"Ich bin kein Mitläufer": Thomas Mann und die Sowjetunion [1 ed.] 9783412500023, 9783412500009

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"Ich bin kein Mitläufer": Thomas Mann und die Sowjetunion [1 ed.]
 9783412500023, 9783412500009

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Alexej Baskakov

„Ich bin kein Mitläufer…“

Thomas Mann und die Sowjetunion

Alexej Baskakov

«Ich bin kein Mitläufer …» Thomas Mann und die Sowjetunion

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung : Montage: Nationalflagge der Sowjetunion und Porträtfoto von Thomas Mann, 1955 (© akg-images)

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie , Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Nina Tießen, Köln Satz : büro mn, Bielefeld

ISBN 978-3-412-50002-3

Inhalt 7 Vorwort  9 1918–1933 Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit 35 1933–1939 «Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz 71 1939–1945 «Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg 92 1945–1948 Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann 116 1949–1950 «Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann 135 1950–1952 Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann 155 1952–1955 «Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-Friedenspreis 179 Überblick 187 Об этой книге 169 Anhang 189 Von Thomas Mann verwendete Literatur 190 Literaturverzeichnis 194 Abbildungsverzeichnis 195 Ortsregister 197 Personenregister 5



Vorwort Nachdem das FBI, das State Department und die militärischen Geheimdienste der USA entsprechende Akten freigegeben hatten, erschien eine umfangreiche Studie über die Beobachtung exildeutscher Schriftsteller durch diverse amerikanische Behörden.1 Die breite Leserschaft durfte erfahren, dass alle Aktivitäten beispielsweise des Autors von Buddenbrooks überwacht und ausgewertet worden waren. Das klingt zwar nach einem spektakulären Vorfall, doch handelte es sich eigentlich um eine naheliegende Tätigkeit der Sicherheitsdienste: Thomas Mann war ein prominenter politischer Immigrant mit Kontakten in die höchsten Sphären der amerikanischen Gesellschaft; er stammte aus dem Land, mit dem sich die USA seit 1941 im Krieg befanden, und hatte in Amerika von 1938 bis 1952 seinen festen Wohnsitz. Nicht unbedingt naheliegend ist dagegen der Umstand, dass seine Aktivitäten auch von einer anderen Seite aufmerksam beobachtet wurden. Es scheint bisher unbekannt geblieben zu sein, dass auch die Behörden der UdSSR, eines Landes, welches der «Zauberer» nie besucht hat, seit spätestens 1946 eine Akte über ihn geführt haben. Weitere Unterlagen belegen, dass die Details seines Künstlerlebens den Sowjets sogar schon früher bekannt waren. Thomas Mann war kein Politiker, kein Geschäftsmann und kein Wissenschaftler. Was war der Grund d­ ieses Interesses für den «bürgerlichen» Dichter mit dekadenten Wurzeln seitens der kommunistischen Machthaber? Das Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Thomas Mann zeigte sich gegenüber der Sowjetunion keineswegs gleichgültig. Sein Verhältnis zum Staat Lenins und Stalins gestaltete sich als ein Prozess, der verschiedene Phasen durchlebte. Er fing in den Jahren 1917 – 1918 an, als der erschrockene deutsche Patriot und Royalist plötzlich den Anbruch einer neuen Weltordnung erblickte, und erreichte 1955 kurz vor seinem Tod einen Höhepunkt, als der international umworbene Literaturfürst beinahe Träger des Stalin-­Friedenspreises geworden wäre. Das vorliegende Buch will ­diesem lange andauernden, von gegenseitigem Interesse gekennzeichneten Verhältnis auf den Grund gehen.

1 Alexander Stephan. Im Visier des FBI. 7

1918 – 1933 Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit «Stell dir vor, du selber wärst es, der das Gebäude des menschlichen Schicksals errichtet mit dem Ziele, im Finale die Menschen glücklich zu machen, ihnen schließlich Ruhe und Frieden zu geben, dafür aber wäre die unerläßliche, unersetzliche Bedingung, daß nur eines, ein einziges so kleines, winziges Geschöpf gemartert würde […], – würdest du dich bereit finden, unter diesen Bedingungen Architekt des Gebäudes zu sein? Sag die Wahrheit!» / «Nein, ich wäre nicht bereit», antwortete Aljoscha leise. F. Dostojewski. Die Brüder Karamasow.1

Im Moskauer Staatsarchiv für Kunst und Literatur befindet sich ein Brief Thomas Manns an Iwan Naschiwin. Er ist auf den 18. April 1926 datiert und lautet wie folgt: Sehr verehrter Herr Naschiwin! Sie haben mir mit Ihren freundlichen Zeilen und der Übersendung Ihres «Rasputin» große Freude gemacht. Sie wissen vielleicht von der tiefen Sympathie und Ehrerbietung, die ich von jeher der Literatur Ihres Landes entgegengebracht habe, und so war es mir eine ganz besondere Freude, die Bekanntschaft eines russischen Autors Ihres Ranges zu machen, die mir bisher fast unerklärlicherweise entgangen war. Ihr «Rasputin» ist ein monumentales Werk und war mir in jeder Hinsicht, in historischer, kultureller, dichterischer Beziehung ein ganz großer Gewinn. Ich hoffe, daß Sie mit der deutschen Übersetzung zufrieden sind, und daß Sie bei unserem Publikum den Eindruck machen werden, den Ihr Werk bei Ihnen zuhause zweifellos erzielt hat. Ich begrüße Sie mit dem Ausdruck meiner aufrichtigen Bewunderung. Ihr ergebener Thomas Mann 2

1 Fjodor Dostojewski. Die Brüder Karamasow, S. 393. 2 Archiv PГАЛИ, Ф. 1115 оп. 2 ед. хр. 26. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. 9

Wer war Iwan Naschiwin, und wie ernst ist die Anerkennung seines Werks durch Thomas Mann zu nehmen? Der 1874 in Moskau geborene Naschiwin gehörte derselben Generation an wie zwei andere russische Schriftsteller, die Thomas Mann dagegen persönlich kannte: Iwan Bunin und Iwan Schmeljow. Ein Jahr älter als Thomas Mann, war Naschiwin damit zugleich auch dessen älterer Generationsgenosse. Am Anfang ähneln sich sogar ihre Lebenswege. Wie der Autor der Buddenbrooks war Naschiwin der Sohn eines Geschäftsmanns; auch seine Schulbildung war alles andere als vorbildlich; in der Literatur debütierte er im ungefähr gleichen Alter wie sein deutscher Kollege. Einen frühen Ruhm konnte er – im Gegensatz zu Thomas Mann – jedoch nicht verbuchen, seine Erzählungen aus dem Leben des einfachen Volkes befanden sich eher in der Peripherie des Literaturbetriebes. Nach der Jahrhundertwende positionierte sich Naschiwin als «sehr links» und Anhänger der damals modischen moralisch-­ethischen Lehre Leo Tolstois. Er stand mit seinem Meister im Briefwechsel und besuchte ihn regelmäßig auf dessen Gut. Ein erwähnenswertes Urteil über Naschiwin hinterließ Tolstois letzter Privat­ sekretär, Valentin Bulgakow. Am 11. Oktober 1910, rund einen Monat vor Tolstois Tod, notierte Bulgakow in seinem Tagebuch: Naschiwin erschien mir klug, aber etwas beschränkt, in der Art eines Sektierers. Außerdem hat er mich durch seine Intoleranz und irgendeinen blinden Hass auf alles, was mit seiner Weltanschauung nicht zusammenpasst, verblüfft. Die Sozial-­Demokraten hasst er, «würde sie nicht einmal ins Haus lassen», wie er in einem Brief geschrieben hat. Wegen zwei-­drei Gedichte, die ihm missfallen, ist er bereit, den gesamten Puschkin zu verwerfen. Von der neuesten Literatur kann er nicht gleichgültig hören; und auch hier scheint er nicht unbefangen zu sein: siehe mal einer an, die Bücher eines Andreev oder Arzybaschev finden ausgezeichneten Absatz, während seine, Naschiwins, Werke in den Regalen der Buchhandlungen hoffnungslos stehen bleiben!3

In den nachfolgenden Jahren nahmen Naschiwins politische Ansichten eine immer konservativere Richtung an, wobei ihre ideologische Grundlage, wie auch schon früher, eklektisch war. Nach der Oktoberrevolution von 1917 war er eine Zeitlang bei der Abteilung der Russischen Armee tätig, die sich mit antikommunistischer 3 В. Булгаков. Л. Н. Толстой в последний год его жизни, с.  389 – 390. 10

Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

Werbetätigkeit befasste. Von 1920 an lebte er mit seiner Familie als Exilant in ­mehreren europäischen Ländern, bis schließlich 1924 Belgien zu seinem festen Wohnsitz wurde. Auch während der Exilzeit gelangte Naschiwin offenbar zu keinen in sich schlüssigen politisch-­ideologischen Ansichten. Vom Westen enttäuscht und unfähig, sich in das Leben der exilrussischen Gemeinde zu integrieren, stellte er 1926 über die sowjetische Vertretung in Paris einen Repatriierungsantrag. Alexej Tolstoi, ein Namensvetter des Autors von Anna Karenina und Bekannter Th ­ omas Manns, durfte 1923 aus dem Pariser Exil in die Sowjetunion «zurückkehren». Später machte er dort eine bemerkenswerte Karriere und brachte es sogar zum persönlichen Freund Stalins. Auch Andrej Belyj kehrte 1923 aus Berlin nach Moskau zurück. Naschiwin dagegen wurde die «Rückkehr» nicht gestattet. Entweder war sein Name für einen Propagandaerfolg nicht prominent genug oder den ­Sowjets war sein Ruf als «Reaktionär» doch allzu bedenklich. Bis zu seinem Tode im Jahre 1940 lebte er in Brüssel. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren veröffentlichte er bei exilrussischen Verlagen Romane, Erzählungen und publizistische Werke, die ihm aber kein nennenswertes internationales Literatur-­Renommee bescherten. Sein Roman Rasputin (1923) erschien in deutscher Übersetzung im Jahre 1925. Die deutsche Presse – unter anderem die Tageszeitung Münchner Neueste Nachrichten, deren Leser Thomas Mann war – widmete ihm zahlreiche lobende Besprechungen. Thomas Mann wurde von Verlegern regelmäßig mit Novitäten versorgt. Auch Autoren – unter ihnen die Russen Schmeljow, Bunin und Schestow – pflegten ihm ihre Werke zu senden. Daher war es nichts Ungewöhnliches, daß ­Naschiwin ihm seinen frisch übersetzten Roman zukommen ließ. Th ­ omas Manns Rückmeldungen gingen in der Regel nicht über die Grenzen einer freundlich-­korrekten Danksagung hinaus; auf briefliche Rezensionen fremder Werke ließ er sich selten ein. Der Brief an Naschiwin ist im Allgemeinen keine Ausnahme. Wenn man ihn aber im Zeitkontext und im Zusammenhang mit Thomas Manns Situation der Zwanzigerjahre betrachtet, so erscheint seine Bedeutung nicht ganz unerheblich. Das Ende des E ­ rsten Weltkrieges bezeichnete den Anbruch einer neuen Geschichtsepoche. Zu einem ihrer Symbole wurde Russland, in dem die schon im 19. Jahrhundert so beliebte Sozialismus-­Idee nunmehr zu ihrer Verwirk­ lichung kam. Westeuropäer beobachteten die Geschehnisse im Lande Tolstois mit Interesse und Neugier, zu denen sich Angst und Unruhe mischten. Die 1918 – 1933

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Idee der sozialen Umwälzung faszinierte sie nach wie vor durch ihr zukunftsweisendes Image; die revolutionäre Wirklichkeit, von der russische Flüchtlinge und andere Augenzeugen berichteten, erschreckte sie. Der konservative Patriot und Royalist Thomas Mann erlebte die Niederlage Deutschlands im Herbst 1918 als persönliches Drama. Ordnung, System und Lebensgefühl, mit denen er sich identifizierte, gingen zugrunde. Nach dem ersten Schock fing er allmählich an, für sich eine rettende geistige Konstruktion aufzubauen. Das Thema Russland als ein Symbol der neuen Epoche musste unumgänglich zu einem ihrer Bausteine werden. Anfangs schwebte Thomas Mann das Bild eines nunmehr neuen, vielleicht auch republikanischen Deutschlands, aber in der alten «Position der Mitte» begriffen, vor: z­ wischen der aggressiven Sieger-­Demokratie des Westens und der brutalen Diktatur des Ostens. In den nachfolgenden Jahren bekannte sich Thomas Mann entschieden zur Demokratie, womit sich der Schwerpunkt der Konstruktion auf den Westen verschob. Zugleich gewann für ihn das Thema Osten wegen des Sieges der Kommunisten im Bürgerkrieg in Russland und der Etablierung des Sowjetstaates im Jahre 1922 noch mehr an Aktualität. Um seiner rettenden Konstruktion Standfestigkeit zu verleihen, musste Thomas Mann die Diskrepanz z­ wischen der so attraktiven «zukunftsweisenden Idee» und dem Massenterror, ­welchen ihre Umsetzung verlangte, erklären. Er machte es sich leicht und bediente sich eines klassischen westeuropäischen Klischee-­Komplexes, indem er den Massenterror im Sowjetland durch den «russischen» Asiatismus, lies: Wildheit und Neigung zur Anarchie, begründete. Die Sozialismus-­Idee an sich mochte er nach wie vor als zukunftsweisend und positiv empfinden. Sein persönliches Dauererlebnis der «geliebte[n] Sphäre» – der russischen Literatur – verlieh dieser Begründung allerdings eine gewisse Dissonanz. Denn bei all der sozialkritischen Färbung mancher ihrer Werke übermittelte die russische Literatur des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen Barmherzigkeit und Humanität. Und ihre Autoren waren ­Träger einer hohen Kultur. Vor ­diesem Hintergrund verdienen Thomas Manns Kontakte zu russischen Exilschriftstellern und seine Reaktion auf ihre Werke einige besondere Aufmerksamkeit. Im Oktober 1918, vom Hergang des Krieges deprimiert, las er im soeben erschienenen Buch Vom Krieg zur Revolution von Dmitri Mereschkowski.4 Dieser 4 Thomas Mann. Tagebücher [weiter als Tb.] 1918 – 1921, S. 40, 45 f. (20. 10. 1918 und 26. 10. 1918). 12

Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

Autor war schon um die Jahrhundertwende zu einem ewigen Geistesgefährten von Thomas Mann geworden. Mereschkowski ging 1919 ins Exil und lebte zuerst in Warschau und dann in Paris. Sein neues Buch war eine Sammlung von Kurz­ essays über russische Schriftsteller: Leo Tolstoi, Turgenjew, Tjutschew, Gorki, und über das aktuelle Geschehen in Russland.5 Im gleichen Zeitraum machte sich Thomas Mann mit einem Artikel über den «politischen Heroismus» von Sergej Bulgakow, der 1922 seines Heimatlandes verwiesen wurde, bekannt. Bald darauf, im Winter und Frühjahr 1919, wurde Thomas Mann zum Augenzeugen der nach dem Vorbild der Sowjets eingerichteten Münchener Räterepublik. Dieses Erlebnis muss seiner Version der «Asiatismus»-Theorie einen entscheidenden Impuls gegeben haben, denn in der nachfolgenden Zeit dominierte sie sein Bild des Sowjetlandes nahezu leitmotivisch. Am 20. April 1919, zehn Tage vor dem Fall der Münchener Räterepublik, nahm er die Arbeit am Zauberberg, in dem «Asiatismus» und «östliche» Barbarei auch Thema sind, wieder auf. Fast zeitgleich traf er sich mit Ernst Bertram, der beim Tee «mit gesunder Energie und bürgerlichem Gefühl gegen das bolschewistische Asiatenwesen sprach». Anfang Mai machte er sich im Tagebuch Gedanken, ob die alte Welt noch zu erhalten sei oder der «Kirgisen-­Idee des Rasierens und Vernichtens» zum Opfer fallen würde. Ende Mai waren es «Mongolen», die ihn des seelischen Friedens beraubten: An eine Zeitungsredaktion schrieb er von «der slavischen Mongolei» als Gefahr für die abendländische Kultur.6 Settembrini, der Verfechter abendländischer Werte im Zauberberg, fühlte sich von tatarischen Gesichtern umgeben. Aus einer Kombination von der «Kirgisen-­Idee des Rasierens» und der «slavischen Mongolei» entstand bei Thomas Mann ein weiteres Schreckensbild: «das mongolenhaft-­kulturrasierende […], antieuropäische […] Wesen des Bolschewismus». Gegen ­dieses Wesen habe bei ihm, dem Dichter, wie er im Juni 1919 in einem Brief mitteilte, ein humanistischer Widerwille die Oberhand gewonnen.7 Im März 1920 würdigte er Lenin wegen seiner außenpolitischen Härte und nannte diesen gerade vom deutschen Ideengut durch und durch geprägten Diktator einen Dschingis Khan.8 Einen letzten, «geopolitischen» Schliff bekam Thomas Manns Version der populären «Asiatismus»-Theorie 1921 in seinem Essay Goethe und 5 Dmitri Mereschkowski. Vom Krieg zur Revolution. 6 Tb. 1918 – 1921, S. 199 (16. 04. 1919), 223 (02. 05. 1919), 831. 7 Thomas Mann. Briefe II. 1914 – 1923. In: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [weiter als GKFA, Band und Seite], Bd. 22, S. 295. 8 Tb. 1918 – 1921, S. 398. 1918 – 1933

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Tolstoi. Der Sturz des Zaren, hieß es dort, «gab der russischen Volkheit nicht etwa den Weg nach Europa, sondern den Heimweg nach Asien frei.»9 Die russische Exilliteratur interessierte Thomas Mann auch weiterhin. Im Frühjahr 1920 waren Novellen von Alexej Tolstoi seine Lektüre.10 Vermutlich Ende 1922 lernte er ihren Verfasser und einen anderen vor dem kommunis­tischen Terror flüchtigen Schriftsteller, Alexej Remisow, in Berlin kennen.11 Über sie beide sowie über Andrej Belyj und Bunin schrieb er mit kollegialer Sympathie in einer Kurzrezension für die Sammlung Bildergalerie zur russischen Literatur.12 1925 wurde er von Iwan Schmeljows Die Sonne der Toten tief beeindruckt,13 im Januar 1926 machte er während einer Reise nach Paris persönliche Bekanntschaft mit ihrem Autor. Ebenfalls in Paris lernte er Mereschkowski, Bunin und den Philosophen Schestow kennen. Auch wenn Thomas Mann seine «geopolitisch» gespitzte Version der «Asiatismus»-Theorie noch 1925 wörtlich zitierte,14 wurde um diese Zeit sein Umgang mit dem Thema Revolution in Russland verhaltener. Wie seine Fernpolemik mit Schmeljow in Pariser Rechenschaft zeigt, lag ihm nun immer mehr an der «zukunftsweisenden Idee». Angesichts der wachsenden Popularität der «rückwärtsgewandten» völkischen Mystik in Deutschland empfand er diese Idee als stärkend und stabilisierend. Zur kommunistischen Wirklichkeit in der Sowjetunion äußerte er sich immer diplomatischer. Im Frühjahr 1926, kurz nach dem erlebnisreichen Aufenthalt in Paris, arbeitete Thomas Mann an der Pariser Rechenschaft. In diesen Zeitraum fällt sein Brief an Naschiwin vom 18. April. Grigorij Rasputin, mit dessen Namen Naschiwins dreibändiger Roman betitelt ist, war ein frommer sibirischer Bauer und Laientheologe aus dem Volke gewesen. 1905 war er nach Sankt Petersburg gekommen, wo er durch seine rhetorische Begabung die Aufmerksamkeit der Kirchenobrigkeit und der Aristokratie auf sich lenkte. Nach einiger Zeit wurde er dem Zaren Nikolai II. vorgestellt. 1907 konnte er den an Hämophilie erkrankten dreijährigen Thronfolger vorübergehend heilen, was ihm einen Ruf als Wunderheiler verschaffte. Rasputin vermochte es, auch weiterhin die Leiden des Thronfolgers zu lindern, und festigte damit seine Sonderstellung als Privatfreund der Zarenfamilie. 9 10 11 12 13 14 14

Goethe und Tolstoi. In: GKFA, 15.1, 928. Tb. 1918 – 1921, S. 437 (21. 05. 1920). Briefe aus Deutschland [II]. In: GKFA, 15.1, 660. Russische Dichtergalerie. In: GKFA, 15.1, 580. [Die besten Bücher des Jahres]. In: GKFA, 15.1, 1054. Deutschland und die Demokratie. In: GKFA, 15.1, 938. Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

Abb.  1  Iwan Naschiwin, um 1925.

Seine Meinung war manchmal auch bei politischen Angelegenheiten gefragt. Sein Name wurde von Gerüchten und Legenden umgeben, ihm wurde – besonders während des ­Ersten Weltkrieges – ein unangemessener Einfluss auf politische Entscheidungen nachgesagt. 1916 wurde er von mehreren hohen Aristokraten in eine Falle gelockt und ermordet. Wie zahlreiche Schriften und internationale Filmproduktionen zeigen, lebt der Mythos Rasputin bis heute. Naschiwins Buch war kein Roman über den umstrittenen Wunderheiler, sondern ein Panorama des russischen Gesellschaftslebens von etwa 1913 bis 1920. Arthur Luther, Philologe und Literaturkenner, schrieb im Vorwort zu Rasputin: «Ein tiefer Pessimismus ist also die Grundstimmung d­ ieses Werkes». Bei der Deutung der Revolution ergreife Naschiwin, so Luther, keine Partei für die «Roten» oder die «Weißen». Er sehe «Recht und Unrecht auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt; alle seine Personen sind im Grunde genommen «Weglose», Ratlose, die nicht wissen, wo sie hin sollen und was aus ihnen werden soll.»15 Aber ein hoffnungslos pessimistischer Roman sollte im Vorwort wohl nicht angekündigt werden. Wie Arthur Luther anschließend betonte, sei trotz allem etwas Bejahendes, Glaube und Hoffnung, Liebe zum Menschen an d­ iesem Buch. Was die Sicht Naschiwins auf die Zukunft Russlands betrifft, so zitiert Luther 15 Iwan Naschiwin. Rasputin, Bd. 1, S. XI. 1918 – 1933

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aus dessen Brief an den Übersetzer des Romans: «Unsere Rettung besteht darin, daß wir uns von dem schmutzigen Alpdruck der Vergangenheit befreien, ohne dabei in die Klauen der Bolschewisten zu fallen.»16 Wie diese «Rettung» aussehen, ­welche konkrete politische und geistige Form sie haben soll, verrät N ­ aschiwin bezeichnenderweise weder in seinem Roman noch in anderen Schriften. Die Ansichten seiner Figuren – ganz gleich, ob konservativ, liberal oder revolutionär – wirken auf eine nahezu deprimierende Weise abgeschmackt. Waren also Thomas Manns anerkennende Worte für Naschiwins Roman ernst gemeint? Oder handelt es sich nur um eine erweiterte Höflichkeitsfloskel? Die Erfolgswünsche, mit denen er seinen Brief an Naschiwin abschließt, wecken jedenfalls die Vermutung, dass er den Rasputin recht oberflächlich oder zumindest nicht bis zum Ende gelesen habe. «Ich hoffe», schrieb Thomas Mann, «daß Sie mit der deutschen Übersetzung zufrieden sind, und daß Sie bei unserem Publikum den Eindruck machen werden, den Ihr Werk bei Ihnen zuhause zweifellos erzielt hat». Die Beschreibung der Gräueltaten der Kommunisten am Ende des dritten ­Bandes hätte die Publikation ­dieses Romans in der Sowjetunion unmöglich gemacht. Mehr noch, sie hätte eine umgehende Verhaftung des Autors herbeigeführt. Ob Thomas Mann das wirklich nicht gewusst hat? Eine an Peinlichkeit grenzende Ignoranz ist ihm in d­ iesem Fall nicht zuzumuten. Schrieb er doch schon 1919 im Tagebuch über die Lage im Sowjetland: «Geistige, die sich weigern, zum Kommunismus zu schwören, müssen hungern, fliehen: Mereschkowski, Andrejew. Die Tyrannei muß furchtbar sein.»17 In Pariser Rechenschaft äußerte er sich zur Unterdrückung in der Sowjetunion noch deutlicher: Mit der unvergleichlichen epischen Überlieferung und Kultur Russlands sei man «heute dort ein Konterrevolutionär, bourgeois, widerproletarisch, politisch verbrecherisch» und man müsse «landflüchtig werden, wenn man davonkommt.»18 Oder hatte Thomas Mann den Roman von Naschiwin zum Zeitpunkt, als er den Brief verfasste, nur unvollständig, vielleicht abschnittweise gelesen? Einige weitere Umstände sprechen jedoch dafür, dass Thomas Mann im Roman Naschiwins nicht nur – höflichkeitshalber – geblättert hat. Im winterlichen Paris des Jahres 1926 erlebte er dank einiger Kontakte mit namhaften Exilrussen

16 Ebenda, S. XIV. 17 Tb. 1918 – 1921, S. 137 (20. 01. 1919). 18 Pariser Rechenschaft. In: GKFA, 15.1, 1172. 16

Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

Abb.  2  Iwan Schmeljow, um 1925.

sein bisher intensivstes Eintauchen in die russische Sphäre. Am ausführlichsten berichtet er in Pariser Rechenschaft von seinem unangemeldeten Besuch bei Iwan Schmeljow.19 Thomas Manns intensivstes russisches Leseerlebnis von 1925 muss Die Sonne der Toten gewesen sein. Und nun lag ihm viel daran, die gemischten Gefühle, die ­dieses Buch in ihm geweckt hatte, zu klären und zu ordnen. Wie bereits erwähnt, gehört sein Brief an Naschiwin in den gleichen, vom Thema Russland wohl besonders beeinflussten Zeitraum. Die Sonne der Toten und Rasputin behandeln zwar zum Teil das ­gleiche Thema – die unerträglichen Lebensverhältnisse unter der Sowjetmacht –, aber Naschiwins Sozialroman ist von anderem Pathos durchwirkt als die tragische Epopöe Schmeljows. In Die Sonne der Toten wird eine klare Trennlinie z­ wischen Recht und Unrecht, Freiheit und Unterdrückung, Gut und Böse gezogen. Für die positiven Begriffe steht die Vergangenheit, d. h. Russland vor der Revolution, welches dabei aber nicht idealisiert wird. Für die negativen steht die Gegenwart, in der Tod und Chaos walten. In Naschiwins Rasputin sind dagegen «Recht und Unrecht auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt», gegenwärtig ersticke das riesige Land in Tränen und Blut, und die Vergangenheit sei ein schmutziger Alpdruck, von dem man sich befreien soll. Der Doktor, eine Hauptfigur in Die Sonne der Toten, reflektiert über das Geschehene und erkennt, dass die revolutionäre Idee, von der 19 Ebenda, S. 1202 f. 1918 – 1933

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so viele blauäugig geschwärmt haben, ein Betrug ist. Er spricht von ­Dostojewski, der millionenfache Opfer des sozialen Experimentes vorausgesehen hat, und von der moralischen Mitverantwortung des Westens, der die Qualen Russlands mit den Augen eines interessierten Laborgelehrten beobachtet. Auch Naschiwins Figuren reflektieren über das Geschehene, doch ihr Nachdenken führt zu keinen klaren und eindeutigen Erkenntnissen von Schuld und Verantwortung. Vielmehr kommen sie zu dem Schluss, dass alles sinnlos sei, die Menschen nichts taugen und an nichts glauben. Andrej Iwanowitsch, der mit anderen Gefangenen in einer Scheune auf seine Exekution durch die Bolschewisten wartet, ruft aus: «Nicht das ist fürchterlich, daß die alte Fürstin am Tor baumelt, fürchterlich ist, daß es in vielen Seelen wüst und leer ist. In diesen Seelen gähnt ein Nichts […]». Ähnlich nihilistisch äußert sich über die geistige Gegenwart des vorrevolutionären Russlands Rasputin im Gespräch mit dem Grafen S ­ olomatin. Dem Grafen selbst, der ein «gebildeter Mann» ist, gibt Naschiwin schon am Anfang des Romans eine folgende Einstellung ein: «Das Hauptunglück Rußlands liege darin, daß es als Tochter des asiatischen Chaos und der Anarchie nicht wie die anderen europäischen Staaten auf dem festen Fundament der griechisch-­ römischen Kultur fuße.»20 Objektiv stellte Die Sonne der Toten die geistig-­politische Konstruktion in Frage, an der Thomas Mann seit 1918/1919 konsequent arbeitete. Dieses Buch übermittelte den Gedanken, dass die «zukunftsweisende Idee» falsch sei und die sogenannte «bürgerliche» Lebensform die eigentlich normale gewesen war. Schmeljow wies objektiv auf den unmoralischen Charakter der Sozialismus-­Schwärmerei bei vielen westeuropäischen «bürgerlichen» Intellektuellen hin. Hier musste Thomas Mann, der nunmehr ein Zukunftsoptimist sein wollte, eingreifen und die «Idee» in Schutz nehmen. Sie sei, behauptete er in Pariser Rechenschaft, trotz allen vergossenen Blutes, an der Seite der Sowjets, nicht aber des überalterten Westens. Die bürgerliche Geistes- und Lebensform sei nicht mehr zukunftsweisend. In der Hitze der Polemik entstellte er Schmeljows Motive und argumentierte gegen Gedankengänge, die dessen Buch gar nicht enthielt.21 Naschiwins Roman Rasputin bestätigte dagegen – ebenfalls nur objektiv – Thomas Manns klischeehaftes politisches Russland-­Bild. Er förderte seine Illusion, dass Terror und Gewaltherrschaft eine «russisch-­asiatische» Erscheinung 20 Iwan Naschiwin. Rasputin, Bd. 3, S. 323, Bd. 2, S. 114, Bd. 1, S. 69. 21 Pariser Rechenschaft. In: GKFA, 15.1, 1204 f. 18

Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

wären, und rehabilitierte damit gleichsam die «Idee» an sich. Er vermittelte auch den Gedanken, dass die im weitesten Sinne bürgerliche Lebensform schon vor der Revolution endgültig ausgelebt hätte. All das kann dafür sprechen, dass Thomas Manns anerkennende Sätze für den Rasputin mehr als nur erweiterte Höflichkeitsfloskeln waren. Naschiwins Roman wurde von anderem Pathos getragen als Die Sonne der Toten, die Thomas Mann so beunruhigt hatte. Dabei waren die beiden Werke fast gleichzeitig erschienen und erreichten ihn auch fast zur gleichen Zeit. Glaube und Hoffnung, von denen Arthur Luther im Vorwort zu R ­ asputin schrieb, werden am Schluss des Romans spürbar. Vater Feodor, russisch-­ orthodoxer Priester in der Provinzstadt Okschinsk, bekommt am Abend des Ostersonntages einen überraschenden Besuch. Die Haushälterin meldet einen berüchtigten Kommissar an, der zuvor bereits zweimal Haussuchungen im Pfarrhaus durchführen ließ. Vater Feodor ahnt Schlimmes, vielleicht eine Verhaftung. Und nun tritt der stadtweit gefürchtete Henker ein, Mitglied der sogenannten Außerordentlichen Kommission, und bittet den Priester heulend um die Rettung seiner Seele, die keine Ruhe findet. Am Ende dieser an Dostojewski erinnernden Szene blickt Vater Feodor auf die Ikone des Erlösers und sagt: «‹Ja, ich habe verstanden, Herr … Aber jene, die nicht bereuen, die triumphieren, die zynisch lachen? Verstehen kann man sie. Ihnen vergeben, was man selbst von ihnen erlitten hat, das kann man auch. Ja, man kann sich selbst als schuldig vor ihnen erkennen. Doch – sie lieben? … Wo finde ich die Kraft dazu, Herr?› / Christus schwieg, doch klar traten Seine Worte in dem wunderbaren Buch hervor: ‹Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe ist, ist in Gott und Gott ist in ihm›.»22 Hatte dieser symbolhafte Romanschluss zu bedeuten, dass die Rettung des Vaterlandes außerhalb und vor allem oberhalb solcher Begriffe wie Politik, Gesellschaft, Widerstand liegen sollte? Einundzwanzig Jahre später, im Januar 1947, beendete Thomas Mann den Doktor Faustus mit einer ähnlich anmutenden offenen Frage: «Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.»23 22 Iwan Naschiwin. Rasputin, Bd. 3, S. 479 – 482. 23 Doktor Faustus. In: GKFA, 10.1, 738. 1918 – 1933

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Rasputin ist nicht das einzige Werk von Naschiwin geblieben, das in Thomas Manns Blickfeld geriet. 1929 wurde in der Zeitschrift Die schöne Literatur eine Besprechung seines neuen Romans Unersättliche Seelen abgedruckt. Adolf von Grolman, der Rezensent, schrieb: Wie alle russischen Romane sich einander aufs Haar gleichen, so auch hier: Extravagantes, wüster Realismus und eschatologisch Mystizierendes, nur diesmal von zweiter Hand, auf Dostojewski fußend, zum Glück aber knapper als dort. Es lag nicht der leiseste Grund vor, das Buch zu übersetzen; ein deutscher Autor würde mit d­ iesem Manuskript keinen Verleger gefunden haben; aber zu Übersetzungen ist immer Geld vorhanden; natürlich wird auch Th ­ omas Mann mit dem stereotypen brieflichen Lobeswort bemüht, alles Dinge, die schließlich nicht mehr tragbar sind. Russophilen werden befriedigt sein, es ist immer wieder das ­gleiche: halb Turgenieffs ‹Väter und Söhne›, halb Dostojewski, Dinge, die noch einen Kuriositätenwert haben. Es ist nötig, wieder einmal auf diese Mißlichkeiten hinzu­ weisen, wobei Naschiwin eingeräumt werde, daß er geschickt erzählen kann und einen guten Übersetzer gefunden hat.24

War das Buch, für welches Thomas Mann mitgeworben hat, wirklich so schwach? Oder wurde Grolmans Feder nur von Eifersucht auf die «Russen-­Mode» und persönlicher Missgunst gegen Thomas Mann geführt? Die deutsche Übersetzung von Unersättliche Seelen kam im Jahre 1928 auf den Buchmarkt. Im Original erschien der Roman erst 1933 mit dem Titel Женщина (Die Frau) in einem exilrussischen Verlag in Jugoslawien.25 Seine Handlung bewegt sich im Dunstkreis von Sexualität, Erotik und Nostalgie, die Hauptfiguren sind Künstler und Intellektuelle. Der Erste Weltkrieg und die Revolution setzen ihrer Selbstsuche ein grausames Ende. Stellenweise lässt Naschiwin seine Figuren mit Leo Tolstois Kreutzersonate und Dostojewskis Brüder Karamasow polemisieren. Glaube und Hoffnung hat ­dieses Buch nicht zu bieten. Das Lobeswort Thomas Manns war lediglich ein Zitat aus seinem Brief an Naschiwin vom 18. April 1926. Es wurde als Reklame in der Neuen Rundschau abgedruckt und lautete wie folgt: «Thomas Mann schreibt dem Autor: Sie wissen 24 Adolf von Grolman. Naschiwin, Iwan: Unersättliche Seelen. Roman. Aus d. Russ. v. Valerian Tornius. Leipzig: C. Weller & Co. 1928. In: Die schöne Literatur. Herausgeber Will Vesper. 30. Jahrgang 1929. Leipzig: Ed. Avenarius Verlag, S. 170 f. 25 Iwan Naschiwin. Unersättliche Seelen. Собрание сочинений И. Ф. Наживина. Том VIII. Женщина. Новый Сад: типография С. Ф. Филонова 1933. 20

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vielleicht von der tiefen Sympathie und Ehrerbietung, die ich von jeher der Literatur ihres Landes entgegengebracht habe, und so war es mir eine ganz besondere Freude, die Bekanntschaft eines russischen Autors Ihres Ranges zu machen.»26 Das Briefzitat bezog sich nicht direkt auf den neuen Roman, und man kann nur mutmaßen, ob Thomas Mann Unersättliche Seelen gelesen oder das Zitat aus positiver Erinnerung an Rasputin «blind» beigesteuert hat. Naschiwins neuer Roman vermittelte den Eindruck, dass sich die russische Gesellschaft kurz vor der Revolution in einem chaotischen Ideenrausch befunden hatte. Diese Ideen hatten mit «Klasseninteressen» und sozialer Herkunft ihrer Träger nichts zu tun und waren hauptsächlich destruktiv. Beispielsweise wurden Revolutionäre – jeglicher marxistischer Klassenlogik zum Trotz – von Groß­ industriellen finanziert, was das Zeichen ­­ einer schweren Gesellschaftskrankheit sein sollte. In ­diesem Sinne bot Naschiwins Roman einen gewissen Einblick in die neuesten russischen Verhältnisse, die das westeuropäische Publikum nach wie vor interessierten. Die Wege Naschiwins und Thomas Manns haben sich seitdem nicht mehr gekreuzt. Die wachsende Instabilität der Weimarer Republik lieferte Thomas Mann immer neue Anlässe zur politischen Stellungnahme. Die bürgerliche Lebensform war seiner Ansicht nach todgeweiht; das neue völkische Heidentum – der Nährboden des Nationalsozialismus – «rückwärtsgewandt», barbarisch und gefährlich. Die Konstruktion, an der er, ein Demokrat aus Vernunft und Konservativer «mit dem Gefühle», unermüdlich arbeitete, sollte nun eine Synthese der deutschen Kulturtradition und der «zukunftsweisenden» Sozialismus-­Idee darstellen. So schrieb er im März 1928: Was not täte, was endgültig deutsch sein könnte, wäre ein Bund und Pakt der konserva­ tiven Kulturidee mit dem revolutionären Gesellschaftsgedanken, ­zwischen Griechenland und Moskau, um es pointiert zu sagen – schon einmal habe ich dies auf die Spitze zu stellen versucht. Ich sagte, gut werde es erst stehen um Deutschland, und ­dieses werde sich selbst gefunden haben, wenn Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben werde –, eine Begegnung, die übrigens im Begriffe sei, sich zu vollziehen.27 26 Die neue Rundschau. XXXIX. Jahrgang der freien Bühne. Berlin und Leipzig: S. Fischer-­ Verlag 1928. Anzeigen-­Beilage zur Neuen Rundschau. Heft 12. Dezember 1928, S. 31. 27 Thomas Mann. Kultur und Sozialismus. In: Thomas Mann. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. [weiter als GW, Band und Seite], Bd. XII, S. 649. 1918 – 1933

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Wie diese Idee seiner Meinung nach konkret politisch umzusetzen wäre, ­welche Gestalt sie in der Praxis haben sollte, sagt Thomas Mann jedoch nicht. Darin ähnelt er gewissenmaßen Naschiwin und dessen ewig diskutierenden intellektuellen Figuren. Die Sowjetmacht wusste sich die große russische Literatur zunutze zu machen. Die Klassiker wurden in der UdSSR in hohen Stückzahlen immer wieder verlegt und kommentiert. Sozialkritische Motive einzelner Werke wurden dabei über­bewertet und marxistischen Vorstellungen willkürlich angeglichen; was dem Regime nicht ins Konzept passte, wurde zensiert oder verschwiegen. Das galt insbesondere solch komplexen Autoren wie Leo Tolstoi und Dostojewski. In ­diesem Zuge sollte das hundertjährige Jubiläum Tolstois im September 1928 gefeiert werden. Die Machthaber versprachen sich davon einen Propagandaerfolg. ­Tolstoi als Kritiker sämtlicher russischer Staats- und Gesellschaftsinstitutionen und damit ein Verbündeter der Bolschewisten wurde auf den Schild gehoben; Tolstois Engagement als Pazifist und Prediger der Gewaltlosigkeit wurde heruntergespielt. Bei der Vorbereitung der Feierlichkeiten in Moskau ging jedoch einiges schief. Erstens war die Liste westeuropäischer und amerikanischer Schriftsteller, die als Sympathisanten des Sowjetregimes in Betracht kamen, wohl noch nicht komplett zusammengestellt. Vermutlich gab es bei der zuständigen Behörde der UdSSR in Einzelfällen Zweifel wegen Rangordnung oder Ansichten. Davon zeugt die Systemlosigkeit bei der Auswahl der einzuladenden Gäste: als Vertreter Deutschlands wurde Bernhard Kellermann eingeladen, und zwar im letzten Augenblick; Österreich repräsentierte Stefan Zweig, der seine «Legitimation» ebenfalls erst kurzfristig erhalten hatte. Aus Großbritannien, Frankreich und den USA war niemand anwesend. Einige Jahre danach wurde ­dieses Versäumnis nachgeholt: Eine umfangreiche Rangliste, auf der auch Thomas Manns Name nicht fehlen durfte, wurde auf eine sachkundige Art und Weise erstellt. Davon wird noch die Rede sein. Zweitens gelang es Alexandra Tolstoi (russ. Tolstaja), der Tochter des großen Schriftstellers, den Akzent der Feierlichkeiten auf pazifistische Inhalte im Werk ihres Vaters zu verschieben. Alexandra Tolstoi hatte zu dem Zeitpunkt schon bestimmte systemspezifische Erfahrungen mit dem Sowjetregime hinter sich. 1920 war sie von der Außerordentlichen Kommission auf Verdacht festgenommen und zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Nach einem Jahr im Konzentrationslager wurde sie vorzeitig entlassen und zur Verwalterin des Museums ihres Vaters in Jasnaja Poljana ernannt. 1929, bald nach den Feierlichkeiten, nutzte sie eine Vortragsreise nach Japan aus, um den Staub der Sowjetunion von ihren Schuhen zu schütteln. Sie lebte in den USA, wo Thomas Mann 1939 ihre flüchtige Bekanntschaft machte. 22

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Die Tolstoi-­Feierlichkeiten in Moskau 1928 wurden kein internationaler Propa­gandaerfolg für die Sowjets. Schlecht organisiert und ideologisch schwach bedient, verfehlten sie ihr Ziel. Rund eine Woche vor ihrem Beginn schrieb Thomas Mann an Stefan Zweig: «Nach Moskau? Reisen Sie mit Gott! Ich bin garnicht eingeladen, was mich nicht wundert, denn seit man dem ‹Zauberberg› wegen bourgeoiser Gesinnung das Placet verweigerte, weiß ich, daß ich dort hinten nicht reçu bin.»28 Stefan Zweigs Reiseeindrücke waren überwältigend. Es gab allerdings eine Episode, die er erst 1942 in seinen Memoiren erzählt hat. Sie hebt sich von seiner prächtigen Vision eines «Zukunftsstaates» krass ab. Als Stefan Zweig nach einer Festlichkeit bei Moskauer Studenten ins Hotel zurückkam, fand er in seiner Tasche einen Brief. Er war in französischer Sprache und nicht unterzeichnet. «Glauben Sie nicht alles», schrieb der Unbekannte, «was man Ihnen sagt. Vergessen Sie nicht, bei allem, was man Ihnen zeigt, daß man Ihnen auch vieles nicht zeigt. Erinnern Sie sich, daß die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre Dolmetscherin meldet jedes Wort. Ihr Telefon ist abgehört, jeder Schritt kontrolliert.»29 Auch Thomas Mann hatte sich Ende 1928 einmal persönlich mit der Praxis des Sowjetstaates auseinanderzusetzen. Im Oktober machte ihn Schmeljow brieflich auf eine bevorstehende Versteigerung im Berliner Auktionshaus Lepke aufmerksam. Zum Verkauf standen Kunstwerke und Antiquitäten aus russischen Museen und Privatsammlungen, die sich der Sowjetstaat nach dem «Revolutionsrecht» angeeignet hatte und nun zu Geld machen wollte. Diese Auktion war keine Einzelerscheinung, denn die Sowjets verkauften die von ihnen konfiszierten Kunstschätze regelmäßig. So wurden zahlreiche kostbare Schmuckobjekte im Februar 1927 in der Auktion Russian State Jewels bei Christie’s in London versteigert. Westeuropäische und amerikanische Geschäftsleute füllten gerne ihre Kollektionen durch unschätzbare Kunstgegenstände, die sie bei den Sowjets – häufig zu Billigpreisen – erwarben. Objekte sakraler Kunst, die aus entkernten oder zerstörten ­Kirchen stammten, wurden en gros in den Westen exportiert. 1933 wurde der sogenannte Codex Sinaiticus, die älteste bekannte 28 GKFA, 23.1, 360. 29 Stefan Zweig. Die Welt von gestern, S. 446. 1918 – 1933

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Handschrift des Neuen Testaments, auf persönliche Anweisung Stalins nach England verkauft. Da die Versteigerung nun in Berlin stattfinden sollte, appellierte Schmeljow an Gewissen und Autorität Thomas Manns: «Lieber Thomas Mann, reden Sie, gebieten Sie – und man wird auf Sie hören in Deutschland. In der ganzen Welt wird man auf Sie hören – und das ist jetzt garnicht überflüssig. Sprechen Sie laut und gebieterisch, und Ihre Stimme wird in unserm Herzen bleiben, als die Stimme der Ehre, die Stimme der Pflicht, als das ­­Zeichen des erhabenen geistigen Bandes ­zwischen den Völkern.»30 Thomas Mann antwortete Schmeljow am 16. November 1928 mit einem korrekten und vom Ton her sehr warmen Brief. Schmeljows Appell habe er unmittelbar vor einer Reise erhalten, die Auktion zu verhüten wäre aussichtlos gewesen. Aber post festum schäme er sich als Deutscher dieser Versteigerung. «Welch Unsinn und w ­ elche unanständige Unlogik von beiden Seiten!» resümierte er. «Das Kommunistische Rußland, das enteignetes Gut an ausländischen Kapitalismus verkauft, und Deutschland, wo der Begriff des Privateigentums noch sehr heilig ist, das aber trotzdem den Verkauf des enteigneten Gutes in seinen Grenzen gestattet.»31 Mit seinem emotionalen Appell setzte sich Schmeljow nicht nur für Recht und Ehre ein, sondern sprach für das gesamte Exilrussland, für die «Verlierer der Geschichte», die in d­ iesem Fall als moralische Sieger auftraten. Als rechtsbewusster Mensch und sensibler Künstler, der schon immer eine Sympathie mit Verlierern und Todgeweihten hatte, fand Thomas Mann für seine Antwort die richtigen Worte. Und zum wiederholten Mal wurde er mit der grausamen Diskrepanz ­zwischen seinem Bild der «zukunftsweisenden Idee» und der Barbarei ihrer Vollstrecker konfrontiert. Aber sein Vertrauen in die «zukunftsweisende Idee» blieb unerschüttert. Die besagte Diskrepanz rechtfertigte er immer wieder durch abstrakt-­theoretische Konstruktionen. Im Dezember 1928 schrieb er in einem Privatbrief: «Ich bin zwar, als ‹deutscher Dichter›, ein Anfänger im Sozialismus, aber ich bin mir klar ­darüber, daß jeder lebendige Mensch heute Sozialist und – im Wortsinn – Sozial-­ Demokrat sein muß […].»32 Die Logik dieser Aussage ist eigenartig: Thomas

30 GKFA, 23.2, 378. 31 Ebenda, 23.1, 366. 32 Ebenda, 371. 24

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Mann gibt zu, dass er in einer Lehre unbewandert ist, und äußert im gleichen Atemzug die Überzeugung, dass jeder lebendige Mensch sich heute zu dieser Lehre bekennen müsste. Es liegt nahe, dass er hier zwei verschiedene Sozialismen meint: den herkömmlichen, von dem er in der Tat wenig versteht, und seinen eigenen, den er aus mehreren Begriffen synthetisiert hat. Kurz vor Weihnachten 1928 erhielt Thomas Mann vom Autor persönlich eine Neuerscheinung – das Buch Rußland von heute von Erich Koch-­Weser. Es war ein groß angelegter Reisebericht mit Anspruch auf ein umfassendes Bild der UdSSR der späten Zwanziger. Es enthielt Betrachtungen über Wirtschafts- und Soziallage, Kunst und Literatur, Religion und Bürokratie, Machtkämpfe innerhalb der Partei usw. Über das Volk des riesigen Landes äußerte sich Koch-­Weser meistens mit Sympathie und Mitgefühl. Die Gewaltherrschaft der kommunistischen Machthaber leitete er automatisch vom alten Regime und Hergang der russischen Geschichte ab. Beispielsweise schrieb er schon im ersten Kapitel: «Seitdem Peters des Großen Revolution von oben das asiatische barbarische Rußland in einen absolutistischen, europäischen Staat des siebzehnten Jahrhunderts umgewandelt hatte, hat die Reaktion eingesetzt. […] Jeder frische Luftzug der Entwicklung wurde dem unglücklichen Lande vorenthalten. Jetzt ist der Kessel geplatzt, und in tollem Wirbel fliegt alles durcheinander». An einer anderen Stelle meinte er: «Die Herrschaft des alten Regimes beruhte auf Gewalt», und stellte den Sicherheitsdienst der Russischen Reiches kurzerhand der berüchtigten Außerordentlichen Kommission der Sowjets gleich. In einem weiteren Abschnitt hieß es: «In der Tat kann die deutsche Auffassung über den Wert des Menschenlebens, über die persönliche Freiheit, über das Recht des einzelnen auf eine kleine, geordnete und gesittete Existenz nicht mit der russischen verglichen werden. Man mache sich doch klar, daß die russische Geschichte durch Jahrhunderte eine Geschichte des Blutvergießens ist […].»33 Solche ignoranten Gemeinplätze bestimmen die historisch-­politische Tendenz des Buches von Koch-­Weser. Eine durchaus ähnliche Vorstellung von der Geschichte Russlands verbreitete auch die Sowjetpropaganda. Allerdings gehörte parallele Glorifizierung der Sowjet-­Gegenwart zu ihren Aufgaben, während Koch-­Weser auch der kommunistischen Idee in der damaligen Sowjetunion so gut wie keine Chance gibt. 33 Erich Koch-­Weser. Russland von heute, S. 12, 46, 136. 1918 – 1933

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Den vom 13. Dezember 1928 datierten Begleitbrief des Autors beantwortete Thomas Mann schon am 18. Dezember. Es ist zweifelhaft, ob er in der ­kurzen Zwischenzeit das Buch vollständig gelesen hatte. Nichtdestotrotz muss ihm seine Tendenz klar geworden sein: Koch-­Wesers Betrachtungen schöpften im Wesentlichen aus dem gleichen Geist wie seine eigene «Asiatismus»-Theorie, die er aber seit einiger Zeit allmählich zu den Akten gelegt hatte. An Koch-­Weser schrieb er, dass er dem Realismus seines Buches zustimme, wenn er, Thomas Mann, «der schrecklichen Schönheit des russischen Selbstopfers auch nicht unzugänglich» sei «und den Bolschewismus als korrektives Prinzip für weltwichtig und welt­ bestimmend halte.»34 Die revolutionäre Wirklichkeit wollte er also offenbar nicht mehr einseitig als asiatisch-­anarchisch einordnen. Als Politiker beteiligte sich Koch-­Weser an der Diskussion um die Paneuropa-­ Idee, die seit dem Beginn der Zwanzigerjahre andauerte. Wie auch der Gründer der Paneuropa-­Union, Graf Coudenhove-­Kalergi, schloss er die Sowjetunion aus einem vereinten Europa aus.35 Thomas Mann äußerte sich im September 1929 gegen eine ­solche Ausgrenzung, und zwar mit einer Begründung, die seinen Abgang von der «Asiatismus»-Theorie noch verdeutlichte. Zuerst beteuerte er, dass er den ­Schrecken und die Gefahr des Bolschewismus, der ein Leidensmaximum vom russischen Volk fordert, erkenne. Das deutsche Volk und andere west- und mitteleuropäische Nationen s­ eien seiner Überzeugung nach vom Bolschewismus nicht bedroht, denn «[u]nser Volk und unsere Völker sind zu klug, zu individualistisch, zu kultiviert, wenn man will, um bolschewistische Experimente über sich ergehen zu lassen». Dann kam er auf das Eigentliche zu sprechen: der Bolschewismus in Russland möge wohl seine historische Funktion haben, und zwar «als Schärfer des sozialen Gewissens unserer Epoche». Die Französische Revolution habe nie gesiegt, aber sie habe die Welt erobert. «Vielleicht», fasste Thomas Mann zusammen, «wird auch von einem in Rußland zusammengebrochenen Bolschewismus ein Stück Idee sich über die Welt verbreiten.»36 Welche Form ein vereintes Europa ohne die Ausgrenzung der bolschewistischen Sowjetunion seiner Ansicht nach haben sollte, präzisierte er nicht. Einige Jahre zuvor war Thomas Mann bestrebt gewesen, die kommunistische Idee zu bereinigen und den Terror, w ­ elchen ihre Verwirklichung erforderte, auf 34 GKFA, 23.1, 374. 35 Siehe Verena Schöberl. ‹Es gibt ein grosses und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt – es heisst Europa, S. 187 – 188. 36 Hansen, Volkmar/Heine, Gert: Frage und Antwort, S. 150. 26

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den «russischen Asiatismus» zu schieben. Nun kam es ihm nicht mehr darauf an, die Idee von der Praxis zu trennen, sondern aus der Existenz des Sowjetstaates praktische Schlüsse für Deutschland zu ziehen. Es handelte sich also um die Schärfung des sozialen Gewissens. Im gleichen Interview meinte er: «Wir sind hellhörig geworden in sozialen Fragen.»37 Als Intellektuelle hätten Thomas Manns exilrussische Kollegen Bunin und Schmeljow seine Konstruktionen vielleicht für plausibel befunden. Aber als Opfer des Sowjetregimes hätten sie seine Gedankengänge ganz bestimmt nicht nachvollziehen geschweige denn akzeptieren können. Zu Diskussionen in dieser oder jener Form kam es jedoch nicht, denn selbst renommierten exilrussischen Dichtern mittlerer Generation wie diesen beiden ging es um das Überleben. In der westeuropäischen Gesellschaft hatten sie in der Regel kein Terrain, ihr soziales und Geschäftsumfeld war beschränkt. Die Bekanntschaft mit Thomas Mann nutzten sie vorwiegend, um wichtige Beziehungen zu knüpfen, ohne sich mit seinen Ansichten auseinanderzusetzen. Seltene Briefkontakte ­zwischen Paris bzw. Grasse, wo Bunin lebte, und München bestanden auch weiterhin. Die beiden Russen schickten Thomas Mann sporadisch ihre Bücher, und das warme Mitgefühl, das aus seinen Rückmeldungen sprach, blieb unverändert. Das Verhältnis zu Bunin war dabei eher förmlich, zu Schmeljow eher persönlich. Über diese Kontakte wurde Thomas Mann immer wieder mit den Problemen der exilrussischen Schriftsteller und nicht zuletzt auch mit dem Themenkomplex Opfer der Revolution konfrontiert. Bis zum Anfang der Dreißigerjahre waren vom gesamten Werk Bunins nur einige Erzählungen ins Deutsche übersetzt worden. Zwei von ihnen: Der Herr aus San Francisco und Mitjas Liebe hatte Thomas Mann seinerzeit hoch eingeschätzt. Vermutlich Ende 1929 sandte Bunin dem deutschen Kollegen einen Band seiner Novellen in französischer Übersetzung. Die Rückmeldung aus München vom 11. Februar 1930 war voller Sympathie und Lobesworte. Es sei schwer, schrieb Thomas Mann, einer der Novellen Vorzug zu geben, aber Un crime habe bei ihm besonderen Eindruck gemacht, – «freilich vielleicht gerade, weil sie so russisch ist, dass die französische Form ihr befremdlich und dadurch gerade pikant zu Gesichte steht.»38

37 Ebenda, S. 151 f. 38 GKFA, 23.1, 453 f. 1918 – 1933

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Abb.  3  Iwan Bunin, 1937.

Die Erzählung, die in französischer Übersetzung den Titel Un crime trägt, war 1913, also noch in Russland entstanden. Ihre Hauptfigur ist ein einfältiger Waldaufseher, ein hässlicher, feiger und einsamer Mann, der einen Mord plant und ausführt, um seinen Minderwertigkeitskomplex loszuwerden. Bunin wusste dank des Treffens in Paris, dass Thomas Mann sich in der damals internationalen Verkehrssprache Französisch unterhalten konnte. Es ist aber kaum vorstellbar, dass Thomas Mann sich die Mühe gemacht hätte, diese im Bauernmilieu spielende, an schwer übersetzbaren volkstümlichen Ausdrucksweisen reiche Erzählung auf Französisch zu lesen. Daher erscheint seine liebenswürdig formulierte Anerkennung bei näherer Einsicht als nicht vielsagend. Die Sendung von Arsenjews Leben in italienischer Übersetzung an Th ­ omas Mann im nächsten Jahr war nur ein symbolischer Akt von Seiten Bunins, denn weder er selbst noch der Adressat beherrschten Italienisch. Aus München erhielt Bunin daraufhin am 30. Dezember 1930 den mit förmlicher Widmung versehenen Tod in Venedig, ebenfalls in italienischer Sprache,39 was entweder eine überkorrekt gemeinte «symmetrische» Geste oder aber eine subtile Retourkutsche war.

39 Галина Кузнецова. Грасский дневник, с. 192. 28

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Praktisch zeitgleich, um Weihnachten 1930, wandte sich Leo Schestow auf Anregung Bunins an Thomas Mann mit der Bitte, Bunin als den nächsten Kandidaten für den Nobelpreis vorzuschlagen.40 Den Philosophen und Mitglied der Nietzsche-­Gesellschaft Schestow hatte Thomas Mann, wie erwähnt, vier Jahre zuvor in Paris persönlich kennengelernt. In seiner Antwort vom 31. Dezember 1930 schrieb er ihm: «Bunin ist ein sehr starker Erzähler, und ‹Der Herr aus San Franzisko› [sic!] bleibt ein unvergessliches Meisterwerk. Ein Meister, ausgestattet mit allen guten Traditionen der herrlichen russischen Erzählungskunst, ist er seitdem geblieben, aber, wenn ich ehrlich sein soll, so haben die Dinge, die ich später von ihm las, nicht unbedingt den künstlerisch beglückenden Eindruck auf mich gemacht wie jenes Werk […].»41 Und wenn der Nobelpreis einem russischen Schriftsteller zustehen sollte, so verdiene ihn Iwan Schmeljow ebenso sehr wie Bunin. Diesem würde er, Thomas Mann, den Preis aufrichtig gönnen, aber er denke noch an Sigmund Freud und sei nicht einmal sicher, ob die bisherigen Preisträger überhaupt ein internationales Vorschlagsrecht besäßen … Welche Werke von Bunin dürfen Thomas Mann so enttäuscht haben? Um ­welche «Dinge» kann es sich handeln? Eigentlich nur um Bunins Früherzählungen, deren Auswahl noch 1903 in deutscher Übersetzung erschienen war. Oder meinte Thomas Mann etwa den von ihm insgesamt gelobten «französischen» Novellenband von 1929? Seine Anerkennung für Schmeljow war in ­diesem Fall keine Floskel. Nachdem sich Thomas Mann über die Feinheiten des Vorschlagsrechts informiert hatte, schlug er schon am 23. Januar 1931 Schmeljows und Hermann Hesses Kandidaturen dem Nobelpreis-­Komitee vor. «Die politische Sache», schrieb Thomas Mann über den russischen Kollegen, «daß er als entschiedener Antibolschewist zu den in Paris lebenden Emigranten gehört, kann man bei Seite lassen oder höchstens in dem Sinn erwähnen, daß er in der französischen Hauptstadt in großer Armut lebt. Seine literarischen Verdienste sind meiner Überzeugung nach so bedeutend, daß er als würdiger Kandidat des Preises erscheint.»42 Ein weiterer exilrussischer Schriftsteller, Mark Aldanow, der sowohl Bunin als auch Thomas Mann persönlich kannte, war ebenfalls bemüht, diesen für die 40 Н. Баранова-­Шестова. Жизнь Льва Шестова, т. 2, с. 62. 41 Zit. nach: Н. Баранова-­Шестова. Жизнь Льва Шестова, т. 2, с. 63. 42 GKFA, 23.1, 521. 1918 – 1933

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Abb.  4  Mark Aldanow, 1925.

