiatstifte zu Cölln und in Kolberg sowie das Camminer Domkapitel erscheinen als Beispiele eines reibungslosen Übergangs. Die Beibehaltung von geistlicher Aufsicht und weltlicher Herrschaft erwies sich in Cammin als ein nicht gravierendes Problem. Völlig anders sah 95 Ebd., S. 199. 96 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 62. 97 Roderich SCHMIDT, Art. „Martin Weiher“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, S. 274 f.; GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 63. 98 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 87–89.

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dies in Naumburg aus, wo es zur schärfsten Konfrontation zwischen dem Inhaber der Hochstiftsvogtei und dem Naumburger Domkapitel sowie dem Zeitzer Kollegiatstift überhaupt kam. Widerspruchsreich war auch der Übergang im Brandenburger Domkapitel, wo es jedoch – trotz des bis 1557 andauernden Widerstands in Glaubenssachen – zu einem pragmatischen Ausgleich kam. Das Brandenburger und Camminer Domkapitel hatte zudem die weltliche Oberherrschaft der Landesfürsten anzuerkennen. In Merseburg wurde ein anderer Weg beschritten. Wichtig erscheint, dass das Merseburger Kapitel – wie auch in Brandenburg, Cammin und Havelberg – von vornherein als bestehendes Rechtssubjekt anerkannt wurde, obgleich die albertinischen Räte anfänglich das Kapitel 1544/45 nicht als gleichrangigen Verhandlungspartner akzeptieren wollten. Aber immerhin ebneten die Verhandlungen den Weg für einen Übergang, der zu dieser Zeit wohl als beispielhaft angesehen werden muss. Im Hochstift Meißen, das bisher überhaupt nicht behandelt wurde, blieb auch nach dem Schmalkaldischen Krieg und dem Interim (vorerst) alles beim Alten. Sowohl Kurfürst Moritz als auch Kurfürst August (seit 1553) spielten hinsichtlich der letzten katholischen Meißner Bischöfe (Johannes VIII. von Maltitz (1537–1549), Nikolaus II. von Karlowitz (1550–1555) und Johannes IX. von Haugwitz (1555–1581)) sowie des um 1555 wohl nur noch teilweise katholischen Domkapitels eindeutig auf Zeit.99 In Ermangelung umfassender kirchenpolitischer Korrespondenzen bleibt ungeklärt, inwieweit das Agieren der Greifen, Hohenzollern sowie der albertinischen und ernestinischen Wettiner hinsichtlich der landständischen Hoch- und Kollegiatstifte abgestimmt war. Die vielfältigen und nur mit Mühe zu vergleichenden Änderungen lassen den Schluss zu, dass es in dieser Sache nicht einmal ansatzweise eine bi- oder gar trilaterale Koordination gab. Jeder Fürst handelte nach Gutdünken mehr recht als schlecht. Der kleinste gemeinsame Nenner bei den Landesfürsten war, dass sie zum einen gelegentlich Bugenhagen, Luther oder Melanchthon um Rat ersucht haben – ohne sich jedoch genötigt zu sehen, deren Ratschläge im Grundsatz zu befolgen. Zum anderen kannten die Dynasten nur ein Ziel: die territoriale Integration der Stiftsgebiete. Damit verfolgten sie ein Vorhaben, das sie alle seit dem Spätmittelalter antrieb. Das spätmittelalterliche landesherrliche Kirchenregiment, die Bevormundung der (inzwischen faktisch landsässigen) Bischöfe und letztlich die Versuche, die geistlichen Stiftsgebiete in das landesherrliche Territorium zu integrieren, stellen eine einheitliche und untrennbare Strategie der mächtigen Landesfürsten aus der Mitte und dem Norden des Reiches seit dem 15. Jahrhundert dar.

99 Wilhelm PÜCKERT, Wie wurden Dom und Domkapitel zu Meißen dem Augsburgischen Bekenntnis gewonnen und gesichert?, Leipzig 1880, S. 5–7.

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6. Die declaratio Ferdinandea vom 24. September 1555 und ihre Folgen nach 1560/61 Durch die Reformation war die Germania Sacra in eine Sinn- und Legitimationskrise gestürzt worden, die sich rasch zur Existenzkrise auswuchs.100 Signatur dieser Krise war die Besetzung der mittel- und norddeutschen Bischofsstühle mit protestantischen Administratoren bzw. Bischöfen. Es war darauf hingewiesen worden, dass es bis circa 1552 kaum möglich ist, das zahlenmäßige Verhältnis zwischen katholischen und protestantischen Domherren in den einzelnen Kapiteln zu bestimmen. Eindeutig ist hingegen, dass infolge des Schmalkaldischen Krieges die evangelischen Bischöfe Nikolaus von Amsdorf (Naumburg), Georg von Anhalt (Merseburg) und Bartholomäus Swawe (Cammin) ihre Plätze räumen mussten. Wie erwähnt, war Matthias von Jagow 1544 verstorben. Die Bischöfe im ehemaligen Deutschordensland Georg von Polenz († 1550) und Paul Speratus († 1551) hatten sich behaupten können; nach deren Tod besetzte Herzog Albrecht die Bischofssitze vorerst nicht wieder. In Brandenburg verblieb Joachim von Münsterberg, der vom Kurfürsten 1544 eingesetzt worden war, weiter im Amt.101 1547/48 waren wahrscheinlich nur das Camminer Domkapitel sowie teilweise wohl auch das Merseburger Kapitel evangelisch. Halbwegs gesicherte Angaben über den Konfessionswechsel in den Domkapiteln liegen erst nach dem Augsburger Religionsfrieden vor.102 Es ist eine Binsenweisheit, dass die Jahre zwischen dem Schmalkaldischen Krieg sowie dem Vertrag von Passau (1552) bzw. dem Religionsfrieden von 1555 eine Zeit des Übergangs und der offenen Verfassung waren. Gleichermaßen ist es ein Gemeinplatz, dass dem Augsburger Religionsfrieden eine herausragende Bedeutung zukommt.103 Unter den vielen Ausnahmereglungen des Friedens von 1555 kommt dem geistlichen Vorbehalt eine zentrale Stellung zu. Mit dem Stichjahr des Passauer Vertrages von 1552 wurde festgelegt, dass in den geistlichen Fürstentümern – 100 Eike WOLGAST, Kurpfalz, geistliche Fürstentümer, in: Heinz SCHILLING/Heribert SMOLINSKY (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Augsburg 21. bis 25. September 2005 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 150), Münster 2007, S. 213–238, hier S. 225. 101 GABRIEL, Georg III. von Anhalt (wie Anm. 7), S. 48, 140. 102 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 86–88; KUGLER-SIMMERL, Bischof, Domkapitel und Klöster im Bistum Havelberg (wie Anm. 8), S. 165–169. 103 Axel GOTTHARD, Augsburger Religionsfrieden (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 148), Münster 2004; SCHILLING/SMOLINSKY (Hg.), Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 100), passim.

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nach der kodifizierten, indes nicht politisch durchsetzbaren Verfassung also die Erzbistümer, Bistümer und andere reichsunmittelbare geistliche Institutionen – die katholische Konfession gesichert werden sollte. Neben der hochumstrittenen verfassungsrechtlichen und auch machtpolitischen Frage, ob beispielsweise die mitteldeutschen Bistümer Merseburg, Naumburg-Zeitz und Meißen landsässig oder reichsunmittelbar waren, enthält der geistliche Vorbehalt auch „dissimulierenden Formulierungen“ (Johannes Heckel; Axel Gotthard). Im reservatum ecclesiasticum, also im geistlichen Vorbehalt, war festgelegt worden, dass jeder Erzbischof, Bischof, Prälat „oder ein anderer geistlicher Stand“, der von der „alten“ Religion abtritt, sein Erzbistum, Bistum, Prälatur oder andere Beneficia verlassen muss. Den Kapiteln wird für den Fall der Resignation die Wahl eines Nachfolgers zugesichert, welcher der „alten“ Religion verwandt sein soll.104 Allein der Wortlaut des geistlichen Vorbehalts, es ist Paragraph 18 des Augsburger Religionsfriedens, war aus protestantischer Sicht günstig, denn der Paragraph schrieb nicht zwingend vor, dass bei Resignation oder Ableben eines Bischofs, Prälaten oder Dignitärs zwingend ein Nachfolger zu wählen sei. Nur aus den vorangegangenen Paragraphen konnte rückgeschlossen werden, dass dies zu erfolgen habe. Bewusst verschleiernd („dissimulierend“) erschien vor allem die Formulierung „oder ein anderer geistlicher Stand“. Dahinter verbarg sich der Umstand, dass inzwischen in viele mittel- und nordostdeutsche Domkapitel die evangelisch-lutherische Lehre eingedrungen war – mit zunehmender Tendenz. Ebenso amorph und dissimulierend war, welche geistlichen Territorien gemeint waren. In der Forschung besteht Konsens, dass damit eindeutig die reichsunmittelbaren Territorien gemeint waren. Gotthard spricht demzufolge bezüglich der geistlichen Landesherren in diesen (sc. reichsunmittelbaren Territorien) von „Fürstbischöfen“. Nun kann es nicht Aufgabe dieses Beitrages sein, umfassend zu diskutieren, welche geistlichen Territorien im Nordosten des Reiches reichsunmittelbar bzw. landständisch waren. Aus der Perspektive der brandenburgischen, pommerschen und mitteldeutschen Landesgeschichte sowie aus zeitgenössischmachtpolitischer Sicht der Kurfürsten von Brandenburg, Herzöge von Pommern und Kurfürsten von Sachsen – aus einem reichsgeschichtlichen Blickwinkel sowie unter Bezug auf die Reichsmatrikel mag man dies möglicherweise schon wieder völlig anders sehen – bleibt festzuhalten, dass die Bischöfe von Cammin, Brandenburg, Havelberg und Lebus sowie Merseburg, Meißen und Naumburg-Zeitz nicht reichsunmittelbar waren; dies schloss und schließt die Kollegiatstifte in diesen Territorien mit ein. Zur Begründung dieses verfassungsrechtlichen Phänomens wurden und werden die nach dem Basler Konzil bzw. 104 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 89 f.; GOTTHARD, Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 103), S. 264.

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Wiener Konkordat abgeschlossenen Schutzverträge zwischen den Landesfürsten und „ihren“ Bischöfen angeführt. Unklar war und ist hingegen – abermals mit Bezug auf den mitteldeutschen Raum – die Rechtsstellung des Erzstifts Magdeburg und des Hochstifts Halberstadt (einschließlich aller Nebenstifte) sowie des Stifts St. Simon und Judas in Goslar. Allein die Tatsache, dass der Hohenzoller Joachim Friedrich 1566/67 zum Administrator von Magdeburg gewählt wurde sowie dass nach dem Restitutionsedikt von 1629 alle Protestanten in Magdeburg, Halberstadt und Goslar resignieren mussten, illustriert den offenen Verfassungszustand.105 Aus Sicht der Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen war seit 1552/55 der Umgang mit „ihren“ geistlichen Territorien eindeutig. Sichtbar wird dies – um zumindest ein Beispiel anzuführen – bei der Besetzung der Meißner Cathedra im April 1555. Bischof Nikolaus II. von Karlowitz war am 17. April 1555 verstorben. In einem Geheimvertrag vom 25. April 1555 regelte Kurfürst August bereits vor der Wahl mit dem designierten (katholischen) Bischof, Johannes IX. von Haugwitz (1555–1581), alle kirchen- und verfassungsrechtlichen Angelegenheiten.106 Haugwitz konnte selbstverständlich bei seinem Glauben bleiben; indes hatte er die Ausbreitung der evangelischen Lehre in seinem Stiftsgebiet zu dulden. Ferner erkannt er die Landstandschaft des Hochstifts an. An dem am 29. Mai 1555 vollzogenen Wahlakt nahmen der designierte Bischof, der Dechant Julius Pflug (der zugleich auch Naumburger Bischof war) sowie Bernhard von Draschwitz teil; der wohl ebenfalls noch katholische Domherr Nikolaus von Ebeleben hatte sich ausdrücklich entschuldigt.107 Neben der strittigen Frage nach der Reichsunmittelbarkeit geistlicher Territorien wurde der Umgang mit den Erz- und Hochstiften durch die declaratio Ferdinandea vom 24. September 1555 zusätzlich verkompliziert bzw. – aus kursächsischer Sicht – vereinfacht. Auch hierbei gehen die Meinungen in der Forschung 105 Johannes Heinrich GEBAUER, Kurbrandenburg und das Restitutionsedikt von 1629 (Hallesche Abhandlungen zur neueren Geschichte, 38), Halle/Saale 1899, S. 141–15; HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 90; Dietrich PIETSCHMANN, Die Säkularisation des Domkapitels in Magdeburg und seiner Nebenstifter. Stiftische Herrschaft im späten Feudalismus, in: Franz SCHRADER (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Magdeburg (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 11), Leipzig 1968, S. 123–154; Franz SCHRADER, Reformation und katholische Klöster. Beiträge zur Reformation und zur Geschichte der klösterlichen Restbestände in den ehemaligen Bistümern Magdeburg und Halberstadt (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 13), Leipzig 1973. 106 Codex diplomaticus Saxoniae Regiae (im Folgenden: CDS), II. Hauptteil, Bd. 3: Urkundenbuch des Hochstifts Meißen, hg. von Ernst Gotthelf GERSDORF, Leipzig 1867, S. 389, Nr. 1461. 107 CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 390 f., Nr. 1462 f. – Die beiden Quellen lassen vermuten, dass nur noch wenige (vier?) Domherren dem katholischen Glauben anhingen.

