Thomas Mann, Deutschland und die Juden [Reprint 2012 ed.] 3484651407, 9783484651401

Thomas Manns Bild von den Juden folgt dem Auf und Ab der Geschichte und enthüllt diese zugleich, 1897 freilich anders al

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German Pages 332 Year 2003

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Thomas Mann, Deutschland und die Juden [Reprint 2012 ed.]
 3484651407, 9783484651401

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Erster Teil: Die Ausgangssituation
Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik
Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus
Vierter Teil: Jüdische Symbolik im Spätwerk. Der Erwählte. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Conditio Judaica

40

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von HansBodenheimer, Otto Horch Mark H. Gelber und Jakob Hessing in Verbindung mit Alfred

Jacques Darmaun

Thomas Mann, Deutschland und die Juden Aus dem Französischen von Jacques Darmaun

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Titel der Originalausgabe: Jacques Darmaun, Thomas Mann et les Juifs © Peter Lang AG Bern, 1995.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-65140-7

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Nadele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Einleitung Erster Teil: Die Ausgangssituation 1. Faszination der »Rassen« 2. Die kulturelle Erblast 2.1. Der Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert 2.2. Die Situation in Lübeck 2.3. Die geistigen Erzieher 3. Erste Kontakte mit Juden 4. Ein heikles Unterfangen: Das Zwanzigste Jahrhundert 4.1. Heinrich Mann: Beispiel und Vorbild 4.2. Thomas Manns Mitarbeit 5. Erster literarischer Niederschlag: Der Wille zum Glück ( 1896) 6. Judengestalten 6.1. Geldjuden 6.1.1. Der Kaufmann und Geschäftsmann 6.1.2. Der Kapitalist 6.2. Ärzte und Juristen 6.3. Intellektuelle 6.3.1. Der Ästhetizismus der Jahrhundertwende 6.3.2. Daniel, der »Prophet« 7. Wälsungenblut (1906) 7.1. Die Familie Pringsheim 7.2. Zwischen Realität und Fiktion 7.3. Das Verhängnis der Herkunft 7.3.1. Der Vater: Aufstieg des Parias 7.3.2. Die Familie Aarenhold 7.3.3. Jüdisches und germanisches Blut: Der Atavismus 7.3.4. Der Antipode Beckerath: Hunding »mit Büffelaugen« 7.3.5. Das doppelte Inzestmotiv 7.3.6. Die zweite Fassung von Wälsungenblut 7.4. Ansätze einer Reflexion

1 5 5 8 8 9 11 12 14 16 17 23 26 26 26 29 32 34 34 34 40 40 41 42 42 44 46 47 49 50 51

VI

Inhalt

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik 55 1. Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals 55 1.1 Der Essay von 1907 55 1.1.1. Tragweite und Grenzen 57 1.1.2. Die Mischung der Rassen 58 1.2. Königliche Hoheit 59 1.2.1. Doktor Sammet 59 1.2.2. Die Spoelmanns 61 1.2.3. Verlagerung der Problematik 63 2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile 65 2.1. Die Polemik mit Theodor Lessing 66 2.2. Vom jüdischen Geist 69 2.2.1. Jüdische Intellektualität 70 2.2.2. Adel verpflichtet 75 2.3. Der jüdische Literat 79 3. Kampf dem Radikalismus 80 3.1. Im Kriegsrausch 80 3.1.1. Manichäismus 80 3.1.2. Der Rassenmythos 82 3.2. Der Stolperstein des Antisemitismus 87 3.3. »Welsche« Zivilisation 89 3.3.1. Das Trojanische Pferd 89 3.3.2. Romanisches und Jüdisches 91 3.3.3. Der feindliche Westen 93 3.4. Die Religion des Westens 95 3.4.1. Die Religion des Geistes 95 3.4.2. Ein Beispiel: Kurt Hiller 96 3.4.3. Geschäftssinn 97 3.5. Hintergrund zu den Betrachtungen eines Unpolitischen .... 98 3.5.1. Paul Amann: Widerpart und Freund 99 3.5.2. JüdischePresse 100 3.5.3. Der Expressionismus 101 3.5.4. Der Kreis um Heinrich Mann 102 3.6. Im kriegerischen Affekt 104 4. Die revolutionäre Nachkriegskrise im Tagebuch ( 1918-1921 ) 104 4.1. Direkte Angriffe auf den Literaten 104 4.2. Groll auf die internationale Geldherrschaft: Freimaurerei, Plutokratie 106 4.3. Zorn auf die sozialistische Internationale: Juden als Unruhestifter 108 4.4. Angst vor dem jüdisch-bolschewistischen Schreckgespenst 111 4.5. Juden in der Politik 114

Inhalt

5.

6.

VII 4.5.1. Warnung vor dem jüdischen Literaten 4.5.2. Das hebräische Modell: Religion und Politik Befangenheit im Kampf gegen den Antisemitismus der zwanziger Jahre 5.1. Juden in Thomas Manns Alltag 5.1.1. Jakob Wassermann 5.1.2. Eine zweideutige Verteidigung des Judentums im Neuen Merkur 5.2. Natur und Geist: Goethe und Tolstoi 5.2.1. Deutsche Liebe zur Natur 5.2.2. Jüdischer Hang zu Geist und Abstraktion 5.2.3. Konservative Ironie und jüdische Geistesschärfe 5.3. Verlagerung des Judenbildes: der Intellektuelle Der Zauberberg 6.1. Der internationale Berghof 6.2. Im Banne des Ostens 6.2.1. Krokowski: Der »Rattenfänger« 6.2.2. Der verzauberte Berg 6.3. Juden in Ost und West 6.4. Konfrontation zwischen Orient und Okzident 6.4.1. Settembrini 6.4.2. LeoNaphta 6.4.3. Inbegriff des Literaten 6.5. Offenheit als Selbstfindung ohne Selbstverleugnung

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus A. Lotte in Weimar 1. Leben und Kunst 2. Deutsches Literatentum B. Joseph und seine Brüder 1. Die Wiege der Menschheit 1.1. Beweggründe und ursprüngliche Absichten 1.2. Genealogie der Religion: das Volk des Geistes 1.3. Genealogie der Moral: das Volk des Gesetzes 1.3.1. Geistige Gemeinschaft: das Primat des Kollektiven 1.3.2. Das Gesetz der Väter als Über-Ich 1.3.3. Die Macht des Wortes: die ersten Literaten 2. Der Schatten des Nationalsozialismus: völkische Abkapselung und Rassenkult 2.1. Der Bund: ein Teufelspakt 2.1.1. Oskar Goldberg\ Die Wirklichkeit der Hebräer 2.1.2. Überlappungen und Verknüpfungen 2.2. Antisemitische Klischees: materielles Denken, Hinterlist, Ehrgeiz

114 117 122 122 123 124 129 130 131 133 136 138 139 141 141 143 144 145 145 150 167 171 175 175 176 177 178 178 179 181 182 182 184 184 185 185 185 188 190

VIII

Inhalt 3. 3.1. 3.2.

C.

D.

Vom Partikularismus zum Universalismus 193 Das Geheimnis der Sphinx: Das Gesetz der Zeit 193 Der »Sprößling der Verheißung«: Israels Verweltlichung 195 4. Israels Saga und Deutschlands Wirklichkeit 198 4.1. Ägypten und Deutschland 198 4.2. Israel: Modell und Gegenmodell 201 4.3. Nationalismus und Rassismus 204 5. Das Hebräerbild zwischen Volksidylle und völkischem Greuel 204 5.1. Umwertung des Materials 204 5.2. Grundsätzliche Zweideutigkeiten 207 5.2.1. Umkehrung der Polaritäten 208 5.2.2. Judentum und Weltzivilisation 209 Das Gesetz 212 1. Israels Erbe 212 2. Die Kehrseite 217 3. Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit 221 Doktor Faustus 226 1. Die Erzählerfigur Serenus Zeitblom und das jüdische Thema 227 2. Das jüdische Problem im Tagebuch 230 3. Jüdisches Figurenensemble im Roman 233 3.1. Jüdische Kreise 233 3.2. Chaim Breisacher: ein jüdischer Intellektueller 236 3.2.1. Revolution und Konservatismus 237 3.2.2. Die Gestalt des Breisacher und Oskar Goldbergs Thesen ... 238 3.2.3. Breisacher: Diabolus in machina 242 3.3. Der Impresario Saul Fitelberg 243 3.3.1. Jüdisches »Geblüt« 244 3.3.2. Das jüdische Problem 246 3.3.3. Judentum und Deutschtum 247 3.3.4. Der gute Teufel 250 3.4. Schoeps' konservatives Denken 251 3.4.1. Eine antiliberale Zeitschrift 251 3.4.2. Schoeps' Mahnung: Deutschlands Auftrag 254 3.4.3. Deutschtümelei aus jüdischer Quelle 256 3.5. Zwischenbilanz 259 4. Der Kridwiß-Kreis 260 4.1. Analogie zu den jüdischen Literaten 260 4.2. Irrationalismus und intellektueller Totalitarismus 261 4.3. Von jüdischer Verteufelung zur deutschen Vequdung 263

Inhalt

IX

5. 5.1.

Diabolica sive judaica Germania 264 Der Teufel, ein Literat: Kerr - Kretschmar Adorno - Schönberg 265 5.2. Teufelswerk und Zivilisation 267 5.3. Mimikry und Syphilis 268 5.4. Des Teufels Geist 271 6. Osmose 272 6.1. Deutschlands Verhängnis 272 6.2. Deutschland-Leverkühn zwischen Gott und Teufel 274 6.3. Jüdisch-Lateinisches: Ergänzung und Gefahr 277 6.4. Deutsches Los: vom Zionsberg zum Rohmsbtihl 278 6.4.1. Verfehlte Reformation 278 6.4.2. Von Luther zu Hitler 280 6.4.3. Deutsche Verhängnisse am Rande des Romangeschehens . 282 7. Von jüdischen zu deutschen Literaten 284 7.1. Der Humanist Serenus Zeitblom 284 7.2. Hiob-Leverkühn: Naphta redivivus 285 8. Nachspiel 287 Vierter Teil: Jüdische Symbolik im Spätwerk. Der Erwählte. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

293

Abschließende Bemerkungen

297

Literaturverzeichnis

303

A. Texte von Thomas Mann B. Ausgewählte Studien über Thomas Mann C. Sonstiges Personenregister

303 304 308 313

Einleitung

Eine Studie über Thomas Mann, Deutschland und die Juden war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung vor zwanzig Jahren1 ein in mancher Hinsicht gewagtes, dennoch längst überfalliges Unternehmen. Dem unbequemen, einst tabubrechenden Thema haftet inzwischen nichts Skandalöses mehr an, nicht zuletzt durch die Diskussionen innerhalb der deutschen Gesellschaft selbst. 2 Vor diesem veränderten Hintergrund erscheint die vorliegende, für ein deutsches Publikum überarbeitete Fassung in einem anderen Licht. Sie möchte in detaillierten Analysen der Gefahr polemisch vergröbernder Einseitigkeiten entgegenwirken.3. Schließlich geht es um mehr als nur um die Feststellung, ob Thomas Mann Philo- oder Antisemit war, nämlich um die Bedeutung und Tragweite der deutsch-jüdischen Problematik im Leben und Schaffen eines Autors, der als herausragender Repräsentant seiner Zeit und seines Landes gilt. Thomas Manns Interessen sind verständlicherweise nicht hauptsächlich auf Jüdisches gerichtet, aber zu den Reflexionen über Gott und die Welt, Leben und Tod,

1

2

3

Jacques Darmaun: Thomas Mann et le problème juif. Thèse de doctorat d'Etat. Université de Paris X-Nanterre 1985, (Habilitationsschrift, 1036 Druckseiten). Zu nennen wären Daniel Jonah Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" (Berlin: Siedler 1996), die WalserBubis-Debatte über die Instrumentalisierung der Shoah, die Polemik um die Wehrmachtsausstellung, die zehn Jahre andauernde Auseinandersetzung über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das Aufflackern eines neuartigen Antisemitismus. Die Palette reicht von völliger Ablehnung einer solchen Thematik (M. Flinker) über Verschweigen derer, die davon sprechen und darüber schreiben, sowie über dämpfende, betäubende Beschwichtigung (Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Alfred Kroener 1995) bis zu den jüngsten, m.E. übertrieben forschen Attacken auf Thomas Mann (Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Berlin: Metropol 1998 [Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin; 23]). Fast sensationslüstern scheint die ernste Problematik bei Harpprecht behandelt (Vgl. Klaus Harpprecht: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995). Wie brisant und heikel das Thema tatsächlich ist, zeigt schon 1959 Martin Flinker in seiner apodiktischen Zurückweisung: »Thomas Mann auch nur im Zusammenhang mit Antisemitismus zu nennen, heißt, ihn überhaupt nicht verstanden haben, ihn gar nicht kennen, den Wert seines Schaffens leugnen.« (Martin Flinker: Thomas Mann's politische Betrachtungen im Lichte der heutigen Zeit. Gravenhage: Mouton 1959, S. 151).

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Einleitung

Deutschland und die Deutschen, Krieg und Frieden, Geist und Kunst u.v.a.m. trägt auch sein Verhältnis zum Judentum unweigerlich bei. Ein Wagnis war dieses Unternehmen auch in anderer Hinsicht. In dem immensen Textkorpus nimmt sich die Thematik zunächst geringfügig, ja abseitig aus: Abgesehen von der Erzählung Wälsungenblut und dem Romanzyklus Joseph und seine Brüder, der Thomas Mann zufolge alles andere als ein »Juden-Epos« (XIII, 486)4 sein soll, tauchen in seinem Oeuvre lediglich vereinzelt jüdische Figuren, hie und da verstreute Andeutungen auf. Thomas Mann hatte zudem öffentlich Stellung bezogen, nichts schien der weiteren Auslegung zu bedürfen, verstand es sich doch von selbst, daß er, der praeceptor germaniae und Inkarnation des guten Deutschland, den Nationalsozialismus, jedweden Obskurantismus und natürlich auch Antisemitismus geißelt. Zwischen Thomas Manns öffentlichen Stellungnahmen und seiner literarischen Judendarstellung treten manche Widersprüche zutage, auf die hinzuweisen über lange Jahre taktlos erschien. Es mußte aber doch - damals wie heute erlaubt sein, gerade am Fall eines repräsentativen Vertreters des deutschen Bildungsbürgertums zu untersuchen, wie die Judenproblematik in einem Jahrhundert und in einem Land erlebt wurde, das wie kein anderes von ihr durch und durch erschüttert und aufgewühlt worden ist. Thomas Mann hat selbst oft genug den Anspruch geäußert, als Schriftsteller Seismograph der Gesellschaft sein zu wollen. Um wie viel mehr ist von ihm als von den Handlangern des Nationalsozialismus ein authentisches Bild des deutsch-jüdischen Verhältnisses zu erwarten, in dem sich trotz fortbestehender Konflikte und Abneigungen eine Symbiose abzuzeichnen begann. Gerade die repräsentative Bedeutung eines solchen Humanisten verlangte Beachtung und gebot eine unvoreingenommene Untersuchung. Bei dem strengen, wohl durchdachten und komplexen Gewebe dieses Werkes, in dem jedes Detail von Belang ist, reicht ein zwar spärliches, aber durchgängiges Vorhandensein jüdischer Gestalten - manchmal sogar mit dem Gewicht eines Naphta, einer zentralen Figur im Zauberberg - und ihre Beziehungen zu anderen Gestalten aus, um Neugier zu wecken und mancherlei Fragen aufzuwerfen. Was hat, beispielsweise, die Tatsache zu bedeuten, daß überhaupt Juden vorkommen, selbst wenn sie relativ selten in den Vordergrund treten? Ihre Präsenz prägt sich auch dort ein, wo sie nur kurz, am Rande, schemenhaft oder indirekt auftreten. Womöglich lassen sie sich in ein großes Beziehungsgeflecht mit anderen, weiterreichenden Zielen einordnen. Und wenn jüdische Gestalten dort fehlen, wo man sie vermutet hätte, so tauchen sie an anderer Stelle wiederum völlig unerwartet auf. Im Laufe dieser Untersuchung wird - ausgehend von sichtbaren und anderen, versteckten Hinweisen ein überraschendes Puzzle entstehen. 4

Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1960-1974. - Bandangabe erfolgt mit römischen, Seitenangabe in arabischen Ziffern.

Einleitung

3

Thomas Manns Faszination für die Vielfalt menschlicher Erscheinungsformen, u.a. die Liebe zum ganz Anderen, zum Süden, aber auch dessen Ablehnung, gehören zur Identitätssuche. Variierend und ergänzend dazu konstituiert sich das kontrastreiche Bild eines spezifisch jüdischen Wesens, das - ohnehin schon komplex genug - noch komplizierter wird, weil diese religionsbedingte, kulturelle Gemeinschaft unter dem lastenden Erbe allgemeiner Vorurteile zur fremden, sogar feindlichen Rasse abgestempelt wird. Unterschiede in Kultur und Tradition lassen die Juden als ethnisch anders erscheinen. Hinzu kommt, daß - bei Thomas Mann wie in Deutschland überhaupt - je nach Konjunktur das jüdische Problem einmal verblaßt, alsbald wieder zutage tritt und dem Wechsel der Geschichte unterliegt. Wir haben es mit einem Autor und mit einer Gesellschaft zu tun, die sich verändern und 1897 anders sind als 1918 oder 1933, weshalb sich eine chronologische Vorgehensweise anbietet. Thomas Manns Verhältnis zu den Juden ins Auge fassen, heißt, es in seinem Alltag zu erhellen und zu betrachten, wie der Schriftsteller es in erzählende Literatur mit ihren eigenen Konnotationen umsetzt. Thomas Manns Vorstellung von der jüdischen Welt muß nicht nur soziologisch, politisch und religiös umrissen, sondern auch im Werk als literarische Darstellung verfolgt werden, die eigenen Gesetzen gehorcht und gegebenenfalls die Fiktion mitstrukturiert. Die Textanalyse wird rasch zeigen, wie diese Thematik, die den Autor von seinen ersten Schriften an gefesselt hat, unter dem Druck der historischen Ereignisse zum Leitmotiv avanciert und in ein dichtes Motivgeflecht verwoben wird. Verfolgen wir diese Problematik also von den Anfangen bis zu ihrer vollen literarischen Entfaltung.

Erster Teil: Die Ausgangssituation

1.

Faszination der »Rassen«

Herkunft und Abstammung drängen sich Thomas Mann als zentrale Problematik auf. Väterlicherseits stammt er von einer alten deutschen Familie fränkischer Bauern und Handwerker aus Nürnberg ab. Der Urgroßvater war Kaufmann in der alten Hansestadt Rostock, der Großvater Johann Siegmund Mann hatte ein Getreidehandelsunternehmen gegründet und sich in Lübeck in dem berühmten Haus Mengstraße 4 niedergelassen, das aus den Buddenbrooks bekannt ist. Thomas Mann erinnert in seinen autobiographischen Notizen gern daran, daß er Nachfahre dieser altehrwürdigen Großhändler und hanseatischen Patrizier ist. Thomas Manns Mutter, Julia da Silva Bruhns, im brasilianischen Angra dos Reis geboren, war die Tochter des deutschen Pflanzers Johann Ludwig Bruhns und seiner Frau Maria Luiza da Silva, einer »portugiesisch-kreolischen Brasilianerin« (XI, 98). Thomas Mann rühmt in seinen Aufzeichnungen die exotische Schönheit, das Talent und die künstlerischen Gaben seiner Mutter. Sie schien aus einer anderen Welt zu kommen. »Schmelz und Feuer ihres Blickes hatten schon den Stich ins Skandalöse«1 für die braven Lübecker Bürger. Der durch die deutsch-romanische Herkunft bedingte innere Konflikt ist ein durchgängiges Leitmotiv bei den Brüdern Heinrich und Thomas Mann. Lola, die Heldin aus Heinrich Manns Roman Zwischen den Rassen - wie auch Thomas Manns Titelgestalt Tonio Kröger2 - fragen sich: »Bin ich denn anders als alle?«3 Lola lebt - wie auch Tonio - in einem inneren Zwiespalt, dem sie ihren kritischen Verstand verdankt: »Das Temperament meiner mütterlichen Rasse schätze ich, wenn ich in Deutschland bin. Bei jenen [in Brasilien - J. D.] aber sehne ich mich oft nach der deutschen Tiefe.«4 Die Spannung, die Tonio Kröger in sich trägt und die sein Name versinnbildlicht, seine Zerrissenheit zwischen dem Künstler und dem Bürger in ihm ist Widerspiegelung dieses Ausgangskonfliktes. Wenngleich die Vererbungslehre des zeitgenössischen Naturalismus sicherlich auf Thomas Mann gewirkt hat, handelt es sich um seinen ureigenen Konflikt, den er, als er sich seines 1

Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M.: Fischer Bücherei 1963 (Fischer Bücherei; 560/561), S. 10.

2

Das Alter ego des Autors.

3

Heinrich Mann: Zwischen den Rassen. Berlin: Aufbau 1951, S. 37. Ebd., S. 133.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

Anders-Seins bewußt wird, sehr intensiv durchlebt. Seine Identitätssuche ist in erster Linie genealogisch bestimmt. Im Roman Buddenbrooks dringt er zu den Wurzeln vor, wie um sich seiner selbst zu vergewissern und um einer schmerzhaften Doppelheit zu entgehen. Er verleugnet seine romanische Herkunft keinesfalls, von ihr zeugt seine ItalienFaszination und die auch in Anwandlungen der Ablehnung nie wirklich verdrängte Liebe zu diesem Land. Er unterstreicht aber um so mehr sein zutiefst deutsches Wesen. Er fühlt sich deutsch, er will deutsch sein. »Wer bin ich, woher komme ich, daß ich bin, wie ich bin, und mich anders nicht machen noch wünschen kann?« (XII, 115), wird er sich fragen und antworten, daß er vor allem von deutsch-bürgerlicher Kultur sei. »Das mütterlich-exotische Blut [...] mochte entfremdend und abwandelnd wirken, das Wesen, die Grundlagen veränderte es nicht«. Kurz, es habe wie ein »Ferment« (XII, 115) gewirkt, das das deutsche Erbe in ihm gesteigert habe. Beim Abfassen der Buddenbrooks, diesem »sehr deutsche[n] Buch« (XI, 383), habe er seine wahre Heimat entdeckt: »den Norden, Ethik, Musik, Humor« (XI, 381). So schreibt er 1926 an seinen Bruder und fokussiert damit den grundlegenden Dualismus ihrer Abstammung, allerdings fein dosierend: »Lübecker Gothik und ein Schuß Latinität« (X, 309). Die romanische Abkunft wird also eingeschränkt, nicht aber herabgesetzt. Sogar in der dunkelsten Zeit des deutschen Chauvinismus verdrängt Thomas Mann sein mütterliches Erbe nicht; er verlegt sich, seinem Selbstbild als »lateinischer Sophist« (XII, 173) gemäß, mit dem ihm eigenen Scharfsinn darauf, gerade in diesem »Schuß Latinität« (X, 309), so gering er auch sein mochte, die Steigerung und Vervollkommnung seines Deutschtums zu erkennen. Durch den »Zusatz von Fremdem« (ΧΠ, 71) habe er, ganz im Sinne des illustren Dreigestirns seiner Lehrmeister, »Schopenhauer, Nietzsche und Wagner« (ΧΠ, 72), dieser großen Europäer, an einem »höhere[n] Deutschtum« teil (XII, 71). Hier sei »buchstäblich die Heimat [seiner - J. D.] Seele« (ΧΠ, 80): dieses tiefgründige, grüblerische, vom Protestantismus und von der ausgesprochenen Neigung zur Ethik, zum Philosophieren, zur Metaphysik und zur Musik durchdrungene deutsche Gemüt, diese »dürerisch-faustische« Mischung von »Kreuz, Tod und Gruft« (XII, 407). Das fremde, romanische Element in ihm entspreche ganz der Sehnsucht nach Ergänzung, die dem wahrhaft deutschen Empfinden eigen sei (X, 312). Auf diesen Höhen des Deutsch-Seins ist der Ausgangskonflikt überwunden und durch eine harmonische Synthese der Gegensätze aufgehoben. An rassische Merkmale, Unterschiede, Eigenarten allerdings glaubt er fest. Sie sind für ihn nicht aus der Luft gegriffen. Wenn er notiert, daß sein Blut »nur zum vierten Teil [...] mit lateinamerikanischem gemischt ist« (X, 420), ist es ihm darum zu tun, den Anteil dieses biologischen Erbes klar zu umgrenzen. Wenn er sich eher fur deutsch denn für romanisch hält, dann gilt ihm dies mehr als eine Sache des Bluts denn als eine der Tradition und des Milieus. Das biologische Problem brennt ihm »auf den Nägeln« (XII, 140). Die Buddenbrooks sind u. a. auch der Versuch, die Wandlung vom Bürger zum Künstler psychologisch und

1. Faszination der »Rassen«

7

biologisch in einer genauen genealogischen Studie der verschiedenen, aufeinanderfolgen Generationen und Glieder einer Familie bis zur Figur des Hanno Buddenbrook zu erklären. Erst beim Aufdecken sich abwandelnder Erbanlagen glaubt Thomas Mann, eine Antwort zu finden. Dem physiognomischen Aspekt hat er im Leben wie im Werk stets größte Aufmerksamkeit gewidmet. Von Madame Antoinette Buddenbrook, geborene Duchamps, heißt es, daß »der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit ihrer Augen [...] ein wenig von ihrer halb romanischen Herkunft« (I, 10) verraten. Ihrem Sohn, Konsul Buddenbrook, vererbt sie den träumerischen Blick, während er die »blauen [...] Augen seines Vaters« (I, 11) hat, seine Wangen aber sind »viel weniger voll als die des Alten« Johann Buddenbrook (I, 11). Diese Gesichtszüge weisen womöglich auf eine gewisse innere Anspannung seines Wesens, die beim alten Johann völlig fehlte, sich aber beim Sohn ankündigt und bei Thomas, Christian und Hanno unter der Einwirkung der jeweiligen Blutsmischungen zum Durchbruch gelangt. Auch in den autobiographischen Aufzeichnungen und Reisenotizen zeigt sich in den Beschreibungen der Menschen, denen der Schriftsteller begegnet, ein nicht minder ausgeprägtes Interesse fur äußere Merkmale, die auf Rasse und Geblüt deuten, wie er sagen würde, sei es nun bei »Mischtypen« (XI, 12) oder bei jenen, deren Zugehörigkeit mitunter schwer zu erraten ist, oder gar wie bei einem kosmopolitischen Publizisten, wo mit sichtlichem Vergnügen die verschiedenen russisch-jüdisch-französischen Komponenten aufgedeckt werden. In Frankreich glaubt Thomas Mann, den »Typus des französischen Intellektuellen« (XI, 45) mit »schmalem Anatole France-Schädel« (XI, 16) auszumachen, an dem er »dies französische Lächeln einer geist-erhellten Bonhommie« (XI, 31) schätzt. Einer der bemerkenswertesten und schönsten Menschen, die er je gesehen habe, notiert Thomas Mann, sei Graf CoudenhoveKalergi gewesen, »zur Hälfte Japaner, zur anderen Hälfte gemischt aus dem internationalen Adelsgeblüt Europas« (XI, 46).5 Das sowohl ästhetisch als auch wissenschaftlich bestimmte Interesse an Fragen der Herkunft und Thomas Manns Hang, den eigenen Wesensgrund in der Geschlechterkette und der Heimaterde ausfindig machen zu wollen, kommt uns heute bedenklich vor. Doch hierin ist er ganz Sohn seiner Zeit und Zeuge des Zeitgeistes. Durch das Spielerisch-Ironische, die Lust am Selbstexperiment, am eigenen zwitterhaften Wesen, löst sich Thomas Mann aber auch wieder aus diesem Zeitzusammenhang und nimmt Abstand. 5

Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, 1894 in Tokio geboren, war österreichisch-japanischer Abstammung, Nachkomme alten flämischen Adels (Coudenhove), Sohn einer Japanerin, Enkel einer Griechin (Kalergi). Schriftsteller und Politiker, Begründer der paneuropäischen Bewegung (Wien 1923) und Verteidiger einer Föderation europäischer Staaten (England und Rußland ausgenommen). Er mußte 1938 Österreich verlassen. Ab 1940 war er Universitätsprofessor in New York, von 1947 bis 1965 Generalsekretär der Europäischen Bewegung.

8

Erster Teil: Die Ausgangssituation

Er kann die zwei Seelen in seiner Brust nicht verleugnen. Er analysiert, pflegt und kultiviert sie. Sie sind ihm das A und O seiner selbst. Er neigt dazu, auch andere Menschen auf diese Weise zu erklären. Seine Position in diesen Dingen ist eine überwiegend ästhetische, kein wissenschaftliches Credo. Um der Rassenproblematik, wie Thomas Mann sie bezeichnet und begreift, das rechte Gewicht beizumessen, genügt es zu fragen, ob die Gesetze des Blutes für ihn tatsächlich ein biologisches Fatum darstellen: Rassen sind für ihn zwar eine wichtige Komponente zur Erklärung der Menschen, deren Schicksal sind sie allerdings nicht.

2.

Die kulturelle Erblast

2.1.

Der Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert

Erst 1872 wird die juristische Gleichberechtigung der Juden im gesamten Deutschen Reich erlassen, 6 ohne jedoch der faktisch fortbestehenden Diskriminierung ein Ende zu bereiten. Trotz einer wachsenden Zahl von Ausnahmen ist z. B. der Zugang zu öffentlichen Ämtern nicht wirklich gewährleistet, 7 und die Taufe stellt noch immer jene Eintrittskarte in die Gesellschaft dar, von der einst Heine sprach. Die alten Gegensätze werden durch politische und ökonomische Spannungen wieder geweckt oder neu geschürt. 8 Marr, der den Begriff »Antisemitismus« geprägt hat, predigte den rassistischen Antisemitismus, 9 warnte 1873 vor dem Sieg des Judentums über das Germanentum und gründete 1879 die Antisemitische Liga (60000 Mitglieder). Mit seinen reißerisch aufgemachten, 1874 in der Gartenlaube publizierten 6

7

8

9

Vgl. Ismar Elbogen / Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1966, S. 241. Pierre Angel: Le personnage juif dans le roman allemand (1855-1915). La racine littéraire de l'antisémitisme Outre-Rhin. Paris: Didier 1973. Léon Poliakov: Histoire de l'antisémitisme. Bd 3: De Voltaire à Wagner. Paris: Calman-Lévy 1968, S. 407, Fußnote 3. Vgl. auch Elbogen / Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland (Anm. 6), S. 250: Ungetaufte Juden konnten weder Offiziere noch hohe Beamte werden. 1890 waren von 64750 Grundschullehrern nur 78 Juden, von 4400 Richtern gab es nur 89 jüdischen Glaubens. 1900 unterrichteten von 6247 Gymnasiallehrern nur 72 Juden. Die jüdische Bevölkerung unterlag zwar nicht mehr einer besonderen Gesetzgebung, dennoch blieben unrechtmäßige Benachteiligungen in verschleierten Formen weiter bestehen. Der Historiker Mommsen beschuldigte die Behörden der »Verwaltungsprellerei« gegen die Juden. Nach dem Börsenkrach von 1873 setzte eine heftige judenfeindliche Hetze ein. Der Börseneinbruch traf besonders die Kleinaktionäre des mittelständischen Handwerks, Kaufleute und Bauern, blieb allerdings bedeutungs- und folgenlos für den allgemeinen deutschen Wirtschaftsaufschwung. Vor allem der untere Mittelstand war anfällig für die antijüdische Scharfmache. Pierre Sorlin: L'antisémitisme allemand. Paris: Flammarion 1969 (Questions d'histoire; 8), S. 33.

2. Die kulturelle Erblast

9

Artikeln schürte Otto Glagau den Haß auf die raffende Spekulation, der er den schaffenden, ehrlichen, christlichen Kapitalismus gegenüberstellte. Der antisemitischen Propagandisten in der Art eines P. Förster, Henrici, H. Ahlwardt, O. Bockel, Fritsch10 gab es viele. An der Berliner Universität wären Paul de Lagarde, Dühring, Strohal, Bockel und andere zu nennen,11 wovon der Berliner Antisemitismusstreit12 der achtziger Jahre zeugt. Die Konservativen und das Kleinbürgertum ermöglichten den Aufstieg und Erfolg des Berliner Hofpredigers Adolf Stöcker. Antijüdische Gruppierungen bildeten sich, so der »Verein zur Ausrottung der Juden« und der »Internationale Antijuden-Kongress«. Bei den Reichstagswahlen von 1893 erhielten die Antisemiten annähernd 300 000 Stimmen und damit 16 Sitze.13 Es ist, als ob die Gleichberechtigung de jure sich de facto als wiederbelebter Fremdenhaß niederschlüge. »Nach 1870-1871 war es noch schwieriger, ein Jude in Deutschland zu sein«,14 heißt es bei Poliakov. 2.2.

Die Situation in Lübeck

Thomas Manns Kindheit und Jugend ist im Zusammenhang mit diesen politischen und ökonomischen Entwicklungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu sehen. Zwar dürften die seit alters liberalen Hansestädte und ihr Großbürgertum für antijüdische Diskurse im allgemeinen wenig empfänglich gewesen sein;15 schließlich verfugte man über ausreichend Unternehmergeist und finanzielle Mittel, um sich ob der Rivalität und Dynamik des jüdischen Kapitals nicht zu beunruhigen. Aber selbst ein ungefährlicher Konkurrent bleibt ein Konkurrent, gegen den man lieber Vorsorge trifft. Schon 1815 waren Freie Reichs- und Hansestädte wie Frankfurt, Hamburg, Bremen und Lübeck die Vorreiter »der anti-emanzipatorischen Reaktion«16 gewesen und hatten sich beeilt, die unter der napoleonischen Vorherrschaft verkündeten, toleranteren Gesetze außer Kraft zu setzen.17 Der ökonomische Wettbewerb ist der Beseitigung antijüdischer Verfemungen abträglich. 10 11 12 13 14 15 16 17

Ebd., S. 57f. Ebd., S. 57f. und Angel, Le Personnage juif (Anm. 6), S. 141. Walter Boehlich: Der Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M.: Insel 1965. Angel, Le Personnage juif (Anm. 6), S. 140, Fußnote 8. Poliakov, Histoire de l'antisémitisme, Bd 3 (Anm. 7), S. 415. Angel, Le Personnage juif (Anm. 6), S. 82. Poliakov, Histoire de l'antisémitisme, Bd 3 (Anm. 7), S. 259. In Hamburg wird zwar der erste jüdische Staatsanwalt namens Gabriel Riesser ernannt, er bleibt aber die Ausnahme. (Angel, Le Personnage juif [Anm. 6], S. 82). Die Vorurteile bestehen weiter: Der Antisemit W. Marr, Publizist in Hamburg, machte die jüdischen Finanzkreise für die Wirtschaftskrise in Deutschland und Österreich-Ungarn verantwortlich. Das Reich Bismarcks stellt er als das »neue Palästina« dar. (Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. Köln u. a.: Kiepenheuer und Witsch 1972, S. 38).

10

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

Dies galt insbesondere für Lübeck. Die alte Hansestadt geriet im Bismarckschen Zeitalter an die Peripherie des Reiches, der Außenhandel nahm ab, da kaum noch Agrarprodukte exportiert wurden. Der mit der industriellen Massenproduktion ansteigende Binnenhandel, der wachsende Bedarf aufgrund des Bevölkerungswachstums begünstigten eher Hamburg als Lübeck. Mit dem Bau des Nord-Ostsee-Kanals verdrängte Kiel die Hansestadt Lübeck aus ihrer traditionellen Rolle, Hamburgs Vorhafen zur Ostsee zu sein.18 Solchermaßen geographisch benachteiligt und wirtschaftlich isoliert, gerät Lübeck in die paradoxe Situation,19 in einer Periode ökonomischen Aufschwungs in Deutschland zu stagnieren. Thomas Mann konnte deshalb, ohne gegen die geschichtliche Wahrheit zu verstoßen, inmitten einer wirtschaftlichen Blütezeit für Deutschland den Untergang eines Lübecker Großunternehmens erzählen. Das Lübekker Bürgertum, empfindlicher bedroht als das in Hamburg, wird jegliche Konkurrenz beargwöhnen, erst recht die jüdische. Die elitäre Patrizier-Kaste von Großunternehmern hat die Macht in Lübeck inne.20 »Ein Abgrund trennt Sie von uns anderen, die wir nicht zu Ihrem Kreise von herrschenden Familien gehören« (I, 140), hält der junge Medizinstudent Morten im Roman der Tony Buddenbrook vor. Die Legislative, Exekutive und Jurisprudenz liegen in den Händen dieser »kapitalistischen Oligarchie«.21 Nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Dezember 1848 übt der Senat noch bis 1864 die exekutive und juristische Gewalt aus.22 Das Patriziertum verteidigt seine Vorrechte; es hält entschlossen an der Unterscheidung zwischen »Bürgern« und »Einwohnern« fest. Als infolge der Unruhen von 1848 Forderungen nach einer Ausdehnung der Bürgerrechtes auch auf »Nichtchristen« laut werden, scheint dies der Gipfel der Ungehörigkeit und der endgültige Beweis dafür zu sein, daß die Welt in Unordnung und Wahnsinn versinkt (I, 178). Nicht ohne Grund geißelt der junge Morten mit revolutionärem Eifer die von den großen Familien praktizierte Absonderung und prangert den Kastengeist dieses hochmütigen Bürgertums an (I, 388). Provinzialität verstärkt diesen Dünkel. Zwar ahmt man Hamburgs weltstädtisches Flair nach, lehnt aber ab, was aus dem engen lokalen Rahmen fällt. Bayern ζ. B. ist Gegenstand heftigen Spottes. Tony Buddenbrook hält es für ein barbarisches Land (I, 388). Als Thomas heiratet, weiß niemand so recht, was eigentlich an der hinreißenden Gerda Arnoldsen auszusetzen ist. Sie

18

19 20

21 22

Marrs Angriffe zielen nicht nur auf das Judentum als Religion, sondern auf das jüdische Volk, das »rassisch fixiert« sei. Pierre-Paul Sagave: Réalité sociale et idéologie religieuse dans les romans de Thomas Mann, Paris: Belles Lettres 1954, S. 11. Ebd., S. 12. Pierre-Paul Sagave: Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman: Bürgerliches Klassenbewußtsein und kapitalistische Praxis in »Buddenbrooks«. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hg. von Helmut Arntzen. Berlin, New York: de Gruyter 1975, S. 443. Sagave, Réalité sociale et idéologie religieuse (Anm. 18), S. 5. Ebd., S. 6.

2. Die kulturelle Erblast

11

kommt aus Amsterdam. »Sie hat ein bißchen was Gewisses [...]«, sie ist nicht wie die Leute von hier (I, 294). Die Vorurteile sind den Juden gegenüber noch stärker ausgeprägt. Hagenström, der Rivale der Familie Buddenbrook, heiratet eine Jüdin aus Frankfurt. Daran nimmt die gute Gesellschaft Anstoß. Die Verbindung schadet ihm (I, 62f.). Kastengeist und engstirniger Provinzialismus verstärken antijüdische Ressentiments noch mehr. Die Vorurteile haben eine nicht zu unterschätzende religiöse Grundierung. In den Buddenbrooks manifestiert sie sich als jener leidenschaftliche Haß auf den Katholizismus, der Tony bezeichnenderweise in München befallt und den ihr die Mutter durchgehen läßt: »[...] obgleich wir duldsam sein sollen [...]« (1,308). Tony, das wohlerzogene Lübecker Mädchen, flüchtet sich zum »einzige[n] Protestant[en] in der Gesellschaft« (1,309). Dieses religiöse Sektierertum beeinflußt notwendigerweise auch das Verhältnis zu den Juden. Ökonomische Rivalität und religiöser Haß sind aufs engste verwoben, leisten einander Vorschub. Der ökonomisch motivierte Antisemitismus bleibt in der Theologie verwurzelt und besteht nur durch sie, denn ohne sie wären die besitzenden Juden nur Menschen mit Geld wie die anderen.23

Im judenfeindlichen Kontext der Epoche stellt Lübeck keine Ausnahme dar. Die Wirtschaftslage trägt nicht zum Abbau jener Vorurteile bei, die beim Sohn einer deklassierten, ihrer Privilegien beraubten Familie zu verfangen drohen. Ist von seinen Lehrmeistern, den geistigen Vorbildern, ein anderer Einfluß zu erwarten? 2.3.

Die geistigen Erzieher

Um 1886 scheint es, folgt man der Antisemitismus-Forschung, unmöglich zu sein, einen Juden anders denn als »Wucherer, Schwindler oder Verräter«24 darzustellen. Vermögen Thomas Manns unmittelbare geistige Mentoren Ausgleich und Gegengewicht zu solchen Klischees zu schaffen? Nietzsche ist kein Antisemit. Er betont aber, noch keinem Deutschen begegnet zu sein, »der den Juden gewogen gewesen wäre.«25 In seinem antireligiösen Eifer greift er in ein und demselben Zug Christentum und Judentum an und verteidigt, wie auch Heine,26 ein verklärtes Griechentum. Richard Wagner, für den sich der junge Thomas Mann begeistert, verdient besondere Aufmerksamkeit. Wagners Antisemitismus entsteht aus der dump23 24 25

26

Poliakov, Histoire de l'antisémitisme, Bd 3 (Anm. 7), S.409. Angel, Le Personnage juif (Anm. 6), S. 161. Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München: Hanser 1966, Bd II, Aphorismus 251, S. 716. Lonsbach zitiert die von Nietzsche in Turin redigierten Zeilen an Overbeck, Nietzsche wolle alle Antisemiten erschießen lassen. In: Richard Maximilian Lonsbach: Nietzsche und die Juden. Ein Versuch. Stockholm: Bermann-Fischer 1939, S. 55. Nietzsche übernimmt Heines pantheistische Argumentation in »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«.

12

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

fen Ahnung einer möglichen jüdischen Abstammung, da er sich für den außerehelichen Sohn eines Juden hält.27 Judenhaß und Ödipus-Komplex vereinen sich ab 1850 zu gehässigen Angriffen auf seinen Wohltäter und Gönner Meyerbeer.28 Bei Wagner sind alle religiösen, politischen, wirtschaftlichen, rassistischen Faktoren der Judenfeindschaft versammelt. Er wettert gegen die katholische, lateinisch-semitische Kirche,29 geißelt die korrupte käufliche Presse als jüdisch-französisches Pack. Er schimpft auf die westliche Zivilisation, die keine christliche sei, sondern ein jüdisch-barbarisches Durcheinander.30 Gegen den semitischen Dämon, der die Welt ihrer ursprünglichen Unschuld beraubt habe, braut der Hexenmeister zu Bayreuth das Gegengift, ein arisches, wagnersches Christentum.31 Der angeblichen Grausamkeit und dem raffgierigen Egoismus der Juden stellt Wagner die rettende Liebe gegenüber, »de[n] Mensch[en], schön und frei zugleich, stark und liebend, Siegfried, de[n] Erlöser«.32 Dies sind nur einige Kostproben der ungeheuren Dummheit, mit der es Thomas Mann aufnehmen muß. Wie wird er mit dieser kulturellen Erblast umgehen?

3.

Erste Kontakte mit Juden

Erste Antworten darauf gibt Thomas Mann 1921, als er sich seiner ehemaligen jüdischen Mitschüler erinnert. Der Schriftsteller besteht auf dem zufälligen Charakter dieser freundschaftlichen Beziehungen, die aus einer unbewußten, verlockenden Faszination entstanden seien. Er beschreibt keinen abstrakten Typus, sondern drei, individuell sehr verschiedene Klassenkameraden. Dennoch haben die drei beschriebenen Knaben gemeinsame Züge, die stark hervorgehoben werden. Carlebach, das »Rabbinersöhnchen« (XIII, 467), ist von einem geheimnisvollen Nimbus umgeben, da er den biblischen, mit der »Wüstenpoesie« (XIII, 467) aufgeladenen Vornamen Ephraim33 trägt und dem Religionsunterricht fernbleibt. Die ungarische Herkunft von Fehér, der »schleppende Dialekt« (XIII, 467), seine »amüsant[en]« (XIII, 467) Geschichten über das fahrende Volk, seine künstlerischen Betätigungen und seine Zusammenkünfte mit anderen »>IsraelitenDas Zwanzigste JahrhunderU

19

die ganze Juderei, nicht bloß die Juderei auf der Börse, sondern auch die Juderei im politischen Klatsch und in der Fabrikation der öffentlichen Meinung, die Juderei im öffentlichen Leben, besonders im Parlamentarismus und in der Politik, das jüdische Lästern, Nörgeln, Spötteln, Kritisieren und Zersetzen. Suche man doch die Juderei nicht bloß in Israel! Wir selber treiben Juderei, wir Christen sind der Jude, der ausgetrieben werden muß. Wir Christen haben unsere Sitten verjudet, wir Christen, die wir unsere Blätter gerade so schreiben wie die Juden die ihrigen, wir Christen, die wir über Christen gerade so herfallen, wie die Judenjünger über die Gojim [...]. 6 9

Der Schriftsteller ist damit nur zum Teil einverstanden: »Die Verjudung unseres Geistes ist zuzugeben [.. ,].«70 Es helfe aber nicht, sich selbst zu bezichtigen und dadurch das eigentliche Problem, den Kern der Judenfrage, zu verdecken: wie stellen wir uns von nüchternem sozialopolitischem und ethnologischem Standpunkte aus zur Emanzipirung der Juden? Hat sich der Versuch, die Juden mit uns Europäern auf gleiche Stufe zu stellen, bewährt? Oder ist nicht eine Lösung oder Abänderung unseres Verhältnisses nöthig?71

Das katholische »mea culpa, mea maxima culpa« - so Thomas Mann ironisch - sei trügerisch und gefährlich. Ihm schwebt dagegen eine Veränderung der Verhältnisse vor, die nichts anderes als den Bruch mit der gesetzlichen Gleichstellung der Juden oder den einfachen Ausschluß der Juden aus der nationalen Gemeinschaft bedeutet. In diesem Punkt trifft Thomas Mann sich aufs engste mit der von der Zeitschrift propagierten Besorgnis um die germanische Rasse. Die beiden folgenden Besprechungen berühren das Judenproblem nicht direkt, fugen sich aber nahtlos in das kleinbürgerliche Arsenal der Zeitschrift ein. Im letzten Artikel dieser Serie, »Das Liebeskonzil«, rechtfertigt Thomas Mann die Verurteilung eines literarischen Werkes wegen Gotteslästerung. Die Staatsraison könne sich nicht um die Beweggründe des Künstlers scheren; im übrigen: Kann man dann nicht auch vom künstlerischen Standpunkt aus mit der Verurtheilung einverstanden sein? Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bißchen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banausen? 72

In einer sehr viel bedeutenderen Bemerkung kündigen sich die Themen an, auf die der junge Thomas Mann wert legt. Er lobt den deutschen Dichter Theodor Hutter ob seiner Formstrenge: »Es handelt sich darum, das scheinbar Unsägliche in strenge Form zu bannen, nicht in bacchantischem Geheul nur die eigene Unfähigkeit darzuthun.«73 Kunst sei apollinisch oder gar nicht. Thomas Mann lobt an diesen Texten »die ganze innige Kraft lutherischer Gesänge«.74 Er rühmt die »schlichte, echt protestantische Zuversicht«75 dieser »Dichterfröm69 70 71 72 73 74 75

Das Zwanzigste Jahrhundert (Anm. 34), 5. Jg, 1895, 2. Halbband, S. 520. Ebd. Ebd., S. 520. Ebd., S. 522. Das Zwanzigste Jahrhundert (Anm. 34), 6. Jg, 1896, 1. Halbband, S. 282. Ebd., S. 283. Ebd.

20

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

migkeit, die in der weiten Natur ihr schönstes Gotteshaus findet [...]«, 76 »die warme Liebe zum deutschen Vaterland und zur deutschen Sprache [,..]«. 77 Hier jene Strophen aus »Wach auf, mein Volk!«, die nach Thomas Manns Überzeugung »am bemerkenswerthesten«78 sind: Ein Feind ist da - er rastet längst Inmitten deutscher Lande, Er ward zum Fluche jedem Volk, Und uns ward er zur Schande. Er stritt mit Hinterlist und Trug, Hat allzeit uns befehdet, Hat Scham und Ehr' und Redlichkeit Mit seinem Gift ertödtet. Der Feind, der Dir von Außen droht, Kann nimmer dich besiegen, Läßt Du Dich nicht vom innern Feind In süße Träume wiegen. Drum feg' hinweg ihn zornentbrannt Aus allen Deinen Gauen U n d laß ihn n i c h t in D e i n e m L a n d Nomadenzelte bauen.79

Diese Nomaden sind die Juden, der innere Feind. Die Dolchstoß-Legende, die nach der Niederlage von 1918 verbreitet werden wird, hat eine lange, weit zurückreichende Tradition. Der im hochtrabenden Stil der Gartenlaube geschriebene Artikel »Ein deutscher Sang am Gardasee«80 ist vom Pangermanismus der mächtigen Alldeutschen Partei inspiriert. Der Gardasee liegt genausowenig auf deutschem Boden wie die Kleinstadt in Siebenbürgen,81 deren Menschen beschrieben werden: Das Aeußere jedoch läßt sofort die deutsche Abstammung erkennen. Diese Bergarbeiter sind größtenteils meso- und dolichocephal, blonder Typus und blaue Augen vorherrschend, Brachycephalie und dunkle Komplexion, Kennzeichen der Ostromanen sehr selten [...], also deutsche Stammesbrüder.82

Dann bespricht Thomas Mann eine Sammlung von »Tiroler Sagen«,83 die er in einem heineschen Ton heraufbeschwört. Namentlich die Legende von den kleinen schwarzen Teufelchen evoziert venetianische Hausierer, von denen Gerüchte behaupteten, sie seien »in ihrer Vaterstadt beim Teufel selbst in die »schwarze 76 77 78 79 80 81

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 283f. Ebd., S. 109. Das Zwanzigste Jahrhundert (Anm. 34), 6. Jg, 1896, 2. Halbband, S. 286.

82

Ebd., S. 289.

83

Ebd, S. 290.

4. Ein heikles Unterfangen: >Das Zwanzigste JahrhunderU

21

SchuleVernunftAbwehr< des Antisemitismus, bei dem es sich doch um den elementaren Ausbruch nationaler Gegensätze handelt.93

Die Juden aber hätten kein Sensorium für Europas nationalistische Maskeraden. Dazu Thomas Mann: »Selbst in dieser Form ausgedrückt, ist das ein wichtiges Zugeständnis.«94 Eine andere Befriedigung: zwar sei der Redner gewiß ein Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, aber nicht der landläufigen, die allein ökonomische Triebkräfte anerkennt. Die Rassen die durch Rassenmischung nicht aufgehoben, sondern nur ins Unendliche modifiziert werden, behalten ihren wichtigen Einfluß. 95

Der Redner schließe sich Theodor Herzls Ideen an, wie sie im Judenstaat ausgedrückt seien. Das konkrete Unternehmen, einen Staat zu gründen, begeistere die Massen. Thomas Mann begrüßt, was er fur vernünftig hält: Die Juden erkennen die nationalistischen Kräfte in Europa an, und da sie sich von ihnen ausgeschlossen fühlen, seien sie nun selbst bestrebt, eine nationale Heimstatt zu begründen. In der Abwanderung der Juden aus Europa sieht Thomas Mann die Lösung des Problems: Die Schrift verdient Beachtung, als Ausfluß des anständigen Strebens der jüngeren gebildeten jüdischen Generationen, das von den in der großen jüdischen Presse vertretenen, weniger anständigen Tendenzen beträchtlich abweicht. 96

91 92 93 94

Das Zwanzigste Jahrhundert (Anm. 34), 7. Jg, 1897,1. Halbband, S. 83. Ebd. Ebd., S. 187. Ebd.

95

Ebd.

96

Ebd., S. 188.

5. Erster literarischer Niederschlag: >Der Wille zum Glück< (1896)

23

Die grundlegende Orientierung der Zeitschrift, ein übersteigerter, heftiger Nationalismus, wird in diesen kurzen Beiträgen keineswegs entkräftet, aber weniger kraß, monolithisch und zugespitzt formuliert als beim Bruder Heinrich. Für jene Juden, die ihre Diaspora-Existenz beenden wollen, hegt Thomas sogar eine gewisse Sympathie. Gewiß ließe sich zu Thomas Manns Verteidigung vorbringen, er habe Zugeständnisse an die Zeitschrift machen müssen, für die er schrieb. Selbstverständlich muß auch der heftige Ausbruch ultranationalistischer Überzeugungen berücksichtigt werden, aus denen sich der Rassismus gespeist hat. Der Einfluß des Bruders darf ebensowenig unterschätzt werden wie das Unsicherheitsgefühl eines jungen, noch unbekannten, am Rande der Gesellschaft lebenden Schriftstellers. Der junge Thomas, Sproß eines überlebten patriarchalischen Patrizierbürgertums, das vom modernen, dynamischen Industriekapitalismus verdrängt wurde, hegt mehr Sympathie für die Werte der Vergangenheit als für die der Moderne. In dieser konservativen Sicht verkörpern Juden die Avantgarde, den Fortschritt, und bedrohen jene althergebrachten Werte, denen sich Thomas Mann verbunden fühlt. Im kulturellen Unbehagen, das - so immer noch Thomas Mann - Deutschland befällt, vertreten oft Juden, zumindest manche von ihnen, das Böse. Aufgrund seines stark ausgeprägten Nationalismus und Konservatismus teilt Thomas Mann hier noch die Vorurteile seiner Klasse. Sein Antisemitismus, der sich nicht aus religiösen oder rassistischen Motiven speist, tritt offen zutage, was bei dieser Zeitschrift nicht anders zu erwarten war. Aber er versucht, objektiv zu sein, zumindest meint er es zu sein, und nuanciert, wenn er gelegentlich die Verdienste einzelner Juden anerkennt. Jedoch sind sie für ihn nicht Menschen wie andere, keine Landsleute wie andere Deutsche, keine Fremden wie andere Ausländer, Inländer vielleicht, aber keine Einheimischen, vielmehr Eindringlinge, die die nationale Identität und das viel beschworene deutsche Wesen gefährden.

5.

Erster literarischer Niederschlag: Der Wille zum Glück (1896)

Das biologische und ästhetische Interesse, mit dem Thomas Mann der Rassenthematik nachgeht, droht unter dem Einfluß ultrakonservativer Positionen eine rassistische Färbung anzunehmen. Wie ist es darum in den gleichzeitig entstandenen Frühwerken bestellt? Der Gegensatz zwischen dem nördlichen und dem südlichen Menschenschlag fällt gleich in den ersten Werken auf. Figuren wie Paolo Hofmann, der Bajazzo oder Tonio Kröger sind durch ihre doppelte - halb deutsche, halb romanische Abstammung geprägt. Daher rührt die innere Spannung ihres Wesens. Der südlichen Herkunft verdanken sie jene psychische Reizbarkeit, die nervösen und empfindsamen Züge, die sie von ihrer Umgebung abheben und zu Außenseitern machen. Physisch bedeutet das romanische Erbe mitunter Verfall, der mit intellektueller Verfeinerung einhergehen kann. Die Helden des jungen Tho-

24

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

mas Mann beeindruckt zutiefst das Kräftige, Schöne und Heitere, die Festigkeit, Strenge und das väterliche Pflichtbewußtsein, während sie das mütterliche Erbe mit träumerisch-melancholischer Empfindsamkeit erleiden, ohne freilich dessen Wert zu verkennen. Es gibt keine absolute Verherrlichung der einen oder der anderen Seite, sondern Zerrissenheit oder Schwanken zwischen beiden, wie es die unwiderstehliche Anziehungskraft Italiens auf Tonio Kröger und ihr Gegenteil, seine Liebe zu Dänemark und seine aufwallende Wut gegen die Romanen mit dem »schwarzen Tierblick« (VIII, 306), bezeugen. Tonio Krögers Sehnsucht nach den Blonden, Blauäugigen ist freilich wohlwollend ironisch gefärbt. »Es ist wahr, die >blonde Bestie< spukt auch in meiner Jugenddichtung«, schreibt Thomas Mann 1930 (XI, 110), aber ohne jegliche rassistische Ideologie. Weniger nuanciert behandelt der Schriftsteller seine jüdischen Gestalten. Schon in seinen ersten Werken fallen Stereotypien auf. In dieser Hinsicht ist die Erzählung Der Wille zum Glück aus dem Jahre 1896 aufschlußreich. »Geldadel« (VIII, 46), klärt uns der Held der Erzählung Paolo Hofmann über Baron Stein, den Börsenspekulanten und Geschäftsmann, auf. Der reiche Parvenü erregt Verdacht: »Ist er Jude?« (VIII, 46) Die Antwort zeugt von dem Wunsch, den ungünstigen Eindruck zu mildern: »Er, ich glaube nicht. Seine Frau vermutlich. Ich kann übrigens nicht anders sagen, als daß es äußerst angenehme und feine Leute sind« (VIII, 46). Es wird nahegelegt, daß der Baron ein getaufter Jude ist. Eine zweideutige Anspielung auf die rituelle Beschneidung und auf die Verstümmelung des Namens ist von geschmacklos-schlüpfrigem Humor: »Es ließ sich nicht mit Bestimmtheit erkennen, ob seiner Erhebung zum Freiherrn einst ein paar Silben seines Namens zum Opfer gefallen waren [...]« (VIII, 49). Dabei wird das Strebertum eines Juden angeprangert, der um des sozialen Aufstiegs willen seine Herkunft vergessen machen will. Dies wird ihm allerdings nicht gegönnt. Zwischen der Beschneidung als Opferdienst an Gott und dem Götzendienst an Mammon, von dem symbolisch das goldene Armband des Barons zeugt, wird eine weitere böse Parallele gezogen. Die Baronin ist schnell abgefertigt, »[...] einfach eine häßliche kleine Jüdin in einem geschmacklosen grauen Kleid« (VIII, 49). »An ihren Ohren funkelten große Brillianten« (VIII, 49). Die Tochter Ada, obschon »von eleganter Gestalt«, hatte »aber für ihr Alter reife Formen [...]« (VIII, 49). Ihr Haar ist »glänzend schwarz« (VIII, 48). Das Gesicht ließ zwar mit seinen vollen Lippen, der fleischigen Nase und den mandelförmigen, schwarzen Augen, über denen sich dunkle und weiche Brauen wölbten, nicht den geringsten Zweifel aufkommen über ihre wenigstens zum Teil semitische Abstammung, war aber von ganz ungewöhnlicher Schönheit. (VIII, 48)

Ihr exotischer Reiz schützt sie keineswegs vor den kritischen Tönen des Erzählers. Die fleischige Nase, der wohlbeleibte Körper, die leicht verschleierte Stimme betonen jene Sinnlichkeit, die dem jungen Paolo Hofmann verhängnisvoll werden soll.

5. Erster literarischer Niederschlag: >Der Wille zum Glück< (1896)

25

Diese schmachtend-sinnliche Frau weckt in Paolo die Begierde, sie behext und fasziniert ihn. Ihre Lust besteht gerade darin, seine Begierde zu wecken, die bis zur schicksalhaften Befriedigung getrieben wird. Kühn wie die Romangestalt Albertine, die Barbey d'Aurevilly 97 mit Putiphars Gattin aus der biblischen Joseph-Geschichte vergleicht, verkörpert Ada die verhängnisvolle Verführerin. Doch auch sie verzehrt sich in Leidenschaft zu Paolo. In diesem magischen Kreis, in dem Liebe Liebe hervorruft, gibt es weder Opfer noch Henker. In seiner glühenden Sehnsucht wird Paolo Hofmann zum katzenartiggespannten Tier (VIII, 47) und erweckt »den Eindruck eines sprungbereiten Panthers« (VIII, 49). Nur diese Spannung hält ihn am Leben, denn eigentlich ist er schon der Krankheit und dem Tode anheim gegeben. Er trägt den Tod bereits in sich, nicht Ada tötet ihn. Sie lebt, und er stirbt, aber beide haben triumphiert, gesiegt hat die Leidenschaft. Thomas Mann lädt das jüdische Milieu also nicht so negativ auf, wie es die erste Einfuhrung der Figuren hätte vermuten lassen können. Ein elementarer Wille, der Wille zum Glück, universelles Feuer des Eros treibt die Liebenden und jauchzt über ihren Tod hinaus. Von Paolo wird gesagt, der »egoistische Instinkt des Kranken hatte die Begier nach Vereinigung mit blühender Gesundheit in ihm entfacht« (VIII, 58), und diese Sehnsucht hält ihn am Leben. Eros treibt ihn zum Leben, und das Leben scheint die tödliche Umarmung befriedigt zu genießen. Adas Antlitz am Sarg des Geliebten zeigt »den feierlichen und starken Ernst des Triumphes« (VIII, 61). Wieder denkt man an Albertine, die im Roman von Barbey d'Aurevilly im Hochzeitsbett stirbt.98 Adas Herkunft ist ganz in den Hintergrund getreten. Sie ist nur noch eine liebende, leidende Frau. Gegen Ende der Erzählung - vor der schicksalhaften Verbindung der beiden Liebenden - hat sogar der Baron an Format gewonnen. Als liebender Vater, dem alles am Glück seiner Tochter gelegen ist, willigt er in ihre Ehe mit dem jungen Maler Paolo Hofmann ein. Jetzt leuchtet auch ein, warum Ada eine jüdische Figur ist. Thomas Mann ging es darum, den Inbegriff des Weiblichen darzustellen, eine Frau, die bei der Befriedigung ihrer Sehnsucht zu allem bereit ist. Der schwüle, heiße Wind, der über Rom weht und Paolos Leidenschaft anfacht, ist von den berauschenden Düften des Orients gesättigt, wenn Ada ihrem Paolo die Zauberkünste einer orientalischen Sultanin verspricht. Der Autor greift in dieser und anderen Erzählungen aus derselben Zeit auf eine Reihe überkommener, vorgefaßter Klischees über die Juden zurück; ein ergiebiges Material, das er nach Belieben formt, ohne die Stereotypen um ihrer selbst willen böswillig auszubreiten. In Frage gestellt werden sie aber nicht. Die Juden sind klein, stämmig und untersetzt, sie haben schwarze Augen, dicke wulstige Lippen, die Hakennase hängt auf die Oberlippe herab. Sie sind oft häßlich, vor allem die Frauen in vorgerücktem Alter, wenn sie nicht mehr exotisch verführerisch und sinnlich aussehen. Zur Schau gestellte Pracht, auf97

98

Jules Barbey d'Aurevilly: Le rideau cramoisi. In: ders.: Les Diaboliques. Paris: Librairie générale française I960, S. 35. Ebd., S. 82.