Kandidatur Bunins zu gewinnen. Im Mai 1931 teilte Thomas Mann Aldanow mit, dass er als Deutscher sich verpflichtet fühle, einen deutschen Autor für den Preis vorzuschlagen.43 Damit erledigte sich die Frage definitiv, ob er überhaupt für einen Russen plädieren würde. Danach klangen die persönlichen Beziehungen ­zwischen Thomas Mann und Bunin aus. Schmeljow blieb der einzige Exilrusse, mit dem Mann noch im Briefkontakt stand. Die Wirtschaftskrise von 1929 – 1930 trug zum Aufschwung radikaler Kräfte und Ideen bei. Der sensationelle Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 veranlasste Thomas Mann zum Auftritt mit der Deutschen Ansprache. Die völkische Mystik, ­welche die nationalsozialistische Bewegung befruchtete, hatte er schon von Anfang an als atavistischen Rückschlag gegen den Vernunftglauben gedeutet. Der Tenor seiner Ansprache war ein Appell an die Vernunft auf der politischen Ebene. Dem deutschen Bürgertum wollte der Dichter die Urangst vor den Worten Marxismus und Sozialismus nehmen, mit denen, wie er meinte, Missbrauch getrieben werde. Er distanzierte sich gleich vom «orthodoxen Marxismus moskowitisch-­ kommunistischer Prägung» und schöpfte – seiner Methode treu – einen eigenen 43 Письма М. А. Алданова к И. А. и В. Н. Буниным. The New Review / Новый Журнал. Кн. 81. Нью-­Йорк 1965, c. 112. 30

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«Marxismus», den er einem demokratischen Sozialstaat gleichstellte. Ähnlich verfuhr er auch mit dem Begriff Sozialismus. Damit passte er eine Terminologie aus dem Bereich, in dem er Anfänger war, seinem Gedankensystem an und machte von eigenen Begriffsschöpfungen bei der Polemik Gebrauch. Seine Motive – in ­diesem Fall die Bekämpfung der nationalsozialistischen Ideologie – waren edel. Aber seine Argumentation muss diejenigen, die auf klare Antworten gehofft hatten, enttäuscht haben. Rund dreizehn Jahre später ließ er in Doktor Faustus Serenus Zeitblom einen bemerkenswerten Satz schreiben: «Ich liebe es nicht, wenn einer alles haben will, dem Gegner das Wort aus dem Munde nimmt, es umdreht und Begriffsverwirrung damit treibt.»44 Obwohl Thomas Manns «Sozialismus» sich von der «moskowitischen» Realität stark unterscheiden sollte, war nunmehr die Tendenz zum Vertuschen oder Verdrängen des Sowjetterrors in seinen Schriften nicht zu übersehen. Im November 1931 schrieb er an einen national-­sozialistisch beeinflussten Schriftsteller: Die nationale Idee «ist heute die bürgerlich-­reaktionäre Gegen-­Idee zum Sozialismus und weist alle Merkmale des Reaktionär-­Lebenswidrigen und Gottgeschlagenen auf: Brutalität, Geistfeindlichkeit, wüste Schmähsucht, einen tiefen, haßvollen Totschlageinstinkt, die der ultima ratio verurteilter Mächte ist. Das wirklich Junge, Revolutionäre, zukünftige haßt nicht so.»45 Thomas Mann meinte damit die gegen ihn gerichtete Hetzpropaganda in den völkischen Blättern. Nicht zuletzt aus den Werken von Schmeljow und Naschiwin müsste er erfahren haben, dass namentlich Brutalität, Geistfeindlichkeit, wüste Schmähsucht, tiefer Raub- und Totschlaginstinkt schon längst zur tagtäglichen Praxis des Sowjetstaates gehörten. Und in ­diesem Staat wurde keine bürgerlich-­ reaktionäre, sondern eine durchaus «zukunftsweisende» Idee konsequent verwirklicht. Doch je bedrohlicher die Aktivitäten der Nationalsozialisten wurden, desto weniger war Thomas Mann geneigt, Fakten über den Massenterror in der UdSSR wahrzunehmen. Im Neudruck des Essays Goethe und Tolstoi von 1932 strich er die Passage, in welcher die Revolution in Russland dem «asiatischen Chaos» zugeordnet wurde. Seine «Asiatismus»-Theorie wurde damit endgültig zu den Akten gelegt. Symbolisch für diese Entwicklung war Thomas Manns letzter Brief an Schmeljow vom 13. November 1932. Er bedankte sich beim russischen Kollegen 44 Doktor Faustus. In: GKFA, 10.1, 150 f. 45 GKFA, 23.1, 570 f. 1918 – 1933

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für die Zusendung eines neuen Buches und lobte es großzügig. Am Ende des Briefes schrieb er, dass der Ruhm Schmeljows als Dichter nicht nur durch den Ausdruck des Leidens begründet sei. Die erste Hälfte seines Lebens bestrahle diesen Ruhm mit Glück. Und «die Erinnerung an ­dieses Glück wird immer stark genug sein», diesen Ruhm von innen her zu vergolden. Das waren rührende Anerkennungsworte, aus denen Wärme und Feingefühl sprachen. Anschließend kündigte Thomas Mann einen baldigen Besuch in Paris an. Es wäre schön, fügte er hinzu, wenn Schmeljow um dieselbe Zeit dort wäre.46 Das Mittelstück des Briefes übermittelt aber eine andere Botschaft als die beiden Abschnitte, ­zwischen denen es steht. «Ich als Nichtrusse, […]», schrieb Thomas Mann, kann und darf mir kein Urteil anmassen über das heutige Russland und den gewalttätigen sozialen Versuch, den es unternommen hat. Das Lebens- und Zukunftsrecht ­dieses neuen Staats- und Gesellschaftswesens muss durch die Zeit bewiesen oder widerlegt werden. Auch müssen wir die kulturellen, die künstlerischen und dichterischen Taten abwarten, die diese neue Welt hervorbringen wird. Soviel aber ist sicher, dass das menschliche und geistige Leiden, welches durch dies Neue hervorgerufen worden ist, das höchste Anrecht auf Ausdruck besitzt, und in Ihren […] Werken, […] wird man alle Zeit den gültigen und ergreifenden Ausdruck für ­dieses Leiden erblicken.47

Schmeljow war kein Zufallsopfer der Revolution. Seine antikommunistischen Ansichten waren Ergebnis einer langen Entwicklung. Auch er hatte sich in seiner glücklichen Jugend von der revolutionären Idee berauschen lassen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde er Augenzeuge von Massenterror und Verwüstung. Sein einziger Sohn wurde auf der Krim von den «Roten» erschossen. Diese Erlebnisse brachten Schmeljow zur Überzeugung, dass die revolutionäre Idee nicht etwa von schlechten Ausführern entstellt worden, sondern grundsätzlich falsch gewesen sei. Die tragische Lebenserfahrung zog eine scharfe Trennungslinie ­zwischen Gut und Böse durch sein Weltbild, und unter das letztere fiel die Revolution samt ihren Ideen und deren Ausführern. ­Thomas Manns ausweichende Formulierung, er könne sich kein Urteil über 46 Ebenda, S. 664 f. 47 Ebenda. 32

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den gewalttätigen sozialen Versuch anmaßen, muss für Schmeljow absolut nicht nachvollziehbar gewesen sein. Den Stoff für Romane und Erzählungen, die im Exil entstanden, lieferten Schmeljow seine Erinnerungen an das vorrevolutionäre Russland. Doch wie so viele russische Emigranten lebte er von der Hoffnung, dass die Diktatur in der Heimat irgendwann vorüber sein würde. Thomas Manns nüchterne Bemerkung, dass erst die Zeit das Lebensrecht dieser Diktatur bestätigen oder widerlegen solle, muss diese Hoffnung gekränkt haben. Befremdlich wirkt – im Kontext eines Briefes an Schmeljow – auch Thomas Manns Hinweis auf die abzuwartenden kulturellen Taten der «neuen Welt». Seine Äußerung über das höchste Anrecht auf Ausdruck, das das Leiden besitzt, mündet in ein feines Kompliment für die Kunst Schmeljows. Gleichwohl klingt sie in ihrem Hauptteil wie eine Bestätigung für das, was gar nicht zur Debatte stand, und zwar für das Recht des Künstlers auf Ausdruck des Leidens. Das war der letzte Brief Thomas Manns an Schmeljow, und dass er drei Monate vor seiner schicksalhaften Abreise aus München geschrieben wurde, macht den Inhalt des Briefes umso symbolischer. Sein von liebenswürdigen Sätzen umrandetes Mittelstück war ein klarer Abschied von den «‹Weißen› Bürgern, Reaktionären, Widergeistigen» und von der moralischen Fragestellung nach den Folgen der Revolution in Russland. Thomas Mann hatte für das Leiden einzelner Opfer Verständnis und Mitgefühl, aber war nicht bereit, sich mit ihren antikommunistischen Ansichten auseinanderzusetzen. Sein Interesse für die Sowjetunion wurde immer größer, die Abneigung gegen die «moskowitische» Realität immer geringer. Am 10. Februar 1933, elf Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, verließ Thomas Mann sein Heimatland. Die Vortragsreise, die der Beginn seines Exils werden sollte, führte ihn unter anderem nach Paris. Zu einem Treffen mit Schmeljow kam es nicht. Von dieser Zeit an beschränkten sich Thomas Manns Kontakte zu Repräsentanten Exilrusslands auf einige kurze Episoden. Als Thomas Mann klar wurde, dass seine Rückkehr sich für unbestimmte Zeit verschieben musste, erlebte er den seit 1918 schlimmsten Tiefpunkt seines Lebens. Der Zufall wollte es, dass Iwan Bunin im selben Jahr an einem Höhepunkt seines Dichterlebens angelangte: Im Dezember 1933 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. In seinen Aufzeichnungen notierte er:

1918 – 1933

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Neben dem Üblichen, das alljährlich um jeden Nobelpreisträger brandet, ging mit mir kraft des Spezifischen meiner Lage, das heißt, meiner Zugehörigkeit zu jenem merkwürdigen Rußland, das heute über die ganze Welt verstreut ist, etwas vor, was vor mir keinem einzigen Preisträger der Welt geschah: Die Entscheidung Stockholms wurde für ­dieses ganze Rußland, das in all seinen Empfindungen derart erniedrigt und beleidigt war, zu einem wahrhaft nationalen Ereignis […]48

Die deutsche Erstausgabe von Arsenjews Leben erschien 1934 in Berlin.49 Dieses Hauptwerk von Bunin sollte, wie auch weitere Übersetzungen des russischen Dichters ins Deutsche, von Thomas Mann unbemerkt bleiben.

48 Iwan Bunin. Ein unbekannter Freund, S. 43. 49 Iwan Bunin. Im Anbruch der Tage. Arsenjews Leben. Deutsch von J. Steinberg und R. Candreia. Berlin: Bruno Cassirer 1934. 34

Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip». Idee und Wirklichkeit

1933 – 1939 «Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz Ich mache mich auf den Weg als ‹Sympathisierender›. Ja, ich sympathisiere von vornherein mit dem Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf Basis der Vernunft aufzubauen, und ich ging nach Moskau mit dem Wunsch, es möge ­dieses Experiment geglückt sein. Lion Feuchtwanger. Moskau 19371

Beim Treffen mit Bunin im Jahre 1926 empfand Thomas Mann «eine Art Eventualkameradschaft.»2 In Deutschland, meinte er, sei man zwar noch nicht so weit, aber unter Umständen würde auch er das Schicksal des exilrussischen Dichters teilen müssen. Die Prophezeiung ging 1933 in Erfüllung, doch die Kameradschaftsgefühle blieben aus. Für Thomas Manns Begriffe waren die Russen – bedauernswürdige, aber unumgängliche – Opfer der «zukunftsweisenden» Fortschrittsidee gewesen, er dagegen fühlte sich als Opfer einer barba­ rischen Rückschrittsidee. Vom Beginn seines Exils an setzte er sich weder im Briefwechsel noch in der Publizistik mit dem Themenkomplex Exilrussland auseinander. Auch die Nobelpreisverleihung an Bunin blieb in seinem Tagebuch unerwähnt. Wie eine blasse Erinnerung an eine versunkene Welt mutet der Eintrag an, den er im Sommer 1934 während einer Überfahrt nach Amerika machte. Er lese, hieß es, «den schönen Jugend-­Roman» Bunins, der ihn sehr anzieht. Und weiter: «Bunins Exilantentum gleicht dem meinen. Vorausgesagt in der ‹P[ariser] R[echenschaft]›.»3 Die Entwicklungen in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, wurden von den zuständigen sowjetischen Behörden aufmerksam beobachtet und registriert. Aus dem Misserfolg der Tolstoi-­Feierlichkeiten im Jahre 1928 wurden konstruktive Schlüsse gezogen. Vor allem der Umgang mit westlichen Literaten erlebte

1 Lion Feuchtwanger. Moskau 1937, S. 7. (Zit. nach der Ausgabe von 1993). 2 GKFA, 15.1, 1172 f. 3 Tb. 1933 – 1934, S. 439 (15. 06. 1934). 35

eine entscheidende Modernisierung. Ein wichtiger Schritt in dieser Richtung war die Verordnung des Politbüros der Kommunistischen Partei Über die Umgestaltung literarisch-­künstlerischer Organisationen vom April 1932. Das Politbüro konstatierte, dass proletarische literarisch-­künstlerische Organisationen, die vor einigen Jahren von der Partei gefördert worden waren, inzwischen schmalspurig wurden. Es bestünde die Gefahr, dass sich ihre Tätigkeit zu einer Art Cliquenwirtschaft ausarten könnte. Aus ­diesem Grund wurde die Auflösung der Assoziation proletarischer Schriftsteller angeordnet. Alle Autoren, w ­ elche die Plattform der Sowjetmacht unterstützten, sollten zum Verband der Sowjet­ schriftsteller vereint werden. Aus dem steifen Partei-­Kauderwelsch übersetzt lautete die Kernaussage der Verordnung so: Das System entledigte sich der nutzlos gewordenen Schreihälse und erweiterte seine Kontrolle auf das gesamte Literaturfeld. Diese neue Strategie brachte auch die Feinarbeit mit der internationalen Literaturprominenz auf ein höheres Niveau. Eine weitere Weichenstellung in diese Richtung war die Machtübernahme durch Hitler. Fortschrittsgläubige liberale Intellektuelle hatten mit der Ideologie des Nationalsozialismus grundsätzlich nichts am Hut. Vom Aufbau einer «Zukunftsgesellschaft» in der Sowjetunion waren sie dagegen von vornherein angetan. Umso abstoßender klang für sie Hitlers immer lauter werdende anti­ kommunistische Rhetorik. Nach 1933, angesichts des wachsenden Terrors in Deutschland, waren sie umso geneigter, bei Berichten über den Terror in der UdSSR beide Augen zuzudrücken. Selbst ein äußerlicher Vergleich beider «Führer» musste zum Nachteil Hitlers ausfallen: Vor dem Hintergrund seiner schrillen Theatralik wirkte die sachliche Zurückhaltung Stalins seriöser und zuverlässiger. Die Sowjetunion nutzte die Chance, um ihr Image als «Bollwerk gegen Reaktion und Faschismus» zu verstärken und neue Sympathisanten unter den Intellektuellen des Westens zu gewinnen. Thomas Mann hatte inzwischen den ersten Exilschock aufgearbeitet und versuchte, sein zusammengebrochenes Leben irgendwie neu zu strukturieren. Eine erschütternde Begriffsverwirrung wurde in seinem Vaterland zur politischen Realität: Das «kluge», «individualistische» und «kultivierte» deutsche Volk hatte sich in demokratischer Prozedur für Antidemokraten entschieden; auf der Fahne der Obskuranten standen Sozialismus und Revolution; und er, der Nationaldichter Thomas Mann, der sich zum Sozialismus bekannte, fühlte sich von seiner Nation über Bord geworfen. 36

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

Die «rückwärtsgewandte» Ideologie eroberte siegreich sein Vaterland. Und er zeigte sich daraufhin bereit, den Terror im Namen des «Fortschritts» und der «lichten Zukunft» nicht nur zu vertuschen, sondern auch zu rechtfertigen. Am 20. April 1933 schrieb er über die Machtergreifung: Diese Revolution rühmt sich ihrer Unblutigkeit, ist aber dabei die Haßerfüllteste und mordlustigste, die je da war. Ihr ganzes Wesen ist, was man sich auch einbilden möge, nicht ‹Erhebung›, Freude, Hochherzigkeit, Liebe, die immer mit vielen dem Glauben und der Menschenzukunft dargebrachten Blutopfern sich vertragen könnten, sondern Haß, Ressentiment, Rache, Gemeinheit. Sie könnte viel blutiger sein, und die Welt würde sie dennoch bewundern, wenn sie dabei schöner, heller und edelmütiger wäre. Die Welt verachtet sie, darüber ist kein Zweifel, und das Land ist isoliert.4

Auch wenn die Wortverbindung «russisches Opfer» in ­diesem Abschnitt nicht fällt, lässt er erneut an die Augenzeugen der Revolution in Russland denken. Sie hätten Thomas Mann eines Besseren belehren können, wenn sie aus seinem Gedächtnis nicht schon längst verdrängt worden wären. Die französische Revolution von ­Thomas Carlyle, auf die er sich in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen zweimal berufen hatte, wäre eine weitere Quelle, die Thomas Manns Konstruktion – allein schon durch den Bericht über die Gerberei in Meudon – zunichte gemacht hätte.5 Der Gedanke, dass sich ein ideologisch begründetes Blutvergießen mit «Schönheit», «Helligkeit» und «Edelmut» kombinieren und dadurch entschuldigen ließe, scheint ein Produkt des emotionalen Zustandes zu sein, in welchem der ratlose Neuemi­ grant sich damals befand. Als eine ernsthafte politische, geschweige denn moralische Einstellung dürfte dieser Gedanke wohl nicht infrage kommen. Die Brüder Mann waren, neben Lion Feuchtwanger, die prominentesten deutschen Schriftsteller im Exil. Jeder von ihnen geriet sogleich ins Visier der zuständigen sowjetischen Behörden. Die Feinarbeit mit den namhaften potentiellen Verbündeten der Sowjetstaates, die umgehend aktiviert wurde, erforderte viel Rücksicht und Geduld. Die neue Umgangsstrategie bewährte sich, denn schon bald konnten die ersten nennenswerten Erfolge verbucht werden. 4 Tb. 1933 – 1934, S. 54 f. 5 Thomas Carlyle. Die französische Revolution, Bd. 3, S. 305. Es handelt sich um eine Gerberei von den Häuten der Guillotinierten, aus denen «gutes Wachsleder gemacht wurde». Carlyle vergleicht das mit Kannibalismus. 1933 – 1939

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Johannes R. Becher, Vorsitzender des Bundes proletarisch-­revolutionärer Schriftsteller und exilierter Funktionär der KPD, wurde ein wichtiger Verbindungsmann ­zwischen Moskau und der deutschen Literaturprominenz. Neben­ beruflich erfüllte er bestimmte delikate Aufträge der Sowjetführung. So ­beantragte die Abteilung für Kultur und Propaganda des Leninismus am 3. August 1933 eine Auszahlung von 600 US-Dollar an Becher zwecks Reise nach Prag, in die Schweiz und nach Frankreich. Zu den Aufgaben der Reise gehörten laut Begleitschreiben: Besuche bei emigrierten deutschen Schriftstellern und Kontaktherstellung zu «sowohl revolutionären als auch linksbürgerlichen und antifaschistischen Kreisen» sowie «Gründung eines antifaschistischen deutschen Schriftstellerverbandes mit einer kommunistischen Fraktion, die diesen Verband faktisch leiten würde». Parallel oblag Becher eine eigenartig konspirativ anmutende Aufgabe, und zwar – was dies auch bedeutet haben mag – die «Organisation von Übergabepunkten für Kontakte mit Deutschland und Japan.»6 Im Dezember 1933 gemahnte Becher den Schriftsteller Ernst Ottwalt, der große Stücke auf Thomas Manns Sozialismus-­Bekenntnisse hielt, an die Reinheit der Lehre. «Wir können nicht davon sprechen», belehrte Becher seinen Kollegen, «daß wir uns rückhaltlos zu dem Sozialismus Thomas Manns bekennen, der bekanntlich ein äußerst verschwommener der SPD bzw. SPO s angenäherter Sozialist in vier Gänsefüßchen ist, und ­dieses Bekenntnis steht nicht in Widerspruch zu dem Werk von Thomas Mann, sondern ist seine notwendige schöpferische Ergänzung.»7 Gemäß der neuen Strategie der Sowjetführung wurde Becher beauftragt, sich um die Bildung einer Einheitsfront der Literaten zu bemühen. Es ging darum, alle namhaften Gegner des Hitler-­Regimes für die Sowjetunion zu gewinnen. Ideologische Finessen spielten dabei erst einmal eine untergeordnete Rolle. Im Juli 1934 schrieb Becher an denselben Adressaten: Es ist vollkommen abwegig, die Forderung aufzustellen, man müsse Th. Mann als Konterrevolutionär geißeln. Das ist ebenso falsch, wie sich rückhaltlos auf den Standpunkt des Bekenntnisses Th. Manns zum Sozialismus zu stellen. Zwischen diesen 6 Л. Максименков. Очерки номенклатурной истории советской литературы. Западные пилигримы у сталинского престола (Фейхтвангер и другие). http:// ricolor.org/history/rsv/good/lit/, c. 33. Der Verfasser bezieht sich auf die folgende Archiveinheit: РГАСПИ. Ф. 17 Оп. 114. Д. 385. Лл. 74, 74об. 7 Johannes R. Becher. Briefe, S. 170. 38

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

beiden Haltungen gibt es aber ganz bestimmte zahlreiche Nuancen, und es ist richtig, Th. Mann ernsthaft darauf aufmerksam zu machen, wohin dieser Weg führt, und ihm unseren Standpunkt entgegenzustellen – nicht aber in einer abgeklapperten hölzernen Funktionärssprache, sondern in einer Sprache, die kurz gesagt deutsch ist […]8

Kurz gesagt: um den schwierigen Künstler sollte energisch, aber mit viel Feingefühl geworben werden. Thomas Manns Bruder Heinrich war in den Augen Bechers interessanterweise «ein besonders widerspruchvoller Fall»: er bekenne sich, hieß es im gleichen Brief Bechers an Ottwalt, sowohl zur Sozialdemokratie als auch zur Revolution und zur Sowjetunion und hasse den Hitlerfaschismus. Ottwalt wurde 1936 in Moskau wegen angeblicher Spionage verhaftet und starb 1943 im sowjetischen Straflager. Im August 1934 sollte der Erste Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller stattfinden. Im Mai wurde von der obersten Stelle eine Liste der einzuladenden westlichen Literaten angeregt, auf welcher für Deutschland die Namen Bertolt Brecht, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann standen. Im Endeffekt reisten die beiden letzten doch nicht nach Moskau, aber Heinrich Mann verfasste eine Grußbotschaft, die kurz nach der Eröffnung des Kongresses in der Prawda erschien. Tragisch liest sich, was der Autor des Untertan über sein dem Nationalsozialismus unterworfenes Heimatland schrieb, denn diese Sätze passten auch auf die sowjetische Realität haargenau: «Niemandem ist dort das große und gefahrenreiche Glück erlaubt, neue Erkenntnisse zu erobern oder Leben und Menschen zu gestalten nach seinem Wissen. Es gibt nur amtlich geregeltes Denken und Träumen.»9 Die Familie Mann hatte in dem Kongress jedoch einen Repräsentanten: ­Thomas Manns Sohn Klaus reiste nach Moskau. Zu einem Programmdokument für den weiteren Umgang mit Schriftstellern des Westens wurde der Vortrag Zeitgenössische Weltliteratur und Aufgaben der proletarischen Kunst, w ­ elchen der Parteifunktionär Karl Radek am 24. August 1934 im Kongress hielt. Radek glänzte mit Wissen, indem er auf das Werk zahlreicher Schriftsteller jeweils einging und es aus kommunistischer Sicht auslegte. Einige Abschnitte seines Vortrages lassen sich mit aller Deutlichkeit als programmatische 8 Ebenda, S. 184. 9 Heinrich Mann. Essays und Publizistik, Bd. 6/1, S. 369. 1933 – 1939

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Richtlinien einordnen. Die Literatur des Westens befinde sich, so Radek, im Prozess der fortschreitenden Spaltung, und zwar in: «die Literatur des absterbenden Kapitalismus, die unumgänglich zum Faschismus abrutscht; die aufkommende proletarische Literatur und die Literatur schwankender Elemente, von ­welchen ein Teil schon auf dem Wege zu uns ist, ein anderer Teil aber beim Faschismus landen wird, wenn er seine Schwankungen nicht überwindet.»10 Einen Monat zuvor wollte Becher – ganz im Sinne dieser Charakteristik – Thomas Mann «ernsthaft darauf aufmerksam machen, wohin dieser Weg führt.»11 Mehrmals betonte Radek, dass proletarische Künstler sich die Errungenschaften der klassischen Kultur aneignen sollten und bei den großen Meistern – auch den lebenden – zu lernen hätten.12 Romain Rolland und Bernard Shaw widmete Radek lange anerkennende Passagen. James Joyce und Marcel Proust kritisierte er scharf. Die Brüder Mann erwähnte er mit keinem Wort. Klaus Mann fand seinen Vortrag «auffallend grob und ungenügend.»13 In der Resolution zum Vortrag Radeks sandte der Kongress «seinen brüderlichen Gruß an Romain Rolland, André Gide, Henri Barbusse, Bernard Shaw, Theodore Dreiser, Upton Sinclair, Heinrich Mann und Lu Xun, die tapfer ihre edle Pflicht als beste Freunde der werktätigen Menschheit erfüllen.»14 Sie alle waren im Kongress nicht zugegen. Weder Thomas Mann noch Feuchtwanger, noch Stefan Zweig wurden während des Kongresses namentlich kritisiert. Zu den brüder­lichen Gruß-­Adressaten gehörten sie ebenfalls nicht. Das dürfte ein Z ­­ eichen dafür gewesen sein, dass sie in den Augen der Sowjetführung eine besonders wertvolle vornehme Reserve bildeten, in die noch viel Feinarbeit zu investieren war. Am 20. September 1934, drei Wochen nach dem Ende des Kongresses, notierte Thomas Mann im Tagebuch: «Aus Moskau Zeitungsblatt mit einer in ihrer Art sehr guten Kongreß-­Rede Joh. R. Bechers.»15 Was kann den exilierten Literaturfürsten an der Rede eines «deutschen proletarischen Schriftstellers» angesprochen haben? Vermutlich der Umstand, dass sie neben üblichen flammenden 10 Первый всесоюзный съезд советских писателей. 1934. Стенографический отчет. Москва: Художественная литература 1934, с. 298. 11 Johannes R. Becher. Briefe, S. 184. 12 Первый всесоюзный съезд советских писателей, с. 315, 316, 318. 13 Klaus Mann. Tagebücher 1934 bis 1935, S. 55. 14 Первый всесоюзный съезд советских писателей, с. 374. 15 Tb. 1933 – 1934, S. 529. 40

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

Grüßen und Solidaritätsbekundungen auch bestimmte Kulturreferenzen aufwies. Im Unterschied zu seinen geradlinigen Literaturgenossen Friedrich Wolf und Willi Bredel, hatte Becher den Kampf gegen den Nationalsozialismus mehr aus kultureller denn aus klassenmäßiger Perspektive betrachtet. Er hatte vom wahren Deutschland, «dem unsere ungeteilte Liebe und Treue gelten», und vom Missbrauch des Weltbürgers Goethe durch «faschistische Ideologen» gesprochen. Er hatte die Passage aus Heinrich Manns Der Haß zitiert, in der es um einen künftigen Krieg Nazi-­Deutschlands gegen die Sowjetunion ging, und zwischendurch bemerkt, dass Heinrich Mann sich im Übrigen in vielerlei Hinsicht noch irre.16 Am 23. September antwortete Thomas Mann nach Moskau: Sehr geehrte Herren, ich danke Ihnen für Ihre Sendung. Die Rede Johannes R. Bechers auf dem Unionskongress der Sowjetschriftsteller habe ich mit grosser Aufmerksamkeit gelesen und finde viel Wahres und Gutes darin. Dennoch kann ich sie mir nach Standpunkt und Gesinnung nicht zu eigen machen. Ich habe mich von Deutschland nicht nach Osten, sondern in die Schweiz zurückgezogen, zum ­­Zeichen, dass ich mich schicksalmässig einer west-­europäischen Welt verbunden weiss, die dem Untergang geweiht sein mag, aber der ich Treue zu halten habe. Ich ehre die Welt des kämpfenden Kommunismus, gehöre ihr aber meiner Substanz nach nicht an und will nicht heucheln.17

Eine sympathisierende, wenn auch leicht distanzierte Stellung war aus diesen Zeilen klar herauszulesen. Die Empfänger müssen die Rückmeldung Thomas Manns als Signal für die Fortsetzung ihrer werbenden Feinarbeit verstanden haben. Becher begab sich inzwischen nach Westeuropa, wo er sich in Prag mit ­Heinrich Mann traf. Am 26. Oktober 1934 berichtete er an die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS) nach Moskau, dass Heinrich Mann «gewonnen» sei. Bechers Ausführung zufolge habe sich der Autor des Untertan bereit erklärt, mit der IVRS vielseitig zusammenzuarbeiten.18 Nicht unwichtig war Bechers Vorschlag an die Briefempfänger, einen Teil des Honorars an ­Heinrich Mann in Valuta zu übersenden. Die Sowjetunion erkannte 16 Первый всесоюзный съезд советских писателей, с. 361. 17 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. 18 Johannes R. Becher. Briefe, S. 187 f. 1933 – 1939

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nämlich das internationale Urheberrecht nicht an, so dass ausländische Autoren ihre Honorare in der UdSSR nur in Rubel, deren Ausfuhr nicht erlaubt war, bekommen konnten. Klaus Mann hatte sich während des Besuchs in Moskau um das Honorar gekümmert, das Thomas Mann für eine 1927 beim Staatsverlag erschienene Übersetzung der Buddenbrooks zustand. Er durfte über den Rubel-­ Betrag verfügen und brachte seinem Vater «allerlei hübsche Gegenstände» mit.19 Am 28. Oktober 1934 notierte Thomas Mann einen exilrussischen Besuch. Die Schriftstellerin Alja Rachmanowa und ihr Ehemann sprachen mit ihm von seiner «großen Leserschaft in Rußland».20 Alja Rachmanowa, die seit 1925 im Exil in Österreich lebte, war eine überzeugte russische Antikommunistin und Verfasserin mehrerer eindrucksvoller Bücher über die Gräueltaten der Sowjetmacht. Daher ist es kaum denkbar, dass sie Thomas Mann irgendwelche «Spezial-­Botschaften» aus Moskau zu übermitteln hatte. Und da Thomas Mann nie ­zwischen Russland und der Sowjetunion unterschied, kann man nur spekulieren, ob es sich um seine Leserschaft in Russland vor 1917 oder in der UdSSR gehandelt hat. Jedenfalls muss Thomas Mann das Gespräch mit Wohlwollen registriert haben. Weniger als eine Woche danach besuchte ihn Becher, der ihm eine Reise in die Sowjetunion in Aussicht stellte. Eine Einladung der Sowjetregierung sollte, wie es hieß, an ihn ergehen. Von d­ iesem Umstand berichtete Thomas Mann in einem neutralen Ton und ohne Kommentar. Ob er die Einladung anzunehmen oder abzulehnen beabsichtigte, steht in seinem Tagebuch nicht. Becher seinerseits meldete nach Moskau: «In der Schweiz konnte ich längere Zeit mit Thomas Mann sprechen, der außerordentlich positiv eingestellt ist […].»21 Um diese Zeit musste Klaus Mann infolge seiner Reise in die UdSSR einige Unannehmlichkeiten erfahren. Anfang November 1934 wurde er durch Deutschland ausgebürgert. Das sowjetische Visum in seinem nunmehr ungültigen Pass entsetzte die niederländische Fremdenpolizei, bei der er sich um ein entsprechendes Ersatzdokument bemühte. Klaus Mann war genötigt, sich einer langwierigen amtlichen Überprüfung unterziehen zu lassen. Sein Vater reagierte darauf nachträglich mit einer Tagebuchnotiz vom 20. Dezember: «Die 19 Hans Wysling (Hg.).Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900 – 1949 [weiter als HM–TM], S. 256. Es handelte sich um die Ausgabe: Манн Томас. Буденброки. Пер. c нем. В. С. Вальдман и М. Е. Лемберга. Москва, Ленинград: Госиздат 1927. 20 Tb. 1933 – 1934, S. 556. 21 Ebenda, S. 559 (03. 11. 1934). Becher. Briefe, S. 189. 42

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

Weltphobie gegen den Kommunismus ist absurd.»22 Den niederländischen Fremdenpass bekam Klaus Mann aber einige Tage nach dem Beginn seiner Amtsgänge trotz alledem. Einen Schlusspunkt hinter die von Becher avisierte Sache setzte ­Thomas Manns Brief an diesen vom 30. Dezember 1934. «[…] eine Einladung der Sowjet­ schriftsteller ist noch nicht eingegangen», schrieb der Umworbene. «Es hat ja aber noch keine Eile damit, da ich, wie ich Ihnen sagte, eine russische Reise erst ins Auge fassen kann, wenn ich den weitläufigen Roman hinter mir habe.»23 Die Antwort war also, wie so oft bei Thomas Mann, freundlich-­ausweichend: Gegen die Reise war er angeblich gar nicht abgeneigt, aber der Josephsroman hatte doch Vorrang. Thomas Manns Vorsicht ist in ­diesem Fall nur zu verständlich. Seine Bücher durften noch in Deutschland erscheinen. Die Situation seines Berliner Verlegers Gottfried Bermann Fischer verpflichtete den Dichter zur Zurückhaltung – um nicht zu sagen Verschwiegenheit – gegenüber dem Hitler-­Regime. Eine Reise in die Sowjetunion, die sich als «antifaschistisches Bollwerk» positionierte, hätte höchstwahrscheinlich zum Verbot seiner Bücher und zu Repressalien gegen den Fischer Verlag geführt. Ilja Ehrenburg, sowjetischer Schriftsteller und Journalist mit erstem Wohnsitz in Paris, wandte sich am 13. September 1934 an Stalin, um ein Projekt anzuregen, das allerdings ohnehin schon im Gange war. Weniger als zwei Wochen nach dem Moskauer Schriftsteller-­Kongress schlug er dem Diktator vor, «fortschrittliche Literaten» auf der Grundlage «des antifaschistischen Kampfes» und «der Unterstützung der UdSSR» zu vereinen. Stalin hatte nichts dagegen, und so wurde die Idee eines internationalen Schriftsteller-­Kongresses ins Leben gerufen. Als Tagungsort wurde Paris bestimmt.24 Die Vorbereitungsarbeit ging den Zuständigen leicht von der Hand. Im Dezember 1934 meldete Becher aus Paris die einstimmige und begeisterte Annahme dieser Idee durch den Schutzverband Deutscher Schriftsteller.25 Und schon im Januar 1935 berichtete Ehrenburg dem Literatur-­Funktionär Michail Kolzow nach Moskau von ersten Erfolgen seiner Werbetätigkeit: Aldous Huxley 22 Tb. 1933 – 1934, S. 591. 23 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 24 «Пошли толки, что деньги московские…» Письма Ильи Эренбурга Михаилу Кольцову 1935 – 1937 годов. http://magazines.russ.ru/novyi_mi/1999/3/erenburg.html. 25 Becher. Briefe, S. 192 f. 1933 – 1939

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sei «garantiert», Chesterton und Shaw s­ eien denkbar, «Thomas Mann habe ebenfalls kapituliert»,26 was zu bedeuten hatte, dass dieser für den Kongress gewonnen worden wäre. Ob das wirklich stimmte? Oder war das vielleicht nur ein Gerücht, oder machte Ehrenburg den bloßen Wunsch zum Vater des Gedankens? Thomas Manns Tagebuch enthält im Zeitraum Herbst 1934–Winter 1935 keine Hinweise auf den bevorstehenden Kongress in der französischen Hauptstadt. Andere vergleichbare Ereignisse mit seiner eventuellen Beteiligung hielt der Dichter dagegen fest. Anfang Februar 1935 wurde er informiert, dass ein Völkerbund-­Komitee, dem er angehörte, im April in Nizza tagen würde. Mitte März 1935 kam eine Nachricht aus Harvard, ­welche Thomas Mann die Verleihung eines Ehrendoktortitels ankündigte. Die Voraussetzung war seine persönliche Anwesenheit beim Festakt an der Universität am 20. Juni, d. h. just in dem Zeitraum, für den auch der Pariser Kongress geplant war.27 Den Auftritt mit einem politischen Vortrag in Nizza unterließ er kurzfristig auf Bitten des Verlegers Bermann Fischer. Das Gleiche wäre sicherlich passiert, wenn er sich hätte überzeugen lassen, am Pariser Kongress teilzunehmen. Mit dem Festakt zu seinen Ehren an der angesehenen amerikanischen Universität wollte er die Machthaber in Deutschland ärgern. Deswegen sagte er seine Anwesenheit in Harvard zu. So oder so wäre aus einer Teilnahme am Pariser Kongress nichts geworden, selbst wenn Thomas Mann ursprünglich mit dem Gedanken gespielt haben sollte, vor den Überredungskünsten Bechers oder Ehrenburgs zu «kapitulieren». Nach Paris fuhren Heinrich Mann und Klaus Mann. Der Sohn fand den Kongress im Allgemeinen missglückt.28 Der Bruder lobte die Veranstaltung in hohen Tönen und unterrichtete Thomas Mann von der Wahl ihrer beider in den Vorstand des dort gegründeten internationalen Schriftsteller-­Verbandes zur Verteidigung der Kultur. «Er sieht nicht rein kommunistisch aus», fügte er naiv hinzu.29 Becher verfasste ordnungsgemäß einen sachlichen Rechenschaftsbericht an die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller nach Moskau. «Es muß unter allen Umständen vermieden werden,» betonte er darin, «daß sowohl 26 27 28 29 44

Письма Ильи Эренбурга Михаилу Кольцову 1935 – 1937 годов. Tb. 1935 – 1936, S. 30 (06. 02. 1935), 55 (15. 03. 1935). Klaus Mann. Tagebücher 1934 bis 1935, S. 114. HM–TM, S. 248.

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Kongreß als auch die gebildete Organisation als kommunistisch denunziert werden können. Wir haben es in einigen Fällen unseren Gegnern unnötigerweise erleichtert, s­ olche Denunziationen etc. auszustreuen.»30 Die Schirmherren der Veranstaltung wollten im Schatten bleiben. Thomas Manns Reise nach Amerika im Juni/Juli 1935 war ein voller Erfolg. Einige Tage nach dem Promotionsakt an der Universität wurde er vom Präsidenten ­Roosevelt im Weißen Haus empfangen. Am nächsten Tag, dem 30. Juni, gewährte der Dichter der Washington Post ein Interview. Eine wichtige politische Stellungnahme Thomas Manns wurde in der Publikation leicht entstellt, so dass er sie in einem Brief an den Fischer-­Verlag korrigieren musste. In Moskau jedoch wurde die Zeitungsversion zur Kenntnis genommen. Das Pariser Tageblatt zitierte Anfang Juli aus der Interview-­Fassung der Washington Post: «Ich bin nicht Kommunist, aber ich bin der Meinung, daß der Kommunismus das einzige System ist, das dem Faschismus entgegengestellt werden kann. Wenn es gilt, ­zwischen Kommunismus und Faschismus zu wählen, ziehe ich den Kommunismus vor». Durch die Kombination zweier Umstände – dem persönlichen Kontakt zu einem Spitzenpolitiker und dieser wohlwollenden Stellungnahme zum Kommunismus – wird Thomas Manns Bedeutung in den Augen der Sowjet­ führung noch weiter gewachsen sein. Am 18. Juli 1935 veröffentlichte die Moskauer Deutsche Zentral-­Zeitung einen Brief Heinrich Manns, in dem er die Sowjetunion den «fortgeschrittenste[n] Staat der Welt» nannte. Am 6. August wurde seine Übersetzung in der Prawda abgedruckt. Heinrich Manns Zusammenarbeit mit Becher brachte ihm zeitgleich auch ein weiteres Erfolgserlebnis. In der mehrsprachigen Moskauer Monatszeitschrift Internationale Literatur, deren deutsche Ausgabe Becher redigierte, erschien ein Abschnitt aus dem entstehenden Roman Die Jugend des Königs Henri Quatre. Am 27. Juli 1935 berichtete Heinrich Mann seinem Bruder mit Begeisterung von einem erfreulichen Brief, den er vom Herausgeber der Internationalen Literatur erhalten hatte. Thomas Mann antwortete postwendend: «Ich bin […] besonders froh über Deine russischen Erfolge. Es ist da eben doch eine bessere Welt. Klassen­ herrschaft hin und her. Sie wollen jetzt ja auch mit den bürgerlichen Demokratien zusammenstehen gegen den Fascismus. Im Vorgefühl davon habe ich in Amerika auch so über den Kommunismus gesprochen, daß die Humanité ihre Freude 30 Becher. Briefe, S. 214 f. 1933 – 1939

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hatte. Die russische Bewunderung für Dein Werk gibt mir recht.»31 Damit sagte er seinem Bruder erstaunlicherweise genau das, was auch die Sowjet­führung zu ­diesem Zeitpunkt besonders gern von ihm gehört hätte. Schon vier Tage danach erfuhr Thomas Mann per Zufall – aus der deutschsprachigen Prager Presse –, dass Der Zauberberg, dem man in der Sowjetunion einst «wegen bourgeoiser Gesinnung das Placet verweigert[]» hatte, nun doch ins Russische übersetzt und veröffentlicht wurde.32 Es handelte sich dabei um den fünften Band seiner Gesammelten Werke, der Ausgabe mit einer etwas merkwürdigen Chronologie: der Band I mit einer Hälfte von Buddenbrooks hatte das Erscheinungsjahr 1935, die Bände IV und V enthielten Der Zauberberg und waren auf das Jahr 1934 bzw. 1935 datiert, während der zweite und dritte Band erst 1936 erschienen ist. Der Übersetzer der meisten Werke dieser Ausgabe und deren verantwortlicher Redakteur war der deutschstämmige Dichter Wilhelm Sorgenfrey. Im Allgemeinen war der Erfolg bei der «besseren Welt», den­­Thomas Mann damit verzeichnen konnte, noch gewichtiger als der seines Bruders. Das Bemühen der Sowjetführung um den exilierten Nobelpreisträger wurde immer intensiver. Thomas Mann schrieb alsbald an die Redaktion der Internationalen Literatur nach Moskau. Von seinem Sohn Klaus habe er vom Erscheinen des Zauberberg in der UdSSR erfahren und bat nun den Adressaten, das Honorar ausnahmsweise in die Schweiz zu überweisen. In der vom 21. August 1935 datierten ­Antwort wurde die Überweisung angekündigt.33 Das sich verstärkende Bemühen der Sowjets um die Brüder Mann äußerte sich auch in wiederholten Einladungen zu einem Besuch in der Sowjetunion. H ­ einrich Mann schrieb am 3. Oktober 1935 an Thomas: «[…] wenn wir uns wiedersehen könnten, würden wir vielleicht doch überlegen, ob wir die grosse, scheinbar notwendige Forschungsreise nach der Soviet-­Union gemeinsam machen sollten. Sicher erhältst auch Du häufige Aufforderungen. Eher sind es Mahnungen, und man sieht sich schon in der Schuld der Bolschewiki. Ohne sie – wo wäre überhaupt noch etwas Tatsächliches, worauf die Linke pochen kann.»34 Thomas Mann antwortete am 10. Oktober:

31 HM–TM, S. 250, 251. 32 Tb. 1935 – 1936, S. 152. 33 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 34 HM–TM, S. 255. 46

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

[…] auf meine Anfrage hat man mir jetzt sogar Geld herausgeschickt, eine ganze Menge. Das ist zweifellos eine besondere Aufmerksamkeit; und in Salzburg war ein junger in Moskau tätiger Kapellmeister, dessen dringende und lockende Aufforderungen, dort bald einen Besuch zu machen, ziemlich autorisiert wirkten. Mein Wunsch, dem Ruf zu folgen, ist denn auch sehr lebhaft. Gerade daß wir beide, sogar auch ich, sicher sein könnten, dort auf Händen getragen zu werden (und das können wir), zeigt, wie sehr die Dinge sich in letzter Zeit verschoben haben und wie sehr Rußland sich, geistig und politisch, dem Westen und der Demokratie genähert, um mit ihr zusammen dem Schädlichsten auf Erden, dem Nazitum, die Spitze zu bieten.35

Die wahre Motivation der Sowjets entging dem von ihrer «besonderen Aufmerksamkeit» geschmeichelten Autor ohne weiteres. Ihr pragmatisch begründetes Interesse an seiner Dichterperson führte er mit naiver Eitelkeit auf tiefgreifende Prozesse in der Weltpolitik zurück. In offensichtlich gehobener Stimmung schlug er dem Bruder das Frühjahr 1937 als Frist für ihre gemeinsame Reise in die UdSSR vor. Das einzige, was ihm noch Sorgen machte, waren mögliche amtliche Nachteile, die ihm ein sowjetischer Stempel im Pass in der Schweiz einbringen könnte.36 Das Erfolgserlebnis vom Juli 1935 gab der bisher etwas schüchternen Sowjet­ ophilie Heinrich Manns einen entscheidenden Impuls. Von dieser Zeit an gehörten Loblieder auf die Sowjetunion und Stalin zum festen Repertoire seiner Publizistik. Im Oktober 1935 erschien in der Neuen Weltbühne sein Artikel Stalin-­Barbusse, in dem sowohl die Stalin-­Biographie von Henri Barbusse als auch – in ihrer Nachfolge – der Diktator selbst pathetisch gerühmt wurden.37 Thomas Manns reiselustige Stimmung erlosch dagegen recht bald. Den Enthusiasmus seines Bruders zu teilen war er offenbar in Maßen und nur sporadisch bereit. Spontan und oft widersprüchlich blieben seine Äußerungen zum Thema Kommunismus und dessen Ableitungen. Am 15. November 1935 schrieb er an Heinrich Mann: «Es ist überaus nützlich und verdienstvoll, […] der bürgerlichen Welt beizubringen, daß der Fascismus eben die westliche Form des Bolschewismus ist und daß die ‹Alte Welt› nichts von ihm zu hoffen hat».38 Unklar ist, ob er das nur als taktischen Griff meinte oder aber diese Einstellung vertrat und sich damit entfernt auf seine vorgestrige «Asiatismus»-Theorie zurückbesann. Vielleicht war auch beides der Fall. 35 36 37 38

Ebenda, S. 256. Ebenda, S. 257. Heinrich Mann. Essays und Publizistik, Bd. 6/1, S. 587 bis 591. HM–TM, S. 259. 1933 – 1939

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Am 6. Dezember 1935 registrierte er den Erhalt eines Briefes, «der Heinrich, seine Haltung und Rolle, seine Verherrlichung Stalins, kurz, seine Beeinfluß­ barkeit und seinen kindlichen Mangel an Kritik betrifft». Thomas Manns einziger Kommentar zu ­diesem Brief lautete: «Darüber zu reden.»39 Er hatte lange gebraucht, um seinen Exilantenstatus als Tatsache zu verinnerlichen: Noch im Jahre 1935 beklagte er sich im Tagebuch wiederholt über Angst- und Depressionszustände. Seine aktuelle Lebenssituation förderte keinen Daueroptimismus, der ohnehin nicht seine Stärke war. Die ersten zwei Bände des Josephsromans wurden in Deutschland nach wie vor – erfolgreich – vertrieben. Bermann Fischer ermutigte ihn mit viel versprechenden Berichten und bat ihn immer wieder um politische Zurückhaltung. Die wichtigste Voraussetzung für eine Befreiung aus ­diesem Zwang ergab sich erst im Dezember 1935. Bermann Fischer erzielte eine rechtliche Vereinbarung, laut welcher er mit einem Teil seines Verlages ins Ausland auswandern durfte. Thomas Manns Bekenntnis zum Exil erfolgte kurz danach innerhalb einer öffentlichen Polemik um die deutsche Exilliteratur. Seinen offenen Brief publizierte die Neue Zürcher Zeitung am 3. Februar 1936. Eine erneute Aufforderung, die Sowjetunion zu besuchen, erreichte ­Thomas Mann genau in ­diesem durch Entscheidungsdruck schwer belasteten Zeitraum. Am 11. Januar 1936 erhielt er entsprechende Post vom Literatur-­Funktionär Michail Kolzow. Am 5. Februar versicherte er Becher: «Sobald ich frei bin von dringender Arbeit und früher eingegangenen Reise-­Verpflichtungen besuche ich die Sowjet­ union.»40 War das wieder einmal eine Ausrede oder hat er, nunmehr von der politischen Schweigepflicht erlöst, doch «kapituliert»? Seine Bedenken wegen der Loyalität gegenüber der Schweiz – genauer gesagt, wegen der Schweizer Urangst vor dem Kommunismus – blieben jedenfalls bestehen. Den Vorschlag, sich an einer Moskauer Zeitschrift zu beteiligen, lehnte er aus ­diesem Grunde ab. «Ich bin meinem Schweizer Gastland, in dem ich mich sehr gern vor Ablauf der gesetzlichen Frist einbürgern lassen möchte, gewisse Rücksichten schuldig und mag mich überhaupt, bei aller Sympathie, nicht zu ausdrücklich aufs Kommunistische festlegen lassen», schrieb er an den Bruder am 11. Februar 1936.41 Die Aussage dieser elegant-­diplomatischen Formulierung

39 Tb. 1935 – 1936, S. 217. 40 Briefe an Johannes R. Becher. 1909 – 1958 [weiter als Briefe an Becher], S. 81. 41 HM–TM, S. 263. 48

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dürfte also lauten: gegen den Kommunismus habe er eigentlich überhaupt nichts, allein die aktuellen Umstände hindern ihn an der fraglichen Beteiligung. Heinrich Mann berichtete Becher am 16. Februar von der Absage seines ­Bruders. Es selbst, hieß es, möchte wohl mitarbeiten, aber nicht als H ­ erausgeber zeichnen. «Wenn ich dies täte», erklärte er seinem getreuen Kontaktmann, «würde der deutsche Rundfunk es in alle Winde schreien. Er hält schon jetzt die bewohnte Welt über mich auf dem laufenden. Er würde demnach verbreiten, daß ich Partei­ kommunist geworden bin.»42 Heinrich Mann, der de facto schon aktiv für die Sowjetunion arbeitete, wollte offiziell seine Parteilosigkeit behalten. Des Weiteren informierte er Becher über seine Honorarvorstellungen: eine monatliche Rate von 200 Goldrubeln fände er angemessen. Der offizielle Wechselkurs der Staatsbank der UdSSR betrug am 1. April 1936 drei französische Francs pro Rubel, im Oktober desselben Jahres 4,25 Francs. Im März erhielt Heinrich Mann vom Moskauer Staatsverlag erstmals 5246,40 Francs und im Juli 7884 Francs. Von der Internationalen Literatur kamen 3720 Francs. Vergleichsweise belief sich die Jahresmiete, die er seit Herbst 1937 für eine Wohnung in Nizza zu entrichten hatte, auf 5000 Francs.43 Thomas Mann notierte am 31. März 1936 den Erhalt von 400 Rubeln.44 Diese Summe hatte einen Gegenwert von ungefähr 255 bis 260 Schweizer Franken. Zur Option einer Reise in die Sowjetunion äußerte sich Heinrich Mann, im Gegensatz zu seinem Bruder, verhalten und ausweichend. Sie wäre anstrengend und zeitraubend. Außerdem würde demnächst sein Pass ablaufen. Dennoch wolle er sich die Möglichkeit einer Reise überlegen. «Die Vorbedingung», fügte er hinzu, «wäre eine gewisse Unabhängigkeit durch besseren Erwerb.»45 Die bald darauf eingetroffenen Honorare bestätigten, dass Becher diese Botschaft richtig verstanden hatte. Thomas Manns Tagebucheinträge zum politischen Geschehen blieben spontan und emotional. Konstant war nur sein Abscheu gegen das Hitler-­Regime. Am 7. Februar 1936 ärgerte er sich über einen anonymen Schmähbrief von «jenem scheu­ßlichen Tiefstand, dem die Welt sich vielleicht ausliefern wird, und vor dem nur der Kommunismus retten kann.»46 Wenn die «bürgerliche» Welt seiner M ­ einung nach 42 43 44 45 46

Briefe an Becher, S. 85. Manfred Flügge. Traumland und Zuflucht, S. 118. Tb. 1935 – 1936, S. 284. Briefe an Becher, S. 86. Tb. 1935 – 1936, S. 254. 1933 – 1939

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Schwäche zeigte, z. B. bei Angriffen auf seine Person, reagierte er nicht selten mit Lobsprüchen für den Kommunismus. Oder er wünschte dem verhassten Nazi-­Staat alles erdenklich Böse an den Hals. Zum Spanischen Bürgerkrieg schrieb er einmal: «Barcelona scheint bolschewistisch regiert, was auch wieder nicht zu begrüßen, denn es beschwört die Reaktion herauf.»47 Die seltsame Logik dieser gedanklichen Konstruktion ist für seine politischen Sprüche dieser Zeit bezeichnend. Thomas Manns Kooperation mit der UdSSR entwickelte sich produktiv weiter. Am 4. April 1936 schrieb er «Wunsch-­Zeilen an die Sowjet-­Jugend» anlässlich des 10. Kongresses des Kommunistischen Jugendverbandes in Moskau. Am 5. April erstattete Ilja Ehrenburg, welcher, seinem Kameraden Becher gleich, ständig auf Reisen durch Europa war, Kolzow einen knappen Rapport über laufende Geschäfte: «Die Deutschen murren, daß man ihnen wenig Aufmerksamkeit schenkt. Am 10. Mai – Jahrestag des Autodafe – wird eine Kundgebung geplant mit den Franzosen, Thomas Mann und möglicherweise Renn.»48 Gab der flinke Journalist schon wieder seiner Phantasie freien Lauf? Eine internationale, kommunistisch gelenkte Kundgebung in Paris, an der Thomas Mann teilnähme, lässt sich selbst beim besten Willen schwer vorstellen. Am gleichen 5. April erhielt Thomas Mann einen Brief von Becher. Dieser bat um einen Beitrag für die Internationale Literatur oder gegebenenfalls um «einen noch unveröffentlichten Teil» aus Thomas Manns «neuen Arbeiten».49 Schon am 3. Juli 1936 notierte der Dichter das Eintreffen der Moskauer Zeitschrift mit dem Mont-­kaw-­Kapitel aus seinem Josephsroman. In der Mitte der Dreißigerjahre fand er allmählich einen Ausweg aus der ideologischen Sackgasse, in die er wegen des Versagens der Weimarer Demokratie 1933 schockartig geraten war. Seine Orientierung hieß nunmehr der neue Humanismus. Die Idee hatte wohl in der Luft gelegen. So schrieb Heinrich Mann am 28. Juli 1935 an Sergej Dinamow, einen Redakteur der Internationalen Literatur: «Darf ich hinzusetzen, mit wie viel Sympathie ich auf dem Pariser Kongress den Reden der russischen Schriftsteller gefolgt bin. Der ‹neue Humanismus›, den sie ankündigten, ist gewiss die glücklichste Wendung, die sich vollziehen kann.»50 47 Ebenda, S. 336. (22. 07. 1936). 48 Письма Ильи Эренбурга Михаилу Кольцову 1935 – 1937 годов. http://magazines. russ.ru/novyi_mi/1999/3/erenburg.html. 49 Johannes R. Becher. Briefe, S. 218. 50 Heinrich Mann. Essays und Publizistik, Bd. 6/1, S. 576 f. 50

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Im Juni 1936 sagte Thomas Mann in einer Rede in Budapest: «Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus, von der Einsicht erfüllt, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifelns sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und ohne Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf, von der Einsicht, daß er das Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht hat, sich zu wehren.»51 Die Demokratie dürfe nur Demokraten gelten, fügte er im Tagebuch hinzu, oder es sei aus mit ihr.52 Die Sowjetunion als politische Verkörperung ­dieses Humanismus wird er kaum gemeint haben. Doch sowohl er als auch sein Bruder Heinrich trugen durch ihre Äußerungen immer wieder zum Image einer antifaschistischen «autoritären Demokratie» bei, das die Sowjetunion sich bei den Intellektuellen des Westens zu schaffen suchte. Am 18. Juni 1936 starb in Moskau Maxim Gorki, dessen Essay über Leo Tolstoi Thomas Manns «Asiatismus»-Theorie stark mit beeinflusst hatte. Thomas Mann reagierte mit einem gefühlvollen Nachruf,53 welcher in der Moskauer Deutschen Zeitung abgedruckt wurde. Alle drei Ärzte, die Gorki behandelt hatten, fielen der stalinschen Terrormaschine zum Opfer. Sie wurden vorsätzlicher Falschmedikation zwecks Mordes am «großen proletarischen Schriftsteller» bezichtigt und im März 1938 erschossen. Von Zeit zu Zeit wurde Thomas Manns wohlwollend interessiertes Verhältnis zur Sowjetunion durch Dissonanzen gestört. So berichtete ihm Bernard von Brentano, Schriftsteller und vom Kommunismus enttäuschter deutscher Emigrant, Ende Juli 1936 von der Verhaftung der Kreszentia Mühsam. Sie war die Witwe des Anarchisten Erich Mühsam, der 1934 im nationalsozialistischen KZ ermordet worden war. In die Sowjetunion emigriert, wurde sie dort im April 1936 wegen Verdachts auf konterrevolutionäre Tätigkeit verhaftet. Nach dem Gespräch mit seinem Gast notierte Thomas Mann: «Brentanos Wut auf Moskau einseitig und zu krankhafter Hochachtung vorm Nazitum führend, nach ihren Begründungen immerhin ins Bewußtsein aufzunehmen.»54 Der Fall Kreszentia Mühsam beeindruckte den Dichter, der ihren Ehemann in seiner Lübecker Schulzeit flüchtig gekannt hatte. Am 1. August wandte er sich mit einem weitschweifigen Brief an Kolzow, in dem er sich auf den Entwurf der 51 52 53 54

Der Humanismus und Europa. In: GW, XIII, 635. Tb. 1935 – 1936, S. 351 (13. 08. 1936). [Zum Tode Maxim Gorki’s]. In: GW, XIII, 839. Tb. 1935 – 1936, S. 341. 1933 – 1939

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neuen Sowjet-­Verfassung berief und die Rechtmäßigkeit der Verhaftung von Kreszentia Mühsam in Frage stellte. Laut Grundgesetz, betonte er, gewähre die UdSSR solchen Personen Asyl. «Welche Bitternis für uns alle», resümierte er anschließend, «die wir in der neuen […] Verfassung das Instrument einer autoritären Demokratie erblicken möchten, wenn d­ ieses Asyl tatsächlich die Gestalt einer Gefängniszelle hätte! – » Um die Betroffene zu schützen, schilderte er sie als geistig einfach, harmlos und politisch ungefährlich. Von den anarchistischen Ideen ihres Ehemannes distanzierte er sich entschieden.55 Im November 1936 wurde die Witwe Mühsam aus dem Gefängnis entlassen, um allerdings 1938 wieder verhaftet zu werden. Die politische Person Kreszentia Mühsams mag vergleichsweise unbedeutend gewesen sein, aber ihr Schicksal war für die Verhältnisse der späteren Dreißigerjahre symptomatisch. Der Terror, der im Sowjetland seit 1917 nie aufgehört hatte, erreichte einen neuen Höhepunkt. Eigentlich handelte es sich um die Abrechnung einer Gruppierung innerhalb der kommunistischen Partei mit der anderen: Stalin entledigte sich der Konkurrenz in den eigenen Reihen, die ursprünglich nicht weniger verbrecherisch war als er selbst. Die Maßstäbe der Säuberung erschreckten aber die westeuropäische Öffentlichkeit, die – wie Schmeljow seinerzeit meinte – dem Terror sonst mit Interesse zugeschaut hatte. Thomas Mann trug am 25. August 1936 seine Bedenken zum Charakter der Geschehnisse ein. «Üble Rätsel», lautete sein Schlusskommentar.56 Das war erst der Anfang der großen Säuberung. Sie betraf dann auch Hunderttausende Menschen, die jeglicher Politik fern standen. Iwan Bunin, der 1918 – 1919 das kommunistische Blutchaos miterlebt hatte, lernte inzwischen auch die nationalsozialistische «Ordnung» kennen. Nach einer Vortragstournee in Deutschland und Prag reiste er über Nürnberg und München in die Schweiz. Am 26. Oktober 1936 wollte er die deutsch-­schweizerische Grenze bei Lindau passieren. Ohne Erklärung des Sachverhalts führte ihn der deutsche Zollbeamte in eine Zelle und riss ihm gewaltsam die Kleidung vom Körper. Diese wurde bis hin auf die Unterwäsche gründlichst untersucht. Anschließend wurde der sechsundsechzigjährige weltberühmte Schriftsteller im strömenden Regen durch die Stadt zu einem Zuchthaus geführt. Zwischendurch wurden ihm in bellendem Deutsch und ohne Dolmetscher Fragen nach seiner Tätigkeit 55 Thomas Mann. Briefe [weiter als Br.] I 1889 – 1936, S. 421 f. 56 Tb. 1935 – 1936, S. 359. 52

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gestellt. Im Zuchthaus überprüften die Beamten insgesamt drei Stunden lang jeden beschriebenen Zettel, den sein Gepäck enthielt. Am Nachmittag fand sich eine Dolmetscherin für Französisch, die ihn mit weiteren absurden Fragen bestürmte. Gegen Abend wurde er entlassen und durfte weiterreisen. In der Nacht kam der Nobelpreisträger krank in Zürich an. Einige Tage danach, immer noch fassungslos, berichtete er einer exilrussischen Zeitung von d­ iesem Vorfall.57 Am 10. November 1936 trug Thomas Mann eine erfreuliche Nachricht ins Tagebuch ein: «Brief des russischen Staatsverlages anläßlich des 19. Jahrestages der prolet. Revolution. Erscheinen meines 3. Novellenbandes, der die Sammlung auf 5 Bände bringt. Der 6. folgt. Meine Bücher ­seien sofort vergriffen.»58 Der sechste Band, der Fiorenza und Das Lied vom Kindchen enthielt, war auf das Jahr 1938 datiert. Der Name des Übersetzers und Redakteurs Wilhelm ­Sorgenfrey sollte auf seinem Vorsatz nicht mehr stehen, da dieser im selben Jahr als angeblicher Konterrevolutionär verhaftet und erschossen wurde. Nach dem erfolgreichen Besuch von André Malraux in der UdSSR im Frühjahr 1936 meldeten Kolzow und ein weiterer zuständiger Genosse an Stalin, dass im Herbst Feuchtwanger und Thomas Mann nach Moskau kommen würden.59 Im Endeffekt reiste Feuchtwanger allein. Am 23. Juli 1936, während der Vorbereitung seines Besuchs, bewilligte ihm das stalinsche Politbüro einen Zuschuss in Höhe von bis zu 5 000 US-Dollar für das Drehbuch nach seinem Roman Die Geschwister Oppenheim.60 Feuchtwanger traf am 1. Dezember 1936 in Moskau ein. Anfang Januar wurde er von Stalin empfangen und unterhielt sich mit ihm drei Stunden lang. Der Diktator machte auf den Intellektuellen einen starken und positiven Eindruck. Später schrieb dieser: «Das Volk sagt: wir lieben Stalin, und dies ist der naivste, natürlichste Ausdruck seines Einverständnisses mit den wirtschaftlichen Verhältnissen, mit dem Sozialismus, mit dem Regime.»61

57 Иван Бунин. Одесский дневник, с.  104 – 107. 58 Tb. 1935 – 1936, S. 392. 59 Л. Максименков. Очерки номенклатурной истории советской литературы. http:// ricolor.org/history/rsv/ good/lit/, c. 55. Der Verfasser bezieht sich auf die folgende Archiveinheit: РГАСПИ. Ф. 56 Оп. 1. Eд. xp. 1016. л. 13. 60 Ebenda, S. 64. Der Verfasser bezieht sich auf die folgende Archiveinheit: РГАСПИ. Ф. 17 Оп. 163. Eд. xp. 1116. лл.  119 – 120. 61 Lion Feuchtwanger. Moskau 1937, S. 58. (Zit. nach der Ausgabe von 1993). 1933 – 1939

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Abb.  5  Lion Feuchtwanger und Stalin, 1937.