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weit auseinander. Dieses komplexe, widerspruchsreiche sowie stets heftig umstrittene verfassungs- und kirchenrechtliche „Minenfeld“ kann in Rahmen dieser Miszelle ebenfalls nicht umfassend abgearbeitet werden.108 Die Abfassung des geistlichen Vorbehalts sorgte bereits während der Augsburger Verhandlungen im Sommer 1555 für Unstimmigkeit. Wie angedeutet, wurden aus diesem Grund nicht wenige der offenen Fragen bewusst in dissimulierende Formeln gegossen. Wenn man den geistlichen Vorbehalt als eine Ausnahmereglung ansieht, dann war die declaratio Ferdinandea die Ausnahme von eben jener Ausnahmeregel.109 Sie fand keine Aufnahme in den Augsburger Friedensvertrag, sondern sie war ein „Gentlemen’s Agreement“ zwischen König Ferdinand und dem sächsischen Kurfürsten August. Bereits an der Frage, ob die declaratio Ferdinandea ein bilateraler Staatsvertrag, ein gütliches Abkommen zwischen zwei Staatsmännern, gar ein Geheimvertrag oder eben nur ein unverbindlicher „Brief“ sei, schieden und scheiden sich die Geister. Im 16. Jahrhundert wurde von katholischer Seite sogar die Echtheit dieses „Briefes“ lange Zeit angezweifelt.110 Entscheidend erscheint, dass in der Ferdinandeischen Erklärung der geistliche Vorbehalt für Kursachsen (nur für Kursachsen!) außer Kraft gesetzt wird. Mittels dieses „Schriftstücks“ war sich Kurfürst August sicher, einen ungehinderten Zugriff auf seine landsässigen Hochstifte Merseburg, Meißen und NaumburgZeitz erhalten zu haben. Mehr noch: Er ließ die declaratio Ferdinandea umgehend veröffentlichen. Hinsichtlich der Drucklegung und Veröffentlichung sei nicht nur beiläufig erwähnt, dass der Kurfürst den Vertrag sofort beim Leipziger Buchdrucker Valentin Bapst zum Druck bringen ließ. Der Kurfürst hätte durchaus die Erklärung des Königs bei seinem Dresdener Hofdrucker Matthias Stöckel d. Ä. publizieren können – also im Verborgenen.111 Das geschah nicht, sondern der Fürst ließ in Leipzig drucken. Mit der Publikation in Leipzig, also im bedeutendsten Medien- und Kommunikationszentrum Mittel- und Norddeutschlands (sowie teilweise auch des Reiches), sorgte der Kurfürst dafür, dass die Erklärung des Königs umgehend an die Öffentlichkeit gelangte, denn es ist von einer Auflage von mindestens 100 Druckexemplaren auszugehen. Für eine moderate bis hohe Auflage des „Geheimvertrages“ sprechen zudem die noch erhaltenen Exemplare in den mitteldeutschen Archiven und Bibliotheken, so in Coburg,

108 Vgl. grundsätzlich dazu GOTTHARD, Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 103), S. 264–271 et passim. 109 Ebd., S. 267–271. 110 Ebd., S. 267–270; WOLGAST, Kurpfalz, geistliche Fürstentümer (wie Anm. 100), S. 228. 111 GOTTHARD, Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 103), S. 267; Helmut URBAN, Zur Druckgeschichte der ‚Declaratio Ferdinandea‘ (1555), in: Gutenberg-Jahrbuch 51 (1976), S. 255–263, hier S. 257.

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Gotha, Weimar und Zeitz.112 Ferner ist anzuführen, dass durch den Druck in Leipzig bei Bapst die öffentliche Meinung beeinflusst werden sollte. Dafür spricht die Tatsache, dass der Dresdener Hofdrucker Stöckel eben nicht beauftragt wurde. Weiterhin erscheint diesbezüglich bemerkenswert, dass der mit Luthers Lehre sympathisierende Magdeburger Erzbischof Sigismund von Brandenburg (1552–1561/66) im Jahre 1560 in Dresden anfragen ließ, wie eine „christliche Visitation“ in seinem Erzstift zu erfolgen habe. Ein (formal) katholischer Erzbischof fragte also beim unumstrittenen protestantischen Schutzherrn des Augsburger Religionsfriedens naiv an, wie es mit einem möglichen Konfessionswechsel in seinem Erzstift aussähe. Des Erzbischofs Anfrage lässt vermuten, dass ihm die declaratio Ferdinandea bekannt war – und zwar durch Johann Wigand. In seiner Antwort ließ der sächsische Kurfürst dem Magdeburger Erzbischof wissen, dass die protestantischen Reichstagsteilnehmer (!) 1555 eine Deklaration erlangt hätten, dass alle Stifte und geistlichen Untertanen, die dem Augsburgischen Bekenntnis folgen, „dabey gelassen und darvon nicht abgedrungen werden sollen“. Der Kurfürst fügte an, dass er eine Kopie der Erklärung seinem Schreiben beilegt.113 Noch bemerkenswerter ist freilich, dass sich eine handschriftliche Kopie der declaratio Ferdinandea im Nachlass des bis 1560 in Magdeburg wirkenden Superintendenten Johann Wigand (1523–1587) nachweisen lässt.114 Wigand war nicht nur Magdeburger Superintendent, sondern 1560/61 auch Universitätsprofessor an der Theologischen Fakultät in Jena. Fraglos gehörte er zu den wirkmächtigsten Theologen des mittel- und nordostdeutschen Raumes nach Luthers Tod.115 Die chronologisch strenge Einordnung der im Nachlass Wigands befindlichen Kopie lässt den (sicheren) Schluss zu, dass ihm zwischen 1555 und 1560 der Leipziger Druck vorlag.116 Dies erscheint deshalb als denkwürdig, da Wigand nicht nur als Magdeburger Superintendent wirkte, sondern weil sich kurze Zeit später, im Jahr 1561, der Erzbischof Sigismund tatsächlich zum Konfessionswechsel entschloss. Bekanntlich verblieb er bis zu seinem Tod 1566 als Erzbischof von Magdeburg im Amt. Hinsichtlich der Diskussionen über den rechtsverbindlichen Charakter der Deklaration des Königs für Kurfürst August sei angefügt, dass die Deklaration eben nicht nur formaljuristisch zu bewerten ist, sondern auch machtpolitisch. 112 113 114 115

Ebd. GOTTHARD, Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 103), S. 268. URBAN, Druckgeschichte der ‚Declaratio Ferdinandea‘ (wie Anm. 111), S. 257. Zur Biographie Wigands vgl. Daniel GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 34), Leipzig 2011, S. 693 et passim. 116 URBAN, Druckgeschichte der ‚Declaratio Ferdinandea‘ (wie Anm. 111), S. 257 f.

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Sie diente dem Kurfürsten von Sachsen zur Legitimation. Zeitgleich, im Jahr 1560, verständigten sich Kursachsen und Kurbrandenburg über die Erklärung König Ferdinands.117 Der „rechtsunverbindliche Brief“ bzw. die Erklärung, die der König im Frühherbst 1555 gegenüber Kursachsen abgegeben hatte, diente also spätestens seit 1560 auch als legitimierendes Argument für Brandenburg. Mit der declaratio Ferdinandea konnte die konfessionelle Umgestaltung in den geistlichen Territorien vorangetrieben werden. Die mächtigen Kur- und Landesfürsten aus dem Nordosten des Reiches scherten sich nicht im Entferntesten darum, inwieweit der „Brief“ formalrechtliche Gesetzeskraft besaß. Für sie erwuchs aus der declaratio Ferdinandea die normative Kraft des Faktischen. Es ist kein Zufall, dass nach 1560 alle mittel- und nordostdeutschen Bischofsstühle mit Administratoren besetzt wurden, die aus den Familien der Landesfürsten stammten. Eine Ausnahme ist allein die Besetzung in Cammin, wo bereits 1556 der 14-jährige Sohn des Herzogs Philipp I. von Pommern-Wolgast, Herzog Johann Friedrich, zum evangelischen Bischof gewählt worden ist. Inwieweit sich die Wahl in Cammin auf die Kenntnis der Deklaration gründet hat, ist unbekannt. Mit Blick auf die Leipziger Drucklegung ist davon jedoch auszugehen. Fernerhin ist in Cammin bemerkenswert, dass die Herzöge Pommerns im Jahr 1560 verfügt haben, dass das Stift und Domkapitel als evangelische Institutionen bestehen bleiben sollten.118 Der aus dem Haus Hohenzollern stammende Magdeburger Erzbischof Sigismund begann im September 1561 mit der evangelischen Kirchenvisitation in seinem Erzstift. Auf diese Weise führte er die Reformation ein. Wie erwähnt, folgte ihm nach seinem Ableben im Jahre 1566 sein Vetter, der Hohenzoller Joachim Friedrich als Administrator ins Amt.119 Seine Postulation nahm das Magdeburger Domkapitel anstandslos vor. Das Jahr 1560/61 ist somit eine Zäsur. Jedoch nicht nur aufgrund der diplomatischen Verhandlungen zwischen Brandenburg und Sachsen sowie wegen der evangelischen Kirchenvisitation in Magdeburg, sondern auch durch den Tod des letzten katholischen Bischofs in Merseburg. Nach dem Schmalkaldischen Krieg und der endgültigen Abdankung des Administrators (des Herzogs August im Jahr 1549) ließ Kaiser Karl V. dem Merseburger Domkapitel mitteilen, dass er die Wahl des Weihbischofs von Sidon Michael Helding wünsche. Nach Verhandlungen zwischen den kaiserlichen Räten, dem Kapitel und Kurfürst Moritz – der als Schutzherr des Stifts im Hintergrund versucht hatte, den Naumburger Bischof Julius Pflug ins Spiel zu 117 Ebd., S. 258; Gustav WOLF, Eine Verhandlung von 1560 zwischen Brandenburg und Sachsen über die Rechtsverbindlichkeit des geistlichen Vorbehalts, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 1 (1888), S. 601–605. 118 SCHMIDT, Pommern, Cammin (wie Anm. 93), S. 199. 119 SCHRADER, Reformation und katholische Klöster (wie Anm. 105), S. 89 f.