26

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

fälliger Schmuck verraten ihren Hang zum Geld, zum Materiellen. Zuweilen wird die Geldbesessenheit ohne Umschweife genannt oder von einer Gestalt mit bezeichnendem, vielsagendem Namen verkörpert wie im Fall jenes jungen Mannes, der nur darauf aus ist sich zu bereichern »und der übrigens Schilling hieß« (VIII, 114). Hinter alldem schimmert das bei den Zeitgenossen Thomas Manns verbreitete Bild vom spezifisch Jüdischen durch, dem höchstens eine neureiche Minderheit entsprochen haben mag. Diese fiel aber gerade deshalb besonders auf, weil sie die Klischees bestätigte. Offensichtlich kann sich der junge Autor bis 1903 dem Reiz überlieferter Vorstellungen schwer entziehen. Sie erlauben ihm gleichsam wie im Kasperletheater, vorgefertigte, jedermann vertraute Typen hervorzuzaubern und dabei ein Repertoire judenfeindlicher Tradition zu variieren.

6.

Judengestalten

Während die Gestalten des jungen Thomas Mann im allgemeinen der Bourgeoisie angehören, der er selbst entstammt, sind ihm jüdische Kreise völlig fremd. Er kennt sie nicht. So bleiben seine jüdischen Figuren skizzenhafte Karikaturen und Zerrbilder: reiche Emporkömmlinge, Händler oder Geschäftsleute. 6.1.

Geldjuden

6.1.1. Der Kaufmann und Geschäftsmann Der »Geschäftsmann mit der Papageiennase« (VIII, 345) in der Erzählung Das Wunderkind von 1903 wird nicht ausdrücklich als Jude eingeführt. Seine Papageiennase aber stempelt ihn als solchen ab, wie auch seine Profitgier den Vorurteilen entspricht: Übrigens schneidet er nicht übel ab. Es sind reichlich fünfzig Plätze zu zwölf Mark verkauft [...]. Bringt man Saalmiete [...] in Abzug, so bleiben gut und gern tausend Mark netto. Das ist mitzunehmen. (VIII, 345)

Diese Gewinnsucht weist ihn ebenso als Juden aus wie seine Art, die Kunst auf das Niveau einer einträglichen Zerstreuung herabzusetzen: »Das bringt ein bißchen Schimmer ins Leben, ein wenig Klingklang und weiße Seide« (VIII, 345). Das Verhalten des Gemäldehändlers und Galeristen Blüthenzweig aus der Erzählung Gladius Dei ist ein Paradebeispiel. Übertrieben höflich und unterwürfig hat er nur Augen fur reiche Kunden, ob des eingestrichenen Gewinns reibt er sich die Hände. Auch er hat eine Nase, die »ein wenig platt auf der Oberlippe« hängt (VIII, 206). Er nähert »sich dabei dem Käufer in gebückter Haltung, als beröche er ihn« (VIII, 206).

6. Judengestalten

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Die Komik entzündet sich an den Gegensätzen. Blüthenzweig begegnet seinem Antipoden Hieronymus," dem jungen Mann mit Savonarola-Profil ganz wie auf einer Medaille des florentinischen Renaissance-Bildhauers Luca Della Robbia: der Kopf mit einer Kapuze bedeckt, ein fahler, blasser Teint, verhärmte, hagere Gesichtszüge, häßlich und gebrechlich, aber von unbezwingbarer Energie (VIII, 200f.). Er begehrt gegen »diese schamlosen Wiedergeburten des Heidentums« (Vin, 213) auf, jenen Ästhetizismus des zur Neige gehenden Jahrhunderts. Hieronymus ist das Sprachrohr des Erzählers. Die berauschende KunstAtmosphäre ist »weniger geistig als sinnlich« (XII, 140f.) und muß den Lutheraner Thomas Mann abstoßen. In der Gegenüberstellung wird der Christ Hieronymus als unerschrocken gezeigt, während sich der Jude schmählich benimmt. Er ist mächtig, weil er Geld hat; aber er ist schlapp und feige genug, den Eindringling Hieronymus nicht selbst abzuweisen, sondern ihn von einem Angestellten vor die Tür setzen zu lassen. Hieronymus sagt in einer apokalyptischen Vision den Untergang einer verderbten Welt voraus, deren schändlichste Nutznießer solche wie der Kaufmann Blüthenzweig sind (VIII, 215). In seiner Bekenntnisschrift Betrachtungen eines Unpolitischen rühmt sich Thomas Mann, »völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare Einsicht« (XII, 145) den kapitalistischen Bourgeois so geschildert zu haben, wie ihn Max Weber, Ernst Troeltsch und Werner Sombart analysiert haben. Tatsächlich wohnen wir im ersten Roman des Schriftstellers, Buddenbrooks, einem Duell zwischen der halbjüdischen Familie Hagenström, die in der Wirklichkeit der Lübecker Familie Fehling entspricht, 100 und den Buddenbrooks bei. Im sozialen Getriebe ist der Aufschwung der einen das Gegengewicht zum Niedergang der anderen. Die Buddenbrooks verkörpern den Bürger und sein »pietistisches Berufsethos«. 101 Der energische und sensible Konsul weiß sein Bibel-Christentum mit einem soliden Geschäftssinn zu verbinden, er betet zum Herrn und hofft, das Kapital »mit seiner gnädigen Hilfe« (I, 81) zu vermehren. Schwerwiegende Entscheidungen trifft er im Einklang mit seiner zutiefst »christlichen Überzeugung« (I, 148). Den Buddenbrooks gibt ein authentischer Glaube Sicherheit und Kraft, ein Zeugnis der Erweckungsbewegung und der Vertiefung des religiösen Denkens unter dem Einfluß des Pietismus in Norddeutschland. 102 Johann Buddenbrooks Tagebuch stellt eine Art Lebensbilanz einer unter Gottes prüfendem Blick geführten Existenz dar (I, 56ff). 99

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Noch ein Geschäftsmann erscheint, ein »Impresario, ein Herr von orientalischem Typus mit großen goldenen Knöpfen an den Manschetten« (VIII, 342). Hagenströms Eheschließung mit einer reichen Frankfurter Jüdin entspricht in der Lübecker Wirklichkeit der des Johann Christoph Fehling mit einer Tochter der alten Bankiersfamilie Oppenheim. Die Familie Fehling kauft schließlich das Haus der Familie Mann in der Mengstraße 4. Sagave, Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman (Anm. 20), S. 440. Ebd., S. 439.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

Der Profit wird als Frucht harter Arbeit gerechtfertigt. Steigende Einnahmen sind kein Selbstzweck, sondern Beweis göttlicher Erwählung und Gnade. Ein solches Ethos verbietet zweifelhafte oder unehrliche Geschäfte: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können« (I, 482). Das kollektive Familieninteresse gilt vor dem des Einzelnen. Weder Tony noch Christian können die Ehe eingehen, die sie sich wünschen. Das Kapital darf nicht vergeudet werden. Nur gemäßigter Wohlstand schickt sich. Die Familie ist wie eine große Kette, in der sich die Individuen wie einzelne Glieder aneinanderreihen. Angesichts solch solider Tradition wirken Neuankömmlinge freilich wie Arrivisten. Gegen die Hagenströms spricht, daß sie sich gerade erst in Lübeck niedergelassen haben (I, 62). Vor allem aber hat Hinrich Hagenström eine Frankfurterin »mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillianten der Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß« (I, 62),103 geheiratet. Die flüchtig angedeutete Mesalliance ist allein schon Grund genug für die Antipathie, die den Neuankömmlingen gegenüber gehegt wird. Die jüdische Herkunft wird wiederum nur ganz knapp angedeutet. Hagenström ist »ein imposanter Börsentypus [...]. Seine Nase lag platter als jemals auf der Oberlippe und atmete mühsam in den Schnurrbart hinein« (1,601). Die Tochter, nicht gerade schön, klein, »mit etwas zu hohen Schultern und großen, blanken, schwarzen Augen« (1,62), leicht »feucht vor Vergnügen« (1,63), trägt »wie ihre Mutter bereits Brillianten in den Ohren« (1,132). Der ältere Sohn ist »blond, aber seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe« (1,64). Er hatte »die Nase seiner Mutter« (I, 348). Der jüngere Bruder Moritz ist von schwacher Konstitution; er hat schlechte Zähne, eine »flache Brust und gelblichen Teint« (1,348). Was den Vater anbetrifft, so ist er »ein Fuchs, dieser Hinrich Hagenström« (1,63). Die unhinterfragt tradierten Vorurteile werden auch den Buddenbrooks in den Mund gelegt, wenn von jüdischen »Halsabschneider[n]« (I, 454) geredet wird und davon, daß sich ein Großteil hessischer Bauern »in den Händen von Juden« (1,454) befinde. Die Feindseligkeit spitzt sich durch den Kontrast zwischen der ethischen Ordnung und Strenge der einen Familie und der Prinzipienlosigkeit der anderen weiter zu. Die Hagenströms verkörpern die pure materielle Gewinnsucht eines hedonistischen Kapitalismus. Es gibt keinen Bezug mehr zur göttlichen Ordnung, weder im Ziel, noch in den Methoden. Alle Mittel sind recht. Die Gestalt des Hagenström kennt keine moralischen 103

Thomas Mann sah ursprünglich den jüdischen Namen Kohn für die Gestalt vor, die schließlich Hinrich Hagenström heißt, wie Vorarbeiten, Notizen und Entwürfe zur Arbeit an den »Buddenbrooks« belegen. Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 1. Teil. 1875-1918. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1975, S. 296f. Für den Namen Hagenström hat Thomas Mann auf den Namen des jüdischen Bankiers Louis Hagen, ursprünglich Lévy, (1855-1932) zurückgreifen können. Der Name Semlinger in: Gerhard Kessler: Die Familiennamen der Juden in Deutschland. Leipzig 1935, S. 22f. und Konrad Krause: Die Jüdische Namenwelt. Essen: Essener Verlagsanstalt 1943, S. 31.

6. Judengestalten

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Sorgen. In den Augen der alteingesessenen Familien ist dieser skrupellose, dynamische Geschäftsmann ein »Filou« (1,457). 6.1.2. Der Kapitalist Der Wettbewerb zwischen beiden Familien ist völlig ungleich. Hagenström scheut vor nichts zurück und ist folglich immer oben auf. Sein Unternehmen blüht, während das der Buddenbrooks sich mit kleinen Geschäftsabschlüssen begnügen muß. Hagenström schaltet seine Konkurrenz aus. Im wirtschaftlichen Überlebenskampf erweist er sich dank seines ungebremsten, von religiösen Hemmungen freien Managements als moderner Unternehmertypus neuen Stils. Sein Geschäftsgebaren beschleunigt den Verfall der tradierten ökonomischen Sitten. Sogar die Buddenbrooks lassen sich zu einem »Streich« (I, 474) hinreißen, der allerdings scheitert. Auf diese Art und Weise wird vom Erzähler suggeriert, die Hagenströms, deren jüdische Herkunft somit um so mehr zur Geltung kommt, seien die Nutznießer einer Zeit, die ihre Werte aufgibt. Das Prestige der alteingesessenen Familien hat angesichts des modernen Kapitalismus, der von jüdischen Zügen nicht frei ist, kaum noch Bedeutung. Auch der Firmenname Strunck & Hagenström 104 ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. In einem Moment des relativen Gleichgewichts zwischen den Buddenbrooks und den Hagenströms werden die Verdienste der Hagenströms aufgeführt: Kein Zweifel, Hermann Hagenström hatte Anhänger und Bewunderer. Sein Eifer in öffentlichen Angelegenheiten, die frappierende Schnelligkeit, mit der die Firma >Strunck & Hagenström< emporgeblüht war und sich entfaltet hatte, des Konsuls lu104

Bei dem Namen Hagenström muß an Hagen von Tronje aus dem Nibelungenlied, der den germanischen Recken Siegfried umbringt, gedacht werden. - Es ist ein Topos der antisemitischen Rhetorik, den Juden als Judas und Verräter abzustempeln. - Thiedes Interpretation des Namens Hagenström geht jedoch entschieden zu weit, wenn sie aus Hagenström den »Wagnerschen Hagen«, den »nach dem Golde gierenden Alberich«, den im »Gegensatz zum Idealbild des Germanen« stehenden Höllenknecht macht: Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung. Berlin: Metropol 1998 (Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum fur Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin; 23), S. 86f. Die Hagenströms werden keineswegs durchgängig schlecht und böse dargestellt, keiner der Hagenströms ist ein Schwarz-Alberich. Außerdem nuanciert der Erzähler in verschiedenster Hinsicht (Perspektivenwechsel, abwechselnde Urteile mehrerer Figuren, humorige Distanzierung) und hütet sich vor simpler Schwarz-Weiß-Malerei, wenngleich die Sympathie des Lesers den Buddenbrooks gehören soll. Was die Repräsentanz der Kontrahenten im Roman anbelangt, so ist der Verfall einer Familie (der Buddenbrooks) nicht der Verfall Deutschlands und der Erfolg einer jüdischen Familie (der Hagenströms) keineswegs Judäas Sieg über Germania. Nicht das Judentum siegt über Deutschland (Thiede, S. 100), sondern die Hagenströms siegen als Verkörperung der Moderne, der Avantgarde an der Zeitenwende.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

xuriöse Lebensführung, das Haus, das er führte, und die Gänseleberpastete, die er frühstückte, verfehlten nicht, ihren Eindruck zu machen. (I, 409)

Und er war unleugbar eine merkwürdige und respektable Erscheinung in der Stadt. Das Neuartige und damit Reizvolle seiner Persönlichkeit, das, was ihn auszeichnete und ihm in den Augen vieler eine führende Stellung gab, war der liberale und tolerante Grundzug seines Wesens. Die legere und großzügige Art, mit der er Geld verdiente und verausgabte, war etwas anderes als die zähe, geduldige und von streng überlieferten Prinzipien geleitete Arbeit seiner kaufmännischen Mitbürger. Dieser Mann stand frei von den hemmenden Fesseln der Tradition und der Pietät auf seinen eigenen Füßen, und alles Altmodische war ihm fremd. (1,409f.)

Reichtum, Behaglichkeit und Modernität kennzeichnen seinen Lebensstil; natürlich hat er als erster Gasbeleuchtung: Gewiß, wenn Konsul irgendeiner Tradition lebte, so war es die von seinem Vater, dem alten Hinrich Hagenström, übernommene unbeschränkte, fortgeschrittene, duldsame und vorurteilsfreie Denkungsart, und hierauf gründete sich die Bewunderung, die er genoß. (1,410)

Dieses Urteil fallen die Buddenbrooks. Der Hedonismus des Lebemanns Hagenström steht in beispiellosem Kontrast zur nüchtern-protestantischen Strenge des Patriziers Buddenbrook. Daß allein schon der Verzehr der Gänseleberpastete Eindruck schindet, zeugt von einem oberflächlichen, raschen Erfolg in einer sensationslüsternen Öffentlichkeit. Etwas ganz anderes vertritt Thomas Buddenbrook: »Er war nicht nur er selbst; man ehrte in ihm noch die unvergessenen Persönlichkeiten seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters [...]«, Thomas »war der Träger eines hundertjährigen Bürgerruhmes« (1,410). Seine Kultur, seine Eleganz flößen Respekt ein. Er wird zum Senator gewählt und siegt über seinen Konkurrenten. Dieser Höhepunkt ist zugleich der Anfang vom Ende: »Ich weiß, daß oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glücks und Aufstieges erst recht erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht«, sagt Thomas zu Tony (1,431). Thomas stützt sich aufbröckelnde Traditionen. Hagenström hat den Wind in den Segeln. Hinter der modernen Wirtschaftsform nimmt Thomas die Negierung all dessen wahr, was der Tätigkeit seiner Vorfahren Sinn gab. Der leitenden religiösen Ethik beraubt, die einst die Familie trug, ist Thomas nicht weit davon entfernt, Christian innerlich recht zugeben, fur den »doch jeder Geschäftsmann ein Betrüger« (1,473) ist. Thomas ist unfähig, sich an die Niedertracht und an die Gewinnsucht des modernen Kapitalismus zu gewöhnen und leidet zugleich daran, nicht mehr so erfolgreich wie seine Ahnen zu sein. Unter solchen Bedingungen herrscht ein ständiger Kampf. Hinrich Hagenström grüßt Konsul Johann Buddenbrook nicht (1,186). Die Senatorenwahl wird zum Duell. Hagenström nimmt jede Gelegenheit wahr, um den Ruf seiner Rivalen zu schädigen: eine Ungeschicklichkeit Christians oder eine von Tonys

6. Judengestalten

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Schwiegersohn begangene Unterschlagung, wegen der die Buddenbrooks die zähe, verbissene Hartnäckigkeit des Staatsanwaltes Moritz Hagenström über sich ergehen lassen müssen (I, 550). Die Hagenströms werden von den Buddenbrooks als »Übelwollende« (1,314) empfunden. Der Groll setzt sich bei den Kindern fort. Der junge Hermann Hagenström, bereits sehr sinnlich und skrupellos, will Tony einen Kuß abkaufen (I, 64). Seine Schwester Julchen und Tony Buddenbrook hassen einander. Die tölpelhaften Rohlinge Hagenström hänseln den sensiblen, zarten Hanno Buddenbrook und zwingen ihn, schmutziges Wasser zu trinken (I, 625). Die allerletzte Demütigung ist der Verkauf des Hauses, das die Buddenbrooks den Hagenströms überlassen müssen (I, 600). Hermann Hagenström wird die Inschrift an der Fassade des Patrizierhauses »dominus providebit« beibehalten, »obgleich man billig sein und ihm zugestehen muß, daß nicht der Herr, sondern er ganz allein der Firma >Strunk & Hagenström< zu einem so erfreulichen Aufschwung verholfen hat« (I, 600), bemerkt mit bitterem Humor Thomas Buddenbrook. Auch die ergreifende Szene, in der die verarmte, stolze Tony verzweifelt weint, klagt die Grausamkeit der Hagenströms an. Der Leser des Romans ist geneigt, Tonys Empörung über den unaufhaltsamen Aufstieg dieser Halunken zu teilen. Aber der Autor ist nuancierter als Tony. Zweifelsohne spiegelt Thomas Buddenbrooks weitsichtiges Urteil die Gedanken des Autors am getreuesten wider. Thomas Buddenbrook weiß, daß Hagenströms aggressiver Geschäftsstil keineswegs einem persönlichen Haß entspringt, sondern der Logik einer Wirtschaft entspricht, die sich von jahrhundertealten Fesseln befreit. Thomas Buddenbrook kann sich aber unmöglich der Hemmungslosigkeit und Unverschämtheit der modernen Wirtschaftsführung anpassen. Er muß sich eingestehen, daß ihn ein »tüchtigerer Kaufmann und ein besserer Politiker« überflügelt hat (I, 599). In einer Welt, in der kein anderer Wert mehr als das Geld zählt, triumphiert der Gewissenlose. Thomas Mann zeichnet die Hagenströms nicht so bissig wie sein Bruder Heinrich die Gestalt des Türkheimer aus dem zur selben Zeit entstandenen Roman Im Schlaraffenland. Türkheimer verkörpert einen reichen, furchterregenden, umschmeichelten, verächtlichen Berliner Juden. Die antisemitische Färbung ist greller, dicker aufgetragen als bei Hagenström, der es durch seinen bemerkenswerten ökonomischen Aufstieg zu einer geachteten, hochangesehenen Position in der Stadt bringt. Allerdings gehört der reiche, unsympathische jüdische Emporkömmling auch zum Figurenarsenal des jungen Thomas Mann, sei es auch nur eine Nebengestalt wie der »Sohn des Bankdirektors« (VIII, 278) Jimmerthal, mit »seinen krummen Beinen und Schlitzaugen [...]« (VIII, 278) in der Erzählung Tonio Kröger. Durch Wiederholung läßt sich bei der Gestalt des reichen Juden schließlich von einem Motivgeflecht sprechen. Der Patrizier und Firmenchef Buddenbrook entspricht Max Webers Analysen,105 während die Darstellung der modernen, rücksichtslos profitgierigeren Kapi105

Sagave, Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman (Anm. 20), S. 440.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

talisten die pseudosoziologischen Behauptungen Werner Sombarts literarisch vorwegnimmt, was sich Thomas Mann noch zugute halten wird (XII, 145). Es ist hier nicht der Ort zu betonen, wie gefährlich Sombarts vermeintlich wissenschaftliche Behauptungen sind, die ein Kompendium dümmster und schärfster Vorurteile darstellen. Für ihn stimmen »[...] die Grundideen des Kapitalismus und die Grundideen des jüdischen Wesens in wahrhaft überraschendem Umfange« überein,106 sind die Fundamente des Kapitalismus »in den Grundzügen des jüdischen Wesens verankert«.107 »Kapitalismus, Liberalismus, Judaismus sind eng miteinander verschwistert [,..].« 108 »Das Geld ist das absolute >Mitteljüdisch< noch >christlich< zu bedienen, obgleich diese Ausdrücke fur mich synonym sind und von mir nicht gebraucht werden, um einen Glauben, sondern um ein Naturell zu bezeichnen. >Juden< und >Christen< sind für mich ganz sinnverwandte Worte im Gegensatz zu >Hellenen Sklaven-Aufstand in der MoralErotikerin< vorstellen zu lassen pflegte« und deren Blick sich jedes Mal verschleiert, wenn das Wort »Keuschheit« (VIII, 369) fallt. Der Jünger, der die »Proklamationen« vorliest, stellt »ein unheimliches Gemisch von Brutalität und Schwäche dar« (VIII, 368). Wie eine Illustration zu Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral und der Religion nimmt sich diese lächerliche Sitzung aus. Die Erzählung entlarvt die nihilistische und tyrannische Wollust des asketischen Propheten reinen Geistes und seine gefahrliche Macht über Außenseiter, vom Leben Ausgeschlossene. Die Entzifferung der leisen Anspielungen auf Heine und Nietzsche, deren Texte beim Lesen im Hintergrund unweigerlich mitschwingen, steigert die versteckte Ironie. Außerdem vertiefen die Spiegelungen und das Spiel mit Heines und Nietzsches Vorlagen die reflexive Dimension der Erzählung, im übrigen ein frühes Beispiel sehr moderner Montage- und Collagetechnik. Asthetizismus

und

Barbarei

Der Anfang der Erzählung ist aufschlußreich: Seltsame Orte gibt es, seltsame Hirne, seltsame Religionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden 127 128 129

130

Nietzsche, Werke in drei Bänden (Anm. 25), Bd II, S. 614. Ebd., S. 653 und 780. Ebd., S. 781: »[...] das Volk hat gesiegt.« Und: »Es ist der Orient, der tiefe Orient, [...] der [...] Rache nahm [...].« Ebd., S. 610. Vgl. Heine, Sämtliche Schriften (Anm. 122), Bd 5, S. 363. Heine, Sämtliche Schriften (Anm. 122), Bd 5, S. 363.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

und die Gendarmen zu zweien gehen, muß man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weiter geht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten [...] Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts. [...] Hier ist die Luft so dünn und keusch, daß die Miasmen des Lebens nicht mehr gedeihen. (VIII, 362)

Solche Höhen 131 sind der Hort eines übersteigerten Willens zur Macht. Das Raubtierprofil des sogenannten Propheten 132 kennzeichnet einen Menschentypus, den Nazarener. Zwar verschmelzen in diesem Propheten die erstaunlichsten Einflüsse: Jesus, Buddha, Alexander der Große, Napoleon, Savonarola, Luther, Moltke, Robespierre (VIII, 368f.), im Grunde aber wird er - wie mit Nietzsches und Heines Augen - als der Schwächling entlarvt, der er ist: sadistisch-grausam, wollüstig-nihilistisch. Seine »Proklamationen«, die verlesen werden, sind ein »Wirbel von Unlogik« (VIII, 369), das Werk eines blutrünstigen Literaten: »Christus imperator maximus war sein Name« (VIII, 368). Er schwingt sein Schwert mit sadistisch zerstörerischer Wollust und fordert absoluten Gehorsam. Dieser nihilistische Cäsar, mystischer Terrorist und Verkünder einer blutigen Apokalypse ist eine weitere Abwandlung des Priesters aus Nietzsches Genalogie der Moral, voller Rachlust und Haß auf das Leben. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wimmelt es von Pseudokünstlern und Ideologen aller Couleurs. Thomas Mann spürt in ihnen die von Friedrich Nietzsche an den Pranger gestellten »Hinterweltler«133 auf. Der Prophet der Novelle steht stellvertretend für die bedrohlichen Rattenfänger, denen sich v.a. schwache Menschen ausliefern. Daniel, Hieronymus und Savonarola Zwischen den Erzählungen Beim Propheten, Gladius dei und dem Novellendrama Fiorenza bestehen mannigfaltige Analogien. Jedesmal prangert Thomas Mann den Ästhetizismus an. In Fiorenza (XII, 141) herrscht dasselbe Künstlergewimmel wie in München, dieselbe karnevaleske und turbulente Ausgelassenheit, meint Thomas Mann, die berauschende Atmosphäre einer eher sinnlichen denn vergeistigten Kunst (XII, 141). Hieronymus in Gladius dei wie Savonarola in Fiorenza verurteilen die »schamlosen Wiedergeburten des Heidentums« (VIII, 213). Auch in der Erzählung Beim Propheten und im späteren Roman Doktor Faustus wird »München mit seiner stehengebliebenen Wagnerei, mit seinen esoterischen Koterien, die hinter dem Siegestor ästhetische 131

132

133

Das ist die Landschaft des Asketen Nietzsche. »Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt.« Nietzsche, Werke in drei Bänden (Anm. 25), Bd II, S. 895. Adlerprofil und Papageiennase kennzeichnen jüdische Geschäftsleute, so auch in Thomas Manns früher Erzählung »Das Wunderkind« (VIII, 345) und in »Wälsungenblut« die Gestalt der Märit »mit Hakennase, grauen Raubvogelaugen« (VIII, 381). Nietzsche, Werke in drei Bänden. Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (Anm. 25), Bd II, S. 297.

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6. Judengestalten

Abendfeiern zelebrierten« (VI, 270), abgekanzelt. Die Künstlerstadt frönt dem Vergnügen und gibt sich der Sinnenlust hin, jederzeit bereit, dem anderen Extrem zu verfallen, sobald der Reiz des Neuen wirkt. Florenz läßt sich vom Mönch des Klosters San Marco unterjochen wie die kleine Welt Schwabings durch die »Propheten« vom Schlage Daniels. Dennoch geht die Analogie nicht ganz auf: Savonarola und Daniel sind zwar demselben Menschentypus nachempfunden, Girolamo Savonarola aber hat Format. Dieser »fürchterliche Christ«, wie ihn Lorenzo dei Medici, sein Gegenspieler, nennt, ist eine ebenso schreckliche wie anziehende Gestalt. Der norditalienische Dominikanerprediger aus dem 15. Jahrhundert, einer der leidenschaftlichsten und radikalsten Christen aller Zeiten, interessierte den Autor. »Sein Schicksal war für mich das eigentlich begeisternde Motiv« (XI, 561), bekennt Thomas Mann in einem Brief von 1908 an eine katholische Zeitung. Der Schriftsteller erklärt, den Bußprediger als Künstler und als »Heiligen« (XI, 565) angelegt zu haben und trotz der angestrebten »Objektivität« eine Vorliebe für die Gestalt Savonarolas zu hegen (XII, 93). Florenz mit seiner tausendköpfigen Masse »beugt sich unter Bruder Girolamo's fürchterlichen Verkündigungen« (VIII, 973). »Was heißt euch der Geist?« fragt Lorenzo den asketischen Mönch Savonarola. Die Antwort lautet: »Die Kraft, Lorenzo Magnifico, die Reinheit und Frieden will« (VIII, 1058). Der fanatische Mönch will alle Macht an sich reißen, der Stadt die Lebensflügel brechen (VIII, 1066). In Savonarola erkennt Lorenzo »den großen Widersacher der Schönheit, den asketisch-pessimistischen Kritiker des Lebens, [...] den düster faszinierenden Propheten des reinen Geistes« (XI, 565), der das Nichts will: »Du stirbst, und ich bin aufrecht« (VIII, 1066), sagt er mit grausamer Wollust. Zweifellos kommt in dieser Gestalt von verhängnisvoller Größe die ästhetische Neugier des Lutheraners Thomas Mann für das Phänomen der religiösen, intolerant-fanatischen Mystik des Katholizismus zum Ausdruck. Judentum und

Katholizismus

Der Figurenvergleich von Savonarola und Daniel aus den beiden Erzählungen erlaubt, den Abstand zu verdeutlichen, der beide voneinander trennt. Letzterem gehört keinesfalls die Sympathie des Autors. Die alttestamentarische Staffage und das prophetenhafite Gehabe steigern den entlarvenden Spott. Hinter dem sektiererisch-religiösen Gebaren stecken die aufgeblasene Leere eines Wortgauklers, Gebärden um der Gebärden willen, Ästhetizismus, und hinter dem mystischen Fanatismus zeigt Thomas Mann die nihilistische Wollust, wie sie schon Friedrich Nietzsche angeklagt hat.134

134

Ebd., S. 616f.: »Für das Nichts Gott opfern - dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben heraufkommt, aufgespart: wir alle kennen schon etwas davon.«

40

Erster Teil: Die

Ausgangssituation

Thomas Mann beleuchtet den religiösen Eklektizismus und unterstreicht dabei die katholischen Komponenten, darüber hinaus auch ihre archaischen, hebräischen Quellen. Judentum und Katholizismus überlagern sich in der Erzählung. Hebräischer Messianismus und katholischer Fanatismus verschmelzen, um mit Heinrich Heine zu sprechen, zu einem »jüdischen Katholizismus« 135 kriegerisch fanatischer Prägung.

7.

Wälsungenblut (1906)

7.1.

Die Familie Pringsheim

In München hat der bereits bekannte Autor der Buddenbrooks nicht nur die literarische Bohème Schwabings in der Nähe. Auch die hochherrschaftlichen Salons der mondänen Gesellschaft öffnen sich ihm, namentlich der der Familie Pringsheim, ein intellektuelles und künstlerisches Zentrum der bayrischen Hauptstadt. In dem fürstlichen Anwesen im Renaissance-Stil, in einem der schönsten Viertel Münchens gelegen, findet Thomas Mann etwas von der ihm vertrauten Großbürgerlichkeit, allerdings in künstlerischer Hinsicht noch gesteigert (XI, 117): Das Palais in der Arcisstraße wirkte wie ein Museum, war aber mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Die Pringsheims waren unter den ersten, die sich in München ein Telephon und elektrisches Licht zulegten. 136

Dieses Märchenschloß bewohnt Katia, Tochter des Mathematikprofessors Alfred Pringsheim,137 »jüdischer Herkunft, Erbe eines großen Vermögens, das während der sogenannten >Gründeijahre< von seinem Vater im Schlesischen erworben worden war«. 138 Seine Gattin Hedwig ist die Tochter von Ernst

135 136 137

138

Heine, Sämtliche Schriften (Anm. 122), Bd 5, S. 584. Klaus Mann, Der Wendepunkt (Anm. 1), S. 14. Alfred Pringsheim, am 2.9.1850 im schlesischen Ohlau geboren, war ein angesehener Gelehrter an der Münchener Universität, begeisterter Bewunderer Richard Wagners und Kunstfreund. Er ehelichte die Schauspielerin Hedwig Dohm, ebenfalls aus einer jüdischen Familie Schlesiens. Der Vater, Rudolf Pringsheim (18121901), ein oberschlesischer Eisenbahn-Magnat, hatte seinerseits Paula Deutschmann aus dem jüdischen Bürgertum geheiratet. Mendelssohn, Der Zauberer (Anm. 103), S. 542-545. - Katia schreibt von der Pracht der Villa in der Arcisstraße, der Musik- und Kunstatmosphäre. Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Hg. von Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. l l f . Klaus Mann, Der Wendepunkt (Anm. 1), S. 13.

7. > Wälsungenblut< (1906)

41

Dohm, 139 einem Mitbegründer der Berliner satirischen Wochenzeitschrift Kladderadatsch, und dessen Frau Hedwig Dohm, Frauenrechtlerin und bekannte Schriftstellerin um die Jahrhundertwende. Die sarkastischen Geistesblitze und Bonmots des Hausherrn, der Widerspruchsgeist, die angriffslustige Ironie Katias, die sich lange »spöttisch kühl gegenüber den Werbungen des jungen Dichters« 140 verhielt, die ganze Atmosphäre dieses Palastes »bezauberte« Thomas Mann (XI, 117).

7.2.

Z w i s c h e n Realität und Fiktion

Bereits die Erzählung Beim Propheten enthielt eine Huldigung an Hedwig Pringsheim, »eine verführerische Mischung aus venezianischer Schönheit à la Tizian und problematischer grande dame«.H1 Wälsungenblut scheint ganz und gar die Familie Pringsheim zu betreffen. Die Familie Aarenhold aus der Erzählung Wälsungenblut weist offensichtliche Ähnlichkeiten mit Katias Familie auf, die so weitgehen, daß die Erzählung einen Skandal auslöste und - auf das dringliche Bitten des Herrn Pringsheim, des künftigen Schwiegervaters von Thomas Mann - von der Neuen Rundschau zurückgezogen wurde, wo die Erzählung 1906 hätte erscheinen sollen. 142 Die Lage Thomas Manns entsprach in etwa der des Herrn Beckerath in der Erzählung, der Gestalt des Verlobten von Sieglind. Thomas Manns Briefe von 1904 zeugen von seiner langen Geduld: »Ich habe viel zu leiden, genieße aber auch Viertelstunden eines unerhörten Glücks«, schreibt Thomas Mann an seinen Freund Martens. 143 Klaus Mann spricht spä139

140 141 142

143

Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren (Anm. 137), S. 1 lf. Der Breslauer Kaufmann David Marcus Lévy heiratete eine geb. Lichtenstädt, ebenfalls jüdischen Glaubens. 1827 konvertierte die Familie zum Protestantismus und nahm den Namen Dohm (als Würdigung des Christian Wilhelm Dohm [1751-1820]) an, eines hohen preußischen Beamten, der 1781 die Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« veröffentlicht hatte. Der Sohn von David Marcus Lévy, seit 1827 Wilhelm Ernst Dohm, arbeitete ab 1848 an der satirischen Wochenzeitung »Kladderadatsch« (1848-1944) mit, wo er bis zu seinem Tode 1883 Chefredakteur war. Ernst Dohm hatte 1852 in Berlin Marianne Adelaide Hedwig Schleh (aus der jüdischen Familie Schlesinger) geheiratet. Die Schlesingers waren ihrerseits 1817 zum protestantischen Glauben übergetreten. Hedwig Dohm war eine überzeugte Frauenrechtlerin und wurde Schriftstellerin. Ihre älteste Tochter, ebenfalls Hedwig genannt, ist die Gattin von Alfred Pringsheim und Mutter von Katia Mann. - Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren (Anm. 137), S. 13f. und Mendelssohn, Der Zauberer (Anm. 103), S. 548-551. Klaus Mann, Der Wendepunkt (Anm. 1), S. 15. Ebd., S. 14 und Thomas Mann (VIII, 367). »Mein Vater war ganz außer sich und sagte: Die Geschichte kann überhaupt nicht erscheinen. Das ist ja ganz skandalös!« Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren (Anm. 137), S. 68. Brief vom 9.6.1904, Briefe I, S. 46ff.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

ter von scharfsinnigen Schmeicheleien und geduldiger Zärtlichkeit, mit der sein Vater den Widerstand von Professor Pringsheim gebrochen habe: Es war keine leichte Aufgabe, das gallige Temperament des Alten wenigstens halbwegs zu besänftigen und ihn dahin zu bringen, daß er die Visiten des Freiers mit einer Art von grollender Resignation duldete. 144

Die Erzählung fußt auf Erlebtem: Die Bibliothek, kostbare Gegenstände, verschwenderische Pracht, Sticheleien und Spott, der den Außenstehenden unverständliche Familienjargon, die Zwillinge, die sich bei der Hand halten, all das ist der Pringsheimschen Wirklichkeit entnommen. Was gestaltet nun Thomas Mann? 145 7.3.

Das Verhängnis der Herkunft

Die Atmosphäre der Münchener Arcisstraße ist in eine großbürgerliche Villa des mondänen Berliner Tiergarten-Viertels verlegt.146 Personal, Billardraum, Wintergarten, Bibliothek, Salons, exotische Düfte verraten neureichen Lebensstil. Der jüdische Hausherr sammelt alte Bücher, »Ausgaben erster Hand in allen Sprachen« (VIII, 380). Er ist weder Akademiker noch Wissenschaftler; er kommt aus dem »Osten« (VIII, 385), hat eine reiche Kaufmannstochter geheiratet und »vermittelst einer kühnen und klugen Unternehmung, großartiger Machenschaften, [...] einen gewaltigen und unversieglichen Goldstrom in seine Kasse gelenkt« (VIII, 385). Auf wundersame Weise binnen kurzer Zeit reich geworden, kommt er sich mitunter wie »ein verwunschener Prinz« (VIII, 384) vor. Stolz auf den zurückgelegten Weg, genießt er nun »die Süßigkeiten des Wohlstandes« (VIII, 384) und steht den Romangestalten Hagenström und Türkheimer näher als dem Professor Pringsheim aus der Wirklichkeit. 7.3.1. Der Vater: Aufstieg des Parias Bei der Figur des alten Aarenhold zeigt Thomas Mann ein Einfühlungsvermögen, das seiner jüdischen Bilderwelt neue Dimensionen eröffnet. Aarenhold vergißt nicht, daß er ein arrivierter Jude ist. Er ist stolz darauf, und zugleich schämt er sich dessen: 144 145

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Klaus Mann, Der Wendepunkt (Anm. 1), S. 15. »Erstens war das Milieu total verändert [...]. Zweitens scheint mir die autobiographische Deutung schon rein psychologisch vollkommen blödsinnig.« Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren (Anm. 137), S. 68. »Tiergartennovelle« in: Thomas Mann / Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 1975 (Fischer-Tb.; 1610), S. 38. Thomas Mann mag auch an die Berliner Villa in der Tiergartenstraße 19 gedacht haben, in der der Bankier Rosenberg, der Schwiegersohn von Katias Großmutter, lebte.

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Er war ein Wurm gewesen, eine Laus, jawohl; aber eben die Fähigkeit, dies so inbrünstig und selbstverachtungsvoll zu empfinden, war zur Ursache jenes zähen und niemals genügsamen Strebens geworden, das ihn groß gemacht hatte. (VIII, 385)

Von Geburt ein Paria, hat er sich so verachtet und verachtenswert gefühlt, daß er diesen Makel um jeden Preis überwinden mußte. Aus dem Frosch wurde der Märchenprinz, wäre da nicht die Gesellschaft, die ihn ständig an seine Ursprünge erinnert. Ob die Schande der jüdischen Herkunft im Sozialen, im Religiösen oder im Rassischen liegt, ist unklar und wird weder von Aarenhold noch vom Erzähler formuliert. Es ist ein letztlich unentwirrbarer Komplex, an dem Aarenhold leidet und der ihn seinen Kindern gegenüber Schuldgefühle empfinden läßt, »für seine Herkunft, für das Blut, das in ihm flöß und das sie von ihm empfangen« (VIII, 384). Er schämt sich der Methoden, die er hat anwenden müssen, um dem Elend zu entkommen und seiner Geschwätzigkeit, die nach dem Urteil der eigenen Kinder den guten Geschmack verletzt. Seine Liebhaberei für alte Bücher verrät den Wunsch, sich über seine Herkunft zu erheben. Dieses Steckenpferd gönnen ihm seine Kinder nicht. Es steht ihm in ihren Augen genausowenig zu wie die Pflege, die er der eigenen Person angedeihen läßt. Auch die Eheschließung seiner Tochter mit einem Christen entspringt dem Assimilationsdrang, dem Ehrgeiz, in der Gesellschaft aufzusteigen. Für die Hochzeit seiner Tochter Sieglind mit dem hohen Beamten Beckerath hätte er aus ästhetischen Gründen eine katholische Trauung bevorzugt, der Zeremonie wegen, - ein Beweis für seine Entfernung von jeglicher religiösen Bindung. »Eine protestantische Hochzeit sei ohne Schönheitswert« (VIII, 385), gibt der Erzähler Vater Aarenholds Urteil wieder. In den Augen der anderen bleibt er freilich ein Parvenü, als einen solchen sehen ihn sogar die eigenen Kinder: »Er wußte es und gab ihnen gewissermaßen recht [...]« (VIII, 384f.). Seine masochistische Selbstverachtung und Scham sind unauslöschlich, Erfolg ist der einzige Ausweg: »Ich habe die Welt zwingen müssen, mich anzuerkennen« (VIII, 388). Die Schande kann nur durch einen Sieg auf der ganzen Linie wettgemacht werden. Die Wette muß aufgehen, der Paria muß sich zum Herrn aufschwingen. Haß, Gier, Rache verschmelzen zu einem ungeheuren Willen, zu Machtgelüsten und zu einem Ehrgeiz, der, wenn er ausbricht, Vater und Kinder vereint. Aarenholds ganzes Leben wird vom Fluch der Abstammung bestimmt, der ihm außergewöhnliche Leistungen abgenötigt, seinen Ehrgeiz angestachelt hat und ihn jeden Augenblick genießen läßt: »Sehen Sie [...] Ich bin nun seit manchem Jahr in der Lage, mir einige Annehmlichkeiten des Lebens zu gönnen«, sagt Aarenhold zu seinem künftigen Schwiegersohn Beckerath, und doch versichere ich Sie, daß ich noch heute jeden Morgen, den Gott werden läßt, beim Erwachen ein wenig Herzklopfen habe, weil meine Bettdecke aus Seide ist. (VIII, 384)

Entschlossen und scharfsinnig erklärt er: »Wenn Sie Ihr Leben genießen wollen, wahrhaft genießen, bewußt, künstlerisch, so trachten Sie, sich niemals an

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die neuen Umstände zu gewöhnen« (VIII, 384). Solch eine materialistische, epikureische Weltanschauung ist die logische Folge eines fleißig und mühsam geschmiedeten Glücks. Die Achtung des Erzählers vor solcher Strenge, Selbstdisziplin und steter Selbstüberwindung ist unüberhörbar. Aarenhold gehört zu jenen »schwachen« Helden, denen Thomas Manns volle Sympathie gilt. Auch der Leser verweigert sie dem alten Aarenhold nicht. Auf seine Art ist dieser Familienvater ein Musterbeispiel der Selbstüberwindung. Er erhebt sich über sein Los und wendet das anfängliche Verhängnis in Seligkeit. Ein solches Lebensmuster nietzschescher Prägung spricht Thomas Manns protestantisches Ethos an. 7.3.2. Die Familie Aarenhold Was für den Vater gilt, trifft erst recht für die anderen Mitglieder der Familie zu. Dem Schicksalsfluch der Atriden ähnlich lastet die Herkunft wie ein Fatum auf allen. Die Atmosphäre im Hause Aarenhold hat - anfangs kaum spürbar - etwas Gezwungenes, Gekünsteltes, Neureiches: allzu dienstfertige Domestiken und Pagen in Livree, ein streng geregelter Alltag, das Ritual der Gongschläge vor jeder Mahlzeit, ein bißchen zu laut, »wild, kannibalisch« (Vili, 380).147 Auch die Taktlosigkeit des Hausherrn und seiner Kinder dem mit Verspätung eintreffenden Bekkerath gegenüber spricht Bände. Der peinlichst eingehaltene Tagesablauf verrät die Angst vor Langweile,148 der übertriebene Luxus den schlechten Geschmack des Parvenüs. Es ist bei allem ein bißchen des Guten zu viel, eben nicht der gehobene, edel-vornehme, zwanglose Pringsheimsche Lebensstil.149 Mit der schönen Hedwig Pringsheim hat Frau Aarenhold, eine Kaufmannstochter, nichts gemein. Sie sieht eher der Baronin von Stein aus der Erzählung von 1896 Der Wille zum Glück ähnlich: »Sie war klein, häßlich, früh gealtert und wie unter einer fremden, heißeren Sonne verdorrt« (VIII, 381) und trägt »eine Kette von Brillianten [...] auf ihrer eingefallenen Brust« (VIII, 381). Eine lächerliche Hochfrisur wird von einer auffälligen Brilliant-Agraffe samt Federbüschel gehalten. Die Frau aber »besteht mit Zähigkeit auf ihrem Geschmack« (VIII, 381). Von Veredelung keine Spur, weder bei dem mit rauhen Kehllauten durchsetzten »Dialekt ihrer Kindheit« (VIII, 385), noch bei ihrer Art, »gierig« (VIII, 385) zu essen. Sie wird von allen zutiefst verachtet, weil sie die Schande der Geburt verrät. 147

148

149

Das erinnert an die gängigen Klischees vom jüdischen Mangel an Takt, von auffälliger Aufmachung. Bezeichnend dafür ist Rathenaus wohlgemeinte Selbstbezichtigung seiner - wie er sagt - »Stammesgenossen«: »Wer ihre Sprache vernehmen will, mag an Berliner Sonntagen mittags um zwölf durch die Tiergartenstraße gehen [...]. Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffallend staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde.« Walter Rathenau: Schriften. Berlin: Berlin Verlag 1965, S. 89. »Die Zeiteinteilung im Hause war unter dem Gesichtspunkte getroffen, daß der Tag schnell und ohne fühlbare Stundenleere verstreichen möge« (VIII, 393). Klaus Mann, Der Wendepunkt (Anm. 1), S. 14.

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Der Assimilationswille des Vaters ist auch bei den Kindern Aarenhold am Werk. Ihre Vornamen sollen sie in nichts von ihrer nicht-jüdischen Umgebung absondern: Kunz und Märit, die Älteren. Die Vornamen der jüngeren Geschwister - Siegmund und Sieglind - bezeugen das angestrengte Integrationsbemühen der Eltern, den teutomanischen Modeströmungen und dem Wagnerkult zu entsprechen. Die Kinder Aarenhold stehen stellvertretend für eine Generation, die von den Vorzügen des Reichtums und dem freien Zugang zu den Ämtern profitiert, der den Juden bisher vorenthalten worden war. Vom Ghetto ist ihnen nichts mehr anzumerken. Kunz, »ein schöner, brauner Mensch mit aufgeworfenen Lippen und einer gefahrlichen Hiebnarbe« (VIII, 381) trägt den üblichen Schmiß schlagender Verbindungen, in Studentenkreisen ein Zeichen stolzer Männlichkeit. Er erscheint in der »betreßte[n] Uniform« (VIII, 381) seines Husarenregimentes, zeigt in seinem Benehmen die Strenge und Zurückhaltung eines Offiziers, der sich durch nichts von seinen christlichen Kameraden unterscheiden will. In mancher Hinsicht ist die Schwester Märit dem Bruder ähnlich, »ein strenges Mädchen von achtundzwanzig mit Hakennase, grauen Raubvogelaugen und einem bitteren Munde« (VIII, 381). Auch sie hat einen unbändigen Willen: »Sie studierte die Rechte und ging mit einem Ausdruck von Verachtung durchaus ihre eigenen Wege« (VIII, 381). Die Opposition gegen das Milieu ihrer Herkunft schlägt sich bei ihr in Hochmut, Unabhängigkeitssinn und Widerspruchsgeist nieder. Der kirchlichen Trauung ihrer Schwester widersetzt sie sich im Namen ihrer »vollständig aufgeklärten Überzeugungen« (VIII, 385). Ihre herrisch-anmaßende Absonderung von den anderen ist mit einem glühenden gesellschaftlichen Ehrgeiz gepaart. Die Zwillinge Siegmund und Sieglind erinnern an Katia Pringsheim und ihren Zwillingsbruder Klaus, den jungen Musiker, so wie ihn später sein Neffe, Klaus Mann, beschreibt: Die zwei seltsamen Kinder schienen in einer Welt fur sich zu leben - beschützt von ihrem Reichtum und von ihrem Witz, bewacht und verwöhnt von Bedienten und Verwandten. Daheim, im väterlichen Palast, spielten und kicherten sie miteinander, während [...] die Melodien aus >Walküre< und >Parsifal< vom Musiksaal zu den Zwillingen herübertönten.150

In der Erzählung halten sie sich anmutig »grazil« (VIII, 381) an der Hand, sie sind neunzehn Jahre alt. Ihre Eleganz, ihre außergewöhnliche Schönheit, ihre Exotik faszinieren. Sie trägt ein »bordeauxrotes Samtkleid, zu schwer für ihre Gestalt und im Schnitt der florentinischen Mode von Fünfzehnhundert« (VIII, 381). Er hat einen grauen Anzug mit himbeerfarbener Seidenkrawatte an, trägt mit Brillianten besetzte Manschettenknöpfe, Lackschuhe. Bei beiden Zwillingsgeschwistern wird die rassische Zugehörigkeit hervorgehoben: »Sie hatten dieselbe ein wenig niedergedrückte Nase, dieselben voll und weich 150

Ebd., S. 15.

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aufeinander ruhenden Lippen, hervortretenden Wangenknochen, schwarzen und blanken Augen« (VIII, 381). Ihre »langen und schmalen Hände« (VIII, 381) wurden leicht feucht, ein Zeichen starker Gemütsbewegung. Sie sind verwöhnt, baden in berauschenden Parfums, leben von jeder Realität abgeschirmt und abgeschnitten, in tiefer Abscheu vor der banalen äußeren Welt. Siegmund ist ein reicher Dandy und Ästhet,151 der sich im Malen versucht. Er blättert oberflächlich in seinen prachtvoll gebundenen Büchern und beschließt, das Studium der Kunstgeschichte aufzugeben, weil die Mitstudenten seinen empfindlichen Geruchssinn beleidigen und ihnen anzumerken ist, daß sie viel zu selten baden. Er ist unfähig, sich aus seiner geschützten, abgekapselten Welt zu lösen. Seine Zwillingsschwester und ständige Gefahrtin Sieglind ist sein Ebenbild und ihm wie sein anderes Ich unterworfen. Beide leben in einer narzistisch-sinnlichen Zweisamkeit. 7.3.3. Jüdisches und germanisches Blut: Der Atavismus Die Schande der Geburt bestimmt das Verhalten der Kinder grundlegend. Sie wissen, daß sie Kennzeichen der jüdischen Rasse tragen, die sie von den anderen unterscheidet und sie isoliert: Siegmund »hatte keinen Freund, nie einen gehabt, als sie [Sieglind - J. D.], die mit ihm geboren [...]« (VIII, 393). Folglich wenden sich die beiden Geschwister von einer Welt ab, die ihnen zu schlecht riecht. Gleichzeitig sehnen sie sich danach, dieser anderen Welt zu trotzen; auch wenn »die blonden Bürger des Landes« (VIII, 393) ihr Äußeres vernachlässigen: »Er gerade, er mußte unangreifbar und ohne Tadel an seinem Äußeren sein vom Kopf bis zu Füßen [...]« (VIII, 393) Siegmund fuhrt ein streng auf Repräsentation ausgerichtetes Leben. Ein Zwiespalt grundsätzlicher Natur tritt zutage: Einerseits gefallen sie sich in ihrem stolzen, elitären Hochmut und kultivieren ein Gefühl des Andersseins, das sie eint. Andererseits sind sie ganz vom Assimilationswillen und den Rachegelüsten der Deklassierten durchdrungen. Der Drang, dem Los der unglücklichen Geburt zu entfliehen, zeigt sich in der Verachtung für die eigenen Eltern. Liebe und Haß verschmelzen miteinander. Dieser komplizierte, widerspruchsvolle Atavismus152 äußert sich als intellektuelle Behendigkeit. Redegewandt und zungenfertig sind sie alle. Geschwätzigkeit verleitet Herrn Aarenhold, sich in Wortgefechte mit den Kindern einzulassen. Sie selbst, gefahrliche Dialektiker, böse Sophisten, verhöhnen ihn erbarmungslos, ohne Rücksichten auf seine Schwächen zu nehmen. Auch sie 151

152

Diese Gestalt fügt sich in die Reihe früherer Dilettanten, Möchte-gern-Künstler von der Art eines Detlev Spinell in »Tristan«, des Bajazzo in der gleichnamigen Erzählung, des Kaffeehaus-Literaten Adalbert in »Tonio Kröger« u. a. m. In dieser Erzählung taucht erstmals das Motiv deutsch-jüdischer Vergleichungen auf, das sowohl auf Gegensätze (Kontrast zwischen Beckerath und den Aarenholds) wie auf Ähnlichkeiten (Wälsungenschicksal dieser Juden) angelegt ist und später ausgebaut, im Joseph-Zyklus und im »Doktor Faustus« voll entfaltet wird.

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Al

reden viel, ihre Entgegnungen verletzen, Gesten begleiten die Reden, »ihr Gebärdenspiel war nervös und anmaßend« (VIII, 387f.). Urteile fallen unerbittlich, absolut aus, Zustimmung erfolgt nur mit Vorbehalten, Ablehnung ist stets brutal. Diese Radikalität setzt sich auf künstlerischer und literarischer Ebene fort: »Sie marschierten an der Spitze des Geschmacks und verlangten das Äußerste« (VIII, 388). Sie behaupten, »Resultate« (VIII, 388) zu beurteilen, und gewähren »keine mildernden Umstände« (VIII, 388). Aufs Diskutieren erpicht werden sie zu rechthaberischen Wortverdrehern. Intellektuelles und ästhetisches Vergnügen macht aus ihnen Wort- und Streitsüchtige: Sie widersprachen auf jeden Fall, als schiene es ihnen unmöglich, kümmerlich, schimpflich, nicht zu widersprechen, sie widersprachen vorzüglich, und ihre Augen wurden zu blitzenden Ritzen dabei. (VIII, 389)

Diese intellektuelle Aggressivität wird als »eingeborene Abwehr«, als »Wehr« (VIII, 382) und Atavismus erklärt: »Sie saßen in üppiger Sicherheit, aber ihre Rede ging scharf wie dort, wo es gilt, wo Helligkeit, Härte und Notwehr und wachsamer Witz zum Leben geboten sind« (VIII, 388). 7.3.4. Der Antipode Beckerath: Hunding »mit Büffelaugen« Ihre Angriffe konzentrieren sich auf Beckerath, der in mancher Hinsicht an Thomas Mann erinnert, wie er der scherzhaft-spöttischen Zurückhaltung des jungen Mädchens Katia Pringsheim und der offenen Feindschaft des künftigen Schwiegervaters ausgesetzt ist. Die Wirklichkeit wurde allerdings völlig umgestaltet. Beckerath, »klein, kanariengelb, spitzbärtig und von eifriger Artigkeit« (VIII, 382) ist eine blasse Figur. Sein einziger Trumpf besteht darin, ein »Verwaltungsbeamter und von hoher Familie« (VIII, 382) zu sein. Die Familie Aarenhold hat sich mit ihm als zukünftigem Schwiegersohn, Schwager oder Gatten abgefunden, verachtet ihn aber. Der Unmut gegen ihn bricht schon vor seinem Erscheinen aus: Aarenhold nimmt ihm seine Verspätung übel, auch Kunz, Siegmund und Sieglind. Frau Aarenhold zischelt spitz, er käme auf alle Fälle: »Er spart ein Frühstück im Restaurant« (VIII, 380). Mit wohlwollender Herablassung wendet sich Herr Aarenhold schließlich an seinen künftigen Schwiegersohn. Von den Kindern wird Beckerath so scharf und bissig bestürmt, daß ihm schwindelt, er nach Atem ringt und unfähig ist, der für ihn viel zu lebhaften Debatte zu folgen. Sie fallen über ein Wort von ihm her, ein einzelnes, das er gebraucht hatte, zerzausten es, verwarfen es und trieben ein anderes auf, ein tödlich bezeichnendes, das schwirrte, traf und bebend im Schwarzen saß [...] (VIII, 389).

Gegen Ende der Mahlzeit hatte Beckerath »rote Augen und bot einen derangierten Anblick« (VIII, 389). Seine »artige Fügsamkeit« (VIII, 385) unterstreicht eine Unterwürfigkeit und Demut, die ihn wenig sympathisch machen.

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Erster Teil: Die

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Der Leser empfindet kaum Mitleid mit dieser Karikatur eines ungeschickten, schwerfälligen Deutschen, der sich trotz der Hartnäckigkeit, mit der die Aarenholds ihn demütigen, nicht verteidigt. Um dies alles zu ertragen, muß er entweder blind und närrisch verliebt oder aber auf den Reichtum der Aarenholds versessen sein, was der Erzähler nahelegt. Die Stimmung ist aufs äußerste gespannt, als Siegmund Beckerath tückisch um die Erlaubnis bittet, seine Zwillingsschwester vor der Hochzeit noch ein letztes Mal in eine Vorstellung von Wagners »Walküre« begleiten zu dürfen. In Wirklichkeit hat er schon längst die Eintrittskarten und dies auch triumphierend verkündet. Der Coup ist wohl geplant, Beckerath von vornherein ausgeschaltet. Nach seiner Meinung fragt niemand, er wird einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Provokation wird auf die Spitze getrieben. Kunz trommelt Wagners Hunding-Motiv auf die Tischplatte. Die Rache naht. Die erzählerische Darstellung der »Walküre«-Auffuhrung unterstreicht die heraufbeschworene Analogie: Hunding, »der schwere Dummkopf« (VIII, 401), »dieser Tölpel« (VIII, 399), »finster und plump« (VIII, 399), »mit Büffelaugen« (VIII, 399), von seiner Rache am Wälsungengeschlecht beseelt, ist fur die Aarenholds in ihrem herablassenden Dünkel eins mit dem schwerfälligen »Germanen« Beckerath (VIII, 395). Kurz vor der Aufführung hatte Siegmund noch über ihn gesagt: »Beckerath ist die trivialste Existenz, in die ich Einblick gewonnen habe« (VIII, 365). Die Operngestalt Siegmund schreit den Fluch heraus, der auf dem unbezwingbaren Stamm der Wälsungen lastet, das Brandmal seiner seltsamen Herkunft [habe] ihn immer gezeichnet. [...] In Streit und Empörung habe er gelegen, immer und überall, Verachtung und Haß und Schmähung sei ihm im Nacken gewesen, weil er von fremder, von hoffnungslos anderer Art als die anderen [...] (VIII, 400)

Die Ähnlichkeit mit dem auserwählten und verfolgten Geschlecht, dem die Zwillinge Aarenhold angehören, liegt für den Leser der Erzählung wie fur Siegmund-»Gigi« auf der Hand. In der Darstellung des Erzählers überlagern sich mitunter Wagners Opernhelden und die Zwillinge Aarenhold. Beide Geschwisterpaare freuen sich über den Streich, den sie Hunding-Beckerath spielen: »[...] und Rache - Rache sollte nun ihre geschwisterliche Liebe sein!« (VIII, 402). In seiner glühenden Begeisterung fur Wagner, im Trance-Zustand ekstatischer Verzückung ist Siegmund Aarenhold hingerissen: ein »Brennen oder Zehren, irgend etwas wie eine süße Drangsal« (VIII, 404 zwei Mal!), »wie ein sehnsüchtiger Einblick, daß das Schöpfertum aus Leidenschaft kam und wieder die Gestalt der Leidenschaft annahm« (VIII, 404). Im Nachsinnen über die Nichtigkeit seines Daseins fragt sich Gigi nach den dunklen Motiven seiner Sehnsucht: » - wohin? wonach? Nach dem Werk? Dem Erlebnis? Der Leidenschaft?« (VIII, 404)

7. > WälsungenbluU (1906)

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7.3.5. Das doppelte Inzestmotiv Wagners Opernzauber wirkt mehrfach auf die Zwillinge: Ihre Rachegelüste gegen Beckerath, bisher nur verbaler Art, brechen voll aus und gehen mit dem Reiz am Verbotenen, dem Überschreiten tabuisierter Trivialgesetze (Betrug des künftigen Gatten und Inzest, Verstoß gegen Ehe- und Liebesgesetze) einher. Die Leidenschaft der Zwillinge wird noch intellektuell, sinnlich und ästhetisch durch die Identifikation mit Wagners Kunstwerk angestachelt. Der Inzest vollzieht sich im Bann des germanischen Mythos, dem mythischen Muster gemäß, ist Rache und Assimilierungsekstase zugleich. »[...] Der Strenge und Außergewöhnlichkeit seines Schicksals [...]« (VIII, 408) hingegeben, noch im Rausch des Opernerlebnisses, betrachtet SiegmundGigi sein Gesicht im Spiegel: die »großen, schwarzen und feuchtblanken Augen, die er klagevoll blicken ließ und in müdem Leide« (VIII, 408). Er prüft die Abzeichen seines Blutes, die ein wenig niedergedrückte Nase, die voll und weich aufeinander ruhenden Lippen, die hervorspringenden Wangenknochen, sein dichtes, schwarz gelocktes, gewaltsam auf der Seite gescheiteltes Haar. (VIII, 408)

Sein theatralisches Gebaren ist ein primitives Nachäffen. Gigi-Aarenhold spielt den Opernhelden Siegmund, steigert sich in diese Rolle hinein und verwandelt sie sich an. Sein jüdisches Schicksal identifiziert er mit dem Fluch der Wälsungen, das jüdische Blut mit dem germanischen der Wälsungen. Die Erzählung steuert auf die unerhörte Begebenheit hin, die sie zur Novelle macht. Der Inzest ist ihre Pointe. Dieses Ende hatte sich schon längst abgezeichnet, der Erzähler hatte es gewissenhaft, sorgfältig und in aller Ausführlichkeit vorbereitet. Es ist das Äußerste, die Spitze eines narzistischen, hochmütigen Ästhetizismus und der ersehnte Vergeltungsschlag nach tausendjährigem Elend, das sogar in Prunk und Pracht noch bedrückt. Um die Last der Herkunft loszuwerden, tragen Aarenholds Kinder germanisch-wagnerianische Vornamen, Sieglind wird künftig »von Beckerath« heißen, alle Kinder leben mit einer übertrieben angepaßten, überfeinerten deutschen Maske. Sein ist ihnen Schein in einem ganz auf Repräsentation eingestellten Leben. Siegmund Aarenholds Betrug und Selbstbetrug kommen einem Identitätsverlust gleich. Das Verhängnis der Herkunft ist unabwendbar. Der allzulang zurückgehaltene Rachetrieb des unterdrückten Pariavolks bricht um so heftiger hervor: »Haben wir ihn beganefft, den Goy!«,153 schreit triumphierend Siegmund heraus, als der Inzest begangen ist, »und einen Augenblick traten die Merkzeichen seiner Art sehr scharf auf seinem Gesichte hervor« (VIII, 410). Alle Assimilationsanstrengungen der neureichen Emporkömmlinge haben lediglich dazu geführt, einen kolossalen Groll zu unterdrücken. Im Aufschrei von Wol-

153

»beganefft«: jiddischer Ausdruck für begaunern, verächtlich für den Betrogenen.