Feuchtwanger durfte einer Gerichtsverhandlung beiwohnen, bei der unter anderen Radek, Parteifunktionär und Theoretiker der proletarischen Kunst von 1934, auf der Anklagebank saß. Des Schriftstellers Anfangsbedenken um die Rechtmäßigkeit des Prozesses s­ eien zergangen, hieß es später, «wie sich Salz im Wasser löst.»62 Radek wurde als angeblicher Verschwörer zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und starb 1939 in der Haft. Beim Verlassen der UdSSR am 5. Februar 1937 konnte Feuchtwanger der Versuchung nicht widerstehen, von der Grenzstation noch ein Huldigungstelegramm an Stalin zu senden. Es war wohl sein naiver und natürlicher Ausdruck des Einverständnisses mit dem Regime. Sein Reisebericht Moskau 1937 erschien im gleichen Jahr bei Querido in Amsterdam. Eine s­ olche Reise blieb den Brüdern Mann erspart. Regelmäßige Geschäftskontakte zu sowjetischen Verlagen pflegten sie jedoch weiterhin. Ende Dezember 1936 bat Becher Heinrich Mann, «einige Zeilen über die ‹Int. Literatur› zu schreiben, die wir zur Propaganda benützen können.»63 Das Wort Propaganda fiel in einem solchen Zusammenhang zum ersten Mal. An ­Thomas Mann wandte sich Becher mit der Bitte, den Bruder Heinrich für den Nobelpreis vorzuschlagen. Den Russen Bunin und Schmeljow, die vor sieben Jahren ebenfalls 62 Ebenda, S. 87. 63 Johannes R. Becher. Briefe, S. 226. 54

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versucht hatten, Thomas Mann für eine Empfehlung beim Nobelpreis-­Komitee zu gewinnen, war es dabei um eine Überlebensversicherung gegangen. Für die Sowjets, die hinter Becher standen, wäre die Verleihung des Preises an Heinrich Mann im Jubiläumsjahr ihrer Revolution ein perfekter Propaganda-­Coup. Doch die Antwort aus Zürich war bei all ihrer freundlichen Korrektheit abschlägig. Die Chancen seines Bruders auf den Nobelpreis sah Thomas Mann – wegen der geistigen Verfassung des Komitees – als sehr gering. Und ihn, Thomas Mann, würde man im Fall dieser Empfehlung auch noch als Partei betrachten.64 Aus dem Nobelpreisprojekt für Heinrich Mann wurde also nichts. Eine Enttäuschung muss für die zuständigen Stellen in Moskau die Reise ­Thomas Manns in die USA im April 1937 gewesen sein. Sein Besuch in der UdSSR ließ, trotz mehrmaliger Einladungen, immer noch auf sich warten. Nach Amerika reiste er seit dem Beginn der Exilzeit schon zum dritten Mal. Vor d­ iesem Hintergrund erwiesen sich seine mehrfachen Versprechungen, sobald wie nur möglich in die Sowjetunion zu kommen, als unverbindlich. Doch seine Aktien standen bei den Sowjets zu hoch im Kurs, als dass sie ihm diese «Nachlässigkeit» hätten verübeln wollen. Der zwanzigste Jahrestag der Oktoberrevolution sollte groß gefeiert werden. Der Redakteur des russischsprachigen Teils der Internationalen Literatur Sergej ­Dinamow bat Thomas Mann im Mai 1937 um einen Beitrag anlässlich des Jubi­ läums. «[…] sei es eine Erzählung, eine Skizze, eine Erinnerung, eine publizistische Aeußerung u. a. m.», schrieb er, «wird von uns und unseren Lesern mit grossem [sic!] und wärmster Dankbarkeit empfangen werden.»65 Thomas Mann antwortete nach Moskau, dass er eine Aufforderung, sich zum Revolutions-­Gedenktag zu äußern, schon vor einiger Zeit erhalten habe und ihr bereits nachgekommen sei. Es handelte sich um seinen Brief an den sowjetischen Schriftsteller-­Verband vom 5. April. «Sehr geehrte Herren», hieß es in dieser seitenlangen Botschaft, indem Sie ‹die Schriftsteller der Welt› auffordern, Ihnen Beiträge zu liefern für ein Sammel­werk, das Sie zum 20. Jahrestag des Bestehens der Sowjet-­Union herausgeben wollen, sind Sie sich wahrscheinlich nicht völlig im Klaren darüber, welches

64 Briefe an Becher, S. 104 f. (13. 03. 1937). 65 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 1933 – 1939

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halsbrecherische Wagnis Sie damit uns, Ihren westlichen Kollegen, zumuten. Kommunistische – was sage ich, irgendwelche sozialistische Sympathieen auch nur durchschimmern zu lassen, das bedeutet heute in Europa schlechthin das Martyrium; es bedeutet die Entfesselung eines Hasses, einer Totschlagelust und Verfolgungswut, von der Sie sich schwerlich eine Vorstellung machen, – Sie hätten sonst die naive Grausamkeit nicht, Ihre Aufforderung auch an mich ergehen zu lassen, einen Schriftsteller, der an bürgerlich-­konservativer Reputation immerhin noch Einiges zu verlieren hat.66

Glaubte er das wirklich oder passte er sich so offenkundig der Linie seines Adressaten an? In den Dreißigerjahren hatten seine Kollegen Bernard Shaw, Henri Barbusse, Emil Ludwig, Herbert Wells, Romain Rolland, André ­Malraux, Rafael Alberti, André Gide und nicht zuletzt Lion Feuchtwanger die Sowjetunion besucht. Die meisten von ihnen wurden von Stalin persönlich empfangen. Nach Westeuropa zurückgekehrt, brachten sie – mit der Ausnahme von André Gide – in ihren Schriften und Vorträgen die Faszination für den Diktator ungestört und ungeniert zum Ausdruck. In der Schweiz, wo Thomas Mann lebte, und in der Tschechoslowakei, deren Staatsbürger er 1936 geworden war, genossen die kommunistischen Parteien zwar keine große Beliebtheit, aber sie waren legal und an den Wahlen beteiligt. Im Nachbarland Frankreich war gerade der Sozialist Léon Blum Ministerpräsident. Oder übertrug Thomas Mann etwa die politischen Verhältnisse seines Heimatlandes «rhetorisch» auf das gesamte Europa? Zu seiner «bürgerlich-­konservativen Reputation» wollte er sich, wie er gleich in Anknüpfung einräumte, allerdings mit leicht ironischer Nachsicht verhalten. Und von der radikalen Traditionsfeindlichkeit des «russischen Kommunismus» sowie dessen Vorhaben, die westliche Kultur zu zerstören, habe er sich niemals ganz überzeugen können. Als Beispiel einer Traditionsfreundlichkeit der Sowjets führte er das Begehen des hundertsten Todestages von Alexander Puschkin (1799 – 1837) an. Dann ging er fließend zu seinem Beitrag über Puschkin über, der im Februar 1937 in der Prager Presse publiziert worden war. Den großen russischen Dichter, der auch in der westeuropäischen Kultur mit beheimatet war, zog Thomas Mann als Symbol für eine politische Konstruktion herbei. Es sollte sich um «neue Beziehungen der Duldung und Freundschaft ­zwischen östlichem Sozialismus und westlichem Humanismus» handeln. 66 Br. II 1937 – 1947, S.  18 – 21. 56

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Abb.  6  Romain Rolland und Stalin, 1936.

In ­diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass im Februar 1935 in Paris durch die russische Diaspora ein Puschkin-­Jubiläumskomitee gegründet worden war, dessen Mitglieder zahlreiche prominente Exilrussen waren, unter ihnen Bunin und Schmeljow sowie der Komponist Sergej Rachmaninow, der Opernsänger Fjodor Schaljapin und der Choreograph Sergej Lifar. Das Begehen des hundertsten Todestages von Puschkin in der Sowjetunion wurde vor allem als demonstratives Gegenstück und – wie im Fall des Tolstoi-­Jubiläums von 1928 – Propaganda-­Aktion gedacht. Nach ihrer bewährten Methode unternahmen die Sowjets gewaltige Anstrengungen, um sich Puschkin ideologisch anzueignen und ihn zu einem Vorreiter des Sozialismus umzudeuten. Die grobe Dissonanz der sowjetischen Puschkin-­Verehrung überhörte Thomas Mann. Im Brief an den sowjetischen Schriftsteller-­Verband vom 5. April 1937 distanzierte er sich von der kommunistischen Diktatur, stellte aber sofort klar, dass «eine Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft, im Namen von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit» sehr wohl denkbar sei. Dann machte er dem Sowjetsystem einige weitere feine Komplimente, ohne sich als sein Anhänger festzulegen. Er liebäugelte mit Klischees aus dem Propaganda-­Arsenal der Sowjets und untermauerte sie mit historischen Parallelen. Als Schlussakkord rühmte er die neue sowjetische Verfassung. 1933 – 1939

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Der Brief an den Schriftsteller-­Verband war ein Meisterwerk weltfremden Konstruierens und ausweichender Unverbindlichkeit. Das einzig Eindeutige, woran sich die Sowjets hätten festmachen können, war seine Einleitung. Aus ihr folgte, dass es in Europa angeblich ein Martyrium bedeute, kommunistische und sozialistische Sympathien zu zeigen. Alles Weitere war, trotz diskreter Anerkennung ihres Systems durch den Dichter, als Jubiläumsgruß sicherlich unbrauchbar. Vielleicht war das der wahre Grund für die erneute Bitte um einen Beitrag, w ­ elche die Internationale Literatur im Mai 1937 an ihn richtete. Thomas Mann antwortete, dass er einen anderen Vorschlag im Augenblick nicht zu machen wüsste. Er sei auch der Herausgeber einer neuen Zeitschrift und ihr verpflichtet.67 Thomas und Heinrich Manns Briefkorrespondent Sergej Dinamow blieb nicht mehr lange Redakteur. Anfang 1939 wurde er als angeblicher Konterrevolutionär verhaftet und erschossen. Das ­gleiche Schicksal erlitten auch die beiden Hauptakteure in der sowjetischen Verehrungskampagne für Puschkin: der Literat Alexander Arosew, welcher diese Kampagne als Gegenstück der exilrussischen Initiative ins Leben gerufen hatte, und der Volkskommissar für Bildung Andrej Bubnow, der sich als Umgestalter Puschkins zum Vorreiter des Sozialismus verdient gemacht hatte. Sie beide wurden 1938 als angebliche Spione hingerichtet. Am 8. Juli 1937 machte Thomas Mann eine bemerkenswerte Tagebucheintragung: «Zu Tische W. Herzog. Nachher auf der Terrasse viel über Rußland, Stalin etc. Notwendigkeit der Distanzierung. Heinrichs allzu positive Haltung. Die Wirkung des Briefwechsels.»68 Klaus Mann formulierte es schärfer: «H. M. [Heinrich Mann] den Kommunisten durchaus hörig.»69 Am gleichen Tag bekam Thomas Mann Feuchtwangers Reisebericht Moskau 1937. Seine Reaktion lautete: «Ist doch merkwürdig zu lesen». Das erste Heft der neuen Zeitschrift Mass und Wert, die Thomas Mann herausgab, erschien im September 1937. Sein Vorwort enthielt so gut wie nichts, was die Sowjets als ihren Erfolg hätten verbuchen können. Der Dichter entwarf darin für die künftigen Autoren das Programm einer konservativen Revolution (für kommunistische Ideologen ein durchaus absurder Begriff ): Es sollte nämlich 67 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 68 Tb. 1937 – 1939, S. 74. 69 Klaus Mann. Tagebücher. 1936 bis 1937, S. 144 (19. 07. 37). 58

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

«die Idee eines überpersönlichen, überparteilichen, übervölkischen Maßes und Wertes» bewahrt werden, doch das Maß selbst wäre aus keinerlei Vergangenheit ungeprüft zu übernehmen.70 Der nationalsozialistischen «Überwindung des Christentums» setzte Thomas Mann dessen zeitlose moralische Werte entgegen. Damit griff er objektiv auch den Kommunismus und insbesondere den atheis­ tischen Staat der Sowjets an. Auch Thomas Manns wohlwollender Exkurs über den Sozialismus im gleichen Vorwort kann die Leser bei der zuständigen sowjetischen Behörde nicht befriedigt haben. Diesen Begriff behandelte der Dichter, wie sonst immer, symbolisch und künstlerisch, woraus sich ein verschwommenes, mehrdeutiges und daher für die Sowjets inakzeptables Bild ihrer Staatslehre ergab. Kurz: für sie, die alle deutschen Exilprojekte mit verfolgten, war auch dieser publizistische Aufsatz Thomas Manns unbrauchbar. Allerdings war er sowieso nicht für die Sowjetunion bestimmt. Im ersten Heft von Mass und Wert war unter anderem ein Abschnitt aus ­Thomas Manns Lotte in Weimar abgedruckt. Am 16. November 1937 bat der stellvertretende Redakteur der Internationalen Literatur Timofej Rokotow den Dichter um die Einwilligung zur Publikation ­dieses Romans in seiner Zeitschrift. Thomas Mann ging davon aus, dass es sich um die deutschsprachige Redaktion handelte, und lehnte ab mit der Begründung, dass Mass und Wert einen Paralleldruck als beeinträchtigend empfinden würde. Rokotow entschuldigte sich daraufhin für eine unklare Formulierung. Er hätte eine Übersetzung von Lotte in Weimar ins Russische gemeint. Im gleichen Brief berichtete er, dass Heinrich Mann ihn auf seines Bruders neues Werk Felix Kruhl (so im Original – A. B.) aufmerksam gemacht habe, und bat Thomas Mann um die Zusendung ­dieses Buches.71 Thomas Mann schrieb zurück: Die Aufnahme von ‹Lotte in Weimar› in die russische Ausgabe der ‹Internationalen Literatur› ist mir natürlich durchaus willkommen. Nur liegt die Sache so, dass ich mich wegen einer weitläufigen Überseereise und der literarischen Vorbereitungen dazu in dem Roman, der etwa bis zur Hälfte gediehen ist, für längere Zeit werde unterbrechen müssen. […] Es hätte also vorläufig wenig Zweck, Ihnen die Anfänge zu ­schicken. Ich

70 ‹Mass und Wert›. In: GW, XII, 802. 71 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 1933 – 1939

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werde Ihnen aber seinerzeit die Maschinenabschrift oder die Korrekturfahnen des deutschen Originals zugehen lassen.72

Es war wieder einmal nichts als unverbindliche Höflichkeit. Dazu kam noch die Mitteilung von einer neuen, bereits vierten Überseereise. Andererseits waren es gerade Thomas Manns Kontakte in die obere Schicht der amerikanischen Gesellschaft, die ihn für die Sowjets besonders interessant machten. Ein Trost für den Briefempfänger war noch, dass der Dichter den bei Querido erschienenen unvoll­ endeten Felix-­Krull-­Roman mitgesandt hatte. Der stellvertretende Redakteur Timofej Rokotow wurde 1941 als angeblicher Konterrevolutionär verhaftet und 1945 erschossen. Die Vortragsreise, zu der Thomas Mann im Februar 1938 aufbrach, führte ihn durch ganz Amerika: von der Ostküste über den mittleren Westen bis nach Kalifornien. Sie hatte gewichtige Folgen für seinen kommenden Lebensabschnitt: Der Dichter knüpfte weitere Beziehungen in den einflussreichen Kreisen und beschloss, seinen Wohnsitz in die USA zu verlegen. Der Anfang der Reise stand im bedrückenden ­­Zeichen der politischen Krise, die den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 zur Folge hatte. Seit 1933 registrierte Thomas Mann jedes Versagen der Großdemokratien mit besonderer Verbitterung. «Feiges und kaltes Gerede Edens im Unterhaus», schrieb er am 17. Februar 1938 an Bord des Ozeanschiffes auf. «Grausig. Die Folgen für Prag?»73 Am 21. Februar meldete die New York Post: «Teils wegen der rauhen See und teils wegen Hitlers gestriger Rede war Dr. Thomas Mann, der deutsche Schriftsteller im Exil, etwas wacklig auf den Beinen, als er heute auf der ‹Queen Mary› ankam, um einen Vortrag ‹Vom kommenden Sieg der Demokratie› zu halten. […] Als einer der Interviewer andeutete, daß ‹Faschismus durch Kommunismus erzeugt wird›, antwortete Dr. Mann: ‹Das ist eine Lüge›, verfolgte das Thema jedoch nicht weiter.»74 Die Andeutung des Journalisten und die Reaktion Thomas Manns bildeten im Grunde den politischen Schwerpunkt seiner Vortragsreise. Während die Sowjetunion sich intensiv um ihr antifaschistisches Image bemühte, war in den 72 Ebenda. 73 Tb. 1937 – 1939, S. 178. 74 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit ­Thomas Mann 1909 – 1955, S.  234. 60

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

USA eine umgekehrte Sicht der Dinge verbreitet. Weite Gesellschaftskreise waren geneigt, im Faschismus und Nationalsozialismus einen sicheren Schutz vor der kommunistischen Gefahr zu sehen. Diesen Imagevorteil bei der «bürgerlichen Welt» wollte Thomas Mann nun den Nationalsozialisten nehmen. Darüber hatte er schon am 15. November 1935 – noch an seine «Schweigepflicht» gebunden – an den Bruder Heinrich geschrieben. Dieses Vorhaben setzte eine Stellungnahme auch zur Sowjetunion und ihrer Ideologie unumgänglich voraus. Im Vortrag Vom kommenden Sieg der Demokratie hieß es, dass der Nationalsozialismus «in entscheidender Beziehung, nämlich gerade in wirtschaft­ licher, […] nichts anderes als Bolschewismus» sei. «Es sind feindliche Brüder», sprach Th ­ omas Mann weiter, «von denen der jüngere von dem älteren, russischen, so gut wie alles gelernt hat – nur nicht das Moralische; denn sein Sozialismus ist moralisch unecht, verlogen und menschenverächterisch, aber im wirtschaftlichen Effekt läuft er auf dasselbe hinaus wie der Bolschewismus.»75 Für ein politisch bewandertes Auditorium wäre diese Argumentation nicht nachvollziehbar. Denn bei aller Ähnlichkeit des verstaatlichen Wirtschaftswesens bestand z­ wischen der UdSSR und dem Hitler-­Deutschland gerade in ­diesem Punkt ein wichtiger Unterschied: das Privateigentum war im Dritten Reich nicht grundsätzlich abgeschafft worden. Es wäre noch denkbar, dass der Dichter sich von der Friedensrhetorik der Sowjets hatte beeindrucken lassen und daher die Sowjetunion an einer anderen Stelle seines Vortrages eine Friedensmacht nannte. Diese Funktion der UdSSR habe seiner Ansicht nach eine Verstärkung der Demokratie und somit einen moralischen Vorteil bedeutet. Was aber das Moralische gewesen sein soll, was der Nationalsozialismus von seinem «Bruder» nicht gelernt hätte, blieb verborgen. Das Thema Massenterror in der Sowjetunion – ein Gebiet, auf dem die «feindliche[n] Brüder» sich ebenbürtig waren –, überging Thomas Mann taktvoll. Und so stellt sich erneut die Frage, ob er an seine für die Sowjets günstige Konstruktion tatsächlich glaubte – oder ging es ihm nur darum, das amerikanische Publikum um jeden Preis gegen den Nationalsozialismus zu beeinflussen? Jedenfalls trugen die entsprechenden Abschnitte seines Referates objektiv zu einem Image bei, an dem die Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt besonders interessiert war. Die Diffusion der Grundtermini: Sozialismus – Bolschewismus – Faschismus und eine leicht abschätzende Wertung der Sowjetwirtschaft fielen 75 Vom kommenden Sieg der Demokratie. In: GW, XI, S. 926. 1933 – 1939

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dabei sicherlich nicht so sehr ins Gewicht. In der UdSSR wusste man seinen Vortrag zu schätzen. Teile aus ihm wurden Anfang des nächsten Jahres in der Internationalen Literatur an leitender Stelle gedruckt.76 Mit gemischten Gefühlen – von der politischen Lage deprimiert und vom Erfolg der Tournee ermutigt – kehrte Thomas Mann am 7. Juli 1938 nach Zürich zurück. Die Auflösung des Haushalts und der Umzug in die USA standen ihm bevor. Am 14. September 1938 war der erste Schweizer Lebensabschnitt zu Ende. Die Manns reisten in «die neue Heimat» ab. Sie machten eine Zwischenstation in Paris, wo Thomas Mann, zusammen mit Bruder Heinrich und Tochter Erika, an einer Emigrantenkonferenz teilnahm. Am 16. September besprachen im Hotel Scribe Vertreter verschiedener deutscher Emigrantenkreise eine gemeinsame Linie des Widerstandes gegen das Hitler-­Regime. Eine große Geldspende, die es rational zu verteilen galt, stand dem Unternehmen zur Verfügung. Unversöh­ nliche Kontroversen z­ wischen Kommunisten und Sozialdemokraten brachten die Konferenz de facto zum Scheitern. Die kommunistischen Vertreter und ihre Taktik erlebte Thomas Mann zum ersten Mal unmittelbar und persönlich. Und sie erwiesen sich als politisch aufdringlich und unangenehm. Er unterzeichnete zwar wohl oder übel den gemeinsamen Aufruf, verließ aber das Hotel tief verstimmt.77 Am 29. September zogen die Manns in das neue Heim in Princeton ein. Am nächsten Tag wurde das sogenannte Münchner Abkommen über die Lösung der Sudetenkrise unterzeichnet. England und Frankreich hatten die Tschechoslowakei ausgeliefert. Die Sowjetunion kritisierte den Sachverhalt scharf. So schrieb der Autor eines Leitartikels in der Iswestija vom 3. Oktober über die unersättlichen faschistischen Kannibalen, vor denen England und Frankreich feige kapituliert hätten. Es würden, hieß es, weitere Opfer folgen. Parallel wurde die Friedenshaltung der Sowjetunion hervorgehoben. Thomas Mann reagierte auf die Geschehnisse mit dem Artikel Dieser Friede, dessen Grundbotschaft im Wesentlichen mit der Linie der UdSSR übereinstimmte. Er hatte die bürgerliche Welt schon früher vor Sympathien mit dem

76 Tb. 1937 – 1939, S. 345. (09. 01. 1939). 77 Ausführlicher darüber siehe: Klaus Harpprecht. Thomas Mann. Eine Biographie, S. 1024 f. 62

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Hitlerstaat, die auf der Angst vor der Sowjetunion beruhten, gewarnt. Konkret auf die Sudetenkrise bezogen, hatte er sich in derselben Weise im Tagebuch geäußert: «Es ist eine unfaßliche Geschlagenheit der Gehirne. Man will den Krieg nicht – er würde nicht kommen, wenn man Hitler die Stirn böte. Er könnte ihn nicht führen, es wäre sein Ende. Man will also sein Ende um keinen Preis. Warum nicht? Weil man den Bolschewismus fürchtet.»78 In Dieser Friede stellte Thomas Mann die europäische Demokratie, vor allem die Machtelite Großbritanniens, öffentlich an den Pranger. «[…] stärker als jeder dégoût vor dem Pöbel- und Gangstergeist des Nationalsozialismus», schrieb er zur Motivation ihres Verhaltens in der Sudetenkrise, vor seinem moralischen Tiefstand, seinen kulturzerrüttenden Wirkungen […] war in den kapitalistischen Demokratien des Westens der bolschewistische cauchemar, die Angst vor dem Sozialismus und vor Rußland: sie bewirkte die Selbstaufgabe der Demokratie als geistig-­politischer Position, die Anerkennung der Hitler’schen Zweiteilung der Welt in das Entweder-­Oder von Faschismus und Kommunismus und das Schutzsuchen des konservativen Europa hinter dem ‹Bollwerk› des Faschismus.

Der Frieden, resümierte Thomas Mann, hätte durch ein Zusammenwirken der westlichen Demokratien mit der Sowjetunion zum Schutze der Tschechoslowakei gerettet werden können. Das hätten jene aber nicht gewollt, weil sie den gemeinsamen Sieg mit der UdSSR und den Zusammenbruch des Faschismus nicht gewollt hätten.79 Diese Einstellung Thomas Manns entsprach der von der Sowjetführung verfolgten Image-­Linie. Des Dichters verbitterter Kommentar beschränkte sich nicht auf die Politik der Großdemokratien in der Sudetenkrise. Sein Zorn ergoss sich auch über ihr moralisches Versagen im Allgemeinen. Europa, meinte er, hätte den Sturz des Hitler-­Regimes – zur großen Enttäuschung der deutschen Emigration – gar nicht gewollt. Es hätte sich mit dem Nazismus aus Bequemlichkeit arrangiert.80 Auf eine tragisch symbolhafte Weise erinnern diese Vorwürfe an die publizis­tischen Proteste Schmeljows. In zwei Fällen hatte Thomas Mann sich mit ihnen auseinandersetzen sollen: bei der Lektüre der Sonne der Toten, 78 Tb. 1937 – 1939, S. 289 (19. 09. 1938). 79 Dieser Friede. In: GW, XII, 836, 841. 80 Ebenda, S. 832, 831 f. 1933 – 1939

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in der Schmeljow dem Westen ein interessiertes Zuschauen beim Massenterror durch die Kommunisten vorwarf, und bei der Affäre mit den geraubten russischen Kunstschätzen. Die – nicht selten wohlwollende – Nachsicht westeuropäischer Eliten gegenüber dem Sowjetregime war ein Leitmotiv der Publizistik von Schmeljow.81 Inzwischen schlug die Terrorglocke auch dem mächtigen Literatur-­Funktionär Michail Kolzow. Im Dezember 1938 wurde er als angeblicher Spion verhaftet und 1940 erschossen. Im Januar 1939 bekam Thomas Mann eine telegraphische Aufforderung der P ­ rawda, über Lenin zu schreiben. Der Diktator war am 21. Januar 1924 gestorben. Es nahte also ein Gedenktag. Thomas Mann äußerte sich gerne zu Daten und Jubiläen. Einen kleinen Beitrag, dem nicht zu entnehmen war, ob er Lenin kritisierte oder würdigte, hatte er ­diesem schon 1924 gewidmet. Der Aufforderung der Prawda folgte er aber nicht. Der Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei begann am 15. März 1939. Am 16. und 17. März wurde die Sowjetregierung vom deutschen Botschafter in Moskau, dem Grafen von der Schulenburg, über den Einschluss der Tschechei in das Deutsche Reich offiziell benachrichtigt. Am 20. März publizierte die I­ swestija die Note des sowjetischen Außenministers Maxim Litwinow, in welcher der Einschluss für illegitim erklärt wurde. In neutraler Diplomatensprache bezeichnete Litwinow ihn als Verstoß gegen das internationale Recht und die Sicherheit in Europa. Thomas Mann fand diese Note vorzüglich.82 Am 17. März äußerte er gegenüber dem Korrespondenten der St. Louis Post-­Dispatch die Vermutung, dass eine Verbindung oder gar Vereinigung Deutschlands und der Sowjetunion in zukünftigen Jahren möglich wäre. «Er gab deutlich zu verstehen», kommentierte der Journalist, «daß dies nicht sein Gefallen finden würde, aber er wies auf die äußeren Ähnlichkeiten der beiden Systeme hin, die zu so einem Ereignis führen könnten.»83 Am 3. Mai 1939 schien diese Vermutung sich wenigstens teilweise zu bewahrheiten: Litwinow trat sein Amt überraschenderweise an Wjatscheslaw Molotow ab. Da sein 81 Siehe И. С. Шмелев. Душа Родины. Сборник статей от 1924 –1950 г., c. 142, 150, 158, 216, 235. 82 Tb. 1937 – 1939, S. 377. (20. 03. 1939). 83 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  244. 64

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Rücktritt nicht, wie sonst üblich, mit Verhaftung und Hinrichtung endete, lag nahe, dass es sich nicht um ein parteiinternes Scharmützel handelte. Litwinow war jüdischer Herkunft, und seine Amtsenthebung sollte ein diplomatisches Annäherungssignal an Hitler sein. Thomas Mann trug noch am gleichen Tag ein: «Absetzung Litwinows als Radio-­Gerücht. Düstere Perspektiven, ­mögliche Nachfolge des bolschewistischen Flügels in Deutschland mit Himmler u. Bündnis mit Russland.»84 Vom 9. bis zum 11. Mai fand in New York ein Weltkongress der Schriftsteller statt, an dem unter anderem Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Alfred Döblin, Oskar Maria Graf und Klaus Mann teilnahmen. Thomas Mann trat im Kongress mit einer Ansprache auf. Er sagte sich vom Irrtum seiner Jugend, Kultur wäre antipolitisch, los. «Ich gebe zu», sprach er, «daß die Kultur in Gefahr ist, wenn ihr der Instinkt und der Wunsch fehlt, die Politik zu begreifen. […] alle Musik Deutschlands, alle seine Leistungen auf dem Gebiete des Geistes konnten es nicht vor niedrigster Huldigung an die Gewalt und Barbarei bewahren, w ­ elche die Grundlagen der westlichen Zivilisation bedrohen.»85 Diesmal war das eine Ansprache, w ­ elche auch die zuständigen Personen in der Sowjetunion gerne und vorbehaltlos unterschrieben hätten. Thomas Mann plädierte für ein politisches Engagement der Intellektuellen gegen den Faschismus und stellte dabei heraus, dass nämlich dieser, nicht aber der Bolschewismus, die westliche Zivilisation bedrohe. Des Dichters Kommentar zum Kongress lautete: «Meine Rede die einzige ernsthafte.»86 Am 17. Mai besuchte Thomas Mann den sowjetischen Pavillon in der kürzlich eröffneten Weltausstellung in New York. Er wurde vom neu ernannten bevollmächtigten Vertreter der UdSSR in den USA, Konstantin Umanskij, betreut. Dieser hatte bis 1936 die Presse- und Informationsabteilung des Außenministe­ riums (genauer: des Volkskomissariats für Auslandsangelegenheiten) geleitet und kannte die Feinarbeit mit «bürgerlichen» Literaten nicht nur vom Hörensagen. 1934 war er sogar beim Gespräch ­zwischen Stalin und Herbert Wells als vertrauter Dolmetscher eingesetzt worden. Am nachfolgenden Tag wurde Thomas Mann von einem Korrespondenten der Moskauer Nachrichtenagentur TASS interviewt. Der Dichter widmete beiden Ereignissen nur einige knappe Tagebuchzeilen. Der

84 Tb. 1937 – 1939, S. 402. 85 Ebenda, S. 897. 86 Ebenda, S. 404. 1933 – 1939

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Bericht in der sowjetischen Zeitung Sarja Wostoka vom 21. Mai 1939 war ausführlicher und aufschlussreicher. Mit Bezugnahme auf das Interview vom 18. Mai gab die Zeitung Thomas Manns Urteil wieder: Der sowjetische Pavillon macht einen wunderbaren Eindruck. Ich halte ihn für eines der schönsten Gebäude dieser Ausstellung. Anhand der ausgestellten Exponate habe ich mir ein vollständiges Bild des heutigen Rußlands gemacht. Die Abteilung für Presse, Wissen­schaft und Literatur hat mein besonderes Interesse geweckt. Ich habe die russische Literatur schon immer bewundert. Ein riesengroßes Erlebnis meiner Jugend waren die Werke der Klassiker der russischen Literatur: Puschkins, Gogols, Turgenjews, ­Tolstois und Dostojewskis. Mit großer Genugtuung stelle ich fest, daß die Sowjetregierung Werke der russischen Klassiker mit großer Liebe in beträchtlichen Stückzahlen wieder auflegen läßt. Ich bin recht froh und fühle mich geschmeichelt, auch meine Arbeiten hier zu sehen, die in der UdSSR wunderbar herausgegeben worden sind.87

Von Mal zu Mal bewährten sich die auf Thomas Mann gesetzten Hoffnungen der Sowjets. Seine in einer farblosen Amtssprache wiedergegebenen Eindrücke waren für das Image der Sowjetunion von großem Wert. Ein prominenter «bürgerlicher» Schriftsteller übermittelte den Gedanken, dass der bolschewistische Staat – entgegen einem insbesondere in Amerika gängigen Bild – nicht kulturfeindlich wäre. Rund zehn Tage davor hatte er erklärt, dass es der Faschismus sei, dem die deutsche Kultur zum Opfer gefallen war und der die westliche Zivilisation bedrohe. Auszüge aus seiner Ansprache auf dem Schriftstellerkongress wurden am 10. Juni in der Moskauer Literaturnaja Gaseta abgedruckt. Eine weitere Rede Thomas Manns verursachte jedoch einen Konflikt in den Reihen seiner kommunistischen Betreuer. Am 29. Mai 1939 hielt er sie am Hobart College in Geneva, im Bundesstaat New York. In Bezug auf den Themenkomplex Kommunismus und seine Ableitungen blieb Thomas Mann bei den Grundsätzen seiner früheren Schriften, vor allem des Vortrages Vom kommenden Sieg der Demokratie. Ihre Essenz war, dass die bürgerliche Welt im Nationalsozialismus irrtümlich einen sicheren Schutzwall vor dem Bolschewismus sah. Die beiden s­ eien aber vielmehr nur feindliche Brüder. Dem folgte ein Selbstzitat aus dem Demokratie-­Vortrag: Der deutsche Bruder hätte 87 Archiv PГАЛИ, Ф. 1397 оп. 1 ед. хр. 644. 66

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

Abb.  7  Brief von Walter Ulbricht an Georgi Dimitroff vom 2. Juli 1939.

vom anderen so gut wie alles gelernt, «nur nicht das Moralische». Den Begriff Sozialismus versah Thomas Mann, wie schon seit Jahren, mit seinem eigenen, idealisierten Inhalt.88 Der New York Times-­Bericht über diesen – eigentlich routinemäßigen – Auftritt Thomas Manns geriet ins Blickfeld bestimmter ideologisch treuer, aber politisch unerfahrener Kommunistenkreise. Sie konnten mit den Feinheiten der Mannschen «Dialektik» nicht viel anfangen, fühlten sich durch seine Äußerungen angegriffen und schlugen zurück. Die Nachrichtenagentur der Komintern in Zürich, Runag, verbreitete eine ungewohnt kritische Mitteilung über Thomas Mann. Eine entsprechende Stellungnahme folgte auch in der sozialdemokratischen Zeitschrift Neuer Vorwärts, dessen Chefredakteur Friedrich Stampfer Thomas Mann persönlich kannte. Der Dichter notierte den Angriff der Runag am 1. Juli 1939 im Tagebuch. Der KPD-Funktionär Walter Ulbricht, der ein besseres Gespür für die Prioritäten der Parteipolitik hatte als seine übereifrigen Kollegen, griff in den Konflikt ein. Am 2. Juli schrieb er an den Generalsekretär der Komintern Georgi Dimitroff: 88 Das Problem der Freiheit. In: GW, XI, S. 964 bis 968. 1933 – 1939

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Die Rede von Thomas Mann in New York, in der er an einigen Stellen Faschismus und Bolschewismus gleichstellte, hat zu Auseinandersetzungen geführt, in die m. E. eingegriffen werden muss. In der ‹Runag› Nr. 137 wird Thomas Mann als reaktionärer Ignorant und vom Grosskapital gekauftes Element bezeichnet. M. E. ist es nicht Sache der ‹Runag› in einer solchen Frage Stellung zu nehmen. Die vorliegende Stellungnahme betrachte ich jedoch als eine Provokation. Im ‹Neuen Vorwärts›, den ich heute erhielt, schreibt Stampfer einen Artikel dazu, in dem er diese Notiz der ‹Runag› ausnutzt, um die KPD zu isolieren und unser Verhältnis zu den Intellektuellen zu stören. Ich schlage vor: 1) zu untersuchen wer der Verfasser dieser Notiz in der ‹Runag› ist, welches die Motive der Veröffentlichung dieser Notiz waren und wer diese Veröffentlichung zuge­lassen hat. 2) Dem ZK der KPD zu erlauben einen Brief an Thomas Mann zu schreiben, in dem die in der ‹Runag› enthaltenen Beschimpfungen desavouiert werden. In d­ iesem Brief müsste bezug genommen werden auf das gemeinsame Ziel des Kampfes gegen den Faschismus, auf die fortschrittliche Tätigkeit von Thomas Mann und der fortschrittlichen Vertreter der deutschen Intelligenz. Es müsste gesagt werden, dass es selbstverständlich angesichts der komplizierten Fragen des antifaschistischen Kampfes über manche Probleme verschiedene Meinungen gibt, über die ein sachlicher Meinungsaustausch nützlich ist. In d­ iesem Zusammenhang müsste gesagt werden, warum wir der Meinung sind, dass bestimmte Formulierungen in seiner Rede den antifaschistischen Kampf nicht fördern, sondern geeignet sind eine Einigung der antifaschistischen Kräfte zu hindern. Der Brief muss im freundschaftlichem [sic!] Tone gehalten sein und soll sich nicht in Einzelheiten ergehen.89

Dieses Schreiben des künftigen DDR -Staatschefs war mit der Überschrift Vertraulich versehen. Es ist nichts anderes als ein Grundriss der Strategie, nach welcher die Sowjets mit Thomas Mann seit 1933 durchgehend gearbeitet haben. Des Dichters Funktion als «fortschrittlichen» Intellektuellen und Antifaschisten hatte für sie absolute Priorität. Daher sollten seine ideologischen Fehltritte stets mit Nachsicht und Taktgefühl behandelt werden. Wer gegen diese Regel verstieß, geriet in Verdacht, ein Provokateur zu sein – mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Die Sozialdemokraten wurden als Konkurrenten und Feinde betrachtet. Ulbrichts Brief scheint seine Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn 89 Archiv РГАСПИ, Ф. 495 оп. 293 д. 158. Alternative Schreibweise des Namens: Dimitrow. 68

«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

zwei Wochen danach notierte Thomas Mann: «Gestern amüsanter Brief Erikas: Moskauer Indignation über den Zürcher Angriff auf mich.»90 Er selbst hielt sich damals wieder in Europa auf. Vom Abschluss des deutsch-­ sowjetischen Nichtangriffspakts erfuhr er am 22. August in London. Am nachfolgenden Tag schrieb er ins Tagebuch: «Meine Zweifel, daß es zum Kriege ­kommen wird, bestehen fort. […] Aber die Verwirrung der moralischen Fronten ist gelungen, das Zusammengehen von Sozialismus u. Demokratie als nicht bloß konservative Freiheitswelt verhindert.»91 Klaus Manns Formulierung umschrieb das Problem, das der Pakt bei der deutschen Emigration hervorgerufen hatte: Der moralische Schock der Stalin-­Hitler-­Alliance, nachhaltiger und tiefer, als im ersten Moment geahnt… Politisch – von Stalin aus – vielleicht sehr klug. (Von Hitler: Verzweiflungs-­Akt, als ‹Triumph› frisiert.) Ideologisch niederschmetternd. Von welcher Plattform aus sollen wir nun kämpfen?92

Am Tag des Kriegsausbruchs, dem 1. September, publizierte die Prawda eine große Ansprache zur Außenpolitik, mit der Molotow am Vortage aufgetreten war. Das Abkommen z­ wischen der Sowjetunion und Deutschland, hieß es, setze der Feindschaft ­zwischen den beiden Ländern ein Ende und fördere damit den Frieden. Thomas Mann fand Molotows Statement – es handelte sich höchstwahrscheinlich um Auszüge aus dieser Rede – «recht einleuchtend».93 Der Ton der Sowjetpropaganda veränderte sich inzwischen blitzartig. Von den Faschisten war in ihren Berichten keine Rede mehr. Knapp und neutral wurde von den deutschen Truppen und ihrem Vormarsch informiert. Thomas Mann notierte am 11. September: «In Deutschland hat eine tief greifende Revolution stattgefunden, die das Land bei ‹nationaler› Allüre, nach allen älteren Begriffen von Deutschtum, völlig entnationalisiert hat. Der Nazi-­Bolschewismus hat nichts mit Deutschtum zu tun. Die neue Barbarei hat sehr natürlich den Kontakt mit dem scheinbar entgegengesetzten Rußland gefunden.»94 Auf die Idee, dass der Sowjet-­Bolschewismus noch weniger mit dem Russentum zu tun haben dürfte als angeblich sein Nazi-­ Bruder mit dem Deutschtum, ist der Dichter weder damals noch später gekommen. 90 91 92 93 94

Tb. 1937 – 1939, S. 435. (15. 07. 1939). Ebenda, S. 456. Klaus Mann. Tagebücher 1938 bis 1939, S. 128 f. Tb. 1937 – 1939, S. 463. Ebenda, S. 469. 1933 – 1939

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Ihr eigentliches Trauma erlebte die deutsche Emigration, als auch die Rote Armee am 17. September 1939 in Polen einmarschierte. Damit wurde den ins Exil geflohenen Deutschen endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen. Für die Zusammenarbeit Thomas Manns mit der Sowjetunion hatte das Bündnis der «feindlichen Brüder» eine unmittelbare Folge: sein Engagement als Antifaschist und «fortschrittlicher» Intellektueller war nicht mehr gefragt.

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«Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft». Sympathie auf Distanz

1939 – 1945 «Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg Fast 25 Jahre haben sich die Russen im Exil danach gesehnt, daß etwas – irgend etwas – geschieht, das die Bolschewiken vernichtet, – beispielsweise ein guter blutiger Krieg. Und nun diese tragische Farce. Mein inniger Wunsch, daß Rußland trotz allem Deutschland schlagen oder besser vollkommen abschaffen möge, […] heißt den Karren vor das Pferd spannen, doch das Pferd ist so abscheulich, daß ich das doch vorziehe. Vladimir Nabokov. Brief an Edmund Wilson, 18. Juli 19411

Thomas Mann kehrte Mitte September 1939 in die USA zurück. Gegen Ängste und Depression versuchte er sich mit gelegentlichen munteren Sprüchen im Tagebuch zu therapieren. Zum weiteren Verlauf der Weltpolitik stellte er fast täglich Mutmaßungen auf. Eine Erklärung für die scheinbar absurde Waffenbrüderschaft Stalins und Hitlers hoffte er in der Philosophie und Publizistik zu finden. Am 19. September las er in Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus von Nikolai Berdiajew, zwei Tage später in Europa und die Seele des Ostens von Walter Schubart, am 8. Oktober blätterte er in Boris Souvarines Stalin. Die Lektüre muss, wie so häufig bei Thomas Mann, selektiv und oberflächlich gewesen sein. Die Antworten, die er suchte, hätten ihm diese Bücher aber ohnehin nicht zu liefern vermocht. In der Studie des exilrussischen Philosophen Berdiajew konnte er vermutlich nur eine Bestätigung der gängigen und von ihm ­ eorie finden, laut welcher der Kommunismus in selbst vorbehaltlos geteilten Th Russland vom Gesamtgang der russischen Geschichte determiniert worden sei. Das Buch des exildeutschen Philosophen Schubart behandelte den «Gegensatz ­zwischen dem westlichen und dem östlichen Menschen» vor dem Hintergrund der politischen und Kulturgeschichte. Thomas Mann notierte aus Schubarts Buch nur ein Motiv: «Verhaßtheit der Deutschen». Wahrscheinlich meinte er den Titel eines Kapitels: Die Verhaßtheit der Deutschen als Kulturfrage des Abendlandes. 1 Vladimir Nabokov. Briefwechsel mit Edmund Wilson 1940 – 1971. In: Vladimir Nabokov. Gesammelte Werke, Bd. XXIII, S. 110. 71

Genauso wenig Informationen über die Hintergründe des Hitler-­Stalin-­Paktes waren auch der Stalin-­Biographie des abtrünnigen Kommunisten Souvarine zu entnehmen. Sie war zudem in englischer Sprache, die Thomas Mann nicht ausreichend beherrschte.2 Der russlandfreundliche und der UdSSR gegenüber abgeneigt stehende Walter Schubart wurde 1941 in Riga von den Sowjets verhaftet und starb ein Jahr später in einem sowjetischen Konzentrationslager. Nach dem Beginn des Weltkrieges musste die Sowjetführung den Schwerpunkt ihrer Propaganda verlagern. Es kam ihr darauf an, die überraschende Kursänderung glaubhaft zu rechtfertigen. Die Aufgabe war nicht einfach, doch den Sowjets stand sowohl die erstaunlich flexible marxistische Lehre als auch eine große Anzahl ihrer Anhänger im Westen zur Verfügung. Ihre Aktivitäten betrafen unter anderem auch die German-­American Writers Association. Am 15. Oktober 1939 erfuhr Thomas Mann von politisch motivierten Auseinandersetzungen innerhalb dieser von Oskar Maria Graf geleiteten Organisation. «Die amerikanischen Kommunisten», schrieb er auf, «für einen Münchner Frieden auf Grund der Teilung Polens. Man muß sie meiden.»3 Ein interner Konflikt, von den zu meidenden Kommunisten verursacht, ließ nicht lange auf sich warten. Am 31. Oktober hielt Molotow einen Vortrag auf der Außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR. Eine seiner Hauptthesen war die «imperialistische Aggressivität» Englands und Frankreichs in ihrem Kampf gegen Deutschland. Die linientreuen westlichen Parteimänner verstanden die Weisung und gingen mit neuem Eifer ans Werk. Ihre Tätigkeit innerhalb der German-­American Writers Association provozierte polemische Angriffe gegen den Verband, die ihrerseits Thomas Mann zu einer Stellungnahme veranlassten. Die Anschuldigung, der New Yorker Verband sei eine Agentur Stalins, wies er zurück. Es sei ihm nicht bekannt, dass irgendwelche Verbands-­Mitglieder sich im Sinne der aktuellen sowjetischen Politik geäußert, d. h. Deutschland und die UdSSR als Friedensmächte, England und Frankreich als Kriegsschuldige gekennzeichnet hätten. Im Falle einer solchen «provokante[n] Manifestation» würde er aber sein Amt als Ehrenpräsident und Verbandsmitglied niederlegen.4 2 Nikolai Berdiajew. Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus; Walter Schubart. Europa und die Seele des Ostens, siehe S. 9, 229. Boris Souvarine. Stalin. 3 Tb. 1937 – 1939, S. 489. 4 Br. II 1937 – 1947, S. 122. 72

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

Thomas Manns distanzierte Sympathie mit der Sowjetunion sank auf einen Tiefpunkt am Anfang Dezember 1939, als die Sowjets Finnland überfielen. Der einzige Faden, der ihn noch mit dem Staat Lenins und Stalins verband, war die Zeitschrift Internationale Literatur. Sie wurde ihm regelmäßig aus Moskau zugesandt. Den letzten Monat des Jahres verbrachte er in bedrückter Stimmung. Seine ­kurzen, scheinbar unbeteiligten Tagebuchkommentare zum Kriegsgeschehen – insbesondere zur Sowjetunion – zeugen von Ratlosigkeit und Bestürzung. Im Zusammenhang mit einem Artikel über die Situation in Frankreich schrieb er einen Brief an die League of American Writers. Dieser Artikel, betonte er, beweise die Abhängigkeit des internationalen Kommunismus von der sowjetischen Politik, er diene «nicht etwa sachlicher Information, sondern ist ein Akt stalinistischer Kriegssabotage, eine politische Kampfhandlung gegen die Demokratien zugunsten Hitlers und Stalins». Anschließend kündigte er seine Ehrenpräsidentschaft in der League, in deren Bulletin der Artikel erschienen war.5 Thomas Manns auf Anfang Dezember datierter Brief wirkt, trotz seines korrekten Tones, ungewöhnlich gereizt. Zum ersten Mal stellte er Stalin und Hitler in einer offiziellen Schrift auf die ­gleiche Stufe. Thomas Manns Tagebuchnotizen zu den Aktivitäten der UdSSR im zweiten Kriegsjahr bleiben kurz und machen einen resignierten Eindruck. Zwischendurch erstellte er politische Konstruktionen, bei denen der Sowjetunion meistens eine negative Rolle zugeteilt wurde.6 Im März kapitulierte Finnland. Im April wurden Dänemark und Norwegen von der Wehrmacht besetzt, im Mai waren die Nieder­lande und Belgien an der Reihe. Am 7. Juni 1940 – die Wehrmacht befand sich im Vormarsch auf Paris – veröffentlichte die deutschsprachige New Yorker Zeitschrift Aufbau ein älteres, aber aktualisiertes Interview mit Thomas Mann. Der Stalin-­Hitler-­Pakt, schrieb der Journalist des Aufbau, beschäftige und erschüttere den Dichter immer wieder. Den Wesens-­Gegensatz ­zwischen dem Bolschewismus und der sozialen Demokratie könne man, so Thomas Mann, gar nicht stark genug unterstreichen. Es sei allerdings abwegig, die Schuld für den Ausbruch des Krieges Stalin allein zu geben. Der Krieg sei schon lange in Vorbereitung durch Hitler gewesen. Vergleiche z­ wischen dem moralischen Niveau des Faschismus und Kommunismus würden immer zu Ungunsten des Faschismus ausfallen. In Sachen Verneinung der Freiheit gebe es ­zwischen ihnen freilich keinen 5 Ebenda, S. 125 bis 127. 6 Tb. 1940 – 1943, S. 38, 39, 46, 60. 1939 – 1945

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Unterschied.7 Damit wiederholte Thomas Mann – mit einer geringen Variation – die Hauptthesis seines Vortrages Vom kommenden Sieg der Demokratie. Stalins politische Person kritisierte er nicht. Am 14. Juni 1940 marschierte die Wehrmacht in Paris ein. Am 16. notierte ­Thomas Mann, dass er an Amerika nicht mehr glaube. Es sei «unterminiert, gelähmt, fallreif wie die übrige sogenannte Civilisation». Neun Tage später, gleich nach dem Waffenstillstand von Compiègne, wiederholte er düster: «Von Amerika ist nichts zu erwarten. […] Wohin soll man sich wenden?» Am 25. Juni notierte er den Erhalt eines Briefes vom Philosophen Ernst Bloch. Dieser hoffte auf Amerika und die Sowjetunion und glaubte, dass «der groteske ‹Nichtangriffspakt›» sichtlich nachlasse.8 Von Zeit zu Zeit spekulierte auch Thomas Mann über die Möglichkeit eines baldigen Konflikts ­zwischen Hitler und Stalin. Doch im Juli wurden weitere deutsch-­sowjetische Vereinbarungen getroffen, die der Dichter, wie auch sonst, scheinbar unbeteiligt zur Kenntnis nahm.9 Fehlende Informationen über den Verbleib des Bruders Heinrich und des Sohnes Golo belasteten ihn umso mehr. Im Frühsommer 1940 trat Erika Mann mit dem Federal Bureau of Investigation (FBI) in Verbindung mit dem Vorschlag, Nationalsozialisten unter den Emigran­ten zu enttarnen. Die Behörde zeigte sich nicht interessiert, legte aber eine Akte über Thomas Manns eifrige Tochter an. Mit dieser Aktion – abgesehen von früheren routinemäßigen Meldungen im Zusammenhang mit Visa und Niederlassung – beginnt die Beaufsichtigung der Familie Mann durch den US -amerikanischen Sicherheitsdienst.10 Die zuständigen Instanzen der Sowjet­ union ihrerseits hatten zumindest die beiden Schriftsteller-­Brüder schon seit langem im Visier. Heinrich Mann, dessen Frau und Golo Mann konnten den Kriegswirren entkommen. Am 13. Oktober trafen sie in New York ein. Während der Eskalation des deutsch-­englischen Krieges fand sich in Thomas Manns Tagebuch immer weniger Platz für Betrachtungen über die UdSSR. Der Tenor seiner Reflexionen blieb meistens pessimistisch, in seinen Reden und Vorträgen versuchte er, das «lahme» Amerika zu aktiveren Handlungen gegen Hitler anzutreiben. Roosevelts 7 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  258. 8 Tb. 1940 – 1943, S. 98, 104, 106. 9 Ebenda, S. 102, 114, 115; Hans Rudolf Vaget (Hg.). Thomas Mann – Agnes E. Meyer. Briefwechsel 1937 – 1955 [weiter als TM–AEM], S. 291. 10 Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 175 f. 74

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

Wiederwahl im November 1940 frischte seine Hoffnungen auf.11 Über seine Gesellschaftskontakte kümmerte er sich um notleidende deutsche Flüchtlinge, die in ihm ihren bevollmächtigten Exilbotschafter sahen. Der Tagebucheintrag vom 21. Dezember wirkt wie ein symbolhaftes Resümee des ausklingenden Jahres: «Müde u. angegriffen, wie allzu oft. Trübe Gedanken über den Gang des Krieges, den die Angst vor dem Sozialismus, auch vor einem sozialistischen England, überhaupt vor dem Sieg der ‹linken› Ideen wahrscheinlich verderben wird.»12 Die Idee eines «zukunftsweisenden», idealisierten Sozia­lismus ließ er sich nicht nehmen. Die Gedanken der Exilierten waren immer in der Heimat. Am letzten Tag des Jahres 1940, in Chicago, hielt Thomas Mann im Tagebuch fest: «Zum Sylvester-­ Abendessen bei Medi, deren Mann zurück. Champagner. […] Rede Hitlers, daß Deutschland im kommenden Jahr siegen werde». Bunin notierte am 1. Januar 1941 in Grasse: «Neujahr ‹begangen›. Für jeden ein Stückchen grau-­lilafarbene, widerliche Wurst, ein Tellerchen schleimiger Pilze mit Zwiebeln, jeweils zwei Scheibchen gebratenes, fürchterlich hartes Fleisch […]. Hörten Moskauer Rundfunk: wie immer voller Prahlerei mit allerlei Glück und Fleiß der ‹Sowjetunion› – und Tanzgedudel ohne Ende.»13 Thomas Manns gegen Ende 1939 beinahe gänzlich erloschenes Wohlwollen für die Sowjetunion lebte in der letzten Juniwoche 1941 wieder auf und erfuhr sogar einen merklichen Aufschwung. Noch Mitte Mai hatte er über «das offenbar bevorstehende Vollbündnis Hitler–Stalin» gemutmaßt. Am 21. Juni schlug die Nachricht von einer neuen Kriegswende ein. «Abendliche Sensation», schrieb Thomas Mann auf, «Kriegserklärung Hitlers an Rußland. Tolle, in ihren Folgen inkalkulable, im Wesentlichen aber doch wohl erfreuliche Wendung.»14 Sein Bruder Heinrich, der ihn am nächsten Tag besuchte, war wegen der überraschenden Entwicklung ­hellauf begeistert. Seine Begriffswelt geriet zurück in die Fugen: Die Sowjetunion stand nunmehr wieder für den antifaschistischen Kampf und die Hoffnung der Emigration, der groteske Pakt war nichtig geworden. Thomas Manns Vertrauen war da geringer. Einer Niederlage der Sowjets war er sich ziemlich sicher.15 11 12 13 14 15

Tb. 1940 – 1943, S. 175. Ebenda, S. 196. Ebenda, S. 201. Устами Буниных. Дневники, т. 3, с. 77. Tb. 1940 – 1943, S. 266, 283 f. Ebenda, S. 284. 1939 – 1945

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Nach fast zwei Jahren Funkstille machte er nun den ersten Schritt auf Moskau zu. Am 27. Juni kabelte er an die Agentur TASS: «… Das deutsche Volk muß allmählich begreifen, daß es mit ­diesem längst über und über vertragsunfähigen Abenteurer als seinem Führer und Herrn niemals Frieden gewinnen wird. Er ist der Feind der Menschheit und niemand sonst. Jeder weiß das, und sein Versuch, den Retter der Civilisation vor dem Bolschewismus zu spielen, ist kläglich gescheitert.»16 Die Zweideutigkeit des letzten Satzes muss dem Dichter entgangen sein. Aber dem Adressaten in Moskau wird er schlecht in den Ohren geklungen haben. Hitlers laut angekündigtes Vorhaben, den Bolschewismus zu zerschlagen, sorgte für Aufregung bei der russischen Emigration. Die Meinungen gingen weit auseinander: sie bewegten sich im Spannungsfeld z­ wischen der Hoffnung, Hitler könnte das Land vom kommunistischen Regime tatsächlich befreien, und der Besorgnis, dass der Sieg der Deutschen eine noch schlimmere Besatzung mit sich bringen würde. Schmeljow und Remisow, den Thomas Mann 1922 kennengelernt hatte, lebten in großer Not im okkupierten Paris. Aldanow emigrierte 1940 in die USA . Bunin hielt sich während des Krieges im südfranzösischen Grasse auf. Er brachte die Stimmung unter den Exilrussen mit der Tagebuchnotiz vom 22. Juni 1941 auf den Punkt: «Ja, nun ist es wirklich so: alles ist auf eine Karte gesetzt.»17 Der schnelle Vormarsch der Wehrmacht in der ersten Kriegsphase bestätigte vorerst Thomas Manns Prophezeiungen. Am 3. Juli 1941 schrieb er an Agnes Meyer: «Ich habe nie daran gezweifelt, dass Russland geschlagen werden würde, wenn es mit Deutschland in Krieg geriete, – was eines Tages geschehen musste. Stalin empfängt, was er verdient hat durch den schändlichen Vertrag von 39 […].»18 Zum Herbst 1941 verlangsamte sich die deutsche Offensive, und Thomas Manns Ton wechselte. Am 30. Oktober erklärte er im Interview einer amerikanischen Provinzzeitung, er sei «sehr zufrieden mit dem heroischen Widerstand der Russen gegen die totalitären Kräfte der Tyrannei und Destruktion.»19 Aus dem Kontext heraus – vorausgesetzt, der Journalist hat die Worte ­Thomas Manns korrekt wiedergegeben, – ist der Inhalt dieser Äußerung unverkennbar: der Dichter meint den Widerstand der Roten Armee gegen die Wehrmacht. Doch 16 17 18 19

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Ebenda, S. 1057. Устами Буниных. Дневники, т. 3, c. 97. TM-AEM, S. 294. Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  262 f. «Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

im Allgemeinen wirkt sie auffallend zweideutig. Für ein russisches Ohr jedenfalls bedeutete die totalitären Kräfte der Tyrannei und Destruktion, gegen ­welche die Russen kämpften, nämlich primär das Sowjetregime. Thomas Mann empfand jeden Gegner des nationalsozialistischen Deutschlands als Verbündeten und Protagonisten, Ungereimtheiten entgingen ihm dabei leicht. Die g­ leiche Zweideutigkeit tritt auch in seiner Äußerung über das Christentum zutage. «Die Lehren des Christentums», sagte er im selben Interview, «sind das Fundament unserer Zivilisation […], und die totalitäre Verwerfung der christ­ lichen Grundsätze zeigt schlagend, welcher Art diese Welt sein würde, wenn unsere animalischen Leidenschaften zügellos werden.»20 Dürfte er damit insbesondere den atheistischen Sowjetstaat mit seinem erbarmungslosen Terror gegen die ­Kirche und die Geistlichen gemeint haben? Wohl kaum. Dem Zusammenhang nach war das nur auf das Dritte Reich gemünzt. Die vergleichbar dunklen, wenn nicht noch dunkleren Seiten der Sowjetunion sollten übersehen werden, da sie gegen den gemeinsamen Feind kämpfte. Für Stalin allerdings hegte der Dichter, wie er bemerkte, keine Sympathie. Im Herbst 1941 lief der Jahresvertrag aus, den die Filmgesellschaft Warner Brothers mit Heinrich Mann geschlossen hatte. Seine wirtschaftliche Situation verschlechterte sich schlagartig. Durch die Vermittlung der German-­American Writers Association wurde der Kontakt zur Sowjetunion reaktiviert. Aus Moskau kam eine Aufforderung nach Beiträgen. Heinrich Mann erwiderte sie mit einem Brief an Becher vom 1. Oktober 1941. Er kündigte Manuskripte an, wies seinen Betreuer auf den Verlagsvertrag von 1937 und die noch ausbleibende Bezahlung hin und teilte mit, dass das sowjetische Konsulat in New York die Übermittlung übernehme.21 Die aktive Zusammenarbeit Heinrich Manns mit der UdSSR wurde somit wieder aufgenommen. Thomas Mann war ebenfalls besorgt um die wirtschaftliche Situation seines Bruders. Er erinnerte sich an seine flüchtige Bekanntschaft mit dem Sowjetbotschafter Umanskij und bat ihn um finanzielle Unterstützung für Heinrich. Der Brief war auf den 25. Oktober datiert und erreichte den Botschafter gerade beim Kofferpacken. Seine Amtszeit endete am 5. November, und er hatte nach Moskau zurückzukehren. Thomas Mann erhielt keine Antwort aus der Botschaft

20 Ebenda, S. 263. 21 Briefe an Becher, S. 148 f. 1939 – 1945

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der UdSSR. Sein erster Geschäftskontakt mit einer offiziellen Stelle des Sowjetstaates seit Mitte 1939 blieb durch Zufall ohne Ergebnis. Im Brief vom 30. Dezember 1941 empfahl Thomas Mann dem Bruder H ­ einrich 22 «ein außerordentlich interessantes Buch.» Es handelte sich um die soeben erschienene Mission to Moscow von Joseph E. Davies, der von 1937 bis 1938 der US-­Botschafter in der UdSSR gewesen war. Sein Buch war eine Sammlung von offiziellen Berichten, analytischen Schriften und Tagebuchnotizen, die in summa ein spannendes Material aus dem inneren Kreis der Diplomatie darstellte. Während seines Dienstes in Moskau erwies sich der US-Botschafter als Verehrer Stalins. Der Diktator scheint eine nahezu magische Wirkung auf westliche Intellektuelle und Politiker ausgeübt zu haben. Die Faszination für «den Führer aller Völker» bestimmt die Tendenz der Aufzeichnungen von Davies mit, die auch Thomas Manns Interesse geweckt haben. In Ausdrücken, die an ­Feuchtwangers Reisebericht von 1937 erinnern, demonstriert Davies Verständnis für Stalins harte revolutionäre Maßnahmen – sprich: Massenterror – und rühmt dessen Leistungen. Er gibt zu, dass die Sowjetunion ebenso wie Deutschland totalitär sei, sieht aber einen großen Unterschied ­zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus. Die Grundsätze des ersteren wären seiner Ansicht nach mit dem Christentum vereinbar. Das Ergebnis des Sowjetexperimentes wäre damit, wenn man es theoretisch in das christliche Wertesystem projiziert hätte, die größte Leistung des Christentums. Die Grundsätze des Nationalsozialismus ­seien dagegen mit dem Christentum unvereinbar.23 Diese Konstruktion könnte Thomas Mann gefallen haben. Ihren Autor, Joseph E. Davies, zeigt sie als eine weltfremde Person, die weder vom Kommunismus noch vom Christentum auch nur eine Ahnung hatte. Mehr noch, der Botschafter glaubte offensichtlich alles, was ihm während seiner Geschäfts­ reisen durch die Sowjetunion aufgetischt wurde. Über einige Missstände war er sich schon im Klaren, aber dass das Riesenland hinter der Schaufassade unter ganz anderen Bedingungen lebte, passte in seine Vorstellungen nicht hinein. Er ahnte nicht, dass er nur genau das sah, was er sehen sollte. Der anonyme Student, der zehn Jahre davor, sein Leben riskierend, Stefan Zweig einen Brief in die Tasche geschoben hatte, würde bei der Lektüre der Mission to Moscow nur bitter gelächelt haben. 22 HM–TM, S. 335 f. 23 Joseph E. Davies. Als USA-Botschafter in Moskau, S. 147, 155, 215, 275 f., 342, 377. 78

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

Thomas Mann war auch am nachfolgenden Tag voll des Lobes für die Memoiren des US-Ambassadors. «Ein vorzügliches Buch», schrieb er an Erich von ­Kahler, «im Wesentlichen nur seine Rapporte nach Washington und etwas Tagebuch. Aber ­welche Klarheit und Voraussicht! So hat kein anderer Diplomat über Rußland nach Hause berichtet.»24 Joseph E. Davies verließ Moskau 1938 mit gutem Gewissen und einer umfangreichen Sammlung russischer Kunst in seinem Gepäck, die er mit Hilfe der Sowjetregierung «zusammenstellen und erwerben konnte.»25 Die Widmung im Exemplar seiner Memoiren, das er 1943 Stalin übergab, ist an Ehrerbietung kaum zu übertreffen.26 Im Juni 1945 wurde Davies mit einem Lenin-­Orden ausgezeichnet. Er war der einzige ausländische Diplomat in der Geschichte der UdSSR, dem diese Ehre widerfahren ist. Konstantin Umanskij verließ Washington im November 1941. Zum neuen Botschafter der Sowjetunion in den USA wurde der ehemalige Außenminister ­Litwinow ernannt, von dessen Reden Thomas Mann in der Vorkriegszeit sehr angetan gewesen war. Am 2. Januar 1942 schrieb er Litwinow, um ihn an die unbeantwortete Fürsprache für den Bruder Heinrich zu erinnern. Zugleich regte er über seine einflussreiche Freundin Agnes Meyer eine persönliche Bekanntschaft mit dem Sowjetbotschafter an.27 Dazu kam es erst später, die finanzielle Unterstützung für Heinrich wurde aber bald bewilligt: Im April 1942 avisierte L ­ itwinow 28 3000 Rubel für Thomas Manns Bruder. Der Gegenwert dieser Summe belief sich auf ungefähr 566 US-Dollar. Die Geldmittel für den exildeutschen Schriftsteller wurden in der für die Sowjetunion schwersten Kriegsphase zügig beschafft. Diese Aktion demonstriert abermals, welch hohen Rang die Brüder Mann auf der Sympathisanten-­Liste der Sowjetführung einnahmen. In seinen Äußerungen zur Politik und Ideologie der Sowjetunion führte Thomas Mann die Linie seiner Publizistik der späteren Dreißiger fort. In der Radiobotschaft vom November 1941 sagte er seinen deutschen Hörern, dass das 24 Br. II 1937 – 1947, S. 229 f. 25 Joseph E. Davies. Als USA-Botschafter in Moskau, S. 334. 26 Siehe Л. Максименков. Очерки номенклатурной истории советской литературы. http://ricolor.org/history/rsv/ good/lit/, c. 73. 27 Hans Bürgin/Hans-­Otto Mayer. Die Briefe Thomas Manns, Bd. 2, S. 590; TM – AEM, S. 352, 436. 28 Tb. 1940 – 1943, S. 417. 1939 – 1945

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Hitler-­Regime «nur eine unvergleichlich gemeinere Abart» des Bolschewismus sei. Die reguläre Radiobotschaft vom April 1942 war dem Thema Soziale Revolution gewidmet. «Deutschland», sprach Thomas Mann über die BBC zu seinen Landsleuten, «hat im Jahre 1933 sowenig eine Revolution gehabt, wie es je eine gehabt hat. Rußland hat eine echte Revolution gehabt, und von dem Glauben an sie ist es getragen in seinem die ganze Welt zur Bewunderung hinreißenden Abwehrkampf gegen die Nazi-­Invasion.»29 In Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall. Nicht ein Glaube an die Revolution trug die Rote Armee in ihrem Kampf gegen die Wehrmacht. Die vierundzwanzigjährige Erfahrung unter dem kommunistischen Regime als Folge dieser Revolution erzeugte zuerst die Hoffnung, dass selbst der Nazi-­Einmarsch ein kleineres Übel sein würde. 1941 bis 1945 wurden ungefähr 5.754.000 Sowjet­ soldaten und -offiziere von den Deutschen gefangengenommen, zwei Drittel von ihnen bereits im Jahre 1941. Und etwa eine Million sowjetischer Kriegsgefangener – einmalig in der Geschichte – erklärte sich bereit, zusammen mit den Invasoren gegen das Stalin-­Regime zu kämpfen.30 Die Illusion verflog allerdings recht bald. Die Deutschen erwiesen sich als Eroberer, nicht aber als Befreier. Ihre Kriegsgefangenen- und Arbeitslager zeigten sich als mit denen des Gulag durchaus vergleichbar.31 Parallel korrigierte das Sowjetregime – flexibel, wie immer, wenn es ums Überleben ging – auf eine geschickte Art und Weise seine Innenpolitik. Die kommunistische Propaganda wurde leicht reduziert, Künstler und Journalisten rühmten auf einmal nicht nur «Revolutionshelden», sondern besannen sich auf manche seit 1917 verpönte Figuren und Bilder der Nationalgeschichte: Feldherren, Staatsmänner, große Schlachten. Selbst der Terrordruck auf die orthodoxe ­Kirche wurde vorübergehend eingestellt. Von den Erfahrungen mit den Invasoren und von den nunmehr durch den Sowjetstaat erweckten Hoffnungen auf einen Abbau des Kommunismus war der Abwehrkampf gegen die Nazi-­Invasion getragen.32 Thomas Mann sagte seinen deutschen Hörern das, was er unter den damaligen Umständen für richtig hielt. Aber ahnte er wenigstens die Wahrheit?