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bringen – erfolgte Heldings Wahl am 28. Mai 1549.120 Das evangelische Kirchenwesen war im Hochstift inzwischen fest verwurzelt. Erst 18 Monate nach seiner Wahl zog Helding in Merseburg ein. Trotz vielfältiger Bemühungen gelang es ihm nicht, den katholischen Glauben wieder zu etablieren. Außerdem hatte sich seit dem Vertrag von Passau im August 1552 das Kräfteverhältnis zugunsten des Kurfürsten Moritz verschoben. Helding stand auf verlorenem Posten. Schließlich berief ihn Kaiser Ferdinand im Jahr 1558 ab und übertrug ihm die Stellung eines Beisitzers im Reichskammergericht zu Speyer. Helding starb Ende September 1561 in Wien. Nach Heldings Ableben besaß Kurfürst August freie Hand. Am 12. Dezember 1561 wählte das Merseburger Domkapitel den Sohn des Kurfürsten, den erst siebenjährigen Alexander, zum Administrator von Merseburg.121 Ein Koadjutor für geistliche Sachen wurde nicht berufen. Vielmehr wurde im Einvernehmen mit dem Domkapitel ein Stiftssuperintendent für Merseburg sowie Senioren für die Ämter Lützen, Lauchstädt und Schkeuditz eingesetzt. 1562 ernannte Kurfürst August den bisherigen Superintendenten von Delitzsch, Dr. theol. Bartholomäus Rumbaum, zum Superintendenten von Merseburg. Zusammen mit Johannes Pfeffinger und dem Merseburger Domherrn Dr. jur. Hieronymus von Komerstadt leitete er auch die Kirchenvisitation des Jahres 1562. Zwar war bereits zu Michael Heldings Zeiten das Merseburger Stiftsterritorium faktisch komplett evangelisch, letztlich und formal indes erst seit 1561/62.122 Nach Magdeburg und Merseburg folgte schließlich auch bald das Stift Naumburg. Der katholische Bischof, der bereits mehrfach erwähnt Julius Pflug, war am 3. September 1564 verstorben. Vier Tage später besetzten 350 kursächsische Kriegsleute Naumburg. Unmissverständlich ließ der Kurfürst dem Domkapitel, dessen konfessionelle Zusammensetzung unbekannt ist, wissen, dass er die Wahl seines Sohnes Alexander, der bereits Administrator zu Merseburg war, erwarte. Dem kurfürstlichen Verlangen kam das Domkapitel am 19. September 1564 anstandslos nach.123 Infolge des Wahlakts erkannte Kursachsen das Naumburger Domkapitel als autonomes Rechtssubjekt an. Der plötzliche Tod des Administrators Alexander (8. Oktober 1565) fiel zufälligerweise mit dem zeitgleich stattfindenden kursächsischen Landtag in 120 Heribert SMOLINSKY, Michael Helding (1506–1561), in: Erwin ISERLOH (Hg.) Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 2 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 45), Münster 1985, S. 124–136. 121 Albert FRAUSTADT, Die Einführung der Reformation im Hochstifte Merseburg, Leipzig 1843, S. 262. 122 Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, NR 11: Die Protokolle der Kirchenvisitation im Stift Merseburg von 1562 und 1578, hg. von Walter FRIEDENSBURG, Magdeburg 1931. 123 BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 7), S. 157 f.

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Torgau zusammen, der am 23. September eröffnet worden war. Delegierte der Domkapitel zu Merseburg und Naumburg sowie des Kollegiatstifts Zeitz saßen seit jeher auf der Prälatenbank; sie waren also in Torgau anwesend. Bemerkenswert erscheint, dass die Ritterschaft ausdrücklich in den Landtagsverhandlungen anmahnt, dass „die Canonicate wie vor Alters denen von Adel und den Doctoren, die von Adel gestifteten Vicarien und Beneficien diesem vorbehalten bleiben“.124 Die Frage nach der Besetzung der Domkapitel sowie zur zukünftigen Administration waren, wenngleich wohl nur am Rande, Gegenstand der Landtagsverhandlungen. Auf alle Fälle erlangte der Kurfürst in Torgau, dass die Kapitel ihn zum Administrator wählten. Durch seine Wahl wurde die Schutzherrschaft Kursachsens über die beiden Stiftsterritorien bekräftigt; zugleich bestätigte der Kurfürst aber auch die Rechte der Kapitel (Torgauer Vertrag, 24. Oktober 1565). Anstatt des Kurfürsten-Administrators wurden in Naumburg und Merseburg Stiftsregierungen installiert, die vorerst nur für 20 Jahre legitimiert waren. Bei den Verhandlungen wies der Kurfürst jedoch auch mit Nachdruck darauf hin, dass ihm die „Bistümer mächtig seien und er eine Erblichkeit daran habe“.125 Letztlich waren damit die Hochstifte Naumburg und Merseburg ein Teil Kursachsens geworden. Die Rechte der beiden Domkapitel sowie des Kollegiatstifts in Zeitz blieben unangetastet; größtenteils betraf es auch die ihnen zustehenden Einkünfte. Hinsichtlich des Hochstifts Meißen hatte der Kurfürst mit dem bereits oben erwähnten Vertrag vom 25. April 1555 Tatsachen geschaffen. In den Stiftsgebieten um Wurzen, Mügeln, Stolpen und Bischofswerda hatte sich zwar längst die Reformation ausgebreitet, aber eine evangelische Kirchenvisitation hatte es – abgesehen von der „waffenklirrenden“ Visitation im Stiftsgebiet um Wurzen infolge der Fehde von 1542 – bisher nicht gegeben.126 Im Vertrag vom April 1555 hatte der Bischof Johann IX. indes zugesichert, für die Einführung der Religion Augsburgischen Bekenntnisses im Hochstiftsgebiet zu sorgen. Mehr recht als schlecht ließ er schließlich eine Visitation im Juni 1556 zu, wodurch die Reformation im Territorium des Stifts endgültig eingeführt worden ist. Völlig 124 Johannes FALKE, Zur Geschichte der sächsischen Landstände. Die Regierungszeit des Kurfürsten August 1565–1582, in: Mittheilungen des Königlich Sächsischen Alterthumsvereins 24 (1874), S. 86–134, hier S. 93. 125 Hellmut KRETZSCHMAR, Zur Geschichte der sächsischen Sekundogeniturfürstentümer. Die Linien Sachsen-Merseburg und Sachsen-Zeitz, in: DERS., Vom Anteil Sachsens an der neueren deutschen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 16), hg. von Reiner GROSS und Manfred KOBUCH, Stuttgart 1999, S. 172–203, hier S. 176. 126 Ralf THOMAS, Die Einführung der Reformation im Meißner Stiftsgebiet unter besonderer Berücksichtigung des Wurzener und Mügelner Territoriums, in: DERS., Stiftsland Wurzen (wie Anm. 11), S. 87–114.

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offen waren hingegen die Verhältnisse im Osten seiner Diözese – in der Lausitz. Unabhängig davon war die Wahl des Bischofs von Papst Paul IV. am 25. Oktober 1555 bestätigt worden. König Ferdinand hat den Meißner Bischof schließlich am 16. Februar 1557 mit allen Rechten belehnt.127 Hinsichtlich der Stellung des katholischen Bischofs von Meißen ist darauf zu verweisen, dass zwar sein Stiftsterritorium inzwischen komplett evangelisch war, dass jedoch nicht wenige Gläubige in Teilen seiner Diözese – die sich weit in beide Lausitzen erstreckte – der römisch-katholischen Konfession anhängig waren. Formal unterstand die Landesherrschaft in den Lausitzen dem Böhmischen König, also dem König Ferdinand.128 Und so suchte Bischof Johann IX. bei König Ferdinand hoffnungsvoll um Unterstützung nach. Anlässlich seiner formalen reichsrechtlichen Privilegierung durch Ferdinand vom 16. Februar 1557 schilderte der Bischof in einem außerordentlich umfangreichen Dankesschreiben (15. Juni 1557) dem König die kirchenrechtliche, religiöse und politische Situation in seinem Bistum. Es ist ein Dokument der Verzweiflung.129 Seitens des katholischen Bischofs werden die seiner Meinung nach Verantwortlichen für den Untergang des alten Glaubens in seinem Sprengel benannt: die albertinischen Landesfürsten als Schutzherren des Stifts; ausdrücklich wird auf den Vertrag vom 25. April 1555 verwiesen, in den er anlässlich seiner Bischofswahl hat einwilligen müssen. Des Bischofs Hilferuf war nicht gänzlich fruchtlos, denn Ferdinand wandte sich nunmehr an Kurfürst August. Der Kurfürst wiederum – das ist aus internen Schreiben an seine wichtigsten Hofräte bekannt – zeigt sich über das Verhalten des Bischofs erzürnt.130 Kurzum: Die Zeichen standen auf Sturm. Ein Anlass für einen Konflikt mit dem Meißner Bischof war schnell gefunden. Angeblich war es nach dem Tod des Meißner Bischofs Nikolaus II. von Karlowitz im April 1555 anlässlich der Testamentseröffnung zu Unregelmäßigkeiten gekommen, so dass sich ein Angehöriger der Familie von Karlowitz, der im Amt Pirna begüterte und in Dresdner Diensten stehende Hans von Karlowitz, entschloss, dem Bischof die Fehde anzusagen.131 Es kam zur Anwendung 127 CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 392, Nr. 1466 f. 128 Karlheinz BLASCHKE, Lausitzen, in: Anton SCHINDLING/Walter ZIEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 6: Nachträge, Münster 1996, S. 92–113; Karlheinz BLASCHKE/Walther HAUPT/Heinz WIESSNER, Die Kirchenorganisation in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg um 1500, Weimar 1969. 129 CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 393–396, Nr. 1469. 130 Rudolph VON KYAW, Die Carlowitzsche Fehde im Jahre 1558, in: Archiv für Sächsische Geschichte NF 4 (1878), S. 193–216, hier S. 198 (Schreiben des Kurfürsten an Dietrich von Starschedel vom 21. Juli 1558). Zum Briefwechsel zwischen Ferdinand, August und dem Bischof siehe CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 396–400, Nr. 1470–1474. 131 VON KYAW, Carlowitzsche Fehde (wie Anm. 130), hier S. 200–203.

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von Gewalt. Mit geradezu grotesker Passivität hielt sich der Kurfürst in diesem Konflikt zurück, obgleich er als Schutzherr des Bischofs zur Intervention verpflichtet gewesen wäre. Die Details der Auseinandersetzung müssen an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Gewalt und Gewaltandrohung erklären indes, warum sich schließlich Bischof Johann von Haugwitz und Kurfürst August auf ein Vertragswerk geeinigt haben (18. Januar 1559), in dem die Umwandlung des Hochstifts in ein evangelisches Stift festgeschrieben wurde. Noch pikanter sind die Abmachungen in entsprechenden Nebenverträgen.132 Eine rechtspositivistische Analyse der Vertragstexte könnte ohne Kenntnis der politischen Hintergründe zu der berechtigten Frage führen, warum der Bischof derartige Verträge unterzeichnet hat. Hinweise auf die Fehde des Hans von Karlowitz sowie auf die Deklaration Ferdinands mögen als handfeste Argumente dienen, warum sich Johann von Haugwitz am 18. Januar 1558 in diese Verträge hat zwingen und verstricken lassen. Doch damit nicht genug. Am 20. Februar 1565 wies der Bischof vertragsgemäß dem Kurfürsten von Sachsen sämtliche Prälaturen und Pfründen innerhalb des Domkapitels zu und nahm davon zugunsten freier bischöflicher Kollatur nur sieben Vikarien aus, die jedoch auch nur mit Augsburgischen Konfessionsverwandten besetzt werden durften.133 Damit war der Weg für ein evangelisch-lutherisches Domkapitel frei und gesichert. Hinsichtlich der Legitimation des evangelischen Kapitels ist in der Urkundenarenga ausdrücklich davon die Rede, dass es zur Erhaltung von Kirchen, Schulen und des Regiments gelehrter Leute bedürfe, die u. a. auch an den Universitäten in Leipzig und Wittenberg sowie in den Konsistorien dienen sollen. Spätestens im Jahr 1576 waren alle Meißner Domherren protestantisch.134 Bischof Johann von Haugwitz resignierte schließlich am 20. Oktober 1581 im Wurzener Kollegiatkapitel in Anwesenheit der Meißner Domherren. Im Jahr darauf verehelichte er sich achtundfünfzigjährig mit seiner Nichte Agnes von Haugwitz. Die Ehe blieb kinderlos. Der resignierte Bischof verstarb am 26. März 1595.135 Der Torgauer Vertrag des Jahres 1565 für die Kapitel zu Merseburg, Naumburg und Zeitz sowie das ebenfalls im Jahr 1565 abgeschlossene Abkommen zwischen Kurfürst August und Bischof Johann IX. können – überspitzt formuliert – als die Geburtsurkunden der evangelisch-lutherischen Kapitel im wettinischen Herrschaftsbereich angesehen werden. Im engeren Sinne waren es jedoch noch keine förmlichen Neukodifikationen. Solche sind vor dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück (1648) nur teilweise nachweisbar. Am ehesten 132 CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 400–404, Nr. 1475–1477. Vgl. auch PAUL DITTRICH, Die Meißener Diözese unter der Kirchenpolitik des 16. und 17. Jahrhunderts (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 1), Leipzig 1961, S. 30 f. 133 CDS II/3 (wie Anm. 106), S. 407, Nr. 1483. 134 DITTRICH, Meißener Diözese (wie Anm. 132), S. 33. 135 Ebd., S. 33 u. 73 f.