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lust und Schadenfreude bricht der aufgestaute Rachetrieb gegen den Goy durch. Die Vergeltung erfüllt sich am »Germanen« Beckerath (VIII, 395), dem Sündenbock für den triumphierenden jüdischen Atavismus. 7.3.6. Die zweite Fassung von Wälsungenblut Die Ausgabe von 1921 nimmt der ersten Novellenversion die Schärfe und verändert auf Anraten des schockierten Oskar Bie 154 den Schluß. Auf die Frage Sieglinds nach Beckerath antwortet Siegmund nun: »dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an« (VIII, 410). Die Gehässigkeit richtet sich gegen den Bourgeois, der den Haß des Ästheten weckt. Somit konzentriert sich die Novelle mehr auf das Problem des von Thomas Mann verpönten Ästhetizismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, in etwa Tristan oder Fiorenza vergleichbar. Bei den Aarenholds wie auch bei Lorenzo dei Medici wird auf Beredsamkeit Wert gelegt; Sieglind trägt ein Kleid im Renaissance-Stil. Sowohl der durch die »Walküre«-Aufführung stimulierte Inzest in Wälsungenblut, als auch Gabrieles Tod in der TristanErzählung unter den Klängen der gleichnamigen Opernmusik, sind Beispiele eines auf die Spitze getriebenen dekadenten Ästhetizismus. Die inzestuöse Liebe der Zwillinge Aarenhold ist eine verbotene, verurteilte, widernatürliche Liebe, reinster Narzismus, der Homosexualität nahestehend, nach Thomas Manns eigener Deutung ein rein »erotischer Ästhetizismus«. (X, 197) Insofern ist die Leidenschaft der Zwillinge füreinander ästhetische Revolte gegen jene Trivialität, die in ihren Augen Beckerath vertritt. Doch dies ist nur eine Bedeutung des Inzests. Die Revanche gehört, wie es die Gesamtanlage der Erzählung zeigt, wesentlich dazu. Für den aufmerksamen Leser, der die doppelte Bedeutung dieses Endes erkennt, ist die an der zweiten Fassung vorgenommene Änderung minimal, aber die Pointe fehlt, sie ist zumindest abgeschwächt. Die Novelle war derart auf den prickelnden Schlußeffekt hin gebaut, daß der Autor dieses Ende in der zweiten Fassung vermissen mußte. Das letzte Wort ist deshalb so wichtig, weil sich die ganze Erzählung darin kristallisiert. Es war sorgfältig gewählt worden: Klaus Pringsheim bestätigte später, daß Thomas Mann sogar seinen Schwiegervater nach einem passenden jiddischen Begriff für Betrug oder Betrügen gefragt habe, der zugleich den Schwindel und die Verachtung für den Betrogenen ausdrücken sollte.155 Bei der Suche nach dem exakten jiddischen Ausdruck geht es nicht einfach um Wirklichkeitstreue, sondern auch um den Wunsch, den darin verborgenen Komplex aufgestauter Rache voll zur Geltung zu bringen. Ausgerechnet diese mühsam ausgekundschafteten Ausdrücke hat Thomas Mann nachträglich tilgen müssen.

154

155

Klaus Pringsheim: Ein Nachtrag zu »Wälsungenblut«. In: Betrachtungen und Überblicke. Zum Werk Thomas Manns. Hg. von Georg Wenzel. Berlin u. a.: Aufbau-Verlag 1966, S. 262. Ebd.

7. >Wälsungenblut< (1906)

7.4.

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Ansätze einer Reflexion

Die Novelle darf keineswegs als Angriff auf die Schwiegereltern des Autors aufgefaßt werden. Dafür steht die naive Offenherzigkeit, mit der er darauf besteht, sein Manuskript Frau Pringsheim und ihrem Sohn Klaus156 vorzulesen, bevor es in Druck geht. Er zieht es zurück, als sich Schwierigkeiten abzeichnen. Die Familien Pringsheim und Aarenhold haben wenig gemeinsam: jüdische Zwillinge, reiche, gebildete Intellektuelle, Wagnerianer. Beherrschend in der Aarenholdschen Atmosphäre aber ist eine allgemeine Aggressivität Beckerath gegenüber, von der bei den Pringsheims keine Rede sein kann, wenngleich auch zu recht angenommen werden darf, daß am eigenen Leibe Erlebtes und Erfahrenes, mehr oder weniger Verletzendes vom Autor verarbeitet wurde, ζ. B. die offene Feindseligkeit des Hausherrn, Katias langes Zögern, das ihn auf eine harte Probe stellte.157 In diesem Sinne wäre die Novelle dann eine Art Revanche für erlittene Unbill und der Versuch des Autors, die Ängste, die ihn heimsuchten, abzuwehren und auszutreiben. Die fiktive Familie Aarenhold hat mit der wirklichen Familie Pringsheim nur so viel gemein, daß die Aarenholds sind, was die Pringsheims in den schlimmsten Befürchtungen des Autors hätten sein können, aber eben nicht waren. Dies erklärt auch die Freiheit, mit der der Schriftsteller das Spottbild einer reichen, jüdischen und dekadenten Familie gestaltet: je schärfer der beißende Spott über die Aarenholds, desto größer der innere Jubel über die Wirklichkeit der Pringsheims. In der anklagenden Übertreibung muß eine reinigende Entladung all der erfahrenen Pein, Qualen und Ängste, ein selbstbezichtigendes Spiel mit all den Stereotypen gesehen werden, denen Thomas Mann zum Teil erlegen war und von denen er weiß, daß sie noch gang und gäbe sind. Die Herkunftsproblematik steht zweifelsohne im Zentrum, sie ist das Kernstück der Erzählung: Alle Eigenheiten der dargestellten Familie - materielle Gewinnsucht, intellektueller Ehrgeiz, Strebertum, Schönheitskult - werden dem jüdischen Ursprung zugeschrieben, durch ihn erklärt, gewissermaßen entschuldigt und erhalten erst so Stringenz. Der Titel der Erzählung Wälsungenblut, Fluch und Verhängnis des Blutes, unterstreicht diesen grundlegenden Aspekt. Insofern ist das Jüdische das tragende Gerüst der Novelle. Es ist Mittel zum Zweck und dient der unerhörten Begebenheit am Ende als vorbereitendes und vorausdeutendes Motiv. Die dargestellte Andersartigkeit ist nicht nur biologischer Art, wie die ständig hervorgehobenen Merkmale der Rasse betonen. Durch die lange Tradition der Ausgrenzung, der Ablehnung und der Unterdrückung wird sie außerdem als historisch bedingt erklärt. Obwohl durchaus Ansätze zu einer soziologischen Reflexion vorhanden sind, läßt es der Erzähler doch bei der Feststellung 156 157

Ebd. Ebd.

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Erster Teil: Die

Ausgangssituation

eines Anders-Seins bewenden, ohne am »Malheur von Geburt« (II, 82) zu rütteln, wie es später heißen wird. Immerhin kommen Verständnis und Sympathie dem alten Aarenhold gegenüber zum Ausdruck. Dieser Emporkömmling bleibt echt, insofern er seine Herkunft nicht vergißt, auch wenn er sie verbergen möchte, weil sie ihm Schande bedeutet. Schlimmer steht es um die Generation der Kinder. Sie haben an Authentizität verloren; ihr Assimilationsbestreben fuhrt sie in lächerliche Situationen, da sie nicht etwa den deutschen Jedermann nachahmen, sondern ausgerechnet den germanischen Heroengestalten der Wagnerschen Kunst nachstreben. Dem alten Aarenhold ist die Assimilierung insoweit gelungen, als er reich geworden ist, doch steckt der Ghettojude noch in ihm. Der gleiche Makel haftet, wenn auch in anderer Form, seinen Kindern an. Bei ihnen schlägt der Minderwertigkeitskomplex in einen Erwähltheitsdünkel um, den sie aus tausendjähriger Unterdrückung ziehen. Gigis expressive schwarze Augen, »die er klagevoll blicken ließ und in müdem Leide« (VIII, 408) sind Ausdruck einer ästhetisch zur Schau gestellten, veredelten Melancholie. Ein Adel der Leidenden, der Vereinsamten, der zum Außenseitertum Getriebenen kristallisiert sich heraus. Hier entsteht aus der Erschwernis der Assimilation eine Überreaktion, die direkt in den Ästhetizismus fuhrt, zur Flucht aus dem Leben. Der Ästhetizismus wird somit an ein anderes wichtiges Thema gekoppelt, an die Schilderung neureichen jüdischen Milieus. Dieses aber bleibt im Vergleich zum angeprangerten Ästhetizismus ein neben- und untergeordnetes Thema und wird deshalb nicht voll ausgeführt. Beckeraths Schwächen werden vergleichsweise nüchtern dargelegt: Blässe und Berechnung eines tölpelhaften Deutschen, der dem Verkehr mit diesen Juden nicht gewachsen ist und im auffallenden Kontrast zur grellen Vielfarbigkeit der Judenfamilie schlecht wegkommt. Mehr mag sich der Autor bei seiner Judennovelle nicht gedacht haben: »Nicht von euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir [...]« (X, 22). Diese Äußerung Thomas Manns in Bilse und ich trifft hier buchstäblich zu. Die jüdische Eigenart, soweit sie in dieser Novelle angedeutet wird, schlägt sich im wesentlichen in einem dünkelhaften Strebertum nieder. Nicht der löbliche Assimilationsdrang der Aarenholds wird verurteilt, ist doch gerade das Heldentum der Schwachen ein Thema, das dem Autor besonders am Herzen liegt. Aus seiner Sicht müßte die Assimilation anders von statten gehen, vor allem bescheidener, dies ist eine Botschaft des Textes. Der Leser erfährt äußerst wenig über die älteren Geschwister Kunz und Märit, Beispiele von Integrationsversuchen in die Gesellschaft durch Armee und Jurisprudenz. Immerhin zeugt die Novelle von der unleugbaren Anstrengung, sich in jüdisches Schicksal einzufühlen. Wohlgemerkt geht der Autor jedoch mit rassischen, wenn nicht gar rassistischen Begriffen an sein Thema heran. Die biologischen Kennzeichen der Rasse werden stark hervorgehoben. Sie haben atavi-

7. > Wälsungenblut< (1906)

53

stische, aggressive, räch- und herrschsüchtige Charakterzüge zur Folge, die hier aber von rechtfertigenden Erklärungen begleitet werden. So muß beim Leser das Gefühl entstehen, Juden seien eben so, weil sie unter einem schweren Los zu leiden haben, ohne daß gesagt wird, ob dieses Schicksal der Rasse zuzuschreiben oder ob es ein Ergebnis der feindlich gesinnten Gesellschaft ist. Dem Autor kommt es vor allem darauf an, jene Ambivalenz von Scham und Stolz hervorzuheben, die zu dem ungerechten Haßausbruch gegen Beckerath fuhrt. Abgesehen davon, daß hier auch die Gestalt Beckeraths stark karikiert ist, bleibt Thomas Manns Hang zu Zerrbildern bestimmter Judentypen bestehen, selbst wenn die Beobachtungen nuancenreicher ausfallen. In öffentlichen Ämtern zeigt er Juden, die Karrieristen sind; im kommerziellen Bereich geschickt lawierende Schurken; auf künstlerischem Gebiet dekadente Ästheten. Nicht ein einziges Mal ist von jenen authentischen Juden die Rede, die sich zu integrieren suchten, ohne sich verleugnen oder rächen zu wollen, und die es in der damaligen deutschen Gesellschaft selbstverständlich auch gegeben haben muß. Wenn Thomas Mann sich für solche Juden nicht oder noch nicht interessiert, dann zweifelsohne deshalb, weil sie weit weniger Stoff für die soziale Satire hergeben. Dies ist auch ein Zeichen dafür, daß er das Problem in seiner tatsächlichen Schärfe nicht wahrnehmen will oder wahrzunehmen vermag. So gesehen, steht die Novelle erst am Anfang eines Reflexionsprozesses, der sich noch ausweiten wird.

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik

1.

Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals

1.1.

Der Essay von 1907

Was als freies Spiel der literarischen Phantasie begann, wird - wie so oft bei Thomas Mann - in der Form des reflektierenden Essays fortgesetzt. Der Text von 1907, Antwort auf eine Umfrage über die Judenproblematik,1 nimmt bestimmte Gedankengänge aus der Novelle von 1906 wieder auf und fuhrt sie weiter. Thomas Mann gibt sich als »überzeugten und zweifellosen >Philosemiten«< (ΧΙΠ, 459) aus. Zugleich legt er Wert darauf, jedes Mißverständnis auszuräumen: »Ich bin [...] kein Jude [...], sondern nur eine romanische Blutsmischung« (XIII, 459). Er verspüre weder das Recht noch den Wunsch, in irgendeinen Chauvinismus einzustimmen; die Juden stellten einen fur Deutschland und Europa unentbehrlichen »Kultur-Stimulus« (ΧΙΠ, 459) dar, das sei unzweifelhaft und bedürfe keiner weiteren Ausführung. Deshalb halte er sich lieber an das »rein psychologische Problem«, das ihn, den »Novellisten« (XIII, 459), fasziniere. Die öffentliche Stellungnahme deckt sich mit der Sympathie des Schriftstellers fur alles, was dem Philiströsen entgegensteht. Das Ausnahmeschicksal der Juden, erwählt und verflucht zugleich, mit dem »Pathos der Ausnahme im Herzen« (ΧΙΠ, 459) fesselt ihn, und davon ist er angetan. Ein bißchen Exzentrik schade nicht. Darauf folgt eine Darlegung, die einen Schlüssel zu seinen bisherigen jüdischen Gestalten liefert. Die Juden, so meint er, haben zwei völlig entgegengesetzte Möglichkeiten, ihr Leben zu meistern. Ihnen gelinge es entweder sich zu behaupten, indem sie gegen den Strom schwimmen, gegen alle bestehenden Normen ankämpfen, woher ihr Hang zu subversiven Ideen, »Freigeisterei« (XIII, 459), »revolutionären Neigungen« (XIII, 459) und auch ihr »perverser Snobismus« (XIII, 459) rühre oder aber, eine zweite, ganz andere Möglichkeit, indem sie jeglicher schmerzlicher Vereinzelung zu entkommen und »sich den Regelrechten zu >assimilieren«< (XIII, 459) strebten. Tatsächlich bestünden in Wirklichkeit beide Tendenzen nebeneinander. Der jüdischen Seele eignet Thomas Mann zufolge - eine ständige innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit: Stolz und Schande, Individualität und Solidarität, Zynismus und Sen1

Zuerst erschienen in »Münchener Neueste Nachrichten« vom 14.9.1907. Thomas Mann (XIII, 459-462).

56

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik

timentalismus, überhebliche Aggressivität und mangelndes Selbstvertrauen, Minderwertigkeitskomplex und Überlegenheitsgefühl usw., das sind die »Kompliziertheiten« (XIII, 459), die der Schriftsteller der jüdischen Seinsart unterstellt. Diese zwei Seelen in der Brust, dieser Riß im Innersten, der Zusammenstoß der gegensätzlichsten Extreme drängt sich Thomas Mann als ein Symbol u. a. fur das faustische Dasein des Künstlers auf. Im Lebenskampf sei der Jude - so der Essayist - ein Verwandter, ein Bruder im »Wettstreit« (XIII, 460 zwei Mal!). Er dürfe nicht den leichteren Weg gehen. Er müsse siegen, überholen, sich selbst überwinden. Hindernisse müßten genommen werden, Not sei Herausforderung und zwinge zu besonderen Leistungen. Thomas Mann zitiert Voltaire: »Übrigens ist es nicht schlecht, wenn man einen Fehler gutzumachen hat. Es verpflichtet zu großen Anstrengungen, um die Öffentlichkeit zur Achtung und Bewunderung zu nötigen.« (XIII, 460) Jude und Künstler seien Auserwählte, die am Rande, weit weg von der Menge, in stolzer und schmerzlicher Einsamkeit leben.2 Es seien jene, denen die Menge zugestehen müsse, »daß es schließlich - auch< Menschen sind« (XIII, 460). Variationen zu diesem Thema werden mit dem Roman Königliche Hoheit ertönen, in dem Künstler, Prinz und Jude symbolisch vereint werden. Thomas Mann behandelt die Judenproblematik als Künstler, als Künstler auch empfiehlt er den Juden »die Liebe zu ihrem Schicksal« (XIII, 460), aus der ihnen Würde erwachsen soll. Zu diesem Zeitpunkt jedoch zeichnet sich nach Thomas Manns Einschätzung kein rettender Ausweg für sie ab, weder in der Assimilation noch im Zionismus sieht er eine Lösimg. Nichts geschehe auf ein »Zauberwort« (XIII, 460) hin, alles vollziehe sich durch ein langsames Reifen, organisches Wachsen der Gesellschaft und eine Höherentwicklung der Kultur. Eines Tages werde die »Judenfrage [...] einfach nicht mehr existieren« (XIII, 460). Der Essayist bezeichnet sich als einen entschiedenen Anhänger der Assimilation, »wenn auch in einem anderen, allgemeineren Sinne als dem üblichen« (XIII, 461). Ihm sei nämlich »die >Europäisierung< des Judentums« wichtiger als die »>NationalisierungMischehe< recht leidlich erscheinen lassen muß.3 (XIII, 461 f.)

Eine wachsende Zahl von Mischehen sei angeraten. Sie hänge allerdings von der »Europäisierung des jüdischen Typus« (XIII, 462) ab. Der Schriftsteller empfiehlt weiterhin die christliche Taufe, deren »praktische Wichtigkeit offenbar nicht zu unterschätzen« (XIII, 462) sei, und bezieht sich dabei auf Jakob Fremer, einen bedingungslosen Befürworter der Assimilation, für Thomas Mann ein glänzendes Beispiel für die gelungene Verwandlung des chassidischen Ghettojuden zum kultivierten Europäer.4 1.1.1. Tragweite und Grenzen Etwas leichtfertig vergleicht der Schriftsteller die Mühen des jüdischen Alltags mit denen des Künstlers. Seine gut gemeinte Aufforderung, die Juden sollten sich in ihr Geschick fugen, zeugt von einer Ahnungslosigkeit, die taktlos ist. Mit Recht empört sich der Schriftsteller Jakob Wassermann später, im Jahre 1921, in einem Brief an Thomas Mann heftig gegen eine solch pauschale Identifizierung des Künstlerloses mit dem jüdischen, bei weitem grausameren Schicksal.5 Thomas Mann folgt in seinem Essay Jakob Fromers Thesen, wonach das orthodoxe Judentum langsam verschwinde und die Taufe den Integrationsprozeß in die deutsche Gemeinschaft beschleunigen könne. Selbst wenn der Autor Recht hätte und es zutreffen sollte, daß zur damaligen Zeit das ultra-orthodoxe, jeglicher Assimilation widerstrebende Judentum abnahm und »die große Mehrheit der deutschen Juden«6 sich die deutschen Sitten und die deutsche Kultur aneignete,7 hieße dies noch lange nicht, daß sich die Juden verleugnen wollten. Das Recht, der deutschen Gemeinschaft anzugehören, ohne sich der eigenen Religion entledigen zu müssen, wäre die einzig wünschenswerte, klare Lösung gewesen.8 Gar die Taufe zu empfehlen erschüttert die religiösen und ethischen Grundlagen des Judentums und der jüdischen Identität. Diese enge Sicht ist in der öffentlichen Meinung der Zeit sehr verbreitet und findet sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Strömungen. Der 3

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Bekanntlich befürwortete Otto von Bismarck die Mischehe. Otto Jöhlinger: Bismarck und die Juden. Berlin: Dietrich Reimer 1921, S. 27. Jakob Fromer, 1865 bei Lodz geboren, war Orientalist. In seinem Artikel »Das Wesen des Judentums«, in Maximilian Hardens Zeitschrift »Die Zukunft« 1904 erschienen, verteidigte Fromer die Assimilation der Juden bei Preisgabe ihrer Religion. Jakob Wassermann in Thomas Mann (XIII, 888). Walter Boehlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M.: Insel 1965 (Sammlung Insel; 6), S. 65. Harry Breßlau: Zur Judenfrage. Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke. In: Boehlich, Der Berliner Antisemitismusstreit (Anm. 6), S. 65ff. Die Sprache selbst verrät die Vorurteile: Nicht von jüdischen Deutschen ist üblicherweise die Rede, sondern von deutschen Juden.

58

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Historiker Treitschke hielt die Judenassimilation für unentbehrlich, weil er in den »Juden >ein Element der nationalen DekompositionChristenheit< [...] ist immer noch das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Civilisation zusammenfaßt [...]. Außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll.11 Thomas Mann spricht sich für eine vollständige Assimilation unter Preisgabe der jüdischen Identität aus, die er als Hindernis für das Gedeihen der Juden in Europa ansieht. Der christlichen Taufe, den Mischehen und überhaupt der Mischung der Rassen gehört nach seinem Verständnis die Zukunft. 1.1.2. Die Mischung der Rassen Aus Thomas Manns bisherigen Stellungnahmen und aus dem literarischen Frühwerk geht deutlich seine feste Überzeugung hervor, daß die alten Rassen auf Dauer untergehen müssen, vor allem bei allzu abgeschlossenen Gemeinschaften, die auf Inzucht hinauslaufen. Die Geschwisterbindung in Wälsungenblut wäre in dieser Hinsicht gleichsam eine Illustration für die Morbidität narzistischer Abkapselung. Thomas Manns jüdische Gestalten sind im allgemeinen nicht gerade kräftige, lebensstrotzende Naturen, eher häßlich, kränklich, als ob dieser untergehende Menschenschlag nur zu neuer Kraft finden könne, wenn er das Ghetto verlasse.12 Auch im Roman Buddenbrooks geht der Verfall der Familie mit einem ökonomischen und biologischen Niedergang einher. Hanno ist der letzte Sproß der Buddenbrooks. Verfeinerung, Sensibilität und künstlerische Begabung sind Symptome für das Absterben seines Familiengeschlechts. Nicht von ungefähr erklärt in der Tristan-Erzählung der kränkelnde Dichterling Spinell, es geschehe nicht selten, »daß ein Geschlecht mit praktischen, bürgerlichen und trockenen Traditionen sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kirnst verklärt« (VIII, 234). Thomas Manns Essay aus dem Jahre 1907 muß in diesem Kontext gelesen werden. Für ihn ist jede Rasse dem Untergang geweiht, auch wenn sie sich zum Schluß hin entfaltet und veredelt. Dabei ist Thomas Mann jedoch weit davon entfernt, den Pessimismus eines Gobineau zu teilen, der - die nichtsdestoweniger unvermeidliche - Mischung der Rassen für schädlich hält. Dem entschiedenen Fürsprecher der Rassenmischung, Thomas Mann, gilt gerade die deutsch-jüdische als eine beiden Seiten forderliche. 9 10 11 12

Ebd., S. 263. Ebd., S. 221. Ebd., S. 226. Moritz Hagenström in den »Buddenbrooks« hat Karies, Detlev Spinell in »Tristan« kränkelt. Physische Schwäche, nachlassende Lebenskraft begleiten intellektuelle, psychische oder künstlerische Verfeinerung.

1. Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals

59

1907 ist Thomas Mann politisch konservativ. Die bestehenden sozialen Strukturen werden von ihm gutgeheißen. Er rät den Juden aufrichtig, sich den Gegebenheiten zu beugen, der Umgebung anzupassen und jede sie absondernde Eigenheit abzulegen. Die Bedeutung dieser Fragen fur den Autor zeigt sich in ihrer Wiederaufnahme im Roman Königliche Hoheit, der etwa zeitgleich mit dem Essay von 1907 entsteht.

1.2.

Königliche

Hoheit

Die Romanfiktion bestätigt und variiert die dargelegte Entwicklung Thomas Manns. Künstlerthematik und Rassenmotivik stehen auch hier im Vordergrund und werden stärker denn je miteinander verwoben. 1.2.1. Doktor Sammet Die jüdische Herkunft dieser zentralen Figur13 wird deutlich hervorgehoben. Obwohl der großherzogliche Leibarzt, Generalarzt Dr. Eschrich, sich bei der Wöchnerin befand, hatte Johann Albrecht die Laune, den jungen Ortsarzt, einen Dr. Sammet, der obendrein jüdischer Abstammung war, aufzufordern, ihn auf die Burg zu begleiten. (II, 14) Der - wie der Erzähler bemerkt - »unsympathische Name Sammet« (II, 114) ist deshalb verdächtig, weil er die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und an Stoffhandel erinnert. Später besinnt sich der Großfürst nur mühsam dieses Namens: »Er nannte mehrere Stoffe, Seide, Atlas und Brokat [...]« (II, 123). Auch Sammets Gesichtszüge sind nicht vorteilhafter gezeichnet als die der bisher vom Autor beschriebenen jüdischen Gestalten: »Seine Nase, zu flach auf den Schnurbart abfallend, deutete auf seine Herkunft hin« (II, 28).

13

Die Figur des Doktor Sammet ist - so Katia Mann - dem sympathischen und seriösen Facharzt für innere Krankheiten Dr. Albert Loeb nachgestaltet, der Thomas Mann während seiner ersten zehn Ehejahre in München behandelte. Der Schriftsteller macht aus ihm im Roman einen Kinderarzt und überträgt ihm somit das Fachgebiet des wirklichen Dr. Maurice Hutzier, der seinerseits im Roman in die Gestaltung des Doktor Überbein eingegangen ist. Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 1. Teil 1875-1918. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1975, S. 681 und 723. - Sammet ist ein typisch jüdischer Familienname wie auch Tuch, Atlas, Seiden. Siegmar Tyroff: Namen bei Thomas Mann in den Erzählungen und den Romanen »Buddenbrooks«, »Königliche Hoheit«, »Der Zauberberg«. Frankfurt a. M., Bern: Lang 1975 (Europäische Hochschulschriften; Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur / Langue et littérature allemandes / German language and literature; 102), S. 16 und Gerhard Kessler: Die Familiennamen der Juden in Deutschland. Leipzig: Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 1935 (Mitteilungen der Zentralstelle fur Deutsche Personen- und Familiengeschichte; 53), S. 72.

60

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Der Makel Jude zu sein, ist zudem sozialer Art. Es mag noch angehen, daß der Großfürst einen ortsansässigen Arzt kommen läßt, aber die »Laune« (II, 14) besteht darin, daß es »obendrein« (II, 14) ein Jude sein muß. Die Vorbehalte den Juden gegenüber existieren nach wie vor und ungeachtet aller nominellen Gleichheit vor dem Gesetz. Der Großfürst will zwar über den Vorurteilen stehen, aber er kennt sein Volk und fragt daher den Arzt: »Sie sind Jude?« und Haben Sie Ihre Herkunft je als ein Hindernis auf Ihrem Wege, als Nachteil im beruflichen Wettstreit empfunden? Ich frage als Landesherr, dem die bedingungslose und private, nicht nur amtliche, Geltung des paritätischen Prinzips besonders am Herzen liegt. (11,31)

Die Antwort fallt lakonisch aus. Der Arzt versteckt sich hinter dem Gesetz: »Jedermann im Großherzogtum [...] hat das Recht, zu arbeiten« (II, 31). In Wirklichkeit vollzieht sich die Integration der Juden im öffentlichen Leben nicht ohne Argwohn der Einheimischen. Sammets Aufstieg stört die braven Leute (II, 123), und er weiß es. Ihm ist nicht erlaubt, wie jedermann anonym zu leben. Wie Schillers Marquis von Posa vor Phillipp Π. breitet Sammet mit verhaltenem Pathos und erregter Stimme vor dem Großfürsten seine innerste Überzeugung aus: Kein gleichstellendes Prinzip, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, wird je verhindern können, daß sich inmitten des gemeinsamen Lebens Sonderformen erhalten, die in einem erhabenen oder anrüchigen Sinne vor der bürgerlichen Norm ausgezeichnet sind. [...] Man ist [...] im Vorteil, wenn man eine Veranlassung mehr, als sie, zu ungewöhnlichen Leistungen hat. (II, 32)

Anders-Sein verpflichtet und heißt, Mut zu sich selbst zu haben. Diese Hartnäckigkeit vereint Sammet und seinen Freund, den Lehrer Überbein, mit all den Außenseitern, die sich Mühen und Anstrengungen auferlegen. Raoul Überbein ist kein Jude, aber »dunkler Herkunft« (II, 80) - so klärt uns der Erzähler über diese Gestalt auf. Es ist kein Zufall, daß dieser Figur das Modell eines jüdischen Arztes der Familie Mann 14 zugrunde liegt. Die Ethik des Überwindens und der Leistungsanspruch leiten sich bei Sammet wie bei Überbein vom Wissen um das »Malheur von Geburt« (II, 82) her. Um anerkannt zu werden und vor sich selbst zu bestehen, haben die Juden in Thomas Manns Werk einen

14

Überbein trägt in den Vorarbeiten zum Roman noch den Namen Hutzelbein. Der Kinderarzt der Familie Mann, Maurice Hutzier, ist der Sohn einer jüdischen Deutsch-Amerikanerin, Sarah Hutzier, die in zweiter Ehe mit dem Schauspieler Joseph Kainz verheiratet war. Mendelssohn, Der Zauberer (Anm. 13), S. 721 f. - Überbeins körperliche Erscheinung entspricht ganz und gar der Hutzlers. Die Romangestalt Überbein ist nicht Kinderarzt, sondern Prinzenerzieher und trägt den Vornamen Raoul. Überbein wie Hutzier wählen den Freitod. - Peter de Mendelsohn erinnert daran, daß in der Gestalt Überbeins mehrfach Raoul Richter, der Nietzsche-Biograph, gesehen wurde, indem auf die Nietzscheanischen Komponenten des mit der Figur verbundenen Namens und Themas (Überbein - Übermensch - Überwindung Überschreitung der Schranken) verwiesen wurde.

I. Einzigartigkeit des jüdischen

Schicksals

61

einzigen Ausweg: sich über das Gewöhnliche erheben, den eigenen, schweren Weg gipfelwärts gehen. Per aspera ad astra. Ein sympathischer und assimilierter Jude Sammet ist der zivilisierte, assimilierte Jude aus dem Essay von 1907, »ein Jude und doch an Leib und Seele ein vornehmer Mensch« (XIII, 452). Vom Erzähler wird er auch äußerlich ausgesprochen sympathisch gestaltet: Kinn und Wangen waren sauber rasiert [...]. Er hielt den Kopf leicht seitwärts geneigt, und der Blick seiner grauen Augen sprach von Klugheit und tätiger Sanftmut. [...] er hatte zum Frack eine schwarze Halsbinde angelegt, und seine gewichsten Stiefel waren von ländlichem Zuschnitt. (II, 28)

Diese zurückhaltende, bescheidene Gestalt ist beeindruckend. »Redlichkeit und Sachlichkeit waren in seiner Erscheinung ausgedrückt; sie erweckte Vertrauen« (II, 28). Herzlichkeit, Intelligenz, Ergebenheit kennzeichnen diese tadellose Persönlichkeit. Sein Aufstieg vom jungen Allgemeinmediziner in der Provinz zum Kinderfacharzt und Leiter des Krankenhauses in der Residenzstadt ruft Neider auf den Plan. Sammet hat sich gesellschaftlich durchgesetzt, sich in einer ernsthaften Arbeit behauptet und dabei bemüht, er selbst zu bleiben. Sein Erfolg ist der gerechte und verdiente Lohn. Den Nachteil der Herkunft hat er wettgemacht. Ganz im Gegensatz zu den Aarenholds und ihrem gekünstelten Leben entfaltet sich Sammet, indem er den anderen hilft. Auch der Titelheld, Prinz Klaus Heinrich, muß ein Gebrechen, die Athrophie einer Hand, verkraften. Der Romantitel gilt somit für alle Hauptgestalten des Romans, die ein Manko abzugleichen haben. Eine jede ist benachteiligt und auf ihre Art Prinz zugleich. Doktor Sammet ist ein wichtiges Leit- und Sinnbild für die symbolische Erzählstruktur; er ist auf seine Art Königliche Hoheit, eine zentrale Chiffre des Romans. 1.2.2. Die Spoelmanns Typisch für die Erzählstruktur des Romans mit ihren mannigfachen Beleuchtungen, Spiegelungen und Brechungen ist die Weiterführung der Problematik in der Darstellung des Samuel Spoelmann und seiner Tochter Imma. Wie schon in Wälsungenblut stützt sich Thomas Mann bei der Gestaltung der Spoelmanns auf die Pringsheimsche Familie. Samuel Spoelmann und seine Tochter Imma erinnern u. a. an Thomas Manns Schwiegervater und dessen Tochter Katia.15 Auch andere Juden aus Thomas Manns Bekanntenkreis, besonders bedeutende Geschäftsleute,16 gehen in die Figurengestaltung ein. So wird aus Davis Spoelmann, dessen Eltern in die Vereinigten Staaten von Ame15

16

In den Notizen zum Romanentwurf wurde der Vorname Katia in Imma geändert. Ebd., S. 727 und 729. Ebd., S. 717.

62

Zweiter Teil: Ausarbeitung

einer jüdischen

Thematik

rika ausgewandert waren, 17 im Roman Samuel Spoelmann. Die fiktiven Spoelmanns sind nicht mehr ganz die wirklichen Pringsheims. Sie ähneln aber keineswegs den Aarenholds aus Wälsungenblut. Der Autor zeichnet den Vater Spoelmann mit eindeutiger Sympathie. An den Reichtümern dieses Milliardärs mag »das Blut der Witwen und Waisen« kleben, wie böse Zungen behaupten, aber »er ist eigentlich nichts als ein Erbe und soll sogar nie so besondere Lust zu den Geschäften gehabt haben« (II, 152), heißt es in der auffälligen Absicht des Erzählers, diese Gestalt makellos erscheinen zu lassen. So wird Spoelmann von jedem Verdacht dunkler Geschäftemacherei reingewaschen. Er ist ein gebildeter Mann, kein Angeber. 18 Prinz Klaus Heinrich, Erbe alter Traditionen, hat an ihm nichts auszusetzen. 19 Samuel Spoelmann - so erfahren wir aus einem Gespräch im Roman - ist >ein sujet mixte, denn sein Vater holte sich seine Frau aus dem Süden, - kreolisches Blut, eine Person mit deutschem Vater und eingeborener Mutter. Aber Samuel heiratete dann wieder eine Deutsch-Amerikanerin mit halbenglischem Blut, und beider Tochter ist nun Miss Spoelmann. < ->Bewahre, Jettchen, das ist ja ein buntes Geschöpft (II, 153)

Katia Mann ist zu erkennen, wenn von Immas »perlblassen Gesichtchen« (II, 217) die Rede ist, von ihren runden, festen Armen, die vor dem Handgelenk gleichsam zu denen eines Kindes werden, von den »übergroßen und schwarzen, glänzend fragenden Augen« (II, 217), von ihrem »Halse, dessen Haut die Farbe angerauchten Meerschaumes hatte« (II, 224). Thomas Mann setzt »eine morgenländische Prinzessin«, so Else Lasker-Schüler über Katia, 20 ins Bild: Imma mit ihrer arabischen Milchschimmelstute namens Fatme (II, 225). Anders als in der Novelle Wälsungenblut geht die Spezifik der Judenthematik in der allgemeineren der Rassenmischung auf. Geburt und Abstammung werden von den betroffenen Gestalten nach wie vor als grundlegende Benachteiligung empfunden: »Aber hier liegt der Haken, Prinz. Ich bin eine Quinterone« (II, 265). Die Umgebung läßt sie ihr Handicap spüren: Sie müssen aber wissen, daß indianisches Blut dort drüben einen schweren Makel bedeutet, - einen solchen Makel, daß Freundschaften und Liebesbündnisse mit 17

18 19

Die Eltern von Davis waren Deutsche namens Davids oder Davidsohn, nach Nordamerika ausgewanderte kleine Kaufleute. Der in Milwaukee geborene Davis lernte seine spätere Frau in San Francisco kennen, eine Pflanzertochter aus der Umgebung Bahías. Sie hatte einen deutschen Vater und eine portugiesische Mutter. Peter de Mendelssohn zitiert Th. Mann in: ebd., S. 725. Spoelmann spielt wunderbar Orgel (II, 197). Was Thomas Mann in einem Brief vom 27.2.1904 an seinen Bruder Heinrich über die Familie Pringsheim mitteilte, könnte auch der Prinz über Spoelmann schreiben: »Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur«. In: Thomas Mann / Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 1975 (Fischer-

Tb.; 1610), S. 27. 20

Else Lasker-Schüler zitiert in: Mendelssohn, Der Zauberer (Anm. 13), S. 595.

1. Einzigartigkeit des jüdischen

Schicksals

63

Schimpf und Schande auseinandergehen, wenn eine derartige Abstammung des einen oder anderen Teiles ans Licht der Sonnen kommt. [...] und mehrmals, wenn hinter mir drein geschimpft wurde, habe ich zu hören bekommen, daß ich eine Farbige sei. Kurz, es blieb eine Beeinträchtigung, eine Erschwerung [...] mein Vater, [...] hat [...] es von Jugend auf nur schwer ertragen, bestaunt und gehaßt und verachtet zu gleicher Zeit zu sein, halb Weltwunder und halb infam [...], und hatte Amerika in jeder Beziehung satt. (II, 266)

Daher die Auswanderung der Spoelmanns. Der bezeichnende Familienname evoziert das zigeunerhafte, unstete Wanderleben der fahrenden Spielleute.21 Durch die Herkunft zu Außenseitern abgestempelt, »bestaunt und gehaßt und verachtet« (II, 266) sind die Spoelmanns nirgendwo zu Hause. Der Wälsungen-Komplex mit seinen Abwehr- und Verteidigungsmechanismen taucht beinahe wörtlich wieder auf: [...] Imma Spoelmann saß weich [...], in lässiger Haltung, mit launisch verwöhnten Mienen, saß in üppiger Sicherheit, während ihre Rede scharf ging wie dort, wo es gilt, wo Helligkeit, Härte und wachsamer Witz zum Leben geboten sind. (II, 234)

Diese Zungenschärfe verunsichert Prinz Klaus Heinrich zunächst ein wenig, doch er versteht, daß es ihre Art ist, sich zu schützen. Er glaubt deutlich zu erkennen, »daß es nicht Imma Spoelmanns Meinung war, zu verletzen [...]« (II, 234) und vergleicht: »Er mußte an Überbein denken bei manchen von ihren Scharfzüngigkeiten, an den wortgewandt rodomontierenden Doktor Überbein, der ein Malheur von Geburt war [...]« (II, 234). Klaus Heinrich begreift den Grund für den bissigen Ton in ihrer Rede. Bestaunt, gehasst und verachtet zu gleicher Zeit, [...] so hatte sie gelebt, und das hatte die Dornen in ihre Rede gebracht, jene Schärfe und spöttische Helligkeit, die Abwehr war, wenn sie Angriff schien, [...] aber ihr selbst tat Mitleid und Milderung not, weil sie einsam war und es schwer hatte, - gleich ihm. (II, 266)

Die verbale Aggressivität wird erklärt und als Verteidigung entschuldigt. Anders als bei den Aarenholds trägt sie keine Spur von Feindschaft und Haß in sich. 1.2.3. Verlagerung der Problematik Die beschriebenen Abwandlungen und Variationen eines mit Wälsungenblut peinlich gewordenen Problems zeugen von Thomas Manns Bedürfnis nach Abstandnahme. Er war an eine Mauer von Vorurteilen gestoßen, seien es die eigenen, die seines Publikums oder die der breiten öffentlichen Meinung. Nun sieht es so aus, als müsse er behutsamer vorgehen. Die Herkunft, in Wälsungenblut noch eine jüdische, wird auf eine allgemeinere, distanziertere Ebene 21

Tyroff, Namen bei Thomas Mann (Anm. 13), S. 167. Es ist nicht möglich, exakt zu bestimmen, wann Thomas Mann den ursprünglichen Familiennamen, der für die Gestalt des Davis vorgesehen war, in Spoelmann geändert hat. 1907 hätte Thomas Mann die zahlreichen, in der Presse erschienenen Artikel zum Ableben des belgischen Grafen Spoelberch de Lovenjoul gelesen haben können.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

gehoben. Der Erzähler weist deutlich auf die Ähnlichkeit zwischen Überbeins Schicksal, den er trotz des jüdischen Wirklichkeitsmodells bewußt als Nichtjuden darstellt, und dem Sammets hin. Sammet ist alles andere als ein Emporkömmling. Intelligent, aktiv, tüchtig und bescheiden markiert diese erste sympathische jüdische Gestalt im Werk Thomas Manns, verglichen mit den bisherigen, einen gravierenden Einschnitt. Selbstverständlich vermag die Reflexion über das jüdische Phänomen gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Religiöses Judentum, Ghetto-Juden oder orthodoxe Juden interessieren im allgemeinen damals wenig und bleiben immer noch außerhalb von Thomas Manns Horizont. Die Aufmerksamkeit wird im Roman auf die Schwierigkeit der Assimilation gelenkt. Judentum ist nur als eine Frage der zu überwindenden Abstammung von Belang. An den bestehenden Vorurteilen wird nicht gerüttelt, vielmehr heißt es, sich zu fügen: Der Einzelne wird guttun, nicht nach der Art seiner Sonderstellung zu fragen, sondern in der Auszeichnung das Wesentliche zu sehen und jedenfalls eine außerordentliche Verpflichtung daraus abzuleiten, (II, 32)

so läßt der Romancier Sammet sprechen. Zweifellos benimmt sich die Figur in Thomas Manns Perspektive mustergültig und sieht in der Benachteiligung einen Ansporn zu höherer Leistung. Wie Königliche Hoheit seine körperliche Mißbildung, so muß der jüdische Arzt sein Hindernis »beständig vor der Welt bravieren« (II, 33). Aus dem sozialen Gebrechen leitet er »eine Veranlassung mehr [...] zu ungewöhnlichen Leistungen« (II, 32) ab. Doktor Sammet erscheint als Auserwählter, nicht etwa im religiösen, sondern im existentiellen Sinn. Ein elitäres Gefühl der Zugehörigkeit zum Erwählten Volk besteht nur noch in einem verweltlichten Sinne, in der Herausforderung, das Schicksal zu meistern. Die Pariaherkunft erlaubt kein Mittelmaß, sie zwingt zum Erfolg, zu einem Heldentum der Schwäche, einem Lieblingsmotiv des jungen Autors. Thomas Mann gebraucht den Begriff der Rasse, ohne deutlich zu machen, was darunter zu verstehen ist: soziologische Aspekte, die sich aus der Herkunft ergeben, womöglich auch biologische oder alles zusammen. Im Mischlingsschicksal schlagen atavistische Züge biologisch und psychologisch weniger durch. Da die jüdische Problematik auf eine allgemeinere Ebene gehoben wird, verliert sie an Spezifik und Brisanz. Intelligenz und Intellektualität werden immer noch, wie schon in Wälsiingenblut, als in Notwehr geschliffene Waffen dargestellt. Sammets Ehrgeiz ist eine Antwort auf die unbequeme Abstammung. Vom Judentum bleibt ihm nur noch das hartnäckige Durchhalten. Der Autor bekennt sich zu einer Polyphonie der Rassen, von denen eine jede ihre farbigen Merkmale, ihre Stärken und Schwächen hat und preist die Mischung, denn Reinrassigkeit impliziere auf Dauer Inzucht und Niedergang. Der edle Collie-Hund namens Percy, »reinrassig« und ein wenig »geisteskrank« (II, 249), illustriert diesen Sachverhalt. Staatsminister von Knobelsdorf betont

2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

65

die »belebende Wirkung, welche die Mischung der Rassen bei alten Geschlechtern hervorzubringen vermöge« (III, 341). Der Schriftsteller scheint sich von früheren, gröberen Vereinfachungen gelöst zu haben. Sein Blick fur Rassen und Rassenmischung hat sich geschärft, erweitert, verfeinert und vertieft. Offen unterstreicht er sein ästhetisches Interesse fur die Buntheit der Rassen, aber ein Rassist ist er nicht. Es wird sich zeigen, ob die einstigen Klischees gänzlich verschwinden, wieder auftauchen oder von anderen abgelöst werden.

2.

Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

Das zugespitzte, bissig-ätzende Konterfei der Emporkömmlinge Aarenhold findet sein Gegengewicht in den liebenswürdigen, freundlichen Gestalten der Spoelmanns und des Doktor Sammet, die zeigen, daß Thomas Mann über die Problematik bewußt zu reflektieren beginnt. Der Roman Königliche Hoheit und auch das Essay von 1907 siedeln die Judenfrage im weiter gefaßten Kontext der Rassen an, wodurch ihre Spezifik eingeebnet wird. Dabei handelt es sich um eine allgemein verbreitete Tendenz in den Jahren, in denen der Antisemitismus zwar ein Bestandteil des deutschen politischen Denkens bleibt, aber verborgen im Hintergrund agiert. Auf der politischen Bühne verlieren die Antisemiten an Zustimmung. Zwischen 1895 und 1907 bekommen sie bei den Reichstagswahlen weniger als 300 000 Stimmen. 1912 sind sie völlig abgeschlagen. 22 Die Situation der Juden hat sich verbessert, obwohl sie immer noch Opfer von Anfeindungen sind. 23 Nach Dafürhalten der Historiker ist um 1910 die Assimilation der Juden auf gutem Wege. 24 Insofern befindet sich der Autor im Einklang mit dem Zeitgeist, wenn er nun dazu neigt, die jüdische Frage zu entschärfen. Problematisch dagegen bleiben Thomas Manns Beharren auf pauschal unterstellten psychophysiologischen Eigenarten eines jeden Menschenschlages und sein Festhalten an einer jüdischen Eigentümlichkeit, einer Art »Jüdischkeit«, 25 die zum Guten wie zum Bösen ausschlagen könne. Mehr denn je stellt sich die Frage nach der Funktion der heraufbeschworenen Stereotypien im zeitgleich begonnenen Krull-Roman. Dort tauchen in kleinen Motiven Klischees aus dem Frühwerk wieder auf. Es leuchtet ein, daß 22

23 24 25

Pierre Sorlin: L'antisémitisme allemand. Paris: Flammarion 1969 (Questions d'histoire; 8), S. 59. Ebd. Ebd. In der Bedeutung, die Hannah Arendt dem Begriff beimißt: »Aus dem Judentum konnte man entkommen, aus der Jüdischkeit nicht«. In: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Bd I: Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Ullstein 1975 (Ullstein-Buch; 3181), S. 155.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

nach Thomas Manns Einheirat in eine Familie jüdischer Herkunft, nach ersten konkreten Kontakten, den folgenden Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten ein Prozeß der vertieften Besinnung vonstatten geht, der in den zuletzt behandelten Werken zum Vorschein kommt. Die Gestaltung jüdischer Welt ist nun bei Thomas Mann unvorstellbar, ohne daß im Hintergrund diese fortwährende Auseinandersetzung mitschwingt. Unbefangenheit und Naivität sind von nun an unwahrscheinlich. Im Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sieht es jetzt so aus, als würde sich das Bild vom Juden verdoppeln. Im vor 1914 geschriebenen Teil des Manuskripts erscheinen die stereotypen Schablonen in einer Doppelstruktur: einmal ein negativ skizzierter jüdischer Bankier mit seiner Gattin, ein anderes Mal das durchaus positive Bild eines attraktiven jüdischen Geschwisterpaares. Es wäre auch durchaus denkbar, daß dieser Verdoppelung präzise Funktionen zukommen, beispielsweise, Knills Begrenztheit, seine eigenen Vorurteile und die seines Ursprungsmilieus aufzuzeigen oder darauf hinzuweisen, wie die Schranken von Knills eigenen Vorurteilen bald niedergerissen werden. Möglicherweise sollen Knills Wunsch nach sozialem Aufstieg und sein ästhetischer Sinn hervorgehoben werden.

2.1.

Die Polemik mit Theodor Lessing

Mit den Buddenbrooks ist Thomas Mann ein anerkannter, berühmter, auch exponierter Autor geworden. Kein Wunder, wenn es zu Streit mit Intellektuellen, auch jüdischen, 26 kommt. Als der Romancier 1910 den jüdischen Literaturkritiker Samuel Lublinski verteidigt, der sehr früh Thomas Manns Talent erkannt und ihn als den wichtigsten Schriftsteller der Epoche gepriesen hat,27 setzt eine Polemik mit dem jüdischen Essayisten Theodor Lessing ein. Was war geschehen? Am 20. Januar 1910 publiziert Theodor Lessing in der Wochenschrift Die Schaubühne einen heftigen Angriff auf Samuel Lublinski: »Samuel zieht die 26

27

Besonders die bissigen Angriffe des namhaften und von den Zeitgenossen gefürchteten Theaterkritikers und Schriftstellers Alfred Kerr sind hier zu nennen. Er sollte Thomas Manns Erzfeind bleiben. Alfred Kerr hatte eine heftige Satire auf die »Buddenbrooks« (in: Alfred Kerr: Caprichos. Strophen des Nebenstroms. Berlin: Spaeth 1926) und eine niederschmetternde Kritik zu »Fiorenza« (am 5.1.1913, in: Alfred Kerr: Theaterkritiken. Hg. von Jürgen Behrens. Stuttgart: Reclam 1971 [UniversalBibliothek; 7962/63], S. 83-87) veröffentlicht. 1904 stellte Samuel Lublinski in »Bilanz der Moderne« Thomas Mann als bedeutendsten Schriftsteller der Epoche vor und rühmte sehr früh schon den Roman »Buddenbrooks« (in der Abendausgabe des »Berliner Tageblatts«, Jg31, Nr 466, 13.9.1902). - Dazu Hans Waldmüller: Ein Fund für die Thomas Mann Forschung. Zu Samuel Lublinskis Buddenbrooks-Rezeption. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr 352, Sonntag 1.8.1971, S. 37. - Thomas Mann spielt mehrfach auf Samuel Lublinskis Artikel an, beispielsweise in: XI, 114 und Briefe. Bd 1: 1889-1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1961, S. 87.

2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

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Bilanz [...]«. 28 Die scharfen Äußerungen entrüsten namhafte Schriftsteller, 29 die ein Protestschreiben verfassen und zirkulieren lassen. Nach einem vergeblichen Beschwichtigungsversuch, der von Lessing kategorisch zurückgewiesen wird, veröffentlicht Thomas Mann am 1. März 1910 eine Antwort im Literarischen Echo\ Theodor Lessing sei ein Paradebeispiel dieser weit verbreiteten Spezies von Pseudo-Literaten, die die Literatur entehre. Der Romancier nennt diesen »schreibenden Typus« den »espritjüdischen« (XI, 722) und ist über Lessings antisemitisch anmutende, lächerliche Karikatur eines Juden durch einen Juden empört. Hingegen lobt Thomas Mann Lublinskis Ernst und Intelligenz, ein strenger und bitterer Kritiker gewiß, aber so, wie ihn Deutschland brauche: weit- und hellsichtig, der gegen die Zeit zu kämpfen wisse, wenn es not tue. Thomas Mann hätte es bei dieser Sympathiebekundung fur Lublinski bewenden lassen können. Aber er geht einen Schritt weiter: Herr Lublinski ist kein schöner Mann, er ist Jude. Aber ich kenne auch Herrn Lessing [...] und wer [...] das Urbild arischer Männlichkeit in ihm zu sehen angäbe, der [müßte] der Schwärmerei geziehen werden [...]. Wer sich als Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse durchs Leben duckt, verrät mehr als Unweisheit, verrät schmutzige Selbstverachtung, wenn er sich für Pasquille bezahlen läßt, deren drittes Wort >mauscheln< lautet. (XI, 723f.)

Thomas Mann fügt hinzu: Über den >espritjüdischen< Typus zu satirisieren, steht prächtig dem zu Gesicht, der selber in aller Welt nichts weiter als das schwächste und schäbigste Exemplar dieses in einigen Fällen doch wohl bewunderungswürdigen Typus vorzustellen vermag. (XI, 724)

Solche Sätze dürfen nicht aus dem Kontext herausgelöst und isoliert interpretiert werden. 30 Thomas Mann stößt hier in seiner recht peinlichen Verteidigung Lublinskis an die eigenen Grenzen: er stempelt Theodor Lessing zum »Schreckbeispiel jüdischer Rasse« (XI, 724) ab und leistet damit dem Antisemitismus Vorschub. Es ist, als würde er der Judenfeindlichkeit nur ihre Einseitigkeit vorwerfen, wo doch - nach seiner Überzeugung - die jüdische Rasse wie jede andere auch Gutes vorzuweisen habe. Sein ungebrochener Glaube an die Rassen hindert ihn daran, den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen. Fehlende Fein28

29

30

Theodor Lessing: Samuel zieht die Bilanz und Tomi melkt die Moralkuh oder zweier Könige Sturz. Eine Warnung für Deutsche, Satiren zu schreiben. Mit literarischen Beiträgen von Thomas Mann, Samuel Lublinski und den vierzig sittlichsten deutschen Dichtern und Denkern. Hannover: Verlag des »Antirüpel« 1910. Unter anderen: Walter Boem, Felix Braun, Otto Falckenberg, Georg Hermann, Theodor Heuss, Anselm Ruest, Wilhelm Schäfer, Stefan Zweig. Zwei Kritiker sprächen vorschnell von Thomas Manns Antisemitismus, meint Volkmar Hansen (in: ders.: Thomas Manns Heine-Rezeption. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 145f.): Hans Mayer: Der Repräsentant und Märtyrer. Konstellationen der Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971 (Edition Suhrkamp; 463), S. 98 und Klaus Schröter: Positionen und Differenzen. Brecht, Heinrich Mann, Thomas Mann im Exil. In: Akzente 20 (1973), S. 521.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

fuhligkeit und Unverständnis verleiten Thomas Mann zu Taktlosigkeiten, wenngleich eingeräumt werden muß, daß auch Lessings Beschimpfungen geschmacklos sind. Im Zorn auf Theodor Lessing verliert Thomas Mann das Maß. Indem er Theodor Lessings antisemitisch anmutende Ausuferungen auf diesen selbst anwendet, läuft er Gefahr, seinerseits des Antisemitismus bezichtigt zu werden.31 Thomas Mann will hier als Philosemit eingreifen. Der Selbsthaß eines Juden empört ihn jedoch. Die jüdische Herkunft hält der Schriftsteller fur etwas Besonderes, Wertvolles, wofür sich kein Jude zu schämen brauche. Selbsthaß ist der schlimmste Vorwurf, da er in Thomas Manns Sicht Feigheit, Verrat, Mangel an Redlichkeit gleichkommt. Wie er selbst sich zu seinem Protestantismus bekennt, so fordert er auch von einem Juden, zu sich zu stehen. In diesem Kontext ist an die mustergültige Figur des Sammet zu erinnern, die ihre Herkunft nicht verleugnet und die Herausforderung des Schicksals mutig annimmt. Unbedacht verübelt Thomas Mann hier einem Juden Minderwertigkeitskomplexe und Selbstverachtung ohne zu bedenken, daß eine Minderheit unter dem erstickenden, zweitausendjährigen Druck einer feindlichen Mehrheit verständlicherweise dazu neigt, ja dazu getrieben werden kann, mit sich selbst zu hadern. Assimilation ist auch der Wunsch, wie die anderen zu sein, eine ständige Gratwanderung zwischen Selbstaufgabe und Selbstwerdung. Ein unbeholfener Philosemit verurteilt hier leichtfertig den vermeintlichen Antisemitismus eines Juden und beweist, wie sehr er noch Sohn einer Zeit ist, die die reale Situation der Juden völlig verkennend, ungerecht und unreif reagiert. Thomas Mann wird Theodor Lessing bis zu dessen Tod ebenso hartnäckig wie gehässig beschimpfen.32 Diese Überreiztheit in der Auseinandersetzung ist auch auf einen Kampf zurückzuführen, der tiefer wurzelt. Es geht um Kunst und Literatur überhaupt. Herr Lessing, heißt es, gehört zu jenem heute weit verbreiteten Schlage von Literaten, welche Wert und Würde der Literatur nach ihrer eigenen - freilich unachtbaren - Person beurteilen und denen darum der Ehrenname des Literaten zum Schimpfwort geworden ist, das sie einander in den Journalen nachrufen und das keiner auf sich sitzen lassen will. (XI, 720)

Ästhetizismus und Bellezza à la D'Annunzio hat Thomas Mann von jeher abgelehnt. Zum Teil war dies auch eine Fehde gegen den eigenen Bruder, vielleicht sogar gegen sich selbst, gegen das Bohèmehafte und alles Dilettantische, das nach Thomas Mann jeden Künstler zutiefst gefährden kann. Alle Zweifel, die er als angehender Dichter sich selbst, seinem künstlerischen Ehrgeiz und der Kunst 31

32

Auch Martin Buber verteidigt Samuel Lublinski gegen Theodor Lessing, gibt Thomas Mann aber ganz und gar unrecht. So in einem Briefentwurf, den Volkmar Hansen zitiert, in: Thomas Manns Heine-Rezeption (Anm. 30), S. 148. Nach Thomas Manns Meinung hatten die Schriften Theodor Lessings den Weg zur nazistischen Ideologie geistig vorbereitet, obgleich auch Theodor Lessing eigentlich ein Gleichgewicht zwischen Natur und Geist anstrebte. Thomas Mann ist ungerecht und mißversteht Theodor Lessing.

2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

69

überhaupt gegenüber hegte und hegen mußte, sprechen hier mit. Die gleichen Zweifel plagen ihn aber auch noch, als er schon berühmt ins Kreuzfeuer der Kritik gerät und die niederschmetternde F/orenza-Rezension des namhaften Kritikers Alfred Kerr erscheint. Von Moden und neuen Strömungen läßt sich Thomas Mann leicht verunsichern, in Frage stellen. Er muß sich immer wieder neu behaupten. Seit dem Frühwerk verteidigt er eine strenge, hohe Auffassung von der Kunst, die des intensiven Arbeitens, des gründlichen Denkens und des Kontaktes mit dem Leben bedürfe, ja aus ihm schöpfen müsse. Ein Konvolut von Notizen aus dieser Zeit bezeugt das fortgesetzte Grübeln über Geist und Kunst, um die eigenen Auffassungen von Literatur zu überprüfen, ggf. zu berichtigen und Bilanz zu ziehen. Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller, der Künstler im weitesten Sinne, der entweder das Beste verkörpert oder aber ins Schlimmste abzugleiten droht. 2.2.

V o m jüdischen Geist

In seiner Notiz über Heine aus dem Jahre 1908 bezieht sich Thomas Mann ausdrücklich auf Heinrich Heines Schrift Über Börne, in der Heine dem jüdisch-christlichen »Nazarener-Typ« (X, 839) den heidnischen Hellenen 33 gegenüberstellt. Platonisches (als schon vor-christlicher Spiritualismus) wird dem Heidnischen, »Sentimentales« dem Naiven, 34 Dionysisches dem Apollinischen, d. h. Kultur der Natur entgegengesetzt. Mit Heinrich Heine wird gefragt, »ob nicht vielleicht die harmonische Vermischung beider Elemente, des Spiritualismus und des Griechentums, die Aufgabe der gesamten europäischen Zivilisation sei [...]« (X, 839). Der moderne Künstler, meint Thomas Mann, habe beides in sich zu tragen und gleiche deshalb einer Mischung aus Clown und Luzifer: 35 Mit dem Clown sei der mimetische Trieb, das spielerischkindisch Kindliche, die Spielmann- und Bänkelsängergrimasse des Künstlers gemeint, während die luziferische Komponente Klugheit, geistige Schärfe heiße, ohne die der Künstler ein Dilettant bleibe. Den solchermaßen mit Geist und Herz begabten Künstler bezeichnet Thomas Mann mit Heinrich Heine voller Wertschätzung als den »Literaten«, den Mann der Feder, den intellektu33

34

35

In diesem Punkt ist Heinrich Heine noch vor Friedrich Nietzsche der geistige Lehrmeister des Autors. Thomas Mann greift mit Stolz die von Heine eröffneten Perspektiven über den Gegensatz zwischen Geist und Kunst auf und bestätigt das von Heinrich Heine fixierte Ideal, »die Aufgabe der gesamten europäischen Zivilisation« sei »die harmonische Vermischung beider Elemente, des Spiritualismus und des Griechentums [...]« (X, 839). Thomas Manns Notizen zitiert Hans Wysling: »Geist und Kunst«. Thomas Manns Notizen zu einem Literatur-Essay. Ediert und kommentiert von Hans Wysling. In: Paul Scherrer / Hans Wysling: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern, München: Francke 1967 (Thomas-Mann-Studien; 1), S. 175, Notiz 49, S. 176, Notiz 214 und S. 218. Ebd., S. 130, Notiz 59.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

eilen Dichter: »[...] un rossignol allemand qui a fait son nid dans la perruque de M. de Voltaire [,..]«. 36 2.2.1. Jüdische Intellektualität Mit einer solchen Auffassung opponiert Thomas Mann entschieden gegen die «rationalistischen, vitalistischen sowie chauvinistischen Modeströmungen, die sich in Deutschland ausbreiten, die Vernunft und Geistigkeit im Namen einer modischen Lebensanbetung und eines Heidentums neuester Prägung verurteilen. Dieses Heidentum, aus einer oberflächlichen Lektüre Friedrich Nietzsches gespeist, hat es auf jegliche Form von Verstand, von »Zivilisation« abgesehen, die als Gegensatz zur Kultur, zum deutschen Gemüt empfunden wird. Deshalb ruft Thomas Mann aus: Gott Lob, daß ich kein Jude bin. Man würde sonst sofort sagen: Natürlich, drum auch! - Ich habe dafür ein wenig romanisches Blut, das in mir gegen die antiliterarische Simpelei protestiert.37

Gilt Literatur in den deutschtümelnden Kreisen als Geschäft der Juden, so gibt es dafür teilweise soziologisch triftige Gründe; im Wilhelminischen Deutschland genießt der Dichter nicht gerade das beste Ansehen, ganz anders als der preußische Offizier, der Grundbesitzer, der Ministerialrat, der Universitätsprofessor. Zu diesen angesehenen Berufen haben die Juden de facto keinen Zugang.38 Daher sind viele von ihnen freiberuflich, vor allem in den Künsten, in Literatur und im Journalismus, tätig.39 Das erklärt teilweise das vorschnelle Pauschalurteil und weitverbreitete Klischee, die Literatur sei fest in jüdischer Hand. Was solche Vorstellungen nährt, ist die Tatsache, daß mit der Entstehung großstädtischer Ballungszentren die Medien und die Presse an Einfluß gewinnen und den Juden erstmals Resonanz verleihen. Dies ist ein Novum in Deutschland. Wenn die Juden in der Welt der Künste und Literatur auffallen, dann entspricht dies einer neuen Sachlage, die diese berufliche Orientierung fordert, da der jüdischen Minderheit viele andere Bereiche weiterhin verschlossen blieben. Statt den Juden nun zugute zu halten, daß sie jene Berufe 36

37 38

39

»[...] eine deutsche Nachtigall, die ihr Nest in die Perücke des Herrn von Voltaire gebaut hat.« Ausdruck Heinrich Heines, mit dem er sich selbst bezeichnet: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Klaus Briegleb. München, Wien: Hanser 1976, Bd 11, S. 518. Thomas Mann zitiert bei Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 158, Notiz 11. Die Juden vertreten 1 % der Gesamtbevölkerung und bilden 10 % der gebildeten Oberschicht. Ernest Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte u. Parlamentarier in der monarchischen Zeit. 1848-1918. Tübingen: Mohr 1968 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 19), S. 67. Ebd. - Die Juden stellen 8% aller Schriftsteller und Journalisten, zudem hatten diese

Berufe in Deutschland keineswegs das hohe Ansehen wie in den romanischen Ländern.