29 Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland. In: GW, XI, S. 1020, 1037. 30 Nikolai Tolstoy. Die Verratenen von Jalta, S. 44, 46, 52. 31 Ebenda, S. 49. 32 Siehe Stéphane Courtois. Das Schwarzbuch des Kommunismus, S. 238 – 239. 80

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

Aus Hass gegen das Hitler-­Regime erklärte er sich im Tagebuch manchmal für einen Anhänger von Sowjetunion und Kommunismus. Er hatte sich auch früher schon auf diese Weise abreagiert, und zwar gleich nach dem ­Ersten Weltkrieg. Damals war er angeblich bereit gewesen, den Kommunismus beinahe zu lieben, soweit dieser Entente-­feindlich sei. Nun war der Kommunismus Hitler-­ feindlich, und Thomas Mann notierte: «Das neue britische Cabinet-­Mitglied Cripps und Presse-­Äußerungen prophezeien die Vormacht-­Stellung Rußlands in Europa. Wie recht sollte mir das sein!» Einige Monate danach hieß es: «Die ‹Weltrevolution› fürchte ich nicht. Ich wäre dem Kommunismus loyal u. würde mich seiner Diktatur, wenn er die Alternative gegen den Nazismus wäre, bereitwillig, beinahe mit Freude unterwerfen.»33 Ungefähr seit Ende 1941 sah Thomas Mann von öffentlichen Äußerungen zum Kommunismus bzw. Bolschewismus ab, die der Sowjetseite missfallen oder zweideutig erscheinen könnten. Seine Erklärung für die Nachrichtenagentur TASS vom 12. Juni 1942 enthielt, im Gegensatz zum Telegramm anlässlich der Hitler-­Invasion, keine «ungeschickten» Formulierungen. Mehr noch: Neben ideologisch neutraler Hochachtung für den Kampfgeist der Roten Armee äußerte er seine Bewunderung für den «wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung ohne­ gleichen», den die UdSSR in der Vorkriegszeit erlebt hätte. Eines der größten Verbrechen Deutschlands sei es gewesen, dass es «diese stolze und hoffnungsvolle Entwicklung» unterbrochen habe. Dieser Gedanke wiederholte sich in seinem Glückwunsch an die Rote Armee vom 5. Februar 1943 fast wörtlich.34 Ob das lediglich eine rhetorische Konstruktion war oder ob der Dichter sich damit nunmehr «bereitwillig» dem ideologischen Tenor der Sowjetpropaganda anpasste, lässt sich nur vermuten. Eine scharfe Grenze z­ wischen pathetischer Rhetorik und bereitwilliger Mitarbeit kann man hier allerdings nicht ziehen. Thomas Mann bildete sich nach wie vor ein, dass die Soldaten der Roten Armee, die gegen die Wehrmacht kämpften, damit auch den Kommunismus bewusst verteidigten. Deswegen empfand er diesen bedenkenlos als Verbündeten. Ende Juli 1943 sandte Thomas Mann eine weitere Erklärung an die TASS Agentur. Sie bezog sich auf das Manifest des soeben in der UdSSR gegründeten Komitees Freies Deutschland. Das Komitee bestand aus deutschen Kriegsgefangenen und Emigranten und wurde von den sowjetischen Behörden betreut. Unter 33 Tb. 1940 – 1943, S. 401, 448. 34 Ebenda, S. 1072, 1082. 1939 – 1945

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seinen Mitgliedern waren die Literaten Becher und Weinert. Die Hauptaufgabe des Komitees war «antifaschistische Arbeit» mit Angehörigen der Wehrmacht. Thomas Mann erklärte sich mit dem Manifest einverstanden, ohne sich als klarer Fürsprecher einer durch die UdSSR betreuten Aktion festzulegen.35 Seine Stellungnahme wurde am 6. August in der Zeitung des Komitees, die ebenfalls Freies Deutschland hieß, abgedruckt. In Wirklichkeit war seine Position schwankend. Am 9. August 1943 teilte er Agnes Meyer mit, dass er eine Begrüßung dieser Manifest-­Kundgebung in der amerikanischen Presse gestoppt habe. Sie sei von einer Gruppe deutscher Schriftsteller geplant worden. An der «Spontaneität der Kriegsgefangenen-­Kundgebung» habe er gezweifelt und sie für einen politischen Schachzug der Sowjets gehalten. Die Zusammensetzung des Komitees gefalle ihm nicht, und die in der geplanten Begrüßung proklamierte scharfe Unterscheidung z­ wischen Deutschtum und Nationalsozialismus störe ihn. Diese sei ein zu weites Feld für eine Erklärung in der Presse. Die Einstellung bestimmter deutscher Links-­Sozialisten, dass Deutschland nach der Niederlage «nichts geschehen» dürfe, teile er nicht.36 Es ging ihm also um die Zukunft Deutschlands einschließlich dessen Bestrafung durch die Sieger. Das Projekt einer künftigen «starken Demokratie», hinter dem die Sowjetunion stand, erschien ihm suspekt und befremdlich. Dabei waren seine Bedenken eher politisch als ideologisch: Es war keine kommunistische Auffassung der Dinge, die er ablehnte, sondern die Perspektive einer zu milden Strafe für das zu besiegende Nazideutschland. Spekulationen über die Zukunft Deutschlands nahmen in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 zu, nachdem sich die endgültige Niederlage Hitlers abgezeichnet hatte. Für die alliierten Großmächte lief diese Frage schließlich auf Dominanz im Nachkriegseuropa hinaus. Damit bildete sich die Basis für den künftigen Kalten Krieg. Am 22. August notierte Thomas Mann ein Gespräch mit seinem Exilfreund Bruno Frank über «das schlechte Verhältnis zu Rußland, die Abberufung Litwinows und Maisky’s, den Eindruck, daß es sich kaum noch um diesen Krieg, sondern um die Vorbereitung des nächsten handelt. / Das Unmoralische, wenn Deutschland, dank seiner Zwischenstellung mit einem nur blaß-­blauen Auge davonkäme.»37

35 Ebenda, S. 1093. 36 TM–AEM, S. 503 f. 37 Tb. 1940 – 1943, S. 615 f., 616. 82

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Am 4. September nahm er zu den Spekulationen über Deutschlands Zukunft erneut im Tagebuch Stellung. Sie sei vom Westen und in der Sowjetunion ganz verschieden geplant. Von der letzteren, schrieb er, «kommen die viel ermutigenderen Aufforderungen und Versprechungen. Kapitalistische Demokratie mit starker, der Republik treuer Armee! Und wer wird sie führen? Demokratische Generäle? – Amerika dagegen sagt nur Unconditional surrender und meint Okkupation, Entmündigung, Entindustrialisierung, dauernde Entwaffnung, wahrscheinlich Zerteilung. Die Einigung wird schwer sein, u. man weiß nicht, was man wünschen soll.»38 Der Plan der Sowjets klang also unausführbar, und seine scheinbare ideologische Selbstlosigkeit machte Thomas Mann – wie auch schon die Kundgebung des Freien Deutschland – misstrauisch. Im August 1943 hatte Thomas Mann einen Vortrag für die Library of Congress in Washington vorbereitet. Die meisten Schwerpunkte des Vortrages waren schon in seiner früheren Publizistik vorhanden. Es handelte sich um die Wurzeln des Faschismus, um seine Unterstützung durch die internationale Großfinanz und -industrie, die in ihm, so Thomas Mann, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus gesehen hatten. Eine bittere Ironie lag darin, dass der Bolschewismus bzw. der Sowjetstaat – wie unter anderem Schmeljow kundgetan hatte 39 – ebenfalls von Anfang an vom westlichen Business stark unterstützt wurden. Daher trafen entsprechende Passagen des Mannschen Vortrages objektiv genauso gut auch auf die Sowjetunion zu. Eine weitere Ausführung Thomas Manns zur Hitler-­Partei, und zwar: sie sei «nur durch Intrige und Terror, durch einen Staatsstreich zur absoluten Macht gekommen», würde sogar noch viel mehr auf die Partei Lenins und ihren Machtweg passen. Den Krieg der Alliierten gegen Hitler nannte Thomas Mann – wiederum in Anknüpfung an seine früheren Schriften – «ein Mittel zum Ausgleich von Sozialismus und Demokratie, auf dem alle Hoffnung der Welt beruht». Eine gegenseitige Annäherung der Sowjetunion und der Westmächte war ihm schon seit Jahren zum Symbol einer besseren Weltzukunft geworden. Die Zukunft Deutschlands sprach er in diplomatischem Ton an, ohne auf Einzelheiten des amerikanischen und sowjetischen Plans einzugehen.40 38 Ebenda, S. 621. 39 Siehe Kapitel 1933 – 1939. «Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft», Anm. 81. 40 Schicksal und Aufgabe. In: GW, XII, 920 f., 924, 928, 931 f. 1939 – 1945

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Thomas Manns Vortrag enthielt auch eine neue Formulierung, ­welche sich die Sowjetseite nur allzu bereitwillig zunutze machte. «[…] ich bin», schrieb er, «vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, ­diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche». Im nachfolgenden Vortragsabschnitt distanzierte sich Thomas Mann höflich von der offiziellen Ideologie der Sowjetunion und berief sich auf religiöse Volksbewegungen im Spätmittelalter. Auch schon sie hätten einen kommunistischen Charakter gehabt: Erde, Wasser, Luft sollten allen gemeinsam gehören, und die Herren sollten auch um das tägliche Brot arbeiten. Diese Referenz hatte zu bedeuten, dass das kommunistische Gedankengut älter als Marx sei und in urmenschlichem Streben nach Gerechtigkeit wurzele.41 In ­diesem Abschnitt kommt Thomas Manns begriffsverwirrende Methode deutlich zum Vorschein: Er erfindet seinen eigenen «Kommunismus», mit dem er dann den realen Kommunismus in der Sowjetunion beschönigt. Den gewissen «liberalen» Freiraum, den Thomas Mann sich durch weitschweifige Betrachtungen vorbehielt, ignorierte die kommunistische Propaganda diesmal ganz eindeutig. Von der ersten Nachkriegszeit an wurde vor allem der Abschnitt mit dem Wort Grundtorheit zunächst in der sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR und weiterhin bis zur Gegenwart immer wieder gerne zitiert. Zitate wurden nicht selten abgewandelt und aus dem Kontext herausgerissen, aber auf die philologische Korrektheit kam es den Verantwortlichen nicht an. Zudem entstellte die plumpe Zuspitzung mancher Textinhalte, wie beispielsweise der Titel Der Antibolschewismus – die Grundtorheit unserer Epoche, ihren Sinn nicht wesentlich.42 Denn den Schrecken vor dem Wort Kommunismus nannte Thomas Mann unmissverständlich die Grundtorheit der Epoche. Eine Erweiterung der sozialen Rechte bezeichnete er als kommunistischen Zug, ohne den die Zukunft schwer vorstellbar sein würde. Spätmittelalterliche Religionssekten mit ihrer totalitären Gleichmacherei stilisierte er zum Zeugnis des urmenschlichen Strebens nach Gerechtigkeit, das er ebenfalls mit Kommunismus assoziierte. Kurz, Thomas Manns Vortrag hatte den Sowjets hochwertiges 41 Ebenda, S. 934 f. 42 Die Einheit. 1946. Heft 2. Berlin: Dietz Nachf., S. 105. 84

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

«Material» geliefert, das ihnen in Kombination mit seinem Namen vielseitige Verwendungsmöglichkeiten bot. Kritik kam unerwartet aus eigenen Reihen. Agnes Meyer, die er mit der Übersetzung des Vortrages betraut hatte, fand seine politische Terminologie unklar und allzu theoretisch. Eigentlich wies sie ihn – in rücksichtsvollen Ausdrücken – auf die Fragwürdigkeit seiner Methode hin. Noch spürbarer war ihre Missbilligung seiner Zukunftskonstruktion. Mit einwandfreier Logik erklärte sie ihm: «Sie deuten darauf hin, daß wir keine Angst vor dem Kommunismus haben sollten, weil die Entwicklung in diese Richtung geht: eine sehr zweifelhafte Äußerung, für die Sie keinen Beweis geben. Auf der gleichen unrealistischen Grundlage hat Anne Lindbergh den Faschismus als Modell der Zukunft gesehen.»43 Thomas Mann zog es vor, das Urteil seiner «besten Freundin» mit einem Scherz abzutun. Er mochte keine Kritik, und Agnes Meyer hatte er ohnehin im Geheimen als «jenes dumm-­tyrannische Frauenzimmer» tituliert.44 Gespräche über die Zukunft Deutschlands entwickelten sich in den USA – unter anderem im Emigrantenmilieu – zu einer breiten öffentlichen Diskussion. Am 30. November 1943, während der Konferenz von Teheran, publizierte die Cincinnati Post ein Interview mit Thomas Mann. «Deutschland», meinte er gegenüber dem Korrespondenten, «wird nicht vom Faschismus zum Kommunismus überwechseln». Es würde auf keine Weise totalitär sein. «Aber», fuhr er fort, «es wird eher eine sozialistische Demokratie als eine kapitalistische Demokratie sein. Es wird eine bessere Demokratie sein als die Weimarer Republik, weil es die moralische und physische Kraft haben wird, energisch gegen seine Feinde vorzugehen». Abschließend resümierte der Korrespondent der Cincinnati Post: Thomas Mann «glaubt, daß ganz Europa sich in linker Richtung bewegen wird. Er glaubt, daß Sowjetrußland demokratischer werden wird und daß England und die Vereinigten Staaten sich auf die Dauer nach links wenden werden. Und das ist, Dr. Mann zufolge, […] gut und nicht schlecht.»45 In Thomas Manns Tagebuchnotiz vom 4. September 1943 bezog sich die Wortverbindung kapitalistische Demokratie amüsanterweise auf den Plan der Sowjets. Der amerikanische Plan setzte Okkupation und Entmündigung voraus. Der Dichter hoffte auf einen Mittelweg z­ wischen den zwei Extremen, wobei der 43 TM–AEM, S.  516 – 518. 44 Ebenda, S. 519. Tb. 1940 – 1943, S. 433. 45 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  265 f. 1939 – 1945

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Sowjetplan auch noch allzu moderat und verdächtig selbstlos klang. Im künftigen Deutschland wünschte er seinen Traum von einer Annäherung der Sowjetunion und des Westens verwirklicht sehen. Im Allgemeinen goss sein Statement eher Wasser auf die Mühlen der Sowjets, auch wenn prosowjetisch gesinnte Emigranten, wie Bertolt Brecht, seine Position kritisierten.46 Die Wortverbindung sozialistische Demokratie gehörte fest zu ihrem ideologischen Arsenal und wurde von Thomas Mann im positiven Sinn gebraucht. Die Richtung, die er für Europa vorausgesagt hatte, wurde in weiteren Kreisen der USA mit den Sowjets assoziiert. Im nachfolgenden Jahr 1944 setzte sich Thomas Mann mit dem Thema Sowjetunion meistens im Zusammenhang mit der Zukunft Deutschlands auseinander. Sein Wunsch für die Nachkriegszeit blieb ein Ausgleich von Sozialismus und Demokratie: eine friedliche Allianz des Westens und der Sowjetunion. In welcher Form das künftige Deutschland dabei existieren sollte, war ihm noch nicht klar. Diese idealistische Vorstellung wurde von den sich überschlagenden Entwicklungen immer wieder erschüttert. Je mehr Raum die Rote Armee (zurück-)eroberte, desto größer wurden die Sorgen um die wahren Absichten der Sowjets. Wie viele liberale Intellektuelle sympathisierte Thomas Mann mit den kommunistischen Ideen, aber zog es vor, deren praktische Umsetzung mit einem Sicherheitsabstand zu beobachten. Hinzu kam noch die Befürchtung, dass die Sowjets den deutschen Patriotismus umfunktionieren und in ihren Dienst stellen würden. Wie die Tagebuchnotiz vom 20. Januar bezeugt, war er sich über ein deutsches «national-­demokratisches Reich» im Bündnis mit der Sowjetunion ziemlich sicher. «[…] und wir hier», resümierte er skeptisch, «werden nichts zu ‹erziehen› haben.»47 Ob er damit die Amerikaner oder die Emigranten meinte? Am 27. Juli äußerte er den Verdacht einer Absprache z­ wischen Deutschland und der Sowjetunion, weil deutsche Truppen an der Ostfront angeblich nicht so zäh-­fanatisch kämpften wie im Westen. An der Glaubwürdigkeit des moderaten sowjetischen Plans für die Zukunft Deutschlands hatte er bisher begründete Zweifel gehabt. Doch wohl in Anknüpfung an ihn meinte er, dass die Deutschen bereit wären, sich in die Arme der Sowjets zu werfen. Er, Thomas Mann, habe es lange als ihren einzigen Ausweg betrachtet. Aber das stehe ihnen kaum noch frei.48

46 Siehe Herbert Lehnert. Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland. 47 Tb. 1944 – 1946, S. 12. 48 Ebenda, S. 82. 86

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

Nahezu leitmotivisch hatte er immer wieder betont, dass die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten keine Revolution gewesen sei. Am 17. Juli 1944 widersprach er dann seiner eigenen These: «Man soll nicht vergessen», schrieb er auf, «und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusias­ tische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheueren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war – »49 Sein Verdacht auf eine geheime Absprache ­zwischen Hitler und Stalin bestätigte sich nicht: Am 21. August schrieb er vom Eindruck, dass die Wehrmacht sich im Osten besser wehrt und im Westen nachgibt, um keineswegs die Sowjets «als Eroberer, wenn auch als Okkupanten hereinzulassen». Am 30. Oktober notierte er, dass das Verhältnis der Sowjetunion zum Westen sich zusehends verschlechtere. «Stalin», mutmaßte der Dichter, «scheint auf eine Revolution in Deutschland mit nachfolgendem Bündnis zuzusteuern […].»50 Thomas Manns exponierte Mittstellung machte ihn zum Hoffnungsträger für verschiedene Exilgruppen und damit – ohne sein direktes Zutun – zum Teilnehmer an einem komplexen weltpolitischen Spiel. Vorschläge, die von diesen Exilgruppen kamen, und sein Verhältnis zu ihnen brachte der umworbene Dichter auf einen Nenner: «Im Laufe des Abends», schrieb er am 2. November 1943 in New York, «viel über meine Führer-­Zukunft in Deutschland, vor der mich Gott bewahre». Das US -amerikanische Außenministerium (State Departement) und die Sicherheitsdienste wurden über die Aktivitäten um Thomas Mann regelmäßig informiert. Das FBI wusste auch, dass die prokommunistische provisorische Exilregierung in Moskau ihm das Bildungsministerium anbieten wollte.51 Die Amerikaner ihrerseits waren ebenfalls nicht abgeneigt, ihn für ihre eigenen Zwecke zu benutzen. Am 8. Dezember 1944 statteten zwei Beamte des militärischen Nachrichtendienstes OSS (Office of Strategic Services) dem Dichter einen Besuch ab. In Thomas Manns Tagebuch wurde er bezeichnenderweise mit keinem Wort erwähnt. In ungezwungener Atmosphäre, beim ­Kaffee, stellten sie ihm achtzehn Fragen zu Politik, insbesondere zu seinen Vorstellungen über die Zukunft Deutschlands. Zu Frage Nummer 16 notierte der OSS-Beamte im Bericht an seinen Vorgesetzten:

49 Ebenda, S. 74. 50 Ebenda, S. 91, 119. 51 Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 117. 1939 – 1945

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In Betreff der sowjetischen Politik bezüglich Deutschlands sagte Mr. Mann Folgendes: ‹Stalin ist nicht darauf erpicht, Deutschland zu kommunisieren.› In Europa wünsche Stalin befreundete Regierungen, die nicht unbedingt kommunistisch sein sollen. ‹­ Stalin hat Angst vor einem kommunistischen Deutschland wegen Konkurrenz›, sagte er lachend. ‹Die Deutschen würden mit dem Kommunismus gründlicher sein als Rußland.› / ‹Rußland arbeitet in zwei Richtungen: sollte es einen Bruch z­ wischen West und Ost geben, so würde Rußland ein starkes Deutschland gegen den Westen benutzen; wenn aber England, die Vereinigten Staaten und Rußland vereint blieben, würde die Lage anders aussehen und Stalin würde nicht mit Deutschland arbeiten›. Mr. Mann wiederholte diese Aussage, um sicher zu gehen, daß ich sie mitbekommen hatte.

Zu Frage Nummer 7 steht im Bericht des OSS-Beamten Folgendes: «Was ein neues Deutschland betrifft, so sprach er sich für eine ‹demokratische sozialistische Republik› aus. Der Weimarer Republik fehlte es, seiner Ansicht nach, ‹an Energie und Bereitschaft, sich selbst zu verteidigen›. ‹Freiheit den Feinden der Freiheit zu geben bedeutet Freiheit mißverstehen›. Die neue Republik sollte ‹Autorität und Würde besitzen›.»52 Mit der Antwort auf die Frage Nummer 7 wiederholte er im Wesentlichen sein Statement gegenüber der Cincinnati Post vom November des vergangenen Jahres. Es ist schwer vorstellbar, dass ein OSS -Beamter die Wortverbindung demokratische sozialistische Republik im gleichen Sinne verstanden hätte, wie Thomas Mann sie gebraucht hat. Sein Misstrauen gegenüber dem sowjetischen Deutschland-­Plan scheint Mann dagegen überwunden zu haben, es sei denn, er sagte den OSS-Beamten diesbezüglich nicht das, was er wirklich dachte. Seine Begründung für Stalins angeblichen Wunsch, befreundete, aber nicht zwangsläufig kommunistische Regierungen zu stiften, klingt eher ausweichend als aufrichtig. In der Zusammenfassung des Gesprächs, die anhand des Berichts beider OSSOffiziere angefertigt wurde, fanden nur vier Punkte besondere Betonung. Keiner dieser Punkte bezog sich auf Thomas Manns Äußerungen zu Stalin, Sowjet­union und Kommunismus. Die Zusammenfassung ging nach Washington an den Leiter des OSS, William Donovan.53 Die Sowjets hatten Thomas Mann schon seit Jahren mit Sorgfalt und Rücksicht betreut. Sie sahen ihm seine gelegentlichen Fehltritte nach, denn sein Wert 52 Ebenda, S.  557 – 563. 53 Ebenda, S. 120. 88

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

als prominenter Sympathisant mit Beziehungen zur Regierungselite der USA war für sie unvergleichlich hoch. Die Amerikaner setzten ihn allem Anschein nach auf ihre Reserveliste als Mann für Eventualitäten im künftigen Spiel um Deutschland und Europa. Sein Verhältnis zu Parteien und Projekten innerhalb des Exils beobachteten sie ganz genau. Als Experte für politische Angelegenheiten interessierte er sie recht wenig. Im Memorandum der zuständigen Stelle des OSS vom 4. August 1942 stand klar und deutlich: «Hinsichtlich der Politik ist er ein Kind.»54 Den gleichen Eindruck über ihren illustren Briefkorrespondenten hatte auch Agnes Meyer. Im April 1942 schrieb sie ihm: «In Bezug auf alle Lebensfragen sind Sie, lieber Freund – verzeihen Sie – ein Kind.»55 Der weitere Verlauf des Briefes zeigt, dass sie mit Lebensfragen vor allem Politik meinte. Thomas Mann verfolgte den Vormarsch der alliierten Kräfte, registrierte im Tagebuch Kämpfe um jede deutsche Großstadt und deren Einnahme. Das Ende des Krieges nahte, aber sein Traum vom Ausgleich von Sozialismus und Demokratie rückte in weite Ferne. Der Tod des von ihm verehrten US-Präsidenten ­Roosevelt am 12. April 1945 verstärkte seine pessimistischen Ahnungen. «Es wird nicht mehr das Amerika sein, in das wir kamen», notierte er am 16. April. «Die offi­ zielle Freundwilligkeit wird fehlen». Einige Tage vor der Kapitulation des Dritten Reichs zeigte er sich wegen des bevorstehenden Wettstreits um den Wiederaufbau Deutschlands zusehends besorgt. Ein Vernichtungskrieg der Zukunft sei, meinte er, so gut wie gewiss.56 Am 8. Mai legte die Wehrmacht die Waffen nieder. «Außergewöhnlicher und ermüdender Tag», hieß es in Thomas Manns Tagebuch. «Abends franz. Champagner zur Feier des VE -days.»57 Bis zur Verdammung der Taten des Nationalsozialismus, die er bei dem deutschen Volk so schmerzlich vermisste, war noch ein weiter Weg. Er hat nur seinen Anfang miterlebt. Aber er konnte wenigstens sein Heimatland von der Hitler-­Diktatur befreit wissen. Anders war die Situation der Exilrussen. Ihr Heimatland befand sich nach wie vor unter der Herrschaft der Stalin-­Diktatur, deren weltweites Prestige durch den Sieg über Hitler auch noch enorm gewachsen war. Wie zu Beginn des Krieges war die russische Emigration gespalten. Ein Teil der Emigranten wandte sich 54 Ebenda. 55 TM–AEM, S. 268 f. 56 Tb. 1944 – 1946, S. 189, 196, 197. 57 Ebenda, S. 201 f. 1939 – 1945

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der Sowjetunion zu, manche prominente Figuren, wie der Philosoph Nikolai ­Berdiajew, warben sogar für die «Rückkehr» (er selbst blieb jedoch in Paris). Ein anderer Teil – wie der Schriftsteller Boris Saizew – lehnte es ab, die Sowjetunion als «Rußland» anzuerkennen und sich dem Siegesjubel anzuschließen. Die weiteren, w ­ elche vielleicht die Mehrheit bildeten, hielten sich gegenüber dem politischen Streit bedeckt und kämpften gezwungenermaßen um ihre Existenz. Eine symbolische Bedeutung gewinnt in ­diesem Zusammenhang die Dichterperson Iwan Schmeljows. 1947 denunzierte ihn die Sowjetpropaganda als Kollaborateur und Faschisten, da er während der Okkupation für eine russischsprachige Pariser Zeitung gearbeitet hatte. Kollaboration mit den Deutschen war im Nachkriegsfrankreich eine schwerwiegende Anschuldigung. Schmeljow nahm dazu Stellung. «Ich war nie Faschist und habe nie mit dem Faschismus sympathisiert», schrieb er. «Hunderttausende Russen, die von den Deutschen nach Europa verschleppt wurden, hatten keine russische Zeitung. […] Ich beschloß, für sie zu schreiben. […] Die Deutschen – und nicht sie allein – entstellten das wahre Antlitz Rußlands. Sie schrieben, Rußland sei ein ‹historisches Mißverständnis›, es habe weder Geschichte noch Kultur, nur die große Steppe – und alle dort ­seien Wilde. Die Deutschen demonstrierten diese ‹Wilden›, indem sie russische Gefangene und Verschleppte, die in Camions, in Lumpen gekleidet standen, in Berlin herumfuhren… – ‹seht euch diese Wilden an, wir bringen ihnen Kultur! […]› Ja, das hat es gegeben. Es gab auch anderes, das noch viel schrecklicher war. […] Dies wurde auch in russischen Exilkreisen in Paris bekannt. Hätte ich all diese Lügen unerwidert lassen sollen? 58

Die symbolische Bedeutung Schmeljows bestand darin, dass er im besetzten Paris, seiner Möglichkeiten gemäß, gegen die NS-Ideologie arbeitete – und dabei in keinem Punkt von den antisowjetischen Ansichten abwich. Er verteidigte sein zeitloses Russland-­Bild gegen beide «feindlichen Brüder». Vielen schwankenden Emigranten veranschaulichte sein Beispiel, dass man sich als Gegner Hitlers nicht unbedingt in die Arme Stalins werfen musste. Gefangengenommene und verschleppte Sowjetbürger, die sich unter der Aufsicht der Westalliierten befanden, sollten nach dem Abkommen von Jalta an die sowjetischen Behörden zwecks Repatriierung übergeben werden. Wer nicht 58 И. С. Шмелев. Душа Родины, c. 321. 90

«Ausgleich von Sozialismus und Demokratie»? Der Zweite Weltkrieg

zurückwollte, wurde durch britische und US-amerikanische Militärverwaltungen gewaltsam ausgeliefert. George Kennan, damals Mitarbeiter der US-Botschaft in Moskau, erklärte später, dass er und seine Kollegen sich über das weitere Schicksal dieser Menschen keine Illusionen gemacht hatten. Daher hätte er «Grauen und Beschämung über das Vorhaben der westlichen Regierungen» empfunden.59 Die Zwangsrepatriierungen dauerten bis zum Jahr 1947. Schmeljow starb 1950 im russisch-­orthodoxen Kloster in Bussy-­en-­Othe, 150 Kilometer von Paris entfernt. Die meisten seiner Werke blieben in der Sowjetunion bis zum Ende der Achtzigerjahre verboten.

59 Nikolai Tolstoy. Die Verratenen von Jalta, S. 116 f. 1939 – 1945

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1945 – 1948 Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann Statt Kommunismus sage man Moralität. Der Kommunismus als Technik der Einrichtungen wäre kein Gegenstand der erregten Neugier. Seine sittlichen Hintergründe sind es. Umgekehrt ist jeder Antikommunist an der Moral durchaus unbeteiligt. Dasselbe gilt für den Antichristen, Antiintellektuellen, es trifft viele Antifaschisten, die nichts weiter sind. […] Der Dean of Canterbury hat über den Diktator Stalin das Gute und Rechte gesagt: er ist kein Diktator. Heinrich Mann. Ein Zeitalter wird besichtigt.1

Johannes R. Becher, der das Glück hatte, die große stalinsche Terrorwelle und die Kriegswirren zu überleben, schrieb am 18. März 1945 die Brüder Mann jeweils an. Die beiden Briefe müssen ihre Adressaten erst im Sommer erreicht haben. Seltene Briefkontakte mit Heinrich Mann hatten auch während der schwersten Kriegsphase bestanden. Diesmal teilte ihm Becher mit, dass sein Buch Ein Zeitalter wird besichtigt in Moskau eingetroffen sei und in der Internationalen Literatur kapitelweise abgedruckt werden solle. Das Honorar sei Heinrich Mann bereits angewiesen. Beim Brief an Thomas Mann handelte es sich um eine Wiederaufnahme der ausgeklungenen Geschäftsbeziehung: Nach jahrelanger Pause meldete sich Becher wieder und bat höflich um einen Beitrag für die Zeitschrift.2 Vor dem Hintergrund des Wettstreits um Deutschland begann ein Wettstreit um Thomas Mann, und Bechers Brief war erst sein Auftakt. Mann blieb nicht nur in Moskau unvergessen. Am 8. Juli, zwei Monate nach der Kapitulation des Dritten Reichs und rund einen Monat nach seinem siebzigsten Geburtstag, schrieb er an Agnes Meyer: «Ich bekomme durch amerikanische Vermittlung lange Briefe von deutschen Kulturträgern, die recht wehleidig lauten, und worin ich angefleht werde, doch kraft meines ungeheuren Einflusses etwas besseres 1 Heinrich Mann. Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 80 f. 2 Becher. Briefe, S. 255 f., 256 f. 92

Wetter für das arme, hinlänglich gequälte Land zu machen. Also, ich werde mit der Braue winken, und man wird ihnen Radio-­Musik machen. Die Russen tun übrigens dergleichen, während wir das Land völlig auf Eis zu legen scheinen.»3 «Die Briefe aus Deutschland mehren sich», berichtete er seiner «besten Freundin» drei Wochen später, «erfreuliche und unerfreuliche, vertrauenswürdige und des Opportunismus verdächtige. Gestern gab es einen Choc – durch die Mitteilung eines Korrespondenten des Time Magazine, das Berliner Radio habe mich zur Rückkehr nach Deutschland eingeladen. Stellen Sie sich meinen Schrecken vor!»4 Da der Sender Berliner Radio unter der Kontrolle der Sowjets stand, kann die Einladung nicht mindestens ohne ihre Zustimmung ergangen sein. Ein weiterer Aufruf zur Rückkehr kam schon bald aus der Westzone. Am 10. August 1945 erhielt Thomas Mann vom Office of War Information (OWI) einen Artikel des Schriftstellers Walter von Molo aus der Hessischen Post, der auf dieselbe dringende Einladung hinauslief. «Was fällt den Leuten ein?», staunte Thomas Mann im Brief an Agnes Meyer. «Ich bin Amerikaner, und diese 12 Jahre waren kein Scherz und sind nicht wegzuwischen.»5 Als sich bald herausstellte, dass von Molos Artikel nachgedruckt und verbreitet wurde, reagierte Thomas Mann schließlich mit einem offenen Brief an seinen Verfasser. Dieser Brief war eine höfliche, aber eindeutige Absage an alle, die den Dichter als einen abrufbaren Notarzt und Seelsorger für das gequälte Heimatland sehen wollten. Seine Koffer über Nacht zu packen und Amerika den Rücken zu kehren war er nicht bereit. Aber die Tür für eine Heimkehr nach Deutschland schlug er nicht zu: «Bin ich einmal dort, so ahnt mir, daß Scheu und Verfremdung, diese Produkte bloßer zwölf Jahre, nicht standhalten werden gegen eine Anziehungskraft, die längere Erinnerungen, tausendjährige, auf ihrer Seite hat.»6 Den offenen Brief an Walter von Molo sandte Thomas Mann an das OWI und an die New Yorker Wochenzeitung Aufbau am 17. September 1945 ab. Zugleich erhielt er einen Artikel von Frank Thieß aus der Münchener Zeitung, der ihm seine amerikanische Gesichertheit auf eine kränkende Art und Weise vorwarf.7



3 4 5 6 7

TM–AEM, S. 630. Ebenda, S. 631. Ebenda, S. 634 (14. 08. 1945). Brief nach Deutschland. In: GKFA, 19.1, 82. Tb. 1944 – 1946, S. 253 f.

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Andere Briefe und Artikel ähnlichen Inhalts ließen nicht lange auf sich warten.8 Der Wettstreit um Thomas Mann entwickelte sich in der Westzone rasch zu scharfer Polemik um seine Position im Exil. Becher, der im Umgang mit intellektueller Prominenz geübt war, machte einen weiteren Schachzug. Schon im Juni war er nach Berlin zurückgekehrt und zum Präsidenten des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands geworden. Am 8. November 1945 annoncierte er Heinrich Mann den Neudruck des Untertan und das Erscheinen mehrerer Kapitel aus Ein Zeitalter wird besichtigt. «Das alles ist freilich ein dürftiger Notbehelf», schrieb Becher weiter, die Hauptsache war, daß Sie, lieber, sehr verehrter Herr Heinrich Mann, persönlich in Erscheinung treten. Wir brauchen Sie. Das deutsche Volk bedarf Ihrer. Lassen Sie sich nicht durch den etwas unerquicklichen Briefwechsel z­ wischen Molo, Frank Thieß und Ihrem Bruder Thomas davon abschrecken, nach Deutschland zurückzukehren. Die Art und Weise, wie sich Herr Molo und Herr Thieß an Ihren Bruder Thomas gewandt haben, schien mir nicht gerade glücklich zu sein, aber die Sache war schon so verfahren, daß ich, obwohl ich ursprünglich das im Sinn hatte, nicht mehr eingreifen wollte. Auch war es durch diese Mißlichkeiten nicht mehr möglich, an Sie uns öffentlich zu wenden, und so schreibe ich Ihnen persönlich und bitte Sie im Namen aller unserer Freunde: Kommen Sie, Sie werden erwartet.9

Becher formulierte treffsicher und zeigte dabei gebotenes Fingerspitzengefühl. Im Gegensatz zu Walter von Molo, der Thomas Mann «wie ein[en] gute[n] Arzt» nach Deutschland einlud, kündigte Becher seinem Adressaten keine Funktion an, die ihn erschrecken könnte. Die knappe Formulierung: «das deutsche Volk bedarf Ihrer» erfasste schon in ehrender Weise seine Bedeutung als deutscher Schriftsteller. Zugleich war Bechers Brief auch ein indirektes Signal an den anderen Bruder, der für die Sowjetunion eine noch viel wichtigere Figur war als Heinrich Mann. Der andere Bruder gönnte Heinrich die Ehre, vom Volk gebraucht zu werden. « […] es war mir eine wahre Erleichterung», schrieb er Anfang Februar 1946, «als jetzt endlich ein Ruf ihn aus Deutschland erreichte, natürlich aus der russischen Zone: Becher hat ihm geschrieben und ihm gemeldet, das alles dort auf ihn warte. 8 Ebenda, S. 254 f., 264, 271. 9 Johannes R. Becher. Briefe, S. 266 f. 94

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Nun, es war Zeit. Er wird kaum gehen; er ist, Gott weiß es, entschuldigt. Aber es schickte sich doch, daß man nach ihm verlangte.»10 Gegen Ende 1945 wurde Thomas Mann mit einigen angenehmen Aufmerksamkeiten von Seiten der Sowjets bedacht. In der Internationalen Literatur erschien anlässlich seines 70. Geburtstages ein großer Artikel von Georg Lukács. «Soziologisch-­psychologische Analyse meines Lebens, sehr positiv», kommentierte ihn Thomas Mann, sichtlich gerührt, «keineswegs nur historisch, als wichtig für die deutsche Zukunft gesehen […]. Verwunderliches Stück Arbeit, – von dem der ‹Joseph›, wohl aus sowjetischen Gründen, ausgeschlossen ist. Dennoch ist es wohl das Bedeutendste, was über mich geschrieben wurde, fast erschütternd.»11 Bemerkenswert ist, dass Thomas Mann hier – was sonst fast nie und nirgendwo der Fall ist – das Adjektiv sowjetisch gebraucht. Am 7. Dezember, rund eine Woche nach ­diesem Leseerlebnis, hielt er an der Universität Los Angeles einen Vortrag über Dostojewski, dem auch Vertreter des sowjetischen Konsulats beiwohnten. Ihr Beisein erwähnte er im Tagebuch.12 Die Ansprache an die deutschen Hörer, die Thomas Mann am 30. Dezember 1945 im Auftrag der BBC aufgenommen hatte, klang wie ein Fazit des letzten Kriegsjahres – und wie eine definitive Antwort auf die wehleidigen Aufrufe: Ich soll Amerika, dem ich doch schließlich meinen Eid geleistet habe, seine citizenship vor die Füße werfen […] und nach dem verwüsteten Deutschland eilen – wozu? Um mich selber verwüsten zu lassen; will sagen, um zunächst einmal festlichen Wiedereinzug zu kosten, als Einer, der recht behalten hat (was keine angenehme Rolle ist), mich dann zum Bannerträger einer mir noch ganz schleierhaften neudeutschen geistigen Bewegung aufzuwerfen […], mich mit Eifer ­zwischen die Mühlensteine der Politik zu begeben und binnen kurzem, zermürbt, aufgerieben, verdächtig überall, beim Deutschtum wie bei der Okkupation, auf den Lippen das Wort aller Toren: ‹Ich habe es doch nur gut gemeint!› ein bedauerliches Torenende zu finden. Welche Tücke, w ­ elche geheime Lust am Ruinieren sich hinter ­diesem anmutigen Vorschlag verbergen, ich mag es nicht ergründen.13

Wie man später sehen wird, nahmen auch die Sowjets diese Ansprache genau zur Kenntnis. 10 Br. II 1937 – 1947, S. 478. 11 Tb. 1944 – 1946, S. 280, 281. 12 Ebenda, S. 283. 13 Deutsche Hörer. [Rundfunkansprache über BBC, Ende 1945]. In: GKFA, 19.1, 113 f. 1945 – 1948

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Becher wollte in die Angelegenheit mit von Molo, Thieß und Thomas Mann ursprünglich nicht eingreifen. Am Anfang des Jahres 1946 tat er es dann doch. Der Anlass war eine weitere gegen Thomas Mann gerichtete Schrift, die Becher aus Dortmund erhalten hatte. Ihr Verfasser namens Grube berief sich unter anderem auf den Artikel von Frank Thieß aus der Münchener Zeitung. Becher erwiderte den neuen Angriff auf Thomas Mann mit einem seitenlangen Brief an Thieß. Mit ausdrücklicher Höflichkeit ging er auf dessen voreingenommene Auffassung der Emigration ein und entkräftete sie. Aus ihr, so Becher, ergebe sich auch Thieß’ irrtümliche Einstellung zu Thomas Mann. «Mag d­ ieses oder jenes in den Rundfunkbotschaften Thomas Manns fremd und unverständlich gewesen sein», schrieb Becher, auch mir erscheint der Ton, in dem Thomas Mann das deutsche Volk ansprach, wenig überzeugend, möge auch die Absage Thomas Manns, in seine Heimat zurückzukehren, auch mein Befremden und meine Ablehnung hervorrufen – unvergeßlich bleiben werde, daß der Name Thomas Mann für Tausende und Abertausende Menschen in der Welt den Glauben und die Hoffnung an Deutschland in der schwärzesten Zeit seiner Geschichte bedeutete und noch bedeutet. Ich halte es für besonders bedauerlich, daß Sie in Ihrer letzten Äußerung über Thomas Mann ihm einen Vorwurf machen, der ganz besonders ungerechtfertigt ist, […] den Vorwurf der Deutschfeindlichkeit. Das gesamte Werk Thomas Mann wendet sich mit solch einer überzeugenden Eindringlichkeit gegen diese Vorwürfe, und auch dort, wo Thomas Mann vielleicht uns fremd geworden und vielleicht doktrinär und unangenehm belehrend gewirkt hat, auch in ­diesem Mißlungensein ist und bleibt Thomas Mann ein Deutscher, ein Gestalter großen Deutschtums. […] Diese für uns und Thomas Mann gleichmäßig bedauerliche Absage hätte uns allerdings erspart werden können, wenn wir es uns rechtzeitig überlegt und gemeinsam durchdacht hätten, ob, wie und wann wir uns an Thomas Mann wenden.14

Becher sprach als deutscher Patriot und zugleich Antifaschist und vertrat damit das ideologische Modell, welches die Sowjets für sein Heimatland vorgesehen hatten. Er stand gewissermaßen für «das gute Deutschland». Sein Verständnis für Thomas Manns aktuelle Position und Respekt vor dessen bisherige Lebensleistung sind beachtenswert. Im Klartext sagte er, daß es falsch gewesen sei, ­Thomas Mann so grob und rücksichtslos unter Druck zu setzen. Wenn man bedenkt, daß Becher 14 Johannes R. Becher. Briefe, S. 281 f. 96

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

nicht nur Dichter und Publizist, sondern auch ein hochkarätiger Funktionär im Dienste Stalins war, so kann man nicht umhin, seine Professionalität anzuerkennen. Mit der Ideologie, die Becher in Bezug auf Deutschland zu vertreten hatte, wäre Thomas Mann freilich nicht zu gewinnen. Hatte er sich doch schon während des Krieges über die vermeintlichen Pläne der Sowjets skeptisch geäußert: eine Umfunktionierung des deutschen Patriotismus, ein starkes, gegen den Westen zu benutzendes Deutschland, ein «national-­demokratisches Reich» im Bündnis mit der Sowjetunion … Im Brief an von Molo hatte er geschrieben, dass er die ­Theorie von einem guten und einem bösen Deutschland ablehne.15 Becher war für die Brüder Mann ein willkommener Briefkorrespondent und de facto ihr Betreuer aus dem «Osten». Aber es war vor allem die Weltpolitik selbst, die Thomas Manns platonische Beziehung zu Kommunismus und Sowjetunion auf eine neue Stufe hob. Der Kalte Krieg brach gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus. Der geopolitische und ideologische Wettstreit ­zwischen den USA und der UdSSR wurde von einzelnen brisanten Ereignissen verschärft. Anfang September 1945 bat der Chiffrierer der sowjetischen Botschaft in Ottawa, Igor Gusenko, um Asyl in Kanada. Er überreichte der kanadischen Regierung mehr als hundert streng geheime Akten, mit deren Hilfe ein weites Spionagenetz der Sowjets in Nordamerika aufgedeckt wurde. Von den Aktivitäten d­ ieses Netzes waren unter anderem das Atomprojekt der USA und die oberen kanadischen Regierungskreise betroffen. Die verdeckten Ermittlungen dauerten bis Winter 1946, dann schlugen die Sicherheitsdienste zu. Einen dermaßen breit angelegten Gegenspionage-­Einsatz hatte Nordamerika zuletzt im Juni 1941 erlebt, als das FBI mehr als dreißig deutsche Spione verhaftete. Danach mussten auf Anweisung Roosevelts die deutschen Konsulate in den USA schließen.16 Diesmal handelte es sich aber um eine alliierte Macht, die – wie sich herausstellte – auch schon während des Krieges gegen ihre Waffenbrüder spioniert hatte. Der Skandal um Gusenko schürte das Feuer. Thomas Mann erfuhr von der Enthüllung der Sowjetspionage im Februar 1946 aus den Medien und konstatierte «große Hetze».17

15 Brief nach Deutschland. In: GKFA, 19.1, 80. 16 Siehe Ladislas Farago. Das Spiel der Füchse, S. 322 f. 17 Tb. 1944 – 1946, S. 308. 1945 – 1948

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Ein weiteres brisantes Ereignis des sich entfaltenden Kalten Krieges war die Rede von Winston Churchill in Fulton am 5. März 1946. Der britische Premier außer Dienst bezeichnete Krieg und Tyrannei als zwei Hauptunheile («two giant marauders»), vor denen die Menschheit (oder, wie er fein andeutete, in erster Linie deren westlicher Teil) geschützt werden müsse. Für die Erhaltung des Welt­friedens stünde, wie Churchill meinte, die vor kurzem gegründete UNO. Ein brüder­liches Bündnis der englischsprachigen Völker sei einer seiner wichtigsten Faktoren. Wenn die Gefahr von Krieg und Tyrannei beseitigt ist, wäre es allen Nationen möglich, ein Überflusszeitalter zu schaffen und von ihm zu profitieren. Die Erde sei eine großzügige ­Mutter.18 Das war der «idealistische» Teil der Fulton-­Rede, an dem auch Thomas Mann sicherlich Gefallen fand. Schon im Juli 1945 hatte er den Alliierten, die gerade in Potsdam tagten, im Tagebuch vorgeworfen: «Kein Schritt zu dem Ziel, die Erde allen nutzbar zu machen. Die 3 weltordnenden Häupter machen nichts als Unsinn und spielen Klavier.»19 Nun zeigte sich eines von ihnen doch um Weltfrieden und Bekämpfung von Hunger und Not besorgt. Churchills Rede hatte noch einen anderen Teil, in dem er ohne diplomatisches Beiwerk gegen die Sowjetunion zu Felde zog. Die Staaten Osteuropas, meinte er, gerieten hinter dem Eisernen Vorhang zunehmend unter Einfluss und sogar Führung der Sowjets. Die kommunistischen Parteien dieser Länder ­seien bestrebt, totalitäre Kontrolle herzustellen. Die Sowjets versuchten eine quasi-­kommunistische Partei in ihrer Besatzungszone Deutschlands aufzubauen. «Wenn die Sowjetregierung», betonte Churchill, «jetzt durch ihre separaten Aktivitäten versucht, in ihrer Zone ein prokommunistisches Deutschland zu schaffen, wird dies neue ernsthafte Schwierigkeiten in der britischen und amerikanischen Zone hervorrufen und den besiegten Deutschen die Einrichtung eines Handels z­ wischen den Sowjets und den Westdemokratien ermöglichen.» Die Umtriebe der UdSSR beschränkten sich, so der Premier a. D., nicht nur auf Osteuropa: Sie hätte auch weit weg von ihren Grenzen kommunistische fünfte Kolonnen eingesetzt, w ­ elche laut strengen Direktiven aus dem Zentrum agieren. Ihre Tätigkeit bilde eine wachsende Gefahr für die christliche Zivilisation mit der Ausnahme Großbritanniens und der USA, wo der Kommunismus noch in den ­Kinderschuhen stecke.20 Abschließend beteuerte Churchill seine Friedenstreue.

18 Winston Churchill. Never Give In, p. 415 s. 19 Tb. 1944 – 1946, S. 234. 20 Winston Churchill. Never Give In, pp. 420 s., 421 s. 98

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Stalins Reaktion war, wie nicht anders zu erwarten, schnell und gereizt. Am 14. März 1946 publizierte die Prawda ein Interview, in dem er Churchill zu den Kriegshetzern zählte und dessen Idee einer starken Allianz englischsprachiger Völker mit Hitlers Rassentheorie verglich. Die Dominanz der Sowjetunion über Osteuropa begründete er mit ihren Sicherheitsinteressen, den steigenden Einfluss der Kommunisten – mit den Vorlieben der Wähler. Churchills Vorwurf der Tyrannei wies er spottend zurück. Thomas Mann notierte am 14. März: «In den letzten Tagen Rede-­Duell Churchill–Stalin; Krisis in der U. N. wegen Iran und der Anregung eines britisch-­ amerikanischen Militär-­Bündnisses durch Churchill. Seine Rede elegant, die Stalins grob. Beide haben nicht unrecht.»21 Bald registrierte Thomas Mann weitere ­­Zeichen der Aufmerksamkeit aus öst­licher Richtung. Am 18. Juni 1946 hieß es im Tagebuch: «Erfuhr durch Erikas Freundin in Europa, daß im / Weimarer Goethehaus / unter russischem Protektorat und unter lebhafter deutscher Teilnahme Vorlesungen über / ‹Lotte in Weimar› /gehalten werden. Der Schauplatz ist einer der Gesellschaftsräume, vermutlich das Juno-­Zimmer. Sehr beeindruckt». Am 24. Juli erhielt er einen «Kartenbrief von einer deutschen Schulklasse im Sowjet-­Bereich: Dank für ­‹Buddenbrooks›, das sie ‹in außerschulischer Betreuung› gelesen». Am 14. September schrieb er auf: «Brief von Paul Eisner, Prag, über meinen Einfluß in Böhmen und die Sympathie der Kommunisten, von der Erika sagte, daß sie ihnen und mir zur Ehre gereiche». Die November-­Post aus der Sowjetzone brachte weitere angenehme Nachrichten: das Radio hätte sich mit Thomas Mann beschäftigt und Straßen sollten nach ihm benannt werden.22 Seine erste ausführliche Stellungnahme zur aktuellen Politik seit Kriegsende verfasste Thomas Mann ebenfalls im November 1946. Es handelt sich um seinen Brief an die Studentenbewegung Students for Federal World Government. Als Vorbedingung für eine friedliche Zukunft bezeichnete er die Verständigung der westlichen Welt mit der Sowjetunion, «die Begegnung des bürgerlich-­ demokratischen und des sozialistischen Prinzips in der Anerkennung gemeinsamer menschheitlicher Ziele». Um möglichen Opponenten die Waffe aus der Hand zu schlagen, stellte er gleich seitenlange Betrachtungen über den Sozialismus bzw. Kommunismus an. 21 Tb. 1944 – 1946, S. 311 f. 22 Tb. 1946 – 1948, S. 11, 23, 41, 65. 1945 – 1948

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«Den russischen Kommunismus», schreibt der Dichter, «mit dem Nazi-­ Faschismus auf die g­ leiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär ­seien, ist besten Falles Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als guter Demokrat vorkommen, – in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.»23 Diese – an sich groteske und demagogisch anmutende – Konstruktion war in erster Linie auf die Hardliner der US-amerikanischen Nachkriegspolitik gemünzt. Dabei hätten sich bestimmt nicht wenige Vertreter des russischen Exils, die bei weitem keine Kriegstreiber waren, – unter ihnen auch Schmeljow und Bunin – durch sie böse angegriffen gefühlt. Anschließend präsentierte Thomas Mann seinem Adressaten eine beeindruckende Idylle: Die Unterschiede im Verhältnis des russischen Sozialismus und des Faschismus zur Humanität, zur Idee des Menschen und seiner Zukunft sind unermeßlich. Der unteilbare Friede; konstruktive Arbeit und gerechter Lohn; ein allgemeinerer Genuß der Güter dieser Erde; mehr Glück, weniger vermeidbares und nur vom Menschen verschuldetes Leid hienieden; die geistige Hebung des Volkes durch Erziehung, durch Wissen, durch Bildung, – das alles sind Ziele, die denjenigen faschistischer Misanthropie, faschistischen Nihilismus, faschistischer Erniedrigungslust und Verdummungspädagogik diametral entgegengesetzt sind. Der Kommunismus, wie die russische Revolution ihn unter besonderen menschlichen Gegebenheiten zu verwirklichen sucht, ist, trotz aller blutigen ­­Zeichen, die daran irre machen könnten, im Kern – und sehr im Gegensatz zum Faschismus – eine humanitäre und eine demokratische Bewegung.24

Diese Inhalte führten die Linie früherer politischer Stellungnahmen ­Thomas Manns fort. Wie auch schon vor dem Kriegsende kam es ihm darauf an, die Angst der «bürgerlichen» Gesellschaft vor dem Wort Kommunismus zu entkräften und dessen angebliche Unterschiede zum Faschismus zu betonen. Einzigartig war dagegen der Kontext des Kalten Krieges: denn Thomas Manns Einstellung zur Sowjetunion stand nunmehr eindeutig gegen die der US-ameri­kanischen Politik.