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trifft es auf Cammin (1578), St. Simon und Judas in Goslar (1585), St. Maria in Kolberg (1586), auf Brandenburg (1588) oder auf das Domkapitel in Merseburg (1613) zu.136 Ansonsten nahmen die evangelischen Administratoren kaum Novellierungen in den Statuten vor; und wenn doch, dann griffen sie und die Kapitel auf vorreformatorische Ordnungen zurück und bauten nur geringe Nachträge und Zusätze ein, so in Naumburg und Zeitz (1580) oder in Havelberg 1581.137 Hinsichtlich des Besetzungsrechts der Domherrenstellen ging – wie im Falle Kursachsens gezeigt – kein Weg am Landesfürsten vorbei. In Kursachsen war dies in den Verträgen von 1565 festgelegt worden, in Brandenburg wurde es 1571 geregelt.138 In den unmittelbar zu Kursachsen, Kurbrandenburg und Pommern gehörenden Dom- und Kollegiatstiften besaßen die Kapitel das Präsentationsrecht auf frei gewordene Stellen. Die Einsetzung und Berufung nahmen jedoch die Fürsten bzw. die Oberkonsistorien vor. Somit hatten die Oberkonsistorien – wie auch bei der Besetzung der Universitätsordinariate oder der Rektoren- und Präzeptorenstellen an den Fürstenschulen – das letzte Wort. Die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen konnten jedoch nicht beliebig schalten und walten. Teilweise überkreuzten sich auch ihre dynastischen Interessen, so in Magdeburg. Außerdem besaßen die Kapitel nach 1555 ein nicht zu unterschätzendes Mitspracherecht. Beispielsweise betraf es das Gerangel zwischen Kurfürst August und den Hohenzollern um die inzwischen evangelische Magdeburger Cathedra 1566 oder den Versuch des sächsischen Kurfürsten, nach dem Tod der Äbtissin Anna von Stolberg im Jahr 1574 eine albertinische Prinzessin als Nachfolgerin im Quedlinburger Stift unterzubringen. In Magdeburg und noch viel mehr in Quedlinburg widersetzten sich die inzwischen komplett evangelischen Gemeinschaften fürstlichen Machtansprüchen. In Quedlinburg ist sogar am 23. August 1574 zwischen der neuen Äbtissin, Elisabeth II. von Regenstein, und dem Kurfürsten August als Schutzherrn des Stifts ein umfangreiches Vertragswerk abgeschlossen worden, das – aus der Perspektive des Stifts betrachtet – als ein Meisterwerk anzusehen ist. Einerseits konnten sich die Kanonissen des kursächsischen Mediatisierungsdrucks erwehren, anderseits erlangten die Stiftsdamen sogar die kaiserliche Konfirmation und die Belehnung mit den Regalien.139 Als evangelisches Stift sicherte es sich somit nicht zuletzt durch des Kaisers Gunst seine Fortexistenz.

136 HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 88. 137 Ebd., S. 89. 138 Alfred SCHULTZE, Die Rechtslage der evangelischen Stifter Meißen und Wurzen. Zugleich ein Beitrag zur Reformationsgeschichte (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, 1), Leipzig 1922, S. 6–14; HECKEL, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter (wie Anm. 4), S. 126 f. 139 BLEY, Tradition – Reformation – Legitimation (wie Anm. 75), S. 52–56.

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7. Zusammenfassung In der frühen Reformationszeit überwog hinsichtlich der an den Dom- und Stiftskirchen wirkenden Kanoniker seitens der Reformatoren Skepsis und Misstrauen. Als privilegierte Standesgruppe wurden sie weitgehend abgelehnt. Eine Ausnahme waren die an der Universität Wittenberg lehrenden Kanoniker des Allerheiligenstifts, deren Versorgung mittels der ihnen zustehenden Pfründen nicht infrage gestellt worden ist; nicht zuletzt weil sie natürlich selbst Teil der evangelischen Bewegung waren. Infolge der Neuordnung der Wittenberger Universitätsfinanzen (1525, 1536) wurden schließlich ihre ursprünglichen Präbenden einem Gesamtfonds zugewiesen, so dass das Allerheiligenstift ab 1525 als aufgelöst angesehen wurde. Sein Ende bedeutete jedoch nicht, dass zwangsläufig alle anderen Kanoniker-Gemeinschaften aufzulösen seien und das Stiftungsgut sequestriert bzw. säkularisiert werden sollte. Gleichwohl – man denke beispielsweise an die Kollegiatstifte St. Marien in Coswig und St. Bartholomäi in Zerbst – bestand die Möglichkeit der Säkularisation. Um 1525/27 blieb die Frage vorerst unbeantwortet, ob ein institutionelles Weiterleben der Gemeinschaften, vor allem wenn sie sich der Reformation anschlössen, möglich und zweckmäßig sei. Diesbezüglich wurde das Schicksal der Dom- und Nebenkapitel mit dem des Bischofsamtes verbunden. Der Bischof als geistlicher Oberhirte, der sich verantwortungsvoll für seine Gemeinde einsetzt, sowie das Bischofsamt generell wurden seitens der Reformatoren nicht angezweifelt. In diesen Jahren hofften sie, dass sich Bischöfe und Kapitel der Reformation anschließen würden. Ihre Hoffnung wurde durch die Vorgänge im inzwischen säkularisierten Herzogtum Preußen genährt (evangelische Bischöfe Georg von Polenz und Erhard von Queiß). In etwa zur selben Zeit setzte sich aber auch bei den Reformatoren die Überzeugung durch, dass es notwendig sei, innerkirchliche Hierarchien und Strukturen zu stärken, obwohl man in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre kaum von einer evangelischen Kirche oder gar einer Landeskirche sprechen kann. Es ging – um Martin Brecht zu zitieren – um „die Ordnung und Abgrenzung der Reformation“. Da sich Ende der Zwanziger- bzw. Anfang der Dreißigerjahre abzeichnete, dass sich wohl nur in Ausnahmefällen die Bischöfe und die Kapitel der Reformation öffnen würden, stand die Bewahrung und Stärkung der evangelisch-lutherischen Ordinations-, Visitations- und Inspektionsgewalt auf der Agenda; dies befürworteten ausdrücklich die evangelischen Landesfürsten und die Landstände. Entsprechend wurden Superintendenten berufen, die als evangelische Bischöfe agierten. Ihre materielle Versorgung gründete sich auf sequestriertes bzw. säkularisiertes Kirchengut. Bei der Frage nach der Nutzung des Kirchengutes – das wie in Kursachsen zu dieser Zeit von den Landständen verwaltet wurde – sowie der Versorgung von Personen, die für Ordination, Visitation und Inspektion zuständig waren, gerieten

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allmählich auch die Dom- und Nebenstifte ins Blickfeld. Unter den Landständen, besonders unter dem landsässigen Adel, wurden zudem vermehrt Stimmen laut, die für ein Weiterleben der Gemeinschaften votierten. Jedoch waren zu dieser Zeit, also in den Dreißigerjahren und zu Beginn der Vierzigerjahre, die Dom- und Kollegiatkapitel fast noch vollständig römisch-katholisch. Hinsichtlich eines möglichen Konfessionswechsels der Bischöfe und Kapitulare setzten die Landesfürsten und ihre Stände in Brandenburg, Pommern und Sachsen nunmehr auf Zeit. Ihre Hoffnung war – nicht zuletzt weil die Fürsten die Hochstiftsvogteien über die Bistümer besaßen –, dass ihnen die geistlichen Territorien wie „reife Früchte in den Schoß“ fallen würden. Von essentieller Bedeutung war, dass die Domkapitel nach dem Tod eines jeden Bischofs und der sich anschließenden Sedisvakanz uneingeschränkt als Träger der bischöflichen Oberhoheit agierten, so dass die Landesfürsten – außer in Naumburg nach 1541 – zwangsläufig mit den Kapiteln in Verhandlung treten mussten. Aus landesfürstlicher Sicht war also die Frage nicht unerheblich, wie man mit den noch größtenteils katholischen Kapiteln umzugehen gedenke und ob man sie überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiere. Relativ reibungslos verlief diesbezüglich der Übergang in Cammin, der bereits 1535 sehr allmählich eingesetzt hatte. Nach dem Tod des letzten katholischen Bischofs im Januar 1544 wurde schließlich Bartholomäus Swawe vom Domkapitel im Mai 1545 zum geistlichen und weltlichen Administrator gewählt. Damit erhielt in Cammin der Administrator die geistliche Aufsicht über seinen Sprengel, zugleich behielt er aber auch weiterhin die weltliche Herrschaft über das Hochstiftsgebiet. Dies war nicht im Sinne der Reformatoren, so dass vor allem aus diesem Grund Bugenhagen absagte. Immerhin wurde das Domkapitel als Träger bischöflicher Oberhoheit akzeptiert. Seine Existenz stellten die Greifen nicht in Frage. Zum eigentlichen Experimentierfeld für die reformatorischen Umgestaltungen wurden schließlich Naumburg und Merseburg sowie sodann auch Brandenburg. Naumburg erscheint rückblickend deshalb als bedeutsam, weil infolge des Ablebens des katholischen Bischofs Philipp von Freising im Januar 1541 erstmals eine Cathedra im Nordosten des Reiches mit einem evangelischen Bischof besetzt werden konnte. Da dies ein Novum war, hätte Naumburg zum Vorbild für eine evangelische Umgestaltung werden können, zumal Kurfürst Johann Friedrich über die Hochstiftsvogtei verfügte. Unstrittig war er zu dieser Zeit der mächtigste und einflussreichste protestantische Fürst im Reich. Doch Johann Friedrich der Großmütige setzte auf Konfrontation. Er überging komplett die Kapitel. Obgleich der Naumburger Versuch im Herbst 1546 durch den Schmalkaldischen Krieg abgebrochen wurde, so standen doch letztlich die Zeichen hinsichtlich des Naumburger Domkapitels und des Kollegiatstifts in Zeitz auf Auflösung und Säkularisation. Völlig anders verhielt es sich in Merseburg. Von Beginn an wurde das Domkapitel als (fast) gleichrangiger Verhandlungspartner

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akzeptiert. Nachfolger für den letzten katholischen Bischof wurde Fürst Georg III. von Anhalt, der dem Augsburger Bekenntnis anhing, selbst aber dem Merseburger Domkapitel angehörte. Durch ein Vertragswerk vom Mai 1544 wurden dem Domkapitel alle althergebrachten Rechte zugesichert. Im Gegenzug billigte es die Einsetzung Georgs von Anhalt als Koadjutor in geistlichen Sachen. Damit amtierte er faktisch als evangelischer Bischof. Die weltliche Herrschaft über das Stiftsterritorium wurde dem Herzog August als Administrator angetragen. Die Trennung von geistlicher Aufsicht und weltlicher Herrschaft entsprach reformatorischen Forderungen. Die Kehrseite des Vertrages war aber, dass Herzog August ungehinderten Zugriff auf die Ressourcen des Hochstifts, mithin auf umfangreiches Kirchengut erhielt und fürstlich residierte. Das Administratorenamt diente ihm letztlich vorrangig zur Versorgung aus säkularisiertem Kirchengut, was grundsätzlich reformatorischen Absichten widersprach. In Brandenburg wiederum veränderte sich der Umgang mit dem Domkapitel binnen weniger Jahre. Nach dem Tod des Matthias von Jagow überwog die Konfrontation, jedoch wurde schrittweise das Kapitel, das gleichfalls in der Mitte des Jahrhunderts noch größtenteils katholisch war, als Partner zunehmend akzeptiert – vor allem auch, weil einige brandenburgische Hofräte zugleich eine Präbende im Kapitel nutzten. Die Vorgänge in Merseburg und Brandenburg eröffneten grundsätzlich die Möglichkeit des Weiterlebens protestantischer Dom- und Nebenkapitel. Der Ausgangspunkt scheint dabei die Versorgung von Familienmitgliedern der Fürstenfamilie als Administratoren gewesen zu sein. Ihre Installation war nur mittels der Zustimmung der Kapitel möglich. Im Gegenzug billigten die Fürsten, dass die Gemeinschaften – vorerst unabhängig vom Bekenntnis – weiterexistieren können. Nicht zuletzt sah man in den reichlich ausgestatteten Stellen eine Möglichkeit, Personen zu versorgen, die zukünftig im Schul-, Staats- und Kirchendienst tätig werden sollten. Dies betonte Georg III. von Anhalt bereits Mitte der 1540er Jahre ausdrücklich, als es um die Einrichtung von Konsistorien ging. Neben der dynastischen Versorgungspolitik ging es aber auch um die Integration der geistlichen Territorien in die Staatsgebilde von Kurbrandenburg, Kursachsen und Pommern. Die Hohenzollern, Wettiner und Greifen sahen in ihren Bistümern Territorien, die ihrer Meinung nach bestenfalls zwischen Reichs- und Landstandschaft oszillierten. Damit vollendeten sie eine integrative Politik, die sie seit dem Spätmittelalter verfolgt hatten. Auch hierbei bedurfte es anerkannter Verhandlungspartner – und dies konnten bei Sedisvakanzen nur die Domkapitel sein. Ohne eine konditionalgeschichtliche Deklination vornehmen zu wollen, sei diesbezüglich abermals auf das ungeschickte Agieren des Kurfürsten Johann Friedrich und seiner Missachtung der Naumburger und Zeitzer Kapitel verwiesen. Mit Hinweisen auf den Augsburger Religionsfrieden könnte angenommen werden, dass die machtpolitischen und verfassungsrechtlichen Gestaltungsmög-