2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

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verlassen, zu denen sie einst gezwungen und in die sie regelrecht eingekerkert worden waren, erwachsen ihnen neue Vorwürfe. Die vereinfachenden Pauschalurteile bestätigen die tradierte Vorstellung, die Juden verfugten in besonderem Maße über intellektuelle Gaben wie Abstraktion und Verstandesschärfe.40 Der »Intellektualismus des jüdischen Volkes«, schreibt Werner Sombart, sei »das Vorwalten der geistigen Interessen und geistigen Fähigkeiten vor den körperlichen (manuellen). Bei den Juden >L'intelligence prime le corpskünstlerischKünstlerischedeutsche Tragödiedeutsche Novelle< zu nennen.51

Thomas Mann brandmarkt die Wagnerei und Deutschtümelei der schwärmenden Epigonen, der Handlanger einer plebejisch-pöbelhaften, völkischen Kunstrichtung, die sich in Platitüden suhlt. Er wundert sich, daß es in Friedrich Nietzsches Heimat nötig sei, an den Zusammenhang von Lyrik und Kritik, Leiden und Polemik zu erinnern. Nietzsche, Modell des Literaten und des aufgeklärten Freigeistes, sei kein selbstzufriedener, bornierter Naturanbeter. Mit der Überzeugung, daß jeder Fortschritt, jede ethische Veredlung aus dem Geist der Literatur komme, 52 wird der Goethefreund und Philantrop Beccaria angeführt, der mildernd auf die Grausamkeit der Justiz eingewirkt habe. Literatur, sagt Thomas Mann, sei eine Notwendigkeit, weil sie Vorurteile und dumme Werturteile abschwäche, weil sie Zweifel, Gerechtigkeit und Toleranz lehre.53 Psychologie, kritischer und polemischer Geist, diese Kennzeichen der Literaten, seien höchst nützlich, ja geradezu unentbehrlich:54

48 49 50

51 52 53 54

Ebd., S. 168, Notiz 29. Ebd., S. 168, Notiz 28. Thomas Mann nennt Bruno Frank, Friedrich Gundolf, Karl Wolfskehl, Georg Brandes, Maximilian Harden, Lion Feuchtwanger, Wilhelm Speyer, Max Reinhardt. Thomas Mann zitiert in Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 204, Notiz 98. Ebd., S. 171, Notiz 41. Ebd., S. 164, Notiz 20 und Thomas Mann (X, 65). Diese Verteidigung der Literatur gemahnt an die Lektion, die die Gestalt Lisaweta Iwanowna der Haupt- und Titelfigur Tonio Kröger in der gleichnamigen Erzählung erteilt.

2. Jüdischer Geist im Zwielicht der Vorurteile

73

Notwendigkeit der >Literatur< zumal bei uns: Erweckung des Verständnisses fur alles Menschliche, Sittigung, Veredelung, Besserung. Schwächung dummer Überzeugungen und Werturteile. Skeptisierung. Humorisierung.[...] Erziehung zum Zweifel, zur Gerechtigkeit, Duldsamkeit.55 Der Literatur erwachse in Zeiten, wo Primitives, Animalisches Mode werde, die rettende, ausgleichende Funktion, den Geist zu bewahren, sonst steuere die Menschheit auf ihr Ende zu. Mit der Verteidigung von Kultur und Geist entwirft Thomas Mann ein erwünschtes Idealbild; kritische Intelligenz und handelnde Güte machen aus dem Literaten einen Künstler und Heiligen zugleich: Als Wissender und Richtender den Propheten des Alten Bundes verwandt, stellt er [der Literat - J. D.] in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar als irgendein Anachoret einfacherer Zeiten.56 (X, 69) Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine, die Tiefe mit witzigem und sprühendem Geist verbinden, Künstler des geschliffenen Wortes und wagemutige Bannerträger der Idee sind, geschickt die Lyra spielen und den Bogen spannen, 57 sind fur Thomas Mann um 1908 die Vorbilder einer erstrebenswerten deutschen Kunst. Über Heinrich Heine heißt es bewundernd: »welch eine denkmalswürdige Erscheinung dieser Künstlerjude unter den Deutschen [...]« (X, 839). Das Vorbild Heine zeigt, daß gerade Jüdisches zur Auszeichnung und Verfeinerung beitragen soll, so wie Romanisch-Lateinisches Thomas Manns Wesensart erhöhe. 58 55 56

57

58

Thomas Mann zitiert in Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 164, Notiz 20. Vgl. ebd., S. 184f., Notiz 62 und S. 168, Notiz 31: »Savonarola in >FiorenzaIch mag auch alle diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit dem schwarzen Tierblick nicht leiden. Diese Romanen haben kein Gewissen in den Augen [...] Nein, ich gehe nun ein bißchen nach Dänemark«< (VIII, 306). 109 Thomas Mann zitiert eine Passage von Romain Rolland aus »Jean-Christophe«, wo von Freidenkern die Rede ist: Ihre Denkfreiheit bestünde darin, die der anderen im Namen der Vernunft zu verbieten, da sie an die Vernunft glauben würden wie die Katholiken an die Heilige Jungfrau.

3. Kampf dem Radikalismus

85

Ja, wir sind, wir waren, wir bleiben die Schulmeister, die Philosophen, die Theosophen, die Religionslehrer für Europa und für die ganze Welt. [...] Wir [...] können eben um deswillen kein dummstolzes, tierisch zusammengeschartes und verklettetes Volk sein, das ähnlich den wilden Gänsen >im römischen großen A fliegtin jeder Versammlung zu einer Proberevolution oder Eintagsrepublik kristallisierte (XII, 2436)

Durch solche fadenscheinige Gedankenffihrung wird Politik zum bornierten Glauben an Schlagwörter herabgesetzt. Ist Intellektualität für den Autor ihrem Wesen nach Zweifeln und ständiges In-Frage-Stellen, so werde sie, wenn sie sich mit der Politik einlasse, zu einem versklavenden, obskurantistischen Glauben (XII, 494). 110 Über »die neue politische Religion« (XII, 589), die Mode wird und Schule macht, könnte Thomas Mann mit Friedrich Nietzsche sagen: »Wir Nordländer [...] in Hinsicht auf unsre Begabung zur Religion: wir sind schlecht fur sie begabt.« 111 Dem falschen Glauben »an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt« (XII, 504) stellt Thomas Mann den Glauben »an die Liebe, an das Leben und an die Kunst« (XII, 504) gegenüber. Dem mittelalterlichen, lateinischen, »gotischen Menschen« (XII, 496)' 12 wird der deutsche »>Goethe'sche Mensch«< (XII, 500) 113 entgegengesetzt. Die ganze Argumentation läuft darauf hinaus, die Rasse zum Universalprinzip zu erheben. Dem deutschen Demokraten, den der Schriftsteller den inneren Feind nennt, bleibe ein letzter Ausweg: Er müsse zeigen, daß auch er ein Deutscher sei und in der Lage, eine Erneuerung herbeizufuhren, nach dem Motto: »[...] ich lebe euch vor, was ihr werden sollt!« (XII, 552) Aber Thomas Mann ist unerbittlich: Da das Politische dem Germanischen von Natur aus fremd sei, wird dem Demokraten jegliches Deutschtum abgesprochen. Die Äußerung »Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte« (XII, 550) übernimmt Thomas Mann von Paul de Lagarde und fügt hinzu: Man berufe sich auf den Spruch! Man erkläre: Nein denn, ich bin nicht deutsch, ich bin, obgleich deutschen Geblütes, meiner geistigen Grundverfassung, meiner gesamten Kultur nach Franzose und verhalte mich demgemäß. (XII, 550)

Und weiter: Dieser deutsche Demokrat ist nicht das Vaterland; ist es nicht nur nicht, sondern hat es mit seinem geistespolitischen Kultus des Fremden dahingebracht, daß er keinen Gedanken, keinen Begriff, kein Gefühl mehr mit dem eigenen Volkstum gemeinsam hat. (XII, 553) 110

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»Ich fürchte, der gotische Mensch ist kein Savonarola [...]« (ΧΠ, 496). Im Verständnis des Autors ist der heutige gotische Mensch nur ein fanatischer, bornierter Literat. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Maxime 48. Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1966, Bd 2, S. 612. »Der gotische Mensch ist der Mensch der neuen Intoleranz [...], des Glaubens an den Glauben; [...] der >fanatische< Mensch« (XII, 496). Gern nimmt Thomas Mann Martin Luthers Spruch auf: »>Christus bekümmert sich nicht um Politik< [...]« (XII, 519).

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Dem Fortschrittsmythos stellt der Nationalist das unwandelbare Prinzip der Rasse gegenüber. Sie wird zur Weltanschauung, die alles entschlüsselt und nur Ausnahmen zuläßt, die die Regel bestätigen. So könne es beispielsweise geschehen, daß gutes Blut enttäusche wie im Fall des Demokraten Heinrich Mann. Umgekehrt sei Houston Stewart Chamberlain durch sein Denken und sein Engagement zu einem Wahldeutschen geworden (XII, 562). Rasse faßt Thomas Mann nicht als den alles entscheidenden Faktor auf, der Determinismus sei nicht absolut. Dennoch hält eine solche Auffassung am Joch der Rasse fest. Es bestehe zwar die Möglichkeit, sich von seiner Art zu entfernen, abzuweichen, durch imitatio, durch Nachahmung anderer Modelle, so daß Mimikry und Identifikationsprozesse den Erbanlagen entgegenwirken. Der Autor meint aber, ein echter Deutscher könne gar nicht anders als durch seine ganze Natur deutsches Wesen ausstrahlen, sonst werde er aus der Volksgemeinschaft, aus dem Volkskörper ausgestoßen. Dichotomie Falsche Schonung wäre fehl am Platze. Es gibt keinen Grund, Thomas Manns Einstellung zu verbergen. Sie ist charakteristisch für die Zeit. Der Autor wird sich von solchen Auffassungen lösen und darüber hinauswachsen. Doch zunächst enthüllt die Analyse des Kriegsbuches einen primitiven Manichäismus mit ultranationalistischen Schablonen, der direkt zum Rassismus reinsten Wassers führen könnte. Bemerkenswert ist jedoch Thomas Manns Bestreben, den Schlingen des Antisemitismus zu entkommen, der aus der verteidigten Ideologie folgen müßte. 114 Besonders auffallig und bedenklich ist Thomas Manns ständiger Verweis auf Paul Anton de Lagarde. 115 Lagarde ist kategorisch, er hegt keinen Zweifel daran, daß die Juden ein zersetzendes Element sind: »[...] mit ehrenwerten Ausnahmen, welche die Regel nur bestätigen, sind sie trotz aller Bildung Juden geblieben [...]«.' 1 6 Lagarde bekämpft die Ideen von 1789, die er zu »jüdischkeltischen Theoremen« des Egalitarismus, 117 des Rationalismus, des Talmuds abstempelt. In Lagardes Sicht wird der Apostel Paulus, »auch nach seinem

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Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Fjodor Dostojewski, Paul Anton de Lagarde, Werner Sombart u. a. m., auf die sich Thomas Manns Gedankenfuhrung stützt, lassen ihn in eine zweifelhafte Nähe zum Antisemitismus geraten. Paul Anton de Lagarde, ursprünglich Bötticher (1827-1891), war Orientalist, Autor religiöser und politischer Essays. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verliehen ihm völkische Zeitschriften eine mythische Aura, als sie ihn zum Propheten des Nationalismus proklamierten. Paul de Lagarde: Deutsche Schriften. Jena: Eugen Diederichs 1944, S. 329. Über Paul de Lagarde vgl. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1979 (Fischer-Taschenbücher; 3429), S. 307.

3. Kampf dem Radikalismus

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Übertritte Pharisäer vom Scheitel bis zur Sohle«, 118 zum jüdischen Verderber. Überall in der Presse spürt Lagarde die Weltverschwörung von Juden, Jesuiten und Freimaurern auf. Hier zeigt sich einmal mehr, daß der Antisemitismus ein nach innen gerichteter, chauvinistischer, aggressiver Nationalismus ist. 119

3.2.

Der Stolperstein des Antisemitismus

Lagardes Volksreligion 120 prägt unverkennbar Thomas Manns Bekenntnisse eines Unpolitischen. Nur setzt eine solche Religion den Antipoden, das Fremde schlechthin, voraus. Das Jüdisch-Keltische, die römische Kirche, Jesuiten, Freimaurer, Kapitalismus und jüdische Weltverschwörung in einem sind für Lagarde Inbegriff des fremden und feindlichen Prinzips. Auch bei Thomas Mann zeichnet sich eine ähnliche Tendenz gegen den inneren oder den äußeren Feind ab, der aber einen anderen Namen trägt. Er heißt nämlich Zivilisationsliterat und kann Franzose, Engländer, Amerikaner sein, mag sogar in Deutschland auftreten. Nirgends aber wird von ihm gesagt, er sei ein Jude. Das ist bemerkenswert und muß Thomas Mann zugute gehalten werden. Klar ist, daß er dem Antisemitismus keinen Vorschub leisten will. Über das Frankreich der Dreyfus-Affäre macht sich Thomas Mann lustig. Das sei ein Schandmal auf dem Antlitz der Zivilisation: »Die Dreyfus-Affäre war ein geistreicher Zank und Stank, wie Deutschland, es ist wahr, bisher noch keinen hervorbrachte« (XII, 180). Dies sei ein Beweis mehr für das Heuchlerische einer humanitätsduselnden Zivilisation. Thomas Mann verwirft entschieden jede Form des Antisemitismus und verhöhnt den antisemitischen Schreihals mit »Politik und Halbbildung [...]« (XII, 113). Der Antisemit »steckt die Daumen in die Weste und ahmt gassenhumoristisch einen Juden nach [...] Er war die Verzerrung des Volkes selbst [...]« (XII, 113). Soweit der Kommentar. Auch Fjodor Dostojewskis antisemitische Äußerungen, wonach im Falle einer Weltkatastrophe allein die »Juden natürlich [...] den Kopf nicht verlieren und wieder oben auf sein werden, so daß der Krach ihnen sogar zugute kommen dürfte« (XII, 528), weist Thomas Mann ausdrücklich zurück: »Die europäische Katastrophe [...] ist rund zwei Jahrzehnte später gekommen, als Dostojewski weissagte. [...] Die Fabrikanten und die Juden indessen haben nicht versagt [...]« (XII, 529).

118 119

120

Lagarde, Deutsche Schriften (Anm. 116), S. 124. Léon Poliakov: Histoire de l'antisémitisme. Bd 4: L'Europe suicidaire 1870-1933. Paris: Calman-Levy 1977, S. 163. Die Nation wird zur mythischen Einheit erhoben. Theologie und Politik verschmelzen miteinander. Lagardes Denken steht in einer Tradition, die von Herder über die Romantik bis zum mystischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts führt. Dazu Jean Favrat: La Pensée de Paul de Lagarde, 1827-1891. Contribution à l'étude des rapports de la religion et de la politique dans le nationalisme et le conservatisme allemands au XIXème siècle. Paris: Champion 1979.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik

Ein Rückblick auf die Kriegsjahre 1914-1918 erlaubt, solche Stellungnahmen richtig einzuschätzen. Zu Beginn der Feindseligkeiten herrscht Begeisterung auf allen Seiten. Die Juden wollen mit dem breiten Volksstrom verschmelzen 121 und sind bereit, ihr Blut für das Vaterland zu vergießen. Die Antisemiten halten sich vorläufig zurück, einige auch in der Hoffnung auf die Hilfe des - wie sie meinen - internationalen Judentums. Stellvertretend sei an Erich Ludendorffs Appell »Zi meine libe Jidden in Poilen« 122 erinnert. Aber schon 1915 gewinnt die antisemitische Strömung wieder die Oberhand. 1916 häufen sich Denunziationen über angebliche jüdische Drückeberger, und am 11. Oktober befiehlt das Kriegsministerium sogar die Zählung der mobilisierten Juden. 123 Erst vor diesem Hintergrund bekommt Thomas Manns Satz über die Hilfe der Fabrikanten und der Juden seinen vollen Wert. In einer Zeit, wo die öffentliche Meinung den Juden keinen Dank erweist und sie im Gegenteil drangsaliert werden, 124 stellt ihnen Thomas Mann ein Zeugnis guten Benehmens aus. Mit einem Zitat des dänischen Schriftstellers Johannes V. Jensen deutet Thomas Mann auf das Zusammenprallen zweier Schicksale, des jüdischen und des deutschen, hin. Er wiederholt seine früheren Überzeugungen zugunsten der Assimilation und einer glücklichen Symbiose (XII, 470). Dabei steht er Hermann Cohen 1 2 5 und den Liberalen in der Tradition Theodor Mommsens nahe, der erklärt hatte, »warum dem germanischen Metall für seine Ausgestaltung einige Procent Israel beizusetzen waren.« 1 2 6 Thomas Mann betrachtet mit Wohlwollen seine eigenen Kinder als ein Modell »der europäischen Mischrasse«, wie er an seinen Freund Ernst Bertram schreibt. 127 Mögen solche Stellungnahmen - Karikatur des Antisemiten, Polemik gegen die Dreyfus-Affare, Genugtuung den Juden gegenüber, die an deutscher Seite kämpfen - Thomas Mann auch deutlich von seinen antisemitischen Mentoren abheben, so fragt sich doch, ob die gute Absicht ausreicht, um bedenkliche Anleihen bei Fjodor Dostojewski und Paul Anton de Lagarde zu tilgen. Freilich nimmt in der ungeheuren Gedankenfülle der Betrachtungen eines Unpolitischen die Judenfrage einen sehr geringfügigen Platz ein, sie steht auch keineswegs im Zentrum. Die Karikatur des Antisemiten dient hauptsächlich zur Illustration des angeprangerten furor politicus in Frankreich und die Dreyfus121 122 123

124 125

126 127

Poliakov, Histoire de l'antisémitisme, Bd 4 (Anm. 119), S. 161. Ebd., S. 162. Ebd., S. 168 und Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands (Anm. 38), S. 117. 12.000 deutsche Juden starben im ersten Weltkrieg an der Front. Hermann Cohen, Philosoph (Neukantianer), verteidigt das Ideal nationaler Assimilation der Juden bei Beibehaltung ihrer Religion. So in: Ein Bekenntnis in der Judenfrage. In: Boehlich, Der Berliner Antisemitismusstreit (Anm. 6), S. 126. Ebd., S. 220. Brief vom 25.12.1917. Thomas Mann/Ernst Bertram: Briefe aus den Jahren 1910-1955. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens. Pfullingen: G. Neske 1960, S. 53.

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Affäre gleichsam, um es auf die Anklagebank zu setzen. Das gute Zeugnis, das den Juden großzügig ausgestellt wird, fällt knapp aus im Vergleich mit den langen, Fjodor Dostojewski entnommenen Zitaten. Die Juden mußten genannt werden, weil von Krieg, Patrioten und Feinden Deutschlands die Rede ist. In diesem Kontext die Juden zu verschweigen, hieße womöglich, sie zum feindlichen Lager zu rechnen. So werden sie, wenngleich nur nebenbei, erwähnt. Vielleicht glaubt Thomas Mann auch, sich dadurch um so freier äußern zu können. Eigentlich befindet sich Thomas Mann in einer heiklen Situation. Er macht sich zum Apologeten eines beinahe biologisch bedingten Deutschtums. Seine Überzeugung müßte direkt in den Antisemitismus fuhren, wohin er aber nicht will. Er lebt in engstem Kontakt mit jüdischen Kreisen und wird von bösen Zungen schlichtweg zum Juden abgestempelt.128 Vielleicht rührt auch daher die bewußt flüchtige, oberflächliche Art, sich des Problems zu entledigen, indem er der Judenthematik einen winzigen Obolus zollt. Er will seinen Leser und vor allem sich selbst davon überzeugen, daß er der Falle des Antisemitismus entgeht. Der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen steht im übrigen derart zwischen den Fronten, daß er - zu kunstfertigem Lavieren gezwungen - Zitate antisemitischer Färbung mit völlig anders orientierten abzugleichen sucht. So fuhrt er Heinrich Heine, György Lukács oder Georg Brandes (XII, 351) an, freut sich über die Wertschätzung seines Werkes durch Gustav Mahler (XII, 319) oder einfach durch einen »klugen Juden« (XII, 104). Zugleich betont er aber seinen Vorbehalt gegen den »Juden Heinrich Heine« (XII, 88) und empört sich über grobe Beschimpfungen eines französischen Generals, der »sich obendrein Lévy« nennt (XII, 451). Thomas Mann will zwar keineswegs dem Antisemitismus beistimmen, möchte aber auch nicht für einen Juden gehalten werden, und das nicht allein »der Wahrheit halber« (XII, 88). Ein solcher Balanceakt ist ohne Kunstgriffe unmöglich zu bewältigen.

3.3.

»Welsche« Zivilisation

3.3.1. Das Trojanische Pferd Durch das ganze Buch hindurch verfolgt Thomas Mann unerbittlich den verteufelten Feind, ohne ihn allerdings recht beim Namen zu nennen. »Zivilisationsliterat« ist nur ein Abstraktum für die Vielgestaltigkeit des Bösen. List oder Vorsicht, der Pamphletist möchte seinen Attacken keinen allzu persönlichen Ton geben. Sie sollen allgemein, sachlich, unpersönlich bleiben. 128

Adolf Bartels' in böswilliger Absicht verbreitete Behauptung aus dem Jahre 1910, die Brüder Mann seien Juden, ist schon erwähnt worden. »Ich bin ja jetzt Jude«, schreibt am 11.11.1913 Thomas Mann ironisch an den Bruder Heinrich (in: Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949 [Anm. 19], S. 105 und 297). Ebenfalls 1913 werden dieselben Unterstellungen in den Semi-Kürschner (Anm. 58), S. 293 aufgenommen.

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Er nimmt einen besonderen Menschentypus aufs Korn. 129 Und wenn der Bruder Heinrich zur Zielscheibe wird, wie die mittelbaren und unmittelbaren Angriffe durch Zitate aus dessen Zola-Essay zeigen, 130 so sind doch die Betrachtungen eines Unpolitischen unternommen worden, lange bevor sich Thomas Mann selbst von seinem Bruder angegriffen fühlte. 131 Der Nachdruck, mit dem Heinrich Mann in den Vordergrund geschoben wird, ermöglicht, mit gebotenem Anstand manche Schläge auszuteilen: gegen den eigenen Bruder läßt sich freier, kritischer vorgehen, denn er ist ein alter ego. Die innere Zerrissenheit erklärt die Heftigkeit der Polemik. Heinrich Mann ist der Sündenbock, sein Name steht stellvertretend. 132 Der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen will es mit einem gleichwertigen Gegner aufnehmen: »jene Kleinen, Nichtigen, Spürnäsigen, [···] jenes Bedienten- und Läufergeschmeiß der Zeit [...] Sie sind nichts. [...] Ich verachte sie redlich« (ΧΠ, 21). Noch deutlicher heißt es: Indem ich vom deutschen Zivilisationsliteraten spreche, dem sein nationales Beiwort so sonderbar zu Gesichte steht, spreche ich nicht vom Gesinde und Gesindel, dem mit irgendwelchem Studium, das man ihm widmete, allzu viel Ehre geschähe; nicht also von jenem schreibenden, agitierenden, die internationale Zivilisation propagierenden Lumpenpack [...] Ich spreche von den >edlen< Vertretern des Typus, - denn solche gibt es. (XII, 56f.)

Thomas Mann geht es zunächst einmal gar nicht um Personen, sondern um die Ideen, die sie vertreten. In diesem Meinungsstreit läßt er den Bruder in der Hauptrolle des Gegners auftreten. Dabei verleiht er dem Bruderkampf einen symbolischen Wert in einem Deutschland, 133 das er sich als Klein-Europa vorstellt. Heinrich verkörpert den feindlichen Bruder, den Thomas bekämpft und dem er sich in vieler Hinsicht sehr nahe fühlt. An der unübersehbaren »Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands« (XII, 68) habe er, Thomas Mann, auch selbst teil, erklärt er in Einkehr (XII, 69), weil er als »Schriftsteller, Prosaist und Romanschreiber« (XII, 70) eher ein europäi129

130 131 132

133

»Ich schreibe an einem kleinen selbst- und zeitkritischen Buch, das von Kunst und Politik handelt und hauptsächlich gegen den detestablen Typus gerichtet ist, den ich den >Civilisationsliteraten< nenne.« Thomas Mann am 17.6.1916 an Korfiz Holm. In: Mann, Briefe. Bd 1 (Anm. 27), S. 127. Erschienen 1915 in den »Weißen Blättern«. Mann, Briefe an Paul Amann (Anm. 106), S. 16. Trotz dieser bereits 1985 durch den Verfasser erfolgten Differenzierung hat die Sekundärliteratur zu Unrecht bis etwa 1994 im Zivilisationsliteraten immer nur Heinrich Mann ausgemacht. Vgl. Hermann Kurzke: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. 2. Aufl. Stuttgart: Kröner 1995, S. 690ff. oder André Banuls: Thomas Mann und sein Bruder Heinrich. Stuttgart: Kohlhammer 1968 (Sprache und Literatur; 44), S. 24ff. - Ein Umschwung zeichnet sich erst 1994 ab: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M.: Fischer-TaschenbuchAusgabe 1997 (Fischer-Taschenbücher; 13885), S. 222ff. Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949 (Anm. 19), S. 112.

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scher Intellektueller denn ein deutscher Dichter sei (XII, 70). Seine lateinamerikanische Abstammung mache ihn ohnehin dem Feind verwandt. 3.3.2. Romanisches und Jüdisches Bei den rassenideologischen Anklängen, und seien es die eines Lagarde, die Thomas Manns Argumentation - wie oben ausgeführt - nolens volens eine ätzende Schärfe verleihen, nimmt es nicht Wunder, wenn der angefeindete Typus des Literaten das Fremde schlechthin vertritt. Der Schriftsteller ist bemüht, die Spuren zu verwischen und seinem Literatenbild möglichst unbestimmte Züge zu verleihen. Muß aber ein Name fallen, dann weist der Schriftsteller auf Heinrich oder auf den anderen geistigen Doppelgänger und feindlichen Bruder im eigenen Ich. Mit dem Hinweis auf die Abhandlung Über Geist und Kunst in den Betrachtungen eines Unpolitischen wird klar, worum es geht. Um 1909 noch hatte Thomas Mann der Literatur eine Lanze gebrochen 134 und den Literaten beinahe als Verkörperung des Heiligen gepriesen. Dem Jüdischen kam eine kulturfördernde Rolle zu, und es wurde in die Nähe des Lateinisch-Romanischen gerückt. Jetzt kommentiert Thomas Mann mit Selbstspott: »Kein Zweifel, ich befand mich im richtigen Boot; ich hatte den Anschluß, weiß Gott!« (XII, 101) In den Kriegsbetrachtungen werden die einstigen Überzeugungen umgepolt. Der Dythyrambus wird zum Pamphlet. Es heißt immer noch: »Der römische Westen ist literarisch [...]« (XII, 51). Doch während im Essay Deutschlands unliterarisches, literaturfeindliches Gebahren bedauert wurde, gereicht es jetzt »der deutschen Welt, die, was sie sonst nun sei, [... ] « (XII, 51 ) zu großer Ehre. Deutschland steht nun als das »unliterarische Land« (XII, 49) »wortlos« (XII, 50) da, das seinen bedeutenden »unartikulierten Widerstand« (XII, 50) gegen die »wortliebende und wortgläubige« (XII, 50) Zivilisation leistet. Jüdisches und Romanisches rücken auch hier wieder zusammen. Der Pamphletist gesteht, er sei der feindlichen Literatur so nahe gewesen, daß »Leute, die sich nicht anders zu raten wußten [...] einen Juden aus mir machen wollten, - wogegen ich der Wahrheit halber protestieren zu sollen meinte« (XII, 88). 135 Angedeutet wird die romanische Herkunft. Die Parallele zum Jüdischen besteht immer noch. Thomas Manns Bild vom jüdischen Literaten bleibt hier verschwommen und tritt nicht so deutlich hervor wie im »Literatenartikel« (XII, 101) Über Geist und Kunst. Erst mittelbar und allmählich, durch Rückverweise und mehr 134

135

Notizen Thomas Manns in Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 158, Notiz 11. Thomas Mann zog gegen die »Literaturfeindschaft«, »>Literaturfeindlichkeit«< unter den Deutschen zu Felde und hob den jüdischen Geist, das »Volk des Buches« lobend dagegen ab. Ebd., S. 157, Notiz 10. »Gott Lob, daß ich kein Jude bin. Man würde sofort sagen: Natürlich, drum auch! - Ich habe dafür ein wenig romanisches Blut, das in mir gegen die antiliterarische Simpelei protestiert.« Ebd., S. 158, Notiz 11.

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oder weniger deutliche Indizien läßt es sich herstellen. War um 1909 der »Künstlerjude« Heinrich Heine Prototyp des Literaten im guten Sinne, so taucht er jetzt nicht mehr ausdrücklich als Jude auf. Dafür aber tadelt Thomas Mann Heines Leiden an Deutschland als falsche, »exotistische Liebe« (XII, 562) aus der Ferne: »Ja, wie Heinrich Heine dorthin ging, um Deutschland romantischerweise - aus der Entfernung - lieben zu können [...]« (XII, 562) Wiederum fungiert Heinrich Heine als Literat, diesmal aber als abschreckendes Beispiel fur einen lebensfremden, ästhetizistischen Idealismus mit leerem Pathos. In diesem kritischen Sinne angeführt wird auch der jüdisch-dänische Kritiker und Literaturwissenschaftler Georg Brandes (XII, 351), Verfasser eines Voltaire-Buches und Verteidiger der großen Ideen der Französischen Revolution. Maximilian Harden wird auf eine Art und Weise behandelt, die für die Betrachtungen eines Unpolitischen symptomatisch ist.136 Schon 1910 notierte Thomas Mann über Harden: »Der zum Politiker pervertierte Literat«.137 Maximilian Hardens Wandel vom anfanglichen Hurra-Patrioten zum Pazifisten im November 1915138 ist für Thomas Mann aufschlußreich. Im »Widerstreit zwischen Wille und Wirkung, Tendenz und Natur« (XII, 87) habe sich Maximilian Hardens Natur schließlich durchgesetzt. Im Buch der Betrachtungen eines Unpolitischen heißt es nun: [...] gleichsam über Nacht [wurde - J. D.] aus einem antidemokratisch-konservativmilitaristischen Saulus ein entente-christlicher Paulus [...], der sich den seit zwanzig Monaten bohrenden Stachel aus dem Fleische gerissen und endlich sich selbst gefunden hatte. >Bekehrung< - das ist nur ein anderes Wort für die Entdeckung seiner selbst [...]. (XII, 87)

»>Bekehrung«< (XII, 87) zur Politik wird als entlarvende Rückkehr Hardens zu seiner herkunftsbedingten Natur gedeutet. Saulus habe endlich zu sich gefunden. Das Bild hat Thomas Mann gewiß u. a. von Paul de Lagarde, der über den Apostel Paulus schreibt: »[...] der richtige Nachkomme Abrahams und auch nach seinem Übertritte Pharisäer vom Scheitel bis zur Sohle [,..].« 139 Für 136

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138

Maximilian Harden war ein zum Protestantismus konvertierter Schauspieler und Publizist, Bewunderer Bismarcks und Wilhelm II., Freund Walter Rathenaus. Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges begeisterter Nationalist und Patriot, schließlich Pazifist. Überlebte ein Attentat. Die antisemitischen Attacken im Semi-Kürschner gegen Maximilian Harden sind typisch fur den Stil der Verunglimpfungen: SemiKürschner (Anm. 58), S. 149ff. Notizen Thomas Manns in Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 217, Notiz 122. - In einem Brief vom 17.11.1912 an seinen Bruder Heinrich heißt es: »In all seiner Falschheit und Leidenschaft war er wieder faszinierend. Politik hin, Politik her, er bleibt einer der merkwürdigsten Zeitgenossen.« In: Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949 (Anm. 19), S. 101. Peter de Mendelssohn beschreibt ausführlich Maximilian Hardens Entwicklung in:

Der Zauberer (Anm. 13), S. 1067. 139

Lagarde, Deutsche Schriften (Anm. 116), S. 124.

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Thomas Mann ist und bleibt Maximilian Harden ein typischer Literat. Nicht einmal Hardens Name oder seine jüdische Herkunft werden erwähnt, ein charakteristisches Verfahren in den Betrachtungen eines Unpolitischen. Selbstverständlich wußte damals jeder Bescheid, daß es sich um Maximilian Harden alias Isidor Witkowski handelte, einen zum Christentum konvertierten Juden. Die »Bekehrung« ist in diesem Kontext eine beabsichtigte, mehrdeutige Anspielung, die Maximilian Harden treffen und der Lächerlichkeit preisgeben soll. Was bei Paul de Lagarde wortwörtlich »der richtige Nachkomme Abrahams« heißt und bei Thomas Mann sorgsam verschwiegen wird, schwingt nichtsdestoweniger mit. 3.3.3. Der feindliche Westen Die Überlappung von Jüdischem mit dem lateinisch-romanisch-katholischen Westen liegt in intellektueller wie in ideologischer Hinsicht bei der Art der Beweisführung in den Betrachtungen eines Unpolitischen auf der Hand. Schon lange beharrte Thomas Mann auf den Ähnlichkeiten zwischen Juden und Romanen, beispielsweise auf beider Sprachgewandtheit und dialektischer Geistesschärfe. Jetzt werden Themen aufgegriffen, die diese Gemeinsamkeiten noch deutlicher hervortreten lassen, obwohl die jüdische Komponente verschwiegen wird: Eudämonismus, materialistische Glücksphilosophie, weltweite Menschenliebe und der Geist der Aufklärung sind Thomas Mann ebenso verdächtig wie der Illuminismus, die internationale Verschwörung der Freimaurer, wobei sofort der Mythos des internationalen Judentums mit anklingt.140 Die Ideen der Revolution, die Menschenrechte und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz entsprechen dem Universalismus und dem Gerechtigkeitssinn, die auch der jüdischen Religion innewohnen. Es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn die verweltlichte Form dieser Ideale von nichtreligiösen Juden verteidigt wird und Frankreich als Mutterland der Revolution anziehend auf sie wirkt, wofür Heinrich Heine ein Musterbeispiel darstellt. Das »verhaltene Gefühl der Sympathie, ja der Dankbarkeit für die von der SPD geleistete Abwehrarbeit«141 gegen den Antisemitismus ist in der jüdischen Bevölkerung seit der Verschärfung der judenfeindlichen Agitation im Jahre 1878 selbstverständlich, ohne daß »unbedingt zunehmende Stimmabgabe für die Partei«142 zu 140

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Dies ist durchaus üblich in der antisemitischen Literatur. Internationales Freimaurertum und internationales Judentums sind eins. Hier sind v. a. die Hammerschriften zu erwähnen, die Schriften von Theodor Fritsch, dem Leiter des HammerVerlags. In »Das Verbrechen der Freimaurerei« von Alfred Rosenberg heißt ein Kapitel: Freimaurerei und Judentum. In: Alfred Rosenberg: Das Verbrechen der Freimaurerei. Judentum, Jesuitismus, Deutsches Christentum. 2. Ausg. München: Lehmann 1922, S. 53-91. Jacob Touiy: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar. Tübingen: Mohr 1966 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 15), S. 214. Ebd.

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verzeichnen wäre. Vor 1914 sind 39% der jüdischen Politiker Sozialisten. 143 Jüdische Intellektuelle, darunter auch »Söhne wohlhabender Familien« 144 tendieren zur SPD, wie etwa die Fälle von Theodor Lessing, 145 Samuel Lublinski 146 und Hugo Simon beweisen. »Nicht zufällig wandten die Antisemiten bereits zu Beginn des Blockwahlkampfes im Jahre 1906 das Wort >Judenschutzgruppe< auf die SPD an.« 147 Hinzu kommt, daß bereits um die Jahrhundertwende [...] jüdische Intellektuelle, die außerhalb Deutschlands geboren waren, wie Max Beer, Adolf und Heinrich Braun, Rudolf Hilferding, Eugen Léviné, Rosa Luxemburg, Alexander Parvus-Helphand und Friedrich Stampfer einflußreiche Positionen 148

in den linken Bewegungen innehaben. Jedenfalls gehört es sehr früh zu den beliebten Klischees der rechten Konservativen, daß »die meisten sozialdemokratischen Agitatoren Juden« 149 seien. Für die Anziehungskraft des sozialen Gedankenguts auf Juden hat Samuel Lublinski die folgende Erklärung gegeben, die Thomas Mann in vollem Einverständnis und mit Interesse gelesen haben mag: Diejenigen der modernen Juden, die zu den Sozialdemokraten übertraten, waren eigentlich von allen noch die konservativsten Juden. Sie ersehnten sich einen Ersatz für das Dogma und glaubten nun an den Zukunftsstaat. An Stelle des Talmud unterwarfen sie ihren Scharfsinn dem Dienste einer rechtlich-gesellschaftlichen Geschichtsauffassung. 1 5 0

Aus dem Zitat geht die Bedeutung des Religiösen hervor, das auch in verweltlichter und politisch abgewandelter Form weiterwirkt. Dies wird auch in den Betrachtungen eines Unpolitischen zu verstehen gegeben. Thomas Mann übernimmt mehrfach wörtlich Fjodor Dostojewskis Begriffe wie »kosmopolitischer oder richtiger, internationaler Radikalismus« (XII, 38f.), den der russische Autor bereits in Deutschland Wurzeln schlagen sieht. Thomas Mann greift zu Stichworten wie Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung [...] >Vermenschlichung< im lateinisch-politischen Sinne und [...] Enthumanisierung [...] Demokratisierung Deutschlands [...] seine Entdeutschung [...]. (XII, 68)

143 144 145

146 147 148 148 1149 49

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Ebd., S. 212. Ebd., S. 218. Ebd. Toury hebt hervor, daß sogar Juden aus wohlhabenden Familien wie Theodor Lessing oder Hugo Simon mit der SPD sympathisierten. Ebd., S. 214. Für Samuel Lublinski wie für viele andere war politisches Engagement Religionsersatz geworden. Ebd., S. 212. Ebd., S. 217. Ebd., S. 216. Ebd., S. 214.

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Er weiß wohl, daß er dabei Dostojewskis Gedanken über die Veijudung Deutschlands151 wiedergibt. Für den russischen Schriftsteller, den Thomas Mann zu dieser Zeit genau und mit Begeisterung liest, ist der Liberalismus Westeuropas dem Wesen nach jüdisch. Für Dostojewski steht die europäische Politik unter der Fuchtel des Weltjuden, der über den Sozialismus herrsche und damit die christliche Kultur zu zerstören beabsichtige.152 So stützt sich Thomas Mann auf höchst bedenkliche Zitate, auch wenn er aufrichtig bestrebt ist, deren antisemitischen Gehalt zu unterdrücken. Der Schimpf des Literaten, der den Westen repräsentiert, trifft nicht Heinrich Mann allein, sondern vom Begriff her manchen jüdischen Intellektuellen in deutschen Landen. Dies geht auf die oben dargestellte weitreichende Tradition zurück, Jüdisches, Sozialistisches, Revolutionäres, Republikanisches, Französisches zu vermengen. Der Intellektuelle und Idealist des Westens, wie Thomas Mann ihn sieht, könnte Jude, Franzose oder Italiener sein. Wie zur Bestätigung fuhrt Thomas Mann ein Bonmot an. Ist von der christlichen Prägung der westlichen Demokratien die Rede, so heißt es vielsagend, »die einzigen Christen in Deutschland seien die Juden« (XII, 46). 3.4.

Die Religion des Westens

3.4.1. Die Religion des Geistes Ähnlich verfahrt Thomas Manns bei seiner Deutung vom politischen Engagement des Zivilisationsliteraten. Die Kultur wird durch ihren Hang zu Ironie und Skepsis gekennzeichnet, die Zivilisation hingegen als ihr Gegenteil, da sie von einem blinden Glauben bestimmt werde. Hier verläuft für Thomas Mann die Scheidelinie zwischen den geistigen Lagern. Auf der einen Seite Metaphysisches, Ethos und Verantwortung des Individuums, andererseits eine unausgegorene, unreife Zivilisation, der die Reformation fehle und die daher eben eher von jüdisch-katholischer Geistesart sei. Eine überspitzte Intellektualität und ein blindes Streben, der Wirklichkeit die Idee aufzuzwingen, - koste es, was es wolle, - bestimmt nach Thomas Mann die Religion des Geistes, verstanden als der Glaube an den Glauben (XII, 491). Bismarck und Dostojewski folgend, meint Thomas Mann, daß »die Vernunftund Fortschrittspolitik des Liberalismus nihilistischen Wesens« (ΧΠ, 579) sei, 151

152

Poliakov, Histoire de l'antisémitisme, Bd 4 (Anm. 119), S. 105. - Thomas Mann: »[...] und es war wohl so, daß die Terroristen des Ostens eben nur taten, was die Nihilisten des Westens meinten und lehrten« (XII, 579). Der Schriftsteller erklärt verstanden zu haben, »daß das Bombenwerfen gar kein notwendiges Zubehör des russischen Nihilismus sei, daß es vielmehr wirklich einfach der westeuropäische Liberalismus, die politische Aufklärung sei, die in Rußland [...] den Namen Nihilismus erhalten hatte [...]« (XII, 579). David I. Goldstein: Dostoïevski et les Juifs. Paris: Gallimard 1976 (Collection Idées; 348), S. 310 und 317.

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»denn die Tat des reinen Geistes kann anständiger- und reinlicherweise immer nur die radikalste sein« (XII, 579). »Fiat justitia oder ventas oder libertas, fiat spiritus - pereat mundus et vita! So spricht aller Radikalismus« (XII, 568). Der Schriftsteller verweist auf Figuren, die er schon an anderen Stellen in den Vordergrund geschoben hat, den »schrecklichen Christen« aus Fiorenza, Hieronymus aus Gladius Dei und Daniel, den Propheten aus der gleichnamigen Erzählung. Bei jeder der drei Gestalten schimmert hinter der fanatischen Verbohrtheit des Priesters der Wille zur Macht aus Friedich Nietzsches Genealogie der Moral153 durch. Der Zivilisationsliterat ist eine neue Variante der von Nietzsche angeprangerten religiösen Hysterie. Er entspricht auch der von Heinrich Heine beschriebenen Nazarener-Gestalt.154 Dieser »nihilistische Cäsar« (ΧΠ, 94) ist »auf Einheit, militaristische Organisation, politische Stoßkraft des Geistes bedacht [...]« (ΧΠ, 315). Hier ist das Programm des jüdischen Philosophen Kurt Hiller aus seinem Almanach Das Ziel zu erkennen: »Was wollen wir? Das Paradies. Wer erringt es? Der Geist. Was braucht er dazu? Macht. Wie gewinnt er die? Durch Zusammenschluß.«155 3.4.2. Ein Beispiel: Kurt Hiller Thomas Manns Karikatur vom politischen Intellektuellen trifft vollkommen auf Kurt Hiller zu. Dieser wurde in einem schon erwähnten Brief vom 1.7.1916 an Ernst Bertram namentlich genannt, nicht aber in den Betrachtungen eines Unpolitischen. Nichtsdestoweniger ist er die Zielscheibe, wenn gegen das »Neue Pathos« (XII, 29) und den tätigen Geist polemisiert wird: »>Tätiger Geistentschlossen< ist [...]« (XII, 29): [...] der Politiker, den wir meinen, ist der Mann des Geistes, und zwar des reinen und schönen, des radikalen und literarischen Geistes; er ist darum der Mann des Wortes [...] Wir sehen vor uns den belles-lettres-Politiker, den Politiker als Literaten und den Literaten als Politiker, den >IntellektuellenVoluntaristenAktivisten< und was der Ehrennamen noch mehr sein mögen, die er sich zuerteilt. (XII, 231)

Kurt Hillers Bestreben, die Intellektuellen auf die Verbesserung der Welt zu verpflichten, sie aufzurufen, die Welt nicht nur zu verstehen, sondern ihr einen Sinn zu geben, nicht nur Geschichtsschreibung zu betreiben, sondern Geschichte zu machen, entspricht genau dem Sendungsbewußtsein des Literaten, den Thomas Mann verhöhnt. Diesen fanatischen, aufklärerischen Radikalismus kanzelt Thomas Mann als »politisches Zelotentum« (XII, 556) ab und verleiht seinem Repräsentanten die 153

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Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Maxime 229. Werke in drei Bänden (Anm. 111), Bd 2, S. 693. Den Nazarener-Typus hatte Heinrich Heine in »Über Börne« beschrieben. 1908 erklärt Thomas Mann, daß dies sein liebstes Heine-Buch sei (X, 839).

Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München, Berlin: Georg Müller 1916, S. 203.

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Züge eines asketischen Mönchs und theokratischen Demagogen. Thomas Mann glaubt, einen geistigen Obskurantismus »modernster Observanz« (XII, 94) aufzudecken. Die angebliche »Gedankenfreiheit bestünde darin, die der anderen [...] zu untersagen: denn sie glaubten an die Vernunft wie die Katholiken an die Heilige Jungfrau [...]« (XII, 558). Hinter dem blinden Glauben an abstrakte Prinzipien wie allgemeines Wahlrecht oder »die Religion der Zahl« (XII, 556), entlarvt er »einen Köhlerglauben« (XII, 534) an den Fortschritt (XII, 535), an die »Religion des >GeistesGeist< [...], indem man mit der Tugend Geschäfte macht, - Minister zu erschießen oder auch nur Streikreden zu halten, überläßt man minder erlesenem Menschengut [...], armen, talentlosen Fanatikern, verzweifelten Judenjungen. (XII, 580)

Angespielt wird hier auf die Ermordung des österreichischen Premierministers Graf Karl Sturgkh durch den Juden Friedrich Adler,156 Sohn eines führenden österreichischen Sozialdemokraten.157 Kurt Hiller, der Thomas Mann »einen ruchlos schmarotzenden Ästheten« geschimpft hatte (XII, 538), wird nun selbst des Ästhetizismus bezichtigt.158 Denn in Thomas Manns Augen ist Kurt Hillers politisches Gebahren nichts anderes als Geschwätz, »generöse Geste«, »tyrannische Schulmeisterpedanterie« (XII, 51), »hysterische Demokratie« (XII, 567), »bellezza-Radikalismus« (XII, 566). 3.4.3. Geschäftssinn Der Literat wird nicht nur als Don Quichotte und lebensfremder Spinner lächerlich gemacht, sondern auch als regelrechter Arrivist und geldgieriger Heuchler karikiert, der Tugend predigt, Phrasen drechselt und Geschäften nachjagt.

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157

158

Eine Notiz Thomas Manns vom 21. Oktober 1916 bezeichnet Friedrich Adler als »Aktivisten« mit fanatischen Augen. Ernst Joseph Görlich/Felix Romanik: Geschichte Österreichs. Innsbruck u.a.: Tyrolia 1970, S. 476. Thomas Mann spielt auf Kurt Hillers Anklagen in dessen kurzer Schrift »Taugenichts - Tätiger Geist. Thomas Mann«, Berlin: Bäsch 1917, S. 9 und 15f. an. Hiller verteidigte darin den in der Politik engagierten Künstler, stellt ihn in direkten Gegensatz zu Thomas Mann und wirft letzterem vor, den Geist umzubringen. Thomas Mann polemisiert nun seinerseits weniger gegen Hiller als vielmehr gegen den politischen Aktivismus des Expressionismus (XII, 212).

98

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Unter der angeprangerten Humanitätsfaselei stöbert Thomas Mann »Schieber- und Unternehmertum« (XII, 140), das »Eindringen neudeutschen Geistes, die Amerikanisierung des deutschen Lebensstils« (XII, 140) auf. Der Romancier hält sich zugute, den soziologischen Analysen über die »Verwandlung des deutschen Bürgers in den Bourgeois« (XII, 138) in den Buddenbrooks vorgegriffen zu haben. In diesem Sinne nimmt er sich die »imperialistischen Grubenbesitzer« (XII, 138), »gewisse unabkömmliche Bäuche« (XII, 153), »schriftstellernde Börsenmänner« (XII, 303), Advokaten als Wochenschriftbesitzer (XII, 302), den »humanitären Geschäfts- und Fortschrittsmann« (XII, 135) und internationale Börsenspekulanten vor, die er allesamt im Fahrwasser der Hagenströms aus den Buddenbrooks obenauf schwimmen sieht. Krämergeist und Profitgier werden wie in Werner Sombarts Händler und Helden als englische Krankheit gebrandmarkt. Thomas Mann, in diesen Jahren ein eifriger Sombart-Leser (XII, 145), schreibt dem vermeintlichen englischlateinisch-amerikanischen Geschäftssinn159 jene Attribute zu, die traditionell, auch von Sombart, den Juden angelastet werden. Solche Verschiebungen sind Feigenblätter.160 Auffallend ist die Parallele von Werner Sombarts pseudowissenschaftlichen Analysen über das Judentum mit den Kennzeichen, die Thomas Mann seinem Zivilisationsliteraten zulegt. Dem namhaften PseudoSoziologen Werner Sombart gelten die Juden als Theoretiker schlechthin, als abstrakte Menschen mit kühlem Verstand, vom Leben und von den Instinkten abgeschnitten,161 als geborene Literaten.162 Die jüdische Religion sei grundsätzlich rationalistisch, »ganz und gar [...] ein Verstandeswerk«163 und »Zweckgebilde«.164 Werner Sombart erklärt kategorisch: »Rationalismus ist der Grundzug des Judaismus wie des Kapitalismus.«165 3.5.

Hintergrund zu den Betrachtungen eines

Unpolitischen

Trotz Thomas Manns »Scheu vor Namennennung«166 liefert er in den Betrachtungen eines Unpolitischen Hinweise auf Personen, die seinem Bild vom Literaten 159 160

161

162 163 164

Sombart, Händler und Helden (Anm. 102). Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte der modernen Wirtschaftsmenschen. München, Leipzig: Duncker und Humblot 1913, S. 277. - Thomas Mann kann unmöglich den Leitgedanken eines anderen Buches von Werner Sombart verkennen, auf das er selbst hinweist (XII, 145). Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (Anm. 41). Im folgenden werden Quellenangaben der Ausgabe von 1920 entnommen. - Werner Sombart erhebt in seinem Vorwort den Anspruch, »streng wissenschaftlich« (S. XI) zu beweisen, daß die Juden die Begründer des modernen Kapitalismus seien (S. IX). »Bei den Juden: >L'intelligence prime le corpsc das ist eine Tatsache [...].« (S. 313). Ebd., S. 317. Ebd., S. 242. Ebd.

165

Ebd. - Dies ist der Gegenstand des ganzen zweiten Teils (S. 183-337).

166

Mann / Bertram, Briefe aus den Jahren 1910-1955 (Anm. 127), S. 34.

3. Kampf dem Radikalismus

99

Pate gestanden haben. Dazu gehören, beispielsweise, der Brieffreund Paul Amann, Journalisten der verhaßten linken Presse oder der Kreis um Heinrich Mann. 3.5.1. Paul Amann: Widerpart und Freund Die Korrespondenz mit dem österreichischen Juden Paul Amann, einem mehrfach verwundeten Frontkämpfer, ist aufschlußreich. 167 Gegenseitige Sympathie bei gleichzeitigem, heftigem Meinungsstreit charakterisiert diese Brieffreundschaft. Thomas Mann findet in Paul Amann einen wohlwollenden Dialogpartner, 168 den er deshalb ernst nehmen muß, weil dieser inmitten des Schlachtengetümmels steht. In mancher Hinsicht fungiert er als Antipode zu Thomas Manns intimstem Freund während der Kriegsjahre, Ernst Bertram, einem nationalistisch-konservativ eingestellten Germanisten. Mit dem Romanisten und francophilen Paul Amann setzt der Schriftsteller gewissermaßen die unterbrochene Auseinandersetzung mit dem Bruder Heinrich fort. Paul Amann weckt das Interesse fiir Condorcet, verteidigt Romain Rolland. Thomas Mann dagegen begreift nur schwer, wie der Patriot Amann sein Vaterland verteidigen und gleichzeitig den großen Ideen der Französischen Revolution huldigen kann. 169 Er betrachtet den Brieffreund beinahe als vertrauten Feind. 170 Dieser forderliche Austausch mit ihm ruft Selbstbefragung und Zweifel hervor, so daß Thomas Mann mitunter den Eindruck hat, er habe sich der Sträflingsarbeit auf einer »Galeere« (XII, 7, 13) unterzogen. Die Ambivalenz seiner Gefühle Amann gegenüber wird deutlich, vergleicht man sie mit dem warmherzig-einträchtigen Tenor in den Briefen an den nahestehenden Freund Ernst Bertram. Die verpaßte Begegnung zwischen Thomas Mann und Paul Amann am 16. April 1917171 ist symptomatisch. Der Bruch nach dem Erscheinen von Amanns Artikel über Politik und Moral in Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« 172 setzt der Beziehung vorläufig ein Ende. Das Verhältnis beider wird durch ihre unterschiedlichen Einstellungen gestört, die gerade den besonderen Reiz und Wert dieser Beziehung darstellen. Jeder nähert sich dem anderen in der Absicht, auf ihn einzuwirken, obgleich die Distanz letztendlich doch unüberwindlich bleibt. Thomas Mann geht sogar 167

168

169 170

171 172

Mann, Briefe an Paul Amann (Anm. 106). Amann war Romanist und Germanist, sich seiner problematischen Situation als Jude sehr wohl bewußt, von deutscher Kultur geprägt - so definiert er sich selbst in dem Vorwort (S. 16) zu seinem Buch »Tradition und Weltkrise«, das erst 1934 in Berlin erscheinen konnte. Paul Amann zwingt Thomas Mann zu Rücksichtnahme, zu Relativisierung, zu mehr Zurückhaltung, ja wirft ihm sogar vor, nur Feinden gegenüber angemessen zu reagieren und gerecht zu sein. Ebd., S. 23. Ebd., S. 30, Brief vom 3.8.1915. Thomas Mann spielt hier auf die Österreicher an, sie seien unsere intimsten Feinde: Mann / Bertram, Briefe aus den Jahren 1910-1955 (Anm. 127), S. 58 und Mann, Briefe an Paul Amann (Anm. 106), S. 55, Brief vom 21.4.1917. Ebd., S. 54, 23. Brief an Paul Amann. Erschienen in: Münchener Blätter für Dichtung und Graphik 1 (1919), S. 42-48.

100

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

soweit, Paul Amann öffentlich eine wenig ruhmvolle Rolle anzudichten und ihn in den Betrachtungen ohne Erlaubnis sechs Mal zu zitieren, dazu noch ungenau und ohne ihn als Urheber zu nennen. Vor allem sieht sich Paul Amann überraschend zum Franzosen gemacht,173 was einmal mehr von Thomas Manns vorschnellen Etikettierungen zeugt. 3.5.2. JüdischePresse Immerhin sieht Thomas Mann in Paul Amann einen gemäßigten Demokraten. Ganz anders steht es mit den »Herren vom Berliner Tageblatt«, fur die er nur Abscheu empfindet. Er betrachtet sie als »das Pestilencise selbst«,174 wenngleich er in einem Brief an Amann zugibt, Theodor Wolff sei »sicher ein ausgezeichneter Journalist, ganz pariserischer Schulung«.175 Die meisten, die Thomas Mann als seine geistigen Widersacher bekämpft, ob nun Journalisten des Berliner Tageblatts oder anderer politischer und literarischer Zeitschriften und Revuen, sind Juden. So erklärt sich Thomas Manns Zurückhaltung und Vorsicht. Zu nennen sind Franz Blei, Kurt Hiller, Alfred Kerr, der Pazifist Arthur Holitscher, Stefan Zweig und alle diejenigen, die den Hintergrund für Thomas Manns Angriffe bilden: Die Berliner Wochenschrift Die Aktion mit anarchistischen Tendenzen wird zwischen 1911 und 1932 von Pfemfert herausgegeben. Erich Mühsam, Ludwig Rubiner, Ferdinand Hardekopf, Carl Einstein scharen sich um Die Aktion. Die sich antibürgerlich gebende Revue preist Heinrich Mann und lehnt Thomas Mann ab.176 Für die wichtige Monatsrevue Die weißen Blätter, 1913 bis 1921 von René Schickele herausgegeben, schreiben Carl Sternheim, Franz Kafka, Kasimir Edschmid, Franz Werfel und Heinrich Mann. Dort erscheinen Heinrich Manns Zola-Essay und Auszüge aus dem Roman Le Feu von Henri Barbusse. Die Opposition gegen den Krieg ist in dieser Revue besonders heftig. Sie ist Treffpunkt für Iwan Göll, Max Hermann-Neisse, Albert Ehrenstein, Martin Buber, Walter Hasenclever, Rudolf Leonhard, Heinrich Eduard Jacob und Paul Zech.177 Der Sturm, eine Wochenzeitschrift, hatte so namhafte Mitarbeiter wie Adolf Allwohn, Kurt Liebermann, Lothar Schreyer, Salomon Friedländer unter dem Pseudonym Mynona, Adolf Loos, Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin, Ferdinand Hardekopf, Ludwig Rubiner, Albert Ehrenstein, Alfred Lichtenstein, Kurt Hiller.

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Paul Amann: Politik und Moral in Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen«. In: Münchener Blätter für Dichtung und Graphik 1 (1919), S. 45. Mann / Bertram, Briefe aus den Jahren 1910-1955 (Anm. 127), S. 78. Mann, Briefe an Paul Amann (Anm. 106), S. 44. Die Redakteure der Zeitschrift »Die Aktion« interessierten sich lebhaft für die anarchistischen Tendenzen der sozialistischen Bewegung, besonders durch Franz Mehrings und Bernard Lazares Studien über Bakunin. Dazu: Eva Kolinsky: Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften. Stuttgart: Metzler 1970. Ebd., S. 12.

3. Kampf dem Radikalismus

101

Besonders nennenswert ist Das· Forum, das seit 1914 in München erscheint und wegen seines offenen Pazifismus während des Krieges verboten ist. Der Herausgeber Wilhelm Herzog bricht gleich bei Erscheinen der Gedanken im Kriege178 alle Beziehungen zu Thomas Mann ab. Wilhelm Herzog ist jener von Thomas Mann geschmähte »deutsche Literat« (XII, 167), dem Romain Rolland zugute halten wird, Thomas Mann rücksichtslos angegriffen und Frankreich, die französische Armee und Zivilisation verteidigt zu haben. Anzuführen wären noch Alfred Kerrs Pan, Ludwig Rubiners Zeit-Echo, auch Kain mit dem Herausgeber und Direktor Erich Mühsam (1911), Das Ziel, 1916 von Alfred Kerr, Rudolf Kayser und Heinrich Mann gegründet, und viele andere Zeitschriften mit so programmatischen Titeln wie Revolution, Neue Jugend, Das Tribunal, Der Revolutionär}19 Diese Journalisten und Schriftsteller, die Literatur, Politik und Religion nebeneinander betreiben, stehen meist abseits der großen Parteien und kritisieren gelegentlich auch die Linke. Ihre Mitarbeiter entsprechen dem von Thomas Mann porträtierten Literaten: Beim Himmel, nein, der Geistespolitiker ist nicht Sozialdemokrat. Er wäre es allenfalls, wenn man unsere Anarcho-Sozialisten und internationalen Revolutionäre äußerster Observanz, denen er geistig, wenn auch nicht in formaler Hinsicht, nahesteht, zum linken Flügel der Partei rechnen wollte, - was, meine ich, fehlerhaft wäre, da diese Herren als reine Genies, kaum als Parteipolitiker zu bewerten sind. (XII, 385)

3.5.3. Der Expressionismus Dieser flüchtige Überblick spiegelt eine bereits vor dem Krieg einsetzende, neuartige Entwicklung wieder. Schon in Geist und Kunst spürte Thomas Mann eine spezifische Modernität auf und nannte sie »literarische Nacktkultur«. 180 Ihre Aufsplitterung der Formen bringt die etablierte, traditionelle Kunst und Literatur ins Wanken und beunruhigt ihn. Zum Begriff Expressionismus, den zuerst Kurt Hiller auf die Literatur angewandt haben soll,181 bemerkt Thomas Mann: Unterdessen liegt es ja auf der Hand, daß, was sich in Deutschland >Aktivismus< nennt, nichts ist als die Übertragung eines bestimmten Kunstgeschmacks und -temperaments ins Politische. Eine Kunstschule [>Expressionismusder Geistige handlet (XII, 212)

178

In den Briefen an Philipp Witkop und Kurt Martens bezeichnet Thomas Mann seinerseits Wilhelm Herzog als »Taugenichts«. Dazu Mendelssohn, Der Zauberer (Anm. 13), S. 117. 179 Kolinsky, Engagierter Expressionismus (Anm. 176), S. 8. 180 Notizen Thomas Manns zitiert in Wysling, »Geist und Kunst« (Anm. 34), S. 189, Notiz 72. 181 Zitiert nach Jean-Michel Palmier: L'Expressionnisme comme révolte. Paris: Payot 1978, S. 18.