23 [Brief an die Studentenbewegung ‹Students For Federal World Government›]. In: GKFA, 19.1, 170 f. 24 Ebenda, S. 171. 100

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Thomas Manns entschlossenes Bekenntnis gegen den Antikommunismus wurde durch die Entwicklungen des ersten Nachkriegsjahres vorbereitet. Wie seine Briefe und Tagebucheinträge zeigen, machte er sich große Sorgen um das Atombombenmonopol der USA. Die Idee eines Atomkrieges gegen die Sowjetunion schwebte damals in der Luft. Selbst der Physiker Enrico Fermi sprach sie einmal im Beisein Thomas Manns allen Ernstes aus. «Und das ist ein bedeutender Forscher, ein hochstehender Gelehrter», empörte sich der Dichter im Brief an Agnes Meyer. «Was soll man also vom Durchschnitt erwarten? Aber vielleicht ist Durchschnitt besser, als die hochstehenden Gelehrten.»25 Ein weiterer Grund für Thomas Manns resolutes Bekenntnis war sein Eindruck, dass das Kriegstreiben gegen die UdSSR mit einer Zunahme pro-­faschistischer Sympathien in den USA einherginge. Die Befürchtung, dass die «bürgerliche» Welt aus Angst vor dem Kommunismus mit den Faschisten paktieren würde, hatte er schon vor dem Krieg leitmotivisch geäußert. Jetzt lebte sie wieder auf.26 Die politische Stabilität, auf die er so viel Hoffnung gesetzt hatte, scheiterte vor seinen Augen: es entstand kein Ausgleich ­zwischen Demokratie und Sozia­ lismus. Im Gegenteil: beide Systeme balancierten am Rande eines Krieges, zu dem nach Thomas Manns Eindruck der Westen hetzte. Der Kahn – um sich des Dichters eigener Metapher zu bedienen – drohte zur Seite zu kentern, die er ohnehin als «dunkel» und «reaktionär» empfand. Umso entschlossener lautete sein erneutes Bekenntnis zur «zukunftsweisenden» Idee. Drei Tagebuchnotizen, die er innerhalb der letzten zehn Januartage 1947 gemacht hat, lesen sich, wenn nebeneinander gestellt, wie ein politisches Resümee. Am 21. Januar hieß es: «Stalin äußert gegen den jungen Roosevelt, ein Krieg sei nach dem Willen der Völker nicht möglich». Am 25. Januar schrieb er auf: «Daß man ohne die alliierten Bayonette in Deutschland seines Lebens nicht sicher wäre, geht aus vielen Nachrichten hervor». Am 1. Februar notierte er entrüstet: «Die Atom-­ Kommission verlangt zur Sicherheit des Landes die erhöhte Produktion von Atomwaffen (nur hundertfach ‹verbessert›) statt der Entwicklung für Friedenszwecke!»27 Bald konnte sich Thomas Mann abermals vom Wohlwollen der Sowjets überzeugen. Im November 1946, fast gleichzeitig mit der Niederschrift des Briefes an

25 TM–AEM, S. 639. 26 Siehe beispielsweise ebenda, S.649 und Br. II 1937 – 1947, S. 477. 27 Tb. 1946 – 1948, S. 90, 91, 93. 1945 – 1948

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die Studentenbewegung, erreichte ihn eine böse Nachricht. Hans von Rohrscheidt, Gutsbesitzer, ein politisch harmloser Mensch und entfernter Verwandter Katia Manns, wurde in der Sowjetzone enteignet und verhaftet. Den Angehörigen war sein Aufenthalt seitdem unbekannt. Thomas Mann griff zur Feder, um Becher um einen Gefallen zu bitten. « […] ich möchte Sie in kollegialem Vertrauen fragen», schrieb er, «ob Sie einen Weg sehen, den Aufenthalt Rohrscheidts ausfindig zu machen und mir vielleicht die amtliche Stelle namhaft machen könnten, an die ich mich in seinem Interesse zu wenden hätte, gesetzt, daß Sie nicht vielleicht selbst geneigt wären, der Sache irgendwie nachzugehen.»28 Becher reagierte prompt, die Nachkriegspost war allerdings langsam, so dass seine Antwort erst um den Jahreswechsel in Pacific Palisades ankam. Er meldete, dass er den Brief Thomas Manns sofort an die entsprechende Stelle weitergeleitet hätte, empfahl aber dem Dichter, an den Obersten Chef der sowjetischen Militäradministration, Marschall Sokolowski, nochmals persönlich zu schreiben.29 Thomas Manns daraufhin am 3. Januar 1947 abgefasste Petition an den Marschall hatte zur Folge, dass Rohrscheid sich in der Ortschaft Rehfelde unweit seines Gutes niederlassen durfte. Dort beschloss er sein Leben ungestört im Jahre 1963. Diese Episode zeigt, w ­ elche Bedeutung die Sowjets den Kontakten mit ­Thomas Mann beigemessen haben. Massenverhaftungen mit anschließender Hinrichtung oder Verbannung und ähnliche Staatsterroraktionen gehörten zum normalen Alltag in der damaligen UdSSR. Nach 1945 verfolgten die Sowjets in ihrer Besatzungszone nicht nur ehemalige Nationalsozialisten. Sie bekämpften auf die gewohnte Art und Weise auch ihre «Klassenfeinde». Deutsche Kommunisten leisteten ihnen dabei treuen Beistand. Unter unzähligen Bittschriften, mit denen die Besatzungsbehörden bestürmt wurden, ging die Petition Thomas Manns nicht verloren. Offensichtlich wurde ihr zügig und ohne bürokratische Hürden stattgegeben. Die Beobachtung politisch aktiver Immigranten ist Teil der Sicherheitspraxis eines Gastgeberlandes. Daher war die Betreuung Thomas Manns durch OSS und FBI , besonders in der Kriegszeit, nichts Außergewöhnliches. Nicht unbedingt naheliegend wäre dagegen die Frage, ob auch die Sowjets seine Aktivitäten 28 Briefe an Becher, S. 281. 29 Johannes R. Becher. Briefe, S. 311 f. 102

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

konsequent registriert haben. Laut offizieller Auskunft des Zentralarchivs des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (FSB) verfügt das Archiv über keine Materialien bezüglich Thomas Mann.30 Der Grund dafür wird wohl der Umstand sein, dass eine andere Behörde für ihn zuständig war. Das Russische Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte Moskau beherbergt eine Mappe mit der Inschrift: Erfassungssektor der Abteilung des ZK der KP dSU . Land: Deutschland. Personalakte Nr. 117. Name, Vorname, Vatersname: Mann Thomas. Über dem Inhaltsverzeichnis steht: Streng geheim. Dieses umfasst achtunddreißig Positionen für den Zeitraum von 1946 bis 1954. Das früheste Dokument, das die Mappe enthält, ist jedoch die vom 30. Dezember 1945 datierte Rundfunkansprache Thomas Manns an die deutschen Hörer. Ihr vollständiger Text liegt der Akte im deutschen Original bei. Der Ansprache folgen zwei biographische Auskünfte aus dem Jahr 1946. Die abschließende Zusammenfassung der ersten Kurzbiographie lautet: «Bekannter deutscher Schriftsteller. Nobelpreisträger». Die andere wird von einem eher wertenden Resümee abgerundet: «Schwankender bürgerlicher Schriftsteller. Antifaschist.»31 Die Auskünfte selbst sind jeweils in Form eines neutralen Berichts übermittelt. Da beide aus dem gleichen Jahr stammen, ist zu vermuten, dass sie zwei verschiedenen Referenten parallel in Auftrag gegeben worden waren. Stellen oder Behörden, die diesen Auftrag ausgeführt haben, sind nicht angegeben. In der Personalakte Lion Feuchtwanger, die sich in derselben Kassette befindet, ist bei einem vergleichbaren biographischen Bericht vermerkt: «Die Auskunft wurde durch den Verband der sowjetischen Schriftsteller angefertigt […] und über HF an Gen.[ossen] Orlow, A. L., geleitet.»32 Daher ist denkbar, dass die beiden Kurzbiographien Thomas Manns ebenfalls in ­diesem Verband ihren Ursprung haben. Die nüchternen Berichte der Personalakte Nr. 117 – auf sie wird noch zurückzukommen sein – beantworten allerdings nicht eine Grundfrage: Hätten die Sowjets Thomas Mann in den ersten Nachkriegsjahren lieber in Deutschland oder nach wie vor in den USA gesehen? Einiges Licht auf diese Frage wirft der weitere Verlauf seines Briefwechsels mit Becher. Den Brief vom 28. Januar 1947, der unter anderem eine schon üblich gewordene Bitte um einen Beitrag enthält, 30 Brief Nr. 10/A-3188 an den Autor ­dieses Buches vom 01. 07. 2015. 31 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, листы 97, 98. 32 Ebenda. Bei HF (Fachjargon-­Abkürzung für ‹Hochfrequenz›, russisch в/ч) handelt es sich um das geschlossene Telephonsystem der Partei- und Staatsführung der Sowjetunion. 1945 – 1948

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beschließt Becher wie folgt: «Seien Sie versichert, daß die Gedanken der besten Deutschen stets bei Ihnen sind und auf Ihre Werke warten als auf die beste moralische Hilfe, die Sie uns in dieser schweren Zeit angedeihen lassen können.»33 An sich war nichts Ungewöhnliches daran, dass Becher Thomas Mann nicht aufforderte, nach Deutschland zurückzukehren. Mit der Einstellung des maître zu ­diesem Thema war er bestens vertraut und wollte keinen Druck machen. Damit führte er die Linie fort, die er vor einem Jahr im Brief an Frank Thieß abgezeichnet hatte. Bemerkenswert ist, dass Bechers Bemühen um die Rückkehr von Heinrich Mann inzwischen nur noch intensiver wurde. Der ältere Bruder, den Becher schon im Herbst 1945 «im Namen aller unserer Freunde» eingeladen hatte, ließ sich Zeit mit seiner Entscheidung. Trotzdem verwendete Becher in seinem Fall eine ganz andere Taktik als bei Thomas Mann: er setzte Heinrich Mann – wenn auch sanft und achtungsvoll – unter Druck. Am 20. März 1946 forderte er ihn auf: «Lieber, sehr verehrter Herr Heinrich Mann. Bitte kehren Sie bald zu uns zurück und helfen Sie uns bei unserer schweren Aufgabe». Am 31. Juli 1946 hieß es: «[…] ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr dringend wir Sie erwarten, denn es ist ja gar nicht so, wie Sie annehmen: daß die Arbeit hier geleistet würde auch ohne Sie. […] überall habe ich die Erfahrung machen müssen, daß es an Menschen fehlt, die geeignet sind, gerade das geistige Element einer werdenden Demokratie vorbildlich zu verkörpern.»34 Becher wählte die treffenden Worte, mit Hilfe derer es ihm gelang, bei Heinrich Mann die Saite seiner politischen Eitelkeit anzuschlagen. Wie schon im ersten Nachkriegsbrief ließ er durchblicken, dass er ihn nicht als Seelsorger, sondern als ähnlich gesinnten und geachteten Kollegen einlud. Heinrich Mann zögerte jedoch weiterhin. Thomas Mann notierte am 17. Februar 1947, dass sein Bruder vorhabe, die sowjetische Aufforderung abzulehnen.35 Aber weder Becher noch die Behörden, die er vertrat, waren bereit aufzugeben. Am 14. Mai 1947 wurde Heinrich Mann die Ehrendoktorwürde der wiedereröffneten Ostberliner Universität verliehen. Becher schrieb ihm am 24. März 1948: «Lieber, sehr verehrter Herr Heinrich Mann! Sie werden verstehen, daß wir anläßlich Ihres 77. Geburtstages neben den herzlichsten Glückwünschen, die wir Ihnen übermitteln, auch zutiefst bedauern, daß Sie nicht in unserer Mitte weilen und auf diese Weise vorbildlich und führend

33 Johannes R. Becher. Briefe, S. 318 f. 34 Ebenda, S. 286, 303 f. 35 Tb. 1946 – 1948, S. 99. 104

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

an unserer Arbeit teilnehmen können. […] Ihre Anwesenheit im Werk, die wir aus vielen Äußerungen verspüren, mag uns über Ihre persönliche Abwesenheit ein wenig hinwegtrösten, aber es bleibt der Wunsch: Sie mögen wiederkehren». Am Ende des Briefes versprach Becher, dem Dichter alle notwendigen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.36 Thomas Mann versicherte er, dass die besten Deutschen auf seine Werke warten, während Heinrich von ihm ausdrücklich als Person aufgefordert wurde. Höchstwahrscheinlich spiegelte diese Sachlage die Einstellung der Sowjets wider. Im besetzten Deutschland hätte der «schwankende bürgerliche Schriftsteller» zu jener Zeit kaum etwas zu sagen gehabt, was ihnen greifbar zugutegekommen wäre. Außerdem hatte Thomas Mann selbst mehrfach erklärt, dass er nicht zurückkehren wolle. In der Rundfunkansprache, ­welche die Sowjets seiner Personalakte beifügten, hatte er seine Entscheidung klar begründet: es sei nicht sein Wunsch, sich «zwischen die Mühlensteine der Politik zu begeben». Als «Antifaschist», der eine konsequente antikommunistische Gesinnung dem Faschismus gleichstellte, war er den Sowjets in Amerika sicherlich viel nützlicher. Heinrich Mann dagegen wurde schon in absentia zu einer vorbildlichen Verkörperung des geistigen Elements ernannt. Er hätte bestimmt auch nicht viel zu sagen gehabt, doch seine Bedeutung als symbolisch-­repräsentative Figur wäre für die Sowjetzone nicht unerheblich gewesen. Mitte Mai 1947 begab sich Thomas Mann nach Europa – zum ersten Mal seit 1939. Gleich nach der Ankunft in Southampton wurde er von der Nachrichtenagentur Reuters interviewt. Der Dichter ließ sich ausführlich über die Weltpolitik aus. «Churchill», meinte er, ist ein großer Mann, aber ich glaube nicht, daß er als Konservativer die zukünftige Welt gut versteht. Seine Rede in Zürich im September 1946 war ein wenig tendenziös; er zielte auf einen antisowjetischen Block der Westmächte ab. Diese Teilung Europas in Ost und West ist sehr gefährlich für den Frieden, und ich zweifle, daß Churchills Plan erfolgreich sein wird.37

36 Johannes R. Becher. Briefe, S. 371. 37 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  267. 1945 – 1948

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Thomas Manns Gedächtnis täuschte ihn, denn die genannte Rede von Churchill hatte einen ganz anderen Inhalt gehabt. Der Premier a. D. setzte sich in ihr für die Schaffung einer Art Vereinigter Staaten von Europa ein. Sie waren seine Vision für eine sichere Zukunft des kriegserschütterten Kontinents. Churchill sprach viel von Terror und Tyrannei, jedoch kein Wort von einem antisowjetischen Block und einer Ost-­West-­Teilung. Eigentlich sogar im Gegenteil: Frankreich und Deutschland sollten, wie er meinte, zusammen die Führung in ­diesem Neuaufbau übernehmen. «Großbritannien […]», betonte Churchill, «das mächtige Amerika und, wie ich hoffe, auch die Sowjetunion – denn in ­diesem Falle würde tatsächlich alles gut sein – müssen dem neuen Europa als wohlwollende Freunde gegenüberstehen und ihm zu seinem Lebensrecht verhelfen.»38 Absichtlich oder versehentlich entstellte Thomas Mann den Leitgedanken Churchills, um darauf hinzuweisen, was er, der Dichter, für weltpolitisch kontraproduktiv hielt. Seine eigenen Vorstellungen zur aktuellen Weltpolitik waren idealistischer Couleur. Eine kommunistische Gefahr, behauptete er gegenüber den Reportern, bestünde, trotz der sowjetischen Propaganda, nicht. Der Kommunismus sei totalitär, und die Deutschen wären nicht darauf erpicht, Hitlerismus gegen Kommunismus einzutauschen. Thomas Manns Rezept zur Lösung der Spannung blieb unverändert: die Sowjetunion sollte demokratischer werden, die USA sozialis­ tischer. Deutschlands Zukunft sehe er – anders als die Führung der UdSSR – in einer losen Föderation. Dieses Interview wurde in der sowjetischen Personalakte Thomas Manns nicht registriert, was aber nicht zu bedeuten hat, dass es unbemerkt geblieben ist. Es übermittelte einen für die Sowjets höchst wichtigen Grundinhalt: von der Sowjetunion und ihrer Ideologie ginge keine Gefahr für die Weltsicherheit aus, Churchill und damit auch die Führung der USA ­seien im Unrecht. Thomas Manns Betreuer aus dem Erfassungssektor wurden im Zusammenhang mit seiner Reise auf ein anderes Ereignis aufmerksam. In seiner Personalakte steht: «7. Juni 1947. TASS. Geheim. London. Pazifik-­Funk. Englische Sprache. […] ‹Deutschland, sein Charakter und sein Schicksal›. (Gespräch mit Thomas Mann)». Thomas Manns öffentliche Auftritte während seines Europa-­Aufenthalts waren zahlreich. Auch äußerte er sich häufig zum Thema Deutschland. Man kann nur darüber spekulieren, warum ausgerechnet diese Sendung besonderes Interesse seiner Betreuer auf sich gezogen hat. 38 Winston Churchill. Reden in Zeiten des Krieges, S. 373 – 375. 106

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Aus England reiste der Dichter in die Schweiz, wo sich seine und Bechers Wege wieder kreuzten. Am 18. Juli 1947 berichtete Becher in einem Brief an Eva Herrmann: «Dort habe ich auch Thomas Mann mit Klaus und Erika getroffen und war einen Nachmittag bei ihnen und habe mich auch sehr gut mit ihnen verstanden. Ich billige auch vollkommen die Haltung Thomas Manns, daß er augenblicklich nicht nach Deutschland zurückkommt.»39 Im Tagebuch von Thomas Mann wurde diese Episode nicht erwähnt. Nach dem vier Monate langen Aufenthalt in Europa kehrte er im September heim und fühlte sich sogleich in eine bedrückende politische Atmosphäre versetzt. Er brauchte nur einige Wochen in der Wahlheimat, um den Eindruck zu gewinnen, dass in Amerika «fascistische Gewalt» herrsche und die Gegenstellung zur Sowjetunion «zwangsläufig zum Fascismus zu führen» scheine.40 Das Vorgehen der Behörden gegen echte und vermeintliche Kommunisten, das Thomas Mann faschistisch dünkte, wurde immer härter. Aus seiner Einschätzung dieser Situation machte er kein Hehl, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit vorsichtig äußerte. Das führt abermals zu der begründeten Annahme, dass die Sowjets mit seinem Fortbleiben aus Deutschland einverstanden waren. Als Opponent der Regierungspolitik der USA und sogar als ihr potentieller Leidtragender war er ihnen nützlicher denn als zurückgekehrter Emigrant mit schwankenden Ansichten. Diese Annahme wird von der Rede Bechers auf dem ­Ersten Schriftstellerkongress in Berlin am 7. Oktober 1947 indirekt bestätigt. Für Becher war Thomas Mann «wohl die stärkste deutsche geistige Position im Ausland und der deutsche Sendbote des Weltfriedens.»41 Der Kommentar des Dichters lautete: «Las Rede J. R. Bechers bei der Schriftsteller-­Tagung des deutschen Kulturbundes, Sowjet-­ Zone. Wiederholtes Eintreten für mich. Leidenschaftliches Eintreten für Frieden und deutsche Einheit. (Was vielleicht nicht zusammengeht).»42 Am 7. November erschien in der Ostberliner Zeitung Neues Deutschland Thomas Manns Glückwunsch zum 30. Jahrestag der Oktoberrevolution. Er war kurz, und seine Botschaft lief darauf hinaus, dass von der UdSSR keine Bedrohung des Friedens ausgehe. Im Brief vom 16. November bedankte sich Thomas Mann bei Becher für die Kongressrede persönlich.43 39 40 41 42 43

Johannes R. Becher. Briefe, S. 343. Tb. 1946 – 1948, S. 165, 162. In: Ebenda, S. 654. Ebenda, S. 184. [Zum 30. Jahrestag der Sowjetunion]. In: GKFA, 19.1, 297. Briefe an Becher, S. 334 f. 1945 – 1948

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Im Herbst 1947 durchziehen zwei Th ­ emen Thomas Manns Tagebuch beinahe leitmotivisch: der militante Antikommunismus des US-Staates und der immer näher rückende Krieg gegen die Sowjetunion. Wie ein politisches Fazit der ersten zweieinhalb Monate nach der Heimkehr aus Europa liest sich sein Interview für den San Francisco Chronicle vom 23. November. Der Kommunismus, erklärte er den Journalisten, sei ein «leeres Wort». In Europa sei sehr wenig Neigung für den Kommunismus sowjetischen Stils vorhanden. Frankreich beispielsweise sei «im Grunde so bürgerlich und individualistisch, daß Franzosen nie ein Sowjet-­ Regime akzeptieren werden». Auch in Deutschland sei wenig Stimmung für ein System wie in der UdSSR. Ein weiterer wesentlicher Punkt des Interviews war, dass die Sowjetunion, wie Thomas Mann meinte, keinen Krieg wünsche. Er kritisierte den Marshall-­ Plan der US -amerikanischen Hilfe für den Wiederaufbau Europas. Viele Europäer, behauptete er, fassen diesen Plan als Instrument einer amerikanischen Kontrolle auf. «Die neulichen Tumulte in Italien und Frankreich und die Unruhen in anderen europäischen Nationen», sagte er weiter zum Marshall-­Plan, «sind zumindest teilweise auf die Tatsache zurückzuführen, daß wir finanziel­ le Unterstützung mit politischen Bedingungen verbinden und reaktionäre Regierungen verlangen». Zum Schluss fügte er eine Kritik auch an der Sowjetunion hinzu: «Ich muß offen gestehen, daß ich nie in der diktatorischen Atmosphäre der UdSSR leben könnte. Die dortige falsche Konzeption der Demokratie – daß Kunst und Geist das ­niedrigste Niveau des am wenigsten gebildeten Volkes haben muß – ist sehr gefährlich.»44 Im Allgemeinen positionierte sich Thomas Mann mit ­diesem Interview eindeutig, wenn auch in vorsichtigen Ausdrücken, gegen den Mainstream der USPolitik. Bei den einzelnen Schwerpunkten lassen sich aber ernst gemeinte weltfremde Theorien von diplomatischen Wendungen nur schwer abgrenzen. Schon 1929 hatte er sich über das deutsche Volk ähnlich zuversichtlich wie diesmal über die Franzosen geäußert: Es wäre zu klug, zu individualistisch, zu kultiviert, um bolschewistische Experimente über sich zu dulden. Das deutsche Volk entschied sich jedoch bald danach für ein «Experiment», das Thomas Mann dann als «eine unvergleichlich gemeinere Abart» des Bolschewismus bezeichnete. War er sich nun, indem er von «Neigung» und «Stimmung» in Europa sprach, über den 44 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  286 – 288. 108

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Einfluss Stalins ebenfalls nicht im Klaren? Oder ging es ihm nur darum, gegen den Mainstream in den USA zu opponieren? Er war tatsächlich davon überzeugt, dass die Sowjetunion Frieden wünschte. Im Interview für den San Francisco Chronicle begründete er diesen Gedanken – diplomatisch – nicht durch Friedensbekundungen Stalins und dessen Funktionäre, sondern mit einem faktischen Sachverhalt: Die Sowjetunion habe im vergangenen Krieg kolossale Opfer erlitten und könne sich keinen neuen Krieg leisten. Befremdlich ist Thomas Manns Logik in Bezug auf den Marshall-­Plan. Das Wirtschaftselend im Nachkriegseuropa wurde zum Nährboden für die Popularität der kommunistischen Parteien. Daher wäre – auch durchaus objektiv – nachvollziehbar, dass die Aufbauhilfe der USA politisch bedingt war, und zwar nicht aus Vorliebe für reaktionäre Regierungen, sondern aus Schutz vor totalitären Kräften. In Thomas Manns Äußerung wurde diese Konstellation auf den Kopf gestellt. Glaubte er wirklich, dass der Kommunismus ein leeres Wort in Europa war? Oder war er – im Privaten – bereit, einen Wahlsieg der Kommunisten billigend in Kauf zu nehmen? Die abschließende Kritik an der Atmosphäre in der UdSSR wirkt wie eine ausgleichende Alibi-­Aussage. Ihr Inhalt lässt sich auf Thomas Manns Tagebucheintrag vom 1. August 1947 zurückführen. Ein amerikanischer Funktionär hätte ihm in Zürich «viel Glaubwürdiges» über die sowjetische «Kultur-­Propaganda und -Primitivität berichtet.»45 Mit früheren offiziellen Äußerungen des Dichters zur gleichen Frage passte diese Kritik nicht unbedingt zusammen. 1942 und 1943 hatte er von «eine[r] kulturelle[n] und soziale[n] Entwicklung» in der Sowjetunion, «die zu den größten nationalen Aufschwüngen gehört, die die Geschichte kennt», geschrieben.46 Auch später hat er für Geist und Kultur in der Sowjetunion viele anerkennende Worte gefunden. Das Interview im San Francisco Chronicle enthielt drei Botschaften, die im aktuellen Kontext des Kalten Krieges den Sowjets eindeutig zuspielten: Europa brauche keine Angst vor dem Kommunismus zu haben; die Sowjetunion sei eine Friedensmacht; der Marshall-­Plan sei ein Instrument politischer Kontrolle. Da der San Francisco Chronicle eine angesehene Tageszeitung mit einem großen Leserkreis war, müssen die sowjetischen Betreuer das Interview insgesamt wohl als Erfolg angesehen haben. 45 Tb. 1946 – 1948, S. 139. 46 Tb. 1940 – 1943, S. 1072, 1082. 1945 – 1948

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Wenigstens zum Teil wurden diese Botschaften schon Anfang 1948 widerlegt. Die Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei, die mit kalter politischer Präzision ausgeführt wurde, demonstrierte, dass der Kommunismus kein leeres Wort war. Thomas Mann verfolgte die Entwicklung – und eigenartigerweise ist aus seinen Tagebucheinträgen keine Einsicht der fehlerhaften Einschätzung der Situation herauszulesen. Die Krise in Prag begann am 20. Februar, als alle nichtkommunistischen Regierungsmitglieder aus Protest zurücktraten. Thomas Mann notierte trocken, dass die Kommunisten alleingelassen ­seien. Die Neuwahlen, auf ­welche die protestierenden Minister gehofft hatten, wurden aber nicht angesetzt. Stattdessen wurde am 25. Februar eine neue, vollständig kommunistische Regierung vereidigt. Am 26. Februar schrieb Thomas Mann auf: «In Prag die kommunistische Macht-­Übernahme vollendet, die wohl hauptsächlich der faschistischen Slowaken wegen nötig war. Vermutlich auch die studentischen Gegendemonstrationen faschistischen Charakters. Rede Beneš’ abgesagt.»47 – Mehr nicht. Nur die Nachricht vom Selbstmord des Außenministers Masaryk am 10. März veranlasste ihn zu einer bestürzt klingenden, jedoch immer noch nicht einsichtigen Reaktion. Das Land sei, meinte er, wie 1938 im Stich gelassen worden, «Charakter- und Kraftlosigkeit des Westens» ­seien an allem schuld.48 Kurz davor hatte er der ersten, für den 10. März geplanten Tagung einer Verlagsvereinigung seine herzlichen Grüße gesandt. Die Tagung hätte in Prag unter dem Vorsitz Masaryks stattfinden sollen.49 Thomas Manns Überzeugung, dass der Kahn in seiner Wahlheimat zusehends zu einer Kriegs- und «Faschismus»-Seite kenterte, war unerschütterlich. Daher rührte seine blauäugige Einstellung zur kommunistischen Gefahr. Sie war auch ideologisch begründet: Denn mit der Ablehnung der damaligen US-Politik verteidigte er zugleich seinen eigenen imaginären «Sozialismus», den er aus Bruchkenntnissen diverser Soziallehren zusammengesetzt und mit einem idealisierten Bild des Roosevelt-­Kurses ergänzt hatte. Leopold Schwarzschilds überaus sachkundige Kritik gegen Karl Marx fand Thomas Mann – der Anfänger im Sozia­ lismus, wie er sich einmal bezeichnet hatte – ungeheuerlich.50 Als Opponent der Antikommunisten blieb er für die Sowjets, trotz gelegentlicher Fauxpas, ein wichtiger und geschätzter Kader. 47 48 49 50 110

Tb. 1946 – 1948, S. 229. Ebenda, S. 235. [Botschaft nach Prag]. In: GKFA, 19.1, 378 f. Tb. 1946 – 1948, S. 194. Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Seine Personalakte enthält drei umfangreiche Berichte, die vom Januar 1948 datiert sind. Der erste ist betitelt mit Kurzer Aufenthalt Thomas Manns in Europa und lautet wie folgt: Im Sommer 1947 unternahm Thomas Mann im Zusammenhang mit einem Kongress des PEN-Clubs eine kurze Reise durch Europa. Er war in England, der Schweiz und Frankreich. Das war Manns erste Reise nach Europa nach einer 10-jährigen Unterbrechung. / Nach der Ankunft in Europa gab Thomas Mann mehrere knappe Interviews; eine Reihe von Zeitungen veröffentlichte Auszüge aus der Erklärung, die er beim Betreten des Kontinents gemacht hatte. Die veröffentlichten Versionen unterscheiden sich jedoch stark voneinander und riefen im Wesentlichen unkorrekte Kommentare in der Presse hervor. Insbesondere die ‹Neue Zürcher Zeitung› setzte das in Deutschland nunmehr verbreitete Gerücht in die Welt, Thomas Mann hätte eine Erklärung gemacht, aus der sich folgern ließe, dass er separatistische und föderalistische Ansichten auf die Staatsordnung Deutschlands teile, ungefähr im Sinne des amerikanischen Konzepts, das sich in der Moskauer Tagung des Rates der Außenminister herausgestellt hatte. Es wurde sogar erwähnt, dass Thomas Mann angeblich ­solche Erklärungen als ‹amerikanischer Staatsbürger› gemacht hätte. Diese Gerüchte wurden Ende Mai von Zeitungen in den Westzonen aufgegriffen und sickerten nach Berlin durch. Diese Gerüchte wurden jedoch nicht bestätigt, und es ist kennzeichnend, dass Berliner Zeitungen, die auf englischen und amerikanischen Lizenzen in Berlin herausgegeben werden, wie auf Befehl, mit einer verdachterregenden Einmütigkeit aufgehört haben, über Thomas Mann zu schreiben. / In Anbetracht des hohen moralisch-­politischen Einflusses, den Thomas Mann beim deutschen Volk hat (sein Buch ‹Buddenbrooks› kann man, trotz des Verbotes, heute noch in zahlreichen deutschen Haushalten finden) ist die Vermutung zulässig, daß ein Manöver seitens reaktionärer deutscher Zeitungen vorgelegen hat, die einen ‹Versuchsballon› gestartet haben, um die Position Manns zu klären. Keine offiziellen Angaben zu Thomas Manns politischen Erklärungen sind veröffentlicht worden. Im Zusammenhang mit seiner Europa-­Reise ist lediglich bekannt, dass er sich im Kongress des PEN-Clubs in Zürich für die Aufnahme deutscher Schriftsteller in den PEN-Club und die Wiederherstellung der deutschen Sektion des PEN-Clubs eingesetzt hat. In London und Zürich hielt Thomas Mann einen Vortrag über die Philosophie von Nietzsche. / Die Zeitung der sowjetischen Militäradministration, ‹Tägliche Rundschau›, kommentierte Manns Besuch in Europa auf eine recht vorsichtige Art und Weise und widerlegte indirekt die oben erwähnten Gerüchte über die von ihm angeblich gemachten ‹politischen Äußerungen› wie folgt: / ‹Thomas Manns 1945 – 1948

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Entwicklung in den vergangenen Jahren›, schreibt die Zeitung, ‹seine Position in Bezug auf deutsche, europäische und Weltprobleme kann keinen Spekulationszwecken dienen und widersteht verschiedenen Faseleien; sie ist aus seinen Werken klar und deutlich ersichtlich; in ihrer direkten Form ist sie – häufig in der Form von Geständnissen – in den bekannten ‹Essays› von Thomas Mann – ausgedrückt.› 51

Dieser Bericht enthält mindestens zwei faktische Fehler: Thomas Manns Besuch in Europa war in Wirklichkeit der erste seit acht, nicht aber seit zehn Jahren; Frankreich hatte er, im Gegensatz zu den Niederlanden, nicht besucht. Auffallend ist auch eine falsche Einschätzung seiner Ansichten zu Deutschlands Zukunft. Gleich beim Betreten des europäischen – wenn auch nicht des kontinentalen – Bodens in Southampton hatte er erklärt, dass er gegen ein neues zentralisiertes Reich sei.52 Ob der sowjetische Referent nicht ausreichend informiert war oder aus irgendeinem Grund seinem Wunschdenken freien Lauf ließ, ist unklar. Diese Fehler sollte man allerdings nicht überbewerten. Auch Thomas Manns amerikanische Akten enthielten nicht selten falsche Angaben. So steht beispielsweise in seinem durch die Einwanderungsbehörde (INS ) geführten Dossier, dass er 1952 die Absicht bekundet hätte, für immer in der DDR zu bleiben.53 Nicht ganz klar ist noch, was der sowjetische Referent mit Geständnissen meint. Das entsprechende russische Wort (признание) wäre auch als Zugeständnis übersetzbar. Typisch für den Kalten Krieg ist eine auf Amerika bezogene Feindes­ bestimmung. Das abschließende Zitat aus der Ostberliner Tägliche Rundschau sowie der Bericht insgesamt demonstrieren, wie ernst Thomas Mann von seinen sowjetischen Kuratoren genommen wurde. Zwei weitere Berichte aus dem Januar 1948 geben den Inhalt von zwei im Kontext Thomas Manns relevanten Artikeln wider. Es handelt sich um ­Thomas Mann im Spiegel seiner politischen Essays von Alfred Kantorowicz und Die Begegnung. Die innere und die äußere Emigration in der deutschen Literatur von ­Alexander Abusch. Beide Artikel stammten von ostdeutschen marxistischen Autoren. Ganz im Sinne der Strategie, die Walter Ulbricht schon 1939 entworfen hatte, würdigten

51 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 73 – 74. 52 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit ­Thomas Mann 1909 – 1955, S.  266. 53 Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 132. 112

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

sie Thomas Mann als «großen Moralisten» und Humanisten und nahmen ihn vor Angriffen in Schutz.54 Eigentlich hatte sich Thomas Mann vorgenommen, keinen aktiven Kampf gegen den politischen Mainstream zu führen. Er empfinde sich, steht dazu im Tagebuch, trotz seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft, als Gast und unzugehörig.55 Seine öffentlichen Stellungnahmen zur Politik Trumans waren bis etwa Mitte 1948 in der Tat vorsichtig. Im Rede-­Entwurf zur Wahl von Henry Wallace kommt dagegen seine Ablehnung des Mainstream nahezu vehement zum Vorschein. «Wir sind bedrückt, ja verletzt», schrieb er, «weil Amerika, ganz gleich, wo wir hinschauen, als letztes mächtiges Bollwerk von Reaktion und Unterdrückung gilt, als fest entschlossene Stütze all dessen, was die Völker hassen und verachten, als eine Macht, die mit einem plumpen Macchiavellismus für die Interessen all dessen eintritt, was reaktionär und verfault ist.»56 Diese Rede entwarf Thomas Mann im Mai 1948 für eine Wahlveranstaltung zugunsten des linksliberalen Kandidaten Wallace, der unter anderem von der Kommunistischen Partei der USA unterstützt wurde. Der Politiker war auch in der Sowjetunion keineswegs unbekannt. So zitierte beispielsweise John ­Steinbeck in seinem Buch A Russian Journal von 1948 einen Sowjetbeamten, der ihm gesagt haben soll: «Die einzige Stimme in Amerika, die laut gegen den Krieg ist, ist die von Henry Wallace.»57 Der Ton der Rede Thomas Manns ist ungewohnt scharf, aber noch auffallender ist die Ähnlichkeit einiger ihrer Phrasen mit dem politischen Jargon der Sowjetpresse jener Zeit. Die Wahlveranstaltung fand am 15. Mai statt. Das Ehepaar Mann spendete für Henry Wallace 100 Dollar, vom Auftritt mit dieser Rede sah der Dichter jedoch vermutlich ab.58 Nach rund drei Wochen schrieb er eine weitere Rede zum aktuellen Geschehen, in der er seinen Unmut wieder kundtat. Er hielt sie am 6. Juni 1948 vor der sogenannten Hollywood Peace Group und erntete andauernden Beifall. Die Grundsätze seiner Argumentation blieben unverändert, seine Position lautete, dass scharfer Antikommunismus mit Friedenstätigkeit unvereinbar wäre und 54 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, листы 74, 86 – 88. 55 Tb. 1946 – 1948, S. 162. 56 [Rede-­Entwurf zur Wahl von Henry Wallace]. In: GKFA, 19.1, 384, 753. 57 John Steinbeck/Robert Capa. Russische Reise, S. 36. 58 Siehe GKFA, 19.2, 485. 1945 – 1948

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die USA sich auf dem besten Wege in eine faschistische Diktatur befänden. Er beharrte nach wie vor auf seiner Vorstellung, dass der Kommunismus keine Gefahr für Europa darstellte. Die Sowjetunion Stalins sah er konstant als «Russland» mit einer legitimen, wenn auch nicht ganz nach seinem Geschmack eingerichteten Staatsordnung. Den Wettstreit der USA gegen die UdSSR begründete er in seiner «Peace-­Rede» nicht ideologisch, sondern machtpoli­ tisch. Absichtlich oder unabsichtlich ignorierte er dabei eine grundlegende Tatsache: Die stalintreuen kommunistischen Parteien Europas waren – sei es durch Wahlen, sei es mit anderen Mitteln – auf Machtübernahme ausgerichtet und gedrillt. Sein Kommentar zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei war von erstaunlicher Naivität.59 Es ist undenkbar, dass die Sowjets alle Auftritte Thomas Manns registriert hätten. Auch das FBI , das ihn aus nächster Nähe beobachtete, tat dies nicht. Berichte des amerikanischen Sicherheitsdienstes waren vorwiegend routinemäßig und enthielten keine spektakulären Daten über den Dichter. Vergleichbar neu­ tral wirken auch die meisten Kurzmeldungen in seiner sowjetischen Personalakte. Aus dem Jahre 1948 stammt nur eine, sie ist vom 24. Oktober 1948 datiert und lautet: «Thomas Mann beabsichtigt, die Idee der Schaffung einer Weltregierung zu propagieren.»60 Die Informationsquelle ist nicht angegeben. Doch auf die Anzahl der Meldungen dürfte es im Fall Thomas Mann nicht ankommen. Die Sowjets wussten über die Tendenz seiner politischen Auftritte Bescheid und müssen mit ihr im Wesentlichen zufrieden gewesen sein. Er schätzte den andauernden Briefkontakt mit Becher, der ihn mit ostdeutschen Literaturzeitschriften versorgte. Hin und wieder freute er sich über weitere Aufmerksamkeiten aus der Sowjetzone: So erhielt er Ende August 1948 Bilder aus Bautzen mit der nach ihm benannten Straße.61 Bechers Angebote an Heinrich Mann wurden inzwischen immer lukrativer. Am 28. Oktober schrieb er ihm: «Ich möchte nochmals Sie versichern, daß hier alles für Sie vorbereitet ist, was Sie zu Ihrem Aufenthalt und Ihrer Arbeit benötigen. Im Zusammenhang mit Ihrer Rückkehr ist an die Gründung einer deutschen Dichterakademie gedacht, als deren Präsident Sie vorgesehen sind. […] Tausende

59 [Rede vor der ‹Hollywood Peace Group›]. In: GKFA, 19.1, 387 bis 393. 60 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117. Zu Thomas Manns Interesse für die Idee einer Weltregierung siehe beispielsweise Tb. 1946 – 1948, S. 278, 891. 61 Tb. 1946 – 1948, S. 298. 114

Antikommunismus gleich Faschismus? Die Personalakte Thomas Mann

Ihrer Leser hoffen auf Ihr Kommen!»62 Aber der ältere Dichter-­Bruder zögerte immer noch. Dem jüngeren Bruder galt allerdings auch ein ehrenvolles Angebot: im Brief vom 29. Oktober fragte ihn Becher, erst einmal nur privat, ob er bereit wäre, im Goethe-­Jahr 1949 eine Festrede in Weimar zu halten. Der vom zuständigen Komitee gestiftete Goethe-­Preis solle – das teilte Becher zunächst inoffiziell und vertraulich mit – ihm, Thomas Mann, verliehen werden.63 Der Dichter fand diese Konstellation – ebenfalls nur im Privaten – misslich.64 Die Angelegenheit hatte ein Vorspiel gehabt, von dem Thomas Mann damals bestimmt noch nichts wusste. Der Vorschlag, ihn um eine Festrede in Weimar zu bitten und noch als Ehrenbürger zu würdigen, war zunächst verworfen worden. Starrköpfige Parteifunktionäre vor Ort meinten, er sei «ein Knecht der Wallstreet» und «man vermisse seit langem seinen Beitrag zum deutschen Aufbau-­ Optimismus». Wie Ulbricht es 1939 in einer ähnlichen Situation getan hatte, musste nun Becher eingreifen. Er wies die Parteiprovinzler telegraphisch zurecht und bewirkte die entsprechende Entscheidung zugunsten des «großen Moralisten» und Humanisten.65 Das Jahr 1948 klang im ­­Zeichen eines immer näher rückenden großen Krieges aus. Die weltpolitischen Spannungen wurden durch die sowjetische Blockade Westberlins verstärkt. Thomas Mann mutmaßte Ende Oktober: «Die Aussichten katastrophal. Kommt der Krieg ­dieses Frühjahr oder im nächsten? Kommt er nicht, so tritt an seine Stelle eine Wirtschaftskrisis fürchterlichen Ausmaßes mit ebenfalls unabsehbaren Ereignissen. Der Ausweg in den Krieg nur zu wahrscheinlich: 70 zu 30 Prozent, wie Erika schätzt.»66

62 63 64 65 66

Johannes R. Becher. Briefe, S. 385 f. Tb. 1946 – 1948, S. 855. Ebenda, S. 345. Siehe Tb. 1949 – 1950, S. 438. Tb. 1946 – 1948, S. 322. 1945 – 1948

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1949 – 1950 «Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann Unter andrem hat mich die unvorstellbare Unkenntnis der Europäer in fast allem, was Rußland betrifft, außerordentlich erstaunt. Menschen, die sich als gebildet und zivilisiert bezeichnen, sind oft zu einem ungeheuer leichtfertigen Urteil über das russische Leben bereit, und dabei kennen sie weder die Verhältnisse unserer Zivilisation noch auch nur die Geographie zum Beispiel. Fjodor Dostojewski. Brief an einen Unbekannten, September 1868.1

Das Jahr 1949 war reich an bedeutenden Ereignissen: die Gründung der NATO und der beiden deutschen Staaten, die Aufhebung der Westberlin-­Blockade, der erste sowjetische Atombombentest. Und Thomas Mann besuchte anlässlich des Goethe-­Jubiläums zum ersten Mal seit dem Beginn der Exilzeit sein Vaterland. Am 2. Januar 1949 schrieb er an Becher zurück: Ob er innerhalb der geplanten Europareise auch nach Deutschland kommen würde, sei noch ungewiss. Und von einem Aufenthalt dort könne er sich – immer vertraulich gesprochen – kaum etwas anderes versprechen als Pein, Verwirrung und eine Nervenbelastung, die schlecht angebracht wäre. Wenn die Verleihung des Goethe-­Preises nicht von seiner persönlichen Gegenwart abhängig sei, so würde er die Ehre mit Dank annehmen.2 Am 17. Januar wurde seine Personalakte um eine höchst merkwürdige Kurzmeldung, der man nicht folgen kann, ergänzt. Sie lautete: «Es wird berichtet, daß Thomas Mann den Journalisten erklärt habe, daß er keine Romane mehr schreiben werde. […] Er habe die Absicht, sich in seiner Villa an der Französischen Riviera niederzulassen.»3 Der Zufall wollte es, dass Thomas Mann im Februar und März 1949 erneut Mit den Augen des Westens von Joseph Conrad gelesen hat. Die Lektüre kam sehr gelegen. Es handelte sich um einen 1911 erschienenen psychologisierenden Roman

1 Fjodor M. Dostojewski. Briefe, S. 71. 2 Briefe an Becher, S. 353 f. 3 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, Zettel ohne Nr. 116

über russische Terroristen, die gegen das autokratische Staatssystem kämpften. Der englische (d. h. westliche) Ich-­Erzähler hegte weder für die Terroristen noch für den russischen Staat irgendeine Sympathie; Russland überhaupt sah er als finster, despotisch, unberechenbar und dunkel-­irrational. Thomas Mann fasste zusammen: «Bewunderung für Conrads Roman über die Tragik Rußlands. Die Düsternis des Kampfes z­ wischen Autokratie und Revolution in dem weiten dunklen Lande. Nun ist daraus Revolution als Autokratie geworden, der revolutionäre Polizeistaat.»4 Vor einem Vierteljahrhundert hatte ihm die populäre «Asiatismus»-Theorie geholfen, die Diskrepanz ­zwischen der «zukunftsweisenden» Idee und der Brutalität ihrer Umsetzung durch die Sowjets zu überbrücken. Zum Zeitpunkt der Joseph-­Conrad-­Lektüre war diese Fragestellung für ihn schon lange nicht mehr aktuell. Die «Asiatismus»-Theorie hatte er bereits vor Jahren ad acta gelegt. Aber das Problem der kommunistischen Realität, die sich anscheinend doch nicht so fließend in eine demokratische verwandelte, beschäftigte ihn nach wie vor. Der Roman Joseph Conrads beruhte auf politischen Klischees, die mit der «Asiatismus»-Theorie vergleichbar waren. Er lieferte Thomas Mann einen wichtigen Baustein für die Beantwortung schwieriger Fragen. Seither nahm er das von Joseph Conrad geprägte Russlandbild in sein polemisches Arsenal auf. Im Januar und Februar arbeitete Thomas Mann an einer Vorlesung über Goethe, zu der ihn die Universität Oxford beauftragt hatte. Aktuelle Motive, vor allem seine Ablehnung des Mainstream der amerikanischen Politik, durften in ihr nicht fehlen. Mit Hilfe einer Zusammenstellung von Zitaten glaubte er zu belegen, dass Goethes Blick «heute» möglicherweise eher auf die Sowjet­ union als auf Amerika gerichtet gewesen wäre. Gewiss, meinte er, hätte der Meister den Despotismus missbilligt, aber man denke an Napoleon, vor dem sein Widerwille versagt habe … Dieses symbolhafte Bild wurde von der Realität grausam weggewischt: Am 5. März erreichte Thomas Mann die Nachricht vom Verlauf der Gerichtsverhandlung gegen den Erzbischof von Budapest, die allzu sehr an die berüchtigten «Moskauer Prozesse» erinnerte. Daraufhin entfernte er die Passage über den in Richtung Sowjetunion blickenden Goethe aus seinem Vortrag.5

4 Tb. 1949 – 1950, S. 34. 5 Ebenda, S. 17. 1949 – 1950

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Im nachfolgenden Zeitraum beobachtete die Sowjetseite Thomas Manns Aktivitäten besonders aufmerksam. Laut Kurzmeldung in seiner Personalakte vom 6. Mai 1949, die sich auf die New York Times berief, habe er sich zu den Friedensbestrebungen der UdSSR geäußert. Das Abkommen über Berlin [vermutlich ist das Viermächteabkommen vom 4. Mai 1949 über die Aufhebung der Blockade Berlins gemeint] sei, so der Observierte, «ein Zeugnis der Friedensbestrebungen der UdSSR.»6 Thomas Mann reiste am 10. Mai von New York nach Europa ab. Schon drei Tage danach registrierten seine Kuratoren in Moskau, dass ihm die Ehrendoktorwürde in Oxford verliehen worden war.7 Nach den glanzvollen Empfängen in England und Schweden und einem wohltuenden Urlaub in der Schweiz stand, mit Fragezeichen, Deutschland auf dem Programm. Die Entscheidung, nach Weimar zu reisen, wurde doch nicht so souverän getroffen, wie Katia Mann es nachträglich geschildert hat.8 Noch in Stockholm und Lund war er sich nicht sicher, ob er Frankfurt am Main, wo er nicht für alle ein willkommener Gast werden sollte, besuchen würde.9 Der Entscheidungsdruck belastete ihn emotional bis zu psychosomatischen Auswirkungen. Im Zusammenhang mit Weimar verunsicherte ihn zusätzlich ein weiteres Problem. Seine Bedenken galten nicht der kommunistischen Obrigkeit an sich. Es war die «Abneigung, es mit Amerika zu verderben,»10 die ihm Sorgen machte. Am 18. Mai wurde er von einem Korrespondenten des Münchner Merkur auf sein aufsehenerregendes Verhalten zum Nordatlantik-­Pakt angesprochen. Thomas Mann erwiderte diplomatisch, «er habe eine Eingabe an den amerikanischen Kongreß lediglich des Inhaltes unterzeichnet, die Pakt-­R atifizierung, nicht zu unterstützen, sie nicht durchzupeitschen. Er habe den Pakt deshalb nicht begrüßt, weil er ja auch gleichzeitig ein militärisches Instrument ist und sich auf den Kriegsfall stützt». Ihm, dem Dichter, liege mehr am Frieden.11 Diese Aktivität durfte der Sowjetseite nicht entgehen. Die vom 8. Juli datierte Kurzmeldung in Thomas Manns Personalakte berichtete, dass er «einen Brief an sämtliche 6 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, Zettel ohne Nr. 7 Ebenda. 8 Katia Mann. Meine ungeschriebenen Memoiren, S. 153 f. 9 Tb. 1949 – 1950, S. 57, 62. 10 Ebenda, S. 70. 11 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit ­Thomas Mann 1909 – 1955, S.  289. 118

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Senatoren, in dem zur Ablehnung des Nordatlantik-­Paktes aufgefordert wird», mit unterzeichnet hätte. Ein Vermerk weist darauf hin, dass die Meldung in das allgemeine Dossier Kongress der USA gehöre.12 Am 21. Juni 1949 erklärte Thomas Mann gegenüber der Münchner Neuen Zeitung: Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Kommunismus für Deutschland die gegebene politische Form ist. Aber ich kann der übertriebenen antibolschewistischen Prop­aganda, hinter der sich oft reaktionäre Kreise verstecken, nicht zustimmen. Wir müssen zu einem modus vivendi mit Rußland kommen, um des Friedens willen. Ein neuer Krieg würde Europa zerstören. Auch empfinde ich große Sympathien für die russische Kulturleistung. Ich möchte das Werk Tolstois und Dostojewskis nicht vermissen.13

Typisch ist, dass Thomas Mann das Sowjetsystem und die russische Kulturleistung völlig undifferenziert sieht. Objektiv entsprach diese Einstellung den bewährten Richtlinien der sowjetischen Kulturpropaganda, die große Namen der russischen Kultur ihren Zwecken anpasste und sich willkürlich zu eigen machte. Im gleichen Interview lobte Thomas Mann – mit einem geringen Vorbehalt – die Rezension des Doktor Faustus von Georg Lukács. Am 22. Juli war der Besuch in Weimar immer noch ungewiss. Am 23. Juli reiste Thomas Mann – mit dem Gefühl, als ob es in den Krieg ginge, – von Basel nach Frankfurt. «Morgens noch ein Bad», schrieb er im Tagebuch auf, «denn wer weiß …»14 Auf unbequeme politische Fragen musste er praktisch in jedem Interview eingehen. Am 26. Juli sagte er dem Korrespondenten der Frankfurter Rundschau, dass der totalitäre Kommunismus ihm nicht wünschenswert scheine; «wenigstens er für seine Person habe kein positives Verhältnis zu ihm. Es sei eine Tragödie, dass die Autokratie des Zarenregimes sozusagen in die Revolution ‹aufgegangen›, dass ‹die Revolution autokratisch geworden› sei. Er wolle hier nicht vom Terrorismus sprechen, sondern nur von Autokratie, was ihm objektiver scheine.»15

12 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205. 117, Zettel ohne Nr. 13 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  298. 14 Tb. 1949 – 1950, S. 81, 82. 15 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  307. 1949 – 1950

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Damit wiederholte Thomas Mann seine private Zusammenfassung des ­Romans Mit den Augen des Westens von Joseph Conrad fast wörtlich. Wie bereits erwähnt, hatte ihm ­dieses Werk einen wichtigen Baustein für die Beantwortung schwieriger Fragen geliefert. Die sowjetischen Betreuer Thomas Manns müssen ihre Not mit dem schwankenden Sorgenkind gehabt haben, denn es handelte sich wieder einmal um eine Äußerung, die ihr sicheres Propagandakonzept verdarb. Seit mehr als dreißig Jahren spielten sich die Kommunisten als «Befreier» von der Autokratie und Glücksbringer für das Volk auf. Nun unterstellte ihnen der «große Moralist» genau das, wovon sie das Volk befreit haben wollten. Vor dem Hintergrund der offiziellen Ehrungen ließ sich Thomas Mann von der ostdeutschen Delegation, die deswegen extra nach Frankfurt am Main gekommen war, schließlich überreden, auch Thüringen zu besuchen. Die Kurzmeldung in seiner Personalakte vom 28. Juli trägt die Überschrift Geheim und berichtet mit Verweis auf TASS und Reuters, dass die westdeutsche KPD Thomas Mann herzlich begrüße. Ihr Vorsitzender Max Reimann habe dem Schriftsteller einen Brief anlässlich dessen bevorstehenden Besuchs in Weimar ausgehändigt.16 Becher und Klaus Gysi, ein weiterer Kulturfunktionär, holten Thomas Mann am 30. Juli in Bayreuth ab und begleiteten ihn bis zur Zonengrenze. Seine Reise in das kommunistische Deutschland löste eine lange andauernde spannungsgeladene Polemik aus. Mit ihr ging auch der politische Wettstreit um Thomas Mann in eine neue, intensivere Runde. Den Ton der Polemik gab schon im Vorfeld des Weimar-­Besuches ein offener Brief der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an. In ihm wurden die unmenschlichen Verhältnisse im ehemaligen NS -Konzentrationslager Buchenwald beschrieben, das die Sowjets zweckgerecht als Lager für ihre Regimegegner benutzten. Thomas Mann wurde aufgerufen, während seiner Reise auch diese unweit des Pilgerortes deutscher Klassik befindliche Stätte zu besuchen.17 Der Dichter antwortete am 27. Juli mit einer ­kurzen Erklärung: Er könne den einladenden Behörden keine Forderungen stellen, die sie nicht zu erfüllen vermöchten. Was die Bekämpfung der Unmenschlichkeit betreffe, so ehre er ihre Ziele und wünsche ihr allen erdenklichen Erfolg.18 16 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 17-о. 17 GKFA, 19.2, 784 f. 18 Ebenda, 19.1, 692. 120

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Daraufhin wandte sich Eugen Kogon, ein Publizist und Buchenwald-­Häftling in der Zeit des Nationalsozialismus, mit einem langen offenen Brief zum gleichen Thema wie derjenige der Kampfgruppe an Thomas Mann. Der Schlagabtausch wurde von der Sowjetseite aufmerksam verfolgt. Die Meldung in der Personalakte Manns vom 29. Juli heißt Provokativer Appell eines deutschen Reaktionärs an Thomas Mann und gibt den Inhalt des offenen Briefes von Eugen Kogon wider.19 Die Datumsangabe muss fehlerhaft sein, denn Kogons Brief wurde erst am 30. Juli in der Frankfurter Neuen Presse veröffentlicht. Sein Verfasser wird ohnehin seit einiger Zeit auf der schwarzen Liste der Sowjets gestanden haben. Kogons Position war scharf antikommunistisch, und Becher hatte schon Anfang 1948 in zwei Privatbriefen an ihn versucht, seine Argumentation zu entkräften.20 Die Kritik an Thomas Mann im Zusammenhang mit Buchenwald war das Ergebnis eines tragischen Unverständnisses. Die Motive der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit waren aufrecht und nachvollziehbar, aber sie setzte Thomas Mann rücksichtslos unter Druck, indem sie ihn zu einer Protestaktion aufforderte, die seine Kräfte überstieg. Die Sowjets ihrerseits waren offensichtlich bestrebt, ihre Arbeit mit dem schwankenden bürgerlichen Schriftsteller zu optimieren. Zum ersten Mal hielt er sich in einem kommunistisch regierten Gebiet auf. Damit war sein Aufenthalt in Ostdeutschland gewissermaßen der Höhepunkt ihrer jahrelangen Bemühungen um ihn. Der Aufenthalt gestaltete sich wie ein Triumphzug und wurde durch nichts getrübt, während von der Gegnerseite immer neue Angriffe auf den Dichter erfolgten. Der von Becher vertraulich vorangekündigte Goethe-­Nationalpreis in Höhe von 20 000 Mark wurde ihm verliehen. Den Betrag spendete er sodann für den Wiederaufbau der Stadtkirche St. Peter und Paul. Die Meldung in seiner Personalakte vom 2. August 1949 enthielt folgende Information: «Thomas Mann übergab 20 Tausend Mark für gesellschaftliche Einrichtungen der sowje­ tischen Besatzungszone Deutschlands». Außerdem wurde von den Angriffen «der reaktionären westlichen Presse» berichtet. Es ist ersichtlich, dass Reporte der sowjetischen Nachrichtenagenturen sowohl vom Ton als auch vom Inhalt her – und nicht selten zum Nachteil der Fakten – politisch angepasst wurden. Expertenreferate und frühere Kurzmeldungen, beide nicht zahlreich, wirken dagegen sachlich und neutral. 19 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 60. 20 Johannes R. Becher. Briefe, S. 356 – 360 und 362 f. 1949 – 1950

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Abb.  8  Thomas Mann in Weimar, 4. August 1949. Der Erste von links Johannes R. Becher.

Eine weitere Meldung – sie bezieht sich auf den 2. August, ist vom 3. August datiert und mit der Überschrift Geheim versehen – handelt von einem Brief des Präsidiums des Deutschen Volksrates an Thomas Mann. Er wurde von Wilhelm Pieck, Otto Nuschke, Hermann Kastner, Lothar Bolz und Ernst Goldenbaum unterschrieben.21 Dem folgte eine zweite Meldung vom gleichen Datum, die sich auf die TASS bezog und ebenfalls die Überschrift Geheim trug: «Schon lange vor der Reise Th ­ omas Manns in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands begannen die deutschen Diener der amerikanischen Kriegshetzer eine gegen ihn gerichtete Kampagne von Erpressung und Einschüchterung. Der Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, ein Anhänger von Schumacher, [namens] Kolb, versuchte, Mann mit böswilligen verleumderischen Hirngespinsten über die Sowjetzone einzuschüchtern.»22 Diese Meldung steht stilistisch und inhaltlich auf dem Niveau der damaligen Sowjetpresse. Es ging den Sowjets sicherlich darum, aus dem Propaganda­ erfolg, den für sie die Reise Thomas Manns nach Thüringen schon an und für sich 21 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 54. 22 Ebenda, лист 53. 122

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Abb.  9  Auszug aus dem Dokument Nr. 36510 vom 3. August 1949. Geprüft durch die Außenpolitische Kommission des ZK der Kommunistischen Allunions­ partei (Bolschewisten) am 22. Juli 1950.

darstellte, ein höchstmögliches Kapital zu schlagen. Ihr penetrantes Bemühen, den Dichter vor Angriffen in Schutz zu nehmen, kann ihn nur abgestoßen haben. In das feine Spiel um Thomas Mann, das Becher sachkundig und geduldig führte, mischten sich einfältig-­linientreue Laien immer wieder störend ein. Charakteristisch ist eine negative Erwähnung des Namens von Kurt Schumacher, dem führenden SPD-Politiker in den Westzonen, der 1945 die Vereinigung von Sozial­demokraten und Kommunisten abgelehnt hatte. Ein weiterer Bericht wurde am 3. August 1949 angefertigt, aber erst am 22. Juli 1950 in die Personalakte Thomas Manns aufgenommen. Er lautet wie folgt (der Stil der Originalvorlage ist beibehalten): Auszug aus dem Dokument in h.[?] Nr. 36510 vom 3. August 1949. Geheim. Becher erkundigte sich, wie in der UdSSR das neue Werk Thomas Manns, ‹Doktor Faustus›, eingeschätzt wird (wie sich herausstellte, hat Becher diesen Roman auch nicht gelesen). Nach Bechers Worten habe der bekannte ungarische marxistische Kritiker Lukács eine sehr gute Rezension für d ­ ieses Buch geschrieben. In d ­ iesem Zusammenhang teilte Becher mit, dass Thomas Mann in einem seiner Interviews erklärt hatte, dass er erwarte, dass die UdSSR ­dieses Werk positiv aufnehmen würde, 1949 – 1950

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und warf die Frage nach dessen Ausgabe in der UdSSR auf. Dabei betonte er, dass dies für die moralische Unterstützung Thomas Manns notwendig sei. Davon, dass Thomas Mann in letzter Zeit zweifach gegen die Sowjetunion aufgetreten war, indem er der UdSSR ein totalitäres und Polizeiregime vorwarf, welches zum Entflammen von Hader auf der Welt beitrage, und sich billigend über den Westblock äußerte, hat Becher nicht gewusst. Für die Richtigkeit: Instrukteur der A[ußenpolitischen] K[ommission] des ZK der K[ommunistischen] A[llunionspartei] (B[olschewisten]) [gezeichnet] Sergeeva. 22. Juli 195023

Die Außenpolitische Kommission war eine mächtige sowjetische Behörde, ­welche die Kontakte zu kommunistischen und prokommunistischen Parteien sowie Organisationen, Vereinen, Bündnissen usw. im Ausland betreute. Sie verfügte de facto über die Vollmachten eines Geheimdienstes. Daher erscheint das zitierte Dokument von besonderer Wichtigkeit. Es demonstriert, dass Thomas Mann in ­diesem oder jenem Maß ins Blickfeld mehrerer sowjetischer Behörden geraten ist. Inhaltlich zeugt es abermals von Bechers verständnisvoller Engagiertheit für Thomas Mann. Ein leichtes Missvergnügen gegen den umworbenen Dichter, der sich immer wieder als politisch unzuverlässig erweist, ist aus dem Dokument herauszulesen. Eine gewisse Verstimmung gilt auch Becher, der wohl einmal in seiner Wachsamkeit als Kommunist und Funktionär nachgelassen hatte. Die US-amerikanische Presse war an Thomas Manns Einstellung zu seiner ersten Reise ins Nachkriegsdeutschland nicht weniger interessiert als die deutsche. Am 13. August 1949 war der Dichter wieder in der Neuen Welt, am 15. August erschien sein Interview mit der New York Herald Tribune. Er sprach seine Besorgnis über den wachsenden deutschen Nationalismus und sogar eine gewisse Hitler-­ Nostalgie im westlichen Teil aus. Aufrichtig demokratische Kräfte ­seien dort in einer gefährlich kleinen Minderheit. Sie müssten, so der Dichter, in ihrem Kampf gegen Nationalismus und Militarismus unterstützt werden. Seine Eindrücke von der Sowjetzone waren im Ganzen nur positiv.24 23 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 59. 24 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  311 f. 124

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Abb.  10  Bericht vom 18. August 1949.