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lichkeiten im Jahr 1555 einen Abschluss gefunden haben. Herausragend für die weitere Entwicklung sollte indes nicht das Augsburger Friedenswerk werden, sondern eine Abmachung zwischen König Ferdinand und Kurfürst August von Sachsen. Durch die sog. declaratio Ferdinandea vom 24. September 1555 meinte der sächsische Kurfürst eine Möglichkeit erhalten zu haben, den geistlichen Vorbehalt außer Kraft setzen zu können. Im geistlichen Vorbehalt war – recht einfach formuliert – festgelegt worden, dass jeder Erzbischof oder Bischof, so er sich vom katholischen Glauben abwendet, sein Erzbistum oder Bistum zu verlassen habe. Stirbt oder resigniert ein katholischer Bischof, dann müsse das Kapitel einen Nachfolger wählen, der ebenfalls katholisch sein soll. Dieser im Augsburger Religionsfrieden festgeschriebener Paragraph besaß für Kursachsen durch die declaratio Ferdinandea keine Gültigkeit. Die Deklaration König Ferdinands, deren Charakter auch gegenwärtig in der Forschung noch umstritten ist, ließ Kurfürst August umgehend durch Druck veröffentlichen. Vermutlich, zu beweisen ist es jedoch nicht, diente sie zur Legitimation bei der Einsetzung des erst 14-jährigen Herzogs Johann Friedrich zum evangelischen Bischof von Cammin im Jahr 1556. Er war ein Sohn des Herzogs Philipp I. von PommernWolgast. Gesichert ist, dass die Deklaration Ferdinands Gegenstand diplomatischer Verhandlungen zwischen Kurbrandenburg und Kursachsen im Jahr 1560 war. Dies fällt mit dem beabsichtigten Konfessionswechsel des Magdeburger Erzbischofs Sigismund zusammen. Der aus dem Haus Hohenzollern stammende Sigismund, der die Magdeburger Cathedra seit 1552 besaß, hatte sich spätestens 1560 der lutherischen Konfession angeschlossen. Nach dem Konfessionswechsel verblieb er bis zu seinem Tod 1566 im Amt. Danach wählte das Magdeburger Domkapitel den ebenfalls aus dem Hause Hohenzollern stammenden Joachim Friedrich zum Administrator von Magdeburg. Er war bereits Administrator zu Havelberg (1553), Lebus (1555) und Brandenburg (1560). Bei seinen Wahlen hatte er ausdrücklich die Fortexistenz der Domkapitel zugesichert (außer in Lebus), was auch eine Forderung der märkischen Landstände gewesen war. Mit dem Pfand der Deklaration in der Hinterhand griff schließlich auch Kurfürst August von Sachsen nach dem Tod der katholischen Bischöfe Michael Helding und Julius Pflug in die inneren Verfassungsverhältnisse in Merseburg und Naumburg ein. Die Domkapitel bestellten seinen Sohn Alexander zum Administrator. Nach Alexanders Tod im Jahr 1565 ließ sich der Kurfürst von den Domkapiteln selbst zum Administrator wählen. Ausdrücklich bestätigte er im Torgauer Vertrag (24. Oktober 1565) die Fortexistenz der Kapitel, die zu dieser Zeit evangelisch waren. Bereits im Februar 1565 hatte der Kurfürst mit dem Meißner Bischof Johann von Haugwitz einen Vertrag abgeschlossen, in dem ihm die Besetzung sämtlicher Prälaturen und Pfründen innerhalb des Domkapitels zugesichert worden ist. Dies war die Grundlage für ein evange-

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lisches Domkapitel in Meißen. In dem Vertrag ist ausdrücklich bestimmt worden, dass die Pfründeninhaber für den Kirchen- und Staatsdienst sowie an den Universitäten in Leipzig und Wittenberg zu dienen haben. Die Verträge des Kurfürsten aus dem Jahr 1565 erscheinen als Gründungsurkunden der evangelischen Dom- und Nebenstifte in Kursachsen. Sie besiegelten zugleich die weitgehende Integration der Hochstiftsgebiete ins kursächsische Territorium.

Abbildungsnachweis Beitrag Enno Bünz Abb. 1a, 3–5 u. 8–9: Dom zu Erfurt St. Marien, Bildarchiv Dombauamt (Abb. 3: Foto Dirk Urban; Abb. 5: Foto Falko Bornschein; Abb. 8 u. 9: Foto Falko Behr); Abb. 1b: Johann Philipp ABELIN, Historische Chronick Oder Warhaffste Beschreibung aller vornehmen und denckwürdigen Geschichten/so sich hin und wider in der Welt/von Anno Christi 1629. biß auff das Jahr 1633. zugetragen, Frankfurt am Main: Matthaeus Merian 1633, Einlage zwischen S. 430–431 (Ausschnitt); Abb. 2 u. 7: Bildarchiv Enno Bünz, Leipzig; Abb. 6: Vorlage aus: Wand ARNO, Das Reichsstift „Zum Heiligen Kreuz“ in Nordhausen und seine Bedeutung für die Reichsstadt 961–1810 (Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 17), Heilbad Heiligenstadt 2006, S. 514. Beitrag Matthias Eifler Abb. 1: HAAB Weimar, Q 45, Bl. 1r; Abb. 2: SBB-PK Berlin, Ms. lat. qu. 819, Bl. 218r; Abb. 3: SBB-PK Berlin, Ms. lat. fol. 857, Vorsatzblatt; Abb. 4: SBB-PK Berlin, Hdschr. 435, Bl. 243v; Abb. 5: HAAB Weimar, Oct 51, Bl. 6r; Abb. 6: UB Erfurt, Dep. Erf. I 4° 125, Vorsatzblatt; Abb. 7: FB Gotha, Mon. typ. 1479 2°15, Bl. 103v; Abb. 8: SBB-PK Berlin, Ms. lat. qu. 804, Bl. 1r; Abb. 9: UB Erfurt, Dep Erf. 6 - Tp 2304, vorderer Spiegel; Abb. 10: ULB Münster, COLL. ERH. 595, Titelblatt. Beitrag Volker Graupner Abb. 1: Bildarchiv Iris Lemser, Apolda; Abb. 2: Bildarchiv Volker Graupner, Weimar; Abb. 3: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 1, Bl. 2r; Abb. 4: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 561, Bl. 1r; Abb. 5: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 875a, Bl. 33r; Abb. 6: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. Oo 886c, Bl. 35r. Beitrag Rainer Müller Abb. 1, 4–12, 15, 17, 25, 27 u. 33: Bildarchiv Rainer Müller, TLDA, Bau- und Kunstdenkmalpflege, Erfurt; Abb. 2: Bildarchiv Michael Sander, Erfurt; Abb. 3, 13, 14, 20, 22, 24, 26, 28–32 u. 38: Bildarchiv TLDA, Bau- und Kunstdenkmalpflege, Erfurt; Abb. 16 u. 18: Bildarchiv Werner Streitberger, TLDA, Bau- und Kunstdenkmalpflege, Erfurt; Abb. 19 u. 21: Bildarchiv Barbara Perlich-Nitz, Erfurt; Abb. 23 u. 37: Bildarchiv Udo Hopf, Weimar; Abb. 34 u. 35: Ingenieurbüro Scherf – Bolze – Ludwig, Silbitz; Abb. 36: Bildarchiv Lutz Scherf, Silbitz; Abb. 39: LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. L, fol. 219–230 B 10, Bl. 89r; Abb. 40: Stadt Jena, Team Geoinformation. Beitrag Thomas T. Müller Abb. 1–3: Bildarchiv Thomas T. Müller, Mühlhausen. Beitrag Johannes Mötsch Abb. 1: LATh – HStA Weimar, Urkunde Staatsarchiv 1488 April 29.

Abkürzungsverzeichnis ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Abb. ABKG AGBM Abt. Anm. Art. BA Bd. Bearb. Bl. CAO CDS Cod. d. Ä. DA ders. dies. DigiRef ebd. EGA f. / ff. FB fol. fränk. GW H. HAAB Hg. Hs. HStA ISTC jun. Kap. LASA LATh lfm NF NR

Abbildung Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland Abteilung Anmerkung Artikel Bistumsarchiv Band Bearbeiter Blatt Corpus Antiphonalium Officii, Codex diplomaticus Saxoniae Regiae Codex der Ältere Domarchiv derselbe dieselbe Digitales Archiv der Reformation ebenda Ernestinisches Gesamtarchiv folgende Forschungsbibliothek folio fränkisch Gesamtkatalog der Wiegendrucke Heft Herzogin Anna Amalia Bibliothek Herausgeber Handschrift Hauptstaatsarchiv Incunabula Short Title Catalogue junior Kapitel Landesarchiv Sachsen-Anhalt Landesarchiv Thüringen laufende Meter Neue Folge Neue Reihe

446 Nr. ÖNB o.O. r Red. Reg. röm.-dt. RSB SBB-PK SLUB S. / Sp. s. o. s. u. SHStA StA StadtA T. TLDA ThULB UB ULB Urk. v VD16 vgl. WA WA Br Z.

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Ortsregister Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil aufgeführten Orte. Geographische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Aachen 40, 55, 165 Aibling 326 Allendorf 121, 127, 136–141, 143, 145 f., 390 Allstedt 127 Altenburg 17, 25, 28, 31, 36, 45, 58, 62, 69, 132, 163, 170, 180, 183, 186, 188, 192, 194, 196–200, 210, 216, 348–351, 353, 356, 358, 381, 386 f., 390, 401, 403 Altenkirchen 351 Altzella (Altzelle) 126, 128 f., 336, 372 Anrode 151, 153 f., 159, 246, 249 f., 252–254, 259 Apolda 369 Arnshaugk 377 Arnstadt 69, 74, 76, 79, 100, 111, 113, 216 f., 224, 228, 295 Augsburg 268, 283, 307, 320, 387, 397, 403 f., 414, 426, 428 f., 431 f. Bad Bibra 23, 29 Bad Salzungen 136, 145 Bamberg 49, 332 Basel 351 Bergsulza 24, 28 f., 31, 35, 43, 46, 48 Berlin 223, 322, 355–357, 364 Beromünster 38 Beuren 17, 149 f., 246, 248–250, 253, 255, 258, 260 Beyernaumburg 208, 356 Bickenriede 252 Bischofstein 251 Bischofswerda 413, 435 Bodenrode 255 Bologna 281

Brandenburg 38, 50, 221, 228, 397, 403, 408, 421–424, 427–429, 432, 438, 440–442 Brehna 125 Bremen 32, 219 Breslau 185, 228, 233 Buch (Kloster) 126; 133; 387; 390 Büraburg 22 Bürgel 352, 390 f. Burgkunstadt 363 Bursfelde 17 f., 141, 151, 160, 247, 274, 315–318, 325, 329, 331 f., 334, 337– 339 Büttstedt 254 Cammin 397, 424–429, 433, 438, 440, 442 Celle 217 Claußnitz 369 Clus 345 Coburg 125, 216, 326 f., 365, 371, 386, 431 Cölln an der Spree 397, 424, 426 Coswig 413, 439 Creuzburg 377, 390 f. Crimmitschau 387, 390 f. Cronschwitz (Kloster) 387 Crossen an der Elster 368, 423 Dachrieden 260 Delitzsch 434 Diedorf 250 Dielsdorf 369 Dingelstädt 256 Dobrilugk 125 Döllstädt 150 Donndorf 154 f.