102

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik

An anderer Stelle umreißt Thomas Mann die Grundlinien der neuen Kunstrichtung, und man erkennt das Programm der expressionistischen Revue Die Aktion: Was not tut, ist im Grunde überhaupt nicht Kunst, sondern das Manifest, das absolute Manifest zugunsten des Fortschritts, der Aufruf der Geistigen durch den Geist [ . . . ] , - Was nützt uns Erkenntnis und was die Form? Auf die Tat kommt es an, - auf die des Geistes. (XII, 309f.) 3.5.4. Der Kreis um Heinrich Mann Heinrich Mann ist das geistige Zentrum der jungen Generation mit ihrem Erneuerungswillen und ihren Idealen. Thomas Mann nennt ihn den »den größten aller radikalen Narren«. 182 Heinrich Manns Essay von 1911, Geist und Tat,m erfüllt die Funktion einer Programmschrift: >Die französischen Soldaten können ihre Vernunft gebrauchen^ sagte Napoleon. >Drum sind sie weiches Wachs in der Hand dessen, der sie bei ihrer Vernunft faßt; und doch sind sie die unerschrockensten der ganzen Welt.< Die Geistesfuhrer Frankreichs, von Rousseau bis Zola, hatten es leicht, sie hatten Soldaten.184 Mit dieser Schrift wird »>der Mensch des Geistes, der Literat«Tagebuch
Rote Garde< unter einem geisteskrank gewesenen galizischen Juden« (Tbl, 53) stehe. Als am 7. November 1918 Kurt Eisner die Bayrische Räterepublik ausruft, hebt Thomas Mann sogleich die jüdische Beteiligung hervor: »München, wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?« (Tbl, 63). Unter den rasch aufeinanderfolgenden Regierenden ist fur den Tagebuchverfasser Wilhelm Herzog, über den er unablässig und bissig spottet, der Schlimmste: Bei uns ist Mitregent ein schmieriger Literaturschieber wie Herzog, [...] ein Geldmacher und Geschäftsmann im Geiste von der großstädtischen Scheißeleganz des Judenbengels, der nur in der Odeonbar zu Mittag aß, aber Ceconi's Rechnungen für die teilweise Ausbesserung seines Kloakengebisses nicht bezahlte. Das ist die Revolution! Es handelt sich so gut wie ausschließlich um Juden. Die militärischen Geschäfte leitet ein Leutnant Königsberger. (Tb 1, 63)

Von solchem Groll ist das ganze Tagebuch geprägt, entsprechend der jeweiligen Abneigung, die Thomas Mann gegen den einen oder anderen hegt: Kurt Eisner und seinen Weggefährten wird, beispielsweise, vorgeworfen, Georges Clemenceaus Rolle zu übernehmen und die Auflösung des Reiches zu betreiben (Tbl, 97). Die Spartakisten hält Thomas Mann für sehr gefahrlich (Tbl, 127). Er empört sich »über Mühsams kommunistische Pläne« (Tbl, 83) und notiert: »Infam« (Tbl, 83), beschimpft »das Scheusal Friedenthal« (Tbl, 85), Wilhelm Herzog (Tbl, 63),196 den »widerwärtigen Eisner« (Tbl, 150), den »üble[n] Sauber« (Tbl, 156), den »schäbige[n]« und »giftigefn]« Paul Amann (Tbl, 184). Die politischen Kreise um seinen eigenen Bruder, für den er gerade zum damaligen Zeitpunkt nur gehässigen Zorn übrig hat, verkörpern den inneren Feind, den Thomas Mann die ganzen Kriegsjahre hindurch unerbittlich verfolgt hat. Überall sieht er Juden am Werke, die Deutschland schaden würden. Persönliche Ressentiments verstärken seinen Ärger noch: Dieser Herr Peter ist natürlich auf dieselbe Art, wie die Juden Kerr und Lessing mein geborener Feind, ein notwendiger Verächter oder doch Verächtlich-macher meiner Existenz. [...] Natürlich hat der Typus Altenberg 197 von Haus aus keinen

196

197

Wilhelm Herzog war Herausgeber des »Forum« und warf Thomas Mann kriegslüsternen Chauvinismus vor. Thomas Manns Haß auf Herzog wird sich mit der Zeit legen. Peter Altenberg ist das Pseudonym für Richard Engländer (1859-1919). Thomas Mann schätzte zwar seine Aphorismen, betrachtete ihn aber dennoch nur als zweitrangigen Autor. Thomas Mann über »Peter Altenberg« (X, 422-426).

106

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Sinn für den Wert konservativer, die Continuität bewahrender Existenz und ist zur Beurteilung meines Wertes nicht berufen. (Tbl, 55)

Alte Befangenheiten und Voreingenommenheiten, in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch sorgsam verdeckt, treten nun im Tagebuch grell und unverblümt hervor. Die verletzende und unqualifizierte Äußerung über Wilhelm Herzog ist symptomatisch für die ätzende Bissigkeit. Die Stimmung, in der die Dolchstoßlegende entsteht, der zufolge der innere Feind zum Verräter par excellence erklärt wird, schlägt sich in den Tagebuchnotizen nieder: »Übrigens war der Putsch festgesetzt und vorbereitet, da Herzog schon vorgestern herberufen worden [war]« (Tbl, 63f.). 4.2.

Groll auf die internationale Geldherrschaft: Freimaurerei, Plutokratie

Es sei zunächst an die in den Betrachtungen eines Unpolitischen formulierten Anschuldigungen gegen »das internationale Illuminatentum, die FreimaurerWeltloge [...] bei der geistigen Vorbereitung und wirklichen Entfesselung des Weltkrieges [...]« (XII, 32) erinnert. Dieser Leitgedanke taucht auch im Tagebuch auf dem Umweg einer Lektüre wieder auf, eines antisemitischen Machwerks, das bei dem berüchtigten J. F. Lehmann Verlag, spezialisiert auf rassistische und antisemitische Veröffentlichungen, erschienen war.198 Thomas Mann konnte hier lesen, daß Ritus und Geist der Freimaurerei vom Judentum durchsetzt seien.199 Das Buch endet mit dem vielsagenden Glaubensbekenntnis: Eine >gute< Monarchie [...] mit einem befähigten, gut beratenen, klugen, arbeitsfreudigen, tüchtigen, verläßlichen deutschen Kaiser an der Spitze ist mir tausendmal lieber als eine Willkür- und Advokatenrepublik unter einem >Maurerfursten< vom Schlage eines Eisner, Lenin, Adler oder Kohn. 200

Trotz des offensichtlichen Chauvinismus und Rassismus des Verlegers beeilt sich Thomas Mann, das Buch zu bekommen. Am 25. März beginnt er es gründlich zu lesen, »mit dem Bleistift zu studieren« (Tbl, 178).201 Thomas Mann ist nicht nur nicht schockiert, er zeigt sich sogar mehrfach »höchst interessiert« (Tbl, 179). Die Grundthese über die enge Verbindung zwischen internationaler Freimaurerei und internationalem Judentum leuchtet ihm ein. 198 199

200 201

Mit Titeln wie »Volk und Rasse«, »Deutschlands Erneuerung«. Friedrich Wichtl: Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersuchung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges. München: J. F. Lehmann 1920, 6. vermehrte Auflage, S. 58. Hier ist zu lesen: »>Keine Loge ohne Juden! Weltherrschaft der Weltfreimaurerei unter englisch-jüdisch-amerikanischer FührungTagebuch
in politicis etwas Neues zu erfindenanti-politisch< ist« (Tbl, 176). Den Rhetor-Bourgeois verabscheut und haßt Thomas Mann nach wie vor, so daß er erklärt, er sei »imstande, auf die Straße zu laufen und zu schreien >Nieder mit der westlichen Lügendemokratie! Hoch Deutschland und Rußland! Hoch der Kommunismus!«< (Tbl, 178). Doch es bleibt keineswegs bei dieser Position. Es handelt sich dabei vielmehr um die Überzeugung, daß sich die Menschheit an einem historischen Wendepunkt befindet und dies Deutschland die Chance bieten könnte, zum Schmelztiegel einer neuen Welt zu werden, was dem Nationalstolz des Schriftstellers schmeichelt. Genugtuung empfindet er dem Bruder Heinrich gegenüber, von dem er meint, er mißbillige selbstverständlich »den Bolschewismus nicht nur als Methode, sondern auch als Idee und zwar weil er nichts als ein Altdemokrat kelto-romanischer, Wilson'scher Prägung ist [...]« (Tbl, 98). Mit Schadenfreude nimmt der Schriftsteller zur Kenntnis, wie die Literaten die Geister, die sie riefen, schwerlich wieder loswerden. So bedeutet der Begriff Bolschewismus, wie Thomas Mann ihn versteht, in erster Linie Rache und Erneuerung. Wesentlich für ihn ist, daß Deutschland im Protest gegen fremde Einflüsse sowohl gegen die bürgerliche Geschäftmacherei der westlichen Demokratien als auch gegen das bolschewistische Schreckgespenst - sich selbst treu bleibt: [...], so ist doch auch er [der Bolschewismus - J. D.] nicht humanitär. Wenn man dafür sonst keine Beweise hätte, so könnte als ein solcher dienen, daß Trotzki die Prügelstrafe als Disciplinarmittel wieder in der Armee eingeführt hat. (Tbl, 135)

Darin sieht er ein Symbol: »Ich entsetze mich vor der Anarchie, der Pöbelherrschaft, der Proletarierdiktatur nebst allen ihren Begleiterscheinungen à la russe« (Tbl, 84). Im ideologischen Gefecht zwischen Plutokratie und Bolschewismus scheint ihm letzterer vorerst siegreich gewesen zu sein. Doch jetzt hofft er, der Bolschewismus möge sich reinigen, entschlacken, Fremdes und Schädliches abstoßen.

206

Erstausgabe 1911.

4. Die revolutionäre Nachkriegskrise

4.4.

im >Tagebuch
Idee< bildete [...]« (Tbl, 225). Ein solch fanatischer Wille, der Wirklichkeit blind seine Ideen aufzuzwingen, macht in Thomas Manns Sicht aus Eugen Léviné einen typisch neumodischen Propheten. Nicht zufällig mißt der Autor im Dezember 1919 seinem frühen Stück Fiorenza erneut Aktualität (Tbl, 332) bei. Dort hatte der Nazare207

208 209

Der Terminus >Entente cordiale< entstand ursprünglich unter Louis Philippe und bezeichnete die guten Beziehungen zwischen Frankreich und England. Der Begriff wurde im Vertrag vom 8. April 1904 zwischen beiden Staaten wieder aufgenommen und bezeichnete in der Folgezeit auch den militärischen Beistand während des Weltkrieges 1914-1918. In diesem Sinne gebraucht Thomas Mann den Begriff. »Deutschland will die Politik los sein [...]« (Tbl, llOf.). Ähnlich definiert Thomas Mann die »Münchner Neuesten Nachrichten« als »jüdisch-schwabingerisch-radikalistische Zeitschrift« (Tbl, 193).

112

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen Thematik

ner Savanarola als fanatischer Leutnant Christi die Bühne betreten. 210 In den Betrachtungen eines Unpolitischen schon als Vorfahre des Zivilisationsliteraten bezeichnet (XII, 95), kann Savonarola nun folgerichtig auch als Prototyp des bolschewistischen Revoluzzers gelten. Im Bemühen, die Ereignisse zu begreifen, bedient sich Thomas Mann wiederum klischeehafter Vorstellungen, jedoch mit einigen Verschiebungen. Bei der neuen jüdisch-russischen Legierung von Radikalismus und Mystik verleiht Thomas Mann dem jüdischen Element die Wirkungskraft eines Katalysators. Der »weltgefährliche ekstatische Extremismus« (Tbl, 227), ein Racheakt der Schwachen und Unterdrückten, wird als »Herrschaft der Crapule« (Tbl, 227) mit Entsetzen abgelehnt. Diese Schreckensvision hat zur Folge, daß der Verfasser des Tagebuchs wie auch sein Freund Ernst Bertram nun sogar die Entente-Zivilisation als geringeres Übel vorziehen: »Die Entente ist hassenswert, aber das Abendland ist vor den Greueln der Völkerwanderung von unten zu retten« (Tbl, 227). Seinem Freund Ernst Bertram entlehnt Thomas Mann die von tiefsitzenden Ängsten geprägte Formulierung, mit dem Bolschewismus überschwemme die asiatische Gefahr den Westen. Thomas Mann furchtet den Bolschewismus als Untergrundbewegung des Plebs gegen die Kultur und als Inbegriff asiatischer Barbarei. Überall wird nun das Schreckgespenst Asien aufgespürt und denunziert. Von »dem schauderhaften Greis Clemenceau« heißt es sogar, er habe »Schlitzaugen [...] und möglicherweise ein Blutsrecht darauf [...], dem Untergang der abendländischen Kultur Vorschub zu leisten« (Tbl, 233). Dabei fällt auf, daß Thomas Mann dazu neigt, Orient und Asien zu amalgamieren: bei »der hübschen Jüdin mit den japanischen Augen« (Tbl, 333), sogar bei der eigenen Frau und seinen Kindern. Es ist, als würde sich die orientalische Herkunft der Juden mit der wachsenden Bedrohung aus dem Osten noch schärfer profilieren. Klassengegensätze und ideologische Ängste schaffen so einen Mythos mit rassischer Färbung, der es erlaubt, die feindliche Idee völlig zu verwerfen. Ähnlich war Thomas Mann schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen vorgegangen. Die Furcht vor dem Bolschewismus steigert die ohnehin weit verbreiteten Vorurteile gegen die Ostjuden noch mehr. Die wachsende Zahl von Zuwanderern aus dem Osten, die den ukrainischen Pogromen zwischen 1917 und 1920, der russischen Revolution und dem Bürgerkrieg, dem Kriegsund Nachkriegselend, dem Zusammenbruch des Zaren- und Habsburger Kaiserreiches entfliehen, macht aus den Ostjuden quasi selbstverständlich die 210

Savonarola wird verdächtigt, alle Macht an sich zu reißen, um »des Lebens Flügel« zu brechen (VIII, 1066). Der »gothische« Mensch und Statthalter Christi auf Erden, der die Gottesstadt errichten und Christus zum König von Florenz proklamieren will, entspricht ganz und gar dem Literaten-Bild, das Thomas Mann in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« entwickelt hat. Dieses Bild taucht nun mit den Kennzeichen des jüdischen Bolschewiken auf, wenn Thomas Mann beispielsweise von Eugen Léviné schreibt, daß Maximilian Harden Léviné seinerseits mit den ersten Christen verglichen habe (Tbl, 257).

4. Die revolutionäre Nachkriegskrise

im >Tagebuch
Hört, ich bin weder ein Jude, noch ein Kriegsgewinner, noch sonst etwas Schlechtes, ich bin ein Schriftsteller, der sich dies Haus von dem Gelde gebaut hat, das er mit seiner geistigen Arbeit verdiente (Tbl, 85)

An anderer Stelle empört sich der Schriftsteller über einen marxistischkommunistischen Juden, den Intellektuellen Karl Korsch, der das reiche Leben in den Berliner Luxusvierteln genießt und »der in der Tiergartenstraße frech 211 212

(Tbl, 53, 63, 80, 85, 98, 131, 132, 143, 193, 215, 222, 315, 372). (Tbl, 132, 143, 144, 207).

114

Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

schmarotzt« (Tbl, 147).213 In der Wahrnehmung dieser Person bündelt sich Thomas Manns doppelte Gehässigkeit gegen den Literaten, und zwar gegen den bisherigen und den neuerer Prägung. Letzten Endes aber führt die Konfrontation mit den Unruhen der Revolution Thomas Mann dazu, den als deutsch apostrophierten Mittelweg und das rechte Maß zu wünschen. Wie schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen wird Maßlosigkeit als dem Deutschen wesensfremd empfunden. Deutlicher als in den Betrachtungen wird mit der westlichen Plutokratie und Wucherwirtschaft abgerechnet. Doch das Damoklesschwert der proletarischen Revolution aus dem Osten wirkt nun noch gefährlicher. Mit Argwohn wird dabei detailliert die aktive Teilnahme von Juden an den Ereignissen notiert. Nach all den Wirren scheint endlich Friedrich Eberts Wahl zum Reichspräsidenten Sicherheit zu geben, »wie Wiederkehr von Würde und Selbstgefühl« (Tbl, 149). Wenn Thomas Mann einer Jugend begegnet, die »das Volksmäßige, Echte, [...] kein abstraktes Vernunft-Menschentum also, keinen Internationalismus, sondern universalistische Humanität« (Tbl, 101) anstrebt, bestärkt ihn das in seiner Hoffnung auf einen eigenen deutschen Weg. Neu ist allerdings, daß der Tagebuchautor der aufkommenden Verbindung von Konservatismus und Sozialismus erwartungsvoll entgegensieht (Tbl, 369).

4.5.

Juden in der Politik

4.5.1. Warnung vor dem jüdischen Literaten Am 11. Februar 1919 hört Thomas Mann Hans Blühers Vortrag Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an die Freideutsche Jugend. Er ist begeistert: »Ein ausgezeichneter Vortrag, mir fast Wort fur Wort aus der Seele geredet« (Tbl, 148).214 Weshalb? Dies bedarf der Erklärung. Hauptanliegen des Redners war es, die Meinungsverschiedenheiten zu schlichten, die der Einheit der Freideutschen Bewegung entgegen stehen könnten. Er war angetreten, der Jugend den Glauben an ihre Sendung 215 zu predigen: Deutschland vom fremden, schieren Materialismus läutern. 213

214

215

Karl Korsch (1886-1961), marxistischer Politologe, war mit Hedda Gagliardi, einer Cousine von Katia Mann, verheiratet. Erschienen im Anthropos-Verlag, Prien 1920. - Hans Blüher (1888-1955) war Schriftsteller und bedeutendster Ideologe der (1901 von dem Berliner Gymnasiallehrer Karl Fischer gegründeten) »Wandervogel«-Bewegung. 1913 ging aus ihr die Freideutsche Jugend hervor. Hans Blühers »Wandervögel. Geschichte einer Jugendbewegung« erschien 1912, »Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen« 1914 in Berlin (2. Aufl.). Blüher ist außerdem Autor mehrerer Schriften zu Atheismus, Christentum und Weltrevolution. Homoerotisches und Rassisches schwingt im Text mit. - »Ich glaube an diese Körper, und solche Augen sind Bürgen dafür, daß die Freideutsche Jugend ein Fonds und eine Fundgrube ist für den besseren Menschen überhaupt. Ich glaube,

4. Die revolutionäre Nachkriegskrise im >Tagebuch< (1918-1921)

115

Hans Blüher verteidigt - gegen eine nur materielle Sinngebung - die Ideale der Jugend: »Wir [...] glauben, daß Ideen das Ewige und Maßgebende sind. [...] Oder wollen Sie mir, Sie Jugend, sagen, daß es sich lohnt, für Friede, Freiheit, Arbeit, Ruhe, Ordnung, Sicherheit zu leben?« 216 Der Staat als eine Art Versicherungsgesellschaft sei ein jüdisches Hirngespinst: Die jüdische Rasse leidet an einer überstarken >TschandalaTagebuch< (1918-1921)

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Es ist also beinahe so, als wäre für Hans Blüher der jüdische Geist Motor der Weltgeschichte, ja der Weltgeist selbst. 4.5.2. Das hebräische Modell: Religion und Politik Dieses Faszinosum führt den Redner in die jüdische Geschichte, um aus ihr ein Verhaltensmodell abzuleiten. Er gedenkt einiger frommer Juden in einer Lemberger Synagoge, die von polnischen Legionären angezündet wurde. Die vorbildlichen Juden singen ihre liturgischen Gesänge bis zum qualvollen Tode.232 So wünscht sich Hans Blüher den deutschen Menschen: Aber wir Deutsche haben keine Thora, und wir haben keine Tempel. Wir haben nichts als unser nacktes, erbärmliches Leben, das wir hingeben können. Wir können nicht sterben im Dienste einer übergeordneten Gemeinschaft. 233

Das Ganze läuft darauf hinaus, dem niedergeschlagenen deutschen Volk den Glauben an sich selbst einzuflößen, denn wenn die Idee des Deutschen Reiches sich bis zu den Letzten Dingen auswächst, wenn sie so weit reift, daß sie uns das wird, was für die Juden Zion ist: so fürchten wir keine Diaspora [...] 2 3 4

Deutschland täten homines religiosi Not, »sakrale Menschen«,235 die in ihrer Rasse sich auch stärker dem Bilde des germanischen Menschen nähern. Die Germanen sind der Stamm Levi unter den Deutschen. Es ist die Rasse, aus der die großen Werke quellen: Die Dome, die Dichtung, die Weltweisheit und die Musik. 236

Hans Blüher ist auf der Suche nach einem Halt, einer übergeordneten Macht, die er in der Idee des Deutschen Reiches und des Germanentums findet: »Der Germane ist uns eine mythologische Gestalt, genauso wie der ewige Jude.«237 Politik soll durch Religion, homines politici durch homines religiosi, ersetzt werden. Die Hohepriester des Reiches sollen Deutschlands Zukunft in die Hand nehmen.238 Für das Sakrale sind die Hebräer Leitbilder, ob als Propheten des Alten Testaments oder als die der Moderne wie Gustav Landauer und Martin Buber.239 Aus solchen Quellen möge Deutschland schöpfen. Hans Blüher gelingt damit das paradoxe Kunststück, die Juden zum Vorbild der Konservativen Revolution zu erwählen.240 232 233 234 235 236 237 238 239

240

Ebd., S. lOf. Ebd., S . l l . Ebd., S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12f. Ebd., S . l l . Ebd., S. 26. Ebd., S; 26f. - Thomas Mann wird viel später, 1955, Martin Buber rühmen, vor allem seinen feinen Sinn für Nuancen und seine Geistigkeit (X, 832). In der Bedeutung des Begriffes, wie er von Hermann Rauschning 1941 und Armin Möhler 1950 gebraucht wurde.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Für Hans Blüher wie für Thomas Mann gibt es sowohl einen jüdischen Geist im verächtlichen Sinne wie auch den anständigen Juden, dem die Symbiose mit dem Gastland glückt. Hans Blüher bestätigt Thomas Manns Auffassungen von der Einzigartigkeit des jüdischen Phänomens und vom Ausnahmeschicksal des jüdischen Geistes, der auch an den entlegensten Stellen auf den Vorposten anzutreffen sei. Die Wirkung dieses Blüher-Vortrags kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Was sich schon andeutete, wird nun noch bekräftigt und verstärkt. Mehr denn je wird Thomas Mann auf alles Jüdische aufmerksam und verbindet es mit dem deutschen Schicksal. Hans Blüher gibt den auslösenden, entscheidenden Anstoß zu Thomas Manns ohnehin schon vorhandener Neigung, Jüdisches und Deutsches zu vergleichen. Anzeichen dieses gesteigerten Interesses ist die Beschäftigung des Tagebuchschreibers mit Goethes »verlockenden« Aufzeichnungen über Ahasver, den ewigen Juden (Tbl, 161). Wälsungenblut, so notiert er, müsse nun endlich herausgegeben werden, vorzugshalber in der Urfassung. 241 Das Judentum, so wie Hans Blüher es darstellt, weckt Thomas Manns Aufmerksamkeit fur die jüdische Religion und Kultur, anders als etwa Werner Sombarts Buch über den Zusammenhang von jüdischer Religion und Wirtschaftsleben. Auch diesmal wird vom Judentum ein entstellendes Bild entworfen. Die Universalität, die universale Botschaft des Monotheismus, leugnet Hans Blüher und reduziert sie auf National-Religiöses, ja auf eine Religion der Nation stricto sensu. Thomas Mann nimmt dies völlig unkritisch auf. Auf Anraten Hans Blühers liest Thomas Mann Gustav Landauers Aufruf zum Sozialismus, der 1911 erschienen und 1919 wieder aufgelegt worden war. Landauers Politik-Verständnis ist religiös geprägt. Sein utopischer Sozialismus nimmt zuweilen sogar mystische Züge an. Gustav Landauer verteidigt ein soziales Modell vom harmonischen Zusammenleben der menschlichen Gemeinschaft mit den Waffen der Vernunft, jedoch im Ton der alttestamentarischen Propheten. Die Entfremdung des modernen Menschen führt Gustav Landauer auf die kapitalistische Anbetung des Geldes zurück: »Der Sozialismus ist ein Bestreben, mit Hilfe eines Ideals eine neue Wirklichkeit zu schaffen.« 242 Der Gemeinschaftssinn, der Gustav Landauers Vision beseelt, hat nichts Doktrinäres, und sein gelobtes Land 243 wird durch ein ständiges In-Frage-Stellen erobert. 244 Gustav Landauer ruft zu einer sozialistischen Gesinnung, einem Geist auf, »der alles Leben 241

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Thomas Mann sprach darüber zuerst mit Katia, dann mit der Familie Pringsheim, die sich einer Veröffentlichung von »Wälsungenblut« nicht mehr widersetzte. Der Autor bedauert aber, sich nicht um die Wiederherstellung der bissig-ätzenden Pointe im Urtext gekümmert zu haben (Tbl, 504). Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Hg. und eingeleitet von Heinz-Joachim Heydorn. Frankfurt a. M.: Europäische Verlags-Anstalt u. a. 1967, S. 58. Ebd., S. 90. Ebd., S. 171.

4. Die revolutionäre Nachkriegskrise im >Tagebuch
entdecktGuten Russentisch«< (III, 110), wo die kultivierten europäischen Russen speisen, und daneben ihre primitiveren Landsleute. In diesem Zusammenhang sind die Juden vorzugshalber Grenzgänger, Vermittler, Importeure des Orients mitten im Westen. Settembrini, Sohn einer Deutschen und eines Italieners, Freidenker aus einem katholischen Land, bezeichnet Jesus als den »Rabbi der Menschheit«. Diese Äußerung ist aufschlußreich. Sie unterstreicht Jesus' jüdische Herkunft, die jüdische Wurzel des Christentums und der Weltzivilisation. Hier spricht Settembrini wie Heinrich Heine und ist zugleich Thomas Manns Sprachrohr. In diesem Zusammenhang müssen auch die jüdisch-biblischen Anklänge in der Darstellung von Hans Castorps Abenteuern Erwähnung finden. Der Zahl sieben kommt im Roman eine zentrale Rolle zu: An sieben Tischen tafeln die Gäste im Berghof, sieben ist die Quersumme von Castorps Zimmernummer 34, in Zimmer sieben wohnt Clawdia Chauchat, sieben Jahre verbringt Hans Castorp auf dem Zauberberg. Sieben ist eine symbolträchtige Chiffre mit bibli-

6. Der Zauberberg

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sehen, magischen, astronomischen Dimensionen. Die Sieben bestimmt das Schicksal, sie schafft eine Alchimie, die das Ticken der Uhren aufhebt. Hans Castorp wird zum homo dei mitten im kosmischen Abenteuer, sub specie aetemitatis, der harmlose Hans zum Odysseus. Auch Tannhäuser, Faust, Wilhelm Meister klingen an. Bedenkt man, daß dieser junge Mann - zur ständigen Selbstüberwindung aufgefordert - in eisiger, dünnster Luft die höchsten Gipfel besteigt, so ist er sogar ein Zarathustra. Tapfer durchschreitet Hans die Höllenkreise im Schattenreich wie einst Vergil in Dantes Göttlicher Komödie. Der einfache und doch gescheite Märchen-Hans ist ein schelmischer Grenzgänger, Abenteurer zwischen den Welten. Nichts Menschliches ist ihm fremd, nichts wird ihm erspart, weder die sieben Tische im Berghof, noch die sieben Sünden am Orte, äußerliche Erniedrigung und Verlotterung. Den Reifeprozeß des anfänglichen Simplex Hans begleitet der Leitstern der Chaldäer, für die Castorp lebhafte Sympathie hegt und mit denen er sich gerne identifiziert. Sie lehren ihn, »höllisch auf dem Posten« (III, 535) zu sein. Diese Bewunderung zeigt auch, daß der junge Mann durchaus in der Lage ist, sich jener Vorurteile zu entledigen, an denen sein Vetter, ein Durchschnittsdeutscher, festhält (III, 534f.). Auf seine Weise ist Hans Castorp der würdige Nachfahre der alten Sternenforscher.

6.4.

Konfrontation zwischen Orient und Okzident

Im Riß, der durch den Berghof wie durch die Welt geht, hat das Jüdische eine exemplarische Funktion. H. Castorps Mentoren und die jeweiligen Stellvertreter von Osten und Westen, Naphta und Settembrini, die um die Seele des jungen Castorp streiten wie Gott und der Teufel um die Hiobs oder Faustens, sind feindliche Brüder. Aber auch Gemeinsames kommt subtil zur Geltung. 6.4.1. Settembrini Der uomo letterato, Enkelsohn eines Carbonaro und Mazzini-Anhänger, Bewunderer Garibaldis und Carducéis ist vom selben Schlage wie Lorenzo dei Medici oder Poliziano, die im Novellendrama Fiorenza die Bühne betreten. Dunkles Haar, Schnurbart und schwarze Augen, anmutiges Äußeres bei sichtlicher Armut seiner abgenutzten Kleidung, in seiner Gestik und theatralischen Sprache ganz Ästhet und Kulturmensch, der sein Publikum mit dem ätzendem Humor à la Voltaire und dem sprühenden Geist seiner geschliffenen Rhetorik fur sich einnimmt, zugleich ein lustiger Südländer, der sich in seiner Geschwätzigkeit gefallt, aber nie Überflüssiges plappert. Seine Bemerkungen sitzen und treffen ins Schwarze. Der Italiener erinnert den jungen Hamburger sogleich an gewisse ausländische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Höfen aufspielten und mit emporgerichteten Sammetaugen ihren Schlapphut

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

hinhielten, damit man ihnen Zehnpfennigstücke aus den Fenstern hineinwürfe. >Ein Drehorgelmann!< dachte er. (III, 82)

Ludovico Settembrini ist ein ausgesprochen sympathischer Italiener. Im Verlaufe des Romans steigert sich Castorps Zuneigung zu diesem Mentor, obgleich er geistig Abstand hält und Unabhängigkeit von beiden Lehrmeistern Settembrini wie Naphta - bewahrt: Ach ja, du pädagogischer Satana mit deiner ragione und ribellione, dachte er. Übrigens habe ich dich gern. Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit und Terrorist [...]. (111,660)

Um wie viel liebenswerter und anrührender als früher begegnet hier dem Leser der Zivilisationsliterat. Was hat sich nicht alles geändert seit den Betrachtungen eines Unpolitischen! Der ursprüngliche Entwurf eines »italienischen Literaten, Humanisten, Rhetor und Fortschrittsmann« (XII, 424), der einem »etwas anrüchigen Mystiker, Reaktionär und Advokaten der Anti-Vernunft« (XII, 424) gegenübergestellt wurde, geht auf das Jahr 1912 zurück. Der zunächst als Erzählung konzipierte Entwurf wurde im September 1915 unterbrochen und erst im April 1919 fortgesetzt. Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit haben bei Thomas Mann neue, viel weitreichendere Befürchtungen geschürt. Settembrini stellt nun einen Menschentypus dar, der im Vergleich mit einer weitaus gefährlicheren Spezies recht harmlos erscheint. Der Ausgangskonflikt zwischen Reaktion und Aufklärung ist längst überholt und verjährt (Tbl, 201, 227). Die Angst vor dem Bolschewismus verändert die frühere Konzeption deutlich (Tbl, 225). Das neue Gegensatzpaar, Naphta - Settembrini, heißt Diktatur der messianisch-proletarischen Weltrevolution gegen den liberalen bürgerlich-republikanischen Fortschrittsglauben. Zwischen dem Literaten alter Prägung und dem neueren bolschewistischer Herkunft aber stellt sich Gemeinsames durch jene eigentümliche, verbindende jüdisch-katholische Urquelle her, die schon in der Novelle Beim Propheten angedeutet wurde und in der Form des »theokratischen Demagogen« (XII, 96) in den Betrachtungen eines Unpolitischen wieder auftauchte. Der Freimaurer und Illuminât Settembrini trennt Humanismus nicht von Politik. Er verkündet die optimistische, atheistische Aufklärungsphilosophie mit ihrem Pathos der Vernunft und arbeitet im »internationalen Bund für Organisierung des FortschrittsWeit besser als irgendwo anders hat der hebräische Geist in Italien seinen Zweck erreichte 307

Oder: »[...] auf der ganzen Erde sind die Juden die rührigsten und tätigsten Freimaurer und verstehen es, der Loge ihren Geist einzuhauchen.«308 Zum Be305

306 307

Mehreren Äußerungen Thomas Manns zufolge habe er den Namen von »venti settembre« abgeleitet, dem Tag des Einmarschs der italienischen Truppen in Rom 1870. Wichtl, Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik (Anm. 199), S. 63. Ebd., S. 60.

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Thematik

weis fur einen solchen Einfluß fuhrt Wichtl die fur die Großmeister gebräuchlichen prunkvollen Anreden an: »Vicarius Salomonis als oberster Regent«.309 Wie sehr dieses Hochgradsystem mit der biblischen Geschichte zusammenhängt und von jüdischem Geist durchtränkt ist, zeigt ein flüchtiger Blick [...], da finden wir [...] einen Fürsten des Tabernakels, ja sogar einen Großfürsten von Jerusalem!310

Letztere Benennung gebraucht Naphta für Settembrini (ΠΙ, 704), und der Italiener selbst erstrebt »die Vollendung der Menschheit, das neue Jerusalem« (ΠΙ, 712). Settembrini spricht Jesus jede göttliche Herkunft ab, bestreitet sogar seine historische Existenz: »Ob jener wirklich gelebt habe, sei ungewiß« (III, 403). So referiert der Erzähler Settembrinis Tischgespräch am Weihnachtsabend über den »Tischlerssohn« (III, 403) und »Menschheitsrabbi« (III, 403). Hinter Settembrinis Worten in der Wiedergabe durch den Erzähler schimmert die jüdische Tradition durch, deren Träger und Erbe Jesus sei, und auch Heinrich Heines Passus über den armen Rabbi von Nazareth, [...] >König der Juden< - eben dieser dornengekrönte, mit dem ironischen Purpur behängte Spottkönig der Juden wurde am Ende der Gott der Römer, und sie mußten vor ihm niederknien! Wie das heidnische Rom wurde auch das christliche Rom besiegt, und dieses wurde sogar tributär.311

Und Heinrich Heine kommt sodann auf Monsieur James de Rothschild zu sprechen: »er hat alles Geld dieser Welt in seiner Tasche [...]«, 312 er ist die Verkörperung des Kapitalismus, dem Rom Tribut zollt. In Heines Argumentation werden Imperium Romanum und Römische Kirche, Cäsar und Papst, Heidentum und Katholizismus vom Kapitalismus besiegt. Dieser sei die »sublimste Blüte«313 des Judentums wie schon der Katholizismus eine solche gewesen sei. Settembrini geht in Heines Fußstapfen weiter: Was aber damals geboren worden sei und seinen bis heute ununterbrochenen Siegeslauf begonnen habe, das sei die Idee des Wertes der Einzelseele, zusammen mit der der Gleichheit gewesen, - mit einem Worte die individualistische Demokratie. (ΙΠ, 403)

Damit macht Settembrini aus Jesus von Nazareth den Paten der Demokratie, dieser modernen Menschheitsreligion. Heinesches Gedankengut wird häufig Settembrini in den Mund gelegt: Humanist, - gewiß, ich bin es. Asketischer Neigungen werden Sie mich niemals überführen. Ich bejahe, ich ehre und liebe den Körper, wie ich die Form, die Schönheit, die Freiheit, die Heiterkeit und den Genuß bejahe, ehre und liebe, - wie ich die >WeltMorgenstern< heißt.

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Thematik

Diese Exercitia spiritualia 348 sind das Kernstück der Erziehung in der Gesellschaft Jesu. Sie verleihen dem Orden seinen Halt, wollen »einen jeden in Anpassung an seine innere Veranlagung [...] anleiten« und »[...] einen jeden auf den Weg fuhren, der ihm entspricht.« 349 Diese geschmeidige Anpassungsfähigkeit gestattet Naphta sich einzufügen. Der Erzähler unterstreicht die Klugheit dieser Geisteszucht, in der die Kunst bene disputarteli der Selbstbeherrschung und Vertiefung des Glaubens dient. Ziel sei es, wie vom Orden selbst betont, »dem Willen [...] zur unbedingten Herrschaft« über alle »Launen, Leidenschaften, Neigungen und Einflüsse« zu verhelfen, »die sich vor der christlichen Vernunft nicht rechtfertigen können.« 350 Der Geist wird gezähmt, alle Waffen der Vernunft werden zur religiösen Inbrunst geschliffen. Eine solche Mischung aus Intelligenz und Frömmigkeit ist dem an Talmud und Thora geschulten Naphta nicht fremd. Gerade dieses geistige Training gefallt Naphta. Auch »der Kosmopolitismus der Anstalt« (ΙΠ, 615) kommt ihm gelegen, weil Herkunft und »Rassengepräge« (ΙΠ, 615) völlig bedeutungslos sind. Vom Erzähler werden übrigens ständig Parallelen zu Preußen gezogen (111,619, 621), die u.a. die »geistlich-militärische« Zucht dieses »Kadettenhauses« (ΙΠ, 619) unterstreichen. Der hohe Anspruch dieser Glaubenskadetten mit dem Leitspruch »insignis esse« (ΙΠ, 619) kommt Naphtas Erwähltheitsdünkel entgegen. Der irdisch-sachliche Charakter dieser Berufung zur »Mystik der Tat« 351 entspricht schließlich Naphtas sehnlichsten Erwartungen. Eine zentrale Idee des Ordens ist, »Streiter und Knecht Jahwes« 352 zu sein. Angebetet wird »Christus als Gründer des Gottesreiches, als Welteroberer«.353 »Das Unternehmen Christi ist die Errichtung des Gottesreiches auf Erden, in jeder Seele und jedem Volke.« 354 Das zieht Naphta besonders an, so wird er Katholik, kommt sich selbst näher und kann sich einigermaßen bestätigen. Thomas Mann übernimmt hier offenkundig Werner Sombarts und Heinrich von Eickens Darstellung des Judentums als rationaler und innerweltlicher Askese. Das Jesuitische ist insofern nur eine Form, die Naphta gestattet, sein Judentum zu entfalten. Die »große Armee Jesu Christi« 355 hat etwas Faszinierendes fur Naphta. Sie ist ein Bund, 356 der »im Namen des absoluten Zweckes jedes Mittel, auch das

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Das ist der Titel des Hauptwerkes von Ignatius von Loyola, dem Begründer der Gesellschaft Jesu. Peter Lipperts Schrift aus dem Jahre 1912 gibt einen Eindruck vom Jesuitenorden zu einer Zeit, als Thomas Mann seine Naphta-Figur in den Orden eintreten läßt. Peter Lippert: Zur Psychologie des Jesuitenordens. 2. Aufl. Freiburg: Herder 1956, S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 52. Ebd., S. 68. Ebd., S. 28. Ebd., S. 41. Ebd., S. 89.

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blutige, auch das Verbrechen [...]« heiligt (III, 703). Sie ist ein »Orden der in die Welt hinausgreifenden Tat«,357 Ausdruck »des starken Willens zum Wirken«.358 »Da greifen die Feuerflammen der mystischen Liebe über auf die innerweltliche Praxis und Tat. Sie wird zur dynamischen Mystik.«359 Die Allianz von Geist und Tat zieht Naphta an, er sieht die römische Kirche als Instrument des absoluten Geistes, als »Adel des Geistes« (III, 815) schlechthin an. »Als Verkörperung der religiös-asketischen Idee« (III, 814) ist ihm die Kirche die vornehmste Macht der Menschheitsgeschichte [...], vornehm im letzten und höchsten Verstände, in dem des Geistes. Denn der asketische Geist, - wenn es erlaubt sei, in Pleonasmen zu reden - , der Geist der Weltverneinung und Weltvernichtung sei die Vornehmheit selbst, das aristokratische Prinzip in Reinkultur. (III, 815)

Vertritt Pater Unterpertinger durch Toleranz, Urbanität und geistige Beweglichkeit den modernen Jesuiten, so erinnert Naphta seinerseits daran, daß der Jesuitenorden die Speerspitze der Gegenreformation war. Der Fanatismus unseres Konvertiten ähnelt dem der Jesuiten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, wie sie von Eicken beschrieben werden.360 Die Holzplastik aus dem 14. Jahrhundert in Naphtas Arbeitszimmer,361 eine »Pietà, einfaltig und wirkungsvoll bis zum Grotesken [...]« (III, 544) und »ein frommes Schrecknis« (III, 544), wirkt wie eine Illustration zu Eickens Berichten über Ignatius von Loyola, Balthasar Alvarez und Franz Borgia, die die ständige Vergegenwärtigung der Leiden Christi vorschreiben.362 Naphta gibt seinem Katholizismus eine entschieden eigene, eigenwillige Richtung, in der seine sadistische, blutrünstige Wollust befriedigt wird. Er erzählt von kriegerischen Mönchstypen des Mittelalters [...], welche, asketisch bis zur Erschöpfung und dabei voll geistlicher Machtbegier, des Blutes nicht hatten schonen wollen, um den Gottesstaat, die Weltherrschaft des Übernatürlichen herbeizuführen; von streitbaren Tempelherren, die den Tod im Kampf gegen die Ungläubigen für verdienstvoller als den im Bette geachtet hatten und um Christi willen getötet zu werden oder zu töten für kein Verbrechen, sondern für höchsten Ruhm. (III, 620)

Ist das Ordensziel der modernen Jesuiten »ein rein geistiges und schließt darum die Anwendung physisch-materieller und mechanischer Mittel vollkommen aus [...] oder gar die brutale Gewalt der Waffen«, 363 so bekennt sich 356

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Leo Naphta erklärt Hans Castorp die Idee des Bundes, die im allgemeinen von der Idee des Absoluten nicht zu trennen ist. Lippert, Zur Psychologie des Jesuitenordens (Anm. 349), S. 62. Ebd. Ebd., S. 52. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung (Anm. 250), S. 806. Eine Skulptur der Mater dolorosa haben Thomas Mann und Ernst Bertram zusammen im Rheinischen Museum in Bonn gesehen. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung (Anm. 250), S. 808. Lippert, Zur Psychologie des Jesuitenordens (Anm. 349), S. 64.

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Naphta zur blutigen Tat, zum heiligen Terror: »Gotteseifer kann selbstverständlich nicht pazifistisch, sein, und Gregor hat das Wort gesprochen: Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute !«< (III, 557) Naphta inspirieren die Leitlinien der mittelalterlichen Kirche. Abschaffung des weltlichen Staates, Diktatur des Papstes als Statthalter Gottes sind ihm »Mittel [...] zum Erlösungsziel, Übergangsform vom heidnischen Staat zum himmlischen Reich« (III, 557). Naphta führt den modernen, tolerant-liberalen Katholizismus ins Mittelalterliche zurück, in eine Zeit, in der sich paradoxerweise Weltabkehr einerseits und Herrschaftsanspruch der Kirche über diese negierte Welt andererseits vereinigen. Über das Mittelalter hinaus fuhrt Naphta den Katholizismus zur »eigentlichen Idee des Christentums«364 zurück, wie sie von Heinrich Heine dargelegt wurde: die Lehre von den beiden Prinzipien [...]; dem guten Christus steht der böse Satan entgegen; die Welt des Geistes wird durch Christus, die Welt der Materie durch Satan repräsentiert; jenem gehört unsere Seele, diesem unser Leib; und die ganze Erscheinungswelt, die Natur, ist demnach ursprünglich böse, und Satan, der Fürst der Finsternis, will uns damit ins Verderben locken, und es gilt allen sinnlichen Freuden des Lebens zu entsagen, unsern Leib, das Lehn Satans, zu peinigen, damit die Seele sich desto herrlicher emporschwinge in den lichten Himmel, in das strahlende Reich Christi.365

Diesen grundsätzlichen »Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht [...]« (III, 557) hebt Naphta ähnlich hervor. Heinrich Heine verpönt diesen Manichäismus als einen »künstlichen Hader«,366 eine »allgemeine Lüge, die aus der Unausfuhrbarkeit der christlichen Idee notwendig entsteht«.367 Sie führe die Kirche zu ständigen Kompromissen, zu einem »Konkordat [...] zwischen dem Geist und der Materie«.368 Für Naphta gibt es kein Schlichten. Er wählt, wie es bei Heine heißt, »das asketisch beschauliche Mönchsleben, welches die reinste Blüte der christlichen Idee.«369 Unser Jesuit geht den kompromißlosen Weg der mittelalterlichen Kirche, nämlich Unvereinbares diktatorisch durchzusetzen: [...] der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne. (III, 557)

Dem radikalen Naphta sind alle Mittel zur Errichtung von Gottes Reich recht. Der »Respublica Christiana«370 gibt er jedoch eine eigenwillige marxistische 364 365 366 367 368 369 370

Heine, Sämtliche Schriften (Anm. 36), Bd 5, S. 518. Ebd. Ebd., S. 518. Ebd., S. 534. Ebd., S. 531. Ebd., S. 518. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung (Anm. 250), S.X.

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Prägung. Sein Christentum wird zum Politikum: »Die Väter der Kirche haben Mein und Dein verderbliche Worte und das Privateigentum Usurpation und Diebstahl genannt« (III, 557). Und Naphta holt aus: Nun denn, - alle diese wirtschaftlichen Grundsätze und Maßstäbe halten nach jahrhundertelanger Verschüttung ihre Auferstehung in der modernen Bewegung des Kommunismus. Die Übereinstimmung ist vollkommen bis hinein in den Sinn des Herrschaftsanspruchs, den die internationale Arbeit gegen das internationale Händler- und Spekulantentum erhebt, das Weltproletariat, das heute die Humanität und die Kriterien des Gottesstaates der bürgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegenstellt. (III, 559)

Der Gerechtigkeitssinn und der Rachegeist des Geächteten sowie eine Art atavistischer Messianismus verwandeln das urreligöse, mystische Sehnen nach Harmonie, Frieden und Leben in Gott in eine revolutionär-terroristische Kampfansage: »die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des kommunistischen Gottesstaates [...]« (111,814). Heiliges und proletarischer Terror, Religion und Politik, Jesus und Marx, verschmelzen. Der Religion wird die fromme, aufopferungsbereite, eifrige Inbrunst entlehnt, um eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Die u. a. von Werner Sombart und Heinrich von Eicken so kraß betonte, vermeintliche Diesseitigkeit und Zielstrebigkeit der jüdischen Religion, die ihr eigentlich politisches Wesen sei, schimmert in der Gestalt Naphtas durch. So findet Naphta in der römischen Kirche des Mittelalters und in der Gesellschaft Jesu die Befriedigung seiner intellektuellen, ehrgeizigen Bedürfnisse und seiner Rachsucht. Weder der Übertritt zum Katholizismus noch die Aneignung marxistischen Gedankenguts werden von ihm als Verleugnung seiner selbst empfunden. Die Übergänge von einem geistigen Ort zum anderen vollzieht er ohne Gewissensnöte, er lebt darüber erhaben in geistig-elitärer Höhe. Er ist in seiner Abstraktheit immer bei sich zu Hause, im Unsteten beheimatet. Dem armseligen, strebsamen Judenjüngling schenkt die geistige und weltliche Macht der Kirche die Möglichkeit, seine Wünsche, und seien sie auch noch so widersprüchlich, zu erfüllen: Erwähltheitsdünkel und proletarischer Durst nach Gerechtigkeit, geistiges Streben und irdischer Wohlstand, Askese und Wollust, Grausamkeit und Barmherzigkeit. Naphta schneidert sich einen Katholizismus nach seinem Maß und es gelingt ihm, das kirchliche Kraftfeld aufzusaugen. Er formt es zu einem terroristischen Bund mit dem Ziel, das Reich Gottes auf Erden zu stiften, d. h. für diesen Nihilisten, einen würdigen Nachfahren Dostojewskischer Helden,371 das Reich des absoluten, abstrakten, stets verneinenden Geistes zu errichten. Naphtas ursprünglicher Wesenskern ist immer noch intakt und unauslöschbar. Die Erbkrankheit, »sein ererbtes Leiden« (III, 617), macht aus ihm »ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jésuite mit einer petite tache humide« (III, 569) und versinnbildlicht die Unmöglichkeit, die ureigene Herkunft zu verleugnen oder sie gar loszuwerden. 371

Man denke nur kn den Roman »Die Dämonen«.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

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In Hans Blühers Aristie des Jesus von Nazareth, die Thomas Mann 1921 fasziniert gelesen hat (Tbl, 533, 536, 537), heißt es, ein Jude könne unmöglich zum Christentum übertreten. Keine Angehörigen anderer Völker seien so wenig in der Lage, diese Konversion zu vollziehen wie die Juden. Und falls es dennoch geschehe, müßten sie diesen Schritt mit dem Tod, mit Selbstmord bezahlen. Erwähnt wird Otto Weininger, der vergebens gegen sein Judentum gekämpft habe. In seinem Kopfe Christ, in seinem Leben Jude - daran sei er gestorben.372 Hans Blüher zitiert auch Max Steiner,373 den vermeintlich fast christlichen Baruch Spinoza, den Philosophen Joseph Mainländer und behauptet, sie hätten alle drei aus diesem Grund Selbstmord begangen.374 Die Juden, so meint Blüher, könnten unmöglich im Gravitationsfeld des Christentums leben, ohne den Verstoß gegen die eigene Natur mit dem Leben zu bezahlen. Auch Naphtas Leiden und Probleme kommen »von innen her« (ΠΙ, 616). Naphta bleibt sein Leben lang ein Dissident, er ist und bleibt ein Jude. Bei allem, was er tut und denkt, sind Herkunft und Kindheitstraumata spürbar. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis dieser Gestalt in all ihrer Widersprüchlichkeit. Widerspruch ist seine Natur. Naphta selbst ist diese coincidentia oppositorum,375 Das Jüdische verleiht dieser vielschichtigen, komplexen Figur Stringenz und innere Logik, und zwar zu allererst in der Perspektive von Thomas Manns bisherigem Werk selbst. Naphta trägt in sich die Merkmale, die sonst schon oft Thomas Manns jüdische Gestalten gekennzeichnet haben: übersteigerter Ehrgeiz der Hagenströms oder Aarenholds, Fleiß und Eifer eines Sammet, intellektueller Scharfsinn und verbale Aggressivität der Zwillinge Aarenhold und der Spoelmanns. Rachelust der ehemals Deklassierten wandelt sich in Dünkel und Prunksucht, bei Naphta in genüßliches Auskosten kirchlicher Pracht376 und in offene Revolte gegen das Mittelmaß. Alle diese Figuren sind durch intellektuelle Gaben und soziale Ambitionen charakterisiert. Je klüger sie sind, desto mehr leiden sie unter den inneren Spannungen, die ihnen ihre jüdische Abkunft verursacht. Naphta ist ein neues Glied an dieser Kette. An ihm wird alles zugespitzt, sowohl Misere, Schande, Verdammnis wie auch Hochmut und Erwähltheitsdünkel. Bei keiner der bisherigen jüdischen Gestalten war eine solche Anpas372

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Hans Blüher: Die Aristie des Jesus von Nazareth. Philosophische Grundlegung der Lehre und der Erscheinung Christi. Prien: Kampmann und Schnabel 1921, S. 307. Thomas Mann las auch Max Steiner (Tbl, 433). Max Steiner: Die Welt der Aufklärung. Nachgelassene Schriften. Hg. v. Kurt Hiller. Berlin: Hofmann 1912. Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth (Anm. 372), S. 307. Dies gehört zu den gängigen Klischees der antisemitischen Literatur, die bei Sombart, Blüher, Fritsch (Leiter des antisemitischen Hammer-Verlages), Eicken, A. Rosenberg u. v. a. m. zu finden sind. In diesem Sinne wäre die coincidentia oppositorum bei Leo Naphta jüdisch par excellence, mit Friedrich Nietzsches Worten »die Menschwerdung der Dissonanz«. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 25. Werke in drei Bänden (Anm. 111), Bd 1, S. 133. »Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide« (III, 543) in Leo Naphtas Zimmer, wie es der Erzähler mit den Augen Hans Castorps und seines Vetters beschreibt.

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sungssucht und zugleich hartnäckige Treue zur innersten Natur zu finden. Keine Figur verkörperte in dem Maße den spannungsgeladenen Spagat zwischen den innersten Gegensätzen, die gerade die Persönlichkeit ausmachen. Ihr Rebellieren bekommt eine politische, revolutionäre Sprengkraft, auf die auch der Name 377 deutet. Naphtas Zerrissenheit wird durch die jüdische Herkunft psychologisch erklärt. Der Riß der Persönlichkeit ist der jüdische Wesenskern. Er ist strukturbildend und hält so die auseinander driftenden, sonst unversöhnlichen Gegensätze seiner Natur zusammen. Dieser jüdische Wesensgrund haucht der Gestalt Leben ein und verleiht ihr überzeugende Glaubwürdigkeit. Naphta ist eine interessante, gelungene, fesselnde Figur. Ästhetisch gesehen ist ihre jüdische Natur ein meisterhafter Kunstgriff. Hier verdichtet sich Thomas Manns ungeheure Angst vor dem Bolschewismus, von der die Tagebücher sprechen, die Furcht vor »dem Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer ChristusSchwärmerei« (Tbl, 223). Die Parallele zwischen mittelalterlicher Inquisitionsdoktrin und moderner kommunistischer Intoleranz (Tbl, 206, 211) ist eindeutig. 378 Sie liegt der Gestaltung dieses jüdisch-katholisch-marxistischen Terroristen mit dem explosiven Namen zu Grunde. In den Tagebüchern hatte Thomas Mann die Teilnahme von jüdischen Intellektuellen an den revolutionären Nachkriegsereignissen betont. Naphta trägt in sich die schillernde, anziehende und Schrecken einflößende Intellektualität. »Der Konflikt von Reaktion (Mittelalter-Freundlichkeit) und humanistischer Aufklärung [...]« (Tbl, 200) ist vom Kommunismus überholt worden. Der alte Mystizismus, den die Gestalt des Pastor Bunge im ursprünglichen Konzept verkörpern sollte, ist von einer neuen Mystik, die den Mythos einer klassenlosen Gesellschaft unterhält, ersetzt worden. Diese neue Kirche in ihrer politischen Verkleidung, die Thomas Mann seinen Naphta tragen läßt, ist nicht weniger heuchlerisch. Mit Naphta entlarvt Thomas Mann die politische Spiegelfechterei einer Reaktion, die sich als Avantgarde gebärdet. Unter dem Kostüm des revolutionären Fortschritts lugt der alte Hut hervor. 6.4.3. Inbegriff des Literaten Der Literat Naphta Nicht ausschließlich als Jude ist Naphta mit früheren Figuren Thomas Manns verbunden. Dieser »Geistesaristokrat« (III, 614) hat bekannte Vorläufer in Thomas Manns früheren Werken: Hieronymus aus Gladius Dei, Savonarola in 377

378

Etymologisch leitet sich der Name Naphta höchstwahrscheinlich von dem biblischen Vornamen Naphtali, dem Sohn von Jakob und Bilha, ab. Diese Analogie kam Thomas Mann bei der Lektüre Heinrich von Eickens in den Sinn, und er notiert, daß das Buch »Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung« sehr hilfreich für den »Zauberberg« sei (Tbl, 200).

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Fiorenza oder - auf den Zivilisationsliteraten gemünzt - in den Betrachtungen eines Unpolitischen sowie den Propheten Daniel aus der gleichnamigen Erzählung. Sie alle weisen Züge von Friedrich Nietzsches Priestergestalt aus der Genealogie der Moral auf. Der jüdisch-nazarenisch-katholische Eklektizismus wird bei Naphta noch um die marxistische Komponente erweitert. Diese Figuren verkörpern den Cäsarismus des Geistes. Gladius Dei super terram, cito et velociter, dem Fluch all dieser literarischen Vorfahren würde Naphta voll zustimmen. Auch er wohnt »in dünner Höhe« (VIII, 362), wo kaum mehr zu atmen ist, und vertritt das monistische Prinzip des Geistes. Abstrakter Geist tötet und bringt sich selbst in seinem Streben nach dem Absoluten um. Naphtas geistige Ungebundenheit führt paradoxerweise zur Unterwerfung unter die Armee des Geistes, zur Hingabe an ihn und zur Selbstaufopferung. Sadistische Wollust kasteit das Leben, stiftet Gewalt und Verwirrung. Treffend sagt Settembrini über Naphta: »Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung« (III, 564). Settembrini warnt Castorp vor dieser »halb fanatischen und halb boshaften Rabulistik« (III, 565). Naphtas Gottesbegriff wird zur fanatischen Geistesanbetung, diese zur Unnatur und zum Lebensfeindlichen schechthin, zum Geist, der stets verneint. Die Mystik des Geistes benebelt jegliche Vernunft. Naphtas und Settembrinis geheime Identität Es leuchtet ein, daß noch eine weitere Gestalt in die Reihe von Naphtas Vorläufern gehört, nämlich Settembrini, der Zivilisationsliterat par excellence. Naphta und Settembrini vertreten den gleichen Menschentypus. Sie verkörpern, was Thomas Mann seit langem schon aufspießt: den Dogmatiker, den engstirnigen Prinzipienreiter, den fanatischen Verfechter einer Ideologie, mit Thomas Manns Begrifflichkeit: den Literaten im negativen Sinn des Wortes. Settembrinis dämonischer Zwillingsbruder Naphta ist der weitaus gefährlichere Literat, der Bolschewist. Die beiden Mentoren Castorps, Protagonisten des Ostens und des Westens, tragen in Thomas Manns Augen die Kutte eines Savonarola; auch Settembrini wegen seines einfältigen »Köhlerglaubens« (III, 701) an die Vernunft. Naphta - als katholischer und marxistischer Jude die gewagteste Montage - zeigt die Selbstverblendung des Geistes. Beider Streitgespräche verblassen zu hohlen Abstraktionen, die bei Hans Castorp letztlich keinen Anklang mehr finden: [...] alles ging nicht nur gegeneinander, sondern auch durcheinander, und nicht nur wechselseitig widersprachen sich die Disputanten, sondern sie lagen in Widerspruch auch mit sich selbst. (III, 644)

Letzten Endes läßt sich nicht mehr unterscheiden, »wo Gott und wo der Teufel, wo Tod und wo Leben war [...]« (III, 725). Bald scheint es Naphta, bald Settembrini zu sein, der »das reine Nichts« will (III, 725). Beide weichen vor nichts zurück, nicht einmal vor dem Blute, um ihre eigenen Wahrheiten durchzusetzen (III, 972).

6. Der Zauberberg

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Der höhnisch-kritische Geist ist bei beiden des Teufels. Settembrinis Satana (III, 82) ist zwar die »ribellione, o forza vindice de la ragione« (III, 86), das Prometheisch-Aufklärerische der menschlichen Vernunft. Er zitiert aber auch gern Goethes Mephisto. Wenn Hans Castorp zuweilen Settembrinis »ribellione« (III, 86) mit Naphtas Apologie des Geistes verwechselt, so hat er nicht ganz unrecht. Trotz der allgemeinen »Konfusion«, »Überkreuzung und Verschränkung« (III, 646) sieht Hans Castorp sehr klar das Gemeinsame, 379 Naphtas und Settembrinis geheime Identität: »[...] ein Teufel rechts und einer links, wie man in's Teufels Namen da durchkommen solle!« (III, 640). 380 Die Literaten: Totengräber des Abendlandes Im Sanatorium Berghof gesellen sich zu diesen beiden Literaten noch andere, die den Totentanz des Abendlandes anfuhren. Der schleimige Wissenschaftsapostel Krokowski wurde bereits erwähnt. Er zwingt den Berghof unter die Diktatur seiner Blicke. Ein Bild des Fanatismus bietet auch jener »ehemalige Bildhauer« (III, 876), möglicherweise ein weiterer Jude, mit Hakennase (III, 876), »aus der österreichischen Provinz« (III, 876). Er verfolgt »einen Plan finanzpolitischer Art« (III, 877), »Altzeitungspapier« (III, 877) neu zu verwerten, wie einen »Heilsgedanken« (III, 878). 381 Das Gesicht des Staatsanwaltes Paravant, der die »Quadratur des Kreises« (III, 875) lösen will, trägt »den visionären und verbissenen Ausdruck der Manie« (III, 875). All diese Gestalten sind in Thomas Manns Begrifflichkeit Literaten und illustrieren die Gefahr, sich der »klaräugigen Göttin in die Arme« (III, 874) zu werfen. Pallas Athena, die Vernunft, trübt den Blick der ihr allzu inbrünstig Hingegebenen. Naphta hat nicht die sternklaren, blauen Augen seines Vaters Elia. Verbohrter Geist schaut wie »großer Stumpfsinn« (III, 868) drein. Sogar Settembrini verliert den Verstand, als der »Dämon« der Rechthaberei die Leiden379

380

381

Hans Castorps Verwechslung ist vom Erzähler beabsichtigt. Kristiansen verkennt und mißversteht dies völlig. Berge Kristiansen: Unform, Form, Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Eine Studie zu den Beziehungen zwischen Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« und Schopenhauers Metaphysik. Kjabenhavn: Universitetsforlaget, Akademisk Forlag 1978 (Kopenhagener germanistische Studien; 5), S. 73. Übrigens schätzte Thomas Mann Albrecht Dürers Bild vom »Ritter zwischen Tod und Teufel«, u. a. auch als Gleichnis deutschen Schicksals. Diese Gestalt gemahnt an Theodor Lessing. Auch die Diskussionen zwischen Settembrini und Naphta erinnern an Lessing, der - ohne ganz den Geist zu verleugnen - der westlichen Zivilisation riet, sich am Orient auszurichten. Den Gegensatz zwischen Europa und Asien formuliert im Roman Settembrini. Als Naturschützer trat Lessing für ein ökologisches Gleichgewicht ein. Seine Fortschrittsfeindschaft ist in der verhärteten Argumentation Naphtas gegenwärtig. - Vgl. Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist (Europa und Asien). 3. Aufl. Hannover: Adam 1924, S. 124 und ders.: Die verfluchte Kultur. Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist. München: Beck 1921.