In seiner Personalakte befindet sich ein vom 18. August 1949 datierter Bericht, der folgenderweise lautet (der Stil der Originalvorlage ist beibehalten): Erklärung Thomas Manns [Abkürzung aus sechs kyrillischen Großbuchstaben und einer vierstelligen Zahl]. New York, 17. August (TASS). In seinem Interview, das er dem Korrespondenten der Agentur United Press gab, bestand Thomas Mann auf Notwendigkeit einer Ausweitung des Kulturaustausches ­zwischen Ost- und Westdeutschland; er erklärte, dass er seine jüngste Reise nach Ostdeutschland eine ‹Friedensmission› nennen möchte. / Nach ­Thomas Manns Worten hatte er festgestellt, dass in Ostdeutschland Nazis von der Arbeit bei Behörden ausgeschlossen sind. Er fügte hinzu, dass – obgleich die Kommunisten zurzeit die meisten Verwaltungsposten in Ostdeutschland kontrollieren – ‹es darauf ankommt zu verstehen, dass sowohl die liberale als auch die katholische Partei mit den Kommunisten koexistieren darf›. / Thomas Mann widerlegte Berichte über ‹Massenrepressalien›, die angeblich die Sowjetautoritäten in Buchenwald betreiben. / Er sagte, dass von 30.000 Häftlingen, die sich zurzeit in Buchenwald befinden, mehr als zwei Drittel ehemalige Nazis sind, die 1949 – 1950

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anderen – Vertriebene und ‹mehrere antikommunistische Politiker›. ­Thomas Mann wies darauf hin, dass er, auch wenn er Buchenwald nicht besucht hat, weiß, dass niemand von den Häftlingen gefoltert werde. / Thomas Mann ging zur Situation in Westdeutschland über und erklärte, dass alle anständigen Deutschen, mit denen er gesprochen hatte, sich über die Wiedergeburt des Nationalismus besorgt zeigten, was sich so stark bei der Wahlkampagne gezeigt habe [so im Original – A. B.]. Anstatt diese Bedrohung zu beseitigen, begrüßte sie die amerikanische Regierung sogar als Merkmal ‹eines gesunden Missionsausdrucks› [?]. Hochgestellte Amtspersonen in der Verwaltung von Frankfurt und anderen Städten der amerikanischen Zone, die durch ihre demokratischen Ansichten bekannt und jahrelang Häftlinge in Konzentrationslagern gewesen sind, drücken Bedauern wegen fehlender Zusammenarbeit von Seiten der amerikanischen Regierung in ihrem Kampf für die Ausrottung des Nationalismus aus›. / Thomas Mann behauptete, dass die Sozialdemokraten eine politische Gruppe ­seien, die für die Verhinderung einer Wiedergeburt des Nazismus am stärksten ‹ausgerüstet› sei, und fügte hinzu: ‹Ohne eine wahrhaftig demokratische Führung wird der Nazi-­Nationalismus beim deutschen Volk tiefe Wurzeln schlagen, und der Hitler-­Geist wird bald als irgendeine andere ‹Ultra-­ Partei› wieder lebendig werden.› 25

Dieser Bericht enthält zwar leichte Anpassungen in die politisch gewünschte Richtung, aber er gibt die Einstellung Thomas Manns nach der Rückkehr aus Europa im Allgemeinen richtig wieder. Wie sehr die Sowjets mit seinem Besuch in Ostdeutschland zufrieden sein konnten, ergibt sich erst aus dessen Nachspiel. Am 9. September 1949 publizierte die Züricher sozialdemokratische Zeitung Volksrecht einen offenen Brief an Thomas Mann von Paul Olberg gemeinsam mit Thomas Manns Antwort. Olberg, ein ehemaliger exildeutscher Journalist, kritisierte den Dichter wegen des Besuchs im totalitär regierten Ostdeutschland. Sein Hauptvorwurf traf das Problem im Kern und war schwer zu entkräften: Wie konnte Thomas Mann, hieß es, der «mit so unerbittlicher Schärfe den Kampf gegen Gewalt und Terror geführt hat, die Einladung eines Regimes annehmen […], das in nicht minder brutaler Weise Freiheit und Humanität mit Füßen tritt?»26 Die Einwände, mit denen sich Thomas Mann verteidigte, klangen vage. Um den Vorwurf in politischer Hinsicht zu entschärfen, erwähnte er, dass in der Regierung von Thüringen nicht nur Kommunisten säßen. Mit einer Naivität, 25 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 18-o (52). 26 Tb. 1949 – 1950, S. 443. 126

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

die an die Sichtweise des US -Botschafters Davies erinnert, berichtete er, dass Christdemokraten und Geistlichen dort auch manch ein Wort erlaubt sei. Zur ideologischen Entschärfung des Vorwurfs wollte er klarstellen, dass er sich nicht zum Kommunismus und schon gar nicht zu dessen aktueller sowjetischer Version bekenne. Dafür wiederholte er erneut sein privates Resümee von Joseph Conrads Mit den Augen des Westens: Revolution und Autokratie hätten in der UdSSR zusammengefunden. Er habe diese Betrachtung öffentlich ausgesprochen und dadurch die Missgunst der sowjetischen Presse auf sich gelenkt. Doch alles Positive, das schon seit Jahrzehnten sein eigenes Kommunismus-­ Bild kolorierte, sowie die freudigen Erlebnisse in der Sowjetzone ließ er sich nicht nehmen. Die Zukunft, meinte er, sei ohne kommunistische Züge längst nicht mehr denkbar. Und in Ostdeutschland habe er – im Gegensatz zum Westen – «keine schmutzigen Schmähbriefe und blöde Schimpfartikel zu sehen bekommen». Seine Bücher würden im Osten gelesen und geschätzt. Er sei kein «Mitläufer». Aber es scheint, dass er gescheite Kommunisten zu Mitläufern habe.27 Am 25. September 1949 erschien in New York Times Magazine der Reise­bericht Germany Today, den Thomas Mann teilweise gleichzeitig mit der Antwort an Olberg geschrieben hatte. Weniger polemisch zugespitzt und in einer der Leserschaft gewogenen Sprache übermittelte er die gleichen Schlüsse: der Nationalismus in Westdeutschland steige an, und die Demokratien sollten den Kampf gegen ihn unterstützen; der Empfang in Ostdeutschland sei überwältigend gewesen; das Regime in Thüringen sei nicht (unbedingt) totalitär; die kommunistische Lehre habe Elemente, die mit den Ideen von Freiheit und Demokratie vereinbar sind.28 Die deutsche Fassung des Reiseberichts wurde im Dezember 1949 in der Neuen Schweizer Rundschau publiziert. Sie wies einige Abweichungen von der englischen Übersetzung auf, unter anderem ging Thomas Mann in ihr auf das Thema Buchenwald ein. «So gut ich konnte», schrieb er, und unter der Hand, habe ich mich über die Zustände dort informieren lassen. Ich hörte, die Belegschaft bestehe zu einem Drittel aus schlechthin asozialen Elementen und verwilderten Landfahrern, zum zweiten Drittel aus Übeltätern der Nazi-­Zeit und zum dritten aus Personen, die sich manifester Quertreibereien gegen den neuen Staat schuldig gemacht und notwendig hatten isoliert werden müssen. Folter, Prügel,

27 [Antwort an Paul Olberg]. In: GKFA, 19.1, 719 bis 722. 28 Tb.  1949 – 1950, S.  663 – 665. 1949 – 1950

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Vergasung, die sadistische Erniedrigung des Menschen wie in den Nazi-­Lagern gebe es dort nicht. Aber die Sterbeziffer sei hoch infolge von Unterernährung und Tuberkulose. […] Das Bild ist traurig genug. Wir wollen hoffen, daß es nicht auch noch zu schön gefärbt ist.29

Thomas Manns Antwort an Paul Olberg und der Reisebericht waren die ersten Takte des polemischen Nachspiels seines Besuchs in Deutschland. Ihre Inhalte stimmten mit dem Bericht in seiner Personalakte vom 18. August 1949 im Wesentlichen überein. Die Sowjets hatten allen Grund, mit den vorläufigen Ergebnissen zufrieden zu sein. Trotz Warnungen und ursprünglicher Bedenken war Thomas Mann nach Thüringen gefahren. Die Reise war nahtlos verlaufen. Den alternativen Goethe-­Preis nahm er an. Seine Ansprache im Weimarer Nationaltheater war wohlwollend. Während des Aufenthalts stellte er keine unbequemen Fragen zur Politik. Nach der Rückkehr in den Westen machte er keine schwerwiegenden systemkritischen Äußerungen über den Osten. Zugleich wurde er aufs Neue und noch heftiger als zuvor von den westdeutschen Medien angegriffen. In Amerika – und darauf muss es den Sowjets ganz besonders angekommen sein – erklärte er dem breiten Leserpublikum, dass das Regime in Thüringen demokratisch anmute; die Zukunft ohne kommunistische Züge nicht denkbar sei; man in der Sowjetzone Geist und Kultur zu schätzen wisse; im Osten strenger und konsequenter gegen Rudimente des Nazismus vorgegangen werde als im Westen. Die Schweizer Leser durften von Thomas Mann zusätzlich erfahren, dass im Lager Buchenwald nicht gefoltert und geprügelt werde. All das waren Ergebnisse, die das Image der kommunistischen Macht aufpolierten. Vor ­diesem Hintergrund klangen gelegentliche Dissonanzen, wie beispielsweise seine Betrachtung zu Autokratie und Revolution, unbedeutend. ­Thomas Mann und die Sowjetunion hatten einen gemeinsamen Gegner im Kalten Krieg, und zwar den US -amerikanischen Staats-­Antikommunismus. Des Dichters Besuch in der Sowjetzone versetzte d­ iesem Gegner einen nicht unempfindlichen Propaganda-­Schlag. Thomas Manns Publikationen zu seiner Deutschlandreise gaben der Polemik einen weiteren Anstoß. Die sich überschlagenden politischen Ereignisse verstärkten noch die allgemeine Anspannung. Er fixierte sie in seiner scheinbar unbeteiligten 29 [Reisebericht]. In: GKFA, 19.1, 715. 128

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Manier im Tagebuch: Zündung der sowjetischen Atombombe, neue antikommunistische Aktivitäten der Behörden in den USA, Gründung der DDR. Seine seltenen Kommentare fielen zu Ungunsten der amerikanischen Politik aus. Zu den andauernden Angriffen in der Presse schrieb er am 11. Oktober auf: «Das Gezänk um mich widerwärtig, aber abstumpfend. Hoffe immer, es zur Ruhe kommen zu lassen, bin aber immer wieder gezwungen, Öl ins Feuer zu gießen.»30 Thomas Manns Gereiztheit erreichte gegen Ende des Jahres 1949 einen kritischen Punkt und entlud sich in einem «explosiven Artikel». Dem Motto von Emile Zola – J’accuse – folgend, klagte er die gesamte Politik des US-Regierung an. Das Thema Kommunismus blieb dabei natürlich nicht unerwähnt. Wie gewöhnlich sagte der Dichter den Methoden des totalitären Staates im Allgemeinen ab, aber nahm dessen theoretische Grundlagen in Schutz. Diskrepanzen glättete er mit landeskundlichen Betrachtungen. Eine prägnante Stelle des Artikels, die sich auf den Kommunismus bezog, lautete: «Daß das russische Volk als ganzes sonderlich leidet unter seinem Regime, bezweifle ich. Der neue Staat hat ihm große Vorteile, große Fortschritte gebracht, und die Kosackenknute ist ihm vertraut […]». Diesem Passus, den man aus Achtung vor seinem Verfasser, dem herausragenden deutschen Schriftsteller, unkommentiert lassen möchte, folgte eine Variation des Motivs von Joseph Conrad: Autokratie und Revolution hätten nach einem langen Kampf zusammengefunden.31 Der zitierte Abschnitt samt nachfolgender Variation wurde allerdings in der Endfassung des Artikels gestrichen. Auch vom Abdruck des gesamten Manuskriptes sah Thomas Mann schließlich ab, da dies, wie er am 29. Dezember 1949 aufschrieb, «mir hier den Hals brechen könnte.»32 Der explosive Artikel gelangte nicht an die Öffentlichkeit, aber seine Bedeutsamkeit wird dadurch nicht geschmälert. Im Gegenteil: Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus Deutschland ging ­Thomas Mann so umfänglich und ohne diplomatische Rücksichten auf die aktuelle Politik ein. Er hat noch mehrfach auf diesen nicht-­publizierten Aufsatz zurück­gegriffen und einzelne Teile sowie Gedankengänge aus ihm in andere Schriften einfließen lassen.33 Anfang 1950 nahm der Grad der antikommunistischen Aktivitäten zu. Alger Hiss, ein Jurist und Beamter, der 1945 Roosevelt zur Jalta-­Konferenz mit begleitet hatte, wurde wegen Spionage für die UdSSR angeklagt. Thomas Mann verfolgte 30 31 32 33

Tb. 1949 – 1950, S. 111. Ebenda, S. 671 f. Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 150, 151, 155, 161, 685. 1949 – 1950

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den Prozess in angespannter Seelenverfassung. Am 26. Januar notierte er: «Grauen und Ekel vor dem Hiß-­Prozeß und seiner politischen Ausbeutung. Rache an ­Roosevelt für Yalta. Ein politischer Mord». Am 28. Januar empfand er ein «Stimmungstief immerfort mit Einschlag von Grauen». Am 30. Januar – «Von Morgens an das depressive Grauen im Herzen. […] Gefühl allgemeiner Krise und Wende». Am 31. Januar hieß es: «Grauen und Übelkeit. Bin den Zuständen in d­ iesem Lande garnicht gewachsen, mag aber an die Aufgabe des Hauses nicht denken und darf das Ansehen, ja die Popularität nicht vergessen, die ich doch hier genieße». Am 3. Februar las er in Orwells 1984, und seine Nerven ertrugen «diese Phantasie-­ Realisierung des schon Seienden sehr schlecht.»34 Und so ging es ihm weiterhin über Wochen. Angst und Grauen vor der politischen Entwicklung in Amerika wurden seine Dauerstimmung. Ohne Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Präsident Truman den Senator McCarthy, welcher in seinem Eifer als Kommunistenjäger offenbar manchmal zu weit ging, scharf zurechtgewiesen hatte.35 Heinrich Mann ließ sich nach jahrelangem Zögern und Schwanken zu einem Umzug nach Ostberlin überreden. Die Abreise war für Mitte April geplant. Der Tod hat es anders gewollt: Heinrich Mann starb am 11. März 1950 in Kalifornien. Unter diesen deprimierenden Umständen arbeitete Thomas Mann am Jahresvortrag für die Library of Congress in Washington, den er am 21. März vollendete. Im Zusammenhang mit dieser Schrift sollte ihm persönlich – zum ersten Mal seit dem Beginn der Truman-­Ära – Schaden erwachsen. Luther H. Evans, der verantwortliche Bibliothekar, teilte ihm in einem sehr höflichen Brief mit, dass ­ elche sein Auftritt in der Library of Congress nicht ratsam wäre. Agnes Meyer, w die Kosten seiner lecture trug, schloss sich den Argumenten von Evans an: der Besuch des Dichters in Ostdeutschland, seine öffentlichen statements, insbesondere der Brief an Olberg, hatten eine scharfe Diskussion hervorgerufen; die politische Atmosphäre in Washington sei für den Auftritt mit dem neuen Vortrag nicht günstig.36 Thomas Mann akzeptierte die Warnung und verlegte ihn nach Chicago. Später schrieb er an Agnes Meyer aus Europa: «Ich erzähle niemandem, daß ich in Washington nicht sprechen durfte und betone nur, daß ich es in Chicago und New York getan habe.»37

34 35 36 37 130

Ebenda, S. 159, 161, 163. Ebenda, S. 181. TM–AEM, S. 732 f., 1076 f. Ebenda, S. 739. «Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Seine sowjetische Personalakte enthält keine Information über die Ausladung in Washington. Es ist aber unvorstellbar, dass seine Betreuer nicht früher oder später von ihr erfahren hätten. Der Vorfall war beachtenswert: Auch wenn der Schaden vergleichsweise nicht so hoch war, hatte der Dichter wegen seiner opponierenden politischen Haltung zu leiden. Davon konnten die Sowjets bei Bedarf Gebrauch machen und ihn als Opfer der Kommunistenhetze darstellen. Verbarg Thomas Manns Schrift, die mit Meine Zeit betitelt war, irgendwelche politisch gefährlichen Inhalte oder wollten Evans und Agnes Meyer ihm nur überflüssigen Stress ersparen? Lieferte Meine Zeit auch den Sowjets in deren Propagandakampf irgendwelche Punkte? Mit dem Thema Kommunismus bzw. Sowjetunion setzte sich der Vortrag jedenfalls gründlich auseinander. Manfred Flügge weist darauf hin, dass H ­ einrich Mann in der Mitte der Dreißigerjahre angefangen hatte, Propagandaphrasen der Sowjets in seine Texte einzubauen.38 Bei Meine Zeit ist bemerkenswert, dass ­Thomas Mann einerseits sich ebenfalls der Propagandaphrasen der Sowjets bediente, andererseits – sei es aus Vorsicht, sei es aus Treue gegenüber seinem eigenen Traum-­Sozialismus – bestrebt war, sich nicht als Anhänger des Sowjetsystems festzulegen. Das wird vor allem aus dem Abschnitt ersichtlich, in dem Thomas Mann die Entwicklung der UdSSR «historiosophisch» deutet. «Ich möchte keinen Zweifel lassen», schreibt er, «an meiner Ehrerbietung vor dem meiner Zeit angehörigen historischen Ereignis der Russischen Revolution [1917]. Sie hat in ihrem Lande längst unmöglich gewordene, anachronistische Zustände beendet, ein zu neunzig Prozent analphabetisches Volk intellektuell gehoben, das Lebensniveau seiner Massen unendlich menschlicher gestaltet.»39 Wie in einschlägigen sowjetischen Propagandaschriften, wird in ­diesem Passus die gesamte sozial-­politische und ökonomische Entwicklung Russlands vor 1917 auf negative Klischees reduziert. Den Sowjets diente diese Methode zur Begründung ihrer Rolle als Erlöser und Glücksbringer. Die einzige konkrete Angabe, die Thomas Mann macht – «ein zu neunzig Prozent analphabetisches Volk» –, entstellt das faktische Bild und ruft damit ebenfalls entsprechende sowje­tische Quellen in Erinnerung. Die Tatsachen waren anders: Im Rahmen der allgemeinen Volkszählung von 1897 war festgestellt worden, dass 79 Prozent der Bevölkerung Russlands Analphabeten waren. Daraufhin wurde das Budget 38 Manfred Flügge. Traumland und Zukunft, S. 127. 39 Meine Zeit. In: GW, XI, 319. 1949 – 1950

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des Bildungsministeriums im Jahre 1906 um 33 Prozent und 1911 um 120 Prozent gegenüber dem Jahr 1901 erhöht. Es wurde ein umfassendes Reformprogramm in Sachen Volksbildung konzipiert und umgesetzt, das bedeutende Fortschritte brachte.40 Die nüchternen Zahlen aus den vorrevolutionären Statistikberichten mögen dem Dichter unzugänglich gewesen sein. Die vom US-Botschafter Joseph E. Davies angeführten Angaben müsste Thomas Mann dagegen gekannt haben, denn die Memoiren des Diplomaten hatte er 1941 gewürdigt und weiterempfohlen. Davies, der ein Freund der Sowjetunion und kein Anhänger des Zarenreichs war, schrieb: «1913 waren noch siebenundsechzig Prozent der Einwohner Rußlands Analphabeten.»41 Ganz gleich, ob Thomas Mann das seinerzeit überlesen oder 1950 bereits vergessen hatte, die «neunzig Prozent» passten offenbar besser in sein Konzept. Dieses Beispiel ist sowohl im allgemeineren politischen Kontext als auch für die Deutung der Ansichten Thomas Manns wichtig. Die umfangreiche amtliche Statistik zeigt, dass im vorrevolutionären Russland Probleme – darunter auch diverse anachronistische Zustände – mit kompetenten Reformen angegangen wurden. Was die Sowjetmacht als Leistung für sich verbuchte, hatte sie dagegen mit Gewalt und Terror erreicht. Vor ­diesem Hintergrund klang Thomas Manns Behauptung, die Revolution hätte das Lebensniveau der Massen unendlich menschlicher gestaltet, bestenfalls naiv. Seine Schlussfolgerungen über das Sowjetsystem machte er – unverändert – auf der Grundlage gängiger Klischees und Bilder, die durch die Sowjetpropaganda verbreitet wurden. Der zitierte Passus aus Meine Zeit zollte der sowjetischen Sicht der Dinge merklich Tribut. Im Anschluss an ihn versuchte Thomas Mann auch die Schattenseite der Revolution von 1917 «historiosophisch» auszulegen. Getreu dem Leitmotiv, das ihm Joseph Conrads Mit den Augen des Westens zuletzt geliefert hatte, schrieb er, dass die Revolution «das spezifische Signum russischen Schicksals und Charakters» trage; sie und die Autokratie hätten einander gefunden. Aus dem Umsturz sei kein freies Russland entstanden, sondern eine autokratische Revolution.42 40 Россия 1913 год. Статистико-­документальный справочник, с.  342 – 343. (Zum Vergleich: Laut ZeitOnline vom 28. Februar 2011 konnten in der Bundesrepublik Deutschland anno 2011 etwa 7,5 Millionen Erwachsene, d. h. 14 Prozent der Erwerbstätigen, keine einfachen Texte lesen oder schreiben). 41 Joseph E. Davies. Als USA-Botschafter in Moskau, S. 307. 42 Meine Zeit. In: GW, XI, 319. 132

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

Das im Westen beliebte Klischee der «unerträglichen Zustände» und des «grausamen alten Regimes» wurde durch die Sowjetpropaganda unterstützt und popularisiert. Das weitere Klischee, das Thomas Mann im letztzitierten Passus bediente, war aber schon ganz und gar nicht in ihrem Sinne. Die Sowjetführung sah sich konstant als Bollwerk von Freiheit und Fortschritt. Sie wollte bestimmt nicht mit dem Regime, das sie propagandistisch zum Sündenbock der Geschichte gemacht hatte, auf eine Stufe gestellt werden. Schon in der Antwort an Paul Olberg erwähnte Thomas Mann, dass die sowjetische Presse seine Äußerung über die autokratische Revolution sehr übel aufgenommen hatte.43 Mit dem «joseph-­conradschen» Leitmotiv distanzierte sich der Dichter vorsichtig von der totalitären Wirklichkeit der UdSSR, ohne damit seine Ehrerbietung vor der Revolution in Frage zu stellen. Anschließend sollte man einiges zur Arbeitsmethode von Thomas Mann als Publizisten anmerken. Historische Fakten belegen, dass das Russland der Zaren entgegen seinen Behauptungen kein Terror- und Polizeistaat war. Jedenfalls war es das in keinem höheren Maße als das ihm zeitgenössische Deutsche Kaiser­reich, dem der junge Thomas Mann huldigte, oder die Dritte Französische Republik, die sein Bruder verehrte. Sicherlich stand Thomas Mann nicht viel neutrales Material zur Verfügung. Doch um das Niveau der Quellen kümmerte er sich bei der publizistischen Arbeit ohnehin recht wenig. Er nutze das, was seine Gedankengänge zu bestätigen und für sein Auditorium nachvollziehbar zu sein schien. In Meine Zeit plädierte Thomas Mann seitenlang für Frieden und Verständigung ­zwischen USA und UdSSR. Abschließend kam ein ideologischer Teil. Mit Rückblick auf die Zustände in Amerika betonte er zwischendurch, dass der Kommunismus ihm fremd sei.44 Getreu seinem idealistischen Zukunftsbild glaubte er, dass ein Plan entworfen werden sollte zu einer umfassenden Finanzierung des Friedens, zu einer Konsolidierung aller ökonomischen Kräfte der Völker im Dienst gemeinsamer Verwaltung der Erde und einer Verteidigung ihrer Güter […]. Es wäre der humanistische Kommunismus, der dem inhumanen der Rang abliefe; und erst wenn Rußland eine ­solche Weltplanung, die Vorbereitung zu einer Gesetz und Frieden schützenden Weltregierung verschmähte und sich im nationalen Eigensinn davon ausschlösse, erst dann und nur dann wäre bewiesen […], daß Rußland den Frieden nicht will.45

43 [Antwort an Paul Olberg]. In: GKFA, 19.1, 720. 44 Meine Zeit. In: GW, XI, 320. 45 Ebenda, S. 324 f. 1949 – 1950

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Am 27. März schrieb Thomas Mann an Agnes Meyer, dass sein Vortrag am Schluss «eine entschiedene und fundierte Absage an den Kommunismus» bringe.46 Damit meinte er allem Anschein nach den zitierten Aufruf zum humanistischen «Kommunismus» nicht-­sowjetischer Prägung. Für die Washingtoner Falken wäre diese Konstruktion allzu unübersichtlich gewesen. Als entschiedene Absage an den Kommunismus hätten die Männer vom Schlage McCarthys sie gewiss nicht verstanden. Eher im Gegenteil: gepaart mit Manns Friedensplädoyer hätte sie in den Augen der Spezialisten für feindliche Umtriebe ein suspektes Produkt abgegeben. Daher war die Warnung durch Agnes Meyer, die im Gegensatz zu dem Dichter bodenständig und politisch versiert war, durchaus begründet. Die Sowjets ihrerseits durften durch seinen Vortrag ein paar nützliche Imagepunkte gewinnen: Der prominente Humanist hatte ihre Revolution hoch ­gewürdigt, er hatte zum Frieden mit der Sowjetunion aufgerufen und den Staats-­ Antikommunismus der USA höflich kritisiert. Meine Zeit wurde in die zehnbändige Ausgabe der Werke Thomas Manns, die von 1959 bis 1961 in der UdSSR erschien, allerdings nicht aufgenommen. Eine vollständige Übersetzung d­ ieses Vortrags ins Russische erfolgte erst 2009. Die Gewinnpunkte, ­welche der Vortrag den Sowjets lieferte, waren nur im Westen, vor allem im Amerika Trumans, einlösbar. Für die Leser in der Sowjetunion waren Thomas Manns politische Phantasien und idealis­ tische Betrachtungen ungeeignet.

46 TM–AEM, S. 735. 134

«Autokratische Revolution». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann

1950 – 1952 Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit». Fortsetzung der Personalakte Thomas Mann Die jetzige Regierung [der UdSSR] bekennt sich theoretisch zur Demokratie. Sie ist, davon bin ich überzeugt, der Sache des Friedens sowohl aus praktischen wie aus ideologischen Gründen aufrichtig ergeben. Außerdem verkündet und behauptet die jetzige Regierung konstitutionellen Schutz für bürgerliche und religiöse Freiheit. […] Ihr Vorsatz ist, die Brüderlichkeit unter den Menschen zu fördern und das Los der einfachen Menschen zu bessern. Joseph E. Davies. Als USA-Botschafter in Moskau 1

Von 1933 bis 1939 wurde Thomas Mann mehrmals in die Sowjetunion eingeladen. Nach dem Krieg blieben diese Einladungen aus. Vermutlich lag dem eine taktische Überlegung zugrunde. Die Sowjets kannten Thomas Manns schwankende Art und wussten über das politische Klima in den USA sehr wohl Bescheid. Bei seiner exponierten gesellschaftlichen Position wäre eine Reise zum «Feind» unzumutbar. Anders sah es mit Besuchen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands aus. Sie gehörte zu Thomas Manns Heimatland und – mit Weimar – auch zu seinem Kulturhintergrund. Dadurch konnte eine Reise immer noch gerechtfertigt werden. Im Brief vom 13. April 1950 lud ihn Johannes R. Becher als Präsident des Kulturbundes ein, im Rahmen des bevorstehenden Europa-­Aufenthalts auch die DDR zu besuchen. Er teilte dem Schriftsteller mit, dass die Deutsche Akade­ mie der Künste nun gegründet worden sei, und fügte taktvoll bescheiden hinzu: «Sie sollten wissen, daß es für uns natürlich eine große Ehre bedeuten würde, Sie zum korrespondierenden Ehrenmitglied unserer Akademie wählen zu dürfen.

1 Joseph E. Davies. Als USA-Botschafter in Moskau, S. 396 f. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1941. 135

Aber dann möchte ich doch zunächst bei Ihnen vorfühlen und möchte um Ihre Stellungnahme zu ­diesem Projekt bitten.»2 Bechers Brief wird Thomas Mann nicht mehr rechtzeitig erreicht haben, denn am 19. April verließ er Kalifornien und reiste über Chicago und New York nach Europa ab. In Washington ausgeladen, trug er Meine Zeit in Lund und – mit positiver Resonanz – an der Sorbonne vor. Am 14. Mai erschien im Figaro Littéraire ein umfangreiches Interview mit dem Dichter, in dem neben Deutschland und Doktor Faustus auch die Sowjetunion und der Kommunismus Thema waren. Wegen Thomas Manns Besuchs in Weimar im vorigen Jahr prallten immer noch die Geister aufeinander. Auf die Frage, ob er der Mensch zu sein glaube, der zu der neuen Ordnung etwas beitragen könne, antwortete der Dichter (nach einem k­ urzen Schweigen, wie es hieß): «Es ist völlig klar, daß ich für die sowjetische Gesellschaftsordnung absolut ungeeignet und unakzeptabel bin. Ich bin sehr weit vom Kommunismus entfernt». Die Formulierung war eindeutig und hörte sich wie eine Botschaft nach Washington an. Nach ­diesem expliziten Auftakt ging Thomas Mann – im Sinne von Reise­ bericht und Antwort an Olberg – auf die Gründe seiner Reise nach Weimar ein. Danach folgte eine ideologische Betrachtung. «Ich bin immer der Meinung gewesen», sagte er der Journalistin, daß ­zwischen dem Kommunismus und dem Faschismus ein Wesensunterschied besteht, und wenn ich von ‹Kommunismus› spreche, so spreche ich nicht von Stalinismus, nein. Ich spreche von dem Kommunismus und der russischen Revolution des Jahres 1917. Das ist ein großes historisches Ereignis, eine soziale Revolution nach der politischen französischen Revolution, und sie hinterläßt, wie die andere, ihre Spur im Leben der menschlichen Gesellschaft. / Der Kommunismus ist, trotz allem, was er an Abstoßendem hat, die Verbindung zur Zukunft der Menschheit. Seine äußeren Formen können für den Augenblick deren des Faschismus und Nazismus ähnlich sein – aber Faschismus und Nazismus ist nichts anderes als eine Verneinung des Menschen, ein Nihilismus.3

Auf den Wesensunterschied ­zwischen den beiden «feindlichen Brüdern» hatte Thomas Mann schon seit Mitte der Dreißigerjahre wiederholt hingewiesen. Neu

2 Johannes R. Becher. Briefe, S. 395 f. 3 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  320 f. 136

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

war dagegen die betonte Abgrenzung des Kommunismus vom Stalinismus, das heißt, eine Variation in der Terminologie. Im Zusammenhang mit ihr lassen sich zwei Schriften Thomas Manns referieren, die er ungefähr ein Jahr zuvor verfasst hatte. Im Jahre 1949 hatte er sich – in einem Statement für die United Press und im unveröffentlichten «explosiven Artikel» – zum Thema sowjetische Überläufer geäußert. «Eines der absurden Phänomene unserer Zeit», konstatierte er in der erstgenannten Schrift, besteht darin, daß der ungesündeste Typus, den sie erzeugt hat, namentlich der kommunistische Renegat, besessen mit krankhaftem Verlangen nach Denunzierung und Verleumdung, zum verhätschelten Liebling der bürgerlichen Gesellschaft wurde […]. Diese Abtrünnigen waren gegen Rußland eingestellt nicht weil es kommunistisch ist, sondern weil es für sie nicht kommunistisch genug ist! Sie ­seien, wenigstens ihrer eigenen Meinung nach, die treuen Kommunisten und sie hassen Stalins Rußland von ganz anderer Seite als wir. Doch wir akzeptieren sie als unsere Verbündeten – und sie akzeptieren uns!4

Thomas Mann brachte damit eine eigenartige Erscheinung zur Sprache, und zwar das Überlaufen sowjetischer Funktionäre und Spione in den Westen. Zu den bekanntesten von ihnen gehörten Alexander Barmin, Ignaz Reiss, Walter ­Kriwitzki, Fjodor Raskolnikow und Alexander Orlow, die in den Dreißigerjahren die Fronten gewechselt hatten. Am 24. Januar 1949 – die zuletzt zitierte Schrift Thomas Manns war mit dem Datum 12. Februar 1949 versehen – begann in Paris ein Gerichtsprozess, den ein weiterer Überläufer, Viktor Krawtschenko, gegen Les Lettres françaises eingeleitet hatte. Krawtschenkos Buch I Chose Freedom war eine harte Abrechnung mit der Politik Stalins. Die französische prokommunistische Zeitung hatte ihn der Lüge bezichtigt, woraufhin er sie verklagte. Das Besondere am Überlaufen sowjetischer Funktionäre und Spione war die Tatsache, dass fast keiner von ihnen sich als Antikommunist verstand. Alle genannten Überläufer warfen Stalin Entstellung des Kommunismus und Verrat an den Revolutionsidealen von 1917 vor. Mit der Kritik an der wohlwollenden Behandlung der Renegaten durch die Amerikaner wollte Thomas Mann klarstellen, dass es diesen nicht um die Bekämpfung des Kommunismus, sondern 4 Tb. 1949 – 1950, S. 644. 1949 – 1950

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um den geopolitischen Machtstreit gegangen sei. Für die sowjetischen Überläufer selbst hegte er keine Sympathie. Noch 1951 nannte er sie durch die Bank gelernte Verräter.5 Im Interview für Figaro Littéraire vom 14. Mai 1950 grenzte Thomas Mann also den Kommunismus betont vom Stalinismus ab. Eine Vergleichbarkeit dieser Abgrenzung mit der Grundeinstellung der Überläufer – bei allem Unterschied der Motive – liegt nahe. Nicht der Stalinismus, mit dem er wahrscheinlich die «autokratische Revolution» meinte, sondern der Kommunismus und die Revolution von 1917 sollten den Wesensunterschied zur Verneinung des Menschen aufweisen. Daraus wäre zu folgern, dass Stalin nach der Meinung des Dichters ein positiv zu wertendes Gedankengut entstellt hätte. In der marxistischen Lehre und erst recht in Details innerparteilicher Machtkämpfe in der UdSSR war Thomas Mann unbewandert. In einem a­ llgemeineren Aspekt, und zwar auf den Massenterror bezogen, ist Thomas Manns Betrachtung erstaunlich. Der Staat Stalins (1924 bis 1953) hat sich beim Ausüben des Terrors wenigstens schon einer Justizfarce befleißigt, indem er eine gewisse «Gesetzlichkeit» an den Tag legte. Insbesondere die Schauprozesse von 1937 mit Attributen einer korrekten Strafprozessordnung wurden von Feuchtwanger und Davies, die Thomas Mann gelesen hat, ausführlich beschrieben. Einfachere «Feinde des Volkes» wurden allerdings in Schnellverfahren verurteilt. Kurz nach 1917 dagegen pflegte die revolutionäre Macht ihre «Klassenfeinde» samt denjenigen, die als ­solche in Betracht kamen, unverzüglich und unbüro­ kratisch zu eliminieren. Die Tätigkeit der Außerordentlichen Kommission und ihrer mobilen Mordkommandos schilderten Schmeljow und Naschiwin besonders eindrucksvoll. An deren Werke erinnerte sich Thomas Mann 1950 allem Anschein nach schon lange nicht mehr. Auch sprach er weder von einem Leidensmaximum, das der Bolschewismus vom russischen Volke forderte, noch von der Revolution als korrektivem Prinzip. Er würdigte sie – mit einigen leichten Vorbehalten und vom stalinschen System losgelöst – als großes zukunftsweisendes Ereignis. Wie nahmen die Sowjets sein neues Interview auf? Selbst indirekte Kritik an Stalin war ein heikles Thema. Er wurde in der Sowjetunion als lebender Klassiker des Marxismus und Nachfolger Lenins angebetet. Jegliche Abtrünnigkeit galt als Hochverrat. Der jugoslawische Diktator Broz Tito, der 1948 einen 5 Ich stelle fest … In: GW, XI, 798. 138

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

landesspezifischen Kommunismus ohne Stalin aufbauen wollte, wurde sogleich verdammt und gebrandmarkt. Mehrere Überläufer starben im Ausland unter ungeklärten Umständen. Die für die Sowjets inakzeptable Äußerung scheint für Thomas Mann keine negativen Folgen, wie etwa Zeitungsangriffe, gehabt zu haben. Die zuständigen Betreuer sahen ihm offenbar auch diesen Affront nach und nahmen mit seiner allgemeineren Würdigung des Kommunismus vorlieb. In seiner sowjetischen Personalakte befindet sich keine Notiz vom Interview für Figaro Littéraire vom 14. Mai, wobei die Betreuer seinen Aufenthalt in Paris genau im Visier hatten. Ihre amerikanischen Kollegen standen ihnen in nichts nach. Am 18. Mai erschien in Les Lettres françaises, der prokommunistischen Zeitung, gegen die der Überläufer Krawtschenko 1949 mit Erfolg prozessiert hatte, ein Interview mit Thomas Mann. Darin stand unter anderem, dass der Dichter den sogenannten Stockholmer Friedensappell unterzeichnet habe. Es handelte sich um das Abschlussdokument der Tagung des Weltkongresses der Friedenskämpfer, das eine Forderung zum Verbot von Atomwaffen aufstellte. Diese auf den ersten Blick ehrenwerte öffentliche Initiative erwies sich bei näherer Betrachtung als doppeldeutig. Der am 19. März 1950 in Stockholm angenommene Appell wurde am nachfolgenden Tag in der Moskauer Prawda erstveröffentlicht. Sein Initiator war Frédéric Joliot-­Curie gewesen, berühmter Physiker und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Der Text des Appells besagte unter anderem: «Wir sind der Ansicht, daß die Regierung, die als erste die Atomwaffe gegen irgendein Land benutzt, ein Verbrechen gegen die Menschheit begeht und als Kriegsverbrecher zu behandeln ist» – wodurch die amtierende Regierung der USA, wenn auch rückwirkend, als verbrecherisch bloßgestellt wurde. Kurz, es war nicht zu übersehen, dass hinter dem Projekt die Sowjetunion steckte. Vermutlich wusste Thomas Mann über die Zusammenhänge nicht Bescheid und unterzeichnete den ihm untergejubelten Friedensappell blauäugig. Die Nachricht verbreitete sich schnell, so dass in seiner sowjetischen Personalakte am 4. Juni 1950 mit Hinweis auf eine Übersicht der Wiener Zeitungen vermerkt wurde: «Thomas Mann, ‹einer der fortschrittlichsten Schriftsteller der Welt, hat sich für das Verbot von Atomwaffen ausgesprochen.›»6 Das FBI seinerseits beschränkte sich in ­diesem Fall auf eine kurze Anmerkung in der Akte Erika Mann, wobei 6 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 107-o. 1949 – 1950

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das State Department von seiner Pariser Niederlassung schon am 5. Mai über des Dichters Aktivitäten ausführlich informiert wurde.7 Thomas Mann selbst kommentierte den Vorfall zunächst lediglich in einem Privatbrief vom 12. Juni: «Der Mitarbeiter der ‹Lettres françaises› war mir zugeführt worden als Vertreter eines linksstehenden, nicht-­kommunistischen Blattes. Daß ich in seiner Gegenwart den Aufruf zur Stockholmer Friedenskonferenz unterschrieben haben soll, ist ja offenkundiger Unsinn. Wenn ich ihn überhaupt unterschrieben habe (ich bin mir dessen nicht sicher), so ist es geschehen, weil man mir die Sache als eine über-­parteiliche, nicht kommunistisch determinierte Aktion zugunsten des Friedens dargestellt hat.»8 Es ist denkbar, dass er nicht wegen der kommunistischen Projektbetreuung als solcher vom Appell nun Abstand nehmen wollte, sondern weil er Unannehmlichkeiten in den USA befürchtete. Die Ausladung in der Library of Congress lag erst zweieinhalb Monate zurück. Am 25. Juni 1950 überfiel der nordkoreanische kommunistische Diktator Kim Il Sung Südkorea und die Welt stand wieder an der Schwelle zu einem großen Krieg. Am 18. Juli – die US-Einheiten kämpften schon an der Seite Südkoreas – schrieb Thomas Mann auf: «Gespräch mit K. und Erika über die Lage in Amerika und unsere Zukunft dort im Falle des Krieges und selbst des fort währenden Halbkrieges bei sich steigendem Chauvinismus und Verfolgung jedes Nonkonformismus. Entziehung des Passes ziemlich sicher […].»9 Die Rückkehr nach Amerika Ende August war von Angst und Sorge gefärbt. Am 1. August schrieb er noch eine Absage an den Oberbürgermeister von Weimar: aus privaten und familiären Gründen könne er nicht zur 700jährigen Feier der Stadt kommen.10 Die Wahlheimat hatte ihn am 22. August wieder. Die Atmosphäre in den USA war zwar angespannt, aber weder dem Dichter noch seiner Tochter Erika widerfuhren nennenswerte Schwierigkeiten. Am 16. September sollte er sich über eine merkwürdige Nachricht wundern: «Geheimnisvolle Zahlung von mehr als 4000 Dollars von meinem tschechischen Verlag, von dem nichts zu erwarten war». Seine spontane Annahme, «daß das Geld ‹dorther› auf d­ iesem Wege kommt,»11 war naheliegend. Der Umstand, dass der so hohe Betrag ausgerechnet zum besagten 7 8 9 10 11 140

Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 125 f. Der unveröffentlichte Brief ­Thomas Manns wird zitiert nach: Tb. 1949 – 1950, S. 586 f. Tb. 1949 – 1950, S. 223. Ebenda, S. 695 f. Ebenda, S. 267. Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Zeitpunkt eintraf, hatte wohl auch seine spezielle Bedeutung. Thomas Manns weitere Entscheidungen in Sachen Friedensbewegung beeinflusste er jedoch nicht. Da Zeitungen immer wieder von seiner Unterschrift unter dem Appell berichteten, dementierte er Ende Oktober die Nachricht offiziell: «Ich habe niemals den Stockholmer Friedensappell unterschrieben. […] Ich habe erst verhältnismäßig spät von dieser Behauptung gehört. Als ich davon erfuhr, habe ich die Meldung deshalb nicht dementiert, weil es zu spät war und weil ich immer für den Frieden eingetreten bin.»12 Einiges spricht gegen diese Schilderung des Vorfalls durch den Dichter.13 Mit ihr versuchte er sich nachträglich im schwierigen politischen Klima abzusichern: Aus «Abneigung, es mit Amerika zu verderben».14 Mit dieser «Untreue» bereitete er den Sowjets einen nicht geringen Verdruss. Friedenskampf war das einzige Gebiet, auf dem sie mit seiner vorbehaltlosen Unterstützung rechnen konnten. Auf ­diesem Gebiet hatte die Sowjetunion deutlich mehr Propaganda-­Trümpfe in der Hand als die USA. Weitere Aktivitäten der kommunistisch gesteuerten Friedensbewegung zeigen, dass deren Betreuer nicht willens waren, so leicht von Thomas Mann als Gefährten abzulassen. Am 13. Oktober, noch vor dem offiziellen Dementi, schrieb er auf: «Joliot-­ Curie insistiert wegen einer Friedenseingabe an den Security Counsel [sic!]». Des Physikers Aufforderung erwiderte er mit einem Brief vom 2. November, in dem ausgeprägte Loyalität gegenüber den USA mitschwang.15 Am 18. November berichtete die Ostberliner Neues Deutschland, dass Thomas Mann in das Präsidium des Zweiten Weltfriedenskongresses gewählt worden sei. Laut Meldung der Associated Press aus Kalifornien bestritt der Dichter diese Information umgehend. Sein Dementi erfolgte am 20. November in der Los Angeles Times.16 Am 1. Februar 1951 meldete die New York Times die Aktivität einer neuen Organisation, die American Peace Crusade hieß. Sie sei, so die Zeitung, von einer Gruppe gefördert worden, der Thomas Mann und Paul Robeson angehörten.17 Die Erwähnung des letzteren Namens reichte aus, um diese Friedensorganisation als kommunistisch gesteuert zu enttarnen. Der schwarze Sänger Robeson eignete 12 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit ­Thomas Mann 1909 – 1955, S.  326. 13 Siehe Thomas Mann. Essays [weiter als Essays], S. 516 f. 14 Tb. 1949 – 1950, S. 70 15 Ebenda, S. 277, 701. 16 Siehe ebenda, S. 621 f. 17 Tb. 1951 – 1952, S. 762. 1949 – 1950

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sich hervorragend als Symbolfigur der Sowjetpropaganda. Er stammte aus armen Verhältnissen und hatte in seiner Jugend Rassismus und soziale Ungerechtigkeit am eigenen Leibe erfahren. Seit Mitte der Dreißigerjahre besuchte er häufig die Sowjetunion und war dort sehr beliebt. 1952 hat er den Internatio­nalen Stalin-­ Friedenspreis erhalten. Das Unternehmen Thomas Mann, das die kommunistisch gesteuerten Friedens­kämpfer so aktiv durchführten, war ungeschickt eingerichtet und schwach koordiniert. Der Missbrauch seines Namens im Zusammenhang mit American Peace Crusade veranlasste ihn zu erklären, er wolle in Zukunft an keinen Gruppen­ aktivitäten mehr teilnehmen. Die entsprechende Meldung wurde von der United Press am 11. Februar 1951 verbreitet.18 Bald darauf schrieb Thomas Mann an einen japanischen Studenten: […] die Kommunisten sind nicht sehr klug, auch was zum Beispiel ihre Art betrifft, mit meinem Namen umzugehen. Sie wissen ganz gut, daß ich, soweit es sich um den Frieden handelt, auf ihrer Seite bin, und sie sollten meinen Namen, dessen Wirksamkeit (soweit davon die Rede sein kann) auf parteimäßiger Ungebundenheit beruht, ein wenig schonen, statt ihn zu strapazieren, vorzuspannen, zu verbrauchen und auch zu mißbrauchen. Ich habe mir in dieser Beziehung manches gefallen lassen, mußte aber schließlich Stellung dagegen nehmen.19

Die großzügige Nachsicht der Sowjets gegen Thomas Manns Fehltritte beruhte gewissermaßen auf Gegenseitigkeit. Seine Stellungnahmen zum Namensmissbrauch waren nicht rigoros. Nach einer Revision seiner Ansichten zu kommunistisch gesteuerten Gruppen klangen sie nicht. An Arnold Zweig schrieb er am 13. März 1951: «Ich glaube diesen Maennern herzlich gern, daß sie fuer den Frieden um der Menschheit und nicht um der party-­line willen eintreten. Aber es ist nun einmal so, dass die grosse Menge es ihnen nicht glaubt und darum jede Sache perhorresziert oder sich von den Feinden des Friedens beschmieren und verderben laesst, an der ­solche Namen beteiligt sind.»20 Der ­gleiche Gedanke – jegliche Friedensbewegung, die in Verdacht gerät, kommunistische Kontakte zu haben, sei in Amerika todgeweiht – wiederholt sich in seinen Briefen mehrfach.21 18 19 20 21 142

Ebenda, S. 767. [An einen jungen Japaner]. In: GW, XII, 969. Tb. 1951 – 1952, S. 776. Ebenda, S. 767, 771, 773, 777. Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Nirgendwo äußerte er Misstrauen zu diesen Friedenskämpfern als solchen oder Empörung über ihre Familiarität ihm gegenüber. Ebenfalls am 13. März notierte er im Tagebuch: «Moskauer Demonstration unter Stalin gegen Kriegshetze, die mit hohen Strafen bedroht wird. Der Kriegskonformismus der hiesigen Propaganda-­ Maschine angeprangert – in leider durchaus zutreffenden Worten, die wiedergegeben wurden, als ob sie heller Wahnsinn wären.»22 Der amerikanische Staats-­Antikommunismus blieb ein gemeinsamer Gegner der Sowjets und Thomas Manns. Aber die gesteuerten Friedenskämpfer erwiesen dem Dichter mit ihrem unklugen Umgang einen Bärendienst. Seine Reise nach Weimar war in Amerika noch nicht vergessen. Zeitungsberichte, die ihn nun mit politisch bedenklichen Gruppen in Verbindung brachten, häuften sich und boten einen neuen Grund für Kritik und Angriffe. Für antikommunis­tische Hardliner waren seine Dementi alles andere als überzeugend. Ein beredtes Beispiel für die sich daraus ergebene Situation ist Thomas Manns Polemik mit Eugene Tillinger. Ob Tillinger, ein exildeutscher Journalist, überzeugter Gegner des Kommunismus oder nur ein Konformist war, der im Amerika Trumans den Mantel nach dem Wind hängte, sei dahingestellt. Ersichtlich ist, dass Thomas Manns individuelle Terminologie sowie sein Engagement als Mittler und Versöhner zu Un- und Missverständnissen führten. Sein Hang zum Umfunktionieren gängiger politischer und sozialer Begriffe sorgte schon wieder für Streit und Ärger. Gleiches war bereits vor rund zwanzig Jahren, als er mit Deutscher Ansprache auftrat, und 1943 bei Schicksal und Aufgabe passiert. Die Kontroverse begann mit Tillingers Publikation in The Freeman vom 26. März 1951, und der Schlagabtausch dauerte ungefähr einen Monat. Ihr Verlauf wird im Kommentar zu Thomas Manns Ich stelle fest… genau verfolgt.23 Grundsätzlich wichtig ist, dass Tillinger Thomas Mann konkrete Handlungen und Äußerungen vorhielt, die seiner Ansicht nach politisch verwerflich waren, insbesondere: Manns Unterschrift unter dem Stockholmer Appell, die Unterstützung der American Peace Crusade und anderer als prokommunistisch eingestufter Gruppen sowie das Proklamieren eines «humanistischen Kommunismus» im Vortrag Meine Zeit. Außerdem stellte ihm Tillinger eine Reihe von Fragen, wie beispielsweise, ob Thomas Mann den antikommunistischen Berliner Kongress 22 Ebenda, S. 34. 23 Essays, S. 513 f. 1949 – 1950

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für kulturelle Freiheit befürwortet oder seine Stimme gegen die religiöse Verfolgung hinter dem Eisernen Vorhang erhoben habe. Empfindlich für den Dichter und objektiv nicht unbegründet war der indirekte Vorwurf Tillingers an ihn, den Staatsterror mit zweierlei Maß zu messen. Das hatten ihm unter anderen schon Paul Olberg und Eugen Kogon vorgeworfen. Als Fazit ordnete Tillinger Thomas Mann als Mitläufer (fellow traveler) der «Roten» ein.24 Thomas Manns Gegenargumente konnten Männer wie Tillinger nicht überzeugen. Weder für seine recht vagen Behauptungen, keine Appelle unterzeichnet zu haben, noch für seine Distanzierung vom Kommunismus, bei der er sich immer «liberale» Freiräume vorbehielt, hatten sie Verständnis. Die Begriffe der Mainstream-­Journalisten waren eindeutig und durch die politische Atmosphäre im Lande geprägt. Die Wortverbindung humanistischer Kommunismus, ­welchen Thomas Mann dem totalitären entgegensetzen wollte, klang für einen Eugene ­Tillinger – angenommen, er war ein überzeugter Antikommunist – genauso absurd, wie das bei einem humanistischen Faschismus für Thomas Mann der Fall gewesen wäre. Beim Begriff kommunistisch gesteuerte Friedensorganisationen bezog sich Tillinger auf einschlägige amtliche Dokumente. Bei einer Distanzierung ging es ihm sicherlich um eine klare Abwendung ohne Freiräume. Das Verständnis des Wortes Mitläufer entsprach in den antikommunistischen Kreisen der USA dessen Definition im Lexikon: One that sympathizes with and often furthers the ideals and program of an organized group (as the Communist party) without membership in the group or participation in its activities.25 Der Dichter beteuerte im Brief an Olberg und in einem Interview vom 29. März 1951, dass er kein Mitläufer sei.26 Aus der Sicht Tillingers und seiner Gesinnungsgenossen fiel er aber unter diese Definition ganz genau. Die kommunistischen Hardliner hatten mindestens zweimal, 1939 und 1949, angeregt, die entgegenkommende Betreuung Thomas Manns aufzugeben. Nun machte er ihren amerikanischen Gegenspielern Ärger. Die Konsequenzen hätten ihn in Amerika, da er dort lebte, viel stärker treffen können, doch eine Ladung zum Komitee für unamerikanische Umtriebe, die er schon befürchtet hatte, blieb aus.

24 Tb.  1951 – 1952, S.  407, 784 – 786. 25 Webster’s Third New International Dictionary of the English Language. Unabridged. 1966. Volume I, p. 836. In Webster’s New Twentieth Century Dictionary of the English Language aus dem Jahr 1949 ist die Wortverbindung fellow traveler nicht aufgeführt. 26 [Antwort an Paul Olberg]. In: GKFA, 19.1, 721. Tb. 1949 – 1950, S. 782. 144

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Die politischen Entwicklungen in den USA begleitete Thomas Mann mit Tagebuchkommentaren, die voller Sarkasmus waren: «Sehr komische Rede Trumans über Stalin als Tyrann, wie Alexander I, Carl  II, ‹Tarquin› und Ludwig XIV, die es alle darauf abgesehen hätten, das gemeine Volk zu unterdrücken. Bei uns sei der Staat für das Glück des Volkes da. So sieht er aus! Hitler hat nie dümmer gequatscht». – «Wo irgendwelche Klugheit ist, da wird man anti-­amerikanisch». – «Neue Geschichte: sie verweigern Szighetti das Bürgerrecht, weil er im Jahre 44 durch die russ. Botschaft Noten-­Material von Prokofjew empfing. Geisteskrank». – «Republik. Convention, bei der zügellos auf die Administration geschimpft wurde. Ein Senator ‹übernahm sich im Fluchen› und wurde ohnmächtig». – «Die gewaltigen amerik. Inselbefestigungen in Asien, in die Formosa unbedingt einzubeziehen. Es ist der naivste und dreisteste Imperialismus, der je da war». – «Major victory in Korea wird gefeiert. 10 000 Gefangene. Das Land für Generationen zerstört». – «Herstellung von Atombomben am laufenden Band. Auch die H-Bombe soll erfreuliche Fortschritte machen.»27 Als politisch engagierter Schriftsteller lebte Thomas Mann wie ­zwischen Scylla und Charybdis. Die Entwicklungen in Amerika erweckten bei ihm Angst, Abscheu und Fluchtgedanken. Kaum schien die leidige Tillinger-­Kontroverse auszuklingen, schon sollte er mit den Entwicklungen in der Sowjetzone seines Vaterlandes konfrontiert werden. Im Brief an Becher vom 25. April 1951 bat er diesen, sich für einen in der DDR verhafteten Buchhändler einzusetzen. J­ oachim Langewiesche gehörte einer angesehenen Buchhändler- und Verlegerdynastie an und führte einen Buchladen in Eberswalde. Von seiner Festnahme im März 1951 hatte Thomas Mann aus einem Privatbrief erfahren. Langewiesche, versicherte der Dichter gegenüber Becher, habe alles Politische ferngelegen, es sei ihm nur um literarische Dinge gegangen. Vielleicht wäre es irgendwie möglich, ihm zu helfen.28 Becher hatte noch nie auf eine Bitte Thomas Manns abschlägig geantwortet. Er nahm sich der Sache bereitwillig an und klärte die Umstände. Diesmal ließ sich die Angelegenheit nicht so leicht regeln wie vor fünf Jahren im Fall Hans von Rohrscheidts. Am 15. Juni schrieb Becher mit ungewohnter Zurückhaltung nach Pacific Palisades:

27 Tb. 1951 – 1952, S. 11 f., 50, 57, 59, 61 f., 66, 71. 28 Ebenda, S. 815. 1949 – 1950

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Ich bekam heute vom Ministerium der Justiz […] die Mitteilung […], dass die Straftat des Beschuldigten ( Joachim Langewiesche aus Eberswalde) nicht der Zuständigkeit der deutschen Gerichte unterliegt. Langewiesche ist auch nicht von deutschen Dienststellen inhaftiert worden. Der Minister bedauert, dass er infolge dieser Sachlage nicht weiter behilflich sein kann. / Ich bedauere, dass unter diesen Umständen auch meine Mittel zu einer weiteren Verfolgung dieser Angelegenheit nicht ausreichen.29

Im Klartext bedeutete dies, dass der Buchhändler vom stalinschen Sicherheitsdienst verhaftet worden war. Im Brief an Thomas Mann ließ Becher unerwähnt, dass sich Langewiesche in Potsdam, d. h. im Untersuchungsgefängnis der sowjetischen militärischen Spionageabwehr in der Leistikowstraße 1, in Haft befand. Der Buchhändler hatte Glück: Er wurde nicht, wie zahlreche angebliche Spione und Saboteure, zur Hinrichtung verurteilt, sondern «lediglich» zum Verbüßen seiner Haftstrafe nach Sibirien verschleppt. Schon 1955 kehrte er heim. Thomas Manns Einsatz für Joachim Langewiesche ist in einem weiteren Kontext zu betrachten. Der Buchhändler aus Eberswalde war nicht der einzige, für den er sich eingesetzt hat. Vom 10. bis zum 15. Juni 1951 arbeitete er an einem Brief an Walter Ulbricht, der 1949 zum stellvertretenden Vorsitzenden im Minister­ rat der DDR ernannt worden war. Es handelte sich um eine Petition für eine Gruppe Häftlinge, die vom Landgericht Chemnitz im Schnellverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Sie waren in Konzentrationslagern in der Sowjetzone verwahrt gewesen, die Anklage hatte auf Kollaboration mit dem nazistischen Regime gelautet. In die Geschichte der Justiz ist diese Angelegenheit unter dem Namen Waldheimer Prozesse eingegangen. «Sie wissen vielleicht nicht», schrieb Thomas Mann an Ulbricht, welches Grauen und ­welche Empörung, geheuchelt oft, aber oft tief aufrichtig, jene Prozesse mit ihren Todesurteilen – denn es sind lauter Todesurteile – auf dieser Weltseite hervorgerufen haben, wie nutzbar sie sind dem bösen Willen und wie abträglich dem guten. Ein Gnadenakt, großzügig und summarisch, wie diese Massenaburteilungen von Waldheim es in nur zu hohem Grade waren, das wäre eine ­solche gesegnete, der Hoffnung auf Entspannung und Versöhnung dienende Geste, eine Friedenstat.30

29 Ebenda, S. 816. 30 An den Herrn Stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Ulbricht. In: Essays, S. 217. 146

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Wie alle Informationen von und über Thomas Mann, wurde dieser Brief in Ostberlin sehr ernst genommen. Ulbricht schrieb umgehend den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, an und bat ihn um genaue Angaben zu jedem der von Thomas Mann genannten Fälle. Noch am gleichen Tag informierte er auch den ersten stellvertretenden Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK), Iwan Semitschastnow, über die Angelegenheit, ­insbesondere über den Brief Thomas Manns.31 Die SKK war seit 1949 die Nachfolgerin der Sowjetischen Besatzungsverwaltung in Deutschland. Trotz des internen Aufsehens ist die Aktion allem Anschein nach im Sande verlaufen. Weder Angaben über eine Begnadigung der Verurteilten noch eine Antwort Ulbrichts an Thomas Mann liegen vor.32 Der Brief des Dichters an den Stellvertretenden Ministerpräsidenten wurde erst 1963 publik. Die politischen Schauprozesse in der DDR hatten das entsprechende Vorgehen der Sowjets als Vorbild. Aber die Urteile in der Sache Waldheim wurden nicht von Sowjetbeamten angeregt oder gar diktiert.33 Das Drehbuch für die Justizinszenierung stammte ausschließlich von der Führung der SED.34 Bemerkenswert ist, dass die Rechtsabteilung der SKK in Berlin- Karlshorst einige Monate nach dem Urteilsspruch «plötzlich starkes Interesse für diese Angelegenheit zeigte, die Akten anforderte, Urteile und Protokolle las und mit Richtern und Staatsanwälten, die in Waldheim mitgewirkt hatten, Rücksprache führte». Danach nahm die SKK – bestimmt auf Weisung von Moskau – ihrerseits Stellung zum Prozess. Sie war so ablehnend und kritisch gegenüber der Justiz der DDR formuliert, dass zwei von deren verantwortlichen Beamten abgelöst und versetzt werden mussten.35 Welche Motive sich hinter der scharfen Kritik seitens der Sowjetbehörde verbargen, kann man nur mutmaßen. Am 8. Juni 1951, also kurz vor dem Verfassen des Briefes an Ulbricht, bekam Thomas Mann die Nachricht über eine Publikation in der Münchener Neuen Zeitung. Sie warf ihm den nahezu pathetischen Ton seines Glückwunschbriefes an Becher vor, der am 22. Mai sechzig Jahre alt geworden war. «Als sein Wesen», hatte Thomas Mann über Becher geschrieben,

31 32 33 34 35

Tb. 1951 – 1952, S. 464. Siehe ebenda, S. 465 f. Karl Wilhelm Fricke. Politik und Justiz in der DDR, S. 274, 212. Falco Werkentin. Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 181. Karl Wilhelm Fricke. Politik und Justiz in der DDR, S. 213. 1949 – 1950

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empfand ich eine Selbstlosigkeit, rein wie die Flamme und verzehrend wie sie; […] ein Gemeinschaftsethos, das ihm seelisch zum Kommunisten prädisponiert und im Politischen denn auch zum kommunistischen Bekenntnis geworden ist. Dieser sein Kommunismus ist durchaus patriotisch gefärbt, er erfüllt sich tatsächlich im Patriotismus, und sein Drang zum Dienst an der Gemeinschaft, dem Volke, ist – man lese nur seine Gedichte – zuerst und zuletzt der heiße Wunsch, seinem Volke, dem deutschen, zu dienen und ihm ein liebevoller, getreuer Berater nach bestem Wissen und Gewissen zu sein.36

In der Neuen Zeitung hieß es dagegen ganz nüchtern: Becher sei ein politischer Agent der Sowjets, so dass Thomas Mann mit seiner Huldigung entweder sich zu einem Freund der Kommunisten mache oder eine nicht zu überbietende politische Naivität an den Tag lege. Der Dichter nannte diesen Artikel konformistische Angeberei.37 Thomas Manns Einsatz für Langewiesche, sein Brief an Ulbricht und die Kritik seiner Gratulation zu Bechers Jubiläum bilden den vorhin erwähnten weiteren Kontext. Alle diese Aktivitäten positionieren Thomas Mann objektiv innerhalb eines politisch-­moralischen Diskurses, der auch nach seinem Tode über Jahrzehnte geführt wurde. Die Grundfrage ­dieses Diskurses stellte sich danach, ob man bei den Taten eines Terrorregimes ein Auge zudrückt, um über persönliche Kontakte zu seinen Vertretern wenigstens einzelnen seiner Opfer zu helfen; oder jeden Kontakt zum Regime grundsätzlich ablehnt und versucht, es durch Proteste und Enthüllungen unter Druck zu setzen. Ein herausragender Teil ­dieses Diskurses ist die Publizistik von Alexander Solschenizyn.38 Anfang Juli 1951 begab sich Thomas Mann wieder nach Europa und verbrachte dort etwa zweieinhalb Monate. Seine Tagebuchnotizen aus ­diesem Zeitraum wirken ausgeglichen und entspannt. Politische Inhalte kommen nur selten zum Vorschein. Nach dem Dauerstress seines öffentlichen Daseins in Amerika ruhte er sich aus und plante eine Übersiedlung in die Schweiz. Während sich in seiner Personalakte mehrere routinemäßige Berichte – Zeitungsausschnitte und Meldungen der TASS – aus dem Jahr 1950 befinden, enthält sie kein einziges Material aus 1951.

36 [ Johannes R. Becher zum Gruss]. In: GW, XIII, 871. 37 Tb. 1951 – 1952, S. 455, 71. 38 Siehe beispielsweise Solschenizyns Rede in Washington vor den Vertretern der ­American Federation of Labor and Congress of Industrial Organisations vom 30. Juni 1975. 148

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Das Leben in den USA empfand Thomas Mann zusehends als unerträglich. Am 3. Januar 1952 notierte er im Tagebuch: «Hörte zum ersten Mal von einer Presse-­Meldung, daß 4 geräumige Concentrationslager hierzulande für den ‹Notfall› vorbereitet werden». Am 18. Januar hieß es: «Der Krieg wird kommen, man will ihn hier zweifellos und zwar noch d­ ieses Jahr. Wir haben Grund zur Eile.»39 Ende Februar/Anfang März 1952 schrieb er einen von der BBC bestellten Vortrag. Er trägt den Titel Der Künstler und die Gesellschaft und läuft auf den Gedanken hinaus, dass politisches Moralisieren in der Kunst fehl am Platz sei. Zur Illustration seines eigenen Werdegangs als Künstler beruft sich Thomas Mann auf seine früher antiliberale, nunmehr aber «linke» Position. Nicht ein politisches Bekenntnis – so lässt sich seine Ausführung deuten – habe dazu geführt, sondern der Faschismus sei es gewesen, der ihn mehr und mehr «auf die linke Seite der Gesellschaftsphilosophie» getrieben habe.4041 Eigenartig war die Aufnahme ­dieses Vortrages in der Sowjetunion. Er wurde übersetzt und erschien im Jahre 1961 im letzten Band der Gesammelten Werke Thomas Manns. Auffallend ist eine Änderung der Passage, die sich auf das Thema Kommunismus und seine Ableitungen bezieht. Ein Textvergleich macht das deutlich:

Der Künstler und die Gesellschaft

Rückübersetzung aus dem Russischen

Gewiß bin ich nicht der einzige, der es

Gewiß bin ich nicht der einzige, der es

wohl wissen möchte, ob die distinguirte

wohl wissen möchte, ob die distinguirte

Jury Ezra Pound auch dann den

Jury Ezra Pound auch dann den Bollingen-­

Bollinger-­Preis zugesprochen hätte,

Preis zugesprochen hätte, wenn er

wenn er zufällig nicht Fascist, sondern

zufällig nicht Faschist, sondern gerade

Kommu­­nist gewesen wäre. 40

das Umgekehrte geworden wäre.41

Diese Änderung ist stilistisch missraten und inhaltlich nicht nachvollziehbar. 39 Tb. 1951 – 1952, S. 161, 166. 40 Thomas Mann. Der Künstler und die Gesellschaft. In: Thomas Mann. Altes und Neues, S. 440. Diese Ausgabe könnte die Vorlage für die Übersetzung des Vortrages in die russische Sprache gewesen sein. Dagegen spricht allerdings die korrekte Schreibweise Боллинджен[а] Bollingen (nicht Bollinger) in der russischen Übersetzung. 41 Томас Манн. Художник и общество. В: Томас Манн. Собрание сочинений. Москва 1961, том 10, с. 485. 1949 – 1950

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Der nachfolgende Abschnitt fehlt in der sowjetischen Ausgabe von Der ­Künstler und die Gesellschaft gänzlich: Schon eine Bemerkung wie diese [siehe oben – A. B.] genügt heute zweifellos, um den, der sie macht, in den Verdacht des Kommunismus zu bringen. Mit d­ iesem Verdacht geschähe mir Unrecht, – oder, wenn man will, zuviel Ehre. Den Kommunisten abzugeben, bin ich sehr schlecht ausgestattet, – meine Schriften sind ja voll von allen vom Kommunismus perhorreszierten Lastern, wie Formalismus, Psychologismus, Skeptizismus, dekadenten Neigungen und was man will, den Humor und eine gewisse Schwäche für die Wahrheit nicht zu vergessen, – denn Liebe zur Wahrheit ist Schwäche in den Augen unbedingter Parteilichkeit. Und doch gilt es hier zu unterscheiden. Der Kommunismus ist eine Idee, eine im Wirklichen arg verzerrte Idee, aber deren Wurzeln tiefer reichen, als Marxismus und Stalinismus, und deren reine Verwirklichung sich der Menschheit immer wieder als Forderung und Aufgabe stellen wird. Der Fascismus aber ist überhaupt keine Idee, sondern eine Schlechtigkeit, der hoffentlich kein Volk, klein oder groß, sich je wieder ergeben wird.42

Es ist nachvollziehbar, dass dieser Abschnitt in der sowjetischen Ausgabe des Vortrages fehlt. In ihm gesteht Thomas Mann offen gewisse «Sünden», die seiner Ansicht nach für die Kommunisten intolerabel wären. Zum Image eines der fortschrittlichsten Schriftsteller der Welt, das er in der Sowjetunion genoss, hätte ­dieses Geständnis schlecht gepasst. Zu seinen «Sünden» zählte er auch eine Schwäche für die Wahrheit. Diese Andeutung auf die Engstirnigkeit der Kommunisten muss ihnen völlig deplaciert vorgekommen sein. Selbst ihre größte Tageszeitung hieß Wahrheit ­(Prawda), und sie erhoben einen nachdrücklichen Anspruch auf deren Besitz. Thomas Manns auch schon früher mehrfach artikulierte Deutung der kommunistischen Idee war zwar nicht ganz abtrünnig, aber in einer Hinsicht seinen Betreuern gewiss unwillkommen. Die Sowjetpropaganda stellte den Marxismus grundsätzlich als Höhepunkt des gesamten sozialen Gedankengutes dar. Die Sowjetunion sollte als Vorbild ihrer Verwirklichung gelten, nicht aber als eine arg verzerrte Idee. Während Thomas Mann Fluchtpläne aus dem «Gangsterland» USA schmiedete, ereignete sich im kommunistischen Osten eine Affäre, die ihn unangenehm betraf. Seit dem Beginn der Fünfzigerjahre war er immer wieder darauf angesprochen 42 Thomas Mann. Der Künstler und die Gesellschaft, S. 440. 150

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

worden, dass seine Werke auf dem Büchermarkt der DDR fehlten. Im November 1951 ging er auf ­dieses Problem im Brief an den Leipziger Professor Hans Mayer ausführlich ein. Er habe, erklärte er, mehrfach versucht, den S. Fischer Verlag zu Lizenzausgaben für den Osten zu bestimmen. Gescheitert sei die Sache, weil das Eindringen preisgünstigerer DDR-Ausgaben in die Bundesrepublik den Verkauf von Originalausgaben geschädigt hätte.43 Die Affäre sollte andauern.44 Im Februar 1952 benachrichtigte der Berliner Aufbau-­Verlag den Verleger Thomas Manns in Frankfurt, dass weder das Autorenhonorar in US-Dollar noch die Lizenz-­Gebühr in D-Mark (West) gezahlt werden könnten. Als Grund dafür wurde «der herbeigeführte Abbruch jeglicher Wirtschaftsbeziehungen mit der DDR» genannt. Am 29. März ging Buddenbrooks unter diesen Bedingungen beim Aufbau-­Verlag in den Druck. Thomas Mann reagierte darauf am 3. April mit einem kompromissbereiten Brief an den Berliner Verlag: vor allem ginge es ihm um die Wiederaufnahme der Verhandlungen; einen vertragslosen Druck seiner Werke finde er aber freibeuterisch. Die Situation spitzte sich zu, als er am 29. April offiziell unterrichtet wurde, dass Aufbau beschlossen hatte, seine Bücher ohne vertragliche Absicherung herauszugeben. Erich Wendt, der erste Sekretär des Kulturbundes der DDR, der den Brief unterzeichnete, appellierte an Thomas Manns Eitelkeit als deutscher Schriftsteller, dessen Werke auch der andere Teil der Nation unbedingt brauche. In der Frage der Honorarzahlungen in Devisen berief er sich auf die Beschlagnahmung der Guthaben der DDR durch die USA. Es handelte sich dabei um eine Maßnahme des US-Finanzministeriums, das 1952 die Dollarguthaben der Notenbank der DDR gesperrt hatte, um den Handel Ostdeutschlands mit dem kommunistischen China, dem Verbündeten Nordkoreas, zu unterbinden. Doch Thomas Mann fühlte sich durch den Beschluss in seinem Rechtsbewusstsein verletzt, und seine Antwort nach Berlin vom 18. Mai war in einem äußerst scharfen Ton gehalten. Am 25. Mai 1952 sandte er eine Kopie dieser Antwort an Becher und bat ihn um Unterstützung seiner Wünsche beim Aufbau-­ Verlag.45 Am 9. Juni las er einen kurz zuvor in der New Yorker Zeitung Aufbau 43 Tb. 1951 – 1952, S. 823 f. 44 Der Verlauf der Affäre mit den Ausgaben der Werke Thomas Manns in der DDR wird in den Anmerkungen zu seinen Tagebüchern anhand einschlägiger Dokumente genau verfolgt. Siehe: Tb. 1951 – 1952, S. 590 und 180, 613, 617 und 196, 834 f., 647. 45 Briefe an Becher, S. 441, 672. 1949 – 1950

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erschienenen Artikel, in dem ausgerechnet Becher die Schuld an der literarischen Freibeuterei gegeben wurde. Thomas Manns private Stellungnahme dazu war knapp: Ins Tagebuch schrieb er, dass ihm der «östliche Bücherraub» im Grunde ganz gleichgültig sei.46 Becher hatte ursprünglich aus eigener Initiative Thomas Manns Interessen in der Angelegenheit mit dem Aufbau-­Verlag vertreten.47 Aber just zu dem Zeitpunkt, als sie sich zuspitzte, änderte sich seine Einstellung. Am 6. Juli 1952 publizierte er in der Wochenzeitung des Kulturbundes, Sonntag, einen Artikel, in dem er die Vorgehensweise von Aufbau rechtfertigte. Die Volksbildung sollte also Vorrang vor dem Recht haben. Von den zuständigen Ämtern der Sowjetunion war Thomas Mann aufmerksamer behandelt worden als nunmehr von den Kulturbehörden der DDR. In den Dreißigerjahren hatte er seine Honorare in Valuta überwiesen bekommen, obwohl die Gesetze der UdSSR dies nicht vorsahen. Für ihn und seinen Bruder wurde immer eine Ausnahme gemacht, ein kurzer Brief an Becher oder einen verantwortlichen Redakteur genügte. Autoren seines Ranges genossen auch nach dem Zweiten Weltkrieg ­dieses Privileg. Beispielsweise war Pygmalion von Bernard Shaw eines der meistaufgeführten Stücke in der Nachkriegs-­Sowjetunion, was seinem Autor ein erhebliches Rubel-­Honorar einbrachte. Der Name Shaws, zu dessen Verehrern Stalin persönlich zählte, stand auf der Rangliste der Sowjets vielleicht noch höher als der Thomas Manns. Auf Bitten des damals dreiundneunzigjährigen Dramatikers ordnete Stalin 1949 eine Honorar-­Überweisung von 10 000 Pfund nach England an.48 Ende Juni 1952 verließ Thomas Mann sein kalifornisches Heim – diesmal für immer – und reiste nach Europa ab. Am 7. August verkündete das Landgericht Berlin ein Urteil, das den vertragslosen Druck seiner Bücher in der DDR legitimierte. Der Anspruch auf die bereits dem S. Fischer Verlag gutgeschriebenen Lizenzgebühren in Höhe von 23.026,50 D-Mark (Ost) und auf die für Thomas

46 Tb. 1951 – 1952, S. 226. 47 Vgl. Brief von Egon Rentzsch, Leiter der Abteilung Schöne Künste und Kultur des ZK der SED an den Kulturfunktionär Hans Lauter vom 20. 12. 1951 und Mitteilung über Bechers Brief an Ulbricht vom Anfang März 1952. In: Tb. 1951 – 1952, S. 830 bzw. 592. 48 Л. Максименков. Очерки номенклатурной истории советской литературы. http:// ricolor.org/history/rsv/good/lit/, c. 66. Der Verfasser bezieht sich auf die folgende Archiveinheit: РГАСПИ. Ф. 17 Оп. 163. Eд. xp. 1569. л. 204. 152

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

Mann eingezahlten Honorargebühren in Höhe von 69.079,86 D-Mark (Ost) blieben bestehen. Beide Beträge, hieß es im Urteil, würden sich in Zukunft noch bedeutend erhöhen.49 Am 29. September wurde Thomas Mann von seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer in Zürich aufgesucht. Im Gespräch klärten sie den Sachverhalt, der einen provisorischen Punkt hinter die leidige Affäre setzen sollte. Dank eines Abkommens ­zwischen den beiden deutschen Staaten wurde es ­Bermann möglich, Druckaufträge an Betriebe der DDR zu vergeben, sie mit den D-Mark(Ost)-Guthaben seiner Autoren zu bezahlen und dann den Betroffenen die Ostmark-­Beträge in Westmark auf ihre Konten gutzuschreiben.50 Zögernd und schwankend sagte Thomas Mann zu. Ihn beunruhigte nach wie vor das Problem mit den im Osten hergestellten preisgünstigeren Ausgaben, die dem Buchhandel im Westen schaden könnten.51 Damit war der Konflikt zwar entschärft, aber nicht endgültig gelöst. Aus der Zusammenarbeit Thomas Manns mit dem Aufbau-­Verlag ergaben sich auch später rechtliche und finanzielle Probleme. Im Sommer 1954 führten sie zu heftigen Unstimmigkeiten ­zwischen dem Dichter und Bermann Fischer.52 Den Betreuern Thomas Manns diesseits und jenseits des Atlantiks entging diese Affäre nicht. Seiner sowjetischen Personalakte wurde eine vom 9. November 1952 datierte Meldung der TASS beigefügt, die sich auf ein Interview bezog. Auf eine Frage, steht in der Meldung, antwortete Thomas Mann, dass er, obwohl seine Bücher in Ostdeutschland ohne seine Zustimmung herausgegeben werden, von diesen Ausgaben rechtmäßig Einkünfte beziehe. Er erklärte, heißt es weiter, dass seine Werke, neben den deutschsprachigen Ländern, angeblich [!] eine besondere Anerkennung in den USA genössen.53 Das State Department in Washington schaute auch nicht über die Sache hinweg: In seinem Archiv befindet sich ein ausführliches Experten-­Gutachten des Justitiars des S. Fischer-­Verlages und weitere Dokumente, die ein Licht werfen auf die Situation mit den Ausgaben der Werke Thomas Manns in der DDR.54 49 50 51 52

Tb. 1951 – 1952, S. 837 bis 842. Ebenda, S. 704. Ebenda, S. 705. Siehe Thomas Mann. Briefwechsel mit seinem Verleger Bermann Fischer 1932 – 1955, S. 625 bis 639. 53 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, лист 40-o. 54 Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 126 f. 1949 – 1950

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Am 12. November 1952, drei Tage nach der zitierten Meldung der TASS , schrieb Becher an eine Studentin: «Heinrich Mann ebenso wie Arnold Zweig (und zum Teil Thomas Mann) haben eine großartige Entwicklung genommen und wurden, wenn man sich so ausdrücken kann: unser. Aber auch wir haben uns entwickelt, vor allem was unsere Methoden einer geistigen Auseinandersetzung und Überzeugung betrifft.»55

55 Johannes R. Becher. Briefe, S. 441. 154

Friedenskampf und «parteimäßige Ungebundenheit»

1952 – 1955 «Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis Wenigstens vor der weltweiten Auseinandersetzung­ zwischen dem Welt-­Kommunismus und der Welt-­Humanität sollte der Westen erkennen, wo die Feinde und wo die Freunde der Humanität stehen, und er sollte nicht das Bündnis mit den Feinden, sondern das Bündnis mit den Freunden suchen. Alexander Solschenizyn. Warnung. Die tödliche Gefahr des Kommunismus.1

Thomas Mann stellte seine Rückkehr nach Europa zuerst nur als längeren Aufenthalt dar, vom Umzug aus Amerika war ursprünglich keine Rede. Daher wurden seine Zukunftspläne Gegenstand von Medienspekulationen. Jedenfalls stand fest, dass er die Vereinigten Staaten, das damalige Bollwerk des Antikommunismus, verlassen hatte. Für die Kommunisten war das eine günstige Voraussetzung, aus der sie, wie immer, politisches Kapital schlagen wollten. Am 18. November 1952 lüftete Thomas Mann das Geheimnis. Bei der Presse­ konferenz in Wien erklärte er, dass er seinen Lebensabend in der Alten Welt verbringen möchte. Für Aufregung sorgte – wie hätte das anders sein können – Thomas Manns ausweichende Antwort auf die Frage, ob er dem politischen System des Westens vor dem des Ostens Vorrang gebe. Sinngemäß wiederholte er das, was er bereits im August gegenüber dem Korrespondenten des Stader Tagesblattes geäußert hatte: «[…] als geistiger Mensch kann man kein bedingungsloses Ja sagen zum Osten oder zum Westen.»2 In Wien kam diese Einstellung im Rahmen einer großen internationalen Pressekonferenz zum Ausdruck. Dabei hätten sich engagierte Beteiligte eher ein klares Nein zu einem der beiden Systeme gewünscht. Die Associated Press berichtete von der Replik Thomas Manns sachlich-­neutral, die Neue Wiener Tageszeitung stempelte ihn 1 Alexander Solschenizyn. Warnung. Die tödliche Gefahr des Kommunismus, S. 106. 2 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  328 f. 155

zum Anhänger von Tyrannei und Diktatur, der vergebens den Eindruck zu erwecken suchte, er stünde über den Dingen. Erwähnt wurde auch eine Verlegenheitspause, die er vor der Antwort eingelegt haben soll.3 Die in der DDR erscheinende sowjetische Tägliche Rundschau brachte die Frage in deren konkreter Form: West oder Ost und des Dichters Rückäußerung gar nicht zur Sprache. Stattdessen hob sie seine Bekenntnisse zu Weltfrieden und Verständigung ­zwischen den beiden Systemen hervor.4 Die Aufmerksamkeit der (pro-)kommunistischen Presse wuchs nach dem Vortrag Der Künstler und die Gesellschaft an, den Thomas Mann am 19. und 27. November im Wiener Konzerthaus hielt. Der Artikel im Abend vom 20. November fiel wie eine Laudatio für den «größten deutschen Dichter der Gegenwart» aus.5 Die Volksstimme vom gleichen Datum setzte politische Akzente: Thomas Mann ist kein Kommunist. Er macht kein Hehl aus manchem Vorbehalt, mit dem er die Länder des Sozialismus betrachtet. Aber die einzigen, die Thomas Mann aus vollem Herzen zustimmen, wenn er von den großen Traditionen der bürgerlichen Kultur spricht, die er bewahren will, sind die Kommunisten. Die einzigen, die aus vollem Herzen mit ihm und für ihn sind, wenn er sich bemüht, die Menschen besser, gütiger und friedlicher zu machen, sind die Kommunisten.6

Die Autoren der Tageszeitung der KPÖ demonstrierten damit ihre gute politische Qualifikation. Der zitierte Abschnitt klang an den rhetorisch effektvollen Satz aus Thomas Manns Antwort an Paul Olberg vom September 1949 an: Er, der Dichter, sei kein Mitläufer, aber es scheint, dass er gescheite Kommunisten zu Mitläufern habe. Die Volksstimme bediente sich gekonnt seines eigenen Gedankenmusters, um die Kommunisten als seine einzigen wahren Versteher und Verbündeten hinzustellen. Thomas Mann resümierte: «Die kommunistische Presse zu freundlich». Die «feindliche Ignorierung des Aufenthalts durch die Amerikaner» sowie einen Annäherungsversuch kommunistischer Jugend hatte er nicht übersehen. Auch eine

3 Tb. 1951 – 1952, S. 731 f. 4 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  335 f. 5 Tb. 1951 – 1952, S. 737 f. 6 Zit. nach: ebenda, S. 738 f. 156

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Einladung zum Gala-­Konzert der Sowjetkünstler, die er jedoch aus Gesundheitsgründen bedauernd abgelehnt hatte, blieb im Tagebuch nicht unerwähnt.7 Der amerikanische Bürger Thomas Mann erschrak, als er zwei Wochen danach, schon in Zürich, die Meldung der Associated Press zu Gesicht bekam. Erika Mann griff zur Feder und entwarf für ihn eine entsprechende Stellungnahme. Auch in dieser Schrift waren seine bzw. seiner Tochter Ausdrücke doppeldeutig und ausweichend. Wie zwei Jahre davor im Fall des Stockholmer Friedensappells, versuchte er eine Tatsache zu leugnen, für die es zahlreiche Zeugen gab. Der Leserschaft des New Yorker Aufbau (und damit in einem weiter gefassten Sinne eigentlich den Behörden des US-Staates) wollte er weismachen, dass die Information der AP nicht stimmte.8 Dann sollte die gefährliche Frage beantwortet werden, die er in Wien umschifft hatte. Mit seinem ganzen Tun, hieß es, sei er unablässig bemüht gewesen, zum großen kulturellen Erbe des Westens beizutragen. Vom Vorrang für eines der beiden politischen Systeme, nach dem die Frage eigentlich gestellt worden war, schrieb er erst einmal kein Wort. Terror, Gewalt, Lüge und Unrecht ­seien ihm ein Gräuel, meinte er – ohne aber diese Erscheinungen als Attribute der kommunis­ tischen Diktatur explizit zu bezeichnen. Abschließend kam er doch auf das Thema politisches System zu sprechen: «Ich lebe im Westen», erklärte er, « – durchaus nicht versehentlich, – keineswegs zufälligerweise. Ich lebe hier als treuer Sohn des Abends, weil es mir hier relativ behagt und ich, trotz allem, vielleicht hoffen darf, hier meines Lebens Arbeit zu beenden. Kennte ich ein ‹System›, dem ich den Vorzug gäbe vor unserer traurig gerichteten und sehr gefährdeten Demokratie, – ich reiste noch heute und stellte mich ihm zur Verfügung.»9 Vielleicht betrachtete der Dichter seine Schrift, insbesondere den hier zuletzt zitierten Passus, als eine erneute entschiedene Absage an den Kommunismus. Ob ihre Botschaft den Adressaten in den USA erreichte? Das Komitee für unamerikanische Umtriebe (HUAC ) war mit Thomas Mann immer schonend umgegangen – das gab er selbst in einem Briefentwurf vom 16. Mai 1952 zu.10 Das nun als weitere Alibi-­Schrift verfasste Bekenntnis zur westlichen Welt wird diese Behörde wohl kaum sehr bewegt haben. Im maßgebenden Punkt, und zwar in Sachen politische Unbedenklichkeit enthielt es nichts Neues: Kein klares Nein 7 8 9 10

Ebenda, S. 303 f. Thomas Manns Bekenntnis zur westlichen Welt. In: Essays, S. 236. Ebenda, S. 237 f. Tb. 1951 – 1952, S. 847. 1952 – 1955

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zum Kommunismus und ein durch Freiräume und Vorbehalte geschwächtes Künstler-­Ja zum Westen. Vielmehr waren es die amerikanischen Mainstream-­ Medien, deren Angriffe er zu befürchten hätte. Am 9. Dezember 1952 schrieb er auf: «Erika plädiert für die Sondierung […], ob ich das Schweizer Bürgerrecht erhalten kann, bevor mir etwa das amerikanische auf Grund der Hetze gegen mich entzogen wird.»11 Auf die andere Seite wird sein Bekenntnis zur westlichen Welt wohl keinen negativen Eindruck gemacht haben. Mit Rückblick auf die gekonnt verständnisvollen Artikel in der Täglichen Rundschau und Volksstimme ist es anzunehmen, dass die Kommunisten sich durch diese Schrift nicht im Nachteil fühlten. Dazu hätten sie auch keinen Grund gehabt. Im Bekenntnis machte ihnen der Dichter nämlich keinen einzigen direkten Vorwurf. Der Rest war nebensächlich. Für den neuen Präsidenten der USA, Dwight Eisenhower, hatte Thomas Mann anscheinend genauso wenig übrig wie für seinen Vorgänger Truman. Am Tage seiner Amtseinführung, 21. Januar 1953, notierte der Dichter: «Was vorgeht ist nicht gerade die ‹Machtergreifung›, aber etwas dem sehr Nahes. Die Inaugurations­ festivität vorüber. Edle Wortemacherei, das Augenblickliche betreffend, und auch die sind Lüge. Vom Innenpolitischen nicht die Rede.»12 Am 5. März 1953 starb Stalin. Noch vor der offiziellen Todesmeldung machte Eisenhower eine Erklärung, in der unter anderem stand: «Ohne Rücksicht auf die Identität der Regierungspersönlichkeiten beten wir Amerikaner nach wie vor, der Allmächtige möchte über die Völker ­dieses riesigen Landes wachen und ihnen nach seiner Weisheit Gelegenheit geben, ihr Leben in einer Welt zu leben, in der Männer und Frauen und Kinder in Frieden und Freundschaft sich finden.»13 Die Erklärung von Eisenhower war in keinem Punkt wie eine politische Message an Stalins Nachfolger formuliert. Vielmehr war sie nur ein geistlich gefärbter Ausdruck von Friedenshoffnung. Thomas Mann glaubte nicht an die Aufrichtigkeit des Präsidenten. «Eisenhower», schrieb er am gleichen Tag ins Tagebuch, «salbungsvoll missionarisch an das ‹russische Volk› […].»14 In gleicher Tonart stehen auch weitere Kommentare Manns zu Aktivitäten der neuen Administration. In der nachfolgenden Zeit verschiebt sich leicht der 11 12 13 14 158

Ebenda, S. 310. Tb. 1953 – 1955, S. 15. Zit. nach: ebenda, S. 403. Ebenda, S. 31. «Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Akzent seiner politischen Äußerungen zugunsten der Loyalität gegenüber dem Westen, wobei er diesen nach wie vor nicht mit dem Mainstream der US-Politik assoziiert. Zugleich nährt bei ihm der Führungswechsel in der Sowjetunion die Hoffnung auf eine Entspannung.15 Am 15. März wurde er von zwei Mitarbeitern des Frankfurter Studentenblattes Discus interviewt. Eigenartig war seine Reaktion auf ein brisantes und im Kontext der deutschen Geschichte prinzipiell wichtiges Thema: die Massenflucht aus der DDR nach Westberlin. «Thomas Mann runzelt die Stirn und zieht die linke Braue noch höher», notierte der Artikelschreiber. «Er spricht von Politik als von ‹Lausbübereien›. ‹Unendlich viele von denen, die ihre Heimat mit den größten Illusionen verlassen, werden eine herbe Enttäuschung erfahren›». Mehr sagte er dazu nichts, es sei denn sein Kommentar wurde gekürzt widergegeben. Die beiden Autoren von Discus versicherten ihm sofort, sie hätten nicht vor, spezifisch politische Fragen zu stellen, denn sie wüssten, «welche Mißverständnisse sich nur zu oft aus solchem Spiel ergeben». Er erwiderte, er würde gerne die Politik ganz ignorieren, aber die Probleme brannten ihm immer wieder auf den Nägeln.16 Eins bleibt unklar: Haben die Interviewer seine Äußerung zur Massenflucht gekürzt oder unterschätzte er die Erscheinung, die schließlich die gesamte deutsch-­ deutsche Problematik jahrelang mitbestimmen sollte? Oder lenkte er das Gespräch in Richtung menschliche Erlebnisse, weil er sich nicht mit der politischen Seite der Frage auseinandersetzen wollte? Sein Tagebuch-­Notat zum Berliner Aufstand vom 17. Juni 1953, welcher die Flucht der Menschen in den Westen noch verstärkt hat, erinnert vom Ton her an jenes zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei im Jahre 1948. Es lautet: «Arbeiter-­Revolte in Ost-­Berlin, gewiß provoziert, wenn auch nicht ohne Spontanität, von russischen Truppen schonend niedergehalten. Panzer und Schüsse in die Luft.»17 Eine Woche danach, am 26. Juni, ließ er sich noch kurz über die «Lausbübereien» aus: «Heuchlerische Trauerkundgebungen in Adenauer-­Deutschland für die Märtyrer im russischen Sektor. 24 Stunden täglich sind die Menschen dort gelockt und herausgefordert worden. Das ganze lausbübisch bis zum Exzeß.»18 Wusste er die Wahrheit nicht oder wollte er sie nicht wissen? 15 Ebenda, S. 45. 16 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  346. 17 Tb. 1953 – 1955, S. 73. 18 Ebenda, S. 76. 1952 – 1955

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Ende April 1953 reiste Thomas Mann nach Rom, um offiziell der Accademia Nazionale dei Lincei für einen Preis zu danken. Wie so häufig im Rahmen großer Veranstaltungen, wurde er während des Besuchs in eine politisch-­ideologische Kontroverse hineingezogen. Seine Verleger Giulio Einaudi und Alberto Mondadori veranstalteten zu seinen Ehren einen Empfang, zu dem eine Reihe kommunistischer Politiker und Literaten eingeladen wurden. In den Anmerkungen zu Thomas Manns Tagebuch sind drei Medienberichte angeführt, die den Empfang aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchteten. Die konservative Frankfurter Neue Presse machte aufmerksam auf die starke Präsenz der Kommunisten und vermutete hinter ihr die Absicht, Thomas Mann als Vertreter der «fortschritt­ lichen Linken» abzustempeln. Die Regisseure, meinte der Berichterstatter, erlebten aber eine Enttäuschung. Thomas Mann, hieß es, hätte sehr eindeutig erklärt, «daß er jenseits des Eisernen Vorhangs nicht leben könnte». Er sei, zitierte die Frankfurter Neue Presse, viel zu sehr Individualist, um mit dem Kommunismus sympathisieren zu können. Mit dem Korrespondenten der sowjetischen Agentur TASS ­seien nur einige höfliche Worte gewechselt worden. Laut Bericht der Frankfurter Rundschau hätte Thomas Mann gesagt, dass er alle Mängel eines Antikommunisten habe. Einladungen mehrerer Kulturvereine, hinter denen die Kommunisten standen, habe er abgelehnt.19 Ein ganz anderes Bild der Situation vermittelte die kommunistische Zeitschrift Vie Nuove. Ihr Korrespondent streifte das Thema der europäisch-­ amerikanischen Kulturbeziehungen sowie Thomas Manns Humanismus und gab dessen Kurzgespräch mit dem Journalisten der TASS im Wortlaut wieder. Des Dichters Antworten auf die heiklen Fragen führte er nicht an, stattdessen zitierte er aus Antwort an Olberg und Reisebericht, die vor fast vier Jahren erschienen waren. Eine Episode, in der Thomas Mann auf eine politische Äußerung reagierte, stellte der Journalist als Provokation gegenüber dem Dichter dar: «Auch im großen Salon des Hotels Excelsior richtete jemand an Thomas Mann die Aufforderung, sich von seinem ‹Kommunismus› zu distanzieren. Thomas Mann erwiderte, er könne unschwer feststellen, daß er nie Kommunist gewesen sei; sichtlich war er ärgerlich.»20 Man kann annehmen, dass der Empfang in politischer Hinsicht eher so verlaufen ist, wie ihn die zwei nicht-­kommunistischen Zeitungen beleuchtet haben. 19 Ebenda, S. 430. 20 Zit. nach: ebenda, S. 818. 160

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Der Bericht von Vie Nuove enthält keine konkreten einschlägigen Zitate Thomas Manns und beruft sich nur auf dessen ältere Publikationen. An Empfänge und Pressekonferenzen war er gewöhnt. Von der Audienz bei Papst Pius XII. am 29. April war er dagegen inniglich bewegt. Unter dem Eindruck d ­ ieses Ereignisses schrieb er ins Tagebuch: «Verwandtes Verhalten zur katholischen ­Kirche wie zum Kommunismus. Gegen beides kein Wort! Mögen andere eifern und Theokratie und Censur fürchten.»21 Kurz nach der Rückkehr aus Rom verfasste er weitere Bekenntnisse zum Westen, in denen manch ein Wort doch gegen den Kommunismus fiel. Im Aufsatz, der vom 10. Mai 1953 datiert war und im September in der Zeitschrift Comprendre erschien, stand: Meine persönliche Überlieferung und Formung machen mich untauglich zum Partei­ gänger des Kommunismus. Ich kenne die Schrecken dieser ­Kirche, ohne daß das Grauen vor ihrer Weltherrschaft mich blind machte für ihr Recht – höchst relativ wie es sei – gegen das Gebrechen unserer spätkapitalistischen Welt, die, statt aus ihrer Bedrohtheit Impulse innerer Erneuerung zu schöpfen, technisch furchtbar gewappnet, über hoffnungslosen Vernichtungsplänen brütet. […] Mein Zugehörigkeitsgefühl zum Westen, das Bewußtsein meiner Unfähigkeit, unterm Geisteszwang östlicher Orthodoxie und ihrer taktischen Launen zu leben, erlauben mir nicht, von Neutralität zu sprechen.22

Mit dieser Passage, insbesondere mit ihrem letzten Satz, antwortete Thomas Mann den Kritikern seines Auftrittes in der Wiener Pressekonferenz. Als neutral wollte er nicht gelten. Im gleichen Atemzug kritisierte er auch die «spätkapitalistische Welt» und räumte dem Kommunismus ein Recht gegen sie ein. Diese relativierende Art und Weise war seinen sowjetischen Betreuern seit langem bekannt. Männer vom Schlage Bechers – ob in Moskau oder Ostberlin – waren professionell und erfahren genug, um sie zu schätzen zu wissen. Keinerlei strenge Kritik seiner Worte «gegen den Kommunismus», geschweige denn ein Protest gegen sie erfolgte je offiziell im kommunistischen Lager. Einige frühere Versuche mancher Partei-­Prinzipienreiter, ihn zu attackieren, waren von der höheren Stelle unterbunden worden.

21 Ebenda, S. 54. 22 [Rückkehr nach Europa]. In: Essays, S. 245. 1952 – 1955

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Am Anfang des Aufsatzes für Comprendre urteilte der Dichter scharf über das politische Klima in den USA: «Gesinnungsspionage, Mißtrauen, Erziehung zur Denunziation, Paßverweigerung für angesehene, aber mißliebige Gelehrte, […] grausame Verstoßung Unorthodoxer in die ökonomische Wüste – das alles ist leider gang und gäbe geworden». Die Freiheit sei in Amerika bedroht, und die Angst vor dem Kommunismus treibe manche Geister in die Billigung des Faschismus. Auch diese Kritik relativierte er sogleich: Die demokratischen Funda­mente des amerikanischen Lebens, meinte er, ­seien trotz alledem gesund und fest. Eine starke Bewegung «gegen den Terror von Angst und messianistischem Dünkel» sei schon spürbar.23 Damit ließ sich dieser Aufsatz aus der Sicht der Sowjets bzw. Kommunisten mit Sicherheit als «fortschrittlich» einordnen: Der berühmte Dichter kritisierte die Machthaber der USA, erkannte die Gebrechen der kapitalistischen Welt, trat erneut für den Frieden auf und verwies auf wachsenden Widerstand der gesunden Kräfte innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Insgesamt waren diese Inhalte zu gewichtig, als dass ihre Wirkung durch einige kritische Worte über den Kommunismus, wie Schrecken und Geisteszwang, hätte geschwächt werden können. Sein Bekenntnis zum Westen artikulierte er in ähnlichen Ausdrücken parallel in mehreren Privatbriefen  24 und Interviews. Auf dieser Ebene war seine relativierende Art und Weise nicht für alle nachvollziehbar. Der Korrespondent der Lübecker Nachrichten schrieb über ihn am 11. Juni 1953: «Einer der größten unter den Dichtern! Gewiß nicht unter den Politikern. Wenn er sich politisch äußerte, war es oft schwer, ihm zu folgen.»25 Kommunistische Medien verschiedener Länder kämpften weiterhin um Thomas Mann: Mit unterschiedlicher – je nach Begabung und Vorbereitung ihrer Autoren – Qualität. Am 8. Juni 1953 las Thomas Mann im Hörsaal der Universität Hamburg aus seinem Felix-­Krull-­Roman. Der nachfolgende Bericht der kommunistischen Hamburger Volkszeitung ist – im Unterschied zu jenem der Wiener Volksstimme vom November 1952 – ein Beispiel des plump-­propagandistischen Umgangs mit seinem Namen. Der Schreiber lobte eingangs Thomas Manns erstaunliche und herzerquickende Lebensfrische, zitierte dann einiges zum Thema deutsche 23 Ebenda, S. 241 f. 24 Siehe Tb. 1953 – 1955, S. 824, 829 f. 25 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  358. 162

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Kultur aus einer seiner älteren Schriften und ging ohne Weiteres zur Agitation über: «Im Polizeistaat Adenauers verbreitet die neofaschistische Kulturbarbarei erneut ihren Jauchengeruch. Gegenüber der antisozialen, der antidemokratischen und antinationalen Willkür stehen unverrückbar die Worte des großen deutschen bürgerlichen Dichters Thomas Mann: ‹Der Antibolschewismus ist die Grundtorheit unserer Epoche.›»26 Der Bericht von L’Unità, der Zeitung der Italienischen Kommunistischen Partei, vom 3. Mai 1954 bietet ein Kontrastbild zu dieser Publikation über ­Thomas Mann im Flugblattstil. Der Korrespondent, der Thomas Mann in dessen neuem Heim in Kilchberg aufsuchte, ließ nur an einer Stelle seine politische Engagiertheit durchblicken. Sie lautete: Was denkt Thomas Mann über den Alarmzustand, in den sich alle Nationen durch die unkontrollierbare Wirkung der neuen Bomben versetzt sehen? Wenn man seinen Standpunkt kennt, ist die Frage mehr als überflüssig. Und wer weiß, wieviel Blut die Kommunisten für die Freiheit vergossen haben, bewundert die großen Anstrengungen, die sie im Kampf gegen die Deutschen vollbracht haben, womit sie sogar dem liberalen Bürgertum ein Beispiel an Mut geben, und hegt keine voreingenommene Abneigung gegen sie, auch wenn er kein Kommunist ist; genauso wie er sich nicht als anti-­amerikanisch erklärt, obwohl er die Grenzen der amerikanischen Politik kennt, auch wenn er mit Bitterkeit die stetig fortschreitende Ausbreitung des Faschismus ­beobachtet, der – seinen alten Voraussagen entsprechend – jenes Land unter der Maske der Freiheit erobert.27

Der Korrespondent von L’Unità war mit der Tendenz der politischen Schriften Thomas Manns offensichtlich bestens vertraut. Ohne dem Dichter zu nahe zu treten, brachte er in d­ iesem Abschnitt seine Friedensideen und Ressentiments gegen Amerika komprimiert zum Ausdruck. Thomas Mann lebte nunmehr wieder in Europa. Er erwarb ohne Mühe die Niederlassungserlaubnis für die Schweiz und kaufte sich Anfang Februar 1954 ein Haus in Kilchberg. Aber auch hier beraubte ihn der Geist McCarthys seiner Seelenruhe. Am 2. März schrieb er auf: «Findet sich nicht ein braver junger

26 Zit. nach: Gert Heine/Paul Schommer. Thomas Mann. Chronik, S. 517. 27 Volkmar Hansen/Gert Heine (Hg.). Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, S.  379 f. 1952 – 1955

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Mensch, der Mc Carthy erschießt, so steht es um Amerika schlimmer als um Deutschland.»28 Dieser grotesk ausfallende Hass auf den obersten Kommunistenjäger zeichnet die spezifische Situation Thomas Manns aus. Die Schweiz repräsentierte im Wesentlichen den Westen, zu dem er sich bekannte. Amerika und die Sowjetunion verstand er – eher emotional als konkret-­politisch gesehen – als Bedrohung für diesen Westen, wobei von den USA seiner Ansicht nach eine größere Gefahr ausging. In d­ iesem Land hatte er vierzehn Jahre verbracht und war amerikanischer Staatsbürger geworden. Die Aktivitäten McCarthys – Truman und Eisenhower warf der Dichter in den gleichen Topf – hatten sein idealisiertes Roosevelt-­Amerika zerstört. Die UdSSR kannte er dagegen nur aus einander widersprechenden Medien- und Privatberichten. Sie stand in seinen Augen für Friedenskampf und Antifaschismus und beruhte auf einer «zukunftsweisenden» Ideologie. Von der Seite der UdSSR kam ihm seit Jahrzehnten Verehrung entgegen. Von Terror und Unterdrückung durch die Kommunisten wusste er Bescheid, aber sie gehörten in der Bereich des Weiten und Abstrakten. Die Tägliche Rundschau druckte am 7. und 8. Mai 1954 Fragmente aus dem Bericht von L’Unità ab. Die Überschrift lautete Thomas Mann wendet sich gegen Krieg und Atombombenexperimente. Gegen Ende des Jahres 1953 meldete sich die Sowjetunion auf eine einnehmende Art wieder. In Moskau waren die Buddenbrooks in einer Neuübersetzung von Natalia Man erschienen, die bis heute als Standard gilt.29 Ohne bürokratische Hürden und langwierigen Schriftverkehr wurde Thomas Mann das Honorar von 28.000 Franken in bar von einem sowjetischen Botschaftssekretär nach Hause zugestellt.30 Vermutlich war es derselbe Diplomat, der ihm am 22. März 1954 die Ausgabe der Buddenbrooks überbrachte und ihn bat, etwas zum fünfzigsten Todestag von Anton Tschechow zu schreiben. Daraufhin entstand Versuch über Tschechow, Thomas Manns Auftragsschrift für die Sowjetunion. Vor dem Beginn der Arbeit an ­diesem Essay hatte er noch einige weitere erwähnenswerte Begegnungen mit Vertretern des kommunistischen Ostens. Am 5. Mai 1954 bekam Thomas Mann einen dritten Besuch aus der sowje­ tischen Botschaft: ein Herr Smolin, mutmaßlich der ihm bereits bekannte Diplomat, kam in Begleitung eines Filmregisseurs namens Grigorij Alexandrow nach 28 Tb. 1953 – 1955, S. 189. 29 Тoмас Манн. Будденброки. История гибели одного семейства. Перевод с нем. [Н. Ман]. Москва: Гослитиздат 1953. 30 Tb. 1953 – 1955, S. 150, 165. 164

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Kilchberg.31 Dieser wird später noch eine Rolle im feinen Spiel um die letzte Ehrung Thomas Manns durch den Sowjetstaat spielen. Am 16. Mai trafen Walter Janka, der Leiter des Aufbau-­Verlags, und Hans Mayer, der ostdeutsche Literaturwissenschaftler, in Kilchberg ein. Der Besuch hing mit der Ausgabe der Werke Thomas Manns in der DDR zusammen, aber diesmal hatte die Affäre eine heitere Seite. Die Gäste brachten dem Dichter einen Pelzmantel, der in seinem Auftrag angefertigt und von seinen ostdeutschen Honoraren bezahlt worden war. Hermann Kurzke meint, dass er darin wie ein russischer Großgrundbesitzer in der Zarenzeit aussah.32 Es wurde eine geplante Gesamtausgabe in zwölf Bänden und andere literarische Angelegenheiten besprochen. Thomas Mann hatte offenbar sein Vergnügen am Besuch.33 Die beiden Gäste nannte er im Brief an Becher vom 22. Mai 1954 unsere Freunde.34 In ­diesem Brief bat er Becher, der im Januar 1954 Kulturminister der DDR geworden war, die ihm intern angekündigte Verleihung des ostdeutschen Nationalpreises zu verschieben. In letzter Zeit, meinte er, sei es politisch stiller um ihn geworden, «das Gekläffe ist langsam verhallt», und er sei kaum mehr genötigt, seine Zeit für Dementis und Erklärungen zu vergeuden. Wenn er nun die Ehrung annähme – «das Geschrei in der gesamten Presse des Westens wäre gewaltig und anhaltend» und alles, was er in entscheidenden Fragen (der des Friedens, vor allem) zu sagen hätte, würde a priori entwertet und abgestempelt sein. Die Ehrung sollte bis zu seinem Jubiläum im nachfolgenden Jahr verschoben werden.35 Am 5. Juni 1954 erhielt er ein Gratulationstelegramm des Kulturministeriums der DDR zu seinem neunundsiebzigsten Geburtstag. Im Tagebuch steht diesbezüglich: «Es stimmt nicht, weder mit Goethe noch mit mir. Aber es soll und muß stimmen, und sie bestehen darauf, und Adenauer-­Deutschland besteht auf garnichts. Wird sich wahrscheinlich auch nächstes Jahr nicht rühren.»36 Der Kommunist Walter Janka wurde 1956 unter Anklage konterrevolutionärer Tätigkeit verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. In der UdSSR war gerade die sogenannte Entstalinisierung gestartet, was die Führung der SED 31 32 33 34 35

Ebenda, S. 220. Hermann Kurzke. Thomas Mann, S. 546. Tb. 1953 – 1955, S. 223 f., 225. Briefe an Becher, S. 499. Ebenda, S. 500. Siehe auch Thomas Manns Brief an Becher vom 31. 07. 1953: Ebenda, S. 481 f. 36 Tb. 1953 – 1955, S. 235. Siehe auch ebenda, S. 852. 1952 – 1955

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mit gebührendem Ernst zur Kenntnis nahm. Der Schauprozess in Ostberlin gestaltete sich, trotz der neuen Wendungen, nach dem altbewährten Muster der stalinschen Justiz.37 Das bedeutete, dass der Angeklagte von Anfang an keine Chance hatte. Thomas Mann erlebte das nicht mehr mit. Erika Mann führte die humane Tradition ihres Vaters fort und setzte sich für Janka ein. Ihr Brief an Becher vom 17. Dezember 1956 erleichterte jedoch die Lage des Leiters vom Aufbau-­Verlag nicht.38 Er wurde erst 1960 aus der Haft entlassen. Die ersten Zeilen von Versuch über Tschechow brachte Thomas Mann am 22. Juni 1954 zu Papier. Dieses Essay war, abgesehen von einigen k­ urzen Schriften in den Dreißigerjahren, seine erste Auftragsarbeit für die Sowjetunion. Er kannte und liebte die russische Literatur, von Interesse und Sympathie zeugt auch seine Interpretation des Werkes von Tschechow. In bestimmter Hinsicht entsprach das neue Essay der Grundrichtung der sowjetischen Literaturwissenschaft vollkommen. In der UdSSR wurden sozial­ kritische Motive im Werk russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nachträglich in den Dienst der Propaganda gestellt. Diesem Schicksal entging auch das Werk von Anton Tschechow (1860 – 1904) nicht. Thomas Manns Charakterisierung der Epoche Tschechows stammte aus der marxistischen Sekundärliteratur, mit der ihn der Aufbau-­Verlag reichlich versorgt hatte.39 Sie hätte in d ­ iesem Punkt nichts anderes übermitteln können als Klischees, die samt und sonders die Revolution von 1917 als notwendig und glücksbringend darstellen sollten. Thomas Mann übernahm sie leichterhand und platzierte seinen ­Tschechow in ein Land des Horrors: «[…] keinem Menschen konnte russisches Leben überhaupt damals die Brust weiten. Es war erstickend, dumpf, leisetreterisch-­devot, befuchtelt und verschüchtert von brutaler Autorität, ein kommandiertes, zensuriertes, von Staats wegen angebrülltes und kriecherisches Leben». Es fehlte auch nicht an einem einschlägigen Lenin-­Zitat.40 Diese aus tendenziösen Quellen unkritisch übernommene Sicht einer gesamten Epoche erweist sich im Essay als leitmotivisch.

37 Zu den Einzelheiten des Prozesses siehe Karl Wilhelm Fricke. Politik und Justiz in der DDR, S. 363 – 365. Zur Einwirkung der Entstalinisierung auf die Politik der SEDFührung siehe ebenda, S. 331 – 333. 38 Briefe an Becher, S. 544. 39 Tb. 1953 – 1955, S. 237. Siehe auch Essays, S. 543. 40 Versuch über Tschechow. In: Essays, S. 259, 264. 166

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Vergleichbare Klischees hatten Thomas Mann schon früher bei der Beantwortung schwieriger Fragen Hilfe geleistet. Zuletzt war der Roman Mit den Augen des Westens von Joseph Conrad eine seiner wichtigsten landeskundlichen Quellen gewesen. Im Versuch über Tschechow brachte er ein grob reduziertes Bild einer komplexen Wirklichkeit zum Vorschein, das auch zur verflachten Auslegung des Werkes von Tschechow beitrug. Thomas Mann passte sich damit – wie 1937 im Brief an den sowjetischen Schriftstellerverband – allzu offenkundig den Begriffen des Auftraggebers an. Ein Dreivierteljahr zuvor, am 4. Oktober 1953, vermerkte er im Tagebuch ein Gespräch mit seiner Frau «über das leicht Schaurige der sowjetischen Stilisierung meiner Literatur durch die dortige Kritik.»41 In seinem Essay stilisierte er sich nun selbst – jedenfalls in einer Hinsicht – ganz im Sinne der Sowjets. Ende Juli 1954 war die Arbeit abgeschlossen. Am 22. September bekam Th ­ omas Mann die erfreuliche Nachricht aus der Sowjetbotschaft in Bern: Das Essay würde «in dem und dem ‹Bulletin› und überall jenseits des Eisernen Vorhangs erscheinen.»42 Anfang 1955 wurde es in russischer Sprache in der Moskauer Zeitschrift Nowyj mir veröffentlicht. Ein Mitarbeiter der Botschaft stellte sie dem Dichter samt Honorar von 1000 Franken nach Kilchberg zu.43 Thomas Manns Verhältnis zum Deutschland Adenauers war nicht viel positiver als zu den missliebigen Vereinigten Staaten. In seinem Tagebuch frohlockte er hin und wieder leicht, wenn die Bundesrepublik auf ­diesem oder jenem Gebiet politisch im Rückzug begriffen war. So schrieb er im Juli 1954 über die vielseitige «kulturelle Infiltration» der UdSSR in Deutschland: «Ein Prozeß, bedrohlich, begrüßenswert oder komisch, wie man es nimmt. Für mich vorwiegend erheiternd». Zum Überlauf eines hohen westdeutschen Beamten namens Otto John in die DDR meinte er im gleichen Monat: «Viel den Fall John, der schlimm für England und Adenauer, aber amüsant im großen Stil. Sämtliche westdeutsche Spione verhaftet». Am 30. August lehnte Frankreich die Ratifizierung des Europäischen Verteidigungsvertrages ab. Thomas Mann notierte: «Gespräch über die Pariser Entscheidung und Deutschland. Dieses sollte vereinigt und neutralisiert werden. Das könnte, da es ohne Militär-­Budget wirtschaftlich zu bevorzugt wäre,

41 Tb. 1953 – 1955, S. 123. 42 Ebenda, S. 277. 43 Ebenda, S. 321. 1952 – 1955

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zu allgemeiner Einstellung der ohnedies sinnlos gewordenen Rüstung führen. Welche Erleichterung für die Welt. Wird sie auf friedlichem Wege vom Kommunismus erobert, so war sie reif dafür. Aber es wird wohl nicht so geschehen, sondern viel Gräßliches geschehen.»44 In d­ iesem Zusammenhang bat ihn am 10. September die Zeitschrift L’Express um einen Artikel über die Entwicklung Deutschlands in der Nachkriegszeit. Er kam der Aufforderung nach: der Artikel wurde geschrieben und am 22. Oktober in französischer Übersetzung publiziert. Thomas Mann solidarisierte sich mit dem Manifest einer Fraktion der jungen Sozialdemokraten. Es setzte einen Friedens- und Zukunftsplan für Deutschland voraus: Verzicht auf Machtpolitik und Wiederaufrüstung, Neutralität und Räumung Gesamtdeutschlands von allen fremden Truppen.45 Damit lehnte sich diese Fraktion gegen die proamerikanische Verteidigungspolitik Adenauers und zugleich gegen die Linie der SPD überhaupt auf. In ideologischer und in der Regel auch politischer Hinsicht zählten die Sozial­ demokraten zu den Erzfeinden der Kommunisten. In ­diesem Fall fielen die im Manifest formulierten Vorschläge mit den Zielen der Sowjets zusammen. Die Prawda vom 1. November 1954 berichtete wohlwollend vom Artikel Thomas Manns in L’Express, ohne auf die Einzelheiten des Manifestes einzugehen. Es kam darauf an, dass der berühmte deutsche Schriftsteller sich gegen die Aufrüstung Deutschlands ausgesprochen hatte. Der Prawda-­Bericht wurde als Zeitungsauschnitt seiner Personalakte beigefügt.46 Die Einladung zur Schillerfeier, die im Mai 1955 in Stuttgart stattfinden sollte, erhielt Thomas Mann schon im Sommer 1954. Die Festrede, die er dort halten wollte, bereitete ihm Kummer: es fehlte an Energie und Anregung, die Arbeit stockte. Eine weitere Sorge kam bald dazu. Im Oktober 1954 bekam er die offizielle, durch Becher unterschriebene Einladung zur Parallelfeier in der DDR. In seinem Tagebuch steht diesbezüglich: «Mittags Janka. Hauptthema: Schiller-­Feier in Weimar. Dazu die Gesamtausgabe. Dazu der Nationalpreis. Alles höchst mißlich. Werde mir hier viel verderben.»47 Aus Vorsicht und Korrektheit erkundigte er sich auf Umwegen nach der Einstellung des Bundespräsidenten. Das Tagebuch meldet: «Erwarte ungeduldig die Antwort Hoffmanns aus Stuttgart 44 Ebenda, S. 248, 251, 270. 45 [Gegen die Wiederaufrüstung Deutschlands]. In: Essays, S. 284 bis 286. 46 Archiv РГАСПИ Ф. 495 оп. 205 д. 117, ohne Nr. 47 Tb. 1953 – 1955, S. 288 f. 168

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über die Haltung des Bundespräsidenten Heuß. Bereit zur Absage nach Weimar, wenn die verschärfte politische Lage es will. Nicht die geringste Lust, mir in der Sphäre, der ich angehöre, das Leben zu verderben und den Geburtstag.»48 Eine noch stärkere Versuchung aus östlicher Richtung traf drei Tage später, am 6. Dezember 1954, ein. Das Tagebuch des Dichters berichtet: «‹Jugoslavischer› Besuch aus Bern. Anfrage, ob ich den Stalin-­Friedenspreis (Goldner Stern und 100.000 Rubel) annehmen würde, was nun wirklich, wenn jemals, in d­ iesem Jahr ganz unmöglich ist. Aber was man der ‹freien Welt› zuliebe alles wegwirft. Es sind schon rund 300.000 Franken.»49 Damit begann der letzte Akt des Werbens um Thomas Mann, eines Spiels, welches die Sowjetunion über Jahrzehnte tatkräftig und unbeirrt betrieben hatte. Der Stalin-­Preis war die höchste zivile Auszeichnung der Sowjetunion. Er wurde seit 1940 für herausragende Leistungen in Naturwissenschaften und Technik, Kunst und Literatur sowie Militärwissenschaft und Produktionsrationalisierung jährlich verliehen. Der Stalin-­Friedenspreis wurde 1949 zusätzlich gestiftet. Einige Tage nach dem Erhalt der schmeichelnden Nachricht durch Thomas Mann fanden in Moskau mehrere Sitzungen des Stalin-­Friedenspreis-­Komitees statt. Ihm gehörten unter anderem der Publizist Ilja Ehrenburg, der schon in den Dreißigerjahren aktiv um Intellektuelle des Westens geworben hatte, die Schriftstellerin Anna Seghers, der Dichter Pablo Neruda, der Schriftsteller Louis Aragon und der Filmregisseur Grigorij Alexandrow an. Der Vorsitzende des Komitees war der Kernphysiker Dmitrij Skobelzyn. Der Hergang der Diskussion um die Kandidatur Thomas Manns lässt sich am Stenogramm verfolgen, das als geheim eingestuft war und erst 1992 der Forschung zugänglich wurde. In der Sitzung am 14. Dezember 1954 meldete sich Skobelzyn zu Wort: Ich halte es für notwendig, das Komitee darüber in Kenntnis zu setzen, dass sich in den Couloirs, außerhalb der Besprechung der Kandidaturen in unseren Sitzungen, noch vor der eigentlichen Besprechung die Frage nach der Möglichkeit der Preisverleihung an Thomas Mann stellte, der sich zum jetzigen Zeitpunkt in der Schweiz aufhält. Obwohl die Frage nach seiner Kandidatur schon vor den geplanten Komitee-­Sitzungen aufgeworfen worden war, habe ich in der letzten Komitee-­Sitzung nichts zu Thomas Mann gesagt, weil wir auf eine Antwort von ihm gehofft haben. Diese Antwort muss

48 Ebenda, S. 294. 49 Ebenda, S. 295. 1952 – 1955

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[demnächst] eintreffen. Ich bitte jetzt um die Registrierung seiner Kandidatur, ohne dass wir sie in der heutigen Sitzung besprechen. Wir besprechen sie in der nächsten Sitzung je nach dem Inhalt seiner Antwort. // Warum sollten wir die Kandidatur Thomas Manns beachten? […] Die Kandidatur Thomas Manns sollten wir in Verbindung mit der von Brecht besprechen, und wir werden uns für einen dieser beider Schriftsteller entscheiden müssen.50

Trotz des Vorschlages von Skobelzyn wurden beide Kandidaturen noch in der gleichen Sitzung besprochen. Aragon, der ursprünglich die Kandidatur Brechts vorgeschlagen hatte, Anna Seghers, die seit langem mit Brecht bekannt war, sowie Ehrenburg und Neruda plädierten für Thomas Mann – vorausgesetzt, seine Antwort würde positiv sein. Andernfalls – darüber waren sich alle Redner ebenfalls einig – stehe der Preis Bertolt Brecht zu. Danach ergriff der Filmregisseur Alexandrow das Wort: Ich glaube, wir können die Kandidatur Brechts nicht von derjenigen Thomas Manns getrennt besprechen. // Ich möchte einige Worte über Thomas Mann sagen. Dem Pass nach ist er immer noch amerikanischer Staatsbürger. Die amerikanischen Behörden haben es ihm ermöglicht, 5 Jahre in der Schweiz zu leben, mit der Bedingung, er würde in die Vereinigten Staaten zurückkehren. Aber als ich ihn in d­ iesem Jahr besuchte, sagte er mir, dass er in die Vereinigten Staaten nie zurückkehren werde, dass er mit ihnen endgültig Schluss machen wolle und es für seine Pflicht halte, bis zum letzten Augenblick seines Lebens gegen die amerikanischen Kriegshetzer zu kämpfen. Über den [Stalin-]Preis habe ich mit ihm natürlich nicht gesprochen, auch nicht über andere Fragen. Das war ein rein freundschaftlicher Besuch. Er hat mir klar und deutlich gesagt, dass er auch nicht nach Deutschland zurückkehren wolle, weil er für ein einheitliches Deutschland kämpfen möchte, daher wolle er nicht in nur eine Hälfte von Deutschland zurückkehren. Außerdem hat er bemerkt, es sei für ihn zur Zeit vielleicht noch von Vorteil, amerikanischer Staatsbürger zu bleiben, damit er seinen Einfluss auf den Friedenskampf in Amerika nicht verliert. Wie Sie sehen, ist seine Situation kompliziert, und wir müssen Rücksicht darauf nehmen. […] Wenn er 50 Zit. nach: Владимир Колязин. Бертольт Брехт vs. Томас Манн: как великого драматурга награждали Сталинской премией. http://oteatre.info/bertolt-­breht-­vs-­ tomas-­mann-­kak-­velikogo-­dramaturga-­nagrazhdali-­stalinskoy-­premiej/. Der Verfasser bezieht sich auf die Archiveinheiten: ГАРФ, фонд 9522, оп. 1, ед. хр. 35, 36; фонд 7523, оп. 108, ед. хр. 487. 170

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

es also für möglich halten sollte, den Preis anzunehmen, muss man das natürlich mit allen Mitteln begrüßen. Schon allein für einen Artikel, den er in Amerika geschrieben hat, ist er des Preises würdig.51

Ansonsten, meinte Alexandrow abschließend, müssten sie den Preis Brecht verleihen. Das Stenogramm veranschaulicht abermals die Strategie der Sowjets gegenüber Thomas Mann, die seit ungefähr zwanzig Jahren – mit leichten Variationen – unverändert geblieben ist. Vor allem basierte sie auf Achtung und Rücksicht. Einstimmig gaben die Mitglieder des Komitees seiner Kandidatur vor jener Bertolt Brechts Vorrang. Alexandrow trug verständnisvoll Schwierigkeiten und Risiken vor, von denen Thomas Mann ihm erzählt hatte. Es ist denkbar, dass er die Äußerungen Thomas Manns zugespitzt und der politischen Sprache der UdSSR angepasst widergegeben hat. An der Korrektheit ihrer Inhaltswiedergabe dürften aber kaum Zweifel bestehen. Des Dichters Friedenstätigkeit mit ihrem «antiamerikanischen» Tenor wurde von Alexandrow hoch eingeschätzt. Als Begründung für seine Stalin-­Friedenspreis-­Nominierung sollte sie auf jeden Fall ausreichen. Die nächste Sitzung des Komitees fand am 18. Dezember statt. Der Vorsitzende, Professor Skobelzyn, informierte die Anwesenden über die neuen Erkenntnisse: Wenn Sie sich erinnern, war eine der Kandidaturen auf unserer Liste alternativ, da die Kandidatur des Schriftstellers Thomas Mann vorgeschlagen wurde. Soweit ich verstanden habe, würde die Kandidatur Bertolt Brechts entfallen, wenn sich die Preisverleihung an Thomas Mann als möglich erwiese, d. h. wenn er es für möglich erachten würde, diesen Preis anzunehmen. // Ich habe die Mitglieder des Komitees bereits darüber informiert, dass [inzwischen] Schritte zur Klärung dieser Frage unternommen wurden. Am 13. Dezember fand das Gespräch einer vertrauten Person mit Thomas Mann statt, welcher mir als Komitee-­Vorsitzendem, der dieser Schritte eingeleitet hatte, seine tiefe Dankbarkeit für die Aufmerksamkeit und das Verständnis seiner Friedenstätigkeit ausrichten ließ. Es stellte sich jedoch heraus, dass er die eventuelle Nominierung seiner Kandidatur für den internationalen Stalin-­Preis als negativ betrachten muss, da er glaubt, dass die Verleihung ­dieses Preises seinen Einfluss in den weiteren Kreisen sowohl in Westdeutschland als auch in anderen kapitalistischen Ländern beschränken würde. Nach der Meinung Manns würde er nach der Preisverleihung als Links-­Kommunist gelten 51 Ebenda. 1952 – 1955

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und den Einfluss verlieren, was für seine weitere Friedenstätigkeit negative Folgen haben würde. Thomas Mann gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass man dafür Verständnis haben würde, [und erklärte] dass er seinen Friedenskampf fortsetzen würde. […] Da sich die Frage in Bezug auf Thomas Mann so stellt, entfällt seine Kandidatur. Wir haben noch die Kandidatur von Bertolt Brecht, sie findet ungeteilten Beifall der Mitglieder des Komitees […].52

Den Besuch der anonymen vertrauten Person notierte Thomas Mann am 14. Dezember im Tagebuch: «Der Russe war da und nahm in sehr freundschaftlichem Gespräch meine ablehnende Haltung entgegen.»53 Nach zwei Tagen meldete sich beim Dichter eine andere Organisation, die ihm ebenfalls ein Geschenk zu seinem 80. Jubiläum machen wollte. Am 17. Dezember 1954 schrieb er auf: «Gestern anstrengender Tag: Theebesuch M. Werkows und Frau. Angebot des Friedenspreises. Unannehmbar. Abermals 100.000 Franken verschmäht. Wird bald eine halbe Million sein.»54 Wer in ­diesem Fall der Auftraggeber war, bleibt schleierhaft. Da Thomas Mann auch diese Ehrung kurzerhand abgelehnt hat, liegt die Vermutung nahe, dass es um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gegangen ist. Es sollte gewiss nicht so aussehen, als ob er eine westdeutsche Auszeichnung der ostdeutschen und der sowjetischen vorgezogen hätte. Diese Vermutung wird jedoch von mehreren Umständen widerlegt. Der 1949 in Frankfurt am Main gestiftete Preis war damals mit 15.000 DM dotiert. Der Gegenwert ­dieses Betrages belief sich auf ca. 15.400 Schweizer Franken. Laut Auskunft des Archivs des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels war Thomas Manns Kandidatur nie in Betracht gezogen worden. Auch eine Person namens M. Werkows oder Werkow sei in den Unterlagen des Archivs nirgendwo vermerkt. Der Betrag von 100.000 Schweizer Franken ließe vielmehr auf den Friedensnobelpreis schließen. Doch auch er kommt hier kaum in Frage: Eine inoffizielle Erkundigung über die Haltung des Kandidaten hätte den Gepflogenheiten des Nobelpreiskomitees nicht entsprochen. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um den sogenannten Internationalen Friedenspreis handelte, der seit 1950 an Künstler für besondere Verdienste um den Weltfrieden verliehen wurde. Sein

52 Ebenda. 53 Tb. 1953 – 1955, S. 297. 54 Ebenda, S. 298. 172

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Initiator war der Weltfriedenskongress, eine kommunistisch dominierte Organisation mit Frédéric Joliot-­Curie an der Spitze. Die ersten Preisträger waren vorwiegend Kommunisten. Bei aller Sympathie mit d­ iesem Zweig der Friedensbewegung, wollte Thomas Mann sicherlich nicht auf ihrer offiziellen Begünstigtenliste stehen. Die Zeitungskampagne gegen ihn wegen seiner blauäugigen Unterstützung ihrer Aktivitäten hatte er sicher noch in Erinnerung. Daher ist es verständlich, dass er den Preis ohne weiteres als unannehmbar bezeichnete. Er schlug einen Geldregen, der ihm von zwei Einrichtungen in Aussicht gestellt wurde, aus politischer Vorsicht aus. Allem Anschein nach stand die Sowjetunion auch hinter dem zweiten Angebot. Thomas Manns Aversion gegen den harten Kurs der US-Regierung kulminierte manchmal in Zornesausbrüchen. Seine reservierte Zuneigung für die Sowjetunion – insbesondere für deren Friedensrhetorik – trat dabei noch deutlicher als sonst zutage. Besonders sensibel reagierte er auf Angriffe gegen seinen Roosevelt-­ Mythos. Die Veröffentlichung der Akten der Jalta-­Konferenz, ­welche eine Schattenseite Roosevelts als Politiker enthüllten, nannte er niederträchtig – und stilisierte seinen Lieblingspräsidenten zum Retter der Welt vor Hitler.55 Für den Rücktritt des sowjetischen Regierungschefs Georgi Malenkow am 7. Februar 1955 machte Thomas Mann den Westen verantwortlich. Laut Resolution des Plenums des ZK der KPdSU vom 31. Januar 1955 sei Malenkow für den Verzicht auf den Aufbau des Sozialismus in der DDR und ein neutrales bourgeoises Deutschland aufgetreten. Außerdem hätte er behauptet, dass ein dritter Weltkrieg die gesamte Menschheit vernichten würde. Diese Einstellung Malenkows wurde scharf kritisiert, da sie, wie es hieß, keine Kampfstimmung gegen aggressive Pläne der Imperialisten fördere. Es sei hier angemerkt, dass die Logik dieser Formulierung höchst absonderlich anmutet und ein bezeichnendes Licht auf die kommunistische Friedensrhetorik wirft. Danach fühlte sich der Regierungschef verpflichtet, seinen Rücktritt einzureichen. Als offiziellen Hauptgrund dafür gab er seine Unerfahrenheit an. Über die genannten Einzelheiten mag Thomas Mann nicht unbedingt informiert gewesen sein. Aus den ihm zugänglichen Medien wusste er jedenfalls, dass Malenkow Anhänger einer moderaten Außenpolitik war. Im Tagebuch des Dichters steht diesbezüglich: «[…] niemand spricht aus, daß man vielleicht, statt haßvoller Deutung jeder versöhnlichen Bewegung, dem milderen [Kurs] 55 Ebenda, S. 327. 1952 – 1955

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einen oder den anderen Erfolg hätte bereiten sollen. Malenkow ist am sturen Widerstand des Westens gescheitert, und so muß er seine ‹Unerfahrenheit› eingestehen.»56 Schon im Vorfelde war Thomas Manns Reise zur Schillerfeier dazu prädestiniert, – wie auch 1949 – zum Gegenstand politischer Kontroversen zu werden. Bitter für ihn war, als auch sein alter Freund, der Pastor Kuno Fiedler, ihm in Anbetracht der möglichen Einbürgerung in der Schweiz von der Reise nach ­Weimar abriet. Am 27. April 1955 notierte er: «Langer Brief von Fiedler mit der dringenden Bitte, nicht nach ‹Ostdeutschland› (Weimar) zu gehen. Töricht, beschwerlich, deprimierend und unzuträglich.»57 Der Streit entfachte sich erst recht während der Reise, die Thomas Mann am 4. Mai antrat. Wie vor sechs Jahren, kamen Presseangriffe und individuelle Demarchen von der westdeutschen Seite. Im Osten wurden ihm triumphaler Empfang und allseitige Ehrerbietung zuteil. Aber auch dort wurde sein Aufenthalt auf eine landesspezifische Weise leicht getrübt. Nachträglich erfuhr er, dass die Philosophische Fakultät der Universität Jena ihm die Ehrenpromotion verweigert hatte. Die Medizinische Fakultät hatte sich dann bereit erklärt, ihn als Ehrendoktor zu würdigen. Dieses Ausweichmanöver passte aber nicht ins Ehrungskonzept der höheren Stellen in Ostberlin, so dass sie die Philosophische Fakultät unter Druck setzten. Die Begründung der Doktorwürde formulierten sie dabei in getreuer Anlehnung an das Thomas-­Mann-­Image, welches die Sowjetunion seit 1945 unermüdlich vervollständigte. Die außerordentliche Bedeutung Thomas Manns, hieß es in der Erklärung des zuständigen Ostberliner Beamten, beruhe «auf seiner Stellungnahme für Frieden und Fortschritt und gegen die amerikanische Kriegspolitik». Die Ablehnung der Ehrendoktorwürde für Th ­ omas Mann sei geradezu ein politischer Affront gegen die Regierung der DDR. Das Gremium der Philosophischen Fakultät änderte schließlich ihre Meinung, und der Dichter wurde Ehrendoktor in Philosophie.58 Eine weitere kleine Unannehmlichkeit entstand als Folge einer menschlichen Begegnung. Im Juli 1954 hatte Thomas Mann das Überlaufen von Otto John, Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in die DDR als «amüsant im großen Stil» empfunden. Zufällig begegnete John dem Dichter im Foyer des

56 Ebenda, S. 313. 57 Ebenda, S. 340. 58 Siehe ebenda, S. 762 – 765. 174

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Abb.  11  Thomas Mann in Weimar, 13. Mai 1955.

Weimarer Hotels International am 15. Mai 1955 und sprach ihn an. Im Ergebnis der Unterhaltung publizierte John in der Berliner Zeitung vom 22. Mai einen Artikel, in dem unter anderem stand: Aus seinen [Thomas Manns] Worten sprach die Erschütterung über den politischen Unverstand der westlichen ‹Staatsmänner›. Er sprach besorgt über die törichte Verhetzung der westlichen Welt gegen den Kommunismus und teilte meine Befürchtung, daß diese feindselige Hetze nach den Vorbildern nationalsozialistischer Propaganda, das Grundübel unserer Zeit, unser Volk wiederum zu verführen und in eine totale natio­nale Katastrophe zu treiben droht. […] Das Fazit der Aussprache mit dem Dichter bleibt mir die Erkenntnis, daß auch er die Politik der Bundesregierung mißbilligt […]. Thomas Mann hat dem deutschen Volk in Weimar aber auch einen Weg gewiesen. Als er auf dem Festbankett zu seiner Ehrung seine Freude über die Begegnung mit ‹sowje­tischen Freunden› zum Ausdruck brachte, gab er das Vorbild für eine aufrichtige Bereitschaft zur Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion […].59

59 Zit. nach ebenda, S. 878. 1952 – 1955

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Abb.  12  Thomas Mann und Johannes R. Becher. Weimar, 14. Mai 1955.

Es ist kaum zu bezweifeln, dass Thomas Mann sinngemäß das gesagt hatte, was im Artikel der Berliner Zeitung stand. Sowohl dessen gesamte Botschaft als auch einzelne Gedankengänge im zitierten Abschnitt stehen mit zahlreichen Äußerungen des Dichters im Einklang. In der Widergabe des Gesprächs setzte John lediglich einige notwendige Akzente, entfernte diplomatisches Beiwerk und formulierte die erforderlichen Schlüsse. Mit einem propagandistisch zugespitzten Artikel als Folge einer privaten Unterhaltung hatte Thomas Mann aber nicht gerechnet. Er rekapitulierte die Angelegenheit im Tagebuch am 26. Mai: «Im Hotel Begegnung mit Johnn [sic!]. Seine Indiskretion.»60 Erika Mann, die unvorsichtige Äußerungen ihres Vaters hin und wieder dementieren musste, beschwerte sich bei Janka über den Artikel. Sie behauptete, dass im Bericht von Otto John nichts der Wahrheit entsprochen hätte.61 Leider war Thomas Manns Tochter in solchen Fällen eine allzu befangene Zeugin, als dass man ihr ohne weiteres Glauben schenken könnte. Am 26. Mai 1955, zehn Tage vor seinem achtzigsten Jubiläum, blickte Thomas Mann auf sein politisiertes Künstlerleben zurück: «Wie wird es mit dem Schweizer 60 Ebenda, S. 343. 61 Ebenda, S. 766. 176

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Bürgerrecht werden? Was wird Bonn tun? Ich kann von dort kaum etwas erwarten noch annehmen. Alles käme zu spät, besonders das ‹Verdienstkreuz›. Auch der Pour le Mérite wird zu spät kommen. Diese ­­Zeichen, die Geringere längst tragen, widern mich. Ein holländischer Orden wäre mir lieb, die französische Huldigung wird mich freuen.»62 Thomas Manns FBI-Akte wurde bis zum 10. August 1956 geführt. Ihr letzter Vermerk lautete: «Subject deceased, to file.»63 Der Ausschnitt aus der Prawda vom 1. November 1954 sollte die letzte Position in seiner sowjetischen Personalakte bleiben. Kein Bericht über die Reise nach Stuttgart und Weimar wurde ihr beigefügt. Im August 1955 starb Thomas Mann, und der Fall war abgeschlossen. Aber sein Status innerhalb der ideologisch-­ästhetischen Doktrin der UdSSR bestimmte auch seinen andauernden Nachruhm.64 Zwischen 1959 und 1961 erschienen zehn Bände seiner Gesammelten Werke in russischer Sprache, deren Auflagehöhe 137.000 Exemplare erreichte. 1968 wurde die Josephstetralogie übersetzt. Philologische Studien zu seinem Werk, darunter mehrere Monographien, häuften sich. Die sowjetische Literaturkritik und -forschung betrachtete Thomas Mann bis zum Ende der Achtzigerjahre streng nach dem Kanon der besagten marxistischen Doktrin. Eine vollständige Übersetzung von Betrachtungen eines Unpolitischen ins Russische erschien erst 2015,65 vierundzwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion. Thomas Manns hohe Stellung im sowjetischen Kulturpantheon hatte auch für seine Hinterbliebenen positive Folgen. Noch 1964 bat die einundachtzigjährige Katia Mann den Vorsitzenden des Verbandes der Sowjetschriftsteller, Konstantin Fedin, sich für die Transferierung von Tantiemen für sowjetische Ausgaben der Werke ihres Mannes einzusetzen. Die UdSSR erkannte die Berner Urheberrechtskonvention für sich nach wie vor nicht an, doch für die Witwe Thomas Manns wurde eine Ausnahme gemacht. Die zuständige Behörde ordnete eine Überweisung von rund 17.000 Schweizer Franken an.66 Im Schreiben des Sekretärs des Schriftstellerverbandes an diese Behörde stand: «In Anbetracht des großen 62 63 64 65

Ebenda, S. 344 f. Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 133. Ausführlich darüber siehe Vladimir Avetisjan. Thomas Mann in Rußland, S. 62 – 76. Томас Манн. Размышления аполитичного. Перевод с немецкого Е. В. Шукшиной. Москва: издательство АСТ 2015. 66 Ausführlich darüber siehe Gesine Bey. «Ich bin das Haupt einer sehr zahlreichen Familie», S.  224 – 226. 1952 – 1955

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literarischen Verdienstes Thomas Manns und seiner stets freundschaftlichen Einstellung gegenüber der Sowjetunion, sieht es das Sekretariat des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der UdSSR für notwendig an, Katia Manns Bitte um die Auszahlung des Honorars für das bei uns veröffentlichte Werk in Schweizer Franken zu erfüllen.»67 Das Image lebte also weiter. Auf eine symbolisch wirkende Art und Weise korrespondieren die Anerkennungsworte des Sekretärs mit dem Eintrag in des Dichters FBI-Akte vom März 1955: «Communist-­front associations & activities consistantly since 1920’s.»68

67 Zit. nach ebenda, S. 225. 68 Alexander Stephan. Im Visier des FBI, S. 132. 178

«Bekenntnis zum Westen» und der Stalin-­Friedenspreis

Überblick Thomas Mann kannte die russische Literatur und Musik gut. Seine Kenntnis weiterer systembildender Elemente der russischen Kultur (christlich-­orthodoxer Glaube, Staatsordnung, Geschichte, Philosophie, bildende Kunst) war dagegen bestenfalls fragmentär. Kaum bewandert war er auch in der marxistischen Lehre, ­welche der Revolution von 1917 in Russland und dem Aufbau des Kommunismus zugrunde lag. Vor d­ iesem persönlichen Kenntnishintergrund erlebte er 1918 den Anbruch einer neuen Geschichtsepoche, deren eindrucksvolle Verkörperung der Sowjetstaat wurde. Die Niederlage Deutschlands im ­Ersten Weltkrieg rief die bisher schwerste Krise seines Lebens hervor, die mit der immer aktueller werdenden Russland-­Thematik zusammenfiel. Thomas Manns Anpassung an die neuen Verhältnisse und damit sein Weg aus der Krise konnte nicht an der kommunistischen Idee und deren Umsetzung im Sowjetland vorbeiführen. Berichte russischer Flüchtlinge und anderer Augenzeugen lieferten zunächst ein erschreckendes Bild von Terror und Gewaltherrschaft. Sie reaktivierten bei Thomas Mann einen älteren westeuropäischen Angst-­Mythos, und zwar das Phantom eines aus dem Osten herannahenden Chaos. Terror und Gewalt im Sowjetland führte er auf eine «asiatische», «russische» Neigung zur Anarchie zurück. Die Münchener Räterepublik, die 1919 nach dem Vorbild der Sowjets eingerichtet wurde, bekräftigte seine Th ­ eorie des «Asiatismus». Seine Vorstellung von einem revolutionären Alltag wurde durch imaginäre räuberische Rotten von slawischen «Kirgisen» und «Mongolen» dominiert. Des Dichters politische Anpassung an die neue Epoche vollendete sich am Anfang der Zwanzigerjahre, als er sich 1922 offiziell zur Weimarer Demokratie bekannte. Ein längerer Prozess war seine geistige und seelische Anpassung. Auf seiner Fahne stand nunmehr Zukunftsoptimismus, daher wurden seine Äußerungen zum Thema «Asiatismus» im Laufe der Zwanzigerjahre immer verhaltener. Einerseits blieben seine Angst und Schrecken vor einem Revolutionschaos noch bestehen. Andererseits wurde in der Sowjetunion konsequent eine Idee verwirklicht, die er als zukunftsweisend empfand. Seine Einstellung bewegte sich im Spannungsfeld ­zwischen Furcht und wohlwollendem Interesse. Ein gewisser Wendepunkt zeichnete sich in seinem Essay Pariser Rechenschaft aus dem Jahr 1926 ab. In Paris machte er Bekanntschaft mehrerer russischer Künstler und Intellektueller, die noch das Glück gehabt hatten, dem Terror der Sowjetmacht zu entkommen. Menschlich fühlte er mit ihnen mit, er war aber 179

nicht bereit, sich seine zukunftsweisende Idee nehmen zu lassen. Ein weiterer Faktor, der sein wachsendes wohlwollendes Interesse für den Sowjetstaat förderte, war die Beliebtheit der völkischen Mystik in Deutschland. Thomas Mann empfand sie als dunkel und rückwärtsgewandt und in ­diesem Sinne als Gegenbild der kommunistischen Idee. Gegen Ende der Zwanzigerjahre legte er die «Asiatismus»-Theorie still zu den Akten und wollte den «Bolschewismus als korrektives Prinzip für weltwichtig und weltbestimmend»1 sehen. Damit rechtfertigte oder wenigstens relativierte er den andauernden Massenterror in der Sowjetunion und steuerte seinen zukunftsoptimistischen Kurs weiter. Seine Furcht vor kommunistischem Chaos wurde durch das Gespenst der völkischen Diktatur abgelöst. Aus mehreren Begriffen synthetisierte er seinen eigenen Sozialismus-­Begriff, der sowohl mit der klassischen Lehre des 19. Jahrhunderts als auch mit ihrer Umsetzung in der UdSSR nur wenig zu tun hatte. Darin zeigte sich seine Neigung, gängige politische Worte oder ­Themen mit anderem Inhalt zu füllen, die häufig zum Missverständnis seiner Gedanken bei Freund und Feind führte. Nach 1933 wurde sein Wohlwollen gegenüber der Sowjetunion weiter verstärkt. Antikommunismus war einer der Schwerpunkte der nationalsozialistischen Propaganda, und die Sowjetunion stand ganz oben auf der Liste ihrer Feinde. Im September 1934 schrieb Thomas Mann aus dem Schweizer Exil nach Moskau: «Ich ehre die Welt des kämpfenden Kommunismus, gehöre ihr aber meiner Substanz nach nicht an und will nicht heucheln.»2 Der erste Teil des Satzes war für die politischen Verhältnisse von 1934 im Allgemeinen und für die beginnende Geschäftsbeziehung des Dichters mit der UdSSR im Einzelnen viel wert. Er überwog den zweiten Teil des Satzes und markierte den Anfang von regen Briefkontakten zu verschiedenen Kulturfunktionären der Sowjetunion. Von dieser Zeit an arbeitete Thomas Mann mit der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur zusammen. In seinen Schriften erwies er der kommunis­ tischen Macht in der Regel freundschaftliche Reverenzen. Das Thema Massenterror überging er diplomatisch, selbst während der großen Säuberung von 1937/1938. Dem Modetrend, in die Sowjetunion zu reisen, der sich bei den westeuropäischen

1 Siehe Kapitel 1918 – 1933. Von «Slavischer Mongolei» zu «Korrektivem Prinzip», Anm. 34. 2 Siehe Kapitel 1933 – 1939. «Diktatur im Namen des Menschen und der Zukunft», Anm. 17. 180

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Intellektuellen verbreitet hatte, folgte er, trotz mehrfacher Einladungen, jedoch nicht. Seiner Zurückhaltung lag aber vorwiegend Vorsicht zugrunde: Er hoffte auf die Einbürgerung in der Schweiz und befürchtete, dass eine Reise zu Stalin sie verzögern oder gar vereiteln würde. In seinen Aufsätzen und Interviews, die für das westliche Publikum bestimmt waren, kritisierte er die Angst des Westens vor dem Kommunismus in der UdSSR. Diese Angst leitete seiner Meinung nach das Wasser auf die Mühlen Hitlers. In den USA, in die er 1938 übersiedelte, vertrat er die ­gleiche Position. Politische Initiativen und Reaktionen der Sowjetregierung in Bezug auf Hitlerdeutschland begrüßte er. Das Blatt wendete sich 1939 nach der Unterzeichnung des Hitler-­Stalin Paktes, aber nur für kurze Zeit. Nach einem Tiefpunkt während der ersten zwei Kriegsjahre erreichte Thomas Manns Anerkennung für die Sowjetunion 1941 ihren Höhepunkt. Während des Krieges z­ wischen Deutschland und der UdSSR bewunderte er den Abwehrkampf der Roten Armee, die seiner Ansicht nach vom Glauben an die kommunistische Revolution getragen wurde. Seine preisenden öffentlichen Urteile über die Sowjetunion und deren Entwicklung wirken in dieser Zeit besonders lebensfremd. Nach 1945 wurde Thomas Manns Einstellung zur UdSSR vor allem durch die politische Situation in den USA bestimmt. Im Kalten Krieg nahm er eine opponierende Haltung gegenüber dem militanten Antikommunismus der US-Regierung ein. Er plädierte für eine friedliche Zukunft, in welcher sich der demokratische Westen und der kommunistische Osten einander annähern und sich gegenseitig ergänzen sollten. Sein Protestieren gegen die gleichgeschaltete Hetzkampagne, ­welche die amerikanische Propagandamaschine führte, und gegen die Aktivitäten der Hardliner ist durchaus nachvollziehbar. Sein Vorwurf gegenüber dem US -Staat, er unterstütze kriminelle Regimes, wenn sie ihm ins Konzept passen, und hetze gegen die Sowjetunion, weil sie seinen geopolitischen Interessen im Wege stehe  3, war ebenfalls weitgehend begründet. Eine – und vielleicht die ausschlaggebende – Tatsache entging dem Dichter dabei: Die Sowjetunion Stalins war eine einflussreiche Großmacht, die ihre weltweiten, auf einer konsequent totalitären Ideologie beruhenden Herrschaftsansprüche hatte. Die Machtübernahme durch die Kommunisten in Osteuropa bestätigte das. Thomas Mann, der die Hauptgefahr für den Weltfrieden in der Politik der USA sah, blickte über diese Entwicklungen hinweg. Auch lehnte er es ab, den Kommunismus 3 Siehe z. B. Tb. 1949 – 1950, S. 674 f. Überblick

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und den Nationalsozialismus, den er durchgehend Faschismus nannte, auf die ­gleiche moralische Stufe zu stellen. 1946 schrieb er: «Der Kommunismus, wie die russische Revolution ihn unter besonderen menschlichen Gegebenheiten zu verwirklichen sucht, ist, trotz aller blutigen ­­Zeichen, die daran irre machen könnten, im Kern – und sehr im Gegensatz zum Faschismus – eine humanitäre und eine demokratische Bewegung.»4 Von Zeit zu Zeit ließ er manch ein Wort gegen abstrakte Tyrannei und Unterdrückung im Osten öffentlich verlauten, doch verurteilte er – mit der Ausnahme des Hitler-­Stalin-­Paktes im Jahre 1939 – keine einzige konkrete Aktivität der Sowjets. Den positiven Ruf, w ­ elchen er dadurch bei ihnen genoss, benutzte er mehrfach, um sich inoffiziell für einzelne Regimeopfer in der DDR einzusetzen. Sein Status als amerikanischer Staatsbürger nötigte ihn zur Vorsicht bei politischen Auftritten. Er befürchtete Repressalien – bis hin zum Einziehen seines Reisepasses – seitens der berüchtigten HUAC-Behörde für unamerikanische Aktivitäten. Er veröffentlichte mehrere Bekenntnisse zur westlichen Welt, die jedoch doppeldeutig und ausweichend formuliert waren. Seine Kritiker in der amerikanischen und westdeutschen Presse gaben sich nicht mit ihnen zufrieden und griffen ihn an. Ihr Hauptvorwurf lautete auf fehlende Klarheit und Eindeutigkeit bei der Verurteilung der kommunistischen Gewaltherrschaft. Es war in der Tat nicht von der Hand zu weisen, dass der Massenterror in der Sowjetunion auch nach dem Krieg nicht aufgehört hatte. Mehr noch, er griff auf die neukommunistischen Länder über, unter ihnen die DDR , wo die einheimischen Kommunisten nicht selten noch päpstlicher als ihr Sowjetpapst waren. Thomas Mann konnte nicht umhin, auf diesen Sachverhalt zu reagieren. Seine idealisierte Vorstellung vom Kommunismus bzw. Sozialismus stand schon wieder im krassen Gegensatz zur Realität. Eine ­Theorie, die mit dem längst ausrangierten «Asiatismus» vergleichbar ist, kam ihm zur Hilfe. In Anlehnung an den Roman Mit den Augen des Westens von Joseph Conrad, den er 1949 gelesen hatte, sprach er nunmehr von autokratischer Revolution. Die Revolution von 1917 – so muss man diese ­Theorie deuten – hätte Freiheit als ihr Ziel gehabt, nur wäre aus ihr keine Freiheit, sondern ein revolutionärer Polizeistaat entstanden. Der Grund dieser Missgeburt wäre russischer Charakter und russisches Schicksal.5 Zu Theorien dieser Art äußerte sich Alexander Solschenizyn 1980 wie folgt: 4 Siehe Kapitel 1945 – 1948. Antikommunismus gleich Faschismus?, Anm. 24. 5 Siehe Kapitel 1949 – 1950. «Autokratische Revolution», Anm. 42. 182

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«Solange der Kommunismus Gegenstand westlicher Begeisterung war, wurde er als unbestrittene Morgenröte des neuen Jahrhunderts gepriesen. Seitdem man ihn aber verurteilen muß, wird er spitzfindig mit der uralten russischen Sklaverei begründet.»6 In den letzten Jahren seines Lebens engagierte sich Thomas Mann aktiv für den Weltfrieden. Die größte Kriegsgefahr ging seiner Meinung nach von der aggressiven Politik der US-Regierung aus. Auch wenn er seit 1952 wieder in der Schweiz lebte, blieb er amerikanischer Staatsbürger. Die Vorsicht zwang ihn, sich von der sowjetisch dirigierten Friedensbewegung öffentlich zu distanzieren. Privat gestand er aber, dass er «diesen Männern» herzlich gern glaube.7 Ebenfalls aus Vorsicht lehnte er die Annahme des Stalin-­Friedenspreises und einer anderen, vermutlich auch von den Sowjets initiierten Friedensauszeichnung ab. Bei verschiedenen Gelegenheiten sprach er sich unverändert gegen die Politik der USA aus. Ein Lichtstrahl im finsteren Reich seiner Erinnerungen an das politische Amerika war die Figur Roosevelts, die er idealisiert sah. Thomas Manns Zuneigung zur Sowjetunion wurde erwidert, wenn nicht sogar übertroffen. Die erste sowjetische Ausgabe von Buddenbrooks erschien 1927, aber richtig ins Visier genommen wurde der Dichter vermutlich nach der Nobelpreisverleihung 1929. Nach dem Misserfolg der Tolstoi-­Feier im Jahre 1928 strukturierte die Sowjetleitung ihre Arbeit mit westlichen Schriftstellern, die als Sympathisanten in Betracht kamen, um. Das Gewicht wurde auf individuellen Zugang mit Rücksicht auf Rang, Lage und Image gelegt. Die Machtergreifung Hitlers lieferte den Sowjets eine festere Basis für die Zusammenarbeit mit liberalen «bürgerlichen» Intellektuellen. Ihre besondere Aufmerksamkeit war nunmehr auf prominente Vertreter der deutschen Emigration gelenkt. Durch Aussendung von Emissären, ­welche selbst zur schreibenden Zunft gehörten, sollten persönliche Kontakte geknüpft und vertieft werden. Einer dieser Emissäre, Johannes R. Becher, hauptberuflich Dichter, nebenberuflich politischer Agent der UdSSR, hatte die Brüder Mann zu betreuen. Im Herbst 1934 umschrieb er den aktuellen Aufgabenkreis im Brief an Eva Herrmann: «Hast Du noch Beziehungen zu Thomas Mann? Bitte sprich oder schreib doch auch einmal hier, vielleicht ist da auch etwas möglich. Damit Du im Bild bist: 6 Alexander Solschenizyn. Warnung, S. 126 f. 7 Siehe Kapitel 1950 – 1952. Friedenskampf und «Parteimäßige Ungebundenheit», Anm. 20. Überblick

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Es handelt sich nicht um Geldsammlung, sondern darum, alle antifaschistischen Schriftsteller in einer Liga zusammenzufassen und zunächst die Stimmung der ‹Prominenten› zu sondieren.»8 Gegen Ende 1934 begann Thomas Manns Briefkorrespondenz mit der Redaktion der Moskauer Internationalen Literatur. Während seiner Reise in die USA im Sommer 1935 machte er Bekanntschaften innerhalb der politischen Elite Amerikas einschließlich des Präsidenten Roosevelt. Im Interview für die Washington Post äußerte er sich Kommunismus-­freundlich. Als Sympathisant mit Kontakten zum Weißen Haus und zur Medienprominenz wurde er fortan der wohl meist umworbene Exilschriftsteller von Seiten der Sowjets. In den nachfolgenden Jahren erschienen in Moskau seine Gesammelten Werke in sechs Bänden. Die Honorare wurden ihm als Ausnahme von der Regel in Valuta in die Schweiz überwiesen. Es erfolgten mehrere Einladungen, die Sowjetunion zu besuchen. Die investierte Aufmerksamkeit zahlte sich im Zeitraum ­zwischen seiner Übersiedlung in die USA im Jahre 1938 und dem Abschluss des Hitler-­Stalin-­Paktes 1939 besonders aus: Seine Stellungnahmen zur Weltpolitik warnten die amerikanische Öffentlichkeit vor dem Hitler-­Regime und verringerten ihr Misstrauen zur UdSSR. Thomas Manns Personalakte, die von 1946 an beim Erfassungssektor der Abteilung des ZK des Kommunistischen Allunionspartei (seit 1952 KP dSU ) geführt wurde, zeigt, wie wichtig die Sowjets seine Aktivitäten genommen haben. Da er sich im Visier mehrerer sowjetischer Behörden befunden hat, ist nicht auszuschließen, dass weitere Akten über ihn existieren, die vielleicht noch nicht freigegeben sind. Thomas Manns opponierende Haltung gegenüber dem amerikanischen Staats-­ Antikommunismus machte ihn zum festen Verbündeten der Sowjets im Kalten Krieg. Seine Besuche in der DDR 1949 und 1955 waren ein großer Erfolg für die kommunistische Welt. Dabei konnten sie – anders als im Falle einer Reise in die UdSSR  – durch politisch neutrale Kultursolidarität mit den Ostdeutschen gerechtfertigt werden. Thomas Manns gelegentliche Bekenntnisse zum Westen riefen keinerlei negative Reaktion seiner sowjetischen Betreuer hervor. Sicherlich war es für sie sogar von besonderem Vorteil, dass ein prominenter «bürgerlicher» Schriftsteller, der sich zum Westen bekannte, in einem wichtigen Bereich mit ihnen zusammenarbeitete. Einige wenige Versuche, ihn vom Sockel zu stürzen, stammten von deutschen Kommunisten, und auch sie wurden durch Ulbricht 8 Johannes R. Becher. Briefe, S. 185. 184

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und Becher prompt unterbunden. Der plumpe Missbrauch seines Namens durch bestimmte Friedensbewegungen scheint ebenfalls eine Initiative westeuropäischer Aktivisten, wie etwa Frédéric Joliot-­Curie, gewesen zu sein. Kein einziges Wort der Kritik richtete sich je aus einer offiziellen sowjetischen Quelle gegen Thomas Mann. Der Höhepunkt seiner Tätigkeit als mit der UdSSR sympathisierender Friedens­kämpfer wäre gewiss der Stalin-­Friedenspreis geworden, den er aber aus Vorsicht ablehnen musste. Auch diese Angelegenheit wurde von den Sowjets diskret und rücksichtsvoll behandelt. Mit der Auszahlung von Honoraren für sowjetische Ausgaben seiner Werke gab es – im Gegensatz zu den DDR-Ausgaben – keinerlei Schwierigkeiten. Ein Mitarbeiter der Botschaft lieferte sie ihm in Schweizer Franken «frei Haus» nach Kilchberg. Thomas Manns Ansehen bei den Sowjets verblich nicht nach seinem Tode. Über Jahrzehnte ist er eine Repräsentationsfigur geblieben, der sich die marxistische Kulturdoktrin ausgiebig und vielseitig bedient hat. War Thomas Mann ein Mitläufer? Dieses Wort entspringt dem Politjargon der Kommunisten und bürgerte sich in der Epoche Trumans in den USA ein. Für antikommunistische Hardliner war Thomas Mann ein fellow traveler, also ein Mitläufer, denn für ihre Begriffe fühlte er ganz bestimmt mit den kommunistischen Ideen und Zielen mit, auch wenn er kein Mitglied der Partei war.9 Doch im Vergleich zu Bernard Shaw, welcher den Terror billigte, oder Lion Feuchtwanger, der Stalin besang und als überzeugter Verehrer der Sowjetunion starb, war Thomas Mann nur ein verhaltener Sympathisant. Keine peinliche Huldigungsschrift wie Feuchtwangers Moskau 1937 stammte aus seiner Feder. Gewichtiger war der Vorwurf, mit zweierlei Maß zu messen. Thomas Mann urteilte über den Nationalsozialismus nach dessen Verbrechen und über den Kommunismus nach den Traumbildern von dessen Propaganda. Die Frage, ob das Hitlerregime eine Art Fremdherrschaft über Deutschland oder ein Produkt des deutschen Wesens selbst war,10 beschäftigte ihn über Jahrzehnte. Eine eindeutige Antwort darauf hat er nicht gefunden. Der Gedanke, ­zwischen dem Russentum und dem Sowjetsystem zu trennen, oder wenigstens die Annahme,

9 Die Definition von fellow traveler in Webster’s Dictionary siehe Kapitel 1950 – 1952. Friedenskampf und «Parteimäßige Ungebundenheit», Anm. 25. 10 Siehe z. B. Ansprache im Goethejahr 1949. In: GKFA, 19.1, 673 f., 677 f. Überblick

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daß der Kommunismus Russland brutal verunstaltet hat, scheinen ihm dagegen nie in den Sinn gekommen zu sein. Im Gegenteil: die Theorien, derer er sich bediente, um seine Zukunftsvision zu rechtfertigen, sollten vielmehr belegen, daß das Russentum die angeblich «positive» kommunistische Idee entstellt hätte. In der Nachkriegszeit waren seine Äußerungen zum kommunistischen Terror immer verhalten und ausweichend. In d­ iesem Sinne war der Vorwurf, mit zweierlei Maß zu messen, dem er unter anderem im Brief von Paul Olberg ausgesetzt war, durchaus gerecht. Johannes R. Becher überlebte Thomas Mann nur um drei Jahre. Im Juli 1957, rund ein Jahr vor seinem eigenen Tod, sollte der Kulturminister folgende an ihn gerichtete Worte von Hermann Kesten lesen: … Sie haben noch, vor Nationalsozialisten und Faschisten, die Schmach voraus, daß Sie im Namen der Freiheit unterdrücken, und im Namen der Gerechtigkeit ungerecht sind, daß Ihre Ideale in der Tat einst ideal waren. Nun aber handeln Sie im Namen des Sozialismus unsozial und dezimieren und entwürdigen die lebenden Generatio­nen im Namen der künftigen Generationen und zum angeblichen Heile der künftigen Menschheit. Es ist das System blutiger Chiliasten und menschenopfernder Menschheitserlöser, von Kleinfunktionären der Großgewalt, von erbarmungslosen Sozialpropheten.11

Eine derart scharfe Verurteilung des kommunistischen Systems wäre Thomas Mann fremd gewesen. Sein Hass galt dem Nationalsozialismus, seine Abneigung dem, was er für reaktionär und verfault befand. Das Hitlerregime beraubte ihn seiner Heimat und zerstörte seinen Lebensbau. Im Kommunismus hatte er dagegen nie gelebt und fühlte sich nicht von ihm bedroht. Die Sowjetunion wurde in seiner Begriffswelt seit Mitte der Zwanzigerjahre stets mit einer zukunftsweisenden Idee assoziiert, die ihm so teuer war. Diese subjektiven «mildernden Umstände» genügten ihm, um bei den Taten des kommunistischen Systems ein Auge zuzudrücken. Oder sogar beide zu verschließen.

11 Briefe an Becher, S. 561. 186

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Об этой книге Алексей Баскаков. «Я не попутчик…». Томас Манн и Советский Союз. После рассекречивания архивных материалов широкая публика не без изумления узнала, что ФБР , Государственный Департамент и военная разведка США вели непрерывное наблюдение за немецкими политическими иммигрантами. Томас Манн (1875 – 1955), живший в Америке с 1938 по 1952 год, и члены его семьи входили в их число. В таком надзоре не было, однако, ничего необычного: Томас Манн, лично знакомый с президентом Рузвельтом и вхожий в высшие круги американского общества, был заметной и влиятельной фигурой. Оставался он ею и во время Холодной войны между США и СССР. Неожиданным представляется, скорее, тот факт, что задолго до прихода к власти Гитлера и начала эмиграции за Томасом Манном внимательно наблюдали также и компетентные службы Советского Союза. Обстоятельства его жизни и творчества были им хорошо известны еще с двадцатых годов. Не позднее 1946 года в учетном секторе отдела ЦК ВКП (б) на него было заведено личное дело. В поле зрения иностранных политических ведомств и спецслужб попадают прежде всего ученые, политики и крупные предприниматели. В чем причина столь пристального интереса Советов к «буржуазному» писателю-­модернисту, ни разу не бывавшему ни в России, ни в СССР и – в отличие от Шоу, Фейхтвангера и своего брата Генриха Манна – избегавшего слишком явно петь дифирамбы большевицкому режиму и его вождям? Интерес был обоюдным. Отношение к революции и советской власти уже с 1917 года во многом определяло взгляды Томаса Манна. Писатель хорошо знал и ценил русскую литературу XIX века. Его знание других непременных составляющих русской культуры – Православия, государственного устройства, русской истории, философии, искусства – было в лучшем случае фрагментарным. О России как таковой он высказывался в зависимости от политической конъюнктуры и нередко отдавал дань самым плоским и банальным представлениям о ней западноевропейского обывателя. До конца жизни он безоговорочно отождествлял Советский Союз с Россией, а ленинский и сталинский террор в русле вульгарной политологии объяснял «русской традицией». Очень мало было ему известно и о марксовой 187

доктрине, лежавшей в основе советского эксперимента. Соответственно, его отношение к событиям в СССР формировалось в системе координат между устоявшейся западноевропейской фобией («угроза с Востока») и интересом к модному в среде либеральной интеллигенции социалистическому проекту. В середине двадцатых годов в отношении писателя к Советскому Союзу намечается тенденция к симпатии. Непрекращающийся террор – при всем сочувствии к отдельным его жертвам – Томас Манн склонен осторожно оправдывать. Эта тенденция развивается в тридцатые годы и особенно во время Второй мировой войны, за вычетом периода с конца 1939 по 1941 год, когда СССР выступал как союзник ненавистной Манну нацистской Германии. Позицию писателя в послевоенное время уже можно назвать умеренно просоветской. В свою очередь, компетентные службы в Москве и Восточном Берлине великодушно прощали ему и вольную трактовку марксизма-­ленинизма, и то или иное критическое высказывание, и явно «буржуазно-­либеральный» образ мыслей. Приоритеты советских кураторов применительно к Томасу Манну лежали в другой области. Задача данной книги – в частности, на основе малоизвестных архивных материалов выявить причины и мотивы «платонической», но неразрывной связи между автором «Волшебной горы» и советским государством.

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Об этой книге

Von Thomas Mann verwendete Literatur Berdiajew, Nikolai: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus. Ein Beitrag zur Psycho­ logie und Soziologie des russischen Kommunismus. Deutsch hg. von I. Schnor. Luzern: Vita nova 1937 Conrad, Joseph: Mit den Augen des Westens. Übertragen von Ernst B. Freißler. Berlin: S. Fischer 1933 Davies, Joseph E.: Mission to Moscow. A record of confidential dispatches to the State Department, official and personal correspondence, current diary and journal entries, including notes and comment up to October, 1941. London: Victor Gollancz 1942 Feuchtwanger, Lion: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Amsterdam: Querido 1937 Koch-­Weser, Erich: Russland von heute. Das Reisetagebuch eines Politikers. Dresden: Carl Reissner-­Verlag 1928 Mereschkowski, Dmitri: Vom Krieg zur Revolution. Ein unkriegerisches Tagebuch. Deutsch von Albert Zucker. München: R. Piper & Co. 1918 Naschiwin, Iwan: Rasputin. Deutsch von Eduard Siewert. Leipzig: Dr. Fritz Fikentscher Verlag 1925 Naschiwin, Iwan: Unersättliche Seelen. Leipzig Wien: C. Weller Co. Verlag 1928 Schmeljow, Iwan: Die Sonne der Toten. Deutsch von Käthe Rosenberg. Berlin: S. Fischer 1925 Schubart, Walter: Europa und die Seele des Ostens. Luzern: Vita nova 1938 Souvarine, Boris: Stalin. A Critical Survey of Bolshevism. New York: Alliance Book Corporation 1939

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Literaturverzeichnis Avetisjan, Vladimir: Thomas Mann in Rußland: Wege der Forschung. In: Thomas-­Mann-­ Studien. Siebenunddreißigster Band. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2007 Baskakov, Alexej: Thomas Mann und Iwan Schmeljow. Interpretation einer Bekanntschaft. In: Thomas-­Mann-­Jahrbuch, Bd. 13. Frankfurt am Main 2000 Becher, Johannes R.: Briefe. 1909 – 1958. Hg. von Rolf Harder unter Mitarbeit von Sabine Wolf und Brigitte Zessin. Berlin/Weimar: Aufbau-­Verlag 1993 Briefe an Johannes R. Becher. 1909 – 1958. Hg. von Rolf Harder unter Mitarbeit von Sabine Wolf und Brigitte Zessin. Berlin/Weimar: Aufbau-­Verlag 1993 Bey, Gesine. Ich bin das Haupt einer sehr zahlreichen Familie … In: Thomas-­Mann-­Jahrbuch, Bd. 21. Frankfurt am Main 2008 Bunin, Iwan: Ein unbekannter Freund. Deutsch von Swetlana Geier. Zürich: Dörlemann Verlag 2003 Bürgin, Hans/Mayer, Hans-­Otto (Hg.): Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Frankfurt am Main: S. Fischer 1976 Carlyle, Thomas: Die Französische Revolution. Eine Historie. Aus dem Englischen von ­Feddersen. Leipzig und Paris: Brockhaus und Avenarius 1844 Churchill, Winston: Reden in Zeiten des Krieges. Zürich: Europa Verlag 2014 Churchill, Winston: Never Give In. The Best of Winston Churchill Speeches. New York: Hyperion 2003 Courtois, Stéphane [und and.]: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München/Zürich: Piper 2004 Davies, Joseph E.: Als USA -Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjet-­Union bis Oktober 1941. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Rotten. Zürich: Steinberg Verlag 1943 Dostojewski, Fjodor M.: Briefe. Zweiter Band. Leipzig: Insel-­Verlag 1984 Dostojewski, Fjodor M.: Die Brüder Karamasow, Deutsch von Werner Creutziger. Berlin/ Weimar: Aufbau Verlag 1994 Farago, Ladislas: Das Spiel der Füchse. Deutsche Spionage in England und den USA 1918 – 1945. Deutsch von W. Elwenspoek und J. Herrmann. Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1972 Feuchtwanger, Lion: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1993 Flügge, Manfred: Traumland und Zuflucht. Heinrich Mann und Frankreich. Berlin: Insel Verlag 2013

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193

Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Aus:  Русский парижанин. Фотографии Петра Шумова. Москва: Русский путь 2000, S. 62

Abb. 2

Aus:  Русский парижанин. Фотографии Петра Шумова. Москва: Русский

Abb. 3

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Abb. 4

Aus:  Русский парижанин. Фотографии Петра Шумова. Москва: Русский

Abb. 5

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Abb. 6

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путь 2000, S. 58

путь 2000, S. 63

Abb. 7 a + b Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte Moskau (RGASPI) Abb. 8 Abb. 9

akg-­images Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte Moskau (RGASPI)

Abb. 10

Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte Moskau (RGASPI)

Abb. 11

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Abb. 12

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194

Ortsregister Amsterdam 54

Moskau  9, 10, 11, 21, 22, 23, 35, 38 – 51,

Barcelona 50

53, 54, 55, 58, 64, 65, 66, 69, 73, 75,

Basel 119

76 – 79, 87, 91, 92, 103, 111, 117, 118, 135,

Bautzen 114

139, 143, 147, 161, 164, 167, 169, 180,

Bayreuth 120 Berlin  11, 14, 23, 24, 34, 43, 90, 93, 94, 104, 107, 111, 112, 115, 116, 118, 130, 141, 143, 147, 151, 152, 159, 161, 166, 174

184, 185 München  13, 27, 28, 33, 52, 147, 179 New York  65, 68, 72, 73, 74, 77 87, 93, 118, 125, 130, 136, 151, 157

Bern  167, 169, 177

Nizza  44, 49

Bonn 177

Nürnberg 52

Brüssel 11

Ottawa 97

Budapest  51, 117

Oxford  117, 118

Bussy-en-Othe 91

Pacific Palisades  102, 145

Chemnitz 146

Paris  11, 13, 14, 27, 28, 29, 32, 33, 43, 44,

Chicago  75, 130, 136 Eberswalde  145, 146 Dortmund 96 Frankfurt am Main  118 – 122, 126, 151, 159, 172 Fulton 98

50, 57, 62, 73, 74, 76, 90, 91, 137, 139, 140, 167, 179 Potsdam  98, 146 Prag  33, 41, 52, 60, 99, 110 Princeton 62 Rehfelde 102

Geneva (New York)  66

Riga 72

Grasse  27, 75, 76

Rom  160, 161

Hamburg 162

Salzburg 47

Harvard 44

San Francisco  27

Jalta  90, 129, 173

Sankt Petersburg  14

Kilchberg  163, 165, 167, 185

Southampton  105, 112

Leipzig 151

Stockholm  34, 118, 139, 140, 141, 143, 157

Lindau 52

Stuttgart  168, 177

London  23, 69, 106, 111

Teheran 85

Los Angeles  95

Waldheim  146, 147

Lübeck 51

Warschau 13

Lund  118, 136

Washington  79, 83, 130, 131, 134, 136, 148

Meudon 37

Weimar  59, 99, 115, 118, 119, 120, 122, 128, 136, 140, 143, 168, 174, 175, 176, 177 195

Wien  139, 155, 156, 157, 161, 162 Zürich  53, 55, 62, 67, 105, 109, 111, 126, 153, 157

196

Personenregister Abusch, Alexander  112 Adenauer, Konrad  159, 163, 165, 167, 168

Conrad, Joseph  116, 117, 120, 127, 129, 132, 133, 167, 182

Alberti, Rafael  56

Coudenhove-Kalergi, Richard  26

Aldanow, Mark  29, 30, 76

Cripps, Richard Stafford  81

Alexandrow, Grigorij  164, 169, 170, 171

Davies, Joseph Edward  78, 79, 127, 132,

Andrejew, Leonid  16

135, 138

Aragon, Louis  169, 170

Dimitroff, Georgi  67

Arosew, Alexander  58

Dinamow, Sergej  50, 55, 58

Barbusse, Henri  40, 47, 56

Döblin, Alfred  65

Barmin, Alexander  137

Donovan, William  88

Becher, Johannes Robert  38 – 45, 48, 49,

Dostojewski, Fjodor  9, 18, 19, 20, 22, 66,

50, 54, 55, 77, 82, 92, 94, 96, 97, 102,

95, 116, 119

103, 104, 105, 107, 114, 115, 116, 120 – 124,

Dreiser, Theodore  40

135, 136, 145 – 148, 151, 152, 154, 161, 165,

Ehrenburg, Ilja  43, 44, 50, 169, 170

166, 168, 176, 183, 185, 186

Einaudi, Giulio  160

Belyj, Andrej  11, 14

Eisenhower, Dwight  158, 164

Beneš, Edvard  110

Fedin, Konstantin  177

Berdiajew, Nikolai  71, 72, 90

Fermi, Enrico  101

Bermann Fischer, Gottfried  43, 44, 48,

Feuchtwanger, Lion  35, 37, 39, 40, 53, 54,

153

56, 58, 78, 103, 185

Bertram, Ernst  13

Fiedler, Kuno  174

Blum, Léon  56

Freud, Sigmund  29

Bolz, Lothar  122

Gide, André  40, 56

Brecht, Bertolt  39, 86, 170, 171, 172

Goethe, Johann Wolfgang  13, 14, 31, 41,

Bredel, Willi  41

99, 115, 116, 117, 121, 128, 165, 185

von Brentano, Bernard  51

Goldenbaum, Ernst  122

Broz Tito, Josip  138

Gorki, Maxim  13, 51

Bubnow, Andrej  58

Graf, Oskar Maria  39, 65, 72

Bulgakow, Sergij  13

von Grolman, Adolf  20

Bulgakow, Valentin  10

Gusenko, Igor  97

Bunin, Iwan  10, 11, 14, 27 – 30, 33, 34, 35,

Gysi, Klaus  120

52, 55, 57, 75, 76, 100

Herrmann, Eva  107, 183

Carlyle, Thomas  37

Hesse, Hermann  29

Churchill, Winston  98, 99, 105, 106

Heuß, Theodor  169 Personenregister

197

Hiss, Alger  129, 130

Mann, Golo  74

Hitler, Adolf  33, 36, 38, 39, 43, 49,

Mann, Heinrich  39, 40, 41, 44 – 51, 54, 55,

60 – 63, 65, 69, 71 – 76, 80 – 83, 87, 89,

58, 59, 61, 62, 74, 75, 77, 78, 79, 92, 94,

90, 99, 124, 126, 145, 173, 181 – 186

104, 105, 114, 130, 131, 154

Huxley, Aldous  43

Mann, Katia  102, 118, 177, 178

Janka, Walter  165, 166, 168, 176

Mann, Klaus  39, 40, 42, 43, 44, 46, 58,

John, Otto  167, 174, 175 Joliot-Curie, Frédéric  139, 141, 173, 185

65, 69 Masaryk, Jan  110

Joyce, James  40

Mayer, Hans  151, 165

von Kahler, Erich  79

McCarthy, Joseph  130, 134, 163, 164

Kantorowicz, Alfred  112

Mereschkowski, Dmitri  12, 13, 14, 16

Kastner, Hermann  122

Meyer, Agnes  76, 79, 82, 85, 89, 92, 93,

Kellermann, Bernhard  22

101, 130, 131, 134

Kennan, George  91

Mielke, Erich  147

Kesten, Hermann  186

von Molo, Walter  93, 94, 96, 97

Kim Il Sung  140

Molotow, Wjatscheslaw  64, 69, 72

Koch-Weser, Erich  25, 26

Mondadori, Alberto  160

Kogon, Eugen  121, 144

Mühsam, Erich  51

Kolb, Walter  122

Mühsam, Kreszentia  51, 52

Kolzow, Michail  43, 48, 50, 51, 53, 64

Nabokov, Vladimir  71

Krawtschenko, Viktor  137, 139

Naschiwin, Iwan  9, 10, 11, 14 – 22, 31, 138

Kriwitzki, Walter  137

Neruda, Pablo  169, 170

Langewiesche, Joachim  145, 146, 148

Nuschke, Otto  122

Lenin, Wladimir  7, 13, 64, 73, 79, 83,

Olberg, Paul  126, 127, 128, 130, 133, 136,

136, 166 Lifar, Sergej  57

144, 156, 160, 186 Orlow, Alexander  137

Lindbergh, Anne  85

Orwell, George  130

Litwinow, Maxim  64, 65, 79, 82

Ottwalt, Ernst  38, 39

Lukács, Georg  95, 119, 123

Pieck, Wilhelm  122

Luther, Arthur  15, 19

Pius XII.  161

Malenkow, Georgi  173, 174

Proust, Marcel  40

Malraux, André  53, 56

Puschkin, Alexander  10, 56, 57, 58, 66

Man, Natalia  164

Rachmaninow, Sergej  57

Mann, Elisabeth (Medi)  75

Rachmanowa, Alja  42

Mann, Erika  62, 69, 74, 99, 107, 115,

Radek, Karl  39, 40, 54

140, 157, 158, 166, 176 198

Personenregister

Raskolnikow, Fjodor  137

Rasputin, Grigorij  9, 11, 14 – 21

Stampfer, Friedrich  67, 68

Reiss, Ignaz  137

Steinbeck, John  113

Remarque, Erich Maria  65

Thieß, Frank  93, 94, 96, 104

Remisow, Alexej  14, 76

Tillinger, Eugene  143, 144, 145

Robeson, Paul  141, 142

Tjutschew, Fjodor  13

von Rohrscheid, Hans  102, 145

Tolstoi, Alexandra  22

Rokotow, Timofej  59, 60

Tolstoi, Alexej  11, 14

Rolland, Romain  40, 56, 57

Tolstoi, Leo  10, 11, 13, 20, 22, 23, 31, 35,

Roosevelt, Franklin  45, 74, 89, 97, 110, 129, 130, 164, 173, 183, 184 Saizew, Boris  90

51, 57, 66, 119, 183 Truman, Harry  113, 130, 134, 143, 145, 158, 164, 185

Schaljapin, Fjodor  57

Tschechow, Anton  164, 166, 167

Schestow, Leo  11, 14, 29

Turgenjew, Iwan  13, 66

Schiller, Friedrich  168

Ulbricht, Walter  67, 68, 112, 115, 146,

Schmeljow, Iwan  10, 11, 14, 17, 18, 23, 24,

147, 148, 152, 184

27, 29 – 33, 52, 55, 57, 63, 64, 76, 83, 90,

Umanskij, Konstantin  65, 77, 79

91, 100, 138

Wallace, Henry  113

Schubart, Walter  71, 72

Wells, Herbert  56, 65

von der Schulenburg, Friedrich-Werner,

Wolf, Friedrich  41

Graf 64

Zola, Emile  129

Schumacher, Kurt  122, 123

Zweig, Arnold  65, 142, 154

Schwarzschild, Leopold  110

Zweig, Stefan  22, 23, 40, 78

Seghers, Anna  169, 170 Semitschastnow, Iwan  147 Shaw, Bernard  40, 44, 56, 152, 185 Skobelzyn, Dmitrij  169, 170, 171 Sokolowski, Wassili  102 Solschenizyn, Alexander  148, 155, 182, 183 Sorgenfrey, Wilhelm  46, 53 Souvarine, Boris  71, 72 Stalin, Joseph  5, 7, 11, 24, 36, 43, 47, 48, 51 – 54, 56, 57, 58, 65, 69, 71 – 80, 87 – 90, 92, 97, 99, 101, 109, 114, 136 – 139, 142, 143, 145, 146, 150, 152, 155, 158, 166, 169, 170, 171, 181, 182, 183, 184, 185 Personenregister

199

MANN UND TOLSTOI – VERBUNDEN ÜBER DAS WERK

Alexej Baskakov »Ströme von Kraft« Thomas Mann und Tolstoi 2014. 272 S. mit 14 s/w- Abb., gebunden. € 28,– D | 29,– A ISBN 978-3-412-22413-4

Wie kaum ein anderer Autor hat Leo Tolstoi (1828-1910) Thomas Manns menschliches und künstlerisches Werden beeinflusst. Von den ersten Begegnungen mit dem Werk des russischen Dichters in der Zeit der »Buddenbrooks« bis zu seinen letzten Lebensjahren wurde Thomas Mann von Tolstoi begleitet. Unter anderem Thomas Manns Tagebücher bezeugen, dass er sich in beinahe allen Situationen seines Lebens – ob bei Schaffenskrisen oder in Perioden politischer Ratlosigkeit, ob bei Depressionen oder angesichts lebenswichtiger Entscheidungen – durch die Lektüre Tolstois ‚stärkte‘. Leider ist es zu keiner realen Begegnung beider Dichter gekommen, die Verbindung erfolgte lediglich über das Werk. Vielleicht spielte Tolstoi gerade aus diesem Grund für Thomas Mann eine nahezu ‚mythische‘ Rolle, die in diesem Buch analysiert und gewürdigt wird.