448 Dornburg 368 Dresden 342, 381, 431 f., 436 Duderstadt 154, 255 Düren 142 Eger 219, 243 Eicha (Kloster) 378 Einbeck 59 Eisenach 23 f., 28, 31, 39, 46, 50, 69, 91, 112 f., 122, 130, 167, 215–217, 223, 228 f., 348, 354, 373, 377, 390 f. Eisenberg 125, 149, 151–153, 155, 157 f., 160, 390 f. Eisleben 112, 206, 356 Erfurt 7, 9–11, 13 f., 17–19, 21–23, 26, 28, 30 f., 34, 36, 38, 41, 43–49, 51 f., 55–62, 66–69, 71 f., 74–76, 79–82, 94, 96–100, 109–113, 127, 130, 136 f., 139, 143, 147, 149 f., 153, 156, 159, 169, 180–183, 187 f., 190–192, 196, 201 f., 209 f., 213, 215, 223–227, 231, 235, 247, 261–269, 271 f., 275 f., 279– 285, 287–297, 299–302, 304–309, 315–318, 320, 322, 324, 326, 329–332, 334–336, 338 f., 341, 343, 348, 355– 357, 364, 369, 381 Ettersburg 36, 169, 180–183, 187, 191 f., 196, 202–204, 207, 209 f., 377, 391 Etzelsbach 260 Eythra 416

ORTSREGISTER

Genf 261 Georgenthal 377, 391 Gerode 246 f., 253, 259 Gestungshausen 365 Gießen 31, 355 Goldberg 228, 233 Golmsdorf 361 Golzheim 301 Görlitz 217 Goseck 321 Goslar 169, 180, 185–189, 192–194, 201, 206 f., 210, 430, 438 Gotha 24, 30 f., 39, 46, 52–54, 58, 61, 76, 93, 111, 152, 161, 167, 215 f., 332, 356, 377, 381, 384, 386, 391, 394, 401, 432 Graz 243 Greißlau 147 Grimma 125, 132, 387 Großburschla 23, 29, 35, 46 Großenhain 46 Großfurra 155, 158, 160 Grünhain 127, 133, 372, 387 Gurk 50, 143

Falken an der Werra 329 Frankenhausen (heute Bad Frankenhausen) 155, 158–161 Frankenhausen (bei Crimmitschau) 387, 391 Frankfurt/Main 405, 421 Frankfurt/Oder 233, 397 Frauenprießnitz 147, 153, 160 Frechen 301 Freising 303, 415 f. Frickenhausen 393 f. Friedenspring  Zella (Kloster) Fulda 30, 136 f., 139–141, 145 Fürstenwalde 424

Halberstadt 34, 180, 185, 227, 243, 397, 403, 422, 430 Halle/Saale 58, 178–180, 182 f., 185, 187, 209, 226, 230 f. Hammelburg 140, 263, 267–269, 271, 273, 276 Hardisleben 180 Havelberg 50, 56, 58, 397, 422–424, 427, 429, 438, 442 Heiligenstadt 23, 28, 30 f., 36, 38, 41, 43, 45, 61 f., 153, 246, 250 Herzberg 123–126, 200 Heusdorf 48, 391 Hildburghausen 25 Hildesheim 56, 332 Hilpertshausen 353 Höchst 140 f. Homburg 343, 345 Horsmar 247 Huissen 301

Gandersheim 242 Gelsdorf 301

Ichtershausen 147, 150 f., 377, 391 Ingolstadt 341

ORTSREGISTER

Jechaburg 24, 28, 31, 35 f., 39, 46, 50, 61 f. Jena 7, 17 f., 58, 69, 71 f., 75 f., 109, 111, 122, 136, 145, 147–153, 156, 159, 161, 347–350, 354–371, 373, 391, 432 Johannisthal (Kloster, Eisenach) 391 Kahla 369 Kaltenborn (Stift, bei Riestedt) 170 f., 185 f., 206–208, 210 Kapellendorf 71, 136–143, 145 f., 391 Katlenburg 254 Kelbra 147, 150 Kiel 9, 219 Klosterlausnitz 158, 391 Kölleda 147 Köln 59, 307, 332, 353, 363 Kolberg 426, 438 Langenleuba 198 Langensalza 24 f., 28, 31, 35, 39, 46, 49 f., 58, 61, 105, 107, 111 f., 217, 229, 242, 259 Laucha 410 Lauchstädt 434 Lausnitz  Klosterlausnitz Lauterberg (Stift/Kloster, heute Petersberg) 180, 183–186, 189, 192, 208 Lavant 50 Lebus 422–424, 429, 442 Lehnin 372 Leipzig 59, 116–118, 122 f., 125 f., 130, 178, 180, 182–187, 189, 192, 196, 207 f., 216, 223, 225, 271, 336, 342, 352, 354, 360–363, 368, 372, 378, 381, 392, 394, 400, 406 f. 410 f., 415 f., 431–433, 437, 443 Leisnig 128, 133, 398, 400 Lohma 200 Lützen 410, 434 Magdeburg 32, 126, 178–180, 184, 187, 194, 221, 223, 225 f., 230 f., 306–308, 363, 373, 399, 403, 408, 410, 422, 424, 430, 432–434, 438, 442 Mainz 10, 22, 28, 30–32, 34, 36 f., 45, 60 f., 139, 142 f., 147, 159, 180–182,

449 201 f., 222, 246 f., 249, 256–259, 262, 267–269, 276, 278, 281, 283 f., 291– 293, 295, 306–308, 317, 403, 410 Markersdorf 369 Marksußra 154 f., 158, 161 Meiningen 140, 216, 281 Meißen 32, 38, 119, 122 f., 127, 167, 185 f. 192, 221, 295, 364, 397, 401, 403, 406, 413 f., 427, 429, 431, 435 f., 443 Mellenbach 216 Merseburg 23, 28, 119, 183, 185, 193, 196, 345, 397, 403, 406–412, 414, 419 f., 423, 426–429, 431, 433–435, 437 f., 440–442 Mildenfurth 89 f., 112 f., 348, 370 f., 387 f. Molsdorf 278 Mügeln 413, 435 Mühlberg 423 Mühlhausen 69, 76, 213–215, 219 f., 223 f., 230 f. Münster 437 Naumburg 10 f., 14, 16, 23, 31, 34, 37, 58, 118, 120, 123, 148, 156, 170, 180, 182, 185–188, 190–194, 203–205, 210, 380, 397, 402 f., 406–408, 410, 412– 420, 422, 427–431, 433–435, 437 f., 440–442 Neustadt an der Orla 10, 17, 72–74, 76, 109–111, 375, 377, 391 Neuwerk (Stift/Kloster, bei Halle) 168, 178–182, 185, 187, 190, 203, 209 Niederorschel 255 Niedersynderstedt 365 Nimbschen (Kloster) 387 Nordhausen 24, 30, 38, 43, 45, 52 f., 58, 112 f., 149, 152 f., 213–215, 219 f., 222–226, 230 f., 233–238, 240 f. Nürnberg 169, 261, 355, 363, 372, 405, 422 Oberdorla 24, 28, 31, 35 f., 46, 61 f. Oberellen 391 Oberweimar 115, 125, 141, 147, 150– 152, 155, ,158, 377, 389–391 Oederan 129

ORTSREGISTER

450 Ohrdruf 24 f., 30, 46 Oldenslebens 343 Orlamünde 391 Osnabrück 437 Paris 305, 326 f., 342 Passau 387, 426, 428, 434 Paulinzella 65, 101, 103–105, 112 f. Pavia 291 f. Penig 369 Pirna 436 Plauen 122, 387, 406 Prag 32, ,144 Quedlinburg 397, 411, 419 f., 426, 438 Ratzeburg 50 Ravenna 288, 292 Regensburg 38 Reifenstein 245–248, 250, 253–257, 259 f. Reinhardsbrunn 122, 345, 348, 371–373, 377, 391 Remse (Kloster) 388 Riechenberg (Stift) 185, 188 Riestedt 170 Riga 219 Rohr 140 f. Rohrbach 207 Rom 43, 63, 139, 141, 144, 193, 233, 263, 281 Römhild 16 f., 25, 29, 31, 33, 36, 41, 46, 50 f., 62 Ronneburg 120, 352 Roßlau 410 Roßleben 149, 158, 160 Rostock 232 Rothenstein 345 Rusteberg (Burg) 255, 259 Saalfeld 36, 66, 74 f., 77–79, 82–84, 86 f., 111–113, 147, 149, 216, 232, 391, 405 f. Saalburg 16 Saara (bei Nobitz) 198 Saint-Bertin (Kloster) 296 f., 299–302, 305 Saint-Omer 296 f., 299, 301 f.

Salzburg 185 Sangerhausen 207, 231, 238, 356 Schkeuditz 434 Schleusingen 25, 232 Schmalkalden 16 f., 25, 29, 31, 36, 41, 46, 50 f., 62 Schöningen 186 Schönwalde 200 Schwerstedt 260 Seckau 50 Seebach 253 Sithiu (Kloster) 296 f., 299, 301 Sittichenbach 127, 206 f. Sitzenroda 127, 129 Solothurn 261 Sömmerda 369 Sondershausen 28, 61, 238 Spandau 421 Speyer 355, 434 Stadtilm 147–150, 154, 160 f. Stadtroda 147–152, 156, 158–161, 206 f., 377, 391 Stettin 426 Stolberg 37, 339 Stolpen 413, 435 Straßburg 261, 306, 308, 351, 364, 373 Teistungenburg 154, 159, 246, 249 f., 253, 255, 258 Themar 137 Thulba 140 f. Torgau 125, 129, 405, 435, 437, 442 Treben 352 Treptow/Rega 425 Trient 281, 285 Trier 307 f. Trostadt 136 f., 139, 242 f., 246 Ulm 236 Vacha 16, 68 f., 110 Veßra (Kloster) 66, 87–89, 96, 112 f., 137, 142 Volkenroda 248 Volkershausen 251 Wartburg (Burg) 69, 122, 216 f., 228 Wechselburg (Stift/Kloster) 185

ORTSREGISTER

Weida 72, 111, 125, 131, 216, 388 Weimar 29, 69 f., 107 f., 110–112, 115, 124 f., 129 f., 136, 217, 229, 231, 234, 319, 329, 348–350, 354, 356 f., 362, 370, 372 f., 375, 377, 379–384, 390, 432 Weißenfels 260, 410 Wenau 142 Werben 58 Werdau 200 Wien 326, 357, 430, 434 Wilsdorf 368 Windesheim 168 f., 172, 178, 181–183, 187, 189, 192, 194, 200, 209 Wittenberg 9, 56, 58, 125, 129, 197, 200, 235, 261, 339, 341, 350, 356, 358, 360, 370 f., 373, 381, 386, 394, 401, 404– 408, 411–414, 419, 437, 439, 443 Wolfenbüttel 412

451 Wolmirstedt 373 Worbis 150, 152, 154, 161, 246, 249 f., 253, 258 Würzburg 10 f., 16, 31, 34, 50, 141, 220, 271 Wurzen 38, 406, 413, 418, 435, 437 Zeitz 10, 38, 120, 352, 406 f., 413, 415– 417, 419, 427, 429, 431 f., 435, 437 f., 440 Zella (Kloster, im Eichsfeld) 246, 248, 250–254, 259 Zella/Rhön 141, 145 Zerbst 127, 413, 439 Zscheila 46 Zschillen (Stift/Kloster, heute Wechselburg) 185 Zürich 261 Zwickau 384, 388, 401, 406

Personenregister Das Register verzeichnet alle in den Texten erwähnten Personen. Alle in den Fußnoten genannten Persönlichkeiten wurden ebenfalls erfasst. Jedoch ist darauf verzichtet worden, die Namen jener Personen aufzunehmen, auf die im Fußnotenteil nur im Kontext der Forschungsdiskussion rekurriert wird. Ebenso wurden alle Personennamen, die lediglich in bibliographischen Angaben erscheinen, nicht verzeichnet.