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schañen anfacht und zur »großen Gereiztheit« (III, 947) fuhrt. Das Duell der beiden Kontrahenten Naphta und Settembrini versinnbildlicht das Desaster. Der ganze Berghof stürzt unter der Wucht von Manien und Verrücktheiten zusammen. Da ist beispielsweise ein manischer Antisemit: Der Mann war Judengegner, Antisemit, war es grundsätzlich und sportsmäßig, mit freudiger Versessenheit, - die aufgelesene Verneinung war Stolz und Inhalt seines Lebens. Er war ein Kaufmann gewesen, er war es nicht mehr, er war nichts in der Welt, aber ein Judenfeind war er geblieben. [...] Es sah tatsächlich und unbildlich so aus, als hinge dicht vor seiner Nase eine Puschel, auf die er boshaft schielte und hinter der er nichts mehr sah. (III, 950)

Vorurteile, Schlagworte, Ehrenkodex, Nationalismen, Propaganda, Kollektivhypnosen, deren Höhepunkt Krokowskis Sitzungen darstellen, sind die Vorzeichen eines Untergangs, der zum Donnerschlag des Kriegsausbruches am Ende des Romans fuhrt. Die geistigen Fehden und das ideologische Fechten der Literaten sind Symptome der internationalen Krise. Jüdischer Geist und Weltgeist Gewiß will Thomas Mann dem Antisemitismus keinen Vorschub leisten. Die Episode, die den notorischen Antisemiten der Lächerlichkeit preisgibt, beweist es. Dennoch: auf dem Berghof opfern zahlreiche Juden den neumodischen Götzen, sowohl der Patientenkreis um Krokowski als auch Naphta. Ist nicht der seltsame Ort symptomatisch, an dem Settembrini, Naphta und Lukaçek wohnen? Was soll der Damenschneider Lukaçek mit seiner »übergroßen, abfallenden Nase« (III, 542f.) 382 und seinem böhmischen Akzent, der so schlecht zum schweizerischen »Grütsi« (III, 543) paßt? Ist er nicht ein unheimlicher Hausherr, übrigens wahrscheinlich Jude, arbeitet er doch auch sonntags? Warum hausen hier ein Freimaurer, zwei Juden, der dritte als kunsthandwerkliche Plastik (in Naphtas Zimmer) in einem von Mauerrissen durchzogenen »Häuschen mit der weinumkränzten Haustür« (III, 542)? Und warum dann noch ein Lakai in Livree mit einem recht seltsamen Akzent und dem Schweizergruß, der alles andere als einladend wirkt? Und das Kleid, das Lukaçek - im Schneidersitz auf seinem riesigen Schneidertische hockend - der alten Dame (III, 543) näht? Welcher alten Dame? Der Moira? Kein Zweifel, in dieser Höhle wird am Drama des Berghofes gewebt. Der Schneider hält die Schicksalsfaden, er näht und näht am Schicksal der Menschheit. Hier west der rätselhafte Logos, der die arme, von Donner und Blitz erschütterte Welt zusammenhält. Die »Aftermieter« (III, 553) in Lukaçeks rissiger Bleibe: symbolisieren sie möglicherweise Europa, die Welt, die unter der »Afterlogik« 382

Lukaçek ist ein tschechischer Diminutiv für Lukaç. Sollte Georg Lukács mit seinem ausländischen Akzent und seiner Nase gemeint sein? Oder ist dies eine Anspielung auf Heinrich Heines Bild von der roten »Nase des Weltgeistes«, um die sich die ganze, betrunkene Welt dreht? Heine, Sämtliche Schriften (Anm. 36), Bd 1, S. 211.

6. Der Zauberberg

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(III, 553) zu leiden hat? Hier halten okkulte Mächte die Fäden der Geschichte in der Hand: römische Kirche, Jesuiten, Juden, Freimaurer leben unter einem Dach. Der Hausbesitzer ist ein Krämer. Ist nicht Europa vom Krämergeist beseelt, vom merkantilen Geist des Kapitalismus, der lange triumphiert hat, nun aber von der neuen Doktrin erschüttert wird? Und hat nicht gerade Naphta den Wind der Geschichte im Rücken und wohnt im besten, mit Seide ausgestatteten Zimmer, während der Fürsprecher der überholten Ideologie unverdrossen an seinem alten Pult, auf dem die Wasserkaraffe steht, Widerstand zu leisten versucht? Wenn sich die Märchenszenerie weiterspinnen ließe, dann wäre der Schneider der große Weber am unsichtbaren Schleier der Maya, dem Schleier der Illusionen und der Erscheinungen, hinter dem alles eins ist, Spielball in der Hand des großen Willens, von dem Schopenhauer sprach.383 Dann wären die beiden feindlichen Schwätzer, Settembrini und Naphta, Luftgebilde, verwandte Ausgeburten aus ein und derselben Hand - ihres Schöpfers, des Schneiders Lukaçek. Eine solche Deutung ist freilich gewagt. Immerhin wird sie durch das schelmische Spiel sich unaufhörlich brechender, verzerrender und vervielfachender Spiegelungen nahegelegt, die diesen Roman strukturieren, in dem ein Literat auf den anderen verweist, bis schließlich der Berghof der Ansteckung, vor der Settembrini anfangs warnte, anheimfällt. Der Berghof, nun vollständig in hypnotische Trance versetzt, wird zum Tollhaus. 6.5.

Offenheit als Selbstfindung ohne Selbstverleugnung

Wenn die jüdischen Gestalten in Thomas Manns Zauberberg ein so großes Gewicht haben, dann zweifelsohne aufgrund der zahlreichen jüdischen Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen, die das Antlitz ihrer Zeit und Thomas Manns eigene Umgebung prägen. Seit ein rauherer vitalistischer Wind in Deutschland weht, werden die aufgestauten Vorurteile gegen das Volk des Buches wieder laut. Im Zauberberg spielt das Problem des Antisemitismus kaum eine Rolle. Die Gestalt des Antisemiten Wiedemann ist nur ein armer Tropf, seine Besessenheit die letzte Zuflucht eines Elenden, der, um sich einige Bedeutung zu verschaffen, nach dem Motto grölt: Ich bin zwar nichts, aber zumindest kein Jude! Um den Antisemitismus zu bekämpfen, reicht das nicht aus. Dafür wäre es nötig, das Problem an der Wurzel zu packen und rassische, biologische Klischees zu tilgen. Äußere Merkmale, die der Rassenunterscheidung zugrundegelegt werden, sind oberflächlich und eignen sich keineswegs dazu, Menschen zu klassifizieren oder zu sortieren. Vom »Geist der Rasse«384 spricht Friedrich Nietzsche noch im 19. Jahrhundert. Thomas Mann ist nicht weit davon entfernt. Er registriert interessiert die unterschiedlichen Rassen, hebt sorgfaltig 383

384

Auch das Dionysische darf beim Nietzsche-Kenner Thomas Mann mit der weinumkränzten Tür assoziiert werden: Wein und Blut, des Lebens Auf und Ab. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Maxime 48. Werke in drei Bänden (Anm. 111), Bd 2, S. 612.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

Herkunft und biologische Merkmale hervor. Er tritt jedoch entschieden für Rassenmischung und Assimilation ein. Im Zauberberg wird dem Leser die soziale oder geografische Herkunft der Gestalten vermittelt, und sei es bei Nebengestalten auch nur flüchtig. Es ist viel buntes, internationales Publikum auf dem Berghof. Dies erklärt unter anderem die Bedeutung der Namen und die der jüdischen insbesondere. Gern greift der Erzähler auf Mittel zurück, die es erlauben, knapp und dicht Milieu, Aussehen und Seinsart anzugeben, um seinen Figuren Farbigkeit und Individualität zu verleihen. Dabei kommen ihm auch etwas oberflächlich geratene völkerpsychologische, meistens lustig stichelnde, nie hämische Etikettierungen gelegen. Thomas Manns Zauberhof bietet eine ganze Palette von jüdischen Figuren. Allein schon Naphta ist eine lebendige Anthologie vermeintlich jüdischer Eigenschaften im Guten wie im Bösen. Naphta ist eine der wenigen zentralen Gestalten im Roman, steht an exponierter Stelle und ragt dank seiner außerordentlichen Geistesgaben und Persönlichkeitsmerkmale heraus, die der Gestalt Schlüssigkeit verleihen. Naphta ist eine beeindruckende, komplexe, zugleich sympathische und unheimliche Figur, sie fasziniert Hans Castorp wie den Leser. Dennoch werden im Roman auch antisemitische Klischees bedient, ohne dem Leser ein deutliches Korrektiv mitzuliefern: Das Kind Naphta erlebt eine grausame jüdische Religion. Es besteht zumindest die Gefahr, daß auch der Leser sie so erlebt, weil der Erzähler ihm nicht klar zu verstehen gibt, daß das crux experimentum, die Opfertierschlachtung, von Naphta tragisch mißverstanden wird. Hinzu kommt noch, daß Naphta anpassungsfähig wie ein Chamäleon wirkt und sich so unwandelbar selbst treu bleibt, daß der Eindruck erweckt wird, Jude bleibe Jude. Gabe zur Mimikry und paradoxerweise zugleich sture Beharrlichkeit sind Eigenheiten, die den Juden weithin angedichtet werden. Ist nicht Naphta auch wurzellos, zum unbeheimateten Umherirren des Ewigen Juden verdammt? Settembrinis Anekdoten über die Profitgier jüdischer Ärzte, eigentlich nur amüsante Bonmots zur Verurteilung der herrschenden Geldgier auf der untergehenden »>Titanic«< der Zivilisation (III, 959), laufen Gefahr, einen bitteren Nachgeschmack zu hinterlassen, zumal gerade zu Beginn der zwanziger Jahre mit judenfeindlichen Klischees nicht mehr zu spaßen gewesen wäre. Alles deutet daraufhin, daß Thomas Mann wie die Mehrheit seiner Zeitgenossen reagiert, die den Antisemitismus nicht ganz ernst nehmen. Mit dem Phänomen wird ein bißchen gespielt, wenn nicht sogar kokettiert, als wäre dies die geeignetste Art, den blöden Jux zu bagatellisieren und zu vertreiben. Am stereotypen Arsenal jüdischer Gestalten scheint der Erzähler seinen Spaß zu haben. Mit jovialem Wohlwollen werden im Roman alle und alles karikiert. Vorzugsweise Juden bieten sich dabei als dankbare Kunstfiguren an, als seien sie besonders lustig zu karikierende Exoten Der Erzähler trifft jedoch auch Vorsichtsmaßnahmen, die zeigen, daß er keineswegs antisemitische Klischees ausbreiten möchte. Mit einigen jüdischen Figuren, über die erzählt wird, baut er vor. Sie werden nicht karikiert: der brave Kreisrabbiner, Naphtas Vater Elia, etwas abwegig zwar, aber durchaus

6. Der

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beeindruckend und Respekt gebietend. Auch Leo Naphta überzeugt als Gestalt eben deshalb, weil er keineswegs als Karikatur dargestellt wird. Er ist eher eine tragische Figur, eines Nietzsche würdig, die für ein Sinnbild des modernen Menschen gehalten werden könnte. Naphtas innere Zerrissenheit würde dann folglich auch die verzweifelte Suche nach Halt in einer von Götzenanbetung verblendeten, Gott und Teufel verwechselnden Welt ausdrücken. Nicht allein wegen seines Judentums ist Naphta zentral, sondern seiner überdurchschnittlichen Intellektualität wegen, die Thomas Mann zufolge zahlreiche Juden auszeichnet. Naphta, »ein Mann von Geist« (III, 568), ist »gleich vielen geistreichen Juden«, wie dies der Erzähler selbst hervorhebt, »von Instinkt [...] Revolutionär und Aristokrat« (III, 613Í). Der Rabbinersohn stellt das Paradigma des Geistes schlechthin dar. Es sei noch einmal an Thomas Manns eifrige Lektüre von Sombart, Blüher, Eicken und Landauer erinnert, die zu einer solchen pauschalen Auffassung vom Juden als dem Vollstrecker göttlichen Willens auf Erden beigetragen hat. Leo Naphta, Inbegriff des Literaten, ist auch deshalb eine Hauptgestalt, weil an ihm die Quintessenz der Lehre, die Hans Castorp zuteil wird, als eine wesentliche Botschaft des Romans vorgeführt wird. Vor Ideologen und Ideologie wird gewarnt. Zur Toleranz, zur Öffnung dem Unbekannten gegenüber wird Hans Castorp erzogen, aber auch zum kritischen Denken, zum Ausbalancieren zwischen den Extremen, zum wagemutigen Blick in die schaurigen Abgründe von Wissen und Nichtwissen und zur demütigen, frommen Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Daseins, die den einfachen Menschenverstand übersteigen. Leben und Tod, Körper und Geist, Krankheit, Liebe, Haß, Dualismus, Monismus, Gott und Teufel, alles wird in Naphtas Gegenwart und dank Naphta intellektuell gesteigert, auf die Spitze getrieben und zum »Guazzabuglio« (III, 640) gebracht, bis zur Verwirrung der Begriffe. Das fordernde Erlebnis des Geistigen ist Friedrich Nietzsches Schule: placet experiri, vor nichts zurückschrecken. Erst dann entsteht die große Weisheit, die den kleinen Verstand übertrifft, und vom Blick in das Dionysische gestählt, mutig den weiteren Lebenskampf aufnimmt. 385 Hans Castorp ist ein Wilhelm Meister des 20. Jahrhunderts. 386 Er vertritt die deutsche Jugend, an die sich Thomas Mann gern wandte und die er zur Besinnung auf ihre besten Traditionen aufruft. Mitten im ideologischen Gären, als 385

386

Auch deswegen kann keiner einseitigen Reduzierung des Romans auf Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption zugestimmt werden, wie dies beispielsweise Kristiansen vermittelt. Berge Kristiansen: Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Bonn: Bouvier 1986 (Studien zur Literatur der Moderne; 10). Thomas Mann las Arthur Schopenhauer u. a. auch mit Friedrich Nietzsches Augen. Das Ende, ob Hans Castorp stirbt oder nicht, bleibt in der Schwebe. Das traurig-romantische Lied vom Lindenbaum aus Hans Castorps Munde mitten auf dem öden Schlachtfeld nimmt sich noch wie eine Blüte der Kultur und ein Triumph des Menschlichen aus, aller Barbarei zum Trotz. Selbst wenn Hans Castorp im Krieg fallen sollte, gehen weder Jugend noch Kultur unter. Castorp lebt ohnehin im Leser weiter. Kristiansen bestreitet dies und meint, »Der Zauberberg« sei kein moderner Bildungsroman.

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Zweiter Teil: Ausarbeitung einer jüdischen

Thematik

die Weimarer Republik sich selbst zu finden sucht und sich allen nur denkbaren Quacksalbern ausgeliefert sieht, mahnt Thomas Mann seine deutschen Landsleute nachdrücklich, sich nicht von den Veitstänzen der Heils- und Glücksverkäufer hinreißen zu lassen. Dem Literaten wird nicht mehr - wie noch in den Betrachtungen eines Unpolitischen - nur vorgeworfen, er messe seinen Hirngespinsten zu viel Bedeutung bei und mische sich sogar in die Politik ein. Thomas Mann warnt nun vor den Verlockungen und Verfuhrungen schöner Abstraktionen in wirr gewordenen Köpfen, vor der Zerstörung der Vernunft. Die ursprüngliche Literatenproblematik erhält neue Dimensionen. Thomas Mann ist sich mehr denn je der Verantwortung des Intellektuellen bewußt. Erster Weltkrieg, Revolution, Streit der Meinungen und Ideologien hat er miterlebt, hat daran aktiv und passiv teilgenommen. Worte töten. Eine Lehre des Romans ist deshalb auch: Der Geist sei vor dem Geist auf der Hut! Denn allzu arrogant und selbstsicher wird dieser verbrecherisch. Der Hybris des Intellekts macht Thomas Mann den Prozeß. Nicht von ungefähr werden von Hans Castorp die Chaldäer heraufbeschworen, denn was ihm unter ihrem gestirnten Himmel als homo Dei zuteil wird, ist das hehre Abenteuer des Denkens. Dank ihrer Geistesgaben - so meint Thomas Mann - wirken die Juden wie Katalysatoren, und sie wirken überall: im Osten und im Westen, an allen künstlerischen, politischen, religiösen, ideologischen Fronten zugleich. Leo Naphta kommt im Zauberberg eine vergleichsweise ebenso zentrale Rolle zu wie Mephisto im Faust. In ihm konzentriert sich das Rätselhaft-Dämonische, das sowohl Gewagt-Sublime wie auch Grotesk-Abenteuerliche des Intellekts. Die Neugier, der Eros, das faustische Streben, das unseren Hans Simplex zur geistigen Grübelei und Auseinandersetzung mit allen schillernd fragwürdigen Aspekten des geheimnisvollen Lebens treibt, birgt Gefahren.

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

A.

Lotte in Weimar

Dem Grübeln über die Verantwortung des Geistes entspringen auch die nächsten Werke, sowohl der Joseph-Zyklus wie Lotte in Weimar, um so mehr als in diesen Krisenjahren dem Intellekt der Prozeß gemacht und es Mode wird, vom zersetzenden Geist und vom »Asphaltliteraten« zu reden. Thomas Mann wird nicht müde darzulegen, wie sehr das Leben der geistigen Bändigung, der Kultur bedarf, um überhaupt zu bestehen. Was Thomas Mann zufolge eine tragende Idee für Deutschland hätte sein können, sein sollen, nämlich das Gedankengut der deutschen Klassik, ein Compendium deutscher Tradition, zeigt der Roman Lotte in Weimar. Doch während der Erzähler das literarische Erbe preist, erweist es sich als mehrfach gefährdet. Aus dem Volk der Dichter und Denker erwächst ein unmündiges, serviles Literatentum im bösen Sinne des Wortes. Zwar scheint sich das symbolträchtige Weimar geradezu in der Atmosphäre wahrer, echter Kunst zu sonnen; aber Kunstgeschäftigkeit und -handel, Geschwätzigkeit und Klatsch in Salons und Musenvereinen lassen die Residenzstadt auch ins Zwielicht eines allzu emsigen Literatur- und Literatenbetriebs geraten. Genau betrachtet wäre Frau Eimenreichs Domäne - das Hotel »Elephant« - mit dem »Cerberus« Mager (II, 406)1 eigentlich nicht ohne einen geheimen Schauer, nicht ohne Gruseln zu betreten. Wie Aschenbach in Venedig, wie Castorp auf dem Zauberberg begegnet auch Lotte Sonderbarem. Das Verhältnis von Schein und Sein ist durcheinander geraten. Im Fabelland entscheidet Dichtung über Sein oder Nichtsein. Nur Berühmtheiten sind fur die Malerin Miss Rose, die Lotte aufsucht, von Belang. Für Mager existiert nur das »Buchenswerte«. Das Leben gilt diesen Weimaranern nichts, die Kunst alles.2 Die fiktive Lotte aus dem Werther ist ihnen unendlich viel mehr wert als die lebendige, die im Hotel »Elephant« absteigt. An einem Künstler, der vom Leben nur gerade soviel flatterhaft nascht, daß er daraus Stoff für sein Werk 1

2

Im Text heißt es ironisch gebrochen, gerade durch die Verneinung vielsagend: »[...] unser Herr Mager, hat nicht die Miene eines Cerberus«. Sie neigen dazu, ihre Wirklichkeit einzig unter dem ästhetischen Gesichtspunkt zu beurteilen. Wirklichkeitsferne und Lebensflucht stempeln sie zu Literaten im negativen Sinne ab.

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Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

gewinnt, wird kaum Anstoß genommen (II, 484). 3 Und Weimar ist ein Reich der Schatten. Als »Dichtergenügsamkeit« wird die Tatsache gelobt, Goethe habe »zu Zeiten so recht einen Cuit mit dem armen Schatten getrieben« (11,451), er schätze Schattenrisse mehr als die Wirklichkeit in Fleisch und Blut. Allein, Goethe weiß um die Unzulänglichkeit seiner Landsleute: »Sie würdigen, wenns hoch kommt, das Werk, das Leben würdigt keiner« (II, 654).

1.

Leben und Kunst

Um wieviel komplizierter es mit der Dialektik von Leben und Kunst steht, als es das Weimar des Romans zu ahnen vermag, scheint einzig Thomas Manns Goethe zu wissen. 4 Er kennt das Geheimnis des Stirb und Werde, den großen Austausch, die Metamorphose von Leben in Kunst, den gebührenden Verzicht, die schmerzliche, aber auch lohnende Entsagung. Der Kunst das Leben aufopfern heißt für die Goethe-Gestalt Gewinn an Lebensintensität. »Die Fülle des Lebens, der Menschheit, das Kindermachen ist nicht Sache der Poesie, des geistigen Kusses auf die Himbeerlippen der Welt« (II, 647), bemerkt Goethe im Roman. Das Geheimnis der Metamorphose besteht gerade darin, »die Exi3

4

Goethes Seitensprünge werden als Anregung zur künstlerischen Verarbeitung wohlwollend begrüßt. Ihm ist eine gewisse Kälte und Wirklichkeitsscheu nicht fremd. Die Versuchung ist groß für ihn, lieber über die Scherenkunst Kontakt mit Lottes Kindern zu haben, sich ins Reich der Kunst zurückzuziehen. Auch Lottes Ankunft stört, weil sie einen Einbruch der Wirklichkeit in das gebrechliche Gleichgewicht des Künstlerlebens darstellt. Was Goethe vor der Gefahr des Ästhetizismus und des Literatentums im bösen Sinne rettet, ist das Wunder des Genies. Es besteht im doppelten Segen, in der doppelten Beheimatung, im geistig-irdischen Vermögen, aus dem dionysischen Lebensfluß zu schöpfen, um ihn apollinisch zu bändigen. Thomas Manns Goethe besitzt die Hermes-Gabe der Übersetzung, der Vermittlung zwischen Leben und Geist, der Verarbeitung des Lebens. - Koopmann deutet die Kunst- und Lebensauffassung dieser Goethe-Gestalt ganz anders (wie übrigens die fiktiven Weimaraner im Roman): »Goethes Dasein in Weimar: ein Emigrantendasein, in dem nur die Silhouetten eigentliche Wirklichkeit und Bedeutung haben.« Helmut Koopmann: Schattenspiele, Schattenrisse. Die Auseinandersetzung Thomas Manns mit Gerhard Hauptmann und Veränderungen im Wirklichkeitssinn des Emigranten Goethe in Weimar. In: Thomas Mann. »Lotte in Weimar«. Künstler im Exil - L'artiste et son exil. Texte zusammengestellt v. Philippe Wellnitz. Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg 1998 (Etudes germaniques), S. 46. - Die allumfassende Ironie ist m. E. keineswegs Ästhetizismus, keine »ästhetische Unverbindlichkeit«, wie dies häufig in Hinsicht auf Thomas Mann behauptet wird, zum Beispiel von Hermann Kurzke (Kunst und Politik im Werk Th. Manns vom Ersten Weltkrieg bis zur Weimarer Republik. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Viktor Zmegac. Frankfurt a. Main: Hain 1984 [Athenäums Studienbuch: Literaturwissenschaft], S. 33-44), sondern Ethos und Eros, gütige Lebensnähe und Liebe zum Leben.

A. Lotte in Weimar

177

Stenz auf^zujgeben, um zu existieren«; und »das Kunststück will freilich gekonnt sein [...]« (II, 644). »Ich sage euch: Machs einer nach und breche nicht den Hals!« (II, 654). Solch hohe Kunst ist ein Salto mortale, ein alles oder nichts, bedeutet den Einsatz des ganzen Lebens für die Kunst und über sie hinaus. Diese Synthese von Kunst und Leben macht aus Goethes Existenz etwas Einmaliges, ein Kunstwerk. Er ist Künstler und Lebenskünstler. Durch sein Streben ist Thomas Manns Goethe der Riese in einem Weimar von Liliputanern, der einzige, dem es gelingt, Kunst und Leben miteinander zu verweben.5 Kunst ist ihm erhöhtes Dasein, »geistig und sinnlich auf einmal« (II, 741), »die Gabe der Lebenserneuerung aus dem Geist« (II, 644), »geistverstärktes« (II, 644), geniales Leben. Goethe ist der »Ironiker« (XII, 568), wie er schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen beschrieben wurde: »Das Verhältnis von Leben und Geist ist ein äußerst delikates, schwieriges, [...] erregendes, schmerzliches, mit Ironie und Erotik geladenes Verhältnis [...]« (XII, 568). Genie ist Aufhebung der Gegensätze, Synthese, »Mittel- und Mittlerstellung zwischen Geist und Leben« (XII, 571). Quelle einer solchen Kunst ist das Leben, und diese Kunst will Quelle des Lebens sein, ein ethisches Modell geistiger Lebensform6 und produktiver Selbstzucht. Zum literarischen Genie Goethes gehört auch der pädagogische Wille, auf seine Mitmenschen zu wirken. Kultur ist ihm Verantwortungsbewußtsein, Zucht und Erziehung.7 Machte sich der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen noch über die Losung lustig »>Der Geistige handle«< (XII, 579), Goethes Wort rühmend: »Der Handelnde ist immer gewissenlos« (XII, 579), so zeigt er jetzt Goethe als einen Dichter, der von dem Willen beseelt ist, der Menschheit und namentlich seinen Landsleuten zu helfen.

2.

Deutsches Literatentum

Dem großen deutschen Mentor gelingt allerdings eines nicht: die Symbiose mit dem deutschen Volk; nicht mit bornierten Lakaienseelen wie Mager, nicht mit nörgelnden Untertanen wie Riemer, nicht mit den vor lauter Anbetung und 5 6

7

Lotte scheint das am Ende des Romans verstanden zu haben. »Geist - ein Produkt des Lebens - , das auch wieder in ihm erst wahrhaft lebt. Sind aufeinander angewiesen. Lebt eines vom anderen«, sagt Thomas Manns Goethe (II, 641). Über das Verhältnis von Kunst und Politik: Thomas Mann, Der Künstler und die Gesellschaft: »Was die Politik betrifft, so war auch er [Goethe], wie sehr er auch den Künstler vor ihr warnte, ganz außerstande, das Unlösliche zu lösen und die Verbindung aufzuheben, die zwischen Kunst und Politik, Geist und Politik unweigerlich besteht. Hier wirkt einfach die Totalität des Menschlichen, die sich auf keine Weise verleugnen läßt.« (X, 394). Jacques Darmaun: »Lotte in Weimar«. Leiden an Deutschland oder Unbehagen in der Kultur. In: Thomas Mann. »Lotte in Weimar«. Künstler im Exil (Anm. 4), S. 199f.

178

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Bewunderung Gelähmten (ζ. B. Goethes Tafelgästen), nicht mit den Nationalgesinnten, die aus der Sicht des Dichterfürsten einer falschen Idee der Nation nachjagen. Weimar mit all seinen sich künstlerisch gebärdenden Dilettanten, Bildungsphilistern, Schreiberlingen, Buchhalterseelen, literarischen Karrieristen wie John, nationalistischen Rattenfängern aller Couleurs ist dabei, in eine Berghofatmosphäre umzukippen. Auf Weimar, die Hochburg deutscher Kunst und Literatur, fällt das fatale Dämmerlicht eines recht fragwürdigen Literatentums. Nicht dem besseren geistigen Führer Goethe laufen die Deutschen in die Arme, sondern sie geraten in den Sog eines intoleranten Ungeistes. Noch starrt das Volk zur Hotelsuite Lottes, eines Tages wird es den leibhaftigen Braunauer Literaten8 dort oben angaffen. Wie schon im »Berghof« in Davos läuft alles auf einen Krieg hinaus. Thomas Manns Bild vom guten und bösen Literaten bleibt bestehen. Vor der Gefahr bösen Literatentums wird gewarnt wie auch schon im Zauberberg oder im Essay Bruder Hitler aus dem Jahr 1938. Die Warnung gilt aber nun mehr denn je der Verhunzung des ersehnten guten Literaten. Die biblischen Patriarchen Abraham, Eliezer, Jacob, Joseph sind, wie wir sehen werden, die archetypische, veredelte Version des wortkundigen und tätigen Geistes, der Denkender und Handelnder zugleich ist. Er formt Gott und die Welt nach seinem Bilde. Freilich wird auch wohlwollend-ironisch auf die Ausuferungen des Geistes aufmerksam gemacht, und zwar gerade dann, wenn er von den besten Absichten beseelt ist. Auf ihn ist die Menschheit angewiesen, will sie sich voll entfalten.

B.

Joseph und seine Brüder

1.

Die Wiege der Menschheit

Bereits Der Zauberberg zeigt Hans Castorps Schwäche für die Chaldäer. Thomas Manns Faszination für das Archaische am alten Orient wirkt noch Jahrzehnte nach. Das Geheimnis des Menschen und seiner Ursprünge, dem Hans Castorps Traum vom homo dei gilt, führt den Autor auf die Fährte der frühen Kindheitsgeschichte der Menschheit, an die Quelle abendländischer Kultur zurück. Die Bildergeschichte des Münchener Kunstmalers Ebers, die das Leben des biblischen Joseph (XI, 136) darstellt, gibt lediglich den letzten Anstoß zu einem schon lange keimenden Erzählwerk. Die hebräische Saga fungiert zunächst einmal als Modell einer primitiven Menschheit, auf die sich das verunsicherte, im kulturellen Unbehagen befindli8

Hitler stieg mehrfach im Hotel Elephant ab, jedesmal von den herangekarrten Massen bejubelt. Lange spielte Hitler mit dem Gedanken, die Reichsparteitage in Weimar abzuhalten, die dann schließlich (ab September 1936) in Nürnberg stattfanden. - Thomas Mann in: Die Wiedergeburt der Anständigkeit (1931): »[...] was wären die Wortführer des >Nationalsozialismus< anderes als schlechte Literaten?« (XII, 676).

Β. Joseph und seine Brüder

179

che Abendland stürzt, um sich seiner selbst und seiner Ursprünge zu vergewissern. Dieses Eintauchen in den »Brunnen der Vergangenheit« (IV, 9) ist keineswegs Flucht, sondern die Reaktion auf ein aktuelles Zeitbedürfnis. Außerdem mag es Thomas Mann gelegen kommen, sich näher mit dem jüdischen Phänomen zu befassen, das ihn mehr denn je interessiert. So läßt er sich auf die Juden in status nascendi ein. Zumindest am Anfang des fur ihn reizvollen Unternehmens ist er sich dabei der politischen Brisanz und heiklen Aktualität seiner Thematik nicht voll bewußt. 1.1.

Beweggründe und ursprüngliche Absichten

Der langwierige Entstehungsprozeß des Joseph-Zyklus, zu dem thematisch noch die Erzählung Das Gesetz gehört, erleichtert den Zugang zu Thomas Manns biblischen Stoffen nicht. Die Arbeit erstreckt sich über den Zeitraum von 1926 bis 1943.9 Diese lange Entstehungsdauer schließt ein, daß sich die ursprüngliche Romankonzeption unter dem Einfluß des jeweiligen Zeitgeschehens verändert haben kann. 1937 erklärt Thomas Mann bei einer Konferenz über den Antisemitismus: Es ist nicht so, daß ich mit diesem Buch gegen gewisse Tendenzen der Zeit hätte opponieren und demonstrieren wollen, daß ich es mit dem Roman auf eine Apologie des Judentums gegen den Antisemitismus hätte abgesehen gehabt. Gegen die oppositionelle Rolle, in die das Buch durch die Entwicklung der äußeren Dinge hineingeraten ist, habe ich nicht das geringste einzuwenden, sie ist mir sogar sehr lieb und willkommen. Aber zugedacht war sie dem Buch nicht, nicht habe ich ein JudenEpos, sondern ein Menschheits-Epos schreiben wollen [...]. (XIII, 486)

Die Wahl dieses Stoffes, die den Schriftsteller so viele Jahre beansprucht, habe, so meint er, keinesfalls mit dem damals schon grassierenden Antisemitismus zu tun. Eine solche Einstellung ist charakteristisch, gleichsam symptomatisch für das Verhalten einer breiten Öffentlichkeit, die den herrschenden Antisemitismus nicht wahr- oder nicht ganz ernst nehmen will. Die für die Entstehung des Joseph-Romans entscheidenden Jahre 1924-1929, vor allem für die ersten beiden Bände, fallen in eine Zeit der relativen Stabilität in der Weimarer Republik. Es bleibt festzuhalten, daß judenfeindliche Klischees überhand nehmen und die zahllosen antisemitischen Publikationen des HammerVerlages unter der Leitung von Theodor Fritsch oder die Umtriebe des »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes« keinen Skandal auslösen. So stellt sich ein gewisser Gewöhnungseffekt ein, besonders die Neigung, das Übel zu bagatellisieren. In der politischen Arena schlagen sich lediglich die SPD und die Linksliberalen gegen den Antisemitismus.10 Seitens der Kirchen waltet eine peinliche Zögerlichkeit, wenn nicht gar eine gewisse Zweideutigkeit wie im Artikel des 9

10

Brief vom 5.1.1943 an E. Meyer. Thomas Mann: Briefe. Bd2: 1937-1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M.: Fischer 1979, S. 288. Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1981 (dtv: Geschichte; 1745), S. 280f.

180

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Großen Herder,11 der, um gegen den Antisemitismus vorzugehen, den Juden rät, sich anständig zu benehmen, damit sie keine Angriffsflächen böten.12 Charakteristisch ist in diesen Jahren ein allgemeines, unrühmliches Verzagen und Versagen dem aggressiven Antisemitismus gegenüber. Thomas Manns langjährige Scheu, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, ist auch hier offensichtlich und verständlich, wenn man an die Unannehmlichkeiten mit Wälsungenblut, an den Briefwechsel mit Jakob Wassermann oder den Artikel im Neuen Merkur denkt, den der Autor schließlich 1921 zurückgezogen hatte. Seine grundlegenden Ansichten und Einstellungen haben sich nicht gewandelt: 1926 glaubt Thomas Mann mehr denn je an Rassen, an ihre spezifischen Eigenschaften, im Guten wie im Bösen. In seiner Pariser Rechenschaft aus dieser Zeit zeigt er sich nach wie vor fasziniert von der bunten Vielfalt der Rassen: »Ach ja, die Völker, die Menschenarten, die Typen der Welt! Es ist etwas für mich, ich weite mich, schaue und heiße gut« (XI, 43). Genüßlich notiert er die »Rassenfrische« (XI, 43), die »keltischen hellgrauen Augen« (XI, 44) des Mr. Marcus Aurelius Goderich von der Chicago Tribune: »Der Sinn für Humor bleibt der oberste Vorteil dieser Rasse und wird nie aufhören, mich ihr zu verbinden [...]« (XI, 44) »Der weinblonde kleine Deutsch-Italiener, Isenburg« (XI, 44)13 kommt ihm weit weniger interessant vor. An Joseph Chápiro wird das Russisch-Jüdisch-Französische (XI, 44) hervorgehoben, das anpassungsfähige »Mittlerethos des Mischlings, betriebsam, opferbereit [...]« (XI, 44). Graf Richard Coudenhove-Kalergi beeindruckt ihn ganz besonders, »gemischt aus dem internationalen Adelsgeblüt Europas«, einem »eurasischen Typus vornehmer Weltmenschlichkeit« (XI, 46). Dieses Interesse fuhrt Thomas Mann noch 1926 dazu, an sich selbst »das Patrizisch-Städtische, das stammesmäßig Lübeckische oder das allgemein Hanseatische« (XI, 378) zu betrachten.14 Tiefenpsychologische Kenntnisse bekräftigen seine Überzeugungen: »Wir wissen heute, was es mit den Kräften des Unbewußten, Unterbewußten auf sich hat und wie sehr alles Entscheidende aus dieser wesentlichen Sphäre stammt [...]« (XI, 385). Thomas Mann schlußfolgert, »daß niemals der Apfel weit vom Stamme fallt« (XI, 385), er selbst sei

11 12

13

14

»Der große Herder« ist ein katholisches Lexikon. Der große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. 4., völlig neubearb. Aufl. von Herders Konversationslexikon. Bd 1, Freiburg i. Br.: Herder 1926, S. 725. Guido Isenburg übersetzte als erster »Tonio Kröger« ins Italienische. Milano: G. Morreale 1926. Die Versuche, Thomas Mann in böswilliger Absicht eine jüdische Abkunft zu unterstellen, hören nicht auf. Zwölf Jahre nach Adolf Bartels' ersten Attacken gibt dieser nicht auf: »Literarisch gehört Mann auf alle Fälle zu den Juden.« Adolf Bartels: Thomas Mann, der Schriftsteller. In: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung vom 11.6.1922. Zitiert in: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891-1955. Hg. mit einem Nachwort und Erläuterungen von Klaus Schröter. Hamburg: Wegner 1969, S. 95.

Β. Joseph und seine Brüder

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»als Künstler viel >echterIch< sagte und zum anderen >DuSei heilig, wie ich es bin!< hat die Heiligwerdung Gottes im Menschen bereits zur Voraussetzung; sie bedeutet eigentlich: >Laß mich heilig werden in dir, und sei es dann auch!< (IV, 319)

Der Erzähler weist hier nachdrücklich auf die fortschreitende Vervollkommnung und »Läuterung Gottes aus trüber Tücke zur Heiligkeit« hin (IV, 319fi). Er hebt die unauflösbare, enge »Verknüpfung« (IV, 320) mit der Entfaltung des Menschen hervor, in dessen Geiste sich alles »nach Gottes dringlichem Wunsche vollzieht« (IV, 320). Gott erlangt »seine wirkliche Würde nur mit Hilfe des Menschengeistes [...]« (IV, 320). Die göttlichen Verheißungen erfüllen sich nicht »ohne des Menschen Zutun« (IV, 273). Abraham, Isaak, Jaakob und Joseph fügen sich der göttlichen Ordnung. Um den Verheißungen zu entsprechen, zieht ein jeder - Abraham, Isaak oder Jaakob - aus, die schickliche Frau heimzuführen. Aus demselben Grunde hat der Segen einen so hohen Stellenwert. Der auserwählte Erbe soll der rechte sein, er muß über die nötigen Eigenschaften verfügen, um der Erbschaft würdig zu sein. Täuscht Isaak vor, sich betrügen zu lassen, dann eben, weil der rothaarige Esaù ein triebbesessener, wilder Tölpel ist und infolge dessen nur ein sehr mickriger, armseliger Gesegneter wäre, während der sanft-kluge Jaakob den Ansprüchen voll genügt. Und Jaakob seinerseits wird nicht jene segnen, die vor dem Höchsten sündigen. Ein eifersüchtiger Gott straft Jaakob wegen seiner unerlaubten Leidenschaft für Rachel und der Bevorzugung seines Lieblingssohns Joseph, denn: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir! Reine Geistigkeit heißt auf persönliche Interessen verzichten.

1.3.

Genealogie der Moral: das Volk des Gesetzes

1.3.1. Geistige Gemeinschaft: Das Primat des Kollektiven Die Einordnung in das kollektive Unternehmen wird im dämmrigen Morgengrauen menschheitlichen Erwachens an den Mentalitäten festgemacht. Es

Β. Joseph und seine Brüder

183

scheint »des Mondes Klarheit« (IV, 121) über die anfangliche Strukturierung des Ich zu gebieten. Der Erzähler beleuchtet in den Lebensbeschreibungen der Patriarchen seltsame Ähnlichkeiten, die wir als Imitation oder Nachfolge bezeichnen möchten, eine Lebensauffassung nämlich, die das Gebot individuellen Daseins darin erblickt, gegebene Formen, ein mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart auszufüllen und wieder Fleisch werden zu lassen. (IV, 127)

Die Einzelperson, nur ein Mitglied des Geschlechtes, hat sich noch nicht zu einem Ich entfaltet. Beim »tiefreichenden Schwanken des Seins« (TV, 128), bei »der schwankenden Bewußtseinslage« (TV, 128) hat - den vorgegebenen Mustern entsprechend - die Gruppenbindung Vorrang. Alle identifizieren sich mit den großen Vorfahren, in deren Spuren sie gehen. Beispielweise »war Esaù nun einmal Kain« (TV, 135). Der Charakter ist wie eine zugewiesene und einzuhaltende Rolle. So verewigt sich eine Struktur, die dem Ganzen Halt und Dauer sichert. In seiner Festrede auf Sigmund Freud entlehnt Thomas Mann 1936 Ortega y Gasset das Bild vom Torrero (IX, 495), der zurückweicht, bevor er zum tödlichen Hieb ausholt: Er suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich geschützt und entstellt, in das gegenwärtige Problem hineinzustürzen. Darum sei ein Leben in gewisser Weise ein Beleben, ein archaisierendes Verhalten. (IX, 496)

Leben heißt immer wieder nach-leben. Der Mensch folgt in biblischer Zeit den Spuren der Vergangenheit. Durch Wiederholung und Identifikation verlieren sich der ursprüngliche Abraham wie der erste Eliezer, der erste Isaak, der erste Jakob oder der Ur-Joseph in grauer Vorzeit. Das Leben der Vorgänger wird nachgelebt, das Leben der Ahnen wird wiederholt. Geschichte wird zur Treue zu den hehren Urvätern, zum Bund mit vorgelebten Mythen, einzig dem Gesetz der Verheißung und der Hoffnung verpflichtet. Nun gilt fur Thomas Manns Gestaltung im Epos das einmal Vorgegebene nur als heuristisches Schema, der Mythos als abwandelbare Struktur, um der Gegenwart mächtig zu werden. Die Vergangenheit ist hier kein Gängelband, sondern zukunftsträchtig. »Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill und schon hinaus ist, und er verwirft's und verflucht's« (TV, 474). Bei einem solch freien Umgang mit den Mythen bekommt die Wirklichkeit Abrahams Gepräge, ihr werden »die Linien des >großen< Mythus« (TV, 200) aufgezwungen. So heißt es, der »Herr erwählt [...] in dem er die Erstgeburt sich ersah, nicht nach dem Fleische und Mutterleibe, sondern dem Geiste nach. Und die Sanftmütigen und Klugen waren es, die er erwählte« (TV, 118). Die Gemeinschaft fügt sich der strengen Zucht, beispielsweise Esaù: »Seine Art, die Dinge und sich selbst zu sehen, war durch eingeborene Denkvorschriften bedingt und bestimmt, die ihn banden, wie alle Welt [...]« (IV, 134). Das geistige Erbe lenkt Denken und Tun, Tradiertes hat die Macht einer kollektiven Imago.

184

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

1.3.2. Das Gesetz der Väter als Über-Ich Josephs Geschichte, wie sie vom Erzähler dargeboten wird, beschreibt einen Reifeprozeß, den Weg zum bewußten Mitglied einer Gemeinschaft und das Vorstoßen zur eigentlichen Ich-Entfaltung. Die werdende Persönlichkeit besteht den Kampf gegen die dunklen Mächte eines triebhaften Es, und zwar dank der Identifikation mit dem Gesetz der Väter, das die Rolle des Über-Ich spielt. Die Rache der Brüder an Joseph hingegen zeugt von einem barbarischen Zustand, in dem das Es noch die Oberhand hat: Es ist nicht zu leugnen, vielmehr zu betonen, daß die Aufführung der Jaakobssöhne, soviel Gerechtigkeit ihr zur Seite stehen mochte, die allerbeschämendste war, ja geradezu rückfällig genannt werden mußte. Sie gingen unter die Menschheit hinab und erinnerten sich ihrer Zähne, um den Blutend-Halbohnmächtigen das Mutterkleide vom Leibe zu reißen, da ihre Hände leider noch mehr zu tun hatten. (IV, 556)

Die Gesichter der Brüder wurden »[...] so rot wie die gewundenen Stämme der Bäume in ihrem Rücken, rot wie die Wüste, dunkelrot wie der Stern am Himmel, und ihre Augen schienen Blut verspritzen zu wollen« (IV, 555). Rot ist das Zeichen des Rückschritts, des Rückfalls unter die Rothaarigen, zu den Kains und Esaus, die von der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Dennoch gibt es sogar unter den Rothaarigen andeutungsweise ein Über-Ich, das Gewissensbisse ahnen läßt (IV, 559f.). Joseph, der den anderen voraus ist, drückt es aus: »Wir wissen's so gut wie allein in der Welt, was Sünde ist« (V, 923). Und wenn Joseph von jeglichem Kontakt zu seiner ursprünglichen Gemeinschaft abgeschnitten ist, völlig auf sich allein gestellt, so vermag er sich an das innere Gesetz, das verinnerlichte Bild des Vaters, zu halten, das die Rolle des ÜberIchs übernimmt. Auch im Moment der Versuchung hält ihn der Gedanke an Jaakob, den Vater, zurück (V, 1258). 1.3.3. Die Macht des Wortes: Die ersten Literaten Israels geistiges Streben führt zu konkreten irdischen Handlungen am Bau des Reich Gottes auf Erden. Die vom Herrn Gesegneten sind die Friedlichen, die Sanften, die Hirten, »vom Geschlechte Habels, des Zeltbewohners« (IV, 115). Ihnen ist das Wort heilig, es ist die läuternde, heilende Kraft. Joseph ruft aus: »Denn es ist köstlich, Weisheit und Sprache zu besitzen, daß man zu reden und zu erwidern versteht und alles zu nennen weiß« (IV, 115). Zauber ist in den Worten, in der Bedeutung der Vor- und Ortsnamen, weil sie einen ständigen Bezug zu Gott haben. Beliebt und ergiebig sind Geschichten gerade deshalb, weil sie schon bekannt sind. Sie bilden den geistigen Schatz, aus dem Abrahams Nachfahren Kraft schöpfen, um die Gegenwart auf die Zukunft hin zu gestalten. Der »Zwiegesang« (IV, 114) zwischen Jaakob und seinem Sohn Joseph illustriert dem Sohn (und dem Leser), was »ein >Schönes Gespräch«< (IV, 116) bedeutet. Das Wort ist alles, Fluch und Segen, Traum und zugleich Deutung, Bote von

Β. Joseph und seine Brüder

185

ganz oben und auf Erden ein Mittel zum Handeln. Seinen langen Weg zu Laban ebnet sich Jaakob in der Not mit schönen Geschichten. Sein Sohn, ganz des Vaters würdig, erheischt die Gunst Ägyptens dank seiner gelösten, unbeschwert heiteren Rede. Diese Urväter, die den Menschen das Feuer des Logos als heiliges, heilendes, erlösendes Mittel gebracht haben, entsprechen ganz und gar dem uns vertrauten Bild des Literaten im besten Sinne des Wortes. Diese Propheten von prometheischer Größe gleichen Friedrich Nietzsches alttestamentarischen Figuren. Jaakob mit seiner »[...] groß und gebrechlich gebauten Nase, deren Nüstern dünn und weit waren und deren gebogener Rücken eines geschliffenen Messers Scheide glich, [...]« (IV, 210) erinnert schon physisch an Leo Naphta und an die geistige Strenge seines Vaters Elia im Zauberberg. Eliezers Redseligkeit und Zungenfertigkeit (IV, 435f.) gemahnen an Settembrinis Wortschwall und erzieherische Mühen. Nicht anders Moses aus der späteren Erzählung Das Gesetz, der mit dem Wort Gottes die Menschheit formt. Joseph verdient besondere Aufmerksamkeit, er ist ein Muster an Vollkommenheit, wahrlich ein kleiner Gott und Gottes Sohn. Er vertritt einen aktiven, tätigen Humanismus. Dieser Faust schlägt dem Bösen ein Schnippchen und findet Erfüllung im Dienst an seinen Menschen-Brüdern. Es heißt von »JungJoseph« (IV, 403): Er sah ein, daß dem Menschen »Gott Verstand gegeben, damit er das Heilige, aber nicht ganz Stimmende verbessere [...].« (IV, 403) Wie in G. W. F. Hegels Phänomenologie des Geistes wird die Schöpfung durch den Menschen als Statthalter des Weltgeistes, durch das fortschreitende Eingreifen des Weltgeistes in die reale Geschichte vollendet. Doch der Weg zum Licht vollzieht sich auch unter bedenklichen Vorzeichen. Näher betrachtet, lugt hinter Faustens Maske Mephistos hämische Grimasse hervor.

2.

Der Schatten des Nationalsozialismus: völkische Abkapselung und Rassenkult

2.1.

Der Bund: ein Teufelspakt

2.1.1. Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer Im zweiten Prolog hat auch der Teufel das Wort, was den heiligen Bund mitunter in ein Zwielicht taucht: Was der große Semael, eine Hand am Kinn, die andere perorierend gegen den Thron ausgestreckt, in Vorschlag brachte, war die Verleiblichung des Höchsten in einem noch nicht vorhandenen, aber heranzubildenden Wahlvolk nach dem Muster der anderen magisch-mächtigen und fleischlich-lebensvollen Volks- und Stammesgottheiten dieser Erde. (V, 1288)

Diese Äußerungen des abgefallenen Engels Semael sind burlesk-ironische Entlehnungen aus dem Buch des jüdischen Religionsphilosophen und Mythenforschers

186

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Oskar Goldberg Die Wirklichkeit der Hebräer,16 Thomas Mann hat es 1927 auf Sylt mit großem Interesse gelesen und es zunächst voller Bewunderung als ein »tolles Buch« (Χ, 750)17 registriert. Später kommt aber Verärgerung auf, weil das Zeitgeschehen ein sonderbares Licht auf Oskar Goldbergs Studie wirft. Götter und Völker Auf Oskar Goldbergs merkwürdige, abstruse Exegese des Pentateuch detailliert einzugehen oder sie auch nur auszugsweise wiederzugeben, würde zu weit fuhren. Wichtig ist nur, was Thomas Mann abgewandelt in die epische Fiktion einflicht. Oskar Goldbergs Deutung des Pentateuch läuft auf Monolatrie (nicht etwa Monotheismus) hinaus. Es gebe zahlreiche Götter. Die einzelnen Mitglieder des Volkes seien für jeden Gott E n t f a l t u n g s m ö g l i c h k e i t e n , und das ganze Volk Instrument der göttlichen Macht, vermittels dessen der Gott den Materienabstieg vollzieht. 18 [Hervorhebung O. G.]

Die Erde sei demnach der Tummelplatz göttlicher Machtgelüste und die Götter biologische Energiezentren. Auffällig hebt Oskar Goldberg den Polytheismus von der vermeintlichen Monolatrie der Hebräer ab, dem exklusiven Kult des höchsten Gottes, denn das biologieerzeugende, lebensspendende Prinzip selbst sei jener Zelem Elohim,19 der eigentliche Schöpfer und »Ursprungsort jeder Lebensgesetzlichkeit [...], das vor jeder >Biologie< gelegene, biologieerzeugende Prinzip.«20 Dieser Urgrund alles Seins, eine Art Gottheit des Lebens, sei der Herr des Universums, Jahwe. Oskar Goldberg bekräftigt weiter: Es ist von besonderer Wichtigkeit, daß die Existenz der sogenannten >anderen Gotten (der Elohim acherim) im Pentateuch nicht nur nicht bestritten, sondern sogar als selbstverständlich vorausgesetzt wird. [...] unter allen Elohim, die es gibt und die sämtlich mit zur Weltkonstruktion gehören, gibt es einen Elohim, der dasjenige Element der Weltkonstruktion in sich trägt, das ihn den anderen Elohim überlegen macht. [...] diese Überlegenheit, an einen einzigen Elohim geknüpft, das ist das Merkmal IHWH's und das einzige, worauf es ankommt.21

Was Thomas Mann davon vereinfachend und vergröbernd, humorvoll gebrochen in den Romankontext einwebt, schafft andere Wertungen. Schon allein die Tatsache, daß Oskar Goldbergs pseudowissenschaftliches, äußerst bedenkliches Ideengut als des Teufels Einfall dargelegt wird, ändert viel und verleiht dieser Entlehnung im epischen Zusammenhang mehr als nur Komik. Hinter 16

17

18 19 20 21

Goldberg, Oskar: Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch. Deutscher Text zur hebräischen Ausgabe. Berlin: David Verlag 1925. Bd 1. Noch 1931 lobt der Schriftsteller Oskar Goldbergs Buch (X, 750). Erst im Juli 1934, im Exil kritisiert Thomas Mann ernsthaft den »herrschenden Zeitgeist« (Tb2, 473f.): »antihumanistisch, anti-universalistisch, nationalistisch, religiös-technicistisch«. Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer (Anm. 16), S. 16. Ebd., S. 14. Ebd., S. 6. Ebd., S. 18.

Β. Joseph und seine Brüder

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Semaels hinterlistigem Vortrag und Vorschlag, der Herr möge sich Israel als »heranzubildendes Wahlvolk nach dem Muster der anderen magisch-mächtigen und fleischlich-lebensvollen Volks- und Stammesgottheiten dieser Erde« (V, 1288) auswählen, steckt wortwörtlich Oskar Goldbergs Metaphysik, und zwar in der verteufelten Version. Goldberg zufolge soll, beispielsweise, der Gottesbegriff »nicht mit dem der Menschheit, sondern mit dem des V o l k e s auf das engste verknüpft« 22 [Hervorhebung - O. G.] sein, dessen metaphysische Kraft er sei.23 Der Materienabstieg jedweder Gottheit vollziehe sich »über die Materie selbst, besser, über den Spannungszustand zwischen Geist und Materie [... ] ,«24 So bilden Gott und Volk bei Oskar Goldberg eine sonderbare, seltsam anmutende organisch-biologische Einheit. Was bei ihm eine metaphysisch-philosophische Lektüre des Pentateuch sein will, wirkt im Roman jedoch als Rassismus reinsten Wassers. Israels

Einzigartigkeit

Israels Situation, so meint Oskar Goldberg, sei einzigartig, ein Sonderfall, der heilige Bund eine »revolutionäre« Tat,25 ein Bruch26 zunächst und erst dann ein Bündnis. Gemeint ist der Bruch mit dem primären Urgott der Hebräer, dem natürlichen Elohim des Stammes, und zwar zugunsten des Bündnisgottes, der kein anderer als der allerhöchste Gott El Schaddaj oder Zelem Elohim, der allumfassende Herr, sei. Ziel dieses neuen Bundes sei »die Verendlichung des Unendlichen«,27 wobei die Geschichte den Verwirklichungsprozeß Gottes darstelle. Aus Abrahams Bund mit Jahwe ergebe sich dann für das hebräische Volk die Notwendigkeit, gegen die eigene Natur anzukämpfen, »contra naturam vivere«,28 gegen den primär-natürlichen Ur-Elohim des Stammes nämlich, um so dem Gott des Bundes zum Sieg zu verhelfen. Obgleich höchster Gott der vorbiologischen Sphäre, werde er durch den Abstieg ins Hiesige in seiner Allmacht beschränkt29 und dem Gesetz des Endlichen unterworfen. Im übrigen müsse Elohim IHWH - Goldberg zufolge - mit dem Widerstand der Materie rechnen, d. h. hier des Volksleibes, den er sich erkoren und den er von jedem fremden Element sorgsamst reinzuhalten habe. Denn sonst befinde Jahwe sich in einer heiklen, höchst kritischen Lage, stünde er doch dann mit anderen fremden, feindlichen Elohim-Völkern in Kontakt. Für den Bündnisgott bestehe daher die lebenswichtige Notwendigkeit einer äußerst strengen Auslese innerhalb des Wahlvolkes. Im Prinzip enthalte Abrahams Samen mehrere semitische Stämme, dar22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

73. 81. 70. 90. 61.

188

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

unter Amalek und Edom. In Thomas Manns Tetralogie schlägt sich eine solche Auslese am Beispiel von Esaù und Jaakob auf archetypisch-symbolischer Ebene nieder, allerdings, wie später noch zu zeigen sein wird, mit gänzlich anderer Sinnstiftung: der Aufwertung der human Gesitteten gegenüber den Rohen. Die »Rassenhebräer«,30 wie Oskar Goldberg sie nennt, sind also vom Bund ausgeschlossen und deswegen auszusondern. Daher die Notwendigkeit der Inzucht: Denn Mischehen hätten den Lebensfaden Jahwes zu seinem Volk in Frage stellen können. Es hätte mehrerer Generationen bedurft, um solch schädliche Mischungen wiedergutzumachen. Es setzt also eine Art biologischer Ausleseprozeß ein, der in Oskar Goldbergs Darlegungen Naturgesetzen, ja physikalischbiologischen Zwängen folgt. Goldbergs peinliche Trennung in Rassenhebräer einerseits, die mit dem Wahlgott nichts zu tun haben, und »>Volkslebensvoll< ein [...]« (V, 1288) Für IHWH handelt es sich nämlich darum, seine »etwas dünnlebige Erhabenheit geistiger Allgültigkeit hinzugeben für die blutvoll-fleischliche Existenz als göttlicher Volksleib« (V, 1288). Der allerhöchste Elohim strebt nach biologischer Lebendigkeit als Stammesleib, [...] einer [...] im Lebensbetrieb eines Volkskörpers wesenden, von magischen Techniken bedienten, gepflegten, angefeuerten und bei Kräften erhaltenen Gottesexistenz [...]. (V, 1289)

Semael und Oskar Goldberg Der Versucher, der böse Semael, der Gott zu solch abenteuerlich-biologischem Experiment rät, freut sich schon im voraus auf die sich unweigerlich einstellenden »Verlegenheiten, Enttäuschungen und Bitternisse« (V, 1289), die Gott dem Herrn nicht erspart bleiben werden, denn den Gottesleib dieses eigentümlichen Stammes abzugeben, war einerseits kein sonderliches Vergnügen; unter den anderen Volksgöttern war mit ihm, wie man zu sagen pflegt, nicht viel Staat zu machen. Man geriet unweigerlich dabei ins Hintertreffen.34 (V, 1290)

Auch für Semael ist das hebräische Volk bei weitem nicht das Beste, was Gott sich hätte aussuchen können, um Glanz und Macht auf Erden zu erwerben. Das Wortspiel mit dem Staat zeigt außerdem, daß der Teufel Goethe gelesen hat, der meinte: »Die Juden haben als Volk nie viel getaugt.«35 Der Teufel hebt anders als Goethe nicht so sehr die politische Untauglichkeit der Hebräer her33 34

35

Ebd., S. 90. Selbst dann übrigens, wenn das auserwählte Volk dank seiner Geistesgaben alles »daransetzte«, dem auserwählten Gott »aus seiner unangemessenen Lage wieder ins Jenseitig-Allgültig-Geistige zurückzuhelfen« (V, 1291). Thomas Mann zitiert dieses Goethe-Wort am Ende seines Artikels »Zur jüdischen Frage« von 1921 (XIII, 475).

190

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

vor, sondern vielmehr ihre Untauglichkeit schlechthin, die die Verbindung des Herrn mit diesem Stammvolk beträchtlich erschweren. 2.2.

Antisemitische Klischees: materielles Denken, Hinterlist, Ehrgeiz

Das Volk will Gottesleib sein, und Gott will Fleisch und Blut dieses Volkes werden. Dieser Gott fördert das Gedeihen der Seinen: Reichtum, Wohlstand, Nachkommenschaft. Der Bund nimmt sich wie ein Handelsabkommen aus, so in Jaakobs Gebet in Beth-el: [...] Wird Er aber mit mir sein, wie Er verheißen, und meine Füße bewachen in der Fremde; wird Er mir Brot geben und ein Kleid für meinen Leib und mich heil heimkehren lassen in Jizchaks Haus, dann soll Er mein Gott sein und kein anderer [...]. Und bewahrheitet sich überdies, dann soll Ihm aus diesem Stein ein Heiligtum werden [...] Dies ist ein Gelöbnis und eine Verheißung gegen die andere, und Gott, der König, möge nun tun, was ihm in seinem Interesse gelegen dünkt. (IV, 144f.)

Der Segen soll Gewinn bringen: >[...] Wenn du willst, daß mein Segen dir fromme und ich dir diene mit Lust und Verschmitztheit, so muß eine Belohnung mir winken und ein Anreiz mich stacheln, sonst ist meine Seele schlaff und lahm, und mein Segen tritt nicht in deine Dienste.< (IV, 275),

so spricht Jaakob zu Laban. Überhaupt wird die Religion zum Tauschhandel. Hier übernimmt Thomas Mann nicht Oskar Goldberg, sondern eher Werner Sombarts, uns schon bekannte Entstellung der jüdischen Religion zum bloßen Geschäft als eine »vert r a g s m ä ß i g e R e g e l u n g - [...] aller Beziehungen zwischen Jahve und Israel«36 [Hervorhebung - W. S.]. Kein Mysterium, so Sombart, sondern ein streng geregeltes Handelsabkommen, ein »Kontokurrent mit Gott«,37 »ein beständiges Abwägen des Vorteils oder Schadens«38 in einem »kunstvollen Buchfuhrungssystem«.39 Der Bund mit Gott gleicht eher »einer ausgeklügelten Abwicklung«,40 einem Abkommen aller für Einen und des Einen fur alle. Dem tückischen Gott entsprechen die listenreichen Figuren, wie sie im Roman geschildert werden. Unmöglich können bei einem solchen Gott die Patriarchen der Tetralogie makellos sein. Die Doppelzüngigkeit Jaakobs, den der allwissende Erzähler den »Feinen, Falschen« (IV, 151) nennt, sowie Jaakobs Rede an den Bruder Esaù: »du allerliebster Spitzbube« (IV, 149) sind geradezu paradigmatisch. Auffallend allerdings ist der gravierende Unterschied zu Werner Sombarts boshafter Darstellung. Thomas Manns Erzähler färbt seine 36

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Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. 2. Aufl. München, Leipzig: Duncker und Humblot 1920. S. 244 und S. 225-296. Ebd., S. 247. Ebd., S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 242.

Β. Joseph und seine Brüder

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Schilderungen wohlwollend ins Schmunzelnd-Lustige einer Eulenspiegelei. Wo der Bibeltext zurückhaltend und wortkarg ist, befleißigt sich Thomas Mann epischer Breite. Dafür steht etwa seine schonungslose, weit ausladende Darstellung der Sichem-Episode41 mit dem gräßlichen Massaker und der »lästerlichen List« (IV, 180). Mit Feuer und Schwert, wörtlich verstanden, arbeiteten die Ebräer, Stadt, Burg und Tempel qualmten, Gassen und Häuser schwammen in Blut. [...] Sichern, der Burgsohn, schändlich zugerichtet, steckte kopfüber in dem Latrinenrohr seines Badezimmers, und auch Weser-ke-Bastets Leichnam, der mit zerfetztem Blumenkragen irgendwo auf der Gasse in seinem Blute lag, war in hohem Grade unvollständig [...] Der Brüder alter Wunschtraum erfüllte sich; sie durften ihr Herz am Rauben laben [...]. (IV, 181)

Der Roman strotzt von der Tücke und Hinterhältigkeit dieser Hebräer. Dabei wirken sie lustig wie in einem Schelmenroman. Wo der biblische Text nur sehr vorsichtig andeutet, ohne über die Personen und ihre Taten zu urteilen,42 da holt der Romancier in seinen Beschreibungen weit aus und fugt noch Erörterungen hinzu, die das Verbrecherische grell beleuchten. So erscheinen die Hebräer zwar unter der Feder Thomas Manns in mancher Hinsicht so, wie Werner Sombart sich die Juden vorstellt, als Menschen der Teleologie par excellence nämlich, als zielgerichtete Menschen der »Zweckbedachtheit«.43 Der Zweck heiligt die Mittel. Allerdings dämpft und verschleiert der Humor des Erzählers das Heikle eines solchen Charakters, der durchaus, beispielsweise bei Joseph, einen edlen Einschlag annehmen kann. Joseph benimmt sich wie ein »zu bestimmten Zwecken Abgesonderter« (V, 1520), als Abkömmling der Verheißung: »ehrgeizig für Gott wie er war« (IV, 883), hat er vor, sich so klug und geschickt zu bewähren, »daß er der Erste ward unter den Westlichen [...]« (TV, 764). Dennoch, so der Erzähler, »[...] fehlerhaft wäre es, deswegen mit ihm zu rechten und ihn einen niedrig Bestrebten zu nennen« (TV, 811). Solcher Ehrgeiz erhält nämlich, mitunter übrigens auch bei Werner Sombart, die Form einer Askese, einer systematischen, strengen Haushaltung zum Zwecke wirksamster, leistungsfähigster Lebensführung. Für den Soziologen Sombart ist es kein Zufall, wenn die Lehre von der Instinktverdrängung, Grundlage des sozialen Lebens, wie auch die Psychoanalyse jüdische Theorien sind.44 Er behauptet, der »homo judaeus« sei mit dem »homo capitalisticus« identisch, und alle beide seien »homines rationalistici artificiales«.45 Das jüdi41

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Sichern ist der Name des Erbprinzen und des gleichnamigen Ortes im Pentateuch (Die Schöpfung), 1. Buch Mose, 34. Dies betont Gunkels Bibelkommentar, den Thomas Mann gelesen hat: Genesis. Übersetzt und erläutert von Hermann Gunkel. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 7. Aufl., Einfuhrung, S. LI. (Die 9. Auflage aus dem Jahre 1977 war Verf. zugänglich). Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (Anm. 36), S. 320. Ebd., S. 280. Ebd., S. 281.

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sehe Volk, erklärt Werner Sombart, das »seinem Blute nach über das normale Maß zur Geschlechtlichkeit«46 veranlagt sei, zügele seinen Geschlechtstrieb durch religiöse Vorschriften. Jaakobs Warnungen vor Ägypten, das ihm Inbegriff entfesselter Sexualität ist, und Josephs Keuschheit entsprechen diesem contra naturarti vivere, in dem sich ein durch Freud, Sombart und Goldberg angeregtes Konglomerat im epischen Gewebe humorig-ironisch bricht. Auch andere Stereotypen fallen hie und da auf: Jaakobs sentimentales und theatralisches Getue, sein hochtrabend-schwülstig pathetisches Gerede, Josephs »Sinn für das weltlich Stattliche, ja Pomphafte« (IV, 52), sein ästhetizistischer Narzismus und fehlender Mannesmut (IV, 133), seine Vermittlergaben, sowie die redselige, »boshaft geläufige Zunge« (IV, 552) eines Naphtali, das leidenschaftlich talmudistische Diskutieren - sogar bei den verhältnismäßig primitiven Brüdern: »sie waren begabt dafür« (V, 1734), obgleich sie sich über »Klügler und Frömmler« (IV, 552) erbosen. All das macht aus ihnen geschickte Händler und Botengänger. Nicht von ungefähr hilft ein Doppelgänger von Hermes bei Josephs Suche nach seinen Brüdern. Sie alle sind berechnend, voller trickreicher Gaunerei. Sie alle kennzeichnet ein Buchstabenglaube, eine zwar beschränkte, aber gewitzte Gottesfurcht, die sogar dem brutalen Levi zu einem ruhigen Gewissen verhilft. Geschäftssinn und Hang zum Luxus sind an ihnen derart ausgeprägt, daß sich noch »Jaakobs letzter Gedanke« auf dem Sterbebett ums Geld dreht (V, 1805). Klischees finden sich auch in den Gesichtszügen wieder: Etwa bei Esaù »mit seinen spitzen Ohren und seiner platt auf der nackten Oberlippe liegenden Nase« (IV, 147); Dan hat »stechende Augen«, eine »Krummnase« und ist »spitzbärtig« (IV, 488); Ruben trägt ein »Gesicht von stumpfem Profil« (IV, 492); Jehudas »feingebaute, gebogene, und dennoch flach darauf niedergehende Nase drückte eine witternde Geistigkeit aus« (IV, 492), in seinen »Hirschaugen lag Melancholie« (IV, 492); Jaakob mit seiner großen, feinen und gebogenen Nase; Joseph mit seinen vorspringenden Lippen, dem »Ausdruck hochmütiger Sinnlichkeit« (IV, 65), den dicken »Nüstern seiner ziemlich kurzen und sehr geraden Nase« (IV, 65). Die Haare sind meistens schwarz, glänzend, gelockt, und sogar Leas Aschblond (IV, 237) erinnert an das im Tagebuch erwähnte, metallische Jüdisch-Blond (Tbl, 143).47 Der Erzähler legt Wert auf das ethnisch-rassische Erscheinungsbild. Läßt man die Patriarchen Revue passieren, so folgen Abraham, der einzig strahlenden, reinen Gestalt, menschliche, allzu menschliche Figuren. Dabei wird Abrahams Gesicht von Eliezers schönen Geschichten und Legenden verklärt. Isaac dagegen ist von trauriger Gestalt. Dieser Schwächling willigt in einen brutalen Opfergang ein, der im allerletzten Augenblick noch vermieden werden kann. Später flüchtet sich der senil gewordene Greis in Blindheit, um 46 47

Ebd., S. 279. Das Haar des Kunsthändlers Bachstitz ist »blond-jüdisch« (Tbl, 143). Auch Naphta aus dem »Zauberberg« hat aschblondes Haar (III, 518).

Β. Joseph und seine Brüder

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nicht wahrnehmen zu müssen, was man ihm antut. Jaakob ist ein Schurke, der Vater, Bruder und Sohn betrügt, ein Feigling, der vor Eliphas48 kriecht, heuchlerisch und schleimig mit Esaù umgeht. Auch zu Laban ist er trotz seines großtuerischen Gehabes kleinmütig, unfähig, die Gewalttätigkeiten seiner eigenen Söhne zu verhindern, und stets von seinem Sinn für verschwenderische Pracht geleitet. Joseph selbst, nachtragend und ein Aufschneider seinen Brüdern und Mitmenschen gegenüber, strebt danach, überall der Erste zu sein. Seine hinterhältigen und prahlenden Brüder schließlich, außer Benjamin, spinnen Intrigen, sind eifersüchtig, roh, barbarisch, verkaufen sogar ihren Bruder, nachdem sie ihn haben totschlagen wollen. Diese Angeber pochen »auf einen geistlichen Adel [...], der persönlich gar nicht der ihre war« (IV, 158). Fast alle bilden sie eine abgefeimte Clique, bei der sich - aus der Nähe betrachtet - eine Fülle antisemitischer Klischees ausmachen läßt.49 Alle diese negativen Züge, dieser eifersüchtige Gott und seine dünkelhaft aufgeblasenen Auserwählten, die nach Reichtum und Macht lechzen, werfen einen Schatten auf das leuchtende Bild vom Volk des Geistes. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

3.

Vom Partikularismus zum Universalismus

3.1.

Das Geheimnis der Sphinx: Das Gesetz der Zeit

Der Gegensatz löst sich in Thomas Manns Denken dialektisch auf. Die zweimal erwähnte Sphinx - im Vorspiel »Höllenfahrt« und im Zweiten Hauptstück des dritten Buches »Der Eintritt in Scheol« - liefert den Schlüssel. Die Sphinx, »offenäugig [...] in wüster Unwandelbarkeit [...]« (IV, 745), das Bild einer 48

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Diese Episode steht nicht in der Bibel, ist aber einer hebräischen Sage entlehnt, so daß geschlußfolgert werden kann, der Autor wolle den Patriarchen belasten. - Die Sagen der Juden. Gesammelt u. bearb. v. Micha Josef Bin Gorion. Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1919. Jakob, beispielsweise, wird von mehreren Bibelkommentatoren als »Schacheijude« bezeichnet: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der dt. Übers. Martin Luthers. Neu durchges., 2. Aufl. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt 1913, und Genesis (Anm. 42). - Das Klischee vom jüdischen Schnorrer, vom Schacherjuden: ein spätmittelalterliches Relikt, das als Denkschablone weiterlebt, beispielsweise, in der literarischen Figur des Veitel Itzig, durchtrieben, berechnend, ruchlos und niederträchtig, in Gustav Freytags »Soll und Haben« (1855 erschienen), ohne auch nur im geringsten der jüdischen Realität in der bürgerlich- restaurativen Ära zu entsprechen, als dieser Roman (mit Raabes »Hungerpastor«, 1864 erschienen) zu den meistgelesenen Werken im deutschen Sprachraum gehört. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1979 (Fischer-Taschenbücher; 3429).

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und Antisemitismus

aufgehobenen Zeit, einer leeren Ewigkeit, einer Zukunft »wild und tot [...], bar der Gewärtigung« (IV, 745) ist »[...] eine Nachstellung dem Sprößlinge der Verheißung« (IV, 745). Die Sphinx »mit zeitzerfressener Nase« (IV, 745) gibt aber möglicherweise mit ihrer »vom Zeitenfraße« (IV, 21) abgestumpften Form ein Indiz: Verleihen nicht Wüste, Wind und Sand mit der Zeit der Nase ein jüdisches Gepräge, als trage die Geschichte selbst den jüdischen Stempel? Verheißung und Erwartung sind aufgerufen, über die Leere zu triumphieren. Joseph wird die Sphinx besiegen. Israel, ein Werkzeug in Gottes Hand, wird der Zukunft den Weg weisen. Für den Joseph-Zyklus hebt der Schriftsteller hervor, daß es sich ja wieder um eine Art von >Buddenbrooks< dabei handelt, um den > Verfall, den Verfeinerungsprozeß einer Familie und sogar eines Gottes, [...] nur eben nicht auf bürgerlicher, sondern auf menschheitlicher Ebene.50 Dem erzfrommen Abraham, der bereit ist, - Gott gehorchend - den Sohn zu opfern, folgt Isaac. Auch er ist noch ein Diener Gottes, bedarf aber schon der Selbstverblendung, um Gottes Willen auszuführen. Die Zeiten waren hart, die Sitten primitiv, so daß, beispielsweise, einem Knecht Isaaks »ein Ohr fehlte, da man es ihm mehrerer Leichtsinnsverfehlungen wegen abgeschnitten hatte, wodurch er sehr gebessert worden war [...]« (IV, 201). Derartige Ahndungen werden in den Zeiten des milden Jaakob unvorstellbar. Für Joseph schließlich verbieten sich solcherlei überholte Opfer ganz und gar. Nach und nach waltet ein »Gott des Verschonens und des Vorübergehens« (IV, 875), dessen Wesen »den Namen der Güte« (IV, 875) trägt. Gott selbst wird in seiner Entwicklung begriffen, denn er war »schließlich auch nicht immer gewesen, der er war [...].« (IV, 874f.) Die blutigen Bräuche eines Jahu werden schnell ein »Überbleibsel aus früheren und wilderen Werdezuständen des Gotteswesens« (IV, 319). Joseph weiß sehr wohl, »daß sie einander erretteten aus dem Sande der Wüste und heilig würden der eine im andern!« (IV, 743). Die Zeit erhält Zukunft. Eine Scheidelinie trennt »Die Geschichten Jaakobs« und »Joseph in Ägypten« voneinander, Anfang und Ende der Tetralogie. Klug und feinfühlig weckt Joseph, der Erzieher, bei den Seinen Verantwortungssinn, so daß schließlich Juda mit seinem Leben für Benjamins Rückkehr bürgt und alle dergleichen zu tun bereit sind. Die Verwandlung aller vollendet sich beim öffentlichen Eingeständnis des an Joseph begangenen Verbrechens. Im Vertrauen auf Gott allein entbindet Jaakob Juda seines Eides (V, 1644). Gott und die Menschen gehen gereift und geläutert aus diesem Prozeß hervor. Josephs rückblickender Familienbericht vor dem Pharao zielt u. a. darauf ab, unangenehme Erinnerungen aus der Vergangenheit möglichst zu dämpfen. Die blutige Sichem-Episode, ja die barbarische Grausamkeit der eigenen Brüder gegen Joseph hatten den Erzähler die Befürchtung äußern lassen, »daß der 50

Thomas Mann / Emst Bertram: Briefe aus den Jahren 1910-1955. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort vers, von Inge Jens. Pfullingen: G. Neske 1960, S. 188.

Β. Joseph und seine Brüder

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Leser endgültig mit den Jakobssöhnen zerfalle und ihnen auf immer die Verzeihung verweigere [...]« (IV, 562). Alle Vergehen sollen in Vergessenheit geraten. Josephs Familiendrama, so wie er es verklärend schildert, untersteht der Obhut eines schelmischen Gottes. Die Familiengeschichte erhält dadurch die Wucht einer großartigen Saga. Die Prophezeiung aus dem Prolog bewahrheitet sich: Das biologische Abenteuer der Verkörperlichung und Fleischwerdung Gottes ist vollbracht, und zwar durch die Vergeistigung des Volkes aus Fleisch und Blut. Dem auserwählten Volk gönnt der Erzähler den geistigen Segen. Mehr vermag Israel nicht zu erreichen. Obgleich in diesem Stadium bereits die Versuchung des Bösen mißlungen ist, bleibt Gott noch eines zu tun. Erst wenn er seine biologischen Schranken in Fleisch und Blut des auserwählten Volkes sprengt, findet er zu seiner universellen Bestimmung zurück. Joseph kündigt diese Vervollkommnung an. 3.2.

Der »Sprößling der Verheißung«: Israels Verweltlichung

Joseph ist kraft des irdischen und des himmlischen Segens der eigentliche Abkömmling der Verheißung. In ihm verwirklicht sich daher die geheime Hoffnung, die im Prolog in Aussicht gestellt wurde: Geist und Seele sollen sich veredeln, auf daß der Mensch, Träger des Göttlichen, die Schöpfung vollende. Dank Israels Vermittlung hat Gott zu sich selbst gefunden, um auf Erden Form anzunehmen. Nun müßte - dem zweiten Prolog zufolge - Gott »wieder ins Jenseitig-Allgültig-Geistige« (V, 1291) zurück geholfen werden. Joseph, der Erlöser, Statthalter Gottes auf Erden, macht den Menschen zum kleinen Gott auf Erden und erlöst Gott von seinem Volksleib. Dieses Triptychon - Schöpfung, Offenbarung, Erlösung - ist dem jüdischen Denken vertraut.51 Die Absonderung Josephs durch Jaakob im Roman bedeutet, daß Joseph zwar den Segen des Erzählers hat, nicht aber den seines Vaters. Denn Jaakob spricht zu Joseph: »[...] kein geistlicher Fürst bist du, sondern ein weltlicher« (V, 1745).52 Auffällig ist hier der wesentliche Unterschied zur traditionellen jüdischen Lesart, die im biblischen Joseph einen Gerechten sieht, ein Musterbeispiel für die Gemeinschaft der Gläubigen.53 Thomas Manns Erzähler hingegen läßt Joseph aus dem engeren jüdischen Horizont heraustreten, um seiner Figur allgemein menschliche Dimensionen zu verleihen und sie zu verweltlichen. Das Bedürfiiis, Jüdisches zu verwischen, zu tilgen, um zu allgemein menschlicher Tragweite vorzustoßen, ist aus jüdischer Sicht völlig überflüssig. Aus der Erzäh51

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Namentlich Franz Rosenzweig. Stéphane Moses: Système et Révélation. La Philosophie de Franz Rosenzweig. Paris: Seuil 1982, S. 76, 99, 130 und André Neher: Clefs pour le Judaïsme. Paris: Seghers 1977 (Collection Clefs; 53), S. 47. Die Bedeutung dieser in der Zeit begrenzten, irdischen Erwählung unterstreicht Thomas Mann im »Tagebuch« (Tb5, 463). Der alttestamentarische Joseph zeichnet sich durch Reinheit in Charakter und Gesinnung, Rechtschaffenheit, Redlichkeit aus. André und Renée Neher: Histoire biblique du peuple d'Israel. Paris: Adrien-Maissonneuve 1962, S. 50.

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lerfigur spricht Thomas Manns schon oft betonte Vorliebe fur die Assimilation. Erinnert sei nur an die Gestalt des Doktor Sammet in Königliche Hoheit. Auch aus Joseph wird ein Musterbild der Assimilation. Jüdisches

Sein und

Assimilation

Die Verweltlichung fuhrt im Roman zur Veredelung des jungen Hebräers, er wird ein weltlicher Fürst. Auch in der Fremde setzt er Israel fort. Er bleibt der väterlichen Tradition treu, klammert sich an sie, schöpft aus ihr Kraft und Weisheit (V, 1504). Jedoch öffnet Joseph sich auch Ägypten. Unter dem Einfluß des fremden Klimas und der dort üblichen Nahrung nimmt er die Gewohnheiten der Landeskinder an, ahmt sie nach und wird ihnen ähnlich. Er dient seinem Gott und achtet auch seine ägyptischen Herren. Seine freundschaftliche Zuneigung fur Peteprê, Mai-Sachme und den Pharao wächst, ihnen fühlt er sich innerlich verbunden. In Pharao erkennt er feinfühlig einen gleichgesinnten Geist auf der Suche nach dem einzigen Gott. Der Kuß des Pharao (V, 1468) tilgt die von Joseph erlittene Schmach, den Verrat der Brüder, Jehudas arglistigen Kuß und besiegelt die menschliche Brüderlichkeit. In Joseph ist kein Platz mehr für Vorurteile. Seinem noch befangenen Vater erklärt er später: Laß das gut sein, die Kinder Ägyptens sind wie andere Kinder, nicht wesentlich besser und schlechter. [...] da du nun einmal hier bist: Laß die Leute des Landes nicht merken, wie du nun einmal über sie denkst [...]. (V,1742f.)

Joseph weiß um die Grenzen der einen und der anderen, er ist darüber erhaben. Joseph ahnt mögliche Verärgerungen voraus, die einem Dialog hinderlich sein können (V, 1655). Bei Tisch, beispielsweise, weiß er die Sitten der einen und der anderen zu respektieren. Jeden achtend, vermag er alle zu einen. So baut er Brücken, schließt Kompromisse und übt Toleranz. Joseph, dem Aufklärer, gelingt eine geistige Symbiose, die Aufhebung der Gegensätze. Geistige Überlegenheit setzt sich durch und pflügt Ägypten so um, daß es fruchtbar wird und aufblüht. Aus dem in allgegenwärtiger abergläubischer Todesangst erstarrten Land wird nun unter Josephs Einfluß ein Reich der vorausschauenden Weitsicht, »Vorsorge, Vorsicht« (V, 1297).54 Dem Totenland gibt Joseph Lebenssinn. Der Großwesir des Pharao und Sprößling Israels ist als Staatsmann und als politischer Stratege am Werke. Aus Religion und Gottesfrömmigkeit entsteht politisches Denken und Handeln für die Menschenwelt auf Erden. Gottesliebe gebiert Menschenliebe und eine Güte, die Joseph in all seinem Tun leitet. Er steht daher Settembrini näher als Naphta, den Mentoren Hans Castorps aus dem Zauberberg. Joseph ist der gute Literat, einem Propheten und Heiligen ähnlich. Ein Demokrat ist er freilich nicht, die Zeiten sind nicht danach, aber 54

Thomas Mann schätzt (1949) Goethes Sinn für die Forderung des Tages und für nötige Erneuerungen: »Die Aufmerksamkeit auf Veränderungen [...] - das ist eigentlich seine politische Religion« (IX, 776).

Β. Joseph und seine Brüder

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ein aufgeklärter Fürst, der oben entscheidet, was für die Untertanen gut ist. Mit seiner Agrarreform ordnet Joseph das Land und setzt Pharao wieder in seine Eigentumsrechte über ganz Ägypten ein. Eine »verschlagene Mittlergottheit« (V, 1766) steht der Verwaltung des Landes vor, und Joseph wirkt derart, daß einem jeden das zukommt, was er verdient. Mit Joseph strömen Gold und Silber in die Kassen des Pharao, wobei Joseph sich mehr um die geringsten Untertanen als um die Latifundienbesitzer sorgt. Auf halbem Wege zwischen Enteignung und Staatssozialismus ist »Josephs Wirtschaftssystem [...] eine überraschende Verbindung von Vergesellschaftung und Inhaberfreiheit des einzelnen« (V, 1766) geworden. Verschwommen und unklar bleiben dabei im Wirtschaftlichen die Grenzen zwischen dubiosem Trick und genialem Einfall.55 Ausgeprägte Fähigkeit zur rationellen Organisation und kluges Tun erklären Josephs wirtschaftlichen Erfolg, zugleich haben seine Unternehmungen auch etwas von einem Schabernack. Abstraktionsvermögen und sein ausgeklügeltes Organisationstalent wirken Wunder, so daß Joseph bei den einfachen Ägyptern in den Ruf eines schwarzen Magiers, ja beinahe eines Scharlatans gerät. In ihren Augen ist er - wie übrigens auch Jaakob - »täm« (V, 1508),56 »das Positive und Negative, das Ja und das Nein, Licht und Finsternis, Leben und Tod [...], das Oberweltliche und Unterweltliche [...]« (V, 1508), »[...] und mit >redlich< sind die Mittel, mit denen er dort golden und silbern wurde, mehr als ungenau bezeichnet.« (V, 1509) Ebenso ist Joseph zweideutig, »>Urim und TummimTâm< - es gab gar keine andere Vokabel dafür, ein Mann des Wendepunktes und der Vertauschung der Eigenschaften, der oben und unten zu Hause war. Ein Handelsmann war er ja auch, und ins Kaufmännische war schon der Diebstahl einschlägig, was ganz zur Zweideutigkeit stimmte. (V, 1617)

Dem Pfiffig-Spitzbübischen, das vor allem Josephs wirtschaftlichen Unternehmungen innewohnt, haftet manches Klischee an, als bliebe Jude Jude und Israel - selbst unter dem weltlichen Segen - Israel. Diesen bedenklichen stereotypen Bildern, dem vom Geldjuden beispielsweise, wird allerdings durch Heiterkeit die Spitze abgebrochen. Alles Bösartige ist getilgt, zumindest entschärft. Jahwe, der Gott eines Volkes, das vor allem den Geist verkörpert,

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Die diabolische Erfindung des Papiergeldes auch in Goethes »Faust« (»Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt«, Vers 6119, und »Die Zauberblätter! ich versteh's nicht recht«, Vers 6157). »Tarn« bedeutet unschuldig, naiv, rein (etwa dem deutschen »tumb« vergleichbar). In der »Haggadah« (Erzählung und Kommentar zum Auszug aus Ägypten) ist auch von »tarn« die Rede: »tarn maho'mer« = »Und der Unschuldige, was sagt er?«. In dem Maße, in dem Joseph am doppelten Segen teilhat, dem des Lichts und dem der Finsternis, stellt der Erzähler eine etymologische Verbindung zwischen »tarn« (im Plural »tammim«) und »toummim« her, die in einem wissenschaftlichen Kontext anfechtbar wäre.

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erhält Hermes' Doppelgesicht, das eines sublimen Witzboldes und durchtrieben-erhabenen Schalks. Das schillernd Zwielichtige in Thomas Manns hebräischem Fresko ist zudem noch mit dem unmittelbaren deutschen Zeitgeschehen verbunden.

4.

Israels Saga und Deutschlands Wirklichkeit

Thomas Manns »Menschheits-Epos« (XIII, 486) trotzt der neuen Welle der Barbarei. Der Roman ist aufs Engste mit der Gegenwart verknüpft. Besonders Josephs Aufenthalt in Ägypten ist der Schlüssel zu dem im Roman ständig gegenwärtigen Leitmotiv: Deutschland.

4.1.

Ägypten und Deutschland

Das Ägypten des Romans ist in der Verquickung von Empfindlichkeit und Brutalität, der mit Verachtung und Geringschätzung menschlichen Lebens errichteten Pyramiden das Sinnbild einer Hochkultur. Es ist das alte Ägypten und darüber hinaus ein Bild Deutschlands, der von der Krise geschüttelten europäischen Zivilisation. Das Paradoxon einer Hochkultur, Gipfel der Verfeinerung und dennoch von innen ausgehöhlt, stellt eine unterschwellige Parallele zu den Wirren der ausgehenden Weimarer Republik und der hereinbrechenden Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft her.58 Staat und Pharao selbst sind gelähmt von innerem Widerstreit. Religiösen Sekten, dem Adel, reichen Baronen und Großgrundbesitzern gehört das Land. Priester und Adlige, von einer stark hierarchisierten Bürokratie unterstützt, saugen das Volk aus. Kastengeist und egoistische Interessen widersetzen sich jeglichem Wandel. Der feinfühlige, zarte Ech-n-atôn, Anhänger der sanftmütigen AtonReligion, schließt sich in seine geistige Welt ein und ist allen Kräften ausgeliefert, die um die Macht kämpfen. Ech-n-atôns guter Wille und Idealismus werden zunichte gemacht, wie auch die demokratischen Bestrebungen in der Weimarer Republik von allen Seiten erstickt werden. Beknechons, allmächtiger Amun-Priester der Nationalreligion, und seine nationalistischen Garden, Milizen, Standarten und »Heerscharen« (IV, 778) haben die Macht inne. Ägypten, das Sklavenhaus mit seiner »Fronfuchtel«, seine »staatliche Dienstbarkeit« (IV, 413) mit eifrigen Beamten oder Sklaven hat seine Entsprechung im Deutschland der dreißiger Jahre. Diese Andeutungen werden bei der Darstellung von Ägyptens Nationalreligion durchgeformt. Den Kult fürs Unterirdische und Animalische verkörpert der Gott Usar-Chapi (IV, 692). Das alles ist auch Deutschland mit seiner Wiederentdeckung Bachofens durch Ludwig Klages, dem Zurück zu den Müttern, 58

Ende Juni 1932 beendete Thomas Mann den zweiten Band der Tetralogie und läßt seinen Helden Joseph nach Ägypten kommen.

Β. Joseph und seine Brüder

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dieser Apologie des Primitiven, der chthonischen Urmächte der Seele und des Instinktes: Chapi! Chapi! [...] Es war zugleich der Name des Stromes, der das Land geschaffen hatte und es erhielt, war der Name des Sonnenstieres, der Inbegriff aller Fruchtbarkeitsmächte [...], der Name des Lebens. (IV, 754f.)

Chapi starrt »aus seinen kleinen blutbedrängten Bullenaugen« (IV, 757). Jede Geistigkeit ist in dieser Lebensanschauung verdrängt. Ähnliches geschieht mit der Zerstörung der Vernunft durch die deutsche Lebensphilosophie mit ihrem vitalistischen Irrationalismus und Anti-Intellektualismus, ihrem Gerede von Seelentiefe und Urnatur, die schließlich in die völkische Blut- und Bodentheorie mündet. Thomas Manns Ägypten trägt Spuren vom Kult des Todes und der Erde in einer erstarrten Gesellschaft, die kraftlos, muffig auf die Vergangenheit und die ewige Wiederholung des Gleichen ausgerichtet ist. Beispielhaft ist der Eunuch Peteprê, der sich ganz seiner narzistischen Selbstbespiegelung und einem sterilen Ästhetizismus hingibt. Wie schon die Figur des Gustav Aschenbach, so läuft nun auch Deutschland Gefahr, in den Abgrund zu stürzen.59 Hungersnot, Armut und Mangelwirtschaft können zu Selbstisolation, zu kulturellem Hochmut, zu Chauvinismus führen, und die Folgen - Fremdenhaß, Antisemitismus60 - zum Kollaps. Damit die ägyptische Erde wieder fruchtbar wird, bedarf es der Öffnung zur Welt und fremder Mitwirkung. Dazu ist Joseph, »der Ernährer«, nötig. Das Gleichnis leuchtet ein: Jüdischer Geist möge fur Deutschland sein, was Joseph für Ägypten ist, ein notwendiges Korrektiv, geistig-kulturelle Bereicherung und Katalysator. Israels Begabung und Geschenk sei Streben nach dem Himmlischen und Göttlichen, aber mit praktischem Bezug aufs Irdische, sei authentischer Lebenssinn für das Leben hiernieden in seiner Polarität, sei Bejahung des Materiellen und des Geistigen sowie organisierender Verstand zum Wohle des Menschen. Der doppelte Segen, den Joseph von oben und von unten erhält, ist dem Roman zufolge Israels Vermächtnis, die Durchdringung von Geistigem und Sinnlichem. 59

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Es ist bezeichnend, daß Thomas Mann auf André Suarez verweist, der in Deutschland, namentlich seit Goethe, dann mit Nietzsche, eine stille Orientalisierung feststellt. (Thomas Mann zitiert Suarez: »Die Haltung des deutschen Geistes ist zutiefst orientalisch; im Denken kommt man dem Geheimnis Deutschlands desto näher, je mehr man den Orient anrührt.« (XII, 612)). Thomas Mann dürfte seine Idee vom »Sieg des heimlichen Orientalismus, Asiatismus Deutschlands [...] den Einflüssen des Ostens« (XII, 617) bestätigt sehen, wenn im »Tod in Venedig« mit bedacht wird, daß die Gestalt des Gustav Aschenbach im orientalisch anmutenden Venedig von der Cholera heimgesucht wird. - Für Gobineau stand fest, daß die Slawen die Vermittler zwischen der minderen, gelben und der weißen Rasse seien. Im Roman ist von der Freigeisterei gegen den ägyptischen Amun die Rede, die »bewirkte, daß es mit der grundsätzlichen Verabscheuung des Semitisch-Asiatischen nicht mehr so weit her war; und beim Überschlagen von Gunst und Ungunst verbuchte Joseph das auf Seiten der Gunst« (IV, 835).

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und

Antisemitismus

Joseph ist eine Idealfigur der vollkommenen Harmonie in der Tradition des klassischen Bildungs- und Erziehungsromans. In der Gestalt des Joseph sind alle Gegensätze aufgehoben. Joseph hat mehr als den Meisterbrief, er hat die Gnade des Himmels und der Erde. Joseph, ein Glückspilz, Gottes Lieblingskind und Krone der Schöpfimg, ist sich der Polaritäten wohl eingedenk, vermag sie zu transzendieren und dabei den Lebensmustern seiner Vorfahren treu zu bleiben. Joseph, ein Glückskind von Geburt, hat nichts von den bisherigen, innerlich zerrissenen jüdischen Figuren, nichts von den Aarenholds, von Naphta, nicht einmal von Doktor Sammet. Ein Graalsucher ist Joseph auf seine Art und ein Hadesfahrer, der um die »tückische Todesfröhlichkeit« (TV, 708) weiß. »Joseph lebt gerne« (V, 1580) und ist so weise genug zu wünschen, »[...] bleibe das Unterste nur hübsch zuunterst« (TV, 474). Gern greift Joseph auf das Bild vom Baum zurück: Seine Wipfel regen sich funkelnd im Winde, da seine Wurzeln im Stein und Staube haften des Erdreichs, tief im Dunkeln. Weiß wohl auch der heitere Wipfel viel von der kotigen Wurzel? Nein, sondern ist mit dem Herrn hinausgekommen über sie, wiegt sich und denkt nicht ihrer. (IV, 475)

Diese distanzierende, heitere Gelassenheit trotz des Wissens um das Düstere, dieser synthetische Sinn, den Thomas Mann an Friedrich Nietzsches Begeisterung für das antike Griechenland zu schätzen wußte, fehle den Deutschen mit ihrer übertriebenen Neigung zu Grübelei. Es ist, als wäre Joseph und mit ihm das verklärte Israel diese »große Schule der Genesung«,61 von der Friedrich Nietzsche in Hinsicht auf den mediterranen Süden sprach. Deutschland, so meint Thomas Mann, müsse aus seiner naturgemäßen Lethargie aufgeweckt werden. Es leide wie das Ägypten der Tetralogie an Mythen, die den Verstand lähmen. Am jüdischen Wesen solle nun Deutschland genesen. Im August 1934 schreibt der Tagebuchautor: »Die Juden [...] haben eben mehr Wahrheitssinn, ihr Gehirn ist unverkleistert vom Mythus« (Tb2, 497). Diese Verstandesschärfe schlage sich in Wirklichkeitssinn nieder, das sei »der Materialismus des Geistes« (XI, 899 und XII, 681),62 die Quintessenz dessen, was Deutschland not tue: ein militanter Humanismus, der den Anforderungen des Tages entspreche.63 1932 heißt es: Das ist der Materialismus des Geistes, die Wendung eines religiösen Menschen zur Erde hin [...] Und Sozialismus ist nichts anderes als der pflichtmäßige Entschluß, 61

62

63

Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1966, Bd 2, S. 723. Diese Formulierung aus dem Jahr 1932 in: Rede vor Arbeitern in Wien (XI, 899) und 1933 in: Bekenntnis zum Sozialismus (XII, 681). Dies allein ist schon im voraus eine Verurteilung des Humanismus, wie ihn Thomas Manns künftige Gestalt, Serenus Zeitblom, verkörpert. So ist im selben Zusammenhang zu lesen: »In allem Humanismus liegt ein Element der Schwäche, das mit seiner Verachtung für Fanatismus, seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zum Zweifel, kurz: mit seiner natürlichen Güte zusammenhängt und ihm unter Umständen zum Verhängnis werden kann« (XII, 778f.).

Β. Joseph und seine Brüder

201

den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Anforderungen der Materie, des gesellschaftlichen, kollektiven Lebens in den Sand der metaphysischen Dinge zu stecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Sinn geben wollen, einen Menschensinn. 64 (XI, 899)

Ein klarer, weitsichtiger, aktiver Messianismus, der Überholtes zu streichen vermag, sei das unentbehrliche Gegengift für Deutschlands Überleben. 4.2.

Israel: Modell und Gegenmodell

Der in Ägypten angesiedelte Romanteil belegt den deutlichen Bezug zum deutschen Zeitgeschehen. Wenn sich der Autor Israel zuwendet, denkt er an Deutschland. So ist es auch kein Zufall, wenn ständig auf primitive Ur-Grausamkeit und Abgründe der Zivilisation hingewiesen wird - wie eine Mahnung an Deutschland, das inmitten seiner Kultur der Barbarei verfällt. Nicht von ungefähr ist von Kain und Abel, dem Einmauern von Labans Erstgeborenem oder dem Abraham auferlegten Opfer die Rede. Von der primitiven Magie, die sich die Dämonen gefugig macht, bis zur ausgereiftesten Liturgie hat sich zwar das menschliche Verhalten verfeinert, aber durch die religóse Symbolik schimmert noch immer die verdrängte, wenngleich sublimierte Barbarei hindurch, die stets ausbrechen kann. Der Rückfall ins Ur-Grausame droht jederzeit. Wenn der Erzähler im Roman das Benehmen der Jaakobssöhne »rückfällig« (IV, 556) nennt, ist die Anspielung auf Deutschlands Niedergang klar. Sebulun verhöhnt »Klügler und Frömmler« (IV, 552): »Da haben wir den Verderb und die Bescherung, daß wir keine Männer mehr sind, [...] sondern Klügler und Frömmler, [...] daß Gott erbarm!« (IV, 552). Die Empörung gegen die »Zeltfrömmigkeit« (IV, 552) entspricht dem in Deutschland einbrechenden, modischen irrationalistischen Geschrei, dem Pseudo-Nietzscheanismus, den Thomas Mann unermüdlich angreift. Anti-Intellektualismus, Rohheit, Gewaltanbetung herrschen, Brutalität setzt sich mit allen Mitteln, auch denen der Sprache, gegen die Vernunft durch. Eine allgemeine Vernebelung des Verstandes greift um sich. Womöglich läßt sich der Vergleich bis ins Detail fortsetzen. Der Bruderzwist klingt dann wie ein Echo auf ein im Innersten zerrissenes Deutschland. Vielleicht ist der selbstbewußte, narzistisch in sich verliebte, feinfühlige Joseph, der viel sensibler, zarter als die Rohlinge von Brüdern ist, eine Anspielung auf die von deutschen Mitbürgern drangsalierten Juden.65 Wie dem auch sei, der Erzähler warnt vor einem Rückfall in Intoleranz und Verbrechen. Das 64

65

In dieser »Rede vor Arbeitern in Wien« erwähnte Thomas Mann Nietzsches Zarathustra und forderte dazu auf, Nietzsches Schriften wieder einen Sinn zu geben und nicht das Feld den falschen Epigonen zu überlassen. Erich Kahler leitet das Kapitel »Judentum und Deutschtum« in seinem Buch »Israel unter den Völkern« mit einem Motto ein, das er Stefan George entnommen hat: »Blond oder schwarz demselben Schoß Entsprungene / Verkannte Brüder suchend euch und hassend / Ihr immer schweifend und drum nicht erfüllt«. Erich Kahler: Israel unter den Völkern. Zürich: Humanitas-Verlag 1936, S. 101.

202

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und

Antisemitismus

Anliegen des Schriftstellers wird an anderer Stelle klar; um zur Religion, zur Moral, zum Voranschreiten im Geistigen und Kulturellen vorzustoßen, war ein langer, leidvoller Kreuzesweg der Menschheit nötig: Wenn man [...] bedenkt, was es, religionsgeschichtlich, die Menschheit gekostet hat, vom Naturkult, von einer barbarisch raffinierten Gnostik und sexualistischen Gottesausschweifungen des Moloch-Baal-Astarte-Dienstes sich zu geistigerer Anbetung zu erheben, so staunt man wohl über den leichten Sinn, mit dem solche Überwindungen und Befreiungen heute verleugnet werden [...]. (XI, 877f.)

Der Protagonist in diesem Epos ist das Geistige, dessen Siegeszug als Gegengewicht zur Welle des Anti-Intellektualismus gefeiert wird. Literatur greift hier in das politische Geschehen ein, ist ein weiterer »Appell an die Vernunft« (XI, 870ff.) wie die beschwörenden, öffentlichen Stellungnahmen des Schriftstellers seit 1922. Der biblische Stoff taugt hier nicht nur als epische Lanze gegen die wütende Barbarei in der deutschen Wirklichkeit. Darüber hinaus wird eine andere, tiefere Analogie in Thomas Manns Denken spürbar, die die Welt der Hebräer zum Vor- und Gegenbild fur die zeitgenössischen Deutschen macht. Neu ist der Vergleich zwischen Deutschland und Israel nicht, weder für Thomas Mann noch im allgemeinen Zeitgeist. Seit dem ersten Weltkrieg ist das ein abgedroschenes Thema. Für Thomas Mann steht fest: »Die Deutschen sind aus sehr ähnlichen Gründen bewundert und verhaßt wie die Juden [...]« (Briefe II, 232)66 Der weltweite Haß, dem Deutschland seit dem ersten Weltkrieg von allen Seiten ausgesetzt zu sein glaubte, mache die Deutschen zu den Juden aller Nationen. Hinzu kommt, daß das in nationalistischen Kreisen erwachende Germanentum in seinem Erneuerungswillen und Sendungsbewußtsein die Deutschen als auserwähltes Volk betrachtet. In diesem Kontext werden die Juden zum Feindbild stilisiert, das in allem das ganze Gegenteil von Deutschland darstellt. Auf die europäischen Juden konzentriert sich nun auch noch jener lang gehegte Groll, der früher den »Welschen« und dem Erbfeind Frankreich galt.67 So verkörpern die Juden das Zersetzende, Internationale in Opposition zum Nationalen. Aber auch in Hinsicht auf das deutsche Streben nach nationaler Einheit sind sie den Deutschen ein Dorn im Auge, weil das Bild vom jüdischen Volk als eine Nation über den Nationen68 vorherrscht. 66

67

68

Thomas Mann fährt fort: »[...] und der deutsche Anti-Semitismus beruht gewiß großen Teils auf dem Gefühl einer Situationsverwandtschaft.« Brief Thomas Manns an Bernhard Cohn vom 21.1.42. Die Abneigung gegen alles Welsche (Rom Inbegriffen) und gegen das unterstellte Konglomerat aus Französischer Revolution, Judaismus und Groß-Orient der Freimaurer führt Hans Blüher dazu, die welsche Welt und den semitischen Geist für synonym zu halten, so daß Hans Blühers Feindbild den Namen Sokrates (abstraktes Denken) oder Mammonkult (materielles Denken) trägt. Hans Blüher: Die Elemente der deutschen Position. Offener Brief an den Grafen Keyserling in deutscher und christlicher Sache. Berlin: Ring Verlag 1927, S. 61. Das ist ein altes Stereotyp. Hegel, beispielsweise: »Der Staat [...] ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene und der Gesetzgebung Mosis fremd.« Und: »Ein eigent-

Β. Joseph und seine Brüder

203

Abscheu und Faszinosum, ein Wunsch- und Schreckbild zugleich ist die Existenz des jüdischen Volkes in der Diaspora. Schablonenhaft wird an eine geheime Weltmacht geglaubt, die Neid weckt. Aber auch gefürchtet und geächtet wird die Schwäche eines Volkes ohne Land. Beneidet wird der hartnäckige, kulturelle und ethnische Zusammenhalt eines Volkes ohne Raum, das in jeder Hinsicht als Deutschlands Antipode verachtet wird. Solche Parallelen sind verbreitet und nicht ausschließlich bei den Antisemiten zu finden. Auch der Philosoph Hermann Cohen besteht auf der Analogie zwischen dem Schicksal Israels und dem Deutschlands. Er setzt eine vermeintliche Geistesverwandtschaft voraus.69 Solche Thesen hallen bei Thomas Mann wider. Es sei nur an seinen Beifall erinnert, als Hans Blüher erklärt, Deutschland brauche eine transzendierende, bindende Idee wie die vom Deutschen Reich, die den Deutschen sein möge, was die Thora den Juden ist. Aus all diesen Gründen leuchtet es ein, warum Deutschland auf der Suche nach Halt und nationaler Identität auf die Juden starrt, und zwar um so mehr, als die Ideen von Volk und Rasse Deutschland heimsuchen. Diese Besessenheit ist doppelter Art - kraft der Sehnsüchte, die der völkische Aufbruch weckt, und auch des Wahns wegen, sich des unsichtbaren Giftes zu entledigen, das durch das veijudete Christentum in Deutschlands Adern fließe. So vollzieht sich die »Entjudaisierung« in manchen Köpfen: Für Hans Blüher ist »Christus der einzige Jude, auf den es ankommt [...]. Er war die Blüte seines Volkes. Dies Volk mußte leben, um nur diesen einzigen Menschen zu erzeugen [...]« 70 Für Alfred Rosenberg ist Christus nie ein Jude gewesen.71 In solchen Kreisen ist die Auffassung gang und gäbe, mit Paulus beginne die jüdische Verseuchung des Christentums.72 Der Lutheraner Johannes Hempel, beispielsweise, bewundert die Gnade des Herrn, der die Augen vor der Schurkerei der Hebräer schließe. Dies sei als Mahnung zu verstehen, es den Juden mit ihrem Stolz, Erwähltheitsdünkel, ihrer Tücke nicht gleich zu tun.73 Hempel zufolge klage kein Buch der Weltliteratur die Juden mehr an, kein Buch wirke wahrlich antisemitischer als das Alte Testament.74

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70

71

72

73

74

liches Staatsband war aber nicht vorhanden.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart: Reclam 1966, S. 286f. Léon Poliakov: Histoire de l'antisémitisme. Bd 4: L'Europe suicidaire 1870-1933. Paris: Calman-Lévy 1977, S. 159. Hans Blüher: Die Aristie des Jesus von Nazareth. Philosophische Grundlegung der Lehre und der Erscheinung Christi. Prien: Kampmann und Schnabel 1921, S. 304. Alfred Rosenberg: Das Verbrechen der Freimaurerei. Judentum, Jesuitismus, Deutsches Christentum. 2. Ausg. München: Lehmann 1922, S. 148. Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth (Anm. 70), S. 320 und Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München: Hoheneichen 1936, S. 75. Johannes Hempel: Altes Testament und völkische Frage. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1931, S. 14. Ebd., S. 13.

204

4.3.

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und

Antisemitismus

Nationalismus und Rassismus

Einem Hempel folgt Thomas Mann nicht. Es geht dem Schriftsteller keineswegs darum, das Alte Testament zu verwerfen, im Gegenteil. Der tragende Leitgedanke des Alten Testaments soll bewahrt, aufgewertet und aktualisiert werden: Gottesfrömmigkeit und Sinn fürs Absolute, der religiös-sakrale Impetus des Judentums, die liebevolle, bedingungslose Hingabe an Gott. In der Tetralogie enthält das Aufblühen Ägyptens unter Joseph eine Botschaft an Deutschland. Jüdische Gottesliebe äußert sich in Lebensfrömmigkeit. Lebensklugheit und -fröhlichkeit werden hervorgehoben, so daß sich das Judentum von der Todesreligion der Ägypter kraß abhebt. Es liegt auch nahe, in der ägyptischen Todesanbetung Anspielungen auf die christliche Todes- und Jenseitsmystik zu lesen. Unter der Feder Heinrich von Eickens geriet das Judentum lediglich zu einer »Religion der berechnenden, praktischen Lebensklugheit«,75 zu einer bloßen »irdischen Glückseligkeitslehre«.76 Mit Thomas Manns Patriarchen dagegen erhält das Leben selbst einen sakralen Sinn, und mit Joseph erhebt sich das Religiöse so recht zu einem weltweiten, kosmischen Humanismus, der über alle Religionen und alle Gläubigen hinweg die ganze Menschheit umfaßt. Die Gefahr einer Verengung des Religiösen aufs Nationale wird durch die universale Botschaft gebannt, der enge nationale Rahmen gesprengt, so daß mit der Perspektive auf Joseph diese Volksreligion aller nur konfessionellen und völkischen Betrachtungsweisen völlig enthoben ist. Recht verstandener Nationalismus ist in der Sicht des Autors und seines Helden übernational. Die Menschheitsidee des Alten Testaments bewährt sich hier, geht in die Gestaltung Josephs ein und trägt die Tetralogie. Für einen Hempel hatte Gott durch Israel noch nicht sein letztes Wort gesprochen. Christen wie Hempel schwebte ein nationalistisch verbrämtes Christentum mit Deutschland als dem neuen auserwählten Volk vor, während Thomas Manns Joseph an ein offenes Deutschland gemahnt, das in das Konzert der Nationen einstimmt.

5.

Das Hebräerbild zwischen Volksidylle und völkischem Greuel

5.1.

Umwertung des Materials

Die Polarität, die das Bild der alten Hebräer im Roman kennzeichnet, spiegelt die Entwicklung wider, die Thomas Mann selbst durchlaufen hat. Höchstwahrscheinlich behagte ihm am biblischen Stoff zunächst das Modell einer Volksreligion unter der Schirmherrschaft des Geistes. Eine solche Geistigkeit, gespeist aus dem Humus einer Nation, hätte dem Schriftsteller schon 75

76

Heinrich von Eicken: Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung. Stuttgart: Cotta 1887, S. 68. Ebd.

Β. Joseph und seine Brüder

205

1925 nicht mißfallen, rühmt er doch im Essay Goethe und Tolstoi Goethes Verwurzelung in der Natur und im Volk. Zudem hatte Thomas Manns damalige Vorstellung von der Welt der Hebräer ausdrücklich den Glanz eines goldenen Zeitalters, einer patriarchalischen Idylle in der warmen, frommen Volksgemeinschaft (IX, 120). Neugier und Sympathie bei der ersten GoldbergLektüre im Jahre 1931 bekräftigen dies (Χ, 750). 77 Allerdings ändert sich das später, wie zornige Randbemerkungen und frontale Angriffe auf Oskar Goldberg in den Tagebuchaufzeichnungen von 1934 zeigen (Tb2, 473). 78 Es kommt also im Laufe der lang andauernden Romanabfassung zu einer Umwertung. Das Denkkonstrukt einer ethnisch-heidnischen Volksreligion der Hebräer, mit dem Thomas Mann zuerst geliebäugelt hatte und das u. a. auch von Hans Blühers Vortrag suggeriert worden war, verliert nun jegliche Anziehungskraft und lädt sich unter der realen, nationalsozialistischen Gefahr negativ auf. Oskar Goldbergs Hebräer-Bild aus Die Wirklichkeit der Hebräer im Jahre 1925 wirkt nun inmitten der völkischen Tollheit höchst bedenklich. Schließlich entstehen aus Goldbergs Gedankengut die giftigen Sprüche des Teufels Semael im Joseph-Zyklus. Thomas Manns Patriarchenfresko würde zwischen den zwei Polen, universeller Ausstrahlung einerseits und finsterem Ethnozentrismus andererseits, schwanken, wäre dieser Widerspruch nicht am Ende aufgehoben. Die Gegensätze lösen sich zunehmend auf. Mit der Figur Josephs, dem Zauber seines Tuns und Redens, verwandelt sich das durchaus nicht immer glorreiche Abenteuer des Volkes Israel zur grandiosen Schelmengeschichte und Eulenspiegelei. Dem Goldbergschen Buch entnimmt Thomas Mann vieles, was abgewandelt wird und im Romankontext eine völkische Stoßrichtung erhält, die Goldbergs physikalisch-metaphysischem System fernliegt. Das solcherart umgestaltete Hebräer-Bild dient dem Erzähler dazu, das Menschliche-Allzu-Menschliche, allzu Gebrechliche, Bedrohte, die Dialektik von Gut und Böse in allem Menschenwerk durchschimmern zu lassen, so auch Deutschlands Gegenwart. Dadurch entsteht die epische Fiktion eines von sich und seinem Gott eingenommenen Stammes, eifrig bemüht, sich aller fremden Einflüsse zu entledigen, um sich als abgesondertes, geläutertes Geschlecht aufzuspielen. Dieser Auserwähltheitsdünkel geht mit einem intellektuellen Hochmut einher, der sich zwar den geistigen und geistlichen Idealen gemäß formt und bildet, dessen egoistisches Tun aber ausschließlich auf den Nutzen der Gemeinschaft ausgerichtet ist. Geschäftssinn, Schlaufuchsigkeit, Unduldsamkeit, engstirniger 77

78

1931 führt Thomas Mann in »Ur und die Sintflut« Oskar Goldbergs Buch »Die Wirklichkeit der Hebräer«, Edgar Dacqués »Urwelt, Sage und Menschheit«, Abraham Schalom Yahudas »Sprache des Pentateuch«, Freuds »Totem und Tabu«, Max Schelers »Stellung des Menschen im Kosmos« und »die aufrührenden Essays von Gottfried Benn« als »Büchertyp« auf, »mit dem an Interesse zu wetteifern der Roman [...] allergrößte Mühe hat« (X, 749). Vgl. Stéphane Moses: Thomas Mann et Oskar Goldberg: un exemple de >montage< dans le >DoktorFaustusvulgärwissenschaftlichen< Literatentums« (XII, 659) wird die Gestalt des edlen Literaten entgegen gehalten. Joseph weiß, daß Geist und Leben wohl »aufeinander hingeordnet« (XII, 659) sind, daß »die Vernunft mit Seele und die Seele mit Vernunft zu erfüllen« sind. 84

Alfred Döblin: Flucht und Sammlung des Judenvolkes. Aufsätze und Erzählungen. Amsterdam: Querido Verlag 1935.

210

Dritter Teil: Kampfgegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

(XI, 867). Weit zurück liegen die Betrachtungen eines Unpolitischen. Seit dem Zauberberg hat sich vieles geändert: Der jüdische Literat verkörpert nun das Gute, während der alte teuflische Gevatter erneut zum Vorschein kommt, aber jetzt im deutschen Gewand. Ein neuer Savonarola hat sich Deutschlands bemächtigt. Fiorenza sei wieder aktuell, meint Thomas Mann. 85 Die Religion der modernen Intoleranz, der Fanatismus modischer Prägung ist der Nationalsozialismus. Rassismus, Deutschtümelei, »Gegenaufklärung«, »Geistfeindlichkeit« (XI, 866) schlechthin charakterisieren das Literatentum im Land der Dichter und Denker: Das deutsche Volk hat nie von Literaten regiert sein wollen, - aber die widrigste Erscheinungsform alles Intellektualismus, den Literaten der Anti-Idee, hat es Miene gemacht, sich zum Führer zu küren. Oder was wären die Wortführer des >Nationalsozialismus< anderes als schlechte Literaten? (XII, 676)

Auch hier kommt es zu einer Umwertung: was früher vor allem jüdischen Literaten angekreidet wurde, wirft der Schriftsteller nun den Nationalsozialisten vor. Gleichzeitig überträgt Thomas Mann den Juden den hohen Kulturauftrag, den er früher Deutschland zusprach. Die Juden, so schreibt er 1937, werden leiden und leben, und man kann überzeugt sein, daß ihrem mächtigen Diesseitssinn, ihrem angeborenen Sozialismus eine wichtige Rolle zugewiesen ist, beim Aufbau der neuen aus Krisen langsam sich hervorringenden Menschenwelt. (ΧΙΠ, 486)

Gerade bei den Juden sucht und findet er »geprüfte Geistigkeit und ironische Vernunft«, kurz, »den Nährboden eines kommenden dritten Humanismus« (XIII, 487). Dieser neue Humanismus wolle nichts anderes als die »Ideen der Freiheit, der Wahrheit, des Rechts und der Menschlichkeit« (XIII, 484), d. h. die Grundlagen der von Deutschland bedrohten Kultur retten. Dieses »[...] Gefühl von der Wichtigkeit des jüdischen Geistes für die Gegenwart und die Zukunft« (XIII, 485) weist auf die Annahme einer grundlegenden Identität von Judentum und Kultur schlechthin. Der europäische Westen sei doch aus dem östlichen Mittelmeerraum hervorgegangen, der Keimzelle Europas. Schon 1937 im Vortrag über den Antisemitismus unterstreicht Thomas Mann die »mittelländisch-europäische« Komponente als »unveräußerliches Zubehör deutscher Gesittung und Kultur überhaupt« (XIII, 484). Der Westen sei jüdisch von Geburt an, was im übrigen den jüdischen Internationalismus erkläre. Das Judentum stelle daher die »zivilisatorischen Bindungen« (XIII, 484) dar, »ohne die Deutschtum nicht Deutschtum wäre, sondern eine weltunbrauchbare Bärenhäuterei« (XIII, 484). Das solcherart umrissene Judentum wird von Thomas Mann als »das formschenkende, das menschliche [...] mediterrane« Element (ΧΙΠ, 484) in den kräftigen Farben Hellas' apollinisch verklärt. Der jüdische Beitrag zur geistigen Konstituierung Europas sei genauso achtbar wie der der Hellenen und ähnele diesem 85

»Fiorenza« sei aktuell, erklärte Thomas Mann 1919 (Tbl, 332) und 1938 (Tb4, 222).

Β. Joseph und seine Brüder

211

beträchtlich. Jerusalem, Athen, Rom schmelzen in solcher Vorstellung zusammen. So lenken Pallas Athena und Hermes Josephs Schritte. Mit dieser Annäherung ans Griechisch-Lateinisch-Klassische erklingt ein Motiv aus dem Zauberberg. Die »Sonnen- und Meereskinder« (ΙΠ, 679), die »Sonnenleute« (III, 680) hatten Hans Castorp das Bild einer idealen Menschheit vermittelt. Die alte Nord-Süd-Opposition verschwand zugunsten einer Ost-West-Entgegensetzung. Der Schriftsteller lehnte das Welsch-Westliche nun nicht mehr - wie noch in den Betrachtungen eines Unpolitischen - ab, sondern vereinnahmte es als eine wesentliche Komponente des Deutschen. Nun wird die belebende, stärkende Kraft des Judentums in der deutschen und Weltkultur verankert. Schon Der Zauberberg wies auf die Allgegenwärtigkeit des Jüdischen. Doch erst der Joseph-Zyklus erklärt sie: Das Judentum, wie es insbesondere die Joseph-Gestalt vorfuhrt, trägt das Christentum und dessen spätere Entwicklung in sich. Die jüdische Orthodoxie, die sich abschotten will und im Dogmatismus zu erstarren droht, nähert sich in Thomas Manns protestantisch gefärbter Sicht dem Katholizismus an, während andererseits jüdische, geistige Askese und Gesetzesstrenge auf den Protestantismus hinweisen sollen. Ein auf die Erde, das Diesseits gerichteter Messianismus findet, so Thomas Mann, auf weltlicher Ebene seine Entfaltung in den Ideen von Freiheit und sozialer Gleichheit. Kurz, ob im Religiösen oder im Politischen, der Schriftsteller spürt mehr denn je den jüdischen Kulturquellen nach und stimmt ihnen ein Hohelied an. In dieser Phase äußerster Lebensgefahr für die europäischen Juden zeigt sich das Bestreben des Romanciers nach Ausgleich. Die zu Unmenschen verunglimpften Juden mythisiert er, indem er ihnen einen Adelsbrief ausstellt. Sie verkörpern den Adel der Menschheit und der Geisteskultur, das Salz der Erde, aus dem die Zivilisation entstand. Wo die Nationalsozialisten jüdisches Blut als Schande brandmarken, gereicht es, dem Autor zufolge, Europa zur Ehre. Die von Thomas Mann schon oft betonte jüdische, innere Zwiespältigkeit, hier sei, beispielsweise, an die Naphta-Figur erinnert, wird nun symptomatisch für die Widersprüchlichkeit im Menschen schlechthin. Juda und Joseph, Brüder ein und derselben Zerrissenheit und desselben Strebens nach Einheit, sind wie ein Echo auf Martin Bubers Vision, der in den Juden das Kraftfeld gigantischer Widersprüche ausmacht und in ihnen die Welteneiniger sieht. Für Thomas Mann wie für Buber stellt das jüdische Streben nach Einheit ein Menschheitsphänomen schlechthin dar, die Judenfrage ist eine Menschheitsfrage. Die Zeitereignisse fuhren Thomas Mann dazu, in einer knappen Erzählung, die der Tetralogie unmittelbar folgt, noch einmal ähnliche Akzente zu setzen.

212

C.

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Das Gesetz

Die Erzählung Das Gesetz ist ein direkter Niederschlag des Joseph-Romans.86 Es handelt sich in diesem Fall um ein Auftragswerk, 87 das unmittelbar auf die Forderung der Zeit, den Kampf gegen den Nationalsozialismus, ausgerichtet ist. Die jüdische Saga wird unter greller gegensätzlicher Beleuchtung gezeigt, die Verbindung zur Gegenwart betont. Der Erzähler identifiziert sich just mit Moses,88 um in dessen Namen die Gesetzestafeln gegen den Verbrecher und Anti-Christen Hitler zu schwingen. - Wie aber nun, wenn dieser und jener sich insgeheim die Hand zu reichen scheinen? Weist dann nicht die strahlende Menschheitsfabel zugleich eine komplexere, düstere Kehrseite auf, die, obwohl sie anfangs gar nicht auffallen will, Aufmerksamkeit verdient?

1.

Israels Erbe

Zum geistigen Kern der hebräischen Botschaft vorstoßend, wird von vornherein die Genese einer Ethik von universeller Bedeutung unterstrichen. Die Entstehung der Moral wird an Mose's Entwicklung gezeigt. Am Anfang prägt eine peinigende innere Zerrissenheit das Wesen von Mose. In ihm stehen sich das mütterliche ägyptische Erbe einerseits - Sinnlichkeit, Heftigkeit und Leidenschaft des Körpers - und die väterliche Erbschaft andererseits - der Stempel des Geistigen, der Trübsinn,89 ein verschwommener Zug von Unruhe und Nostalgie, die im Innersten dieses »Nomadenblutes« (VIII, 813) die Glut der Revolte gegen die Sklaverei schüren - gegenüber. Dieser Kampf der Sinne und des Geistes tobt heftig. Das innere Aufbrausen entäußert sich in ungestümen Gesten und Handlungen, ja Mose's feuriges Temperament führt ihn sogar dazu, aus Gerechtigkeitssinn zu töten. Er kennt die Sünde bis zur Lust am Morden (vgl. VIII, 808). 86

87

88

89

Seit etwa August 1926, der Zeit der Vorarbeit zum Joseph-Roman, bis zum 4. Januar 1943 hat Thomas Mann nicht aufgehört, sich mit dem biblischen Stoff zu befassen. Daraus und gleichsam als Fortsetzung ging die Sinai-Erzählung hervor. Ursprünglich war ein Film geplant, worin zehn bekannte Schriftsteller jeweils eines der zehn Gebote abhandeln sollten. Das Filmprojekt scheiterte allerdings, und es kam schließlich Weihnachten 1943 zur Herausgabe eines Buches unter dem Titel »Ten Commandments« mit dem Untertitel »Ten short Novels of Hitler's War against the Moral Code«. Aus dem hebräischen »Mosche« entsteht die bei Luther und in der Religionswissenschaft übliche Schreibung »Mose«, die auch Thomas Mann in seiner Erzählung gebraucht. Deswegen wird auch hier diese Schreibweise - einschließlich der Genitivbildung »Mose's« übernommen, soweit von der Hauptgestalt der Erzählung die Rede ist. Ansonsten wird die gebräuchlichere, aus dem Griechischen abgeleitete Form »Moses« verwendet. Vgl. S. 811: »Er hatte traurige Augen«.

C. Das Gesetz

213

Dieselbe Glut aber nährt seine Sehnsucht nach dem Klaren, Reinen. So hat er nichts von einem Übermenschen, ist in sich zerrissen, geteilt. Seine Nase, die er sich im Kampf gegen einen ägyptischen Leibwächter gebrochen hat, symbolisiert seine Rebellion gegen Unrecht und den Riß zwischen Geist und Körper. Mit der ganzen Kraft seines Geistes stemmt sich Mose gegen das mütterliche Erbe, durch das er die schlimmsten Ausuferungen Ägyptens in sich trägt. Sein kraftvoller Körper mit den wuchtigen Armen, den massigen Händen steht in krassem Gegensatz zu seiner reinen, selbstlosen Seele. Diese verzweifelt fuchtelnden Fäuste und sein Stottern sind Zeichen eines Körpers, der ihn stört, Zeichen des fortwährenden Kampfes um die Beherrschung dieses Körpers. So erlebt Mose beispielhaft in seinem Innersten das Streben Israels nach Veredlung und Läuterung, das Bemühen, der Natur den Stempel des Geistigen aufzudrücken. Der Moses der Bibel empfängt seine Mission von Gott. Der Mose Thomas Manns hört diesen Appell, der zur Berufung wird, in sich selbst. Die Visionen des Propheten sind Widerspiegelungen seines innersten Bemühens.90 Die tiefsten Gegensätze erwecken in Mose jene Gier nach dem Absoluten, jene geistige Unnachgiebigkeit, wie sie der Abraham-Gestalt aus der Joseph-Tetralogie eignet. Moses »unordentliche« Geburt (VIII, 808) schürt um so mehr den Willen, eine unantastbare, heilige Ordnung zu errichten. Seine Herkunft unterstreicht seine Situation als Paria, weil er von überall und nirgends abstammt. Durch seine Werke und den ausgeprägten Willen, gegenüber den Instinkten dem Geist den Vorzug zu geben, erschafft er sich selbst. Aber gerade dadurch schreibt er sich in den Stammbaum Israels ein, dessen Zusammenhalt mehr im Geistigen als im Blut besteht.91 Seine Aufgabe ist es, ein »abgesondertes Volk des Geistes, der Reinheit und der Heiligkeit« (VIII, 810) zu schmieden. Zu dem geistigen Eifer gesellt sich Findigkeit: Mose muß dem Volk, um es nicht zu entmutigen, die tatsächlichen Schwierigkeiten des ungeheuren Unternehmens, das die Befreiung vom ägyptischen Joch darstellt, verhehlen. Er muß sich mit seinen eigenen Schwächen abfinden, sich auf die Hilfe von Aaron, Miqam, Joschua, Kaleb und sogar auf die seines Schwiegervaters stützen. Erzählt wird, wie er einen Filter erfindet, um bitteres Quellwasser in der Wüste trinkbar zu machen. Der Erzähler zeigt Mose als einen Beobachter, der alle Fehler seines Volkes registriert, um daraus Grundsätze abzuleiten und sie dem Volk einzuprägen. Seine Zehn Gebote sind im wesentlichen das Werk der Erfahrung, der Kern von Lebensregeln, die der Menschheit gestatten, sich zum Reich Zion zu erheben. Mose geht in seinem Willen, das universelle Gesetz zu formulieren, sogar so weit, das Alphabet zu erfinden. Kurz, Mose ist ein neuer Prometheus, er trägt das heilige Feuer, das die Menschheit erleuchtet. 90 91

Vgl. S. 809: »als flammendes Außengesicht«. Dies geht aus der Novelle, wie schon aus dem Joseph-Roman, hervor. Vgl. hierzu auch Goethes Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. 8. Aufl. München: Beck 1967, Bd 2, hier bes. den Abschnitt »Israel in Ägypten«, S. 207-225.

214

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Seine Aufgabe ist um so schwieriger, als sich das Volk in einem jämmerlichen Zustand befindet. Es wird als eine unförmige Masse beschrieben. Der Erzähler entlehnt der Übersetzung Martin Luthers den Ausdruck »Pöbelvolk«,92 verstärkt ihn noch durch »Gehudel«, »Blut«, »Vatergeblüt«, »Blutsgenossen«, »Geblüt«, »Fleisch«, »Horden«.93 Diese Bezeichnungen setzen die Hebräer zu Sklaven herab, zu einem »elendefn], bedrückte[n] und in der Anbetung konfuse[n] Fleisch« (VIII, 810). Dieses Volk ist besonders »halsstarrig«: Sie waren Nomadenblut, mit der Überlieferung frei schweifenden Lebens, und stündlich geregelte Arbeit, bei der man schwitzte, war ihnen im Herzen fremd und kränkend. [...] Seit mehreren Geschlechtern in einem Übergangslande zeltend zwischen der Väterheimat und dem eigentlichen Ägypten, waren sie von gestaltloser Seele, ohne sichere Lehre und schwankenden Geistes. (VIII, 813f.)

Der Erzähler läßt den Zehn Geboten Lebensmittel- und Hygienevorschriften vorausgehen, die eigentlich erst in viel späteren Passagen des Levitikus und des Deuteronomiums verstreut sind. Durch diese Umkehrung haben die allgemeinen Anweisungen Moses nicht mehr denselben Stellenwert wie in der Bibel. Statt einer simplen Warnung vor möglichen, vielleicht hie und da, in Israel wie anderswo verbreiteten Schwächen nehmen die Verfugungen beschreibenden Charakter an, als ob sich das Volk in einem derart heruntergekommenen Zustand primitiver Tierhaftigkeit befände, daß Mose's Gesetz die konstatierte Verderbnis notwendigerweise korrigieren müsse (vgl. VIII, 850). Primitivste Hygienevorschriften, Lebensmittelverbote und sexuelle Einschränkungen sind ohnehin schon ein widernatürlicher Bruch mit dem Gewohnten, die darauf folgenden ethischen Anweisungen erst recht! Sie stehen in völligem Gegensatz zu dem, was bisher die Norm war, sie sind die Unnatur. Dieses Volk befindet sich im Kindheitszustand der Menschheit und verhält sich auch entsprechend, bald vor Mose und seinem Rachegott ängstlich zitternd, bald Mose als Propheten anbetend, mal ihn steinigend und sich immer beklagend. Kurz, der Kult um das Goldene Kalb, dem das Volk in Moses Abwesenheit verfällt, ist diesem groben »Pöbel« (VIII, 848) natürlicher als der Zustand, in den Mose es erheben will. Diese »ungestalte« Menschheit (VIII, 810) wird mit dem rohen Stein verglichen, der den Steinmetz dazu treibt, dieser rohen Materie die Formen seines Geistes abzuringen. Der Schöpfertrieb bemächtigt sich Moses: Er selbst hatte Lust zu seines Vaters Blut, wie der Steinmetz Lust hat zu dem ungestalten Block, woraus er feine und hohe Gestalt, seiner Hände Werk, zu metzen gedenkt. (VIII, 850)

Der Schriftsteller verleiht seinem Helden 92 93

4. Mose 11,4. »Pöbelvolk« 835, 842, 847, 863, 870; »Gehudel« 832f„ 836, 847, 854, 860; »Blut« 809f., 813, 816, 819, 828, 850, 865, 871, 875; »Vaterblut« 874; »Vatergeblüt« 815, 864; »Blutsgenossen« 828; »Geblüt« 818, 831, 835, 840, 842, 847, 855; »Fleisch« 810, 819, 840, 854, 875; »Horden« 846.

C. Das Gesetz

215

die Züge - nicht etwa von Michelangelo's Moses, sondern von Michelangelo selbst, um ihn als mühevollen, im widerspenstigen menschlichen Rohstoff schwer und unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen. (XI, 154f.)

Die Worte von Maurice Barrés über Michelangelo, »der sich eine Welt zu erschaffen sehnt, in der das Universum seinem Willen gehorcht«,94 gelten auch fur Thomas Manns Mose. Das gewaltige Unternehmen, die Menschheit zu erziehen, geht nur langsam voran. Alles muß dem Volk beigebracht werden, Hygiene- und Ernährungsvorschriften, Grundsätze über das Eigentum und die Regeln des Anstandes, die höchsten moralischen Maximen, bis hin zur Quintessenz: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«95 Tu dem anderen nicht an, was er dir nicht antun soll! Handle derart, daß deine Taten zur universellen Regel werden können! Die Kantische Ethik schimmert durch die Unterweisungen Moses hindurch.96 Die Moral kennt keinen Unterschied zwischen den Kindern Israels und den Fremden. Du warst ein geschundener Knecht in Ägyptenland - gedenke dessen bei deinem Gehaben gegen die, die fremd sind unter dir, die Kinder Amaleks zum Beispiel, die dir Gott in die Hände gab, und schinde sie nicht! [...] Mache überhaupt nicht einen so dummdreisten Unterschied zwischen dir und den anderen [...]. Darum liebe ich dich nicht allein, sondern liebe ihn gleicherweise und tue mit ihm, wie du wünschen würdest, daß er mit dir täte, wenn er du wäre! (VIII, 853)

Sehr klar nimmt die Botschaft Israels universelle Bedeutung an. Mit dem Alphabet entdeckt Mose Worte, die sich an alle richten, weil der Gott Israels der Herr des Universums ist: [...] und wie Jahwe der Gott der Welt war allenthalben, so war auch, was Mose zu schreiben gedachte, das Kurzgefaßte, solcher Art, daß es als Grundweisung und Fels des Menschenanstandes dienen mochte unter den Völkern der Erde - allenthalben. (VIH, 865)

Die Genealogie der Moral, wie sie in der Joseph-Tetralogie skizziert ist, wird hier wiederholt. Es handelt sich um ein wirkliches »Abrichten« der menschlichen Gattung, zunächst aus Furcht vor Bestrafung, bis sich die Achtung vor Gott und dem Gesetz schließlich zu einer ehrwürdigen Tradition gefugt hat. Dann entsteht das Gewissen wie eine zweite Natur: »Halte dein Herz im Zaum!« (VIII, 865) Das contra naturam vivere ist der Leitgedanke der Botschaft Israels. Thomas Mann folgt Freud, fur den sich die jüdische Religion »die mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von Gott zu machen, [...] im 94

95 96

Maurice Barrés: Du sang, de la volupté et de la mort. Paris: Pion 1909, S. 252: »Entrons où vit ton peuple [···] c'est ici le lieu du plus terrible effort [...] pour échapper à tout ce qu'il y a de bas dans la condition humaine«. 3. Buch Mose 19, 18. Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. v. Theodor Valentiner. Stuttgart: Reclam 1961 (Universal-Bibliothek; 4507), S. 68: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum Allgemeinen Naturgesetze werden sollte.«

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Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und

Antisemitismus

Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der Triebverzichte entwickelt hat.«97 Diese Arbeit der Instinktsublimation ist - fur Thomas Mann wie für Sigmund Freud - der Grundstein der Kultur. Der »Fels der Moral« ist »das A und O des Menschenbenehmens« (VIII, 874). Jahwe »ist der Herr allenthalben, darum ist sein das ABC, und seine Rede, möge sie auch an dich gerichtet sein, Israel, ist ganz willkürlich eine Rede fur alle« (VHI, 874f.), ein Wort, das »in dein Fleisch und Blut [...] gemetzt sein« (VIII, 875) soll. So ist der ewige und »unverbrüchliche« Bund mit Israel einfach der »Bund zwischen Gott und Mensch« (VIII, 875). Aus Mose spricht das Buch der Bücher, der prometheische Logos, der dem menschlichen Geist das göttliche Feuer bringt. Sein gebrochenes Nasenbein bezeugt seinen trotzigen Willen, brüderliche Gerechtigkeit zwischen den Menschen herzustellen. Vielleicht muß man in der gebrochenen jüdischen Nase ein Symbol sehen; für Thomas Mann ein Synonym des irdischen Kampfes Israels, um hienieden das Reich Gottes zu errichten. Der Prophet der Erzählung ist teilweise von dem Porträt angeregt, das Heine von Moses, dem Erbauer von »Menschenpyramiden« gezeichnet hat: [...] er nahm einen armen Hirtenstamm und schuf daraus ein Volk, das [...] den Jahrhunderten trotzen sollte, ein großes, ewiges, heiliges Volk, ein Volk Gottes, das allen anderen Völkern als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp dienen konnte [...].98

Mehr noch als in der Tetralogie wird die Aktualität der Botschaft Israels betont. In einer Zeit, in der die Grundlagen der Kultur von einem nazistischen Deutschland verhöhnt werden, identifiziert sich Thomas Mann mit Moses, dem Verteidiger des Geistigen, gegen dessen barbarische Verneinung durch Hitler. Thomas Mann verdammt die Anbetung des Goldenen Kalbs einer in die Barbarei zurückgefallenen Menschheit. Er schleudert seinen Fluch über den verrückten Bösen: es wäre »besser, er wäre nie geboren« (VIII, 875). Die Zehn Gebote, »die in Urzeiten der Menschheit gegeben wurden als ihr sittliches Grundgesetz« (XI, 1070), werden als wichtiges Fundament des hebräischen und menschheitlichen Erbes hervorgehoben. Der entstehende Mosaismus nimmt unter der Feder Thomas Manns den Charakter einer Religion an, die Heines Worten zufolge »nichts als ein Akt der Dialektik [ist], wodurch Materie und Geist getrennt, und das Absolute nur in der alleinigen Form des Geistes anerkannt wird.«99 Durch solche Darstellung reiht sich Thomas Mann in eine Strömung ein, die von Hegel über Heine zu Freud führt und aus Israel »ein Volk des Geistes«100 macht. Dieses leuchtende Bild wird von einem dunkleren begleitet, das die Schwächen Israels anklagt. 97

98

99 100

Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion. Frankfurt a. M.: Fischer 1975 (Fischer-Taschenbücher; 6300), S. 118. Heinrich Heine: Geständnisse. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Klaus Briegleb. München, Wien: Hanser 1976, Bd 11, S. 481. Heinrich Heine: Über Börne. In: ebd., Bd 7, S. 40. Ebd., S. 119.

C. Das Gesetz

2.

217

Die Kehrseite

Schimmert nicht durch den Humor der Erzählung eine gewisse Mißbilligung des orthodoxen Judentums und der jüdischen Absonderung hindurch? Scheint nicht Thomas Mann die Hebräer des Stammesstolzes und der Herrschsucht zu bezichtigen? Die Kritik an der mosaischen Religion ist von der Art des Voltaireschen Humors. Der zwanglose und scherzhafte Ton ist für die jüdische Orthodoxie gotteslästerlich. Die Komik entsteht durch das Aufeinanderprallen von wortgetreuen Bibelzitaten und auktorialen Kommentaren, ja modernen Hinzufügungen und Veränderungen. 101 Der Originaltext wird mit einem ironisch-lustigen Kommentar des Autors verflochten, ζ. B.: »Das nächste Mal will ich bei jedem ein Schäuflein sehen, oder der Würgeengel soll über euch kommen!« (VIII, 848) Mose's Drohungen, die in keinem Verhältnis zur Sünde stehen, rufen Heiterkeit hervor, nicht weniger die übergenaue Auflistung der Lebensmittelvorschriften, die altmodisch oder übertrieben sind. Die Riten werden der Lächerlichkeit preisgegeben, und das jüdische Osterfest, das symbolische Gedenken an den überstürzten Auszug aus Ägypten, wirkt komisch, wenn Thomas Mann erzählt: Im übrigen war man, so groß wie klein, zum Aufbruch völlig bereit gewesen. Die Lenden gegürtet, hatte man, während der Würgeengel umging, bei gepackten Karren gesessen, die Schuhe schon an den Füßen, den Wanderstab an der Hand. Die goldenen und silbernen Gefäße, die man von den Landeskindern entliehen, nahm man mit. (VIII, 829)

Die Passah-Tradition sieht nach einer frommen Lüge aus, die Gewinnsucht der Hebräer wird unterstrichen. Der Glaube wird nicht besser dargestellt: Jahwe »hatte eine bewegliche Gegenwart« (VIII, 841), die Bundeslade ist »eine Art von Kasten [...] auf welchem nach Mose's Aussage die Gottheit unsichtbar thronte« (VIII, 841), wozu der Kommentator mit trockenem Humor hervorhebt: »und er [Mose - J. D.] mußte es wissen« (VIII, 841). Kurz, die biblische Geschichte wird entweiht. Der Schriftsteller nimmt auf burleske Art einen guten Teil der von Goethe in den Notizen und im Anhang zum Westöstlichen Divan formulierten Kritik an Mose's Werk 102 auf. Er entlehnt besonders Goethes ernüchternde Entmystifizierung der hebräischen Legende. Bei Goethe wie bei Thomas Mann ist das Volk von unbeschreiblicher Grobheit, unvergleichlich roher und ungeschliffener als in der Bibel, als ob es alle Laster besäße, die es außer Kraft zu setzen gelte.

101

102

Vgl. hierzu: Käte Hamburger: Thomas Mann »Das Gesetz«. Vollständiger Text der Erzählung; Dokumentation. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein 1964 (Ullstein-Buch; 5017 - Dichtung und Wirklichkeit; 17), S. 111. Vgl. Goethe: Israel in der Wüste. In: Hamburger Ausgabe (Anm. 91), Bd2, S. 207-225.

218

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Mose hat nicht die hohe Statur, die Heinrich Heine ihm verleiht.103 Ein stammelnder, mittelmäßiger Feldherr jähzornig, unfähig, seine Sinnlichkeit zu beherrschen, braucht er Miijam und den salbungsvoll redenden Aaron als sein Sprachrohr, Joschua und Kaleb fur seine militärische Strategie und für die Aufrechterhaltung der Disziplin, die Äthiopierin zum Ausgleich seiner Sinne. Gott taugt auch kaum mehr: ein eifersüchtiger, jähzorniger, in seinen Wutausbrüchen ungerechter Gott, der sogar so weit geht, den Ehebruch zu schützen (vgl. VIII, 858ff.). Er ist nur der Widerschein von Moses innerem Verlangen: »Wie der Mann, so auch sein Gott.«104 Der Prophet identifiziert sich so mit Gott, daß die Unterscheidung unmöglich ist, ob Gott tatsächlich existiert oder ob Mose nur mit seinen inneren Stimmen Zwiesprache hält. Mit der halbjüdischen Abstammung seines Mose narrt der Erzähler einmal mehr die jüdische Sage. Wenn Sigmund Freud aus Moses einen Ägypter macht, geht er in erster Linie von einer religionsgeschichtlichen Hypothese aus, nämlich das Judentum an die Religion Echnatons zu binden.105 Nichts dergleichen fuhrt bei Thomas Mann zu der fur das orthodoxe Judentum schwerwiegenden Verdrehung. Er begründet und betont zwar durch die jüdisch-ägyptische Abstammung die innere Zwiespältigkeit Mose's und verleiht seinem Verhalten psychologische Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus sichert die nicht vollständige Dazugehörigkeit zum jüdischen Volk dem Propheten den notwendigen Abstand, um das Volk beurteilen und korrigieren zu können. Dennoch ist eine solche Begründung zu vordergründig. Offensichtlich handelt es sich darum, die Legende zu entmystifizieren, indem Mose zumindest väterlicherseits nicht mehr der Sohn des Stammes Levi, sondern durch seine »unordentliche« Geburt der Sohn eines Niemand, eines Parias, eines Outsiders ist. Die jüdische Religion entsteht dann aus dem Rachegeist eines Deklassierten. Die religiöse Berufung des Propheten findet so eine ganz prosaische Erklärung, die zur burlesken Entmythisierung beiträgt. Die erhabene jüdische Saga wird überhaupt auf Menschliches, allzu Menschliches zurückverwiesen. Die zehn Plagen, die Ägypten heimsuchen, werden zu bloßen Naturerscheinungen, die von den Hebräern geschickt ausgenutzt werden. Der Würgeengel, der die zehnte Plage, die Vernichtung der Erstgeborenen bringt, hat Joschuas Gesicht. Thomas Mann nimmt die Deutung wieder auf, die Goethe den Ereignissen gibt: Unter dem Schein eines allgemeinen Festes lockt man Gold und Silbergeschirre den Nachbarn ab, [...] wird eine umgekehrte Sizilianische Vesper unternommen; der Fremde ermordet den Einheimischen [...], und geleitet durch eine grausame Politik,

103

104 105

Heine, Geständnisse (Anm. 98), S. 480: »Welche Riesengestalt! [...] Wie klein erscheint der Sinai, wenn Moses darauf steht!« Goethe, Hamburger Ausgabe (Anm. 91), Bd 2, S. 223. Freud, Der Mann Moses (Anm. 97), S. 39.

C. Das Gesetz

219

erschlägt man nur den Erstgebornen, um [...] den Eigennutz der Nachgebornen zu beschäftigen [...].106

»Meine Freunde!« bricht der Erzähler aus: »Beim Auszuge aus Ägypten ist sowohl getötet wie gestohlen worden. Nach Mose's festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein.« (VIII, 829) Nichts davon ist jedoch zu sehen. Menschliches Handeln muß das Ausbleiben Gottes ersetzen. Auch der Sieg über Amalek ist das Werk Joschuas und seiner Feldherrngabe. Und wenn Israel gewinnt, so deshalb, weil Mose seinen Arm erhebt. Aus dieser Geste erfahren die Kämpfer psychologische Ermutigung. Sogar auf dem Berge Sinai ist Gott trotz der Erklärungen des Propheten abwesend: »Da liegt,[...] was Er für dich geschrieben [...]«. (VIII, 870) Mose ist der Wahrheit näher, wenn er zugibt: »Die zehn Worte sind's, die ich bei Gott für euch schrieb in eurer Sprache, und schrieb sie mit meinem Blut.« (VIII, 871) Noch kann keine Rede von Gottes Anwesenheit sein, wenn nicht von einer rein innerlichen. Die Erfindung des Alphabets ist die letzte Erleuchtung des Propheten, in Wahrheit ein Trick mehr; menschliche Erfindungsgabe ersetzt Gottes Werk. Mose's Tun wird zur politischen Machenschaft herabgesetzt. Die biblische Geschichte wird entmythisiert, was Mose und seine Helfershelfer nicht daran hindert, ihrerseits das Volk mit Mythen einzulullen. Joschua weiß, was er davon zu halten hat, als er den Propheten in dem vermeintlichen Gespräch mit Gott auf dem Berg trifft. Die vierzig Tage und Nächte auf dem Sinai sind Teil einer ungeheuren Inszenierung, um dem Volk zu imponieren, genauso wie die zehn Plagen und die Pseudo-Wunder in der Wüste. In Wahrheit aber ist das ganze Unternehmen das Ergebnis gewiefter Schlaufüchse, die sich darauf verstehen, mit zurechtgebastelten Mythen Geschichte zu machen. Mit der Peitsche des Wortes wühlt Mose in den Herzen, rührt in den Wunden, stachelt die Sehnsucht nach Befreiung an, weckt die Rachegier und schmeichelt dem Rassenstolz, der im Laufe der Generationen verkümmert ist. Die Erzählung zerrt die Legende auf das Niveau einer Verschwörung herab. Alle Mittel sind recht, um den Aufruhr zu schüren, die Ideologie nutzt alle Mittel der Propaganda aus: theatralische Inszenierungen, die Paukenschläge und Gesänge der Miqam, die wohlklingende Stimme Aarons, das kriegerische Gebaren von Joschua und Kaleb, die Aura des Propheten, der Appell an die guten Gefühle, aber auch dick aufgetragene Lügen. Mose hat das Zeug zu einem gerissenen Demagogen, der sich mit einem Kern von Getreuen zu umgeben weiß, um - Goethes Wort zufolge - »grausame Politik« zu machen und die Menschen seiner Idee zu unterwerfen. Das Wortgerassel löst im Innern der Menschen Entsetzen vor einem furchterregenden Gott und seinen Würgeengeln aus. Das Wort rechtfertigt spitzfindig jede Tat, selbst die blutigste: Joschua und Mose überzeugen sich davon, daß die Schlacht gegen Amalek und das Massaker im Namen Jahwes gerechtfertigt sind, und zwar unter dem Vorwand, daß gestohlenes Land zu rauben kein Diebstahl sei. Mose wird meinei106

Goethe, Hamburger Ausgabe (Anm. 91), Bd 2, S. 21 lf.

220

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und Antisemitismus

dig, mit falschen Begründungen beugt er Gesetze, die er selbst erlassen hat. Kurz, der Zweck heiligt die Mittel. Die zur Schau getragene Ethik wird in der Praxis übertreten und durch Listen entstellt. Die Absonderung, die das auserwählte Volk von allem Fremden (vgl. VIII, 848) fernhalten soll, droht, Kasten- und Rassenstolz hervorzurufen. Daher die Warnung des Propheten vor der »dummdreisten« (VIII, 853) Versuchung, aus der Auserwähltheit ein Überlegenheitsgefuhl gegenüber den Fremden abzuleiten. Mose aber, der das Gemetzel von Amalek und andere Untaten billigt, verfallt dieser Schwäche zuallererst. Nach dem Massaker ist Sanftmut gegenüber den Kindern Amaleks reinster Hohn. In Wirklichkeit herrscht Rassendünkel vor. Nationalismus und Rassismus tauchen als ständiges Leitmotiv auf, und zwar als das Blut von Mose's Vater, nach dem der biblische Gott dürstet. Dieses flammende Sehnen loht in Mose's Seele, die den leidenschaftlichen Eros seines glühend heißen Schöpfungstriebes anstachelt. Die Wucht dieser Leidenschaft fur das Blut seines Vaters geht bis zum Blutvergießen, bis zum Morden. Mose weiß im übrigen Gott durch geschickte Spitzfindigkeiten zu versuchen, um auf seinem Unternehmen zu bestehen (vgl. VIII, 873). Dem Pakt Israels mit Mose, dem Kämpfer Gottes und dem Tyrann des Volkes, haftet beinahe der teuflische Aspekt einer geistigen Diktatur an. Der Prophet schreibt die Buchstaben des Dekalogs mit seinem Blut, gleichsam ein Sinnbild fur das gesamte Geschehen. Allein im ersten Kapitel erscheint der Begriff des Blutes sechsmal, wie ein Prolog zu den folgenden Mordtaten: der Mord an dem ägyptischen Leibwächter durch Mose; die Ausrottung der Erstgeborenen; das Gemetzel von Amalek; die Hinrichtungen als »blutige Reinigung« (VIII, 872); die Mose von einem zürnenden Gott in den Mund gelegte Drohung, das widerspenstige Volk auszulöschen; schließlich die nahegelegte Mordtat an Mose selbst durch den in seinem wiederholten Zorn aufgebrachten Pöbel, der eines Tages wagen könnte, den allzu harten Tyrannen tatsächlich zu steinigen. Diese von Sigmund Freud stammende Hypothese, der zufolge Mord das eigentlich religionsstiftende Ereignis sei, prägt die ganze Geschichte.107 Mose ist ein Robespierre, ein unerbittlicher Gesetzesvollstrecker, dessen Intoleranz und Radikalität die ursprünglich reine Idee abwerten, deren Träger er war. Dieses Umschlagen macht die Zwielichtigkeit vollständig, und bestünde nur diese Kehrseite, dann wäre die dem Judentum zugrunde liegende heilige Legende eine Schreckensgeschichte. Hieße das aber, daß der Schriftsteller paradoxerweise die biblischen Gestalten und das jüdische Volk zum besten hält, wo man doch gerade von Thomas Mann in dem damaligen politischen Zusammenhang eine Verteidigung des Judentums erwartet hätte? Schillern etwa doch die traditionellen antijüdischen Klischees durch, bei dem schmeichelnd heuchlerischen Aaron, in dieser groben Masse von Parias, für die zu guter Letzt der egoistische Zweck die Mittel 107

Vgl. Freud, Der Mann Moses (Anm. 97), S. 70.

C. Das Gesetz

221

heiligt? Läßt sich der Erzähler nicht sogar dazu hinreißen, durch Mose die Juden vor ihrem Rassendünkel 108 zu warnen? Warum geht der Prophet im übrigen nicht mit gutem Beispiel voran? Warum werden die Zehn Gebote, das Gesetz der Menschheit, weder vom Volk noch von Mose respektiert? Der Mosaismus wäre somit lächerlich gemacht. Man könnte sich dann nur über den Mangel an Takt bei der Behandlung der biblischen Legende wundern, und dies erst recht zu einem Zeitpunkt, wo das verfolgte jüdische Volk mehr denn je der Achtung seines Glaubens bedürfte. 109 Es ist aber unmöglich vorstellbar, daß 1943, zur Zeit der »Endlösung«, Thomas Mann mit einer solchen Erzählung das Ziel verfolgt, die Juden zu belasten und noch dazu gelegentlich einer Arbeit, die - von der politischen Situation diktiert - es erfordern würde, das nazistische Deutschland anzuklagen und das Judentum zu verteidigen.

3.

Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit

Das Problem, das Thomas Mann ständig beschäftigt und dem der Krieg eine dramatische Schärfe verleiht, ist natürlich Deutschland. Die Erzählung muß als eine Reflexion über deutsche Wesensart, über das Schicksal Deutschlands und den Nationalsozialismus gelesen werden. Die Parallele zwischen Israel und Deutschland wird nach dem Roman Joseph und seine Brüder hier noch einmal heraufbeschworen. Ist von den versklavten Hebräern die Rede, so ist an das unterjochte Deutschland zu denken, von dem Erich Kahler in einem von Thomas Mann besonders geschätzten Kapitel sagt, daß man dieses in seiner Geschichte durch den »welschen« Imperialismus vergewaltigte Deutschland nicht nach Belieben habe aufblühen lassen, so daß es - politisch unreif - keine Nation werden konnte. 110 Wie das Volk Israels, das der ägyptischen Sklaverei ausgeliefert ist, so sei dieses Deutschland tölpelhaft und derb. Sein Wesen sei heftig, starrköpfig und von einem Heidentum geprägt, das das Christentum nur mühsam und oberflächlich zu verdecken vermag. 111 Jeder Versuch, einem solchen Volk den Stempel des 108 £ s gehört tatsächlich zu den antisemitischen Stereotypen, den Begriff des auserwählten Volks mißzuverstehen. Er ist lediglich religiöser Natur und verweist auf die Pflichten des gläubigen Menschen. 109 Daher die teilweise auch negative Aufnahme der Erzählung auf jüdischer Seite. Hans Rudolf Vaget weist auf Rezensionen von orthodox jüdischer Seite hin, die die Erzählung als einen »Haßausbruch gegen das Judentum« kennzeichnen. Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler 1984, S. 277. 110 Kahler, Israel unter den Völkern (Anm. 65), S. 103. 111 So auch Heinrich Heine in Texten, die Thomas Mann gut kannte, ζ. B.: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: ders., Sämtliche Schriften (Anm. 98), Bd 5, S. 640.

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Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

und Antisemitismus

Geistes aufzudrücken, stoße auf innere Widerstände und führe zu unvermeidlichen Rückfallen. Gleichzeitig sehne sich dieses brachliegende, zerstückelte, als Nation nicht bestehende Deutschland nach einem einigenden »Volkskörper«.112 Doch der Wunsch, sich von fremdem Joch zu befreien, gerate ins Zwielicht: die nach außen geforderte Freiheit schlage sich im Innern in eine Unterwerfung unter das Gesetz des Herrschers nieder, der den nationalen Willen verkörpere. Alles geschehe so, als ob die ungestillten Fähigkeiten, der durch fremdes Joch verursachte Minderwertigkeitskomplex und der Wunsch nach Rache das Selbstgefühl und die nationale Begeisterung steigern würden. Aus dem daraus entstehenden Überlegenheitsgefühl erhöben sich Nation und Rasse zum auserwählten Volk. Die nationale Idee rechtfertige die schrecklichste Machtpolitik. Diese Parallelen werden durch winzige Details angedeutet. Mose's Gesetze sind, wie bereits erwähnt, bis in die Begrifflichkeit hinein der Kantischen Ethik angenähert. Mit Mirjams Siegeshymne hallen die patriotischen Gesänge der Befreiungskriege wider.113 Der Tanz um das Goldene Kalb gemahnt an Gustav Aschenbachs dionysischen Traum vom wollüstigen Auskosten des »hinfalligen Sittengesetzes« (VIII, 518). Deutschland suhlt sich im barbarischen Pfuhl primitivster Instinkte. Vor allem aber flechten die Hauptgestalten der Erzählung die zartesten Bande zwischen Israel und Deutschland. Joschua, ein junger Mann von straffer militärischer Strenge, mit dem gewellten Haar, dem hervorstehenden Adamsapfel und den Stirnfalten ähnelt Michelangelos Porträt des David, wie er sich gerade stirnrunzelnd und entschlossenen Blicks zum Kampf gegen Goliath anschickt. Dieser junge, sympathische Joschua aber hat auch das Antlitz des Würgeengels, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht ist an ihm Teuflisches aufgespürt worden: die Falten zwischen den Brauen deuten flüchtig die Hörner des Teufels an.114 Und tatsächlich ähnelt Joschua jener anderen Verkörperung des Bösen oder des Todes, dem Fremden nämlich, dem Aschenbach beim Friedhof begegnet. Der hagere Hals, der hervortretende Adamsapfel, die zwei energischen senkrechten Furchen zwischen den Brauen fallen bei beiden Gestalten auf (vgl. VIII, 446). Darüber hinaus führt der Feldherr Joschua eine militärische Taktik ein, in der man »die berühmte schräge Schlachtordnung« (X, 85) Friedrichs II. wie den Schlieffen-Plan aus dem ersten Weltkrieg115 wiedererkennt. Auch die Gestalt des Mose ist mit Deutschland verknüpft: Zwar sieht er dem Michelangelo ähnlich, der wie der Prophet dieselbe »beständig nach dem Reinen, Geistigen, Göttlichen ringende, sich selbst immer als transzendente 112 113

114 115

Kahler, Israel unter den Völkern (Anm. 65), S. 106. Vgl. Volkmar Hansen: Thomas Manns Erzählung »Das Gesetz« und Heines Moses-Bild. In: Heine-Jahrbuch 13 (1974), S. 132-149. Ebd., S. 144. Ebd., S. 145.

C. Das Gesetz

223

Sehnsucht deutende Sinnlichkeit« (IX, 785) hat. Außerdem weist gerade die eklatante Verquickung widersprüchlicher Charaktereigenschaften auf eine andere Verwandtschaft hin, mit Martin Luther nämlich, wie er von Heinrich Heine beschrieben wird: Dann hat er auch Eigenschaften, die wir selten vereinigt finden, und die wir gewöhnlich sogar als feindliche Gegensätze antreffen. [...] Er war voll der schauerlichsten Gottesfurcht, voll Aufopferung zu Ehren des heiligen Geistes, er konnte sich ganz versenken ins reine Geisttum; und dennoch kannte er sehr gut die Herrlichkeiten dieser Erde. 116

Mose's unschickliche Liebe zu seiner schwarzen Äthiopierin, übrigens eine »Erfindung«117 Thomas Manns, klingt wie ein humoristisches Echo auf die Luther (vielleicht falschlich) zugeschriebenen, berühmten Verse über Wein, Weib und Gesang.118 Andere Wesenszüge, zum Beispiel Jähzorn, sind sowohl Mose als auch dem deutschen Reformator eigen. Zudem kann man sich Thomas Manns Mose schwerlich als Erfinder des Alphabets und der hebräischen Sprache vorstellen, ohne dabei zur grundlegenden Schrift der deutschen Nation, Luthers Bibelübersetzung, hinüberzublinzeln. Womöglich sind sogar Moses hervorstehende Wangenknochen ein geheimer Hinweis auf den deutschen Reformator. Die Mose-Figur ist also in zweifacher Hinsicht doppelt angelegt, nicht nur äußerlich durch die ägyptisch-jüdische Abstammung und innerlich durch die ausgeprägt geistigen und sinnlichen Seiten seiner Natur, sondern auch deshalb, weil er über sich selbst hinaus auf den deutschen Luther weist. Solche Zweiseitigkeit, solches Doppelgängertum kommen aber nicht von ungefähr. Aus dem Blickwinkel Thomas Manns entsprechen sie Mose's Wesen und bedingen notwendig und unvermeidlich dessen Schicksal. Dieses zweischneidige, doppelsinnige Motiv strukturiert die gesamte Erzählung und gewinnt dadurch symbolträchtige Bedeutung. Der Prophet Israels ist auch der deutsche Luther, »eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens« (XI, 1132), ein Paradigma deutschen Strebens, zu sich selbst zu kommen. Nun bezeugen aber Martin Luther, die deutsche Romantik, das Reich Bismarcks oder die nationalsozialistische »Erneuerung« eine ständige, äußerst zwielichtige wiederum doppelte - Entwicklungslinie deutscher Geschichte, in der das Gute immer wieder ins Böse umschlägt. »Die Deutschen«, schreibt Thomas Mann 1945, »könnten wohl fragen, warum gerade ihnen all ihr Gutes zum Bösen ausschlägt, ihnen unter den Händen zum Bösen wird« (XI, 1141). Gerade dies ist die eigentliche Dimension der Doppel-Motivik und der Kern der Erzählung.

116

117 118

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: ders., Sämtliche Schriften (Anm. 98), Bd 5, S. 538. Hamburger, Thomas Mann. »Das Gesetz« (Anm. 101), S. 104f. Vgl. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Anm. 116).

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und

Antisemitismus

Mose's Werk zeichnet sich durch dieselbe Zwielichtigkeit aus, die Deutschland seit Luther prägt: das freiheitliche Streben nach nationaler Unabhängigkeit führt zum Mangel an innerer Freiheit, »ein vertrotzter Individualismus nach außen« verbindet sich mit einem »befremdenden Maß von Unfreiheit, Unmündigkeit, dumpfer Untertänigkeit« (XI, 1137). Großmütiger Schwung gebiert engstirnigen Nationalismus und Rassendünkel. Deutsche Innerlichkeit wird zum düsteren Grübeln, zur finsteren Mystik, nationales Streben zur machiavellistischen Machtpolitik eines kriegslüsternen Reiches. Die Parallele zu Israel liegt auf der Hand: die ursprünglich gute Idee, das Reine und Absolute des Geistes geraten zur anmaßenden, schrecklichen ethnischen Isolation. Der nationale Befreier ist auch der Tyrann der Nation. Der unerbittliche Moralist hat blutbeschmierte Hände. Der Prophet Mose ist zwar auf seine Art ein Settembrini, ein Mensch des Fortschritts und der Verfechter des Guten. 119 Aber er ist auch dessen Antipode, ein dämonischer Demagoge, der wie ein Cipolla, mit seiner Peitsche bewaffnet, den Willen der Zuschauer einschläfert und sie sich unterwirft. 120 Mose's Macht beruht auf Stärke und Furcht, kurz: auf Tyrannei. Die Novelle nimmt einen Gedanken aus Thomas Manns Essay Bruder Hitler von 1938 wieder auf. Mose müßte der Prophet des Reinen, Absoluten sein, aber die hervorgehobene Zwielichtigkeit verrät die Verwandtschaft mit dem feindlichen »Bruder«. Hitler verkörpert die »Verhunzung« (XII, 847 und 852) und einen Wertewandel, der das Gute in Böses verkehrt. An Gemeinsamkeiten zwischen dem mißratenen Pseudokünstler und von Rache beseelten Ränkeschmied Hitler einerseits und dem Paria Mose andererseits fehlt es nicht. Die »unordentliche« Geburt des einen erinnert an die zweifelhafte Herkunft des anderen. 121 Dem Stottern des Propheten, der des Aaron bedarf, entspricht die »hysterisch« bellende, überspannte und auf Goebbels' Propaganda angewiesene »Beredsamkeit« des Führers (XII, 847). Der politische wie auch der religiöse Demagoge nutzt tückisch aufrührerische Mittel, theatralisch inszenierte Paraden, nationalistisches Pathos, Lügen. Beide wiegeln zu einem selbstgefälligen Rassenstolz auf. Den Massen gönnen sie als einzige Freiheit die »Hörigkeit«, die selbstvergessene Unterwerfung unter das Gesetz des Führers, das Aufgehen des Individuums im Nationalen und Rassischen. 122 Führer und Prophet wühlen in den Wunden des Volkes, indem sie

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122

Vgl. Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«. Vgl. Thomas Manns Erzählung »Mario und der Zauberer«. Vgl. Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft. Frankfurt a. M. [u. a.]: Ullstein 1969 (Ullstein-Buch; 4017/4018), S. 13. Vgl. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des Deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978 (dtv; 4312: Wissenschaftliche Reihe), S. 269.

C. Das Gesetz

225

sich auf den Minderwertigkeitskomplex und das Rachegefühl stützen, sei es nun nach der Niederlage 1918 oder sei es das ägyptische Joch. Die vor der Flucht begangenen Mordtaten und der Diebstahl, die Mose zufolge angeblich die letzten gewesen sein sollen, lassen an die illusorischen Hoffnungen beim Münchner Abkommen 1938 denken. Expansionistischer Anspruch und Eroberung eines sogenannten »Lebensraumes« 123 durch Blut und Eisen, Joschuas und Mose's trügerische Rechtfertigungen belegen die Ähnlichkeiten. Verfugungen aller Art zur Erhebung und Läuterung der Hebräer, denen mit dem Würgeengel gedroht wird, klingen wie ein Echo auf die Nürnberger Rassengesetze. Die grausame Kühnheit des »preußischen« Joschua und seiner Elitetruppen beschwören die düsteren Bilder der deutschen Jugend und deren blutiges Handwerk herauf. Der Vergleich zwischen dem Führer und dem Propheten hat nichts Überraschendes an sich. Er wurde im zeitgenössischen politischen Denken von langer Hand vorbereitet und mit religiösen und nostalgischen Hoffnungen auf einen Retter der Nation gespeist. In schwärmerisch-verzückter Sprache verkündet eine ganze nationalistische Strömung der Weimarer Republik das Nahen des Führers, der »den Willen Gottes [...] verkörpert«. 124 Thomas Mann selbst spottet 1941 über Hitler, den »mystischen Helden«, der »sich selbst, auf Weisung der >Stimmendezimierenden Musik«< (VI, 349) spricht. Ein anderes Beispiel für Thomas Manns Collage von Fiktion und Wirklichkeit ist Otto Klemperer, berühmter jüdischer Zeitgenosse Thomas Manns, der im Doktor Faustus die Uraufführung von Leverkühns Opus »Apocalipsis cum Figuris« dirigiert. Die Partitur gibt die Universal Edition in Wien heraus, die auch Arnold Schönberg 146 verlegt hat. Zur Gestaltung Leverkühns trägt auch vieles von Schönberg selbst bei, worauf später noch zurückzukommen ist. Dr. 142

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Thomas Mann hat die Absicht gehegt, auf einen faschistischen Artikel zu antworten, der ihn einen jüdischen Banditen schimpft. - Am 2.4.1945 schreibt er an den österreichischen Schriftsteller Berthold Viertel (1885-1953): »Ich bin kein Jude, gehöre nicht, wie Sie, dem feierlichen Stamme an, dem unter dem matten Zublick der Welt von jenen Hunden das ekelhafteste Unrecht geschah. Aber ich bin Ihr Bruder ganz in dem Haß, der Liebe ist, Ihr Bruder im Eide, die Wunde dieser Liebe und dieses Hasses offen zu halten [...]« Mann, Briefe (Anm. 9), Bd 2, S. 423. Keine Kritik sei in ihren Lobpreisungen auf die »Buddenbrooks« so weit gegangen wie die Samuel Lublinskis, erinnert sich Thomas Mann (XI, 114). Bereits vor Samuel Lublinski hatte schon Rainer Maria Rilke den Roman gerühmt (»Bremer Tageblatt« und »Generalanzeiger« vom 16.4.1902). - In der »Neuen Zürcher Rundschau« vom 1.8.1971, Nr. 352, S. 38, zitiert Waldmüller Rilkes Artikel. Eine jüdische Gestalt namens Jimmerthal erscheint im »Tonio Kröger« als Sohn eines Bankiers. Hier im Roman handelt es sich um einen Kunst- und Musikkritiker. Der Erzähler Serenus Zeitblom stimmt »der spürsinnigen Aufgeschlossenheit jüdischer Kreise für das Schaffen Leverkühns« (VI, 14f.) zu. Arnold Schönberg: Gedenkausstellung 1974. Redaktion Ernst Hilmar. Wien: Universal Edition 1974, S. 292, Notiz 338.

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Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

Edelmann, eine andere jüdische Romanfigur, Direktor des erwähnten Musikverlages, 147 ediert Adrian Leverkühn. Die jüdische Gestalt »des ungarischen Musikologen und Kulturphilosophen Desiderius Fehér« (VI, 517) 148 preist »die intellektuelle Höhe und religiösen Gehalte [...]« (VI, 517) in Leverkühns Komposition. Intellektuelle und finanzielle Unterstützung gewährt Frau von Tolna, eine ständig auf Reisen befindliche, rätselhafte Dame mit prächtigen Besitzungen in Ungarn, die geheimnisvoll im Hintergrund bleibt. Mit ihren jüdischen Vermittlern und ihrem kolossalen Reichtum gehört sie der Sphäre des kapitalistischen Mäzenatentums an. Sie hat halb feenhaft, halb hexenhaft an dem dunklen Bereich teil, aus dem Leverkühns Genie schöpft. 149 Ihre Identität bleibt zwar offen, und trotzdem weist sie, wie noch zu zeigen ist, auch auf Jüdisches hin. Zwei Gestalten, wiederum Jüdinnen, nehmen »durch uneigennützige Hingebung einen bescheidenen Platz« (VI, 519) in Leverkühns Leben ein, bringen ihm Verständnis und Wärme entgegen, leisten ständige Hilfe: Meta Nackedey und Kunigunde Rosenstiehl. Skizzenartige, vorbereitende Notizen beschreiben Meta Nackedey als unauffällige, jüdische Psychoanalytikerin; 150 sie hinkt, ist melancholisch und hat einen gewählten Redestil. Im Roman schließlich ist diese Figur nur noch die

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Arnold Schönberg korrespondierte mit dem damaligen Verlagsdirektor Emil Hertzka. Ebd., S. 360, Notiz 503. Fehér hieß der jüdische Schulkamerad aus der Lübecker Kindheit Thomas Manns (XIII, 467). Frau von Tolna, von der »nur« erzählt wird, habe vieles von Madame von Meck, »Tschaikowski's unsichtbarer Freundin« (XI, 166), schreibt Thomas Mann. Dreizehn Jahre dauerten die Korrespondenz und die materielle Unterstützung an, die Nadjeschda von Meck, Witwe eines russischen Ingenieurs und Eisenbahnmagnaten, Tschaikowski gewährt hat. Selbst bei kurzen Begegnungen haben sie niemals miteinander gesprochen, eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Beziehung zwischen der Muse und ihrem Musiker. - Der kolossale Reichtum der Madame von Tolna erlaubt ihr, zur Gönnerin in einer vom Geld regierten Gesellschaft zu werden, die Künste und Künstler von sich abhängig macht. Dieses Geld-KunstVerhältnis hatte Theodor Adorno angeprangert, der selbst indirekt in den Roman eingeht. - Thomas Mann schafft durch den Smaragdring, den Frau von Tolna ihrem Schützling Adrian Leverkühn schenkt, und durch ihre mysteriöse Krankheit eine geheimnisvolle Identität zwischen Frau von Tolna und der schicksalhaften Esmeralda (Smaragd im Spanischen), der Botin des Teufels. Den Ring mit einem hellgrünen Stein aus dem Ural zieren eine Inschrift (zwei griechische Verse aus einem Hymnus an Apollo) und eine geflügelte-zischelnde Schlange, u. a. ein Symbol für den Bund zwischen Liebe und Gift (VI, 520ff.). Victor A. Oswald: Thomas Mann's »Doktor Faustus«: The Enigma of Frau von Tolna. The Germanic Review 23 (1948), No. 4, S. 249-253. Lieselotte Voss: Die Entstehung von Thomas Manns Roman »Doktor Faustus«. Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten. Tübingen: Niemeyer 1975 (Studien zur deutschen Literatur; 39), S. 89.

D. Doktor Faustus

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»verhuschte Nackedey« (VI, 418), eine Klavierlehrerin (VI, 416). Kunigunde Rosenstiel 151 dagegen übernimmt viele ihrer Züge: Sie war eine knochige Jüdin vom ungefähren Alter der Nackedey, mit schwer zu bändigendem Wollhaar und Augen, in deren Bräune uralte Trauer geschrieben stand darob, daß die Tochter Zion geschleift und ihr Volk wie eine verlorene Herde war. (VI, 417)

Klischeehaft rassische, allerdings positiv konnotierte Merkmale prägen dieses Porträt jüdischer Melancholie. Das »jüdische« Pathos, das die Goethe-Gestalt aus Lotte in Weimar heraufbeschwört (II, 732), prägt die »elegische« Sprechweise (VI, 417) Meta Nackedeys. Sie ist, »[...] wie fast alle Juden, sehr musikalisch [...]« (VI, 417) 152 und unterhält »auch [...] ein viel reineres und sorglicheres Verhältnis zur deutschen Sprache als der deutsche Durchschnitt, ja selbst als die meisten Gelehrten [...]« (VI, 417). Ihr Briefstil ist »wohlgesetzt« (VI, 417), obgleich sie eine »rüstige Geschäftsfrau« (VI, 417), »tätige Mitinhaberin eines Darmgeschäfts, will sagen: eines Betriebes zur Herstellung von Wursthüllen« (VI, 416) ist. Dieses Bild illustriert mit seiner penetranten, dick aufgetragenen Komik des Kontrastes die eigentümliche Mischung und Durchdringung von Geistigem und Materiellem, die dem Erzähler Zeitblom an den Juden auffallt. War Naphtas Vater Elia als koscherer Schlachter im Zauberberg ein Mann Gottes, so ist diese Wursthüllenfabrikantin aus demselben Holz geschnitzt, aus dem Adel des Geistes. Keine Spur mehr von den abstoßenden, mit Juwelen behangenen, sinnlichen, flilligen jüdischen Kaufmannsgattinnen aus dem erzählerischen Frühwerk. Der Humanist Zeitblom spricht wie der Goethe aus Lotte in Weimar über die Juden. Dieser rühmt die jüdischen Geistes- und musikalischen Gaben, den Hang zum Religiösen, selbst in säkularisierter Form: Die Religiosität der Juden [...] sei charakteristischerweise auf das Diesseitige verpflichtet und daran gebunden, und eben ihre Neigung und Fähigkeit, irdischen Angelegenheiten den Dynamismus des Religiösen zu verleihen [...]. (II, 733)

Beide nur skizzenhaft entworfene Frauengestalten erfüllen im Roman u. a. zwei Aufgaben; sie sollen Verständnis, Unterstützung und Offenheit der jüdischen Milieus fur Leverkühn unterstreichen sowie den möglichen, bedenklichen Eindruck anderer jüdischer Figuren, die stark karikiert sind, ausgleichen. 151

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Die Komik der Namen ist beabsichtigt, besonders der Kontrast zwischen dem altdeutschen Vornamen Kunigunde und dem jüdischen Familiennamen. Denkbar wäre auch, daß Ida Herz, eine Freundin der Familie Mann und Bewundererin Thomas Manns, teilweise in die Gestaltung der Rosenstiehl eingeflossen ist. Nicht nur in »Lotte in Weimar«, auch in Thomas Manns Briefen (18.6.1943 an Agnes E. Meyer) wird immer wieder die jüdische Musikalität bewundert oder gar aufgelistet: Yehudi Menuhin, Wladimir Horowitz, Jascha Heifetz, Nathan Milstein, Rudolf Serkin, Artur Rubinstein, Bronislaw Hubermann, Joseph Szigeti, Artur Schnabel, Bruno Walter, Sergei Alexandrowitsch Kussewizky, Eugene Blau-Ormandy, »deren aller Vorfahren im osteuropäischen Judentum wurzeln« (ΧΙΠ, 510), Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Giacomo Meyerbeer, Arnold Ludwig Mendelsohn (XIII, 510).

236

Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus

3.2.

Chaim Breisacher: ein jüdischer Intellektueller

und

Antisemitismus

Dr. Chaim Breisacher ist die unsympathischste Gestalt des Romans. Sie verkörpert den »Zeitgeist« (VI, 370), den Ungeist einer Zeit, die die Kultur hinwegzufegen droht. Mit dieser neuen Literatenfigur wird an den Pranger gestellt, was der französische Essayist Julien Benda 1927 »den Verrat der Intellektuellen« nannte.153 Benda warf den Pseudo-Denkern seiner Zeit vor, sie seien nur darauf aus, mit brillanten, paradoxen, schockierenden Formulierungen Effekt zu erheischen, Aufsehen zu erregen und die Welt vor den Kopf zu stoßen.154 Breisacher ist ein solcher »Paradoxenreiter« (VI, 482). Zeitblom entdeckt an ihm zum ersten Mal »die neue Welt der Anti-Humanität« (VI, 378). In diese Gestalt geht das präfaschistoid zurechtgestutzte Gedankengut des Religionsphilosophen und Orientalisten Oskar Goldberg ein, dessen Abhandlungen noch in der fiktiven Verzerrung erkennbar bleiben. Diese Figur ist der Inbegriff jener Juden, die nach Thomas Mann »gutenteils Wegbereiter der antiliberalen Wendung« (XII, 743) sind. Auf Breisacher paßt die Tagebuch- Eintragung über die »Juden, die man in Deutschland entrechtet und austreibt«, die »nicht nur so eingefleischte und naiv patriotische Deutsche« sind, daß man sie in Paris >les Bei-uns< nennt: sie haben auch an den geistigen Tendenzen, die sich in dem politischen System gewissermaßen, sehr fratzenhaft natürlich, ausdrücken, starken Anteil [...]. (XII, 743)

Nicht nur Mitglieder des George-Kreises wie Karl Wolfskehl, auch andere wie Alfred Kerr und Theodor Lessing hatte Thomas Mann als Zerstörer der Vernunft angeklagt. Die Abneigung gegen solche Intellektuelle kommt unter Zeitbloms Feder zum Vorschein. Die Figur, wie Zeitblom sie beschreibt, »[...] die Person des Privatgelehrten Dr. Chaim Breisacher, eines hochgradig rassigen und geistig fortgeschrittenen, ja waghalsigen Typs von faszinierender Häßlichkeit [...]« (VI, 370), erinnert unweigerlich an Leo Naphta aus dem Zauberberg. Mit seiner abstoßenden Häßlichkeit, seiner dialektisch gewandten Beweglichkeit, seinem Hang zu paradoxen Widersprüchen, dem »Snobismus« (VI, 371) jener »intellektuellen Quertreiber« (VI, 371), gefällt er sich in den Salons des Großbürgertums, das er mit kühnen Äußerungen verblüfft. Er gehört zu den Unruhestiftern, die wie Naphta - zur Verwirrung der Begriffe, zum »Guazzabuglio« (III, 640) beitragen. Sein Vor- und Familienname weist ihn als Juden und intellektuellen Querulanten aus, der sogar das Widersprüchlichste noch zu einem Brei 155 vermischt. Der hebräische Vorname Chaim, d. h. Leben, deutet im Romankontext 153

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Julien Benda: La Trahison des clercs, aus dem Jahre 1927, wurde in Paris bei Grasset 1977 (Collection Pluriel; 8309) wiederaufgelegt. Ebd., S. 314. Friedrich Nietzsche verhöhnt die unechte Kultur der Deutschen, das Nachäffen der Franzosen: »Was ihr [...] in euch habt, ist ein weichliches breiiges Material.« Nietzsche, Werke in drei Bänden (Anm. 61), Bd 1, S. 334.

D. Doktor Faustus

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auf die lebensphilosophischen, irrationalistischen Strömungen, die das Leben preisen, Geist und Verstand hingegen verpönen. 3.2.1. Revolution und Konservatismus Im Gegensatz zum altmodischen Konservatismus des Barons von Riedesel, der Karikatur des dekadenten Adligen, ist das reaktionäre Denken des jüdischen Intellektuellen Breisacher zugleich »nach- und gegenrevolutionär« (VI, 370). Der Aufstand gegen bürgerlich-liberale Werte, scheinbar zukunftsgerichtet, fuhrt in die archaischste Vergangenheit, in die Kulturlosigkeit zurück. Breisachers konservative Revolution,156 diese Apologie des Primitiven, kündigt schon den Nationalsozialismus an. Die prahlerische Wichtigtuerei dieses Schönredners charakterisiert den unverantwortlichen Ästhetizismus in den Salons der Bourgeoisie, die Zeitblom beschreibt. Im Nachhinein versteht die Erzählerfigur, daß diese intellektuelle Atmosphäre die Hexenküche war, in der der Faschismus gebraut wurde. Zeitblom nennt Breisacher einen »Polyhistor, der über alles und jedes zu reden wußte« (VI, 371). Aber dieser »Kulturphilosoph« (VI, 371) hat eine einzige Idee im Kopfe. Mit seinen abstrusen Theorien bekämpft er unablässig Kultur und Humanität. In der Malerei, beispielsweise, »verhohnigelt« (VI, 371) er »den Fortschritt von der flächenhaften zur perspektivischen Darstellung« als »Augentäuschung« (VI, 371), als ein niedriges, plebejisches Prinzip. »Von gewissen Dingen nichts wissen zu wollen [...]« (VI, 371f.) ist in Breisachers Sicht »Weisheit« (VI, 372).157 Die Musik der Polyphonie lobt er, weil er ihren Ursprung »im rauhkehligen Norden« (VI, 372) ansiedelt und sie fur barbarisch hält. Der reinen Abstraktion »des heilig kühlen Spieles der Zahlen« (VI, 373) huldigt er als der »großen und einzig wahren Kunst des Kontrapunkts« (VI, 372), nicht vom Gefühl besudelt und verfälscht. Ununterbrochen bekrittelt er die Kunstentwicklung als »Erweichung, Verweichlichung und Verfälschung« (VI, 373), kurz, als Dekadenz.

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Thomas Mann gebraucht den Ausdruck zum ersten Mal in der »Russischen Anthologie« (1921): »Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Friedrich Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in den >Unzeitgemäßen Betrachtungen^ nichts anderes als konservative Revolution« (X, 598). - Auch Leo Naphta im »Zauberberg« war schon der Prototyp einer solchen Rückkehr zur Vergangenheit, die sich fortschrittlich gebärdet (ohne freilich Naphta auf die konservative Revolution festlegen zu wollen). Hans Castorp sagt von Naphta: »[...] ein Revolutionär der Erhaltung« (III, 636). 1 947, in »Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung«, klagt Thomas Mann jene Epigonen an, die Friedrich Nietzsche nicht zu lesen wußten, wie es nötig gewesen wäre, nämlich »cum grano salis«. Denn Friedrich Nietzsches Instinktapologie war ein Korrektiv für den Zustand rationalistischer Übersättigung (IX, 695Í).

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Dritter Teil: Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

3.2.2. Die Gestalt des Breisacher und Oskar Goldbergs Thesen Breisacher pflegt, Zeitblom zufolge, »[...] einen höchst equivoquen, ja hanebüchenen und dabei boshaften Konservatismus [...]« (VI, 374), der sich voll offenbart, wenn er sich »seiner persönlichen Ursprungssphäre« (VI, 374) besinnt. Der Romancier legt Breisacher aus Oskar Goldbergs Schrift Die Wirklichkeit der Hebräer entlehnte und zusammengestückelte Äußerungen in den Mund, deren Montage vier dichte Seiten füllt. Schon im Original nehmen sie sich recht verschroben aus. Im Roman, aus dem ursprünglichen Kontext herausgerissen, ergeben sie einen seltsamen, komisch-unheimlichen Wirrwarr und geistigen Scharlatanismus (VI, 374). Der Leser erkennt in den Bemerkungen über das archaische Stadium der jüdischen Religion - angeblich das einzig authentische - die düstere Auffassung wieder, die in der Joseph-Tetralogie der tückischen Eingebung des Teufels Semael (V, 128) entspricht. Völkisches Heidentum In Breisachers Darlegungen gilt Jahwe als Gott der Rasse, des Geblüts und der Scholle wie schon im Joseph-Zyklus (V, 1289). Er ist die metaphysische Kraft und das biologische Zentrum des Volkes. Aus dem Volk, das sein Blut und sein Körper ist, schöpft Jahwe Lebenskraft. Diesem Substanzwandel zu Leib und Blut des Volkes entspricht die Identifikation des Volkes mit seinem Gott und die Notwendigkeit für die Auserwählten, diese Transzendenz auf sich zu nehmen und unermüdlich an Gottes Verwirklichung hic et nunc, in der konkreten Gegenwart auf Erden mitzuwirken. In dieser Auffassung haben Riten die Macht von Zaubersprüchen. Sie sind keine schlichte Huldigung an diesen »Nationalgott« (VI, 374), eher eine wirksame Art, »ihn zu körperlicher Gegenwart [...]« (VI, 347) 158 zu zwingen. Blut spielt in dieser Konzeption eine vorrangige Rolle 159 als Opferblut, buchstäblich als »>Brot«< (VI, 375), d. h. »wirkliche Nahrung Jahwe's« (VI, 374). 160 Gott legt Wert darauf, einen steinernen Opfertisch fur die Schlachttiere zu haben: »[...] das Opfer von Blut und Fett, das einst gesalzen und mit Reizgerüchen gewürzt den Gott speiste, ihm einen Körper machte, ihn zur Gegenwart anhielt [...].« (VI, 375) 161 Wie Oskar Goldberg mahnt Breisacher, »das dünne und menschheitliche Spätwort >Altar< zu vermeiden« (VI, 375) 162 und das Wort »Schlachttisch» (VI, 375) [Hervorhebung - Th. M.] vorzuziehen.

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Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer (Anm. 16), S. 166. Ebd., S. 162. Ebd., S. 55 und 161. Ebd., S. 161 und 168. Ebd., S. 161.

D. Doktor Faustus Riten und

239

Magie

So betrachtet ist die Religion »eine magische Technik, eine körperlich nicht ungefährliche Manipulation des Dynamischen« (VI, 376), »das r e a l e , transzendentgesetzlich geregelte Verhältnis des Volkes zu seinem biologischen Zentrum« [Hervorhebung - O. G.].163 Die göttliche Energie breitet sich aus und entlädt sich im Volk dergestalt, daß technische Unfälle nicht auszuschließen sind. Breisacher spricht von »katastrophalen Kurzschlüssen infolge von Fehlern und Mißgriffen« (VI, 376), Goldberg von »transzendenten Sprengstoffen«. 164 Tabernakel und Bundeslade sind Instrumente zur biologischen Entfaltung Gottes in seinem Volke. Ferner dürften die heiligen Werkzeuge nicht nachlässig gehandhabt werden. Breisacher erbost sich über König Davids Fahrlässigkeiten (VI, 376), dessen Unverständnis für das Volk, dieses biologische Reservoir der Transzendenz, ζ. B. als David die Gefahren einer Volkszählung verkannt habe. Oskar Goldberg nennt das » G e g e n r e a k t i o n « [Hervorhebung - O. G.].165 Diese »numerische Auflösung des dynamischen Ganzen in gleichartige Einzelne« (VI, 376) hat nach Breisacher Epidemien, Massensterben, Dezimierung der biologischen Kräfte zur Folge. Solche technischen Unfälle werden als Strafen für Versehen aufgefaßt und sind nach Breisacher die einzigen Sünden. Der Pentateuch - so Oskar Goldberg - kenne sonst keine Sünden.166 Im Roman gibt der Erzähler Breisacher mit den Worten wider: »Nein, in der echten Religion eines echten Volkes kämen solche matt theologischen Begriffe wie >Sünde< und >Strafe< [...] gar nicht vor. Um was es sich handle, sei die Kausalität von Fehler und Betriebsunfall.« (VI, 376f.) Und weiter: »Alles Moralische war ein >rein geistiges Mißverständnis< des Rituellen.« (VI, 377) Bei Oskar Goldberg ist zu lesen: [...] sämtliche scheinbar ethischen Vorschriften des Pentateuch haben mit >Moral< nicht das geringste zu tun, es sind vielmehr R i t u a l v o r s c h r i f t e n genauso wie die anderen. [Hervorhebung - O. G.] 167

Kurz, die hebräische Religion wird von Breisacher auf eine Manipulation von Riten und Zaubersprüchen zurückgeführt: Sobald sich Geist in Religiöses einmische, komme Dekadenz heraus. »Gab es etwas Gottverlasseneres als das >Rein-Geistige