Adalbert I. von Saarbrücken, Erzbischof von Mainz 41 Adam, Prior zu Ettersburg 191 Adelphus, Johannes (genannt Muling) 341 Adolf von Anhalt, Bischof von Merseburg 196, 403, 408 Adolf II. von Nassau, Erzbischof von Mainz 180, 182 Agapitus Cencius de Rusticis 184 Agricola, Johannes 405 f. Albert von Beichlingen, Mainzer Weihbischof 295 Albertus de Aldenmolhusen 221 Albertus Magnus 330, 352 Albrecht, Herzog von Preußen 428 Albrecht (genannt der Beherzte), Herzog von Sachsen 122, 381 Albrecht, Kardinal von Brandenburg 45, 235, 306, 342, 402 Albrecht I., Herzog von Sachsen 402 Albrecht II. (genannt der Entartete, auch der Unartige), Landgraf von Thüringen 28 Albrecht Achilles, Kurfürst von Brandenburg 142, 423 Alexander, Franziskanermönch aus Mühlhausen 220 Alexander, Kurprinz von Sachsen 434, 442 Alkuin 325 Allerstedt, Heinrich von 220 Altendorf, Heinrich von 45 Alveldt, Augustin von 130 Amsdorf, Nikolaus von 205, 408, 410, 413, 415, 417–419, 428

Anastasia von Brandenburg 142 Anna von der Lochau, Priorin des Augustinerinnenklosters Brehna 125 Anna von Miltitz, Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters Sitzenroda 129 Anna von Schaurodt 156 Anna II. von Stolberg, Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg 420 f., 438 Anselm von Laon 325 Aribo, Musiktheoretiker 303–305 Aristoteles 326 Arnheim, Hermann von 181 f. Arnim, Wolfgang von 422 August, Kurfürst von Sachsen 408–410, 420, 427, 430–434, 436–438, 441 f. Augustinus von Hippo, Heiliger und Kirchenvater 164 f., 183, 185, 193, 325, 352, 361 Auriss, Stanislaus 185, 187 Avicenna 326 Bapst, Valentin 431 f. Barnim IX., Herzog von Pommern-Stettin 425 Bartholomäus Arnoldi von Usingen 343 f. Bartholomäus Swawe (auch Suawe), Bischof von Cammin 426, 428, 440 Bartholomäus von Pisa 216 Beier, Adrian 366 f. Benedikt XII., Papst 166 Benedikt von Nursia 136 Benjamin  Matthäus Gutgegen de Marburgk Bernhard von Clairvaux 321 Bernhard von Monte Cassino 322

PERSONENREGISTER

Bernhardin von Busti (Bernardinus de Bustis) 369 Bertachini, Giovanni 364 Berthold von Sternberg, Bischof von Würzburg 221 Berthold, Propst von Kaltenborn 186 Bertinus, Heiliger 297, 310, 312 f. Biedenfeld, Adolf von 145 Bischof, Benedikt 163, 352 Böddener, David 259 Bodenhausen, Margaretha von 258 Bodenstein, Andreas 153 Boerius, Petrus 322 Bomhower (Baumhauer), Christian 144 Bonaventura 321, 366 Bonemilch, Johannes 61 Bonifatius, Heiliger 11, 293, 295 Bonifaz VIII., Papst 28 Bonifaz IX., Papst 55 Borxleben, Christian 225 f. Bottonius, Bernardus 373 Brandenstein, Ewald von 384, 394 Brandenstein, Felix von 384 Brandis, Karl Georg 359 Braun, Sixtus 203 Breitenbach, Georg von 208 Breunig, Johannes 369 Bugenhagen, Johannes 404 f., 412, 416, 425–427, 440 Buhemeier, Dietrich 280–283 Bültzingsleben, Siegfried von 258 Bünau, Günther von 416 f. Buntingk, Valentinus 250 Burchard, Franziskanerprovinzial aus der Familie von Mansfeld 222 f. Burkhard, Propst des Thomasstifts 198 Burkhardt, Carl August Hugo 382 Busch, Johannes 168 f., 171, 178–185, 187–191, 193 f., 209 f. Busse, Paulus 179–183, 187 f. Buttelstedt, Albrecht von 361 Calixt II., Papst 166 Cesaris, Cunradus 221 Christian, Abt von Petersberg 188 Chrysostomus, Johannes 325, 352 Cochlaeus, Johannes 342 Coci, Johann 241

453 Conradus, Franziskanerkustos 220 Conradus de Indagine 221 Corner, Johannes 281 Creutzen, Melchior von 415, 417–419 Cruciger, Caspar 405, 416 David von Augsburg 320 Decker, Markus 46 f. Denstedt, Georg von 205 Dietrich I., Bischof von Naumburg 170 Dietrich Schenk von Erbach, Erzbischof von Mainz 317 Dietrich von Gotha 338 Dietrich von Hardenberg, Bischof von Brandenburg 403 Döring, Matthias 18, 228 f., 231 Drach, Peter 355 Draschwitz, Bernhard von 430 Drechsler, Christoph 205 Ebeleben, Albert von 220 Ebeleben, Christoph von 418 Ebeleben, Nikolaus von 430 Eck, Johannes 341 f. Eckhard, Johannes (von Langheim) 328 f. Eckhardt, Johann Georg 373 Elgard, Nikolaus 280–284 Elisabeth, Gräfin zu Henneberg 146 Elisabeth II. von Regenstein, Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg 438 Emser, Hieronymus 400 Ende, Wolf von 391 Entzenberg, Hans von 253 Erasmus von Manteuffel, Bischof von Cammin 424 f. Erber, Georg 326 f. Erckel, Engelbrecht 62 Erhard von Queiß, Bischof von Pomesanien 404, 439 Ernst, Kurfürst von Sachsen 122, 381, 421 Ernst, Graf von Gleichen 181 Ernst, Graf von Honstein 235 Ernst, Graf von Reinstein 417 Eugen IV., Papst 229 Feil, Josef 357

454 Feilitzsch, Philipp von 131 Felix, Kleriker 292 Ferdinand I., röm.-dt. Kaiser 431, 433 f., 436 f., 442 Figulus, Antonius 258 Folquin, Mönch 299 Forstmeister, Georg 417 Frankinrode, Nicolaus 221 f. Franzbeck, Johann 156 Franziskus von Assisi 215, 218, 227 f. Fridugisus, Abt von Kloster Sithiu 299 Friedrich I. (genannt Barbarossa), röm.-dt. König u. Kaiser 170 Friedrich I., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 349 Friedrich II., röm.-dt. König u. Kaiser 30 Friedrich II. (genannt der Sanftmütige), Kurfürst von Sachsen 184, 210, 228 Friedrich II., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 349 Friedrich II. (genannt der Ernsthafte), Landgraf von Thüringen 216 Friedrich II. von Goseck, Graf von Goseck, Vogt von Hersfeld, Pfalzgraf von Sachsen 28 Friedrich III. (genannt der Weise), Kurfürst von Sachsen 58, 115–118, 120–130, 133, 139, 153, 232, 234, 350, 371, 394 Friedrich III., Erzbischof von Magdeburg 187 Friedrich IV. (genannt der Friedfertige), Landgraf von Thüringen 118, 228 Friedrich IV., Markgraf von Meißen 407 Friemar, Heinrich von 320 Frobin, Georg 242 Gentzel, Martin 339 Gentzell, Hans 253 Georg (genannt der Bärtige), Herzog von Sachsen 117 f., 129, 159 f., 171, 196, 204, 206–208, 211, 242, 342, 421 Georg III. von Anhalt (genannt der Gottselige), Bischof von Merseburg 407–411, 413 f., 416, 419, 428, 441 Georg von Polenz, Bischof von Samland 400, 404, 428, 439 Gera, Heinrich 255

PERSONENREGISTER

Gerecke, Hans 254 f. Gerhard I. Wildgraf von Dhaun und Kyrburg, Erzbischof von Mainz 28, 30 Gerhard II. von Eppstein, Erzbischof von Mainz 249 Gerlach von Nassau, Erzbischof von Mainz 295 Gerson, Johannes 320 f., 324, 330 Gerstungen, Hermann von 243 Glauch, Johannes 351 Göde, Henning 51, 56–58, 60, 62 f. Goethe, Johann Wolfgang von 356 Goethe, Wolfgang Maximilian von 356 f. Goldhann, Franz 357 Goldschmidt, Veit 339 Goldstein, Kilian d. Ä. 405 f. Gozbert, Abt von Hersfeld 30 Gräfendorf, Hans von 391 Gregor I. (genannt der Große), Papst 298, 321 f., 325 Gregor IX., Papst 350 Greve, Hermann 231 Griß, Otto 188 Gritsch, Conrad 353 Gromann, Nikolaus 108 Gruneberger, Johann 156 Gruner, Andreas 197 Günther XVI., Graf von Schwarzburg 361 Günther XXX., Graf von Schwarzburg 216 Gunther von Nordhausen 79, 150, 317, 324, 330, 334, 336–338 Gunther, Nicolaus 369 Hagen, Johannes (auch Johannes de Indagine) 320, 324 Hartbach, Heinrich 343 f. Haugwitz, Agnes von 437 Hausmann, Nikolaus 401 Heinrich (genannt der Ältere), Graf von Stolberg 225 Heinrich (genannt der Fromme), Herzog von Sachsen 159, 242, 413, 421 Heinrich I., Bischof von Brandenburg 221 Heinrich II., röm.-dt. Kaiser 301

PERSONENREGISTER

Heinrich IV., röm.-dt. Kaiser 293, 301 Heinrich vom Rade von Oweleyben 295 Heinrich XXII., Graf von SchwarzburgArnstadt-Sondershausen 235 Heinrich Egher von Kalkar 322 Henning, Ludwig 232, 235 Henricus de Grunstete 221 Henricus de Gestingshausen 365 Hentz, Jakob 252 Herda, Philipp von 139 Herling, Hartung 317 Hermann, Mönch 190 Hermann von Nordhausen 337 Hermann, Bischof von Cammin 221 Hertzig, Michael 281 Herwici, Johannes 362 Heseler, Johann 208 Hesse, Ludwig Friedrich 292 Heymstede, Johannes 226 Hinricus de Wydense 221 Hoegreff, Stefan 253, 255, 258 Hoffemann, Hermann 224 Hoffemann, Martinus 224 Hoffemann, Theodoricus 224 Hoffmann, Antonius von Frickenhausen 363 f. Hoffmann, Benedikt 345 Hoffmann, Johannes von Frickenhausen 364 Horter, Caspar 239 Hottenbach, Johannes 263, 273 Hrabanus Maurus 325 Hugk, Daniel 253–255 Hugo von St. Cher 221 Hugo von St. Viktor 320 Hund, Burkhardt 384, 391, 394 Huthenne, Paul [Huthen] 61, 63, 147 Ilvelt, Theoderich 295 Innozenz VIII., Papst 42, 119, 144 Iringk, Engelhardt 255 Jacobus de Voragine 332 Jakob, Barbara 251 f. Jerome Bonaparte, König von Westphalen 258 Joachim, Herzog von Münsterberg 423 f., 428

455 Joachim II., Kurfürst von Brandenburg 408, 421–424 Joachim Friedrich, Kurfürst von Brandenburg 397, 424, 430, 433, 442 Jodocus Clichtoveus 342 Johann (genannt der Beständige), Kurfürst von Sachsen 115–118, 120– 130, 132 f., 139, 145, 155, 193, 202, 352, 378, 383–385, 387, 391, 401, 403 Johann, Graf von Sayn-WittgensteinVallendar 146 Johann II., Graf von Schwarzburg 216 Johann VI., Bischof von Meißen 123 Johann IX., Graf zu Salm-Reifferscheid 146 Johann IX. von Haugwitz, Bischof von Meißen [Johannes] 406, 427, 430, 435–437, 442 Johann von Henneberg, Fürstabt von Fulda 140 f. Johann von Schleinitz, Bischof von Meißen 403 Johann Friedrich, Herzog von Pommern, Bischof von Cammin 442 Johann Friedrich I. (genannt der Großmütige), Kurfürst und Herzog von Sachsen 117, 204 f., 360, 362, 378, 387, 401, 404 f., 408, 413, 415– 418, 420, 433, 440 f. Johann Friedrich II. (genannt der Mittlere), Herzog von Sachsen 362 Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen 362 Johannes, Abt des Zisterzienserklosters Grünhain 127 Johannes II., Bischof von Merseburg 183 Johannes VIII. von Maltitz, Bischof von Meißen 427 Johannes (Bottenbach) von Siegen 338 f. Johannes de Muris 305 Johannes de Tuderstad 222 Johannes Guallensis 326 Johannes Horneburg, Bischof von Lebus 423 f. Johannes Marchesinus 330 Johannes von Kochberg 367 Jonas, Justus 98 f., 236, 401, 405

456 Jonas, Justus d. Ä. 405, 410 Jordan von Giano 215 Jordan von Quedlinburg 351 Judicis, Franziskus 411 Julian von Toledo 325 Julius II., Papst 232 Kaarstadt, Bartholomäus 231 Kanitz, Johannes von 208 Kapistran, Johannes (auch Johannes de Capistrano) 178 f., 225, 229 f. Karl V., röm.-dt. Kaiser 426, 433 Karl von Aquitanien, Erzbischof von Mainz 292 Karlowitz, Georg von 413 Karlowitz, Hans von 436 f. Karlstadt  Bodenstein, Andreas Katharina, Gräfin von Querfurt 235 Kelner, Johannes 353 Keyser, Heinrich 251 Kilian, Johannes 201 f. Kircher, Johann 321, 343 Kirchmajer, Leonhard 240 Kistener, Georg 323 Kleingarn, Christian 79, 317 Klinge, Conrad 268, 272 Klövekorn, Johann 188 Knoppe, Paul 255 Knorr, Barbara von 258 Koberger, Anton 355 Koch, Georg 241 Koch, Hans 253, 255 Koch, Johann 256 f. Koler, Johann 241 Komerstadt, Hieronymus von 434 Konig, Frantz 251 Konrad I., Erzbischof von Salzburg 165, 185 Konrad von Dhaun, Erzbischof von Mainz 306 Koppe, Leonhard 129 Köst, Niclaüsze 238 Kramer, Heinrich 355 Kranlucken, Cäcilia von 140 Kulstedt, Heinrich 228 Kutzleben, Melchior von 207 f. Lachs, Johannes 208

PERSONENREGISTER

Lakmann, Nikolaus 226, 231 Lampert von Hersfeld 292 Lang, Johannes 130, 271 Langenberg, Neithard von 204 Leo X., Papst 232, 234, 242 Leonardus de Utino 332 Lindner, Johannes 236 Link, Wenzel 199 Lipcz, Johannes 352 Listemann, Wilhelm 345, 372 Liutolf, Priester 291 f., 294 Löher, Johann 140–142, 145 Lothar I., fränk. Kaiser 291 Luchtenwald, Elisabeth 253 Luckart, Arnold 254, 256 Ludewicus, Franziskanermönch aus Nordhausen 220 Ludwig, Graf von Gleichen 181 Ludwig I. (genannt der Fromme), fränk. Kaiser 291 f. Ludwig IV. (genannt der Heilige), Landgraf von Thüringen 371 Ludwig von Meißen, Erzbischof von Mainz 295 Lüderitz, Andreas 345 Luther, Martin 9, 15, 19, 41, 61, 67, 74, 116, 125, 128, 130, 133, 142, 145, 148, 152 f., 171, 194–197, 199 f., 210, 232, 234–236, 261, 263, 289, 308, 338 f., 341 f., 398, 400–402, 404 f., 408, 410, 412, 414–419, 421 f., 424 f., 427, 432 Magnus von Anhalt, Dompropst von Magdeburg 408 Magnus, Albertus 330, 352 Maler, Jodocus 411 Mantzsch, Melchior 204 Maraschis, Bartholomeus de 193 Margarete von Henneberg 146 Margarete von Schletten 146 Martin, Abt des Zisterzienserklosters Altzella (Altzelle) 125 Martin V., Papst 229 Martinus Bracarensis 326 Maternus, Bischof von Köln 307 Matthäus Gutgegen de Marburgk 327 Matthias von Jagow, Bischof von Brandenburg 421, 423 f., 428, 441

PERSONENREGISTER

Mechler, Ägidius 265, 343 Meckenlor, Johann 115 Meiendorff, Johannes 422 f. Meißener, Jacob 255 Melanchthon, Philipp 234, 401, 405, 408, 411, 416, 419, 427 Merfross, Hans 253 Metzner, Ottilie  Ottilie von Einsiedel Meyer, Matthias 56, 58, 60, 62 Michael Helding, Weihbischof von Sidon 433 f., 442 Milbach, Johannes 329–331 Miletius, Vitus 281 Miltitz, Ernst von 418 Minkwitz, Hans von 378 Molenbeek, Heinrich von 181 Monner, Basilius 405 f. Moritz, Kurfürst von Sachsen 242, 408– 410, 414, 416, 418–420, 423, 427, 433 f. Müller, Johann Gottfried 358, 368 Müntzer, Thomas 236, 246, 260, 339 Münzenberg, Johannes jun. 321 f. Musa, Anton 153, 410 f. Muth, Konrad  Mutianus Rufus Mutianus Rufus 53 Mutingk, Bernhard 245, 254 f., 260 Mutingk, Hans 260 Myconius, Friedrich 401 Nafftzer, Jakob 283 Nathin, Johannes 271 Naumann, Johannes (oder Neumann) 366, 368 Nider, Johannes 341 Nikolaus, Abt des Benediktinerklosters Gerode 253 Nikolaus, Abt des Zisterzienserklosters Volkenroda 248 Nikolaus II. von Karlowitz, Bischof von Meißen 427, 430, 436 Nikolaus V., Papst 29 Nikolaus (Bottenbach) von Siegen 79, 297, 315, 320 f., 334, 337 Nikolaus von Dinkelsbühl 322 Nikolaus von Egra 324 Nikolaus von Kues 54, 179 f. Nithart, Elisabeth 141

457 Oberkosenitz, Johannes 368 Ochsenkopf, Liborius 270 Oechsner, Nicolaus 351 Ossa, Melchior von 208, 279 Oswald, Johann 384, 394 Oswalt, Gallus 320, 330, 343 Otgar, Erzbischof von Mainz 291 f. Ottilie von Einsiedel 156 Paul, Abt des Zisterzienserklosters Altzella (Altzelle) 128 f. Paul Speratus, Bischof von Pomesanien 404, 428 Paul II., Papst 29 Paul III., Papst 417 Paul IV., Papst 436 Pauli, Benedikt 405 Pempel, Vitus (Veit) 351, 353 Peraudi, Reimund, Bischof von Gurk 143 f. Peter, Bischof von Wiborg 221 Petronella von Herbstadt 146 Petrus II., Abt des Benediktinerklosters Gerode 253 Petrus Lombardus 335 Pfannstein, Dorothea 141 Pfeffinger, Johannes 410, 434 Pfeiffer, Heinrich 241, 246, 250, 260 Pfister, Ulrich 207 f. Pfleumer, Mauritius 199 f. Pflug zu Knauthain, Andreas 416, 418 Pflug, Julius 54, 416–419, 430, 433 f., 442 Philipp von der Pfalz, Bischof von Freising 415 f., 440 Philipp von Wittelsbach, Bischof von Naumburg 403 Philipp I., Herzog von Pommern-Wolgast 425, 433, 442 Philipp I. (genannt der Großmütige), Landgraf von Hessen 117, 401, 418 Pistorius, Johannes 354 Pius II., Papst 231 Proles, Andreas 119, 121 Prosse, Johann 378 Redorffer, Wolfgang 424 Reiche, Marten 147

458 Reinhard, Martin 153 Richard von St. Viktor 321 Richter, Thomas 129 Riffenstein, Sebastian 226, 231 Riga, Petrus 350 Rindelus, Jacobus 238 Rodgerus von Herford 329 Rothe, Johannes 338 Rothemeler, Johann 241 Rudel, Paul 387 Rüdiger, Matthias 248 Rumbaum, Bartholomäus 434 Rutger von Venlo 332 Sagittarius, Caspar 86 Schambach, Johann 122 Schaur, Nicolaus 364 Schenk, Curth 239 Schilink, Adam 368 Schilling, Jacob 268 Schleicher, Hanns 255 Schober, Bartholomäus 237 Schönberg, Anton von 413 Schönberg, Franz von 410 f. Schurff, Hieronymus 405 Seber, Benedictus 221 Selge, Heinrich 281 f. Severus von Ravenna, Heiliger 288, 292 Seytwicz, Johannes (auch Cittwicz, Johannes) 361–363 Sibille von Brandenburg 142 Siebenrot, Johannes 206 f. Sigismund, Bischof von Merseburg 409 Sigismund von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg 432 f., 442 Sigismund von Lindenau 410 Sigmund, Burggraf von Kirchberg 145 Sixtus IV., Papst 29, 42 Smaragdus, Abt 325 Spalatin, Georg 62, 199 f., 234, 348, 370–372, 401, 403 Spangenberg, Johannes 236 f. Specht, Johann 345 Stamm, Konrad 82 Stanberger, Balthasar 130 Stauffenbuell, Hans 255 Stauffenbuell, Jakob 255 Stein, Conradus 364 f.

PERSONENREGISTER

Stein, Hans 365 Stein, Wolfgang 130, 410 Stöckel, Matthias d. Ä. 431 f. Storck, Johannes 411 Strauß, Jakob 130 Sturtzenbecherin, Bürgerin zu Nordhausen 239 Süße, Lorenz 236, 241 Theoderich von Homburg 329 Theodericus de Witzleben 373 Thomas von Aquin 351, 359, 361, 363, 366 Thomas von Kempen 322 Thomas, Hans 250 Trutvetter, Jodocus 63, 98 f. Trützschler, Georg 133 Vener, Job 322 Versor, Johannes 326 Vierling (auch Quadrans), Ulrich 28, 30 Vincenz von Beauvais 330 Vogt, Liborius 345 Voit, Johannes 352 Volradi, Jacobus 334 Wagner, Johannes 271 Walferode, Dietrich von 239 Walferode, Friedrich von 239 Walferode, Günther von 239 Weidemann, Johannes 62 f. Weiher, Martin 426 Weingarthen, Hanns 251 Weltz, Johannes von Kunstadt 363 Werner von Eppstein, Erzbischof von Mainz 221 Werner von Mellingen 139 Weygnant, Johann 122 Wichmann, Graf 170 Wigand, Johann 432 Wilde, Basilius 205 Wilhelm II. (genannt der Reiche), Landgraf von Thüringen 29 Wilhelm III. (genannt der Tapfere), Herzog von Sachsen 15, 29, 69, 82, 118, 122, 180, 182, 187 f., 210, 225, 228, 230 f. Wilhelm IV., Graf von Henneberg 142

PERSONENREGISTER

Wilhelm, Herzog von Jülich 142 Willigis, Erzbischof von Mainz 28 Willigk, Leonhard 271 Winckeler, Johannes 368 f. Winckler, Hans 369 Wirt, Michael 206 Wisse, Hermann 226

459 Withego I., Bischof von Meißen 221 Witzleben, Heinrich von 160 Zcymerman, Heinricus 238 Zehmen, Adolf von 390 Zeiss, Hans 127 Zwilling, Gabriel 199

Verzeichnis der Autoren Enno BÜNZ, Prof. Dr. Inhaber des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig; Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden Matthias EIFLER, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig Volker GRAUPNER Referatsleiter für Ältere Bestände im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar Elke-Ursel HAMMER, Dr. Referatsleiterin in der Abteilung B (Bundesrepublik Deutschland) im Bundesarchiv Koblenz Stefan MENZEL, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar Stefan MICHEL, PD Dr. Arbeitsstellenleiter des Akademievorhabens „Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung“ an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; Privatdozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig Johannes MÖTSCH, Dr. Direktor a.D. des Thüringischen Staatsarchivs Meiningen (seit 2016 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen) Rainer MÜLLER, Dr. Mitarbeiter am Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Bau- und Kunstdenkmalpflege, Erfurt

AUTORENVREZEICHNIS

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Thomas T. MÜLLER, Dr. Direktor der Mühlhäuser Museen Joachim OTT, Dr. Leiter des Bereichs Handschriften und Sondersammlungen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena Josef PILVOUSEK, Prof. Dr. Emeritierter Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Universität Erfurt Uwe SCHIRMER, Prof. Dr. Professur für Thüringische Landesgeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Bernd SCHMIES Leiter der Fachstelle Franziskanische Forschung Münster Alexander SEMBDNER, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig