Theologische Realenzyklopädie: Band 17 Jesus Christus V - Katechismuspredigt [Reprint 2020 ed.] 9783110861860, 9783110115062

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Theologische Realenzyklopädie: Band 17 Jesus Christus V - Katechismuspredigt [Reprint 2020 ed.]
 9783110861860, 9783110115062

Table of contents :
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Anhang

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Theologische Realenzyklopädie Band XVII

w DE

G

Theologische Realenzyklopädie In G e m e i n s c h a f t m i t Horst Robert Balz • J a m e s K. C a m e r o n W i l f r i e d Härle • Stuart G. Hall Brian L. H e b b l e t h w a i t e • Richard H e n t s c h k e W o l f g a n g J a n k e • H a n s - J o a c h i m Klimkeit J o a c h i m Mehlhausen • Knut Schäferdiek H e n n i n g S c h r ö e r • G o t t f r i e d Seebaß Clemens T h o m a herausgegeben v o n Gerhard M ü l l e r

Band XVII Jesus Christus V - Katechismuspredigt

Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1988

Redaktion: D r . Christian Uhlig Lieferung 1 / 2 Jesus Christus V - Judenchristentum ersch. Dezember 1 9 8 7 Lieferung 3 / 4 Judenchristentum - Karl V. ersch. Juni 1988 Lieferung 5 Karl V. - Katechismuspredigt ersch. September 1988

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)

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der Deutschen

Bibliothek

Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter Teilw. hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller, Gerhard [Hrsg.] Bd. 17. Jesus Christus V - Katechismuspredigt. - 1988 Abschlußaufnahme von Bd. 17 ISBN 3-11-011506-9

© 1988 by Walter de Gruyter 8c Co. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindearbeiten: Lüderitz 8c Bauer, Berlin 61

Jesus Christus V

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V. Vom Tridentinum bis zur Aufklärung 1. Tridentinischer Traditionalismus 2 . R e f o r m i e r t e Christologie: der Mittler des Heils 3 . Lutherische Christologie: die G e g e n w a r t des Heils 4 . Aufklärerische Distanzierung, Kritik und Transformation (Quellen/Literatur S. 11) Unbeschadet ihrer gemeinsamen Verpflichtung stehen die tridentinische, die reformierte und die lutherische Christologie in unterschiedlichem Verhältnis zur chalkedonensischen und anselmischen Tradition, und die konfessionellen Differenzen ihrer religiösen M o t i v e und theologischen Kriterien (die auch die Darstellung Christi in der - » E r b a u u n g s l i t e r a t u r , der - » E m b l e m a t i k und der bildenden Kunst prägen) treten nicht gleichmäßig als christologische in Erscheinung. N i c h t zu Unrecht beschuldigen die tridentinischen T h e o l o g e n die evangelischen der Neuerung, und nicht zufällig wird das Wort „ C h r i s t o l o g i e " von der evangelischen (zufälliger w o h l : lutherischen) T h e o l o g i e des frühen 17. J h . eingeführt ( M a h l m a n n 1016).

1. Tridentinischer

Traditionalismus

Von den christologischen Aufgaben unbehelligt, welche die reformatorische Auflösung der überlieferten Zuordnung der von der Kirche verwalteten Gnadengüter und dem Verdienst des Gottmenschen gestellt hatte, konnte sich die Christologie des -»-Tridentinums auf die Kommentierung der rezipierten Autoren beschränken, seit der Erneuerung des Thomismus zumal der Summa Theologiae III (M. Cano, F. Suarez, Gregorius de Valentia, G. Vasquez, D. Alvarez). Im Traktat De Incarnatione war allenfalls die skotistische Betonung der Selbständigkeit der die Heilsgüter erwerbenden Menschheit Christi fraglich (eigene Existenz innerhalb der einen Person, doppelte natürliche Sohnschaft aus ewiger Zeugung und kraft personaler Union; Suarez, Coram. Iq V, q XXIII; Disp. Met. X X X I s 12d 9 - 3 3 ; X X X I V s 7 d 4 ; Vasquez, Disp. II). Unstrittig blieb auch der Traktat De mysteriis vitae Christi, der im Anschluß an die Evangelien und das Apostolicum den Weg des Gottmenschen von seiner Empfängnis im unbefleckten Leib Mariens bis zu seiner Erhöhung zur Rechten Gottes als einheitliches Wollen, Tun und Leiden beschreibt. Auf diese Einheit richten sich Anbetung und Nachfolge Christi, die mystische Versenkung im Sinne —»Thomas' von Kempen oder einer —»Teresa von Avila und später die Herz-Jesuoder die Herz-Mariä-Frömmigkeit. Die katechetische Literatur kann sich ebenfalls der Darstellung der Güter, Nutzen und Vorteile widmen, die der Gottmensch für die Sünder erworben hat; maßgeblich der -*Catecbismus Romanus, in dem nur die Zusammenstellung der drei Ämter des Propheten, Priesters und Königs als Erklärung des Amtsnamens „Christus" (wie sie kurz zuvor Calvin vorgenommen hatte) unüblich ist (1,3,7). Die (unausdrückliche) Abgrenzung gegen die reformatorischen Christologien (Unvermischtheit der Naturen 1,4,2; wirkliche Höllenfahrt zum Ort der frommen Väter 1,6,3-5; himmlischer Aufenthalt der erhöhten Menschheit Christi 1,7,3-5) nötigt keineswegs zur Fortentwicklung der traditionellen Definitionen. Die ausdrückliche Bestreitung der „zeitgenössischen Ketzer" (repräsentativ: R. —»Bellarmini) betraf zunächst die Leugnung der Gottheit Christi bzw. der Inkarnation überhaupt durch die „reformatorischen" Antitrinitarier (I praef.; 11,19). Der Widerspruch Bellarminis (und der Jesuiten der deutschen Provinz: A. Sperling, Gregorius, M . Maierhofer, J . Busaeus, A. Tanner, C. Lechner u.a.) galt sodann den „Ubiquitariern", deren Lehre von der Mitteilung von Eigenschaften zwischen den Naturen, speziell der göttlichen Majestätsattribute an die Menschheit Christi, als entweder essentielle oder aber akzidentelle Verbindung (ein Drittes gibt es nicht), für eine eutychianische oder nestorianische, wenn nicht aus beiden zusammengesetzte Häresie erklärt wird (111,1). Aus der Einheit des Seins Christi folgt erst die Teilhabe der Naturen an ihrer beider Eigenschaften, und sie vollzieht sich hinsichtlich der gemeinsamen Person, nicht schon zwischen den Naturen selbst: „ G o t t " (das gottmenschliche Suppositum der zweiten Person der Trinität) hat gelitten und der „Mensch" (der Gottmensch) ist allmächtig; nicht aber hat die „Gottheit" Christi gelitten, noch ist die „Menschheit" Christi allmächtig. Dieser Menschheit bzw. der Seele Christi darf man wohl die Fülle geschaffener, endlicher Gna-

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den, d.h. die einem Geschöpf je mögliche relative Allmacht und relative Allwissenheit (irrtumslose Kenntnis alles Wirklichen, Schau Gottes IV,1-5) zuschreiben, keinesfalls aber Allgegenwart, die einem geschaffenen, endlichen, mithin räumlich umschriebenen Geschöpf schlechthin nicht mitgeteilt und eingegossen werden kann; wie denn auch die Schrift und das Apostolicum klar sagen, daß sich der Auferstandene jeweils nur an einem Ort (jetzt: im Wo des Himmels) befindet, und die Gegenwart des Leibes Christi in den transsubstantiierten Elementen der Eucharistie dessen Überall-Sein ausschließt (111,11-20). Die Einheit der Person Christi ist, ihrem Heilszweck entsprechend, vielmehr so verfaßt, daß in ihr eine vollständige, leidens- und handlungsfähige Natur in der Einheit mit der göttlichen existiert: Nur so kann Christus als Mensch die verdienstlichen Handlungen ausführen, die er als Gott, ihnen zugleich unendlichen Wert verleihend, dann annimmt. Unio personalis bedeutet daher eine substantielle, näherhin suppositale Einheit: Eine vollständige Substanz, die sonst durch sich selbst existieren würde, wird ins Sein einer anderen, suppositalen Substanz gezogen und von dieser, gleichsam als abhängiger Teil, in der Existenz gehalten, so daß in dieser Einheit alles doppelt vorhanden ist außer eben der einen Subsistenz des ganzen Suppositums. Dementsprechend besagt communicatio idiomatum zwar nicht bloß eine Redeweise, sondern eine Wirklichkeit, aber nicht zwischen den Naturen selber, sondern nur hinsichtlich der Person, in der sie in concreto existieren. Allein im Blick auf diese Person sind überhaupt logisch korrekte, Prädikat und Subjekt stimmig verknüpfende Aussagen möglich, d. h. auf das Suppositum „Christus", als welches „Gott" und „Mensch" seit der Inkarnation gegeben sind (111,8-10; Suarez, Comm. II q XIV disp. X X X I I , 4 ; q XVI disp. X X X V ) . D e r reformierten Christologie widerspricht die tridentinische nur im Blick auf eine b l o ß verbale I d i o m e n k o m m u n i k a t i o n und auf ein Verständnis der Höllenfahrt Christi als stellvertretendes Erleiden der Höllenqualen (Bellarmini I V , 6 - 1 1 ) . Freilich widerspricht sie beiden neuen Christologien mit der zentralen T h e s e , daß Christus nur nach seiner M e n s c h h e i t der Mittler zwischen den M e n s c h e n und G o t t sei und für diese seine M e n s c h h e i t selbst die Erhöhung verdient habe ( o b w o h l sie ihr kraft personaler Union ohnehin zukam); zwar nicht als von der Gottheit abgetrennt (F. - » S t a n c a r o ) , sondern in perichoretischer Einheit mit dieser, aber keinesfalls als deren Instrument verstanden (111,8; V , l - 1 0 ) . Ein solagratia gilt hier gewiß für die übernatürliche Ermöglichung der Erlösung, die I n k a r n a t i o n , umso weniger aber für den Inkarnierten, der die Erlösung verwirklicht als Subjekt meritorischer Akte.

2. Reformierte

Christologie:

der Mittler des

Heils

Trotz der Vielfalt ihrer symbolischen Formulierung bildete die reformierte Christologie im Gegenüber zur tridentinischen (C. Vorstius, L. Crocius, D. Tilenus), hauptsächlich aber zur Christologie der FC bis etwa 1620 eine einheitliche Lehrgestalt aus. In sie gingen sowohl melanchthonische (Admonitio Neostadiensis, G. Sohnius, Chr. Pezel) als auch calvinische Anregungen ein (L. Danaeus, Th. ->Beza, A. Sadeel, G. -»Zanchi); ihre Ausführung bediente sich sowohl der ramistischen Dialektik (G. Sohnius, M. Martinius, J. Piscator) als auch der erneuerten aristotelischen Logik und Metaphysik (R. Goclenius, B. Keckermann, J. Combach). Ihr eigentümliches Motiv tritt einerseits zutage in der Ablehnung der lutherischen Lehre von der Person, speziell von der „Ubiquität" der Menschheit Christi, andererseits im Ausbau der Lehre von drei Ämtern und einer ebenfalls neuen, wohl G. Sohnius (Disputatio de statu Filii...) zu verdankenden Lehre von zwei Ständen Christi. Beides dient der Erklärung der zweckmäßigen und wirksamen Ausführung des göttlichen Heilsratschlusses oder -bundes durch einen Mittler, „der die Menschen Gott versöhnen konnte und die Erwählten mit ihm versöhnt hat" (Synopsis XXV,4; Weber, Reformation 1/2,131 ff). Die reformierte Christologie weist den Verdacht zurück, die Gottheit Christi zu schmälern (und beteiligt sich an der antisozinianischen Polemik; D. Pareus, zusammenfassend S. Maresius), kennzeichnet vielmehr umgekehrt die Menschheit Christi als vollkommenes Instrument, ja Effekt des vervollkommnenden Logos. Sie versteht dies allerdings nicht im lutherischen Sinn, wo (nach reformierter Auffassung) die Menschheit im

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Wesen und wesentlichen Eigenschaften g e s c h m ä l e r t , n ä m l i c h in G o t t h e i t umgewandelt w i r d , was entweder die Person Christi nestorianisch verdoppelt o d e r seine N a t u r e n eutychianisch vermischt. Die Einheit der Person ( u n i o personalis, hypostatica) ist gewiß ein W o h n e n des L o g o s in seiner M e n s c h h e i t (Kol 2 , 9 ) , fügt dem L o g o s aber nichts hinzu als eine Beziehung, d . h . einen zweiten, endlichen S u b s i s t e n z m o d u s , so d a ß er s o w o h l in seiner M e n s c h h e i t als auch, nach seinem unendlichen S u b s i s t e n z m o d u s , a u ß e r h a l b ihrer ( J o h 3,13) existiert. Dieses vom - * H e i d e l b e r g e r K a t e c h i s m u s ausgesprochene A u ß e r h a l b , von den L u t h e r a n e r n um 1620 Extra Calvinisticum (Willis 2 1 f) g e n a n n t , unterläuft nicht nur die lutherische A n n a h m e der eucharistischen R e a l p r ä s e n z , erst recht der O m n i p r ä senz der M e n s c h h e i t Christi, sondern schließt auch die A n n a h m e einer unmittelbaren G e m e i n s c h a f t der N a t u r e n Christi aus. Diese G e m e i n s c h a f t besteht vielmehr darin, d a ß die Eigentümlichkeiten und Vermögen der N a t u r e n im H a n d e l n der Person „ z u s a m m e n l a u f e n " ; aus ihr folgt daher die M i t t e i l u n g h ö c h s t e r , a b e r endlicher G a b e n an die menschliche N a t u r ( c o m m u n i c a t i o charismatum), der E i g e n t ü m l i c h k e i t e n beider N a t u r e n an die Person ( c o m m u n i c a t i o idiomatum) und, für die Eignung zur mittlerischen A u f g a b e entscheidend, ihrer W i r k s a m k e i t e n an die T ä t i g k e i t der Person ( c o m m u n i c a t i o apotelesmatum). Hinsichtlich der I d i o m e n k o m m u n i k a t i o n im engeren Sinne d a r f dann z w a r , neben der zwischen einer N a t u r und der P e r s o n , auch die M i t t e i l u n g zwischen einer N a t u r an die andere sowie die zwischen der Person und den N a t u r e n a n g e n o m m e n werden, aber nur um der Person willen, ist also in concreto auszusagen; a b s t r a k t (die „ G o t t h e i t " Christi leidet, die „ M e n s c h h e i t " Christi ist allgegenwärtig) w ä r e es falsch, weil die Idiom e n k o m m u n i k a t i o n nur auf die Person bezogen real, a u f die N a t u r e n bezogen dagegen verbal ist. Nichtsdestoweniger ist auch eine solche b l o ß e Aussage w a h r , weil ihr eine wirkliche Einheit der Naturen zugrundeliegt, w e n n a u c h nur eine mittelbare: Sie ist uneigentlich, d . h . hinsichtlich des prädizierten S u b j e k t s ü b e r n a t ü r l i c h , hinsichtlich der Prädik a t i o n selbst a b e r natürlich, also logisch regulär. E i g e n t ü m l i c h k e i t e n (proprio essentialia) w ä r e n j e d o c h nicht mehr E i g e n t ü m l i c h k e i t e n , wollte m a n ihre M i t t e i l u n g zwischen distinkten N a t u r e n selbst a n n e h m e n ; und die A n n a h m e einer M i t t e i l u n g unendlicher G a b e n wie der göttlichen M a j e s t ä t s a t t r i b u t e der A n b e t u n g s w ü r d i g k e i t und der Allgegenwart an die endliche menschliche N a t u r (ohnedies widersinnig, da: finitum non capax infiniti) widerstreitet vollends der Eignung Christi für seine mittlerische A u f g a b e . Für sie ist die M e n s c h h e i t Christi durch die G e i s t s a l b u n g in der T a u f e allerdings eigens befähigt w o r den, aber d a r u m ist sie nicht weniger das g e h o r s a m e Werkzeug des L o g o s . Die von Piscator (Aphorismi [1589] XIII,16) zunächst verneinte Frage, ob Christus nicht nur durch seinen passiven Gehorsam als Sühneopfer, sondern auch durch seinen aktiven Gehorsam vollkommener Gesetzeserfüllung priesterliche Genugtuung geleistet habe, wird daher im Blick auf den mittlerischen Bundesgehorsam Christi bejaht. Ähnlich wird, auch der doppelten Gegenwart Christi nach Gottheit und nach Menschheit entsprechend, die weltumfassende Herrschaft des Logos und die heilsame Herrschaft des Erhöhten über seine Kirche unterschieden. Vor allem aber werden die Ämter Christi der heilsgeschichtlichen Ausführung der mittlerischen Aufgabe (das prophetische der Erklärung, das hohepriesterliche dem Erwerb und das königliche der Austeilung des Heils) und dementsprechend der Abfolge eines Standes der Erniedrigung und eines Standes der Erhöhung zugeordnet. Die lutherische Formel status exinanitionis (FC, SD VIII,26.65) wird, gegen deren Sinn, darum von der Annahme einer menschlichen Knechtsgestalt durch den Logos verstanden, und dieser Entäußerung wird die humiliatio des Inkarnierten, seine freiwillige Unterwerfung unter den Tod und seine Höllenfahrt (das Erleiden der Höllenqualen am Kreuz und das Verlassensein durch seinen Gott), noch hinzugefügt. Der status exaltationis beginnt nach reformierter Auffassung (erst) mit der Auferstehung, setzt sich fort in der Himmelfahrt, einem räumlichen Vorgang, der die Menschheit Christi von der Erde entfernt und bis zur Wiederkunft in den höchsten Himmel versetzt, und findet ihr Ziel im „Sitzen zur Rechten des Vaters". Die reformierte Ämter- und Ständelehre kann die Ausführung (executio) des göttlichen Heilswillens im Rahmen sowohl der Vorstellung eines göttlichen decretum (Th. Beza, G. Zanchi, B. Keckermann) als auch der eines foedus oder pactum beschreiben (M. Martinius, J . H . Aisted, A. Polanus). Sie wird als solche daher unverändert im englisch-niederländischen Puritanismus (W. Arnes), in der Dordrechter Orthodoxie (Synopsis, J . Wolleb), in der Föderaltheologie J . -»Coccejus' und bis zu den späten Dogmatikern M. Leydecker, F. Turretini oder J. H. Heidegger tradiert. Der Zusammen-

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hang von vorzeitlicher Setzung und zeitlicher Ausführung wird jedoch gesprengt im Universalismus der Arminianer; hier wird das Verdienst Christi als für alle M e n s c h e n nicht nur zureichend, sondern auch w i r k s a m erklärt, so d a ß sich ein Ü b e r s c h u ß seines M i t t l e r a m t s ergibt ( B S R K 8 4 6 ff. L I X f). Das dabei mitspielende synergistische M o t i v schlägt allerdings schon bei H . —»Grotius auf die C h r i s t o l o gie selbst zurück: Die stellvertretende Genugtuung ist nur eine hypothetische, da sie kein Äquivalent für die menschliche Sündenschuld, sondern allenfalls ein abschreckendes E x e m p e l für die sein kann, welche diese Strafe eigentlich tragen müßten (ein Strafexempel, das G o t t freilich, nach R e g e n t e n recht, als stellvertretend werten durfte). D a m i t ist eine wesentliche Voraussetzung der späteren Kritik an der Christologie eingeführt: d a ß Schuld bzw. Gerechtigkeit nicht zwischen Personen übertragbar sei; so dann ausdrücklich Ph. van L i m b o r c h (VI,4,25). Die vermittelnde Schule von S a u m u r n a h m immerhin die Beziehung des aktiven G e h o r s a m s Christi auf dessen persönliche Verbindlichkeit an, so daß die Helvetische Konsensformel (1675) mit dem hypothetischen Universalismus auch die Christologie Piscators verurteilte ( B S R K 863 ff). Diese Abweisung des christologischen M o r a l i s mus verhinderte freilich nicht die ebenso problematische Instrumentalisierung der Christologie durch die partikularistische Prädestinationslehre, fixiert von der —»Dordrechter Synode 1 6 1 8 / 1 9 (can. II).

3. Lutherische

Christologie:

die Gegenwart

des

Heils

Vom traditionalen, aber auch vom (melanchthonisch-) reformatorischen Konsens entfernte sich am weitesten die lutherische Christologie, gerade indem sie durch einen erneuten Rückgang auf die modi incarnationis ein eigentümliches Verständnis der beneficia Christi zur Geltung brachte: die Gegenwart Gottes selbst im und durch den Menschen Jesus Christus. Allerdings blieb dieses Motiv auch innerhalb des Luthertums selbst strittig, vor allem im Verständnis der Allgegenwart der Menschheit Christi. Die vorsichtige F C konnte Auseinandersetzungen nicht verhindern, an deren Ende drei fortentwickelte Christologien standen. Eine als chemnitzisch auftretende Interpretation der F C und die Ausscheidung der angeblich württembergischen „General-Ubiquität" kennzeichnet die Helmstedter Richtung, die sich seit dem Quedlinburger Kolloquium (1582/83) unter dem Einfluß T. —>Heshusius' herausbildete. Der Kampf gegen J . -»Andreae und Ä. -»Hunnius einerseits, Chr. Pezel, J . Piscator und R . Goclenius andererseits endete zwar, als D. Hofmann, der ohnedies beiden Gegnern philosophische Argumentation vorwarf, seinen christologischen Voluntarismus mit der Lutherschen These von der doppelten Wahrheit zu rechtfertigen versuchte und damit bei den humanistischen Aristotelikern Helmstedts erfolgreiche Gegner fand (Mager 91 ff; Sparn, Wahrheit 59ff). Doch blieb die Christologie selbst davon unberührt, und sowohl der Philosoph C. Martini als auch dessen theologischer Schüler, G . -»Calixt (sodann K. Hornejus, F. U. Calixt) verwarfen ihrerseits die „eutychianische" Ubiquitätslehre zugunsten der Annahme einer allein vom Verheißungswort begründeten praesentia respectiva Christi. Diese antispekulativ sich gebende Position war eine der Voraussetzungen der Helmstedter Irenik, wohlbemerkt von deren Bestreitern (z.B. A. - > C a l o v , Examen). Im Geltungsbereich der F C setzte sich dagegen eine brenzische Interpretation durch, die sich einerseits der biblischen (nicht zuletzt: alttestamentlichen) Exegese vergewisserte, sich andererseits der aristotelischen Logik, Physik und (erneuerten) Metaphysik bediente; so in Tübingen J . -»Heerbrand, M . Hafenreffer, S. Gerlach, J . Hoecker), in Wittenberg (Ä. Hunnius, S. Gesner, L. Hutter, A. Grawer, J . Martini, B. Meisner), in Gießen (B. Mentzer, J . Hesselbein, C. Finck, J . Schröder) und in Jena (P. Piscator, J . -»Gerhard). Der hier ausgearbeitete Locus stellt im (weitaus größten) ersten Teil eine Lehre von der Person Christi dar, der eine der reformierten gegensinnig entsprechende Zweiständelehre einund, als zweiter Teil sowie ebenfalls nach reformiertem Vorgang, eine Lehre vom dreifachen Amt angefügt wird; die Zweiständelehre verselbständigte sich später als dritter Teil (J.F. König; Calov, Systema Loc. Theolog.). Die Ämterlehre, auch unter dem Titel „Verdienst Christi" oder „Priestertum" zusammengefaßt und durch „Prophetie" mit dem soteriologischen Locus verknüpft (Mentzer, Catholisches Handbüchlein; N. -»Hunnius,

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Epitome credendorum), wurde vor allem als Voraussetzung der (forensischen) Rechtfertigungslehre dargestellt und gegen reformierten Partikularismus, tridentinische Gesetzlichkeit, auch gegen die Reduktion des stellvertretenden Gehorsams auf den passiven, vor allem aber gegen die sozinianische Bestreitung einer „fremden Gerechtigkeit" verteidigt (zusammenfassend Calov, Socinianismus). Neu ist hier nur die Erweiterung des königlichen Amtes um das regnum potentiae, die Herrschaft Christi auch nach seiner Menschheit nicht nur über die Kirche, sondern über die Welt (Gerhard), der lutherischen Auffassung von der Einheit der Person Christi entsprechend. Auf eben deren Entfaltung richtet sich das konstruktive Interesse (Spam, Wiederkehr 36ff; Schröder). 1. Die Inkarnation vereinigt die göttliche und die menschliche N a t u r Christi so, d a ß deren Einheit (unio personalis) geradezu in ihrer völligen und ausschließlichen G e g e n w a r t zueinander (praesentia mutua, indistantia) besteht; die cyrillischen und damaszenischen Beispiele einer solchen Perichorese (glühendes Eisen, beseelter Körper, geformte M a t e r i e ) werden so stark wie möglich gemacht (während die tridentinische Christologie deutlicher ihre M ä n g e l feststellt und die reformierte sie ganz ablehnt). 2. Diese Einheit läßt nicht mehr zu, d a ß die Naturen außerhalb des gemeinsamen Ganzen (totum suppositum) existieren: Auch der Logos wohnt ein für allemal und mit seiner ganzen Fülle in seiner Menschheit; als „ z u s a m m e n g e s e t z t e " ist die Personhaftigkeit Christi nichts Drittes, sondern nur das Miteinandersein ( c o e x i s t e n t i a ) der Naturen. 3 . Dies ist schlechthin neu (novum Kai' e^oxijv), weil es nicht nur übernatürlich ermöglicht ist, sondern weiterhin übernatürlich ,ist': Die Disparatheit der Naturen bleibt völlig erhalten, so daß es nie zur (integralen, akzidentellen, essentiellen) Selbstübereinstimmung k o m m t ; (nur) hier gilt: finitum capax infiniti. 4. Aussagen hierüber sind logisch irregulär und können weder synonymisch oder paronymisch noch tropisch aufgelöst werden; sie bilden zwar W i r k l i c h k e i t ab, bleiben jedoch nicht anders als sakramentale stets „ u n g e b r ä u c h l i c h " oder „ m y s t i s c h " , d . h . bezeichnen kein gegebenes, sondern ein werdendes S u b j e k t (praedicationes de fieri). 5 . Die wirkliche Mitteilung der Eigentümlichkeiten und Wirkweisen der Naturen vollzieht sich nicht nur zwischen diesen und der Person, sondern auch zwischen den Naturen selbst (communicatio idiomatum realis), so daß es korrekt ist zu sagen: Die M e n s c h h e i t Christi ist allmächtig, die G o t t h e i t Christi stirbt; dies sind keine abstrakten Prädikationen, weil die Naturen nur denkweise von ihrer Existenzeinheit abstrahiert werden k ö n n e n , in der sie real untrennbar existieren. 6. Die Perichorese der Eigentümlichkeiten der Naturen vollzieht sich nur in eine R i c h t u n g , als Mitteilung der göttlichen M a j e s t ä t s a t t r i b u t e A l l m a c h t , Allwissenheit, Kraft lebendigzumachen, Allgegenwart und Anbetungswürdigkeit an die seit der Inkarnation zur Rechten Gottes erhöhte Menschheit Christi (genus majestaticum, auchematicum).

Diese letzte, die lutherische Christologie am nächsten kennzeichnende und am schärfsten an ihr bestrittene Bestimmung stellte auch ihre Verteidiger vor zwei Probleme. Zum einen entsprach ihr einseitiges Gefälle nicht der angenommenen Wechselseitigkeit einer Gemeinschaft, in der die Menschheit wahrhaft an der Herrlichkeit der Gottheit, aber ebenso wahrhaft diese am Leiden und Sterben der Menschheit teilnimmt: Gott selbst ist tot. Daher wird erwogen, neben das genus idiomaticum, das genus apotelesmaticum und das genus majestaticum ein genus tapeinoticum zu stellen. Da dies aber dem (philosophischen wie biblischen) Grundsatz der Leidenslosigkeit Gottes widerspräche, wird eine Zwischenlösung vorgezogen, mit der immerhin die FC korrigiert wird, und die entweder in Tübinger Tradition anstelle des ersten Genus (Gerlach, Disputatio de personali...) oder innerhalb dessen, neben der Mitteilung der göttlichen Propria an die nach der menschlichen Natur bezeichnete Person (z. B. Joh 6,62) und der menschlichen und göttlichen Propria an die nach beiden Naturen bezeichnete Person (z. B. R o m 9,5), eigens von der Aneignung ( a p p r o p r i a t i o ) des Leidens Christi durch die göttliche Natur in concreto (z.B. Act 20,28; Rom 8,32) spricht (Hafenreffer; Gerhard; Meisner, Xpiaxoloyia). Zum anderen blieb auch das entelechische Gefälle zwischen Gottheit und Menschheit Christi insofern problematisch, als die der eutychianischen Gefährdung entgegengestellte Unterscheidung zwischen unmittelbar mitgeteilten „wirksamen" und nur mittelbar mitgeteilten „ruhenden" Majestätsattributen (Unermeßlichkeit, Ewigkeit usw.) bzw. die Unterscheidung zwischen Besitz und (verhülltem oder unterlassenem) Gebrauch der unmittelbar mitgeteilten Majestätsattribute (FC, SD V I I I , 2 5 - 3 0 . 6 4 - 6 6 ) nicht genügte, um die „Knechtsgestalt" Christi, d.h. den Stand der Erniedrigung, unverkürzt wahrnehmen zu

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k ö n n e n ; denn diese Unterscheidung, so schon H o f m a n n (Errores), läßt sich a u f eine mitgeteilte A l l m a c h t , nicht a b e r a u f eine mitgeteilte Allgegenwart a n w e n d e n . Von diesem (in der F C , S D VIII 2 9 . 5 5 . 7 6 - 7 8 ausgesparten) P r o b l e m entlastete ein S t ü c k weit die Z w e i s t ä n d e l e h r e : Sie stellte das lutherische Verständnis des status exinanitionis (Entäußerung des schon Inkarnierten) gegen alte und neue „ A r i a n e r " fest, fügte diesem aber einen dem reformierten entsprechenden Begriff des status exaltationis hinzu: eine erneute E r h ö h u n g der M e n s c h h e i t Christi nun zum offenbaren G e b r a u c h der göttlichen M a j e s t ä t (Hafenreffer; H u t t e r , C o m p e n d i u m ) . Als Stufen der Erniedrigung gelten die A r t der E m p fängnis und G e b u r t , das L e b e n , Sterben und B e g r ä b n i s Christi; die H ö l l e n f a h r t , der wirkliche Abstieg zum n i c h t ö r t l i c h e n W o der V e r d a m m t e n (Strafpredigt, T r i u m p h über den Teufel), gilt schon als erste Stufe der E r h ö h u n g . I m G e g e n s a t z s o w o h l zur tridentinischen als auch zur r e f o r m i e r t e n Auffassung wird die H i m m e l f a h r t als r ä u m l i c h anfangend, aber im nichtörtlichen W o der Seligen und bei der allgegenwärtigen R e c h t e n G o t t e s endend erklärt: Christi M e n s c h h e i t befindet sich n a c h ihrer (wesentlichen) E n d l i c h k e i t in j e n e m W o , nach ihrer (mitgeteilten) Allgegenwart wirklich und w i r k s a m bei allen K r e a t u ren. M i t dieser Z w e i s t ä n d e l e h r e w a r aber n o c h nicht geklärt, wie der M e n s c h h e i t Christi Allgegenwart mitgeteilt und wie sie im S t a n d der Erniedrigung zugleich nicht allgegenwärtig sein k o n n t e . An dieser F r a g e e n t w i c k e l t e sich die lutherische C h r i s t o l o g i e noch einmal auseinander (Ritsehl 4 , 1 8 0 f f ; W e b e r , R e f o r m a t i o n 1 / 2 , 1 5 0 f f ; B a u r , Weg 2 0 4 f f ) . Ä. Hunnius schlägt vor, die Unterscheidung von Besitz und Gebrauch als die von actus primus und actus secundus (wirkliches und wirksames Vermögen) zu erklären, und unterscheidet dann eine auch im Stand der Erniedrigung gegebene innere Gegenwart der Menschheit Christi zum Logos {praesetitia intima) von einer diesem immer, jener aber erst im Stand der Erhöhung zukommenden Gegenwart zur Welt (praesentia extima, coexistentia in loco). Damit ist freilich ein Abstand in die doch abstandslos vereinigten Naturen eingeführt, wie Gesner, Schröder (Tractatus), Hutter, (Libri ChristianaeConcordiae), vielleicht auch der späte Hafenreffer im Gegenüber zu J. ->Kepler (Hübner 108ff) bemerken. Hunnius folgen insbesondere sein Schüler B. Mentzer und J. Feurborn in Gießen. Um dem reformierten Einwand gegen die Omnipräsenz der erhöhten Menschheit Christi den Boden zu entziehen, nehmen sie nicht die Personeinheit als solche, sondern erst die Verheißung als unmittelbaren Grund dafür an und verstehen diese Gegenwart nicht als bloße Anwesenheit (adessentia), sondern ausschließlich als Tätigkeit (actio). Im Blick auf die irdische Menschheit Christi bedeutet dies, die Annahme ihrer Allgegenwart fallenzulassen: Christus hat im Stand der Knechtschaft das ihr (kraft ihrer inneren Gegenwart zum Logos) allerdings mitgeteilte Vermögen der Allgegenwart nicht verwirklicht, d.h. hat auf ihren Gebrauch verzichtet (Kevcocigxpijaeax;), so daß er die Welt nur mit, nicht aber, wie dann im Stand der Herrschaft, auch durch seine Menschheit regiert hat — was ohnedies nicht allen Kreaturen, sondern den Frommen in der Kirche gilt. Dieser Lösung widersprachen, als einer Wiederholung des Extra Calvinisticum innerhalb des status exinanitionis, scharf die (befragten) Tübinger Th. Thumm, L. Osiander und M . Nicolai. Sie unterstellen, daß die Gegenwart Christi nicht erst durch Wille und Tat, sondern schon durch die Personeinheit begründet ist: zwar keine müßige (relatives Attribut), aber auch keine in Handlung sich erschöpfende Gegenwart (die Personeinheit selbst ist nicht Tat, sondern Wohnen), sondern eine durch besondere Verheißungen als sakramentale, gnädige oder herrliche nur näherbestimmte Gegenwart als er selbst (praesentia, propinquitas substantialis). Eine solche Gegenwart konnte Christus, auch als ein seiner Menschheit mitgeteiltes Majestätsattribut, nicht nicht, sondern allenfalls verhüllt gebrauchen; er war also im Stand der Erniedrigung auch nach seiner Menschheit allen Geschöpfen als er selbst gegenwärtig: Die Erhöhung der Menschheit zu Gott bedeutet nicht dessen Abwendung von der Welt, sondern seine Zuwendung zu ihr mit und durch diese Menschheit. Der Unterschied von Besitz und Gebrauch wird damit aber nicht überhaupt hinfällig bzw. die Erniedrigung wird nicht auf bloßen Schein reduziert. Denn diese Verborgenheit besagt zugleich, daß der Erniedrigte die seiner Menschheit mitgeteilte Allmacht (omnipotentia) nicht rückbezüglich, d.h. nicht ihr zugute gebraucht hat (retractio reflexa): In seinem priesterlichen Amt hat er wirklich „sich" entäußert (Phil 2,6), während er sie gleichzeitig, im königlichen Gebrauch nach außen, wie alle Majestätsattribute (verhüllt) gebraucht hat (Joh 5,17). Mit dieser Lösung holen die Tübinger die in der Abendmahlslehre gelungene Aufhebung der kosmologischen Alternative von Oben und Unten christologisch ein in der Aufhebung der Alternative von Knechtschaft und Herrschaft zugunsten ihrer (von den Gießenern für unmöglich erklärten) Gleichzeitigkeit als actus naturae und actus personae Christi. I m Streit der T ü b i n g e r und G i e ß e n e r k a m die lutherische Christologie an die Grenze

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ihrer Entwicklungsfähigkeit. Das belegt nicht nur ihre gegenseitige Einschätzung (Baur, Weg 2 5 4 f f ) , sondern auch der Schlichtungsversuch der Decisio Saxonica (1624), die sich auf das idiomatische Genus zurückzog und im strittigen Majestätsgenus kaum mehr als eine Gießener Sprachregelung traf. Sie hatte hauptsächlich die Umstellung des Majestätsgenus vor das apotelesmatische Genus, d. h. seine stärkere Rückbindung an die Ämterlehre, zur Folge (schon Hafenreffer 1606; Mentzer 1620). In der Sache gingen die meisten Lutheraner auf die sächsische Brevis consideratio (1621) zurück, die für den Stand der Erniedrigung zwar nicht das universale D o m i n i u m , aber doch die substantielle Gegenwart der Menschheit Christi bei den Kreaturen angenommen hatte; so Meisner, Gerhard, J . A. Scherzer, D. Hollaz. Andere neigten mehr zu den Tübingern, besonders Calov (Systema L o c . T h e o l o g . ) , andere mehr zu den Gießenern, wie Hülsemann oder J . A. Quenstedt. Die erneute Veröffentlichung der Quellen ließ den Streit bis um 1700 gelegentlich wieder aufleben (Walch, Einl. Luth. 1,216ff; IV,551 ff). Das bis zur benannten Grenze unstrittige religiöse M o t i v prägte gleichwohl einen breiten christologischen Konsens bis hin zu Hollaz, der von anderen Entwicklungen, etwa in der Schule J . Musaeus', nicht im Kern berührt wurde ( J . W . Baier); erst recht nicht von theoretischen Folgeproblemen wie der Frage, ob Christus zur Zeit seines Todes wahrer Mensch gewesen sei (was zeitweilig Meisner und ihm folgend 1649 J . Lütkemann verneinte, damit aber Widerspruch hervorrief; Walch, Einl. Luth. IV, 638ff). Dieses M o t i v erwies sich auch in dem erklärtermaßen ergänzenden Locus de unione mystica als fruchtbar (Ph. Nicolai; J . -»Arndt; Meisner, De praestantia, abgelehnt dagegen von Calixt: Ritsehl IV, 21 l f ; Weber, Einfluß 88 ff; Eiert 135 ff). Nicht nur die Aufnahmefähigkeit für die Mystik der R o m a n i a (bei Abweisung der christologischen Gnosis J . Böhmes), sondern auch die reiche Erbauungsliteratur und geistliche Dichtung, die sich im 17. J h . der Betrachtung des N a m e n s , des Herzens, der Liebe und des Leidens Jesu widmete, gehört in den Wirkungsbereich der lutherischen Christologie, die in dieser frommen Gestalt auch über den Bereich ihrer dogmatischen H a n d h a b u n g hinaus einflußreich wurde (Althaus 145 ff; Berger 117ff; Zeller 1,85ff; 11,35ff, 122ff; Krummacher; Scheitler; Wallmann, Arndt 58ff). Umgekehrt wurde ihre Geltung schon früh im Bereich der Prädestinationslehre unterlaufen: Die lutherische Erwählungslehre zog sich, kontroverstheologisch fixiert, aus der christologischen in eine naturrechtliche Begründung zurück (Adam 38 ff. 128 ff; Weber, Reformation 1/2, 93 ff; II, 166ff). D i e praktische Behandlung der Christologie in der analytischen Methode, insbesondere die neue Lehre von den —»Fundamentalartikeln, die den konfessionellen Dissens als den von Universalismus und Partikularismus definierte (N. Hunnius, Ai&OKsy/iQ), verstärkten die unlutherische Zweckrationalität. Gegen Ende des Jahrhunderts konnte der christologische Dissens in Abrede gestellt werden, und die naturrechtlichen Ansprüche der beginnenden Aufklärung fanden bald keinen christologischen Widerspruch mehr.

4. Aufklärerische

Distanzierung,

Kritik und

Transformation

Die im 17. J h . teils stillschweigend, teils ausdrücklich einsetzende Distanzierung von den etablierten Christologien ging im 18. J h . in ihre direkte theologische Kritik über. Auch das sich christlich verstehende Verhältnis zu Jesus Christus formte sich so tiefgreifend um, daß es alle christologischen „ F o r m e l n " durch eigene, fromme aber auch aufgeklärte, jedenfalls „meine Überzeugungen" (J. G . Töllner, M e i n e Ueberzeugungen) glaubte ersetzen zu müssen. Dieser Vorgang vollzog sich im Schatten der zunächst unerhörten, im R a k o w e r Katechismus ( 1 6 0 5 , dt. 1608) symbolisch fixierten Kritik der Sozinianer an der Zweinaturenund an der Satisfaktionslehre. An die Stelle der Vernunft- und schriftwidrigen Voraussetzungen einer ewig gezeugten Gottheit Christi und der Übertragung von Schuld, Strafe und Verdienst tritt hier die Vorstellung sittlicher Vervollkommnung mit göttlicher Hilfe; im Falle Christi allerdings einer wunderhaft geförderten Entwicklung. Ein sterblicher, doch wunderbar erzeugter und durch eine Entrückung in den Himmel über sein propheti-

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sches Amt von Gott belehrter und mit Wunderkraft ausgestatteter „göttlicher M e n s c h " wurde nach gehorsam vollbrachter Aufgabe, die Gebote Gottes zu bekräftigen und zu ergänzen, und nach vorbildlichem Leiden und Sterben von Gott erweckt und in den Himmel erhoben, zum königlichen Lenker der Welt und priesterlichen Fürsprecher für seine Kirche eingesetzt und mit Unsterblichkeit begabt: So wurde Christus schließlich, der Fülle der Gottheit teilhaftig und daher auch religiös zu verehren, zum Mittler des neuen Bundes (Catech. I V - I X ; V. Smalcius). Die biblizistisch-supranaturalen Voraussetzungen dieser Christologie konnten, da sie schon einem natürlich-moralischen Konzept zugeordnet waren, leicht zurücktreten, und tatsächlich w u r d e sie bald eine Art exemplarischer Anthropologie im R a h m e n einer natürlichen, das Göttliche an Christus metaphorisch neutralisierenden Religion (A. Wissowatius). Im ausgehenden 17. Jh. k a m zur direkten Kritik die indirekte, d. h. die politisch-moralische Relativierung konfessioneller Differenzen überhaupt, und die Verlagerung des allgemeinen religiösen Interesses auf die Auseinandersetzung mit der deistischen und der atheistischen Kritik am Christentum, also auf die -»Natürliche Theologie. Was diese Situation an christologischem Interesse nahelegte, verkörpert, f ü r fast drei Generationen repräsentativ, G.W. -»Leibniz. In unionistischer Absicht akzeptiert er die gemeinsamen Lehren aller Konfessionen (gibt somit das „neue Dogma" der Ubiquität auf), definiert im übrigen aber die Bedeutung Christi allein im Hinblick auf sein apologetisches Ziel, die Rechtfertigung Gottes als des Schöpfers und Regierers der wirklichen als bestmöglicher Welt. Christus ist der göttliche Stifter der aufgeklärtesten Religion durch Vollendung der Gesetzgebung Moses (in der Lehre der Unsterblichkeit der Seele und der begründeten Gottesliebe) und ist „Quelle und Mittelpunkt der Erwählung", d.h. zureichender Grund für die Schöpfung der wirklichen Welt, in der als bestmöglicher Reihe der Dinge eben dieser Gottmensch: das vollkommenste Geschöpf, enthalten sein mußte (Theodicee, Pref.; Causa Dei §§49.90.140). Im Rahmen dieser ,arianischen' Christologie, die ihre Vorbilder im humanistischen Piatonismus und in der christlichen ->Kabbala hat, kann Leibniz sowohl „Lieb und Leben" aus der Betrachtung Jesu am Kreuze schöpfen als auch ein ökumenisches Gebet ohne christologische Prämissen vorschlagen (Spam, Bekenntnis 162ff).

In der bekenntnisgebundenen Theologie war eine solche Reduktion ausgeschlossen, aber auch noch nicht begründet, da die christologische Tradition in der Frömmigkeit des frühen 18. Jh. vielfältig gegenwärtig blieb, wie etwa die Textdichter Bachscher Kantaten (E. Neumeister, S. Franck) oder V.E. —»-Löschers Passionslied „Ich grüße dich am Kreuzesstamm" (EKG 70,1) belegen (Axmacher; Casper 50ff). Gleichwohl w u r d e die christologische Arbeit etwa seit der J a h r h u n d e r t w e n d e wesentlich erschwert. Z u m einen fiel ihre wichtigste propädeutische Voraussetzung weg, die jetzt als bloßes Begriffslexikon disqualifizierte Metaphysik; zum anderen vertiefte sich die Unterscheidung der historischen von der theologischen (dogmatischen) Argumentation zur strikten methodischen Trennung. In beiden Vorgängen brachte sich ein neues Ideal von Wissenschaft zur Geltung, die unter den Theologen insbesondere von J.F. -»Buddeus entwickelte „Eklektik" (Holzhey 21 ff; Schneiders 93ff). Die vorurteilskritische Ablehnung überlieferter menschlicher Autoritäten und die rein historische, d.h. nur menschliche Absichten und Taten unterstellende Behandlung aller nicht dogmatisch besetzten Gegenstände erlaubte nun die unparteiische Darstellung etwa des Tübinger-Gießener Streits (Jäger 329ff). Die christologische Dogmatik war von dieser Freiheit allerdings ausgenommen, doch erlaubte ihr Überschuß gegen den Wortlaut geltender Bekenntnisse oder „fundamentaler Glaubensartikel" ebenfalls individuelle Stellungnahmen. So schreibt Buddeus einerseits die lutherische Tradition fort, sogar in ihrer württembergischen Fassung (Inst. IV,II, §§ 15-17.20), ordnet sie andererseits aber in das Konzept des „Gnadenbundes" ein (§1), lehnt wegen der Unbedürftigkeit der göttlichen Natur die Wechselseitigkeit der Perichorese ab (§ 10), versteht das apotelesmatische Genus nicht als Teilhabe, sondern als concursus der Naturen (§§12.16) oder charakterisiert Christus als stoischen Weisen (§ 6); kurz, er verschiebt das Interesse von der Person auf das Werk Christi, von der Präsenz auf die Aktion (als „Aktion" modernisieren die christologische „Präsenz" auch die sonst konservativen theologischen Wolffianer). Unbeschadet aller didaktischen Vereinfachung und unionistischen Offenheit im ganzen, votiert Chr. M. Pfaff sogar für die Tübinger Christologie - um damit die Anteilhabe der menschlichen Natur überhaupt an Gottes Vollkommenheit zu begründen; was

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Leibniz monadologisch formuliert (353ff; Baur, Salus 116ff). Der erklärtermaßen dogmatisch konservative J . L . v. -»Mosheim erklärt die lutherische Lehre von der communicatio idiomatum als richtige, mittelbare Folgerung aus der biblischen Hauptaussage über Christus, erklärt sie damit aber als nichtfundamentalen Artikel; so daß er die Wahrheit der menschlichen Natur Christi mit der Annahme ihrer möglichen eigenen Personhaftigkeit bekräftigen, die lutherische Christologie also im Kern bedrohen kann (661 ff). D u r c h a u s ähnlich wurde die christologische T r a d i t i o n im - » P i e t i s m u s behandelt, der in allem Historischen ebenso eklektisch verfuhr, sich wegen seines geringeren historischen Interesses bzw. seines Biblizismus' a b e r n o c h leichter angeblicher Auswüchse, M i ß verständnisse und scholastischer Subtilitäten im D o g m a t i s c h e n entledigte, ja die eklektische A b l e h n u n g alles Metaphysischen als Kritik der „griechischen W e i s h e i t " im christologischen D o g m a selbst fortsetzte. W ä h r e n d Ph. J . - » S p e n e r (Glaubenslehre) n o c h durchweg seinem Lehrer J . K . D a n n h a u e r folgte, vereinfacht und berichtigt der H a l l e s c h e Pietismus die lutherische Christologie sehr weitgehend a u f eine G l a u b e n s l e h r e hin, die „ a u s G ö t t l i c h e m W o r t deutlich fürgetragen und zum T h ä t i g e n C h r i s t e n t h u m W i e auch E v a n gelischen T r o s t a n g e w e n d e t " werden k o n n t e ( J . A . Freylinghausen; J . J . Breithaupt; J . Lange). Die Unmittelbarkeit der Beziehung zu dem (vor allem in seiner göttlichen K r a f t wirkung erfahrenen) biblischen Christus einerseits, die Unterstellung einer konsistenten biblischen H e i l s ö k o n o m i e andererseits führte freilich nicht nur zur christologischen Ü b e r i n t e r p r e t a t i o n zumal des Alten T e s t a m e n t s ( A . H . - » F r a n c k e ) , sondern entzog auch das Christusbild der erbaulichen Literatur der christologischen Disziplin. Die im kirchlichen Pietismus nur faktische Kritik wurde allerdings zur prinzipiellen, wo das fromme Individuum sich als solches zur Instanz der Kritik einsetzte. Darauf beruht die historische Kritik der .metaphysischen' Christologie bei G. -»-Arnold, insbesondere aber die konsequent spiritualistische Christologie J. K. -»Dippeis, in der die Böhmeschen und die Rakower Ansätze zusammenfanden. Die als wesentliche Einwohnung Christi verstandene Erlösungserfahrung kann sich in der Satisfaktions- und Imputationslehre schlechterdings nicht wiedererkennen; sie setzt an die Stelle der Zweinaturenlehre die Vorstellung einer doppelten (himmlischen und angenommenen irdischen) Menschheit und einer Gottheit, die in der verändernden Kraft Christi besteht, so daß Christus als Mensch, durch seinen vorbildlichen Kampf um die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes, die Menschen mit Gott (!) versöhnt hat und sie als Gott, durch sein beseligendes und heiligendes Eingehen in sie, wirklich erlöst. Die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen dem Individuum und Jesu Lehre und Leben ist bei Dippel, der die hermeneutische Konstellation von Bibel, Wort Gottes und Christologie völlig auflöst, gleichsam nur zufällig eine besondere und fromme, von ihrer allgemeinvernünftigen Form etwa bei J. Chr. -»Edelmann nicht grundsätzlich verschiedene. Eine andere Wendung nahm der mystische Spiritualismus dagegen in N. Graf -»Zinzendorfs Herzensreligion, die nicht nur zärtliche Anhänglichkeit an den Heiland (vgl. EKG 274), sondern auch eine Blut- und Wundenfrömmigkeit bedeutete, die sich an der „Kreuz-Ökonomie" orientierte und sowohl die Satisfaktionslehre als auch die Luthersche Kreuzestheologie aufzunehmen vermochte (Eine Sammlung öffentlicher Reden), geschützt freilich auch durch eine negative Propädeutik im Gefolge P. -»Bayles. Die exaltierten Formen des Liebesverhältnisses der „Närrlein" zum geschlachteten „Bruder Lämmlein" und seinem „Seitenhöhlchen" oder die sakramentale Wertung der ehelichen Sexualität (Wunden-Litaney), vor allem der in der Lospraxis beanspruchte Spezialbund mit dem Heiland als dem „General-Ältesten" der Brüdergemeine belegen gleichwohl deutlich, daß Zinzendorfs Christologie ganz auf der emotionalen Intensität steht, mit der das fromme Subjekt die sympathetische, durchaus nicht nur an das Wort gebundene, unmittelbare Krafteinwirkung Christi bewahrheitet. Die als Instanz der Kritik an der d o g m a t i s c h e n Christologie auftretende Subjektivität erlangte seit der M i t t e des 18. J h . in der theologischen - » A u f k l ä r u n g , der N e o l o g i e , den R a n g eines authentisch theologischen Prinzips (Aner 1 4 4 f f ; S p a r n , C h r i s t e n t u m 3 3 ff). Sie berief sich a u f die einfache, so unaufgedrängte wie unabweisliche innere Empfindung der W i r k u n g J e s u zur Besserung und Seligkeit; a u f eine Selbsterfahrung, der die A u t o r i t ä t der (weiterer Begründung weder fähigen n o c h bedürftigen) empirischen Evidenz z u k a m . D a sie sich zugleich als f r o m m (kraft ihres unmittelbaren Bezugs a u f L e h r e und L e b e n Jesu) und als a u f g e k l ä r t verstand (kraft ihrer vernünftigen, religionsphilosophisch e r k l ä r b a r e n Allgemeinheit), stand sie den Ansprüchen der d o g m a t i s c h e n T r a d i t i o n prinzipiell kritisch gegenüber. Sie k o n n t e sich auch der nun entwickelten Philologie und H i s t o r i o g r a p h i e

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bedienen, die als solche diesseits dogmatisch relevanter Kritik geblieben war, und sie dogmenhistorisch, d. h. eo ipso dogmenkritisch wenden, so in der Auflösung der unbiblischen Lehre vom dreifachen Amt Christi (J. A. Ernesti), bald überdies kanonskritisch wie in der Auflösung der biblischen Begründung der dogmatischen Christologie (J. S. Semler: S. J . Baumgarten 11,3 ff). Dem empirischen Charakter ihres Prinzips entsprechend äußerte sich diese Kritik zunächst und breit wirksam in der Praxis. Weil „das wahre Lob Jesu" nicht in der Erkenntnis seiner „hohen Person", sondern in der lebendigen Empfindung des Herzens dafür bestehe, „was er eigentlich für uns ist, was wir an ihm haben", weil dies vorzutragen allerdings nicht den „thätige(n) Trieb zur Gottseligkeit und Tugend" verächtlich machen dürfe, spricht J . J . -»Spalding von verdienstlichem Leiden oder stellvertretendem Opfer Christi nur metaphorisch und verweist die dogmatische Person- und Satisfaktionslehre von der Kanzel (Predigten 82ff. 229ff; Nutzbarkeit 123ff). Ein solches Zurücknehmen oder schlichtes Weglassen kennzeichnet dann auch die neologischen -»Gesangbücher, den philanthropischen Religionsunterricht (Chr.G. Salzmann) und die fromm-aufklärerische -»Erbauungsliteratur bis ins 19. Jh. ( J . H . D . Zschokke). Zur praktischen trat spektakulär die theoretische Kritik, die, nachdem sie einmal die Zumutung der Haftung für fremde Schuld (Erbsünde) zurückgewiesen hatte, auch die christologische Vorstellung eines fremden Verdienstes bestreiten mußte. Die Lehre von der Person erschien, da sie nicht durch die Erfahrung einer Wirksamkeit gedeckt war, als bloß spekulativ (W. A. Teller, Lb. des christlichen Glaubens). Aber auch die Lehre vom satisfaktorischen Amt fiel dahin: Der aktive Gehorsam Christi konnte keine stellvertretende Bedeutung haben, da Christus nur als selber moralisches Subjekt auf andere moralische Subjekte wirken konnte (Töllner, Der tätige Gehorsam); da ferner Gott nicht beleidigbar war, somit allenfalls die Menschen mit ihm versöhnt werden mußten (Teller, W b . des NT, „Versöhnung"), und Strafe moralischerweise nicht Sühne, sondern ausschließlich Besserung, und zwar, da nicht übertragbar, die des zu Bestrafenden bezwecken durfte, konnte auch der passive Gehorsam Christi keine stellvertretende Bedeutung haben (J. A. Eberhard, Neue Apologie des Sokrates I, Kap. V; J . S. Steinbart, System der reinen Philosophie §§55ff). Der von Ernesti, J . D . Michaelis oder G.F. Seiler erhobene Widerspruch litt daran, daß er den unterstellten naturrechtlichen Gottesbegriff nicht anzweifelte und für eine äußere Strafe seinerseits nur den Zweck der Abschreckung geltend machen konnte; selbst G. Chr. Storr vermochte den Sanktionscharakter der von Christus stellvertretend erlittenen Strafe nicht ohne Rückgriff auf göttliche Erziehungsabsichten zu begründen (Wenz 170ff. 239ff). Der alte J . E W . Jerusalem nahm daher die Christologie auf die Metaphorik der johanneischen Selbstaussagen zurück, leugnete die ewige Gottheit Christi zugunsten eines von Ewigkeit her erwählten Gesandten des alliebenden Vaters und setzte sein Erlösungswerk in die völlige Vergewisserung über Gottes sündenvergebende Liebe (Nachgel. Sehr. I, 69ff. 435ff. 551 ff). Der neologischen Kritik entsprach durchaus ein konstruktiver Umgang mit der christologischen Tradition. Zunächst entband sie eine „sprachbildende Kraft" (A. Schöne), indem sie die poetische Transformation der biblischen Geschichte und der christologischen Begriffe gleichermaßen ins Recht setzte; eindrücklich gelungen im „Messias" E G . -»Klopstocks (1748ff) und in den „Geistlichen Oden" Chr. F. -»Gellerts (1757), auch in J . C. -»Lavaters oder in M . Claudius' Liedern. Sodann ging die Kritik, zumal angesichts des Reimarus'schen Prozesses gegen die Evangelisten als durch einen jüdischen Messiasprätendenten betrogene Betrüger (Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, 1778), zur Arbeit an einer biblischen Hermeneutik über, in der die historische Individualität und Relativität der evangelischen Berichte und die religiöse Einzigartigkeit Christi in der sprachlichen Gestalt der Urkunden selbst verknüpft werden; so, freilich sehr unterschiedlich, -»Semler, F. V. Reinhard oder G . E . -»Lessing, vor allem aber und am folgenreichsten für einen „neuen Christozentrismus" (Hirsch, Geschichte IV,163), J . G . -»Hamann (Biblische Betrachtungen) und J . G . -»Herder (Älteste Urkunde des Menschengeschlechts; Vom Erlöser der Menschen; Von Gottes Sohn). Schließlich glich die Neologie

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die a u f g e g e b e n e „ B i b l i o l a t r i e " a u s mit einem t h e o l o g i s c h e n Begriff d e r G e s c h i c h t e als einer d e r A k k o m m o d a t i o n G o t t e s zu v e r d a n k e n d e n „ E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " ; so verschieden diese K o n z e p t i o n bei J . C h r . Ö t i n g e r , J . J . H e ß , J e r u s a l e m ( B e t r a c h t u n g e n I I / l ) , Lessing (Über d e n Beweis des Geistes u n d d e r K r a f t ; E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s ) u n d H e r d e r (Ideen zur P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e d e r M e n s c h heit) a u s g e f ü h r t w u r d e , so gleich w a r d o c h aller A b s i c h t , die Einzigartigkeit Christi nicht als D e m e n t i , s o n d e r n als F a k t o r d e r m e n s c h l i c h e n G e s c h i c h t e zu e r k l ä r e n u n d s o m i t die deistische A l t e r n a t i v e von V e r n u n f t u n d O f f e n b a r u n g zu liquidieren. M i t d e m n e u e n T h e m a „ O f f e n b a r u n g u n d G e s c h i c h t e " w a r nicht n u r die z u k ü n f t i g e E n t w i c k l u n g d e r C h r i s t o l o g i e eingeleitet, s o n d e r n a u c h d a s s t r u k t u r e l l e N i v e a u des christologischen D o g m a s v o n d e r Einheit zweier „ N a t u r e n " in d e r Person Christi w i e d e r g e w o n n e n . N i c h t in diesem Sinne z u k u n f t s t r ä c h t i g w a r d a g e g e n die p h i l o s o p h i s c h e R e k o n s t r u k tion d e r C h r i s t o l o g i e in I. —>Kants R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e . Allerdings b e d e u t e t e d e r vern u n f t s k r i t i s c h e N a c h w c i s d e r U n g e g r ü n d e t h e i t des einst b e a n s p r u c h t e n christologischen W i s s e n s eine E n t l a s t u n g h i s t o r i s c h e r Positivität g e g e n ü b e r d e r n a t u r a l i s t i s c h e n L e u g n u n g v o n O f f e n b a r u n g ; w a s a b e r e b e n s o g u t r a t i o n a l i s t i s c h (J. H . T i e f t r u n k ) wie s u p r a n a t u r a l i stisch ( C . C h r . Flatt) wie, richtigerweise, k o r r e l a t i v (C.F. Stäudlin) a u s g e m ü n z t w e r d e n k o n n t e ( W e n z l , 236 ff). I n d e r T a t k o n n t e n u n d e r g e s a m t e n T r a d i t i o n ein p r a k t i s c h e r S i n n a b g e w o n n e n w e r d e n , o h n e d a ß eine s t a t u t a r i s c h e C h r i s t o l o g i e e r f o r d e r t w a r : C h r i s t u s ist die P e r s o n i f i k a t i o n des Ideals m o r a l i s c h e r V o l l k o m m e n h e i t , des g u t e n Prinzips; d a m i t eines U r b i l d e s , d a s seine o b j e k t i v e , e r f a h r u n g s u n a b h ä n g i g e R e a l i t ä t in d e r m o r a l i s c h g e s e t z g e b e n d e n V e r n u n f t h a t u n d als solches b e a n s p r u c h e n u n d leisten k a n n , Vorbild zu sein. Seine V e r w i r k l i c h u n g scheint n u r f r a g l i c h , weil a u c h n a c h d e r A n n a h m e einer g u t e n G e s i n n u n g die Schuld f ü r die einstige b ö s e f o r t b e s t e h t u n d ihre Ü b e r t r a g u n g u n m ö g l i c h ist, so d a ß die allerdings n ö t i g e Strafe jetzt d e n Falschen t r ä f e ; d o c h t r ä g t d e r neue, m o r a l i s c h e M e n s c h im S c h m e r z d e r A b t ö t u n g des alten, e m p i r i s c h e n M e n s c h e n die Strafleiden, die d e r G e r e c h t i g k e i t G o t t e s g e n u g t u n , u n d ist somit, personifiziert g e d a c h t , stellv e r t r e t e n d e r V e r s ö h n e r , Erlöser u n d F ü r s p r e c h e r seiner selbst v o r G o t t (Kant 6 7 f f ) . Diese c h r i s t o l o g i s c h e F o r m u l i e r u n g d e r d e r V e r n u n f t als solcher i n n e w o h n e n d e n , u n a b w e i s l i chen „ Z u m u t u n g d e r S e l b s t b e s s e r u n g " (61) p o t e n z i e r t den sozinianischen M o r a l i s m u s d u r c h die a n s e l m i s c h e S a t i s f a k t i o n s t h e o r i e - vielleicht ein F o r t s c h r i t t g e g e n ü b e r e i n e m n a t u r r e c h t l i c h r e d u z i e r t e n G o t t e s b e g r i f f , g e w i ß a b e r d e r völlige Verlust d e r G e s c h i c h t lichkeit d e r C h r i s t o l o g i e . Im G e f o l g e dieser Vergleichgültigung des G e s c h i c h t s g l a u b e n s , „ t o t a n i h m s e l b e r " (161), k o n n t e d e r bislang n u r r a n d s t ä n d i g e c h r i s t o l o g i s c h e R a t i o n a lismus ( C h r . F. D a m m , C.F. - » B a h r d t ) f ü r theologisch legitim gelten. M i t H . P h . K . H e n k e n u n a u c h die „ C h r i s t o l a t r i e " im C h r i s t e n t u m b e k ä m p f e n d , stellte J. A. L. Wegscheider die P e r s o n C h r i s t i als E r g e b n i s seiner u n t e r d e n n a t ü r l i c h e n B e d i n g u n g e n seiner Z e i t u n d seiner A n l a g e n geleisteten Selbsttätigkeit d a r u n d sein Werk als d i e A b s i c h t , d u r c h E r k l ä r u n g , Vorbild u n d T r e u e z u r g u t e n Sache die T u g e n d der M e n s c h h e i t zu b e f ö r d e r n (Institutiones 120ff). H i e r b e k o m m t d e r K e t z e r n a m e des S o z i n i a n i s m u s sein R e c h t , d e n die n e o l o g i s c h e C h r i s t o l o g i e s c h o n f r ü h zu h ö r e n b e k a m (Aner 3 2 f ) , d e n sie a b e r nicht m e h r v e r d i e n t e als d i e n u n f o l g e n d e E p o c h e d e n des S p i n o z i s m u s . Quellen Allgemeines: BSLK. - BSRK. - Die Dogmatik der ev.-ref. Kirche. Hg. v. Heinrich Heppe/Ernst Bizer, Neukirchen 1935 2 1958. - DS. - Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 1937 = 4 1964. - Ders., Die Umformung des christl. Denkens in der Neuzeit, Tübingen 1938 = 1985. - Christian Ernst Luthardt, Kompendium der Dogmatik, Leipzig l s 1948. - Johann Jakob Rambach, Hist. u. theol. Einl. in die Religionsstreitigkeiten der Ev. Kirche mit den Socinianern, Coburg 1753. - Heinrich Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, Gütersloh '1979. - Johann Georg Walch, Hist. u. theol. Einl. in die Religions-Streitigkeiten der Ev.-Luth. Kirchen (1724-1728), 5 Bde., Ienae 2 1733-1739 = Stuttgart-Bad Cannstatt 1972-1984. - Ders., Hist. u. theol. Einl. in die Religions-Streitigkeiten, welche sonderlich außer der Ev.-luth. Kirche entstanden, 5 Bde., Ienae 1730-1739 = Stuttgart-Bad Cannstadt 1972-1984.

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Jesus Christus V

Zu 1.: Didacus Alvarez, De incarnatione Verbi Divini disputationes L X X X , Lugduni 1614, Coloniae 1622. - Martin Becanus, Summa TKeologiae scholasticae, Moguntiae 1612. - Robert Bellarminus, Disputationes de controversiis Christianae Fidei adversus hujus temporis haereticos tomus primus, Ingolstadii 1586, Venetiis 1599 = 1721: Controversia II: De Christo. - Johannes Busaeus, Disputano de Persona Christi contra Ubiquitarios, Moguntiae 1586. - Melchior Cano, De locis Theologicis libri XII, Salamancae 1563. - Gregorius de Valentia, Disputano de Officio Christi Redemptoris et Mediatoris proprio, Ingolstadii 1583. - Ders., Commentariorum Theologicorum tomi IV, Ingolstadii 1591. - Caspar Lechner, Eutychi-Nestoriana Ubiquitas impugnata, Ingolstadii 1624. - Matthias Maierhofer, De SS. Incarnationis mysterio, in qua etiam dogma Ubiquitariorum refellitur, Ingolstadii 1590. - Martin Smiglecius, Verbum caro factum, sive de Divina Verbi Incarnati natura, Cracoviae 1613. — Albert Sperling, De Maiestate et Omnipraesentia Christi, Ingolstadii 1565. - Franciscus Suarez, Metaphysicarum disputationum tomi II (1597), Moguntiae 1600 = Hildesheim 1965. — Ders., Commentariorum ac disputationum in tertiam partem Divi Thomae tomi II, 1 5 9 0 - 1 6 0 2 = Opera 16,17, Venetiis 1745.-Adam Tanner, Universa Theologia scholastica, Ingolstadii 1626/27. - Gabriel Vasquez, Disputationes II contra errores Felicis et Elipandi de Servitute et adoptione Christi, Compiuti 1594. — Ders., Commentariorum ac disputationum in tertiam partem Divi Thomae tomi II, Compiuti 1609. Zu 2.: (Admonitio Neostadiensis = ) De Libro Concordiae quem vocant... admonitio Christiana, Neostadii 1581. - Johann Heinrich Aisted, Theologia scholastica didactica, Hanoviae 1618. Guilelmus Amesius, Medulla Theologica, Amstelodami 1623. - Theodor Beza, Pro corporis Christi veritate, Genevae 1581. - Ders., Ad Acta Colloquii Montisbelgardensis Tubingae edita responsio, Genevae, 11587, II 1588. - Johannes Bergius, Analysis controversiae de Persona Christi, Francofurti 1618. - Johannes Coccejus, Summa doctrinae de foedere et testamento Dei, Amstelodami 1648 3 1660. - Johannes Combach, Confessio de Persona et Officio Christi, Francofurti 1618. - Ludwig Crocius, Disputatio de Christo capite Ecclesiae unico, Bremae 1612. - Lambert Danaeus, Examen de duabus in Christo naturis, Genevae 1581. - Rudolf Goclenius, Problemata Logica et Philosophica, Marpurgi 1592 3 1602. - Ders., Collegium Philosophico-Theologicum de Persona Christi et Coena Domini, Marpurgi 1610. - Hugo Grotius, Defensio fidei catholicae de satisfactione Christi, Leiden 1617. - Bartholomaeus Keckermann, Systema SS. Theologiae, Hanoviae 1602 2 1607. - Philipp van Limborch, Theologia Christiana, Amstelodami 1686, 6 1735. - Samuel Maresius, Hydra Socinianismi expugnata, Groningae, I 1651, II 1654, III 1662. - Matthias Martinius, Tractatus pro Sadeele de Persona Christi, Herbornae 1604. - David Pareus, Methodus ubiquitariae controversiae brevis et perspicua, Neostadii 1586. - Ders., Calvinus orthodoxus, sive vindicatio Calvini de Trinitate et Divinitate Christi, Heidelbergae 1601. - Christoph Pezel, (Postilla Melanchthoniana = ) Argumentorum et obiectionum de praecipuis articulis doctrinae Christianae... partes IX, Neostadii 1580-1589. - Johannes Piscator, Aphorismi doctrinae Christianae, Herbornae 1589 5 1592. - Anton Sadeel, De veritate humanae naturae Jesu Christi Theologica et scholastica tractatio, Lausanae 1585, Genevae 1590. - Georg Sohnius, Disputatio de statu Filii Dei Incarnati, sive Christi &eav9pcbnoü duplici, humiliationis et exaltationis, Neostadii 1584. - Ders., De phrasibus, quibus Scriptura de Filio Incarnato utitur, Heidelbergae 1587. - Daniel Tilenus, In disputationes Roberti Bellarmini de Christo capite Ecclesiae notae et observationes, Gedani 1619. - Conrad Vorstius, De Persona et Officio Christi, Steinfurti 1597. - Ders., Anti-Bellarminus, Steinfurti 1610. - Johannes Wolleb, Compendium Christianae Theologiae, Basileae 1626 = Neukirchen 1935. - Hieronymus Zanchi, De Incarnatione Filii Dei, Heidelbergae 1593 2 1601. Zu 3.: Acta Colloquii Montis Belligartensis quod habitum est Anno Christi 1586, Tubingae 1587. - Johannes Affelmann, Contra disputationem Gregorii de Valentia sub titulo De vera Christi praesentia in Coelis tantum, Tubingae 1583. - Jakob Andreae, Contra disputationem Gregorii de Valentia sub titulo De vera Christi praesentia in Coelis tantum, Tubingae 1583. - Johann Arndt, Von der Vereinigung der Gläubigen mit Jesu Christo ihrem Haupte, Magdeburg 1620.- Johann Wilhelm Baier, Compendium Theologiae positivae, Ienae 1686 2 1691. - Georg Calixt, Disputatio Theologica de Persona et Officio Christi (1623): Werke in Auswahl 2, hg. v. Inge Mager, Göttingen 1982, 3 1 0 - 3 3 1 . - Brevis Consideratio recentis controversiae, de Divina apud creaturis praesentia: Necessaria et inevitabilis apologia, seu assertio decisionis solidae, Lipsiae 1625, 2 9 7 - 3 4 7 . - Abraham Calov, Socinianismus profligatus, Wittebergae 1652. - Ders., Examen doctrinae Syncretisticae de Persona Christi &eav9pä>nov, Wittebergae 1663. - Ders., Systematis Locorum Theologicorum... tomus septimus De fraterna Christi redemptione seu Xpwzoloyia, Wittebergae 1677. - Martin Chemnitz/Timotheus Kircher/Nikolaus Seinecker, Apologia oder Verantwortung des Christlichen Concordien-Buchs, Heidelberg 1683. - Johann Konrad Dannhauer, Christosophia, Argentorati 1638.-Ders., OSoaoReimarus ( 1 6 9 4 - 1 7 6 8 ) gezeigt; seine Untersuchungen, in denen er die Glaubwürdigkeit der Evangelisten angriff, erschienen nur wenige Jahre vor Beginn der hier behandelten Epoche postum als Wolfenbütteler Fragmente (s. T R E 6,350,26ff; 382,11 ff). So gibt es also beides: Deisten, die sich darum bemühten, den Deismus mit dem Christentum zu verbinden, und solche wie Reimarus und -»Voltaire, die nicht daran glaubten, daß das Christentum die Wahrheiten natürlicher Religion verkörpere, sondern es eher als ein auf Irreführung beruhendes Gebilde betrachteten.

1.2. Kant über die natürliche Religion und das Christentum.

1793 veröffentlichte Im-

manuel Kant in seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft das ausgereifte Ergebnis seiner Reflexionen über die Religion. Schon der Titel macht deutlich, daß in diesem Buch ein Verständnis von Religion dargestellt werden soll, das dem Ideal des 18. J h . von einer rein natürlichen und vernünftigen Theologie entspricht. Aber die religiöse Philosophie, die Kant hier darlegt, zeigt noch enge Verbindungen zum Christentum, auch tauchen die meisten der traditionellen christlichen Lehren hier auf, obwohl sie allerdings in der Weise neu interpretiert sind, daß die vernünftigen Wahrheiten, die sich in ihrer dogmatischen Form verbergen, deutlich zutage treten. Obwohl man sagen kann, daß sich bei Kant der in der folgenden Zeit immer mehr zunehmende Rückgang und sogar Ausschluß spezifisch christlicher Bezüge aus der Vernunftreligion durchaus schon abzeichnet, so wird in diesem Werk jedenfalls das Christentum als ein Ausdruck, wenn auch nicht in exakter oder in wissenschaftlicher Sprache, der grundlegenden Wahrheiten der natürlichen Religion dargestellt. In früheren Schriften hatte Kant, wie er meinte, die Unzulänglichkeit der Versuche eines theoretischen Gottesbeweises demonstriert (vgl. T R E 1 3 , 7 4 3 , 2 5 f f ) . D a b e i m a c h t e er aber gleichzeitig deutlich, d a ß , wenn auch alle angeblichen Beweise sich als nichtig erwiesen, dies doch nicht bedeutete, d a ß d a m i t der - » A t h e i s m u s an die Stelle der Religion träte. Vielmehr bedeute es nur soviel, d a ß Fragen nach G o t t nicht in den Bereich des Wissens gehörten, sondern in den des Glaubens. Dieser G l a u b e ist nun natürlich nicht eine Sache des reinen Beliebens. Kant beabsichtigte zu zeigen, daß anders als die theoretische Vernunft, die die R e a l i t ä t G o t t e s nicht belegen k a n n , die praktische Vernunft diese Realität voraussetzt, da sonst das moralische Leben keinen Sinn hätte. Kant n a h m die M o r a l sehr ernst und glaubte fest an die objektive W i r k l i c h k e i t der moralischen O r d n u n g . Dieses moralische Gesetz habe seine Grundlagen in der Vernunft, und wir kennten seine Forderungen an uns durch unsere eigene praktische Vernunft. In einem moralisch gelenkten Universum müsse a b e r die Glückseligkeit im Verhältnis zur Tugend stehen. D a r u m müsse ein höchster moralischer Regierer ( G o t t ) , der diesen Z u s t a n d garantiert, postuliert werden (s. T R E 1 3 , 6 8 4 , 3 4 f f ) . Ein englischer Kritiker Kants meint hierzu, d a ß Kant hier hinter die besten seiner eigenen Erkenntnisse zurückfalle, indem G o t t nicht auftrete als der Urheber und Erfinder des moralischen Gesetzes, sondern in der sehr viel weniger erhabenen R o l l e eines Zahlmeisters ( A . S . Pringle-Pattison, T h e Idea o f G o d , O x f o r d 1920, 35).

In anderer Weise behandelt nun Kant dieses T h e m a in seiner Schrift Die

innerhalb

der Grenzen der bloßen

Vernunft.

Religion

Kant beginnt dieses Buch mit einer B e h a u p t u n g , die in völligem Widerspruch zum vorherrschenden Aufklärungsdenken steht. Die meisten Aufklärer waren fest überzeugt von der Fähigkeit des M e n s c h e n zu seiner Besserung bis hin zur V e r v o l l k o m m n u n g und glaubten, in der G e s c h i c h t e der

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Jesus Christus VI

Menschheit einen stetigen moralischen Fortschritt entdecken zu können. Sie erhofften sich die Entstehung einer idealen Gesellschaft, in der die Menschen ihrer Vernunft gemäß leben würden und Gerechtigkeit und Friede herrschten. Kant greift diesen utopischen T r a u m an mit der Begründung, daß die historischen Tatsachen dieser Vorstellung eindeutig widersprächen. M a n mag zugeben, daß die Menschheit im Wissen und im materiellen Wohlergehen Fortschritte gemacht habe, es g ä b e aber keinen Hinweis auf einen moralischen Fortschritt. Vielmehr dränge sich der Schluß auf, d a ß im Menschen ein radikales Prinzip des Bösen vorhanden sei, das ihn an der Hinwendung zum Guten hindere. Wegen dieses H a n g s zum Bösen sei es nötig, den moralischen Willen im Menschen zu stärken und zu kräftigen, und hier liege die Aufgabe der Religion. In dieser Unterstützung des moralischen Lebens liegt nach Kant der einzige Beitrag, den die Religion leisten kann. Dogmen und Rituale, die keinen Bezug zur M o r a l haben, lehnt er ab. Religion, die behauptet, einen Wert an sich darzustellen, ist nutzlos, wenn nicht sogar schädlich.

In diesem Z u s a m m e n h a n g nun ist Jesus Christus zu sehen. Als Lehrer, der uns den Weg zum idealen Leben zeigte, brauchen wir ihn nicht, denn die Art, wie ein solches Leben sein sollte, ist unserer Vernunft zugänglich. „Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines G o t t moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unserer Vernunft" (Akademie Ausg. VI, 62). Allerdings kann es sehr lange dauern, bis wir diese Idee richtig verstehen. D a r u m kann ihre „ O f f e n b a r u n g " in einem konkreten Beispiel, Jesus Christus, durchaus für uns von Nutzen sein. S o kann man dann auch sagen, daß bei Kant die meisten der traditionellen christlichen Lehren und Bräuche als der moralischen Entwicklung des Menschen dienlich und einem guten Lebenswandel förderlich verstanden sind. Das Ziel dieses Lebens ist ein ethisches Gemeinwesen, das Reich Gottes. Sind diese Wirkungen, die die Religion als Hilfe gegen die Schwäche des menschlichen Willens hat, nun aber nur psychologischer Natur, oder kann man von einem Wirken göttlicher Gnade sprechen, durch das die menschlichen Bemühungen ergänzt werden? Kants Zustimmung zu der zweiten dieser beiden Fragen ist gewiß sehr zurückhaltend. „ D e r Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften, Vermögen und selbst zu unserer nicht völlig gereinigten, wenigstens schwachen Gesinnung, aller unserer Pflicht ein Genüge zu tun, ist transzendent und eine bloße Idee, von deren Realität uns keine Erfahrung versichern k a n n " (Akademie Ausg. VI,191). In der T a t , solange man auf der einen Seite die Autonomie des Menschen und dem gegenüber die deistische Vorstellung eines transzendenten und aus der Welt zurückgezogenen Gottes betont, ist es schwer zu erklären, wie es ein auf den Menschen ausgerichtetes Handeln Gottes geben könnte. M a n kann Kant aber auch noch anders interpretieren, indem G o t t die Rationalität ist, die sowohl transzendent als auch der Welt und der menschlichen Vernunft immanent ist. Versteht man G o t t in diesem zweiten Sinne, so ist so etwas wie eine Gotteserfahrung durchaus möglich, und in Kants letzten Schriften, im Opus postumum gesammelt, finden sich dazu noch genauere Ausführungen. Sicher ist dieses Werk fragmentarisch, und der Sinn bleibt oft dunkel, so daß jede Interpretation mit Fragen und Zweifeln behaftet bleibt. Es finden sich dort jedoch Sätze wie dieser: „Es ist ein Wesen in mir, was von mir unterschieden im Kausalverhältnisse der Wirksamkeit auf mich steht, welches, selbst frei d. i. ohne vom Naturgesetze im R a u m und Zeit abhängig zu sein, mich innerlich richtet (rechtfertigt oder verdammt), und ich der Mensch bin selbst dieses Wesen, und dieses nicht etwa eine Substanz außer mir, und was das Befremdlichste ist: die Kausalität ist doch eine Bestimmung zur Tat in Freiheit (nicht als Naturnotwendigkeit)."1 Aus dieser Zusammenfassung von Kants Gedanken zur Religion wird deutlich, was geschieht, wenn Jesus Christus aus dem Blickwinkel einer vorwiegend rationalistischen Philosophie verstanden wird. M e r k m a l e von universaler Gültigkeit und somit seine universale Bedeutung treten soweit in den Vordergrund, daß sein individuelles historisches Leben fast bedeutungslos wird.

Jesus Christus VI 2. Die Berufung auf die

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Erfahrung

2.1.1. Nur sechs Jahre nach Kants Werk über die Religion, erschien 1799 ein Werk, das dieses Thema in ganz anderer Weise behandelte, F.D.E. -»Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Schleiermacher wird eher der -»Romantik als der Aufklärung zugeordnet, und in mancher Hinsicht steht er in einem scharfen Gegensatz zu Kant. Rationalistisches und moralistisches Reden über die Religion lehnt er ab, er sieht das Wesen der Religion im Gefühl. Es muß jedoch betont werden, daß Schleiermacher unter „Gefühl" nicht bloße Emotionen versteht, sondern eine Form der Erkenntnis, die auch Intuition miteinschließt. Anders als Kant, der die Intuition auf die wahrnehmbaren Phänomene, wie sie in Raum und Zeit in Erscheinung treten, beschränkt sah, glaubte Schleiermacher, daß unsere tiefsten Intuitionen über das Wahrnehmbare hinausreichen. In seinem großen Werk Der christliche Glaube (1821/22) spricht Schleiermacher von dem „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl" (die Formel selbst erscheint in der 2. Auflage 1830/31, §4) als Wurzel der Religion; damit ist das Bewußtsein des Menschen von seiner Endlichkeit und Abhängigkeit gemeint. Dieses Bewußtsein, glaubte Schleiermacher, sei universal und trage in sich ein Bewußtsein von der Realität Gottes, so daß er dann sogar so weit gehen konnte, diesem Gefühl den Platz traditioneller Gottesbeweise einzuräumen (§33; vgl. T R E 13,684,53ff). Schleiermacher findet sich zwar durch seine Betonung des Gefühls im Gegensatz zu Kants Rationalismus, es wird sich aber zeigen, daß er sich mit seiner geringen Wertschätzung der wunderhaften und übernatürlichen Elemente im Christentum Kant und der Aufklärung durchaus anschließt. 2.3.2. Auch die oft vorgebrachte Behauptung, Schleiermacher „subjektiviere" die Religion, bedarfgewisser Einschränkungen und Konkretisierungen. Denn es war ganz sicher nicht seine Absicht, Religion auf die inneren Regungen der menschlichen Seele zu beschränken, wie —• Feuerbach das tut. Die Intuitionen des religiösen Bewußtseins sind, so glaubte Schleiermacher, auf eine Realität jenseits der menschlichen gerichtet. Nichtsdestoweniger hatte unleugbar eine „Wendung zum Subjekt hin" stattgefunden. Es trifft den Sachverhalt vielleicht genauer, wenn man sagt, Schleiermacher habe seine Theologie auf die Anthropologie gegründet, als zu sagen, er habe die Theologie subjektiviert oder auf die Anthropologie reduziert. Der entscheidende Punkt liegt darin, daß er die Grundlagen der Theologie nicht wie der orthodoxe Protestantismus in der Autorität der Schrift fand und auch nicht wie die Aufklärung in den dem Irrtum unterworfenen Aussagen der Vernunft, sondern in der gegenwärtigen Erfahrung der religiösen -»Gemeinschaft. Es ist wichtig, das Wort „Gemeinschaft" zu betonen, denn Schleiermacher war kein Individualist, und die Erfahrung, auf die er sich berief, war die gemeinschaftliche. Was der Theologie vorgegeben ist und wovon sie ursprünglich ausgeht, sind also die Gefühle oder Erfahrungen der religiösen Gemeinschaft; die Theologie setzt die „christlichen religiösen Gefühle" in Worte und Begriffe um, und zwar in systematischer und kritischer Weise (vgl. TRE 12,350,22 ff). 2.1.3. Wie ist nun aber diese Anthropologie oder Lehre vom Menschen beschaffen, die Schleiermachers Theologie als Grundlage dient? Für Schleiermacher gilt das absolute Abhängigkeitsgefühl für die menschliche Natur allgemein. Diesem Gefühl entspricht ein „Gottesbewußtsein", und beide scheinen sich gegenseitig zu bedingen, so daß also da, w o das absolute Abhängigkeitsgefühl mit aller Klarheit erfahren wird, das Gottesbewußtsein entsprechend stark ist. Da das religiöse Bedürfnis wesenhaft zum Menschen gehört und universal ist, kann der Mensch Glückseligkeit nur durch Erfüllung dieses religiösen Verlangens finden, d. h. nur durch das Aufblühen und Reifen des Gottesbewußtseins. Sünde besteht demgegenüber in einer Trübung und Verdunklung des Gottesbewußtseins.

2.1.4. Von dieser hier skizzierten Anthropologie geht Schleiermacher aus in seinem Verständnis von Person und Werk Jesu Christi. Darum ist diese Christologie zu Beginn unseres modernen Zeitalters das klassische Beispiel für das, was man dann als „Christologie von unten" bezeichnet hat, auch als „anabatische (Erhöhungs-)Christologie" oder sogar als „humanistische Christologie", und der Versuch, bei der Erklärung der Bedeutung Jesu Christi von der menschlichen Seite auszugehen, ist charakteristisch für die Mehrzahl der im 19. und 20. Jh. entworfenen Christologien. Welche Bedeutung diese Ausrichtung (die nicht notwendigerweise zu einer eingeschränkten Christologie führen

20

Jesus Christus VI

muß) für das christologische Denken hat, wird in dem dogmatischen Teil dieses Artikels untersucht werden (s.u. S.42ff). Der entscheidende Satz bei Schleiermacher ist: Christus ist die Vollendung der Schöpfung des Menschen (Der christl. Glaube, 2. Aufl. § 92). Die Menschheit war bis dahin nur in einem vorläufigen und unvollständigen Zustand vorhanden gewesen. Durch diese Aussage erhält Christus einen festen Platz unter den Menschen und eine Solidarität mit der ganzen Menschheit, während ihm aber auch gleichzeitig eine Einzigartigkeit dadurch gegeben ist, daß er frei von Sünde ist und ein ungetrübtes Gottesbewußtsein hat. Sagt aber dies nun genug über seine Einzigartigkeit und sein besonderes Gottesverhältnis? Vielleicht ja, denn für Schleiermacher heißt ein ungetrübtes Gottesbewußtsein eben genau das, nämlich die wahrhafte Gegenwart Gottes in Christus. „ . . . Christo ein schlechthin kräftiges Gottesbewußtsein zuschreiben, und ihm ein Sein Gottes in ihm beilegen, [ist] ganz eines und dasselbe . . . " (§ 94,2). Heißt das, man könne annehmen, Christus sei durch eine ganz natürliche Entwicklung aus der Menschheit hervorgegangen, und auch andere Menschen könnten diesen Entwicklungsgang durchmachen? Schleiermacher geht nicht so weit, dies zu behaupten, obwohl man argumentieren könnte, daß sich dieser Schluß logisch aus einer Christologie „von unten", die vom Verständnis der menschlichen Natur und deren Möglichkeiten ausgeht, ergibt. Schleiermacher unterscheidet zwischen „zufälliger" und „wesenhafter" Sündlosigkeit. Diese letztere ist es, die zu Christus gehört, und dazu war eine „neue . . . Einpflanzung des Gottesbewußtseins" notwendig (§ 94,3). Hiermit scheint Schleiermacher aber einem übernatürlichen Akt „von oben" in seiner Christologie doch einen Platz zuzugestehen, nicht so sehr viel anders als die traditionelle Vorstellung von der Inkarnation des Logos in Christus. Man mag dies als mangelnde Folgerichtigkeit in seinem Denken kritisieren; denn andere Punkte, wie etwa die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung Christi, versteht er nicht als Voraussetzungen für die Einzigartigkeit der Person Christi, sondern gesteht durchaus zu, daß dies Lehren seien, die wir glauben können, weil wir zuvor die erlösende Kraft Christi erkannt haben. Jedenfalls hält er es für notwendig, das andersartige Sein Jesu Christi deutlich zu betonen. Er ist nicht nur das Beispiel eines vollkommenen und vollendeten Menschseins, er ist auch der Erlöser, der Begründer und Ursprung der neuen Gemeinschaft. Er kann weder übertroffen noch überflüssig gemacht werden. Die anderen Glieder der Gemeinschaft sind von ihm abhängig, und ihr Gottesbewußtsein wird durch eine persönliche, quasi mystische Beziehung zu ihm vermittelt. 2.1.5. Trotz seiner Betonung des Gefühls war Schleiermacher kein Sentimentalist oder Romantiker. Die Schärfe und Kraft seines logischen Analysierens treten in seiner Kritik der Christologie des Chalcedonense deutlich zutage. Die Zwei-Naturen-Lehre gehe von einem Naturbegriff aus, der sowohl die göttliche als auch die menschliche Natur in sich schließen kann. Aber läßt sich dies überhaupt denken? Nur Endliches könne eine „Natur" haben, eine vergleichbare göttliche Natur gäbe es nicht. Auch sei Natur universal und trete in den vielen Einzelnen in Erscheinung. Aber in der klassischen Christologie sei dieser logische Grundsatz auf den Kopf gestellt, indem einem Individuum zwei Naturen zugeschrieben werden. Schließlich wirft Schleiermacher auch noch die Frage auf, ob der Gebrauch des Wortes „Person" in den christologischen Formeln der gleiche ist wie in den trinitarischen Formeln. Es gibt durchaus Antworten auf diese Kritikpunkte (s. u. S. 23.26), gleichzeitig weisen sie aber auf Schwierigkeiten hin, die sich für die klassische Christologie, so wie sie gewöhnlich verstanden wurde, ergeben. 2.2. Schleiermacher selbst stellt für seine Behandlung Jesu Christi einen eingeschränkten Anspruch: „ W i e diese Auseinandersetzung ganz auf die innere Erfahrung zurückgeht, und nur diese beschreibt und erleuchtet [ s . o . 2 . 1 . 2 ] : so kann sie natürlich keinen Anspruch darauf raachen, ein Beweis sein zu wollen, daß es so habe sein müssen, welches auf dem Gebiet der Erfahrung nur sofern möglich ist, als Mathematik dabei angewendet werden kann, was hier keineswegs stattfindet. Sondern es soll nur dargelegt werden, daß die vollkommene Befriedigung, welche wir anstreben, in dem Bewußtsein

Jesus Christus VI

21

des Christen von seinem Verhältnis zu Christo nur wahrhaft enthalten sein kann, sofern das Bewußtsein ein solches Verhältnis, wie hier beschrieben worden, ausdrückt" (§ 100,3).

Schleiermachers Wirkung war sehr groß, wie sich zeigen wird, und hält auch noch bis in unsere Tage an. Trotzdem hatte er keinen Nachfolger von Bedeutung, der die von ihm neu aufgeworfene Fragestellung an Religion und Theologie fortgeführt hätte, und im besonderen die Fragestellung um Jesus Christus sollte dann eine ganz andere Richtung einschlagen. 3. Das Christusverständnis

im —>Idealismus

3.1.1. 1804 starb Kant, und man hätte erwarten sollen, daß nach seinen kritischen Untersuchungen zur Metaphysik für lange Zeit nichts mehr zu diesem Thema zu sagen gewesen wäre. Kant hatte jedoch selbst zugegeben, daß der menschliche Geist nicht umhin könne, metaphysische Fragen zu stellen, auch wenn er nicht in der Lage sei, sie zu beantworten. So waren noch keine drei Jahre seit Kants Tod vergangen, als G.W.F. -•Hegels monumentale Phänomenologie des Geistes erschien (1807), ein Werk, in dem die Prinzipien der umfassendsten spekulativen Philosophie, die je entworfen worden war und deren weitere Ausführung und Ausarbeitung Hegel für den Rest seines Lebens beschäftigten, niedergelegt waren. 3.1.2. Es herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, daß Hegel über sein religiöses Interesse zur Philosophie gelangte. 1795 entstanden die Fragmente Die Positivität der christlichen Religion (zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht; Jugendschriften, hg.v. Nohl, 1 3 7 - 239). Hier wurde das Christentum, sehr ähnlich wie bei Kant, rationalistisch dargestellt. Die positiven oder besonderen Gegebenheiten des Christentums (seine Dogmen, seine Liturgie, kirchliches Amt usw.) seien zufällig hinzugekommene Äußerlichkeiten, die um den ursprünglichen christlichen Glauben, eine rein natürliche und vernünftige Religion, herumgewachsen seien. Jesus selbst habe eine rein moralische Religion gelehrt, behauptete Hegel, offensichtlich ohne sich der historischen Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung bewußt zu sein. In einer gleichfalls nicht veröffentlichten, wenig später verfaßten Schrift, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798/99; a.a.O. 2 4 1 - 3 4 2 ) , zeichnet sich die Abwendung vom Kantianismus und die Hinwendung zu einem mehr dialektischen Denken ab. Hier betont Hegel, daß die Vernunft allein nicht in der Lage sei, geistige Wahrheiten zu verstehen, sondern daß ein inneres Besitzergreifen in der Tiefe des Geistes notwendig sei. Es wäre gar nicht so falsch zu sagen, daß Hegel hier so etwas wie den Versuch einer dialektischen Verbindung von Kants Rationalismus mit einem Schleiermacher näher stehenden Denken unternimmt; dabei liegt der Schwerpunkt in dieser Dialektik ganz entscheidend auf der rationalistischen Seite. Wenn Hegel Schleiermacher erwähnt, dann gewöhnlich, um ihn zu kritisieren, und obwohl er dem Gefühl seinen Platz zugesteht, sagt er doch, daß das Gefühl nur eine unmittelbare Erkenntnis hervorrufen könne, die dann durch einen Erkenntnisakt vertieft werden müsse, wenn Religion überhaupt in ihrer objektiven Vernünftigkeit dargestellt werden solle. In dem ausgereiften System der Hegeischen Philosophie sind dann die konkreten Bilder der Religion in Begriffe der absoluten Philosophie aufgelöst.

3.1.3. Alle wesentlichen Gedanken des späteren, voll ausgearbeiteten Systems finden sich schon in der Phänomenologie des Geistes. Hier wird die Entfaltung des Absoluten Geistes dargelegt; die Dreiheit dieses Geistes entspricht auf der philosophischen Ebene der christlichen Lehre vom dreieinigen Gott. Der Geist ist in Hegels Philosophie die letzte Wirklichkeit. „Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende, — das sich Verhaltende und Bestimmte, das Anderssein und Fürsichsein - und in dieser Bestimmtheit oder seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende; — oder es ist an und für sich" (SW, hg. v. Glockner, 2,27 f). Charakteristisch für dieses Entfalten des Geistes in der Geschichte und in der Natur ist eine Dialektik, ein Zusammenprall von Gegensätzen, deren Synthese auf einer höheren Ebene stattfindet. Diese Dialektik „ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist so wie ihr Aufgehobensein, also in sich pulsiert, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu sein" (SW2,134). 3.1.4. In dieser komplexen Bewegung des Geistes lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die erste ist Absoluter Geist, Ursprung von allem, vollkommen in sich selbst. Dieser

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Jesus Christus VI

Absolute Geist ist in gewissem Sinne nur eine Vorstellung, eine „am Anfang" gesetzte hypothetische Realität, denn in Wirklichkeit gibt es keinen Anfang, und der Absolute Geist ist von Ewigkeit her aus sich hervorgegangen, um etwas anderes zu werden und um sich selbst in und durch das Andere zu erkennen. Oder, anders ausgedrückt, das Absolute ist zur Erkundung seiner eigenen Möglichkeiten in den endlichen und den zeitlich-historischen Bereich gegangen. Theologisch könnten wir dann sagen, daß das Lamm Gottes von der Gründung der Welt an getötet worden ist, das heißt, daß das Absolute sich von aller Ewigkeit her geopfert hat. Wenn Hegel aus einem protestantischen Lied die Trauerworte „Gott selbst ist tot" zitiert (SW 16,306) 2 , so natürlich nicht im Sinne -»Nietzsches, sondern so, daß der an sich seiende Absolute Geist in die Ferne des Endlichen hinausgegangen ist. Offensichtlich entspricht der Absolute Geist dem Vater in der christlichen Trinität, während die zweite Phase im allgemeinen Entfalten des Geistes dem Sohn oder dem Logos entspricht. Der Geist inkarniert sich selbst in der historischen Welt des Endlichen, und dies ist auch die Stelle, wo das tatsächliche historische Opfer stattfindet. Christus ist ein Mensch mit dem Bewußtsein, mit dem Absoluten Geist eins zu sein; aber in einem in erster Linie rationalistischen Verständnis Jesu Christi geht, wie wir auch schon bei Kant gesehen haben, das konkrete historische Individuum eigentlich in der allgemeinen Wahrheit, die es verkörpert, auf. So kann Hegel schreiben, daß in der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur alles, was zu einer äußeren Individualität gehörte, aufgehoben sei; in der Tat sei das Endliche aufgehoben. Darum sei die Inkarnation in Jesus nicht als ein einmaliges Geschehnis zu betrachten, sondern sie sei eine zeichensetzende Verwirklichung der Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen von beispielhaftem Charakter, wie sie als Möglichkeit für jeden Menschen gegeben sei. Zwar wäre es unrichtig zu behaupten, daß das Historische bei Hegel völlig an Bedeutung verliert, denn nur im geschichtlichen Prozeß können die Schätze des Absoluten Geistes niedergelegt werden und zutage treten; jedoch haben geschichtliche Ereignisse nur insofern Bedeutung, als durch sie transhistorische Wirklichkeit zutage tritt. Die dritte und letzte Phase in der großen Bewegung des Geistes ist die der Rückkehr des Endlichen zu seinem Ursprung, was aber nicht heißt zu seinem ursprünglichen Zustand, sondern bereichert mit allem, was in der Bewegung des exitus und reditus hinzugewonnen wurde (vgl. T R E 12,647, llff). 3.1.5. Natürlich schrieb Hegel als Philosoph und nicht als Theologe, obwohl er sich selbst als einen an Gott glaubenden Menschen, als Christen und speziell als Lutheraner betrachtete. Er unternahm jedoch nicht den Versuch, die theologischen Konsequenzen seiner Gedanken im einzelnen auszuziehen. Nicht wenige andere Theologen haben es dann aber unternommen, Hegels Philosophie als Grundlage für ihr theologisches Denken fruchtbar zu machen. 3.2. F. Chr. ->Baur wird im allgemeinen als Hegelianer bezeichnet, obwohl er auch Schleiermacher sehr viel verdankt. Er glaubte, von jedem dieser beiden Denker sei Christus so idealisiert worden, daß die historische Person Jesu ganz und gar in der Idealvorstellung aufgegangen sei. Daher seine Frage: „Kann man überhaupt von dem Wesen und Inhalt des Christentums reden, ohne zum Hauptgegenstand der Betrachtung vor allem die Person seines Stifters zu machen, und den eigenthümlichen Charakter des Christentums eben darin zu erkennen, daß es alles, was es ist, einzig nur durch die Person seines Stifters i s t . . . ?" (Das Christentum u. die christl. Kirche der drei ersten Jh., Tübingen 1853,22). So unternahm Baur den Versuch, einen Einklang zwischen den widerstreitenden Tendenzen zu finden und, wenn auch vielleicht nicht die Identität Jesu Christi, so doch wenigstens die notwendige Verbindung zwischen den idealen und den historischen Aspekten Jesu Christi aufzuzeigen. Wenn die Bedeutung Jesu Christi nun darin liegt, daß er in sich selbst die Einheit von Gott und Mensch darstellt, dann ist dies nicht etwas, was als ein Dogma oder eine metaphysische Wahrheit begriffen werden kann, sondern es muß in das Bewußtsein der Menschheit eindringen durch die Person und Geschichte Jesu, wie er war. Hier gerade

Jesus Christus V I

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liegt die Bedeutung seiner G e s c h i c h t e . Christus ist beides zugleich, das Ideal oder der A r c h e t y p eines göttlichen M e n s c h e n und eine G e s t a l t der G e s c h i c h t e , die tatsächlich gelebt hat, und keine dieser beiden Seiten d a r f verdrängt werden. I m Neuen T e s t a m e n t finden sich die beiden Arten des gegensätzlichen Verständnisses J e s u bei J o h a n n e s und bei P a u l u s . D a s Evangelium des J o h a n n e s beginnt „ v o n o b e n " mit dem göttlichen W o r t , das in d e m M e n s c h e n Jesus Fleisch wird. Paulus beginnt „ v o n u n t e n " mit Jesus als w a h r h a f t m e n s c h l i c h e m S u b j e k t aus Fleisch und Blut, in dessen M e n s c h l i c h k e i t sich jedoch die G o t t h e i t manifestiert. M a n k ö n n t e d a r ü b e r streiten, o b der G e g e n s a t z tatsächlich so s c h a r f gezeichnet werden sollte, a b e r die F o r d e r u n g n a c h einem Ausgehen „ v o n u n t e n " , von der menschlichen und historischen T a t s ä c h l i c h k e i t , stellt ein wichtiges Korrektiv zu den doketischen Tendenzen des Hegelianismus d a r und führt zurück zur „ H u m a n i s i e r u n g s t e n d e n z " Schleiermachers, die als wegweisend für die meisten m o d e r n e n C h r i s t o l o gien bezeichnet werden k a n n . 3.3. Hieran schließt sich I.A. -»Dorner, ein Schüler Baurs, mit weiteren interessanten Überlegungen zur Bedeutung von Zeit und Geschichte für das Verständnis Jesu Christi an. Sein Hauptargument besteht darin, daß Inkarnation nicht als ein zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt geschehenes momentanes Ereignis zu verstehen ist, sondern vielmehr als ein ausgedehnter Prozeß. Teilweise findet sich dieses Verständnis schon bei Schleiermacher, wenn er sagt, daß Jesus Christus die Vollendung der menschlichen Schöpfung sei; außerdem hatte er auch betont, daß es in Jesus selbst eine Entwicklung gäbe, die sich allerdings, wie er glaubte, ohne Konflikt vollzogen habe dank des neu eingepflanzten Gottesbewußtseins. Auch in dem, was Hegel über die Entfaltung des Absoluten Geistes in der Geschichte sagt, ist deutlich ein Inkarnationsprozeß enthalten. Bei Dorner werden diese Gedanken in neuer Weise präzisiert. Er verstand den Tod Jesu nicht nur als Abschluß seines irdischen Werkes, sondern auch als die Vollendung seiner Person. Solange er lebte, nahm Jesus sozusagen zu an Christus-sein, aber „die gottmenschliche Unio in ihm [war] zunächst vor seinem Tode noch nicht vollständig verwirklicht . . . über Leidentlichkeit und Sterblichkeit, ja auch über Anfechtungen und Versuchungen war er noch nicht erhaben, daher auch seine Seligkeit noch nicht vollkommen" (System der christl. Glaubenslehre, Berlin 1879-1881, II, § 123,1.2,660) - ein realistischeres Verständnis, als wir es bei Schleiermacher finden. Das vierte Evangelium klingt durch, wenn Dorner sagt, „daß die Erhöhung Jesu am Kreuz, äußerlich die tiefste Erniedrigung, selber schon als persönliche Erhöhung, Verherrlichung oder Verklärung gedacht wird." 3.4.1. A b e r der g r ö ß t e , vielleicht verheerendste Einfluß auf das Verständnis J e s u C h r i sti, der den N a c h f o l g e r n Hegels zuzuschreiben ist, geht von einem anderen Schüler F. C . B a u r s aus, von D . F . - > S t r a u ß ( 1 8 0 8 - 1 8 7 4 ) . Bei S t r a u ß wird die enthistorisierende und universalisierende Tendenz, die sich schon bei H e g e l findet, a u f die Spitze getrieben. E r f ü h r t e den Begriff des -*Mythos in die n e u t e s t a m e n t l i c h e W i s s e n s c h a f t ein, und sein Leben Jesu (1835) n i m m t G e d a n k e n B u l t m a n n s v o r w e g , an denen sich m e h r als ein J a h r h u n d e r t später der Streit u m die „ E n t m y t h o l o g i s i e r u n g " entzünden sollte. 3.4.2. S t r a u ß m a c h t e darauf a u f m e r k s a m , d a ß die R e l i g i o n e n in ihren Ursprüngen auf eine Z e i t zurückgehen, als die M e n s c h e n g l a u b t e n , G o t t oder die G ö t t e r griffen unmittelb a r handelnd in die Welt und in m e n s c h l i c h e Angelegenheiten ein. A b e r wir in unserem heutigen, modernen Zeitalter sähen alle Ereignisse als i m m a n e n t und an einen kausalen und historischen Z u s a m m e n h a n g gebunden an. Diese T a t s a c h e bereite den überlieferten religiösen G e s c h i c h t e n Schwierigkeiten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Aussage, G o t t h a b e J e s u s von den T o t e n a u f e r w e c k t . F ü r eine solche Aussage findet S t r a u ß eine dialektische Interpretation: a) W ö r t l i c h verstanden bedeutet sie, d a ß es sich hier u m ein ü b e r n a türliches Ereignis handelt, und als solches k a n n diese Aussage v o m m o d e r n e n B e w u ß t s e i n n i c h t akzeptiert werden, b) M a n k a n n diese Aussage aber a u c h a u f eine natürliche Art und Weise interpretieren, d . h . dahingehend, d a ß J e s u s nicht wirklich t o t w a r und in der Kühle des G r a b e s wieder zu sich k a m . Dies w ä r e eine für das m o d e r n e Verständnis g l a u b h a f t e E r k l ä r u n g , die der G e s c h i c h t e j e d o c h jegliche B e d e u t u n g n ä h m e , c) D i e G e s c h i c h t e ist als M y t h o s zu verstehen. Dies ist bei S t r a u ß kein a b w e r t e n d e r Begriff. D e r M y t h o s ist eine Schöpfung des Geistes, durch die eine religiöse W a h r h e i t , in diesem Falle die unauflösliche Einheit J e s u mit dem göttlichen G e i s t , z u m A u s d r u c k g e b r a c h t werden soll.

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Jesus Christus VI

3.4.3. Diese Methode wendet Strauß nun in allen Einzelheiten auf die Interpretation der Evangelienberichte an (vgl. TRE 6,383,26ff). Fall für Fall macht er die Unangemessenheit sowohl der übernatürlichen als auch der natürlichen Interpretation deutlich, so daß sich ergibt, daß jede Geschichte jeweils als ein Mythos zu verstehen ist, der um seiner ihm eigenen religiösen Bedeutung willen erzählt wurde. Allerdings geht er nicht so weit zu behaupten, daß die Evangelienberichte völlig frei erfunden seien oder daß Jesus niemals existiert habe. Im Gegenteil, er gibt zu, daß in manchen Fällen unmittelbar Erinnerungen an Jesus in den Bericht mit eingegangen seien. Aber er deckt auch ein sehr überzeugendes Motiv auf, das hinter den dichterischen Schöpfungen des menschlichen Geistes gestanden habe. Jesus war mit dem im Alten Testament verheißenen Messias identifiziert worden. Darum suchten die frühen Christen in der hebräischen heiligen Schrift nach messianischen Verheißungen. Da sie nach auf Jesus hinweisenden Verheißungen suchten, war es ganz natürlich, daß sie ihn auf jeder Seite, die sie lasen, fanden - gerade so, sagt Strauß, wie jemand, der in die Sonne geblickt hat, sie bei allem, worauf er dann blickt, durchscheinen sieht. Ganz besonders wichtig war es aber für die Christen, Ankündigungen zu finden, die auf einen leidenden Messias hinwiesen, um so ihr Bekenntnis zum gekreuzigten Jesus vor den Juden zu rechtfertigen. In diesem Falle beeinflußte dann die erinnerte Tatsache der Kreuzigung Jesu ihre Auslegung des Alten Testaments, während sonst generell umgekehrt die von den Christen auf Jesus bezogenen alttestamentlichen Verheißungen ihren Bericht über Jesus beeinflußten und dazu führten, daß sie Ereignisse erfanden, die sein Leben und Werk den Verheißungen konform machen sollten. Strauß versteht ihre Gedankengänge dabei folgendermaßen: „An ihm, dem Messias, endlich mußte Alles, was im Alten Testament Messianisches geweissagt war, in Erfüllung gegangen sein, er konnte nicht anders, als dem von den Juden im Voraus entworfenen Schema des Messias . . . entsprochen haben" (Das Leben Jesu, Tübingen 1 1836. § 12). Z. B. ist im Alten Testament angekündigt, daß der Messias in Bethlehem geboren würde, darum mußte eine Geschichte erfunden werden, die von seiner dortigen Geburt berichtete, obwohl er der Erinnerung nach aus Nazareth stammte. 3.4.4. Der Evangelienbericht wird in Strauß' ausführlichem und ins Einzelne gehendem Werk geradezu seziert, und der erste Eindruck nach der Lektüre ist der, daß jetzt der Glaube zerstört w o r d e n sei. Sicher bleibt v o n d e m traditionellen Verständnis von Leben und Wirken Jesu nicht mehr als ein Scherbenhaufen. Dies bedeutet aber nicht das Ende des Christentums. Die Evangelien sind nicht einfach Geschichtsschreibung, sondern eine literarische Schöpfung besonderer Art, die man verschieden bezeichnen kann als reflektierte Geschichte, M y t h o s , Glaubensbekenntnis oder sogar als D o g m a . Dieser Bericht lehrt auf seine ganz eigene Art und Weise höchste philosophische Wahrheiten. Z w e i f e l l o s spricht er von der Vereinigung eines Menschen mit Gott, doch sie repräsentiert die Einheit der ganzen Menschheit mit Gott. O b allerdings das Christentum eine derart radikale U m f o r m u n g seiner historischen Wurzeln überleben kann, steht in Frage, wie sich auch an Strauß' eigener allmählicher Abkehr v o m christlichen Glauben zu einer naturalistischen Philosophie hin gezeigt hat. 3.5. Lange nachdem der Hegelianismus seinen Höhepunkt in Deutschland bereits überschritten hatte, erwachte er in England zu neuem Leben; in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. griffen englische Philosophen den Gedanken auf, das Christentum sei die Manifestation absoluter und universaler Religion, und beeinflußten damit die Theologie ihrer Zeit. Dem, was ihre Vorgänger in Deutschland hierzu gesagt hatten, fügten sie nichts Neues hinzu. Edward Caird (1835-1908) stellte Jesus Christus als die „Verkörperung eines göttlichen Menschseins" dar, aber nachdem die allgemeine Idee in einem Körper Gestalt geworden ist, können wir „die Idee von den Zufälligkeiten von Zeit, Ort und Umständen loslösen und sie als ein allgemeines Prinzip darstellen" (The Evolution of Religion, London 1893,11,221). Francis Herbert Bradley (1846-1924) ging so weit zu sagen, „es besteht eine Notwendigkeit, ja sogar in gewisser Weise die Forderung nach einer neuen Religion" (Essays on Truth and Reality, Oxford 1914,446). Diese neue Religion könne jedoch eine Modifikation derjenigen sein, die wir bisher hatten. Das Christentum sei zu verstehen als die Einheit von Gott mit endlichen Seelen, und hierbei handele es sich um eine so grundlegende Wahrheit, daß sie in keiner Weise von bestimmten historischen Aussagen abhängig sein könne. Selbst die Frage, ob Jesus tatsächlich gelebt habe, ist hier relativ unwichtig. 4. Der Protest

eines

Einzelgängers

Z u den bisher vorgetragenen M e i n u n g e n im schärfsten Gegensatz steht der dänische Philosoph Sören -•Kierkegaard. Für ihn hat die Existenz Vorrang vor dem Wesen. D i e

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konkrete Einzelperson oder -sache ist ihm wichtiger als das universale Prinzip; folglich, da solche individuell Existierenden einzigartig sind, widersetzen sie sich den Versuchen des Denkens, sie in rationale Systeme zu ordnen; weiterhin, da der Denkende selbst ein Existierender ist, ein „existierender D e n k e r " , sieht er die Dinge nur von dem Punkte aus, an dem er selbst existiert, und ein umfassendes Denksystem ist ihm nicht möglich eigentlich wäre dies nur Gott möglich; und weiterhin ist eine Frage, die ein existierender D e n k e r stellt, nicht ein theoretisches Unterfangen, sondern auf seine Existenz bezogen; so fragt man z. B. nicht „Was ist Christentum?", sondern vielmehr „ W i e werde ich Christ?". Voraussetzungen zum Verständnis des Christentums sind darum nicht Intelligenz oder historisches Wissen, sondern die Erfahrung von Angst, Endlichkeit und Sünde. W i e also denkt Kierkegaard von Jesus Christus? Vor allem ist hier kein idealisierter Christus dargestellt, sondern dieser ganz besondere Mensch in seiner Niedrigkeit und Knechtschaft, der Mensch, der so, wie er war, für seine Mitbürger ein Ärgernis darstellte. Dieser Mensch ist auch Gott. Diese Aussage ist ein absolutes Paradox. Der Versuch, sie beweisen zu wollen, ist töricht. Wenn die Vernunft sich mit dieser Frage befaßt, stößt sie auf ein Unbekanntes, das jenseits der Vernunft liegt (Phil. Brosamen u. unwiss. Nachschrift, hg.v. H. Diem/W. Rest, Köln/Olten 1959,59). Entweder man nimmt daran Anstoß und wendet sich ab; oder man tut den Sprung des Glaubens über die Vernunft hinaus. D e r - » G l a u b e sei nämlich nicht eine unvollendete F o r m des Wissens, so daß es darum ein Irrtum sei, wenn man versuche, Glauben in Wissen zu verwandeln, wie die es tun, die Beweise für die Existenz Gottes ausdenken (—»Glaube u. Denken). Glaube habe seinen eigenen Status und seine eigene Würde und sogar seine eigene Wahrheit - subjektive Wahrheit im Unterschied zur objektiven: „Die objektive Ungewißheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit, ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für den Existierenden g i b t " (ebd. 345). Für die subjektive, in Innerlichkeit zueigen gemachte Wahrheit erscheinen objektive Beweise irrelevant. So sind historische Fakten über Jesus für Kierkegaard uninteressant. D i e genaueste Kenntnis solcher Fakten würde doch niemals beweisen, daß er Gott ist, denn dies ist eine Aussage ganz anderer Art. (Kierkegaard stellt übrigens nicht die Frage, o b die Kenntnis von Fakten den Anspruch des Glaubens widerlegen könne.) Diese Absage an das Historische bedeutet aber auch, daß es in unserem Verständnis Jesu Christi keinen Weg von der Menschheit zur Gottheit gibt. Wenn man von dem Menschen ausgeht, so gibt es für Kierkegaard keine Möglichkeit, die Kluft, die von der Gottheit trennt, zu überbrücken. Am Anfang muß die Annahme des Paradoxons vom G o t t - M e n s c h e n stehen. Die Unwichtigkeit der historischen Fakten über Jesus k o m m t in aller Deutlichkeit in den oft zitierten Worten zum Ausdruck: „Selbst wenn die gleichzeitige Generation nichts anderes hinterlassen hätte als diese Worte: ,wir haben geglaubt, daß der G o t t sich anno so und so in der geringen Gestalt eines Knechtes gezeigt hat, unter uns gelebt und gelehrt hat und darauf gestorben i s t ' - das wäre mehr als g e n u g " (ebd. 122). Auch bei Kierkegaard scheint, trotz seiner Betonung des Individuums, Jesus Christus aufzugehen in seiner Bedeutungsfunktion für ein Verstehen Gottes. Es ließe sich durchaus vertreten, daß die zentrale Aussage, die Kierkegaard in seiner christlichen Philosophie macht, darin besteht, daß Gott seine Majestät abgelegt hat, um ein Knecht zu werden und sich an die Seite seiner Geschöpfe zu stellen. Diese Aussage ergibt sich jedenfalls aus dem Gleichnis von dem König, der nicht nur zum Schein, sondern als wirkliche T a t seinen Königsthron aufgibt, um ein Mädchen aus niederem Stand zu freien. Dies ist auch wieder ein „ T o d G o t t e s " , nur in anderer Version, als wir ihn bei Hegel fanden. „Die Knechts-Gestalt des Gottes ist indessen keine angenommene, sondern eine wirkliche . . . und der G o t t hat sich von der Stunde an, da er durch den allmächtigen Beschluß seiner allmächtigen Liebe Knecht wurde, sozusagen selbst in seinem Beschluß gefangen und muß nun dabei bleiben, (um töricht zu sagen) ob er will oder n i c h t . . . und die Gegenwart des Gottes in menschlicher Gestalt, ja in der geringen Gestalt des Knechtes, ist ja gerade die L e h r e " . Und an anderer Stelle schreibt er: „Denn das ist die Unergründlichkeit der Liebe, nicht zum Spaß,

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Jesus Christus VI

s o n d e r n i m E r n s t u n d in W a h r h e i t , m i t d e m G e l i e b t e n g l e i c h sein z u w o l l e n "

(ebd.

68.42f). 5 . Zwischenspiel 5.1.1.

der

Kenosislehre

M i t d e m W o r t „ K e n o s i s " w i r d g e w ö h n l i c h e i n e A r t , die P e r s o n C h r i s t i z u v e r -

s t e h e n , b e s c h r i e b e n , bei d e r d e r g ö t t l i c h e L o g o s o d e r d i e z w e i t e P e r s o n d e r T r i n i t ä t d u r c h e i n e S e l b s t - E n t ä u ß e r u n g in d i e B e g r e n z t h e i t e i n e s u n m o d i f i z i e r t e n M e n s c h s e i n s e i n g e h t . D e r A n s t o ß dazu k o m m t von d e m berühmten (paulinischen oder vorpaulinischen) Christushymnus im

-»Philipperbrief:

„ E r [Jesus Christus], der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen R a u b , G o t t gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt a n , ward den M e n s c h e n gleich und der Erscheinung n a c h als M e n s c h erkannt. E r erniedrigte sich selbst und ward g e h o r s a m bis zum T o d e , ja zum T o d e am Kreuz. D a r u m hat ihn auch G o t t erhöht und hat ihm den N a m e n gegeben, der über alle N a m e n ist, daß in dem N a m e n J e s u sich beugen sollen aller derer Knie, die im H i m m e l und auf Erden und unter der E r d e sind, und alle Zungen bekennen sollen, d a ß Jesus Christus der Herr ist, zur E h r e G o t t e s des V a t e r s " (Phil 2 , 6 - 1 1 ) . 5.1.2.

D i e b e s o n d e r e A t t r a k t i v i t ä t d e s k e n o t i s c h e n C h r i s t u s v e r s t ä n d n i s s e s liegt in d e r

V e r m i t t l u n g z w i s c h e n v e r s c h i e d e n e n C h r i s t o l o g i e n . E i n e r s e i t s ist es a l s V e r s u c h z u v e r s t e h e n , e i n e A n t w o r t z u finden a u f d i e seit S c h l e i e r m a c h e r s Z e i t g e s t e l l t e F o r d e r u n g , d a ß d i e in d e n t r a d i t i o n e l l e n F o r m u l i e r u n g e n a l l z u o f t v e r s c h l e i e r t e M e n s c h h e i t C h r i s t i s e h r e r n s t g e n o m m e n w e r d e n m ü s s e . A n d e r e r s e i t s stellt d i e K e n o s i s l e h r e e i n e C h r i s t o l o g i e

„von

o b e n " d a r , w o d u r c h sie d e m v o r g e g e b e n e n Ü b e r l i e f e r u n g s r a h m e n v e r p f l i c h t e t b l e i b t u n d j e n e g e f ä h r l i c h e n P f a d e v e r m i e d e n w e r d e n , die z u r A u f l ö s u n g v o n J e s u s C h r i s t u s in d e n Spekulationen von Strauß und Feuerbach geführt hatten. Unglücklicherweise

erfreute

s i c h d i e s e v e r m i t t e l n d e P o s i t i o n bei d e n m e i s t e n T h e o l o g e n als b l o ß e r K o m p r o m i ß k e i n e r g r o ß e n W e r t s c h ä t z u n g , u n d a u s d i e s e m G r u n d k a n n m a n die K e n o s i s l e h r e n u r a l s v o r übergehende E p i s o d e im D e n k e n des 19. Jh. beschreiben. 5.1.3.

A m ü b e r z e u g e n d s t e n u n d a u s f ü h r l i c h s t e n findet s i c h die k e n o t i s c h e P o s i t i o n bei

G o t t f r i e d - » T h o m a s i u s ( 1 8 0 2 — 1 8 7 5 ) . A n s ä t z e d a z u finden sich in s e i n e n Beiträgen kirchlichen

Christologie

tel Darstellung gie aus,

( 1 8 4 5 ) ; in Christi

der evangelisch-lutherischen

Person

und

Werk

Dogmatik

vom

zur

( 1 8 5 3 - 6 1 ) , mit dem UntertiMittelpunkte

der

Christolo-

ist sie d a n n in a u s g e a r b e i t e t e r F o r m d a r g e s t e l l t .

T h o m a s i u s rückt ausdrücklich von Schleiermachers Aussage a b , die I n k a r n a t i o n sei die Vollendung der Schöpfung des M e n s c h e n , und noch deutlicher von Strauß' Position, hierin k o m m e die allgemeine Wahrheit der Einheit des M e n s c h l i c h e n und des Göttlichen zum Ausdruck. Was beiden Positionen fehle, sei, d a ß sie nicht ausreichend zwischen dem geschöpflichen Sein und dem Sein G o t t e s unterschieden. Aber T h o m a s i u s gibt als Möglichkeit zu, daß der M e n s c h G o t t in sich aufnehmen und von G o t t durchdrungen werden k ö n n e , und er glaubt, daß eine Affinität dieser Art die notwendige Vorbedingung für die I n k a r n a t i o n sei. Er verbindet die Kenosislehre mit dem traditionellen lutherischen Verständnis, daß, o b w o h l der L o g o s die Grenzen menschlicher E x i s t e n z in Erkenntnis, Leben und Handeln unendlich überschreitet, in dem Geheimnis der I n k a r n a t i o n nichts von dem Logos außerhalb des inkarnierten Sohnes verbleibt. W ä r e etwas von dem L o g o s a u ß e r h a l b Christi verblieben, müßte man von einer doppelten Persönlichkeit sprechen. D e r Logos m u ß sich also sozusagen in die Menschheit des Sohnes hineinfügen, und dies k o n n t e nur durch eine freiwillige Selbstbegrenzung erreicht werden. Aber wie k a n n es eine solche Begrenzung ohne Verringerung oder am Ende sogar ein Verschwinden des Logos geben? Auf diese Frage gibt T h o m a s i u s zwei Antworten. In der einen A n t w o r t scheint (bis hin zur Wortwahl) v o r w e g g e n o m m e n , was Karl Barth später sagt: „ d a ß es G o t t ebenso natürlich ist, niedrig wie hoch . . . zu s e i n " (K. B a r t h , K D I V / 1 , 2 1 0 ) . D a m i t ist genau dasselbe gesagt wie bei Kierkegaard, und auch hier stimmt T h o m a s i u s fast wörtlich mit Kierkegaard überein, wenn er sagt: „ D a s Wesen der Liebe a b e r ist gerade dieses . . . daß sie jede, auch die äußerste Beschränkung auf sich zu nehmen v e r m a g . . . Was n a c h der einen Seite als Veräußerlichung oder Verendlichung der G o t t h e i t erscheint, ist so nach der andern Seite die tiefste Verinnerlichung ihrer selbst, die Concentration ihrer Energie auf einen Punkt, welcher . . . seiner Bedeutung nach die umfassendste Manifestation der Allmacht weit ü b e r w i e g t " ( G . T h o m a s i u s , Christi Person u. W e r k , Erlangen 2 1 8 5 7 , 1 1 , 2 0 5 ) . In seiner zweiten A n t w o r t benutzt T h o m a s i u s seine b e k a n n t e Unterscheidung zwischen den immanenten und

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den relativen Eigenschaften Gottes. Die immanenten Eigenschaften der Gottheit sind absolute Macht, Wahrheit, Heiligkeit und Liebe. Die relativen Attribute sind Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, und zwar haben sie ihre Bedeutung in Gottes Umgang mit der Welt. In der Inkarnation legte nun der Logos die relativen Eigenschaften ab, seine Relation zur Welt ist nun die eines Menschen. Aber die immanenten Eigenschaften, die zum Wesen der Gottheit gehören, sind in seiner inkarnierten Existenz vollkommen manifestiert. Thomasius ist der Uberzeugung, daß dies auch für das Attribut der Macht zutrifft. Der inkarnierte Herr war nicht ein allmächtiger Mensch, denn „er übte überhaupt keine andere Herrschaft als die ethische der Wahrheit und der Liebe aus . . . seine ganze Machtausübung ging in seiner welterlösenden Thätigkeit auf" (ebd. 238). Thomasius weist aber auch darauf hin, daß in dem im Philipperbrief beschriebenen Vorgang zwei getrennte Momente zu unterscheiden sind - die Selbst-Entäußerung des göttlichen Logos und die Selbst-Erniedrigung des irdischen Jesus. Aber er betont dabei die enge innere Verbindung der beiden. Die irdische Erniedrigung deckt sich mit Gottes eigener, grundlegender Herablassung, die sich in ihr offenbart. Kritiker warfen Thomasius vor, er habe mit seiner präzisen Unterscheidung zwischen immanenten und relativen Eigenschaften die Grenze dessen überschritten, was ein Mensch von Gott wissen könne. Die treffendste Kritik kam von A. -»Ritsehl, der darauf hinwies, daß der Logos zu verstehen sei als Gott in seinem Verhältnis zur Welt; wie ist es von dieser Voraussetzung her möglich, irgendeine Vorstellung von dem Logos zu haben, der bleibt, wenn wir diese Eigenschaften, die er in eben diesem seinem Verhältnis zur Welt hat, wegdenken? (Rechtfertigung und Versöhnung III, §45).

5.2. Der Kenosislehre erging es, jedenfalls in einer Hinsicht, nicht anders als dem hegelianischen Idealismus. Lange nachdem in Deutschland das Interesse daran erloschen war, k a m es in England zu einer zweiten Blüte. Dies ist vielleicht auf die Tatsache zurückzuführen, d a ß es sich hier um eine vermittelnde Christologie handelte, für die in der anglikanischen Kirche mit ihrer media via eine Aufnahmebereitschaft bestand. Jedenfalls beschäftigten sich mehrere hervorragende englische Theologen im späten 19. und im beginnenden 20. Jh. mit kenotischen T h e m e n . Der bekannteste unter ihnen war Ch. - • G o r e . An der traditionellen oder klassischen Christologie kritisierte er, d a ß sie die Gottheit Christi so stark betone, d a ß dadurch seine Menschheit ganz verdeckt werde, und dies leiste einem Doketismus im Volksglauben Vorschub: „ M i r scheint, es kann nicht bezweifelt werden, daß die allgemeine, f ü r viele Jahrhunderte geltende Lehre der katholischen Kirche über unsern Herrn ihn sehr weit von menschlichem Mitfühlen und Mitleiden entrückt h a t " (Dissertations 205). Er führt dabei auch an, d a ß es keinen besseren Beweis f ü r die göttliche Vorsehung gäbe als die Tatsache, d a ß trotz dieses ständigen Abgleitens in die Richtung des Doketismus der Glaube der Kirche an die wahre Menschheit Christi fortbesteht, zumindest in den offiziellen Bekenntnisformeln. Gore war zu konservativ, um Schleiermachers beim Menschen einsetzende Christologie übernehmen zu können, aber die Kenose schien hier die Möglichkeit zu einem Verständnis der Menschheit Christi ohne allzu große Abweichung von klassischen christologischen Vorstellungen zu bieten. Besonders das Wissen Christi sei ein menschliches gewesen, meinte er. Die Begrenztheit seines Wissens habe nicht nur den Bereich der Fakten betroffen, sondern auch den genauen Umfang und das Ausmaß seiner eigenen Sendung. Ein ins Einzelne gehendes Vorauswissen seines eigenen Schicksals wäre nicht mit w a h r e m Menschsein vereinbar, und so zeigte Christi Gebetskampf in Gethsemane f ü r Gore, d a ß ihm selbst zu diesem Zeitpunkt „die Z u k u n f t nicht deutlich w a r " (ebd. 83). Aber die Selbst-Entäußerung des Logos ist nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern von der M a c h t der sich selbst hingebenden Liebe. 6. Ritsehl und seine Schule 6.1.1. In dem für das 19. Jh. charakteristischen Auf und Ab im Wechsel der Philosophien folgte auf den Niedergang des Hegelianismus ein Aufblühen des Kantianismus. Dieser Neukantianismus ist bestimmt sowohl von Kants skeptischer anti-metaphysischer Lehre als auch von seiner mehr bejahenden Betonung von M o r a l und ethischen Werten. In der Theologie wurde hier Albrecht ->Ritsehl (1822-1889) zum führenden Repräsentanten, und seine Gedanken errangen einen dominierenden Einfluß in der protestantischen Theologie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.

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6.1.2. Ritsehl hatte als Hegelianer angefangen, lehnte aber später die Metaphysik und ebenso die traditionellen Dogmen der Kirche, die er als eine unzulässige Mischung von Metaphysik und Religion betrachtete, ab. Darum findet sich in Ritschis Denken ein starkes positivistisches Element. Er schreibt, „daß ich auch Geheimnisse im religiösen Leben anerkenne, daß ich aber eben darüber, was Geheimnis ist und bleibt, schweige" (Rechtfertigung und Versöhnung 3III, §61,573 Anm). Spekulative Theologie, Mystik, ganz gleich in welcher Form, und auch Schleiermachers Berufung auf das Gefühl haben in Ritschis Denken keinen Platz. Wie Kant betont er das moralische Element in der Religion, obwohl er daneben auch der Geschichte einen Platz zugesteht, besonders der Geschichte Jesu Christi. In Übereinstimmung mit der lutherischen Tradition stellt Ritsehl die Rechtfertigungslehre in den Mittelpunkt, und sein Hauptwerk, sowohl historisch als auch systematisch, ist Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870-74 3 1888). „Die Rechtfertigung bedeutet im Sinne der evangelischen Kirche im Allgemeinen den Act Gottes, welcher die religiöse Eigenthümlichkeit der an Christus Glaubenden begründet" (ebd. §8,37). Diese Rechtfertigung wird aber nicht dem einzelnen allein für sich zuteil. Sie hat Bezug auf die ganze religiöse Gemeinde und „auf die Einzelnen demgemäß, daß dieselben durch den Glauben an das Evangelium sich dieser Gemeinde einreihen" (ebd. § 22,132). Wegen des Gewichts, das Ritsehl der Gemeinde gibt, räumt er auch dem Reich Gottes in seiner Theologie einen wichtigen Platz ein (s. TRE 15,226,49ff), und zwar ist sein Verständnis ein ethisches. Das Reich Gottes ist die Zusammenführung der Menschheit, „die extensiv und intensiv umfangreichste Vereinigung der Menschheit durch das gegenseitige sittliche Handeln ihrer Glieder" (ebd. § 35,270). Jesus Christus ist der Begründer dieses Reiches, und er ist es auch, der die Menschen rechtfertigt und sie in das Reich bringt. Er ist also nicht nur ein ethischer Lehrmeister und ein uns zur Nachahmung gegebenes Vorbild, sondern er steht seinen Jüngern gegenüber als der Urheber der Vergebung und des neuen Lebens. Die einzigartige Stellung, die Jesus Christus einnimmt, rührt her aus des Christen Erfahrung dieses neuen Lebens. Die Bedeutung, die er für die Menschen hat, kommt zum Ausdruck in dem Bekenntnis, daß Jesus Christus Gott ist. Dies ist jedoch nicht als metaphysische Aussage über die Natur Christi zu verstehen. Es ist das Bekenntnis seiner Bedeutung für Rechtfertigung und Erlösung, das heißt, diese Aussage ist ein Werturteil. „Vielmehr erkennt man das Wesen Gottes oder Christi nur innerhalb ihres Werthes für uns" (ebd. §29,202). Und an anderer Stelle sagt Ritsehl: „Ist aber Christus durch das, was er zu meinem Heil gethan und gelitten hat, mein Herr, und ehre ich ihn als meinen Gott, indem ich um meines Heiles willen der Kraft seiner Wohltat vertraue, so ist das ein Werturtheil directer Art" (ebd. §44,376). Von hier ausgehend, zeigt Ritsehl den Unterschied auf zwischen dieser Interpretation der Person Christi als Werturteil und dem, was er die „uninteressierte" und „wissenschaftliche" Formel von Chalcedon nennt, die im allgemeinen als deskriptive, metaphysische Beurteilung verstanden werde. An einem Punkt jedoch scheint Ritsehl in seinem Beweis zu weit zu gehen, denn er behauptet: „Werthurtheile sind also bei jeder zusammenhängenden Welterkenntniß maßgebend, mag dieselbe auch in der objektivsten Weise durchgeführt werden. Die Aufmerksamkeit bei der wissenschaftlichen Beobachtung und die unparteiische Beurtheilung des beobachteten Stoffes drückt immer aus, daß diese Erkenntniß einen Werth für den hat, welcher sie übt" (ebd. §28,194f). Allerdings unterscheidet er zwischen „begleitenden" und „selbständigen" Werturteilen, wobei die ersteren zu jeder Art von Erkenntnis hinzugehören: „Denn ohne Interesse bemüht man sich um nichts." Bei den letzteren - und theologische Aussagen würden hier einzuordnen sein - geht es in erster Linie um das Zuschreiben eines Wertes. In der Praxis ließe sich eine solche Unterscheidung aber wohl kaum durchführen, da sich die meisten unserer Urteile aus verschiedenen, sowohl bewertenden als auch beschreibenden Elementen zusammensetzen. Ritsehl schießt hier, wie schon erwähnt, über sein Ziel hinaus, denn aus seinem Argument ergibt sich, daß auch die Formel von ->Chalcedon ein Werturteil enthält - eine Vermutung, die sich allerdings nahelegt, wenn man die in den frühen christlichen Jahrhunderten um die Christologie

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geführten, leidenschaftlichen Debatten bedenkt. Wenn er nun einerseits gezwungen ist, Chalcedon eine wertsetzende Bedeutung zuzugestehen, muß er dann nicht auch seinerseits die Notwendigkeit einer objektiv deskriptiven Aussage über Jesus Christus sehen, zur Rechtfertigung seines eigenen Bekenntnisses, daß Christus für ihn G o t t bedeutet? M i t Nachdruck muß die Frage gestellt werden: „ M i t welcher Begründung kann Christus dieser Wert zugeschrieben werden?" Warum Christus, und nicht M o h a m m e d oder M a r x , die auch als „Heilsbringer" erfahren worden sind? Hier droht die Gefahr von Abgötterei oder von Fanatismus, wenn der, der Christus den Wert „ G o t t e s " beimißt, nicht auch bereit ist, sich mit dem Problem, o b und wie G o t t in Christus war, auseinanderzusetzen. In gewisser Hinsicht scheint Ritsehl einen objektiven Grund anzuerkennen, wenn er nämlich sagt, das persönliche Ziel Jesu sei identisch mit dem Ziel, auf das G o t t hinwirkt: eine ethische Gemeinschaft oder Gemeinwesen, das Reich Gottes. 6.2.1. Aus der Zahl der Nachfolger Ritschis soll hier W. - » H e r r m a n n erwähnt werden, Lehrer von Barth und Bultmann und einer der klarsten Vertreter von Ritschis T h e o logie. Auch er lehnte die Metaphysik ab. Die überlieferten christlichen Dogmen über die Trinität und die Person Christi seien durch die Vermischung mit der griechischen spekulativen Philosophie verfälscht worden und müßten durch neue Aussagen ersetzt werden, durch die deutlich werde, „daß die christliche Lehre tatsächlich als Ausdruck neuen persönlichen Lebens zu verstehen ist" (W. Herrmann, Dogmatik § 2 3 ) . Das innere Leben des Christen gründet sich nicht auf Spekulation, sondern auf dem Glauben, in dem Gott sich dem Menschen offenbart und eine Gemeinschaft mit ihm schafft. Diese Offenbarung ist in dem historischen Jesus g e k o m m e n , im besonderen in seinem „inneren L e b e n " . Dieses „innere L e b e n " , von dem das Neue Testament Zeugnis ablegt, hat noch immer die M a c h t , auf den Jünger zu wirken und sein inneres Leben zu ändern. Es gibt zwei objektive Gründe, auf die sich die Erfahrung des Glaubens stützen kann, meint Herrmann. Einer davon ist die „geschichtliche Tatsache der Person J e s u " (W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit G o t t 83). Er glaubte, daß dies im Neuen Testament ausreichend gesichert sei. Der zweite objektive Grund ist „das Bewußtsein davon, daß die sittliche Forderung uns selbst beansprucht" (ebd. 83). Unverkennbar schwingen hier kantianische und in gewisser Weise auch positivistische T ö n e mit. Das Christentum ist befreit worden aus den Verstrickungen der Metaphysik und auf die Grundlagen der positiven Wissenschaften der Geschichte und der Ethik gestellt worden. Jedenfalls hoffte Herrmann, daß dies der Fall sei. 6.2.2. Eine konservativere Version von Ritschis Denken findet sich im Werk von T h . - » H a e r i n g . Obwohl er Ritsehl im allgemeinen durchaus zustimmt, schließt sich Haering doch auch den Kritikern Ritschis an: „Denn eine ganze Reihe wichtiger Glaubenssätze finde man bei ihm n i c h t " (Th. Haering, Der christl. Glaube 98). Er habe sich so sehr auf Werturteile und das Erfahrungselement in der Theologie konzentriert, daß er darüber ganz die Frage nach dem objektiven Grund, den dies voraussetze, vernachlässigt habe. Haering seinerseits beruft sich auf eine zweifache Grundlage für den Glauben. Z u m einen ist dies die Erkenntnis, daß Jesus auf die tiefsten Bedürfnisse des Menschen antwortet und die höchsten Werte verkörpert; zum andern handelt es sich hier um die Selbst-Manifestation Gottes in Jesus, und dies hängt nicht von unserem Werturteil ab (als ob Jesus seine Gottheit der Anerkennung von menschlicher Seite verdankte), sondern davon „ d a ß in unserem Bewußtsein die über dasselbe übergreifende, von ihm unabhängige M a c h t sich wirklich erweise" (ebd. 26). Haering nimmt in seinen Aussagen eine gemäßigte Position ein, sie stellen aber eine deutliche Abkehr von den Elementen des Positivismus und eines Reduktionismus, wie wir sie bei Ritsehl und Herrmann fanden, und eine Hinwendung zu einer eher traditionsgebundenen Dogmatik dar.

6.2.3. Im Gegensatz zu Haering beschritt A. - » H a r n a c k , zweifellos einer der gelehrtesten christlichen Denker der Neuzeit, Wege in Richtung auf eine radikalere und undogmatischere F o r m der Theologie, als Ritsehl und seine unmittelbaren Nachfolger es sich je vorgestellt hatten. Für Harnack ist das —»Christentum eine praktische Angelegenheit, wobei es um die Kraft zur Führung eines heiligen und gesegneten Lebens geht, und das bedeutet, daß die Lehre auf das äußerste M i n i m u m reduziert werden kann. D a ß dieses Verständnis letzten Endes auf Kant zurückgeht, ist offensichtlich. Harnack faßte seine

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J e s u s Christus V I

G e d a n k e n in einer b e r ü h m t e n Vorlesungsreihe, gehalten in Berlin 1 8 9 9 — 1 9 0 0 und veröffentlicht unter d e m T i t e l Das Wesen des Christentums, zusammen. Hierbei unternimmt H a r n a c k den Versuch, das, w a s er als das Wesen des C h r i s t e n t u m s sah, von den Ü b e r w u cherungen des D o g m a s zu befreien, die im L a u f e der J a h r h u n d e r t e u m es h e r u m g e w a c h sen w a r e n . D e r Verfall begann gleich in der apostolischen Z e i t , als die frühen Prediger, anstatt die von J e s u s selbst ausgesprochene A n k ü n d i g u n g des n a h e n R e i c h e s G o t t e s weiterzutragen, dazu übergingen, Jesus selbst zu predigen. „ W i e weit entfernt m a n sich also von seinen G e d a n k e n und von seiner A n w e i s u n g " , m a h n t H a r n a c k , „ w e n n m a n ein ,christologisches' B e k e n n t n i s d e m Evangelium v o r a n s t e l l t . . . ! " (Wesen des C h r i s t e n t u m s 9 3 ) . Ursprünglich ging es im Evangelium u m den Vater und nicht u m den S o h n . Auch die M e n s c h e n heute, g l a u b t e H a r n a c k , fühlten sich von diesem ursprünglichen Evangelium und seinen ethischen F o r d e r u n g e n a n g e s p r o c h e n , a b e r von kirchlichen D o g m e n , die auß e r d e m unverständlich g e w o r d e n seien, wollten sie nichts h ö r e n . W a s über J e s u s selbst ausgesagt werden k ö n n e , sei nicht ein spekulatives D o g m a , sondern d a ß er der religiöse G e n i u s des M e n s c h e n g e s c h l e c h t e s ist, der auf einzigartige Weise in S o h n e s b e z i e h u n g mit G o t t verbunden w a r . H i e r scheint der liberale P r o t e s t a n t i s m u s ( - > L i b e r a l e T h e o l o g i e ) an seinem äußersten P u n k t angelangt zu sein in der Z u r ü c k d r ä n g u n g von d o g m a t i s c h e n Inhalten und der völligen Vermenschlichung J e s u Christi. M a n m a g sich natürlich fragen, wie G o t t selbst die umfassende S ä u b e r u n g der theologischen T r a d i t i o n überleben k o n n t e und welche G r ü n d e H a r n a c k dafür anzuführen vermag, d a ß weiter an ihn zu glauben sei, oder auch an den „ u n e n d l i c h e n Wert der M e n s c h e n s e e l e " , w a s er neben d e m G l a u b e n an G o t t als den G r u n d p f e i l e r v o n J e s u L e h r e versteht. Sind dies d e m m o d e r n e n M e n s c h e n leichter f a ß b a r e G l a u b e n s i n h a l t e als die überlieferten christlichen L e h r e n ? Wenn wir heute aus dem A b s t a n d ungefähr eines J a h r h u n d e r t s auf H a r n a c k z u r ü c k b l i c k e n , wird es s c h w e r , diese F r a g e nicht zu verneinen. W i r werden zurückverwiesen an die „natürliche R e l i g i o n " des 18. J h . und h ö r e n von H a r n a c k , was die Deisten lehrten, n ä m l i c h d a ß das christliche E v a n g e l i u m „ ü b e r h a u p t keine positive Religion ist wie die a n d e r e n , . . . d a ß es also die R e l i g i o n selbst i s t " (ebd. 4 1 ; vgl. T R E 8 , 1 9 , 1 3 f f ) . A b e r H a r n a c k bringt kein neues A r g u m e n t , das an die Stelle der nicht m e h r glaubwürdigen natürlichen T h e o l o g i e der Deisten treten k ö n n t e , und teilt nicht einmal K a n t s E i n s i c h t in die radikale Sündhaftigkeit des M e n s c h e n . Kein W u n d e r , d a ß schon bald B a r t h und seine Zeitgenossen sich zur R e v o l t e gedrängt fühlten. 6.3. Auch in den englischsprachigen Ländern fand das Interesse an Ritsehl und seiner Theologie eine weite Verbreitung. In England erschienen eine Reihe von Büchern über ihn, obwohl sich keine ausgesprochenen Schüler und Verfechter seiner Theologie dort fanden. Bedeutender war seine Aufnahme in den Vereinigten Staaten, wo der ethische Schwerpunkt und die der Vorstellung vom Reich Gottes eingeräumte Stellung auf großes Interesse trafen. Einer der ersten Verfechter von Ritschis Gedanken in Amerika war Henry Churchill King (1858-1934). Er sprach sich für die Überlegenheit der „persönlichen und praktischen Form des Bekenntnisses der Gottheit Christi" gegenüber der überkommenen metaphysischen Form aus (Reconstruction 248). Die Vorstellung vom Reich Gottes war im amerikanischen Protestantismus schon seit langem von besonderer Bedeutung, und die ethische Interpretation des Gottesreiches bei Ritsehl fand bei King und anderen amerikanischen Theologen starken Anklang. Sie setzten es mit den sozialen Fragen in ihrem Land in Beziehung, und so gingen Ritschis Theologie und die Rolle Jesu als moralischer Lehrer und Begründer des Reiches Gottes in das „social gospel" der amerikanischen Kirchen, wie es auch heute noch verbreitet ist, ein (vgl. TRE 9,109,21 ff; 112,44ff).

7. Die Suche nach dem historischen

Jesus und ihre

Kritik

7.1. D i e bis hier nachgezeichnete E n t w i c k l u n g v o m E n d e des 18. J h . an ist gekennzeichnet durch die fast u n g e h e m m t e Z u n a h m e liberaler und a n t h r o p o z e n t r i s c h e r Einflüsse. Vereinzelte Proteste, wie der K i e r k e g a a r d s , hatten nur eine s c h w a c h e W i r k u n g . Jesus Christus wurde i m m e r m e h r als eine rein m e n s c h l i c h e G e s t a l t dargestellt, zugegebenerm a ß e n ein ganz besonderer M e n s c h , der R e l i g i o n in ihrer h ö c h s t e n F o r m gelehrt hatte, aber nichtsdestoweniger ein M e n s c h , der der t r a d i t i o n s g e m ä ß ihm zugeschriebenen

Jesus Christus V I

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göttlichen Attribute entkleidet w a r . D i e D a r l e g u n g e n H a r n a c k s k o n n t e n , wie wir gesehen h a b e n , als E n d p r o d u k t dieser E n t w i c k l u n g b e t r a c h t e t werden. Z u einer R e a k t i o n gegen dieses liberale, die m e n s c h l i c h e Seite b e t o n e n d e Verständnis J e s u k a m es erst im 2 0 . J h . , aber die W e n d e zeichnet sich schon in den letzten J a h r z e h n t e n des 19. J h . a b . 7.2. I m m e r wieder findet sich im liberalen theologischen D e n k e n des 19. J h . der Versuch einer R e k o n s t r u k t i o n des „historischen J e s u s " , das heißt, des Bildes von J e s u s , wie es sich durch die A n w e n d u n g historisch-wissenschaftlicher M e t h o d e n entdecken ließ (s. T R E 6 , 3 8 2 , 2 6 f f ; - > L e b e n - J e s u - F o r s c h u n g ) . D u r c h diesen Prozeß sollte es gelingen, den M e n s c h e n J e s u s so zu isolieren, wie er wirklich gewesen w a r , o h n e die entstellenden mythologischen und d o g m a t i s c h e n D e u t u n g e n , mit denen die L e h r e der K i r c h e ihn vollk o m m e n zugedeckt hatte. Eine lange R e i h e von „ L e b e n " J e s u w u r d e geschrieben. Wenige waren so skeptisch (und so gründlich) wie das b e r ü h m t e Leben Jesu von S t r a u ß , a b e r man hegte allgemein die H o f f n u n g , des ganzen Jesus als M e n s c h h a b h a f t zu werden. M a n c h m a l ist ein apologetisches M o t i v zu erkennen, wie bei H a r n a c k zu sehen w a r mit seiner Überzeugung, d a ß historische F o r s c h u n g eine verläßlichere G r u n d l a g e für den G l a u b e n liefern k ö n n e als die metaphysische S p e k u l a t i o n . Bis zum E n d e des J a h r h u n d e r t s war j e d o c h schon deutlich g e w o r d e n , d a ß das ganze U n t e r f a n g e n , den historischen J e s u s wiederzuentdecken, p r a k t i s c h unmöglich w a r und auf jeden Fall sehr viel weniger einem „wissenschaftlichen P r o j e k t " entsprach, als ursprünglich a n g e n o m m e n . Es sollte j e d o c h hervorgehoben w e r d e n , d a ß es den meisten früheren Kritikern der Bewegung, die „ J e s u s in der G e s c h i c h t e " s u c h t e , nicht d a r u m zu tun w a r , wieder den Christus des überlieferten D o g m a s einzusetzen; vielmehr ging es ihnen d a r u m , zu zeigen, d a ß die Suche nach dem historischen J e s u s verfehlt w a r . 7.3.1. E i n e r der ersten dieser Kritiker w a r M a r t i n - > K ä h l e r ( 1 8 3 5 - 1 9 1 2 ) . E r h a t t e schon m e h r e r e bedeutende theologische W e r k e geschrieben, bevor er ziemlich spät in

seiner Laufbahn Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche,

biblische

Chri-

stus (1892) veröffentlichte. In diesem Buch zeigt er, d a ß der J e s u s , wie er in den vielen aus der „ L e b e n J e s u " - S c h u l e hervorgegangenen Biographien dargestellt wird, weit d a v o n entfernt ist, einer o b j e k t i v e n B e s c h r e i b u n g zu entsprechen, d a ß sich stattdessen viel m e h r die subjektiven Interessen der einzelnen B i o g r a p h e n darin widerspiegeln - wie auch schon dadurch deutlich w u r d e , d a ß die verschiedenen J e s u s - G e s t a l t e n , die in diesen B ü c h e r n beschrieben wurden, oft miteinander im W i d e r s p r u c h stehen. „ D e r J e s u s d e r , L e b e n J e s u ' ist nur eine m o d e r n e A b a r t von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst, nicht besser als der verrufene d o g m a t i s c h e Christus der byzantinischen C h r i s t o l o g i e " ( M . K ä h l e r , D e r sog. hist. Jesus 16). Die letzten W o r t e dieses Satzes illustrieren gleichzeitig die o b e n e r w ä h n t e B e o b a c h t u n g , d a ß diese T h e o l o g e n keineswegs d a r a n d a c h t e n , C h a l c e d o n wieder in E h r e n einzusetzen. D i e neutestamentliche L e h r e von J e s u s ist bei K ä h l e r weder Geschichte noch Dogma, sie ist Kerygma. D e r wirkliche Christus ist der gepredigte C h r i stus, das h e i ß t , Christus wie er im G l a u b e n der K i r c h e ergriffen w o r d e n ist. J e n s e i t s oder hinter diesen k e r y g m a t i s c h e n Christus k a n n m a n nicht zurückgehen, sonst gelangt m a n zu einem K o n s t r u k t der eigenen Erfindung. 7.3.2. Gleichfalls 1 8 9 2 erschien eine zu neuen Grenzen a u f b r e c h e n d e Untersuchung von J o h a n n e s - » W e i ß ( 1 8 6 3 - 1 9 1 4 ) : Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes. Es m a g als einer der ironischen Z ü g e der G e s c h i c h t e erscheinen, d a ß W e i ß , der A l b r e c h t R i t s c h i s S c h w i e gersohn w a r , in seinen E n t d e c k u n g e n - die erst nach R i t s c h i s T o d veröffentlicht wurden einige der zentralen G e d a n k e n des älteren T h e o l o g e n in nicht von der H a n d zu weisenden Z w e i f e l zog. B e s o n d e r s R i t s c h i s G e d a n k e n v o m R e i c h G o t t e s als eines ethischen G e m e i n wesens, dessen Realisierung auf Erden schrittweise anzustreben sei, wurde von W e i ß in F r a g e gestellt. Hierbei handele es sich um eine k a n t i a n i s c h e Vorstellung, die dem Evangelium aufgepfropft sei, meinte Weiß. J e s u s selbst h a b e k e i n e Vorstellung von einem solchen R e i c h g e h a b t . M i t seiner Predigt v o m R e i c h G o t t e s h a b e er ein seiner Überzeugung nach u n m i t t e l b a r bevorstehendes eschatologisches Ereignis verkündet. G o t t selbst s c h i c k e sich a n , ein neues Z e i t a l t e r heraufzuführen, das als ein religiöses, jenseitiges, a p o k a l y p t i s c h e s ,

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nicht als ein diesseitig ethisches zu verstehen sei. Die zuletzt genannte Interpretation sei eine Modernisierung von Jesus und dem Evangelium, eine Projektion liberaler Ideen des 19. Jh. auf das Neue Testament. Diese Idealvorstellungen mögen an sich sehr gut sein, man könne sie aber nicht aus dem Neuen Testament ableiten oder das Neue Testament so direkt zum Beleg dafür anführen, wie Ritsehl und seine Nachfolger das getan hätten. In seinen späteren Schriften trat Weiß als Wegbereiter der Formkritik der Evangelien hervor, einer Methode, die später von Bultmann und anderen voll entwickelt wurde. Danach sind die Evangelien nicht so sehr als Berichte über Jesus (und noch weniger als Biographien zu verstehen), vielmehr spiegelt sich in ihnen Glauben und Lehre über Jesus in der frühen Kirche wider. Wenn diese Theorie stimmt, dann wird der historische Jesus unerreichbar. Welche schwerwiegenden Konsequenzen sich daraus für das, was solche Autoren wie z. B. Harnack gesagt hatten, ergeben, liegt auf der Hand (vgl. T R E 6,386,35ff). 7.3.3. Eine weitere vernichtende Kritik kam von Albert —•Schweitzer (1875-1965). In seinem Buch Von Reimarus zu Wrede (1906) gibt er einen Überblick über die vielen Versuche vom ausgehenden 18. Jh. bis zu seiner eigenen Zeit, Lebensläufe Jesu zu schreiben, und findet sie alle unzulänglich. All diese Bücher seien geschrieben worden mit dem Ziel, die Gestalt Jesu vom kirchlichen Dogma zu befreien - und man sollte dabei beachten, daß auch Schweitzer selbst, wie die meisten Kritiker der „Leben Jesu"-Schule, nicht den Wunsch und die Absicht hatte, die alten Dogmen wieder einzusetzen - aber sie hätten dadurch, daß sie Jesus dem modernen Zeitalter angepaßt und ihn wie einen Liberalen des 19. Jh., dem Bilde seines jeweiligen Biographen entsprechend, dargestellt hätten, einfach ein verfälschtes Bild gezeichnet. Wie Weiß glaubte auch Schweitzer, daß Jesus ein eschatologischer Prophet gewesen sei und daß der Schwerpunkt seiner Verkündigung auf dem unmittelbar bevorstehenden Weltende gelegen habe. Die Gedankenwelt Jesu sei so weit verschieden von der eines modernen Menschen, daß er uns als ein Rätsel, eine praktisch unbegreifliche Gestalt entgegentritt. Er gehöre seiner eigenen Zeit an, und nur durch einen Gewaltakt der Verfälschung hätten die Liberalen in ihm eine Botschaft finden können, die sich unmittelbar auf die Probleme der modernen Gesellschaft anwenden lassen könne. Ist Jesus dann also ohne Bedeutung für uns? Jedenfalls können Schweitzers theoretische Versuche, die religiöse oder theologische Bedeutung Jesu zu erklären, nicht überzeugen, während sein praktisches Zeugnis als Missionar und Täter der Nächstenliebe deutlich macht, daß die Kraft Jesu, und sei es auch auf verborgene Weise, auch in der modernen Gesellschaft noch ihre Wirkung zeigen kann. Die Weichen waren jedoch jetzt gestellt für einen noch radikaleren Bruch mit den vorherrschenden theologischen Richtungen des 19. Jh. 8. Theologische

Erneuerung

8.1. Das 20. Jh. brachte eine bemerkenswerte, ja geradezu revolutionäre Veränderung des theologischen Klimas mit sich. Als Anfangspunkt wird gewöhnlich die Veröffentlichung von Karl —»Barths Römerbriefkommentar vom Jahr 1922 genannt. Der neue theologische Stil wird oft als „Worttheologie" bezeichnet, da der Schwerpunkt auf dem Hören dessen, was Gott zum Menschen sagt, liegt (vgl. T R E 8,686,21 ff). Gelegentlich findet man die Bezeichnung „Neuorthodoxie", da diese Richtung zu Neuformulierungen traditioneller trinitarischer Theologie und der Christologie von Chalcedon führte. Seinen Ausgang vom Wort Gottes zu nehmen, bedeutete eine Umkehr der allgemeinen theologischen Entwicklung des 19. Jh. Karl Barth rückte, trotz aller Änderungen und Modifikationen, die sich in seiner Theologie finden, nie von seiner Grundposition ab, daß die erste Voraussetzung aller theologischen Reflexion in Gottes Selbst-Offenbarung dem Menschen gegenüber durch Jesus Christus liege. Darum kann er 1959 in vollkommener Übereinstimmung mit seinen früheren Schriften sagen: „Der Gegenstand der Theologie ist das ,Wort Gottes'. Theologie ist eine Wissenschaft und eine Lehre, die sich in der Wahl ihrer Methoden, in ihren Fragen und Antworten, ihren Begriffen und ihrer Sprache, ihren Zielen und

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Grenzen dem lebendigen Gott dieses speziellen Gegenstandes verpflichtet weiß und sonst keinem Ding im Himmel und auf E r d e n . " 3 Theologen, die das -»Wort Gottes zu ihrem Gegenstand machen, betrachten diesen Gegenstand als einzigartig und eine Sache suigeneris; darum sehen sie sich in keiner Weise verpflichtet, zeitgenössische Philosophien oder kulturelle Strömungen in ihrer Lehre zu berücksichtigen, denn das Wort Gottes ist über sie alle erhaben. Hieraus ergab sich unvermeidlich, daß der Graben zwischen der Theologie und der säkularen Kultur breiter wurde, aber die Vertreter dieser neuen Theologie glaubten, daß dieser Bruch notwendig sei, denn für sie war die Entwicklung im 19. J h . zu weit in die entgegengesetzte Richtung gegangen und darin sahen sie die ernstzunehmende Gefahr, daß das Christentum einfach in der zur Zeit herrschenden Kultur aufgehen und all seine Besonderheit verlieren werde. Das würde zugleich den Verlust des Archimedischen Punktes bedeuten, von dem aus es möglich wäre, ein Urteil über die -»Kultur zu fällen. Im Denken Barths und seiner Mitstreiter gibt es keinen Weg, der von der Seite des Menschen zu einer Erkenntnis Gottes, und ganz gewiß nicht zu einer erlösenden Erkenntnis, führen könnte. Von Gott wissen können wir nur, weil sein Wort zu uns gekommen ist in Jesus Christus (-»Dialektische Theologie). Diese neue Ausrichtung hatte verständlicherweise tiefgreifende Folgen für das Verständnis Jesu Christi. Der Vorrang, den man im 19. J h . der Menschheit Christi eingeräumt hatte, wurde verdrängt von der Erkenntnis, die nun wieder an Bedeutung gewann, daß er eine transzendente Gestalt sei, in Gott verwurzelt und nur in seiner Beziehung zu Gott zu verstehen. Diese „neue" Theologie steht deutlich in einem totalen Gegensatz zu einer Reihe von Deutungen Christi, wie sie in vorausgegangenen Abschnitten dargestellt worden sind. Harnacks Gedanken, daß Jesus einfach die Forderungen unserer moralischen Natur erfüllt, konnten hier keine Zustimmung finden - im Gegenteil, die extremeren Verfechter der neuen Theologie behaupteten sogar, Jesus widerspreche diesen Forderungen. Jeglicher Versuch, von menschlicher Seite zu Gott zu gelangen, könne nur zu Abgötterei führen und sei verurteilt und verworfen im Lichte dessen, daß Gott es ist, der sich den Menschen zuwendet. Obwohl Barth in seiner reiferen Schaffenszeit zugestand, daß einige seiner frühen Aussagen einseitig gewesen seien, rückte er nie von seiner Opposition gegen jegliche Art von natürlicher Theologie oder menschheitlicher Christologie ab. Da Barth der führende Kopf dieses theologischen Aufbruchs war (und als solcher auch von Harnack selbst anerkannt wurde), soll Barths Verständnis von Jesus Christus an erster Stelle dargestellt werden. 8.2.1. Karl —»Barth, vielleicht der bedeutendste protestantische Theologe seit Schleiermacher, rückte zu keiner Zeit von seiner Überzeugung ab, daß es keinen Weg vom Menschen zu Gott gebe und daß, wenn wir etwas von Gott wissen, dies nur durch Gottes eigene Offenbarung an uns möglich sei. Barths Christologie ist darum eine ausgesprochene Christologie „von o b e n " , obwohl dazu auch hervorgehoben werden sollte, daß ihr kein Doketismus anhaftet und daß die wahre Menschheit Christi in angemessener Weise gesehen wird. Wenn Barth als „neuorthodox" bezeichnet wird, ist damit nicht gemeint, daß er bei einzelnen Lehren zu orthodoxen Formulierungen zurückgekehrt sei (oft, wie z. B. in der Frage der -»Prädestination, bringt er überraschend neue Interpretationen; s. u. Abschn. 2.4), sondern daß er in der Stoßrichtung und Form seiner Theologie die im 19. J h . vorherrschende Tendenz, die christliche Wahrheit als eine höhere Stufe der universal verfügbaren Wahrheit zu sehen, umkehrt und stattdessen dieser christlichen Wahrheit einen Sonderstatus einräumt, wodurch sie die Bedeutung der Norm erhält, an der alle anderen vermeintlichen Wahrheiten zu messen sind. 8.2.2. Der Ausgangspunkt aller christlichen Theologie muß also das Wort Gottes sein, in dem G o t t sich selbst zum Ausdruck bringt und sich selbst mitteilt. Das aber heißt schlicht und einfach, daß der Ausgangspunkt Jesus Christus ist. In ihm kennen wir Gott, und hinter diesen uns gegebenen Grund können wir nicht dringen. Das Wort Gottes hat eine dreifache Gestalt. Zuerst und vor allem ist es das lebendige Wort, Jesus Christus. Er

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ist die grundlegende Gestalt des Wortes, und von ihm leiten sich die anderen beiden F o r m e n ab. Die zweite F o r m ist die des geschriebenen Wortes, das W o r t der Schrift Alten und Neuen Testaments. Streng genommen ist die Bibel nicht Selbst-Offenbarung, sondern sie gibt Zeugnis von der Offenbarung in Christus. Die ganze Bibel weist auf Christus als ihren Mittelpunkt und den Inhalt ihrer Botschaft. „ D i e Bibel verstehen würde von Anfang bis zu Ende, von Vers zu Vers bedeuten: verstehen, wie alles in ihr darauf [i.e. auf Jesus Christus] als auf seine unsichtbar-sichtbare M i t t e bezogen i s t " (KD 1 / 1 , 1 1 9 ) . Die dritte F o r m des Wortes ist das verkündigte W o r t , die Predigt, die Jesus Christus vor Augen hält als den einzigen Inhalt ihrer Verkündigung. 8.2.3. Schon ziemlich am Anfang von Barths gewaltigem dogmatischen System wird die Lehre von der Trinität behandelt. Sie soll dem ganzen Lehrgebäude als Grundlage dienen, so daß Jesus Christus von Anfang an im Kontext der Gottheit verstanden wird. Obwohl nach Barths Überzeugung die Lehre vom dreieinigen Gott das spezifisch christliche Gottesverständnis wiedergibt, stellt sich doch die Frage, ob seine Herleitung dieser Lehre nicht vielmehr einer einfachen Analyse der Offenbarungs/'dee entspringt als dem Inhalt dieser ganz besonderen christlichen Offenbarung. Denn er sagt: „Der Grund, die Wurzel der Trinitätslehre... liegt in der Offenbarung" (KD 1/1,328), und dieses Ereignis des Offenbarens hat eine dreifache Gestalt, von Barth unter Verwendung der Ausdrücke „Offenbarer", „Offenbarung" und „Offenbarsein" beschrieben. (Es ist vielleicht nicht unfair, zu bemerken, daß die Lehre vom dreieinigen Gott hier als eine reine a priori Deduktion vom Begriff der Offenbarung dargestellt wird, das heißt, die Lehre von der Trinität ist aus der bloßen Form jeder beliebigen göttlichen Offenbarung herleitbar.) Obwohl die Sprache von Offenbarung, Offenbarer und Offenbarsein durchaus an Klarheit zu wünschen übrig läßt und obwohl Barth es ablehnt, der Tradition gemäß von „Personen" zu sprechen und stattdessen lieber von den drei „Seinsweisen" des göttlichen Wesens spricht, ist deutlich, daß Jesus Christus vom Anfang seiner Ausführungen an als der Sohn und der Logos seinen festen Platz in dem göttlichen Wesen hat. Bei Barth findet sich also ganz gewiß nicht der Versuch, einen rein menschlichen Jesus herauszulösen und von diesem Punkt dann zu seinem Christus-Sein und seiner Gottheit fortzuschreiten oder aber die Argumentation beim Bekannten und Alltäglichen beginnen zu lassen. Ganz im Gegenteil, „jene ganz bestimmte Seinsordnung, die die heilige Schrift sichtbar m a c h t . . . erzwingt eine ihr entsprechende Erkenntnisordnung" (KD 1/2,6). Es gibt im Neuen Testament kein Evangelium von einem Jesus, der nicht schon Christus ist, und wenn Christus die Offenbarung Gottes ist, muß er Gott sein. Dabei gesteht Barth natürlich zu, daß die Offenbarung in Jesus verhüllt ist, so daß er einfach als der „Rabbi von Nazareth" gesehen werden konnte. Aber obwohl die Offenbarung notwendigerweise verhüllt ist, da sie in dieser Welt und in weltlichen Formen geschieht, ist sie vollkommen angemessen, und es gibt keine verborgenen Bereiche Gottes, die nicht durch sie ans Licht gebracht würden. 8.2.4. Diese letztere Bemerkung kann gleich zu Barths Kritik von -»Calvins Prädestinationslehre und seiner eigenen Erklärung der Prädestination überleiten, die zum Bemerkenswertesten und Schöpferischsten zu zählen ist, das sich in seiner ganzen Theologie findet, und die für seine Christologie von großer Bedeutung ist. Calvins Irrtum, erfahren wir hier, liegt darin, daß er den erwählenden Gott von Jesus Christus getrennt sah, so daß Gott dadurch ein verborgener Gott bleibt. Für Barth ist Jesus Christus sowohl der erwählende Gott als auch der erwählte Mensch (KD II/2 §32). Darum steht Jesus Christus, wie er oft sagt, am Anfang aller Werke und aller Wege Gottes. Dies bedeutet auch, daß es Menschheit in Gott gibt, wie Barth es ausdrückt, denn der Sohn oder Logos hat von aller Ewigkeit her beschlossen, Mensch zu werden, und so ist auch in der Tat das ganze Menschengeschlecht von aller Ewigkeit her zur Erlösung in Jesus Christus auserwählt. So kommt Barth zu der bemerkenswerten Aussage: „Christliche Gotteslehre kann gerade nicht ,nur' Gott, sie muß, weil ihr Gegenstand dieser Gott ist, auch den Menschen zum Inhalt haben, sofern dieser in Jesus Christus zum Genossen des von Gott beschlossenen und begründeten Bundes gemacht ist" (KD II/2,564). 8.2.5. Die Folgerungen, die sich aus dieser hohen Lehre von der Prädestination und der Gnadenwahl ergeben, sind natürlich weitreichend. Eine offensichtliche Folgerung ist ein Universalismus. Alle Menschen sind erwählt in Jesus Christus und sind auch schon „ e r l ö s t " in ihm. D a d u r c h werden all die gewichtigen Worte, die Barth über menschliche Sünde und Gottlosigkeit spricht, stark relativiert. Der M e n s c h kann nur relativ gottlos sein, und dieser Z u s t a n d ist niemals endgültig. N i e m a n d kann wirklich und völlig außerhalb der Kirche sein, und hiermit bezieht sich Barth nicht auf die empirische Tatsache, daß (jedenfalls in fast allen Ländern der Welt) zu einem gewissen Grade jeder Mensch von christlichen Einflüssen berührt w o r d e n ist, sondern auf die theologische (oder metaphysische) Tatsache, daß in Jesus Christus jedermann, unabhängig davon, ob er dem zustimmt

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oder nicht oder ob er überhaupt irgendetwas davon weiß oder nicht, schon zur Erlösung auserwählt ist. 8.2.6. Wenn so viel bereits in dem „ewigen Ratschluß" enthalten ist, der vor der Zeit und der Schöpfung schon besteht, dann sind Wert und Bedeutung von Geschichte von Grund auf in Frage gestellt. Wenn Barth dann von der Fleischwerdung des Wortes spricht, von der Herablassung und Erniedrigung Gottes in seinem Kommen in die „Fremde" der endlichen Welt und so fort - selbst wenn er von der Schöpfung und dem Sündenfall des Menschen und von dem diesem entsprechenden Heilswerk Jesu Christi spricht kann man nicht umhin zu fragen: „Welche Bedeutung hat all das überhaupt, wenn alles von Ewigkeit her schon vorherbestimmt war?" In gleicher Weise stellt sich unausweichlich die Frage, welche Bedeutung es dann noch habe, ob der einzelne zum Glauben an Christus komme. Während es -»Bultmann sehr um die Glaubensentscheidung des einzelnen Gläubigen geht, kritisiert ihn Barth in dieser Hinsicht. Die Menschen seien schon in Christus erlöst, ganz unabhängig von ihrer persönlichen Entscheidung (K. Barth, R. Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen, ThSt 34, 1952). Kann aber die Erlösung eines Menschen erreicht werden durch einen Akt, der ganz und gar extra nos ist? Ein Tier kann z.B. vor dem Ertrinken errettet werden, ohne dessen gewahr zu werden. Setzt aber menschliche Erlösung, jedenfalls in einem einigermaßen angemessenen theologischen Verständnis, nicht die bewußte Zustimmung und die innere Aneignung der so erlösten Person voraus? Vielleicht ist die Kritik des Amerikaners Van Harvey an Barth gar nicht so ungerechtfertigt: Barth möchte alle Vorteile von Geschichte haben, aber keine ihrer Gefahren auf sich nehmen. 8.2.7. In Barths Verständnis von Jesus Christus scheint Jesu -»Gehorsam sein hervorstechendstes Charakteristikum zu sein, durch das auch sein besonderes Verhältnis zum Vater zum Ausdruck kommt. Gerade in seinem Gehorsam und in seiner Demut ist die Gottheit Jesu zu sehen. Die biblische Grundlage für diese theologische Deutung findet Barth in Phil 2 und an ähnlichen Stellen. Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als werde hier wieder die Kenosislehre vertreten, aber das ist nicht der Fall. Gott gibt sein Gott-sein nicht auf. Die wesentliche Kritik an der Kenose richtet sich darauf, daß diese Lehre eine (sogar bis ins Einzelne gehende) Kenntnis Gottes voraussetze, und dann müsse die Offenbarung diesem angeblichen Wissen angepaßt werden. Wir müssen z. B. glauben, daß es für Gott in irgendeiner Weise unnatürlich wäre, ein Knecht zu sein, und darum muß er, um die Knechtsgestalt anzunehmen, seine Gottheit abtun. Wir können jedoch die Frage der Inkarnation nicht mit einem vorgefaßten Gottesverständnis angehen. Wir haben nur diese eine Inkarnation, in deren Licht wir Gott verstehen müssen. Barth sagt, „daß es Gott ebenso natürlich ist, niedrig wie hoch, nah wie fern, klein wie groß, schwach wie stark, in der Fremde wie bei sich zu sein" (KD IV/1,210). (Die Nähe zu Kierkegaard ist unübersehbar.) Man kann natürlich immer noch fragen, ob Gott, wenn Jesus Christus selbst Gott ist, Gott gehorsam sein kann, oder ob dies nicht eine Subordination des Sohnes unter den Vater voraussetze. Diese Ausdrucksweise läßt sich jedoch durchaus rechtfertigen, wenn wir Analogien aus dem menschlichen Erfahrungsbereich zum Vergleich heranziehen. Ein Mensch kann sagen: „Ich gehorche meinem Gewissen", aber sein Gewissen, in der eigentlichen Bedeutung, ist nichts anderes als sein wahres Selbst. Er gehorcht also sich selbst oder ist sich selbst treu. Darum kann man tatsächlich sagen, daß mit dem Gehorsam Jesu gemeint ist: „Gott ist Gott gehorsam", das heißt, daß Gott sich selbst treu ist und in eben diesem Akt das Wesen seiner Gottheit manifestiert. 8.3. Neben Barth ist Emil Brunner (1889-1966) als einer der führenden Denker der theologischen Erneuerung zu nennen. Auf ihn läßt sich die Bezeichnung „neuorthodox" vielleicht noch weniger anwenden. Er selbst betrachtete es als seinen größten Erfolg, die Lehre von Ferdinand Ebner und M. ->Buber über die Ich-Du-Beziehung (s. T R E 8,698,6ff) in die christliche Theologie eingeführt zu haben: Die Offenbarung ist nicht zu verstehen als Vermittlung einer allgemeinen sittlich religiösen Wahrheit, sondern als die persönliche Begegnung zwischen Gott und Mensch. Dies sei die Grundform von Offenba-

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rung und löse die Starrheit der „ k i r c h l i c h e n O r t h o d o x i e " , wie B r u n n e r sie n a n n t e . Seine P o l e m i k gegen die L e h r e von der J u n g f r a u e n g e b u r t Christi ist ein Beispiel für sein eigenes A b r ü c k e n von strenger O r t h o d o x i e , o b w o h l auch gesagt werden m u ß , d a ß er sich in seiner L e h r e v o n J e s u s Christus meist recht n a h an die überlieferte L e h r e der kirchlichen T r a d i t i o n hielt. In seinem g r o ß e n Werk über Jesus Christus, Der Mittler ( 1 9 2 7 ) , sagt er, d a ß er „ b e w u ß t und k o m p r o m i ß l o s " gegen die Ansichten R i t s c h i s und H a r n a c k s schreibe, und dasselbe trifft a u c h für den zweiten B a n d seiner Dogmatik (1949) zu, in dem er, m e h r als zwanzig J a h r e später, wieder zu d e m christologischen T h e m a z u r ü c k k e h r t . In diesem späteren und reiferen Werk spricht Brunner sich zwar dafür aus, man müsse zum Verständnis Christi von seiner Menschheit ausgehen, und er zitiert Luther: „Man muß unten anheben und darnach hinaufkommen" (E. Brunner, Dogmatik 11,341). Aber er läßt keinen Zweifel daran, daß die Person Christi ein Geheimnis ist, in dem sowohl dem vere homo als auch dem vere deus jeweils sein volles Recht zugestanden werden muß. So erkennt er auch die Berechtigung einer vollen Inkarnationslehre. „Die Erkenntnis, daß uns im Menschen Jesus der ewige Gottessohn begegnet, ruft mit Notwendigkeit nach der Lehre von der Menschwerdung des Gottessohnes" (ebd. 372). Gerade dieser sein fester Glaube an die Inkarnation treibt Brunner dazu, die Lehre von der Jungfrauengeburt zu kritisieren: „Das majestätische Wunder der Menschwerdung des Gottessohnes wird durch die biologische Theorie der eingeschlechtigen Zeugung nicht größer, sondern kleiner gemacht" (E. Brunner, Der Mittler 290). Es ließe sich einwenden, daß Brunner zu sehr an die wörtliche biologische Bedeutung der jungfräulichen Empfängnis denkt und dabei die theologische Bedeutung der Geschichte, die von einem Neuanfang für die Menschheit spricht, übersieht. In seiner Dogmatik scheint er jedoch eher zu der Aussage zu tendieren, daß die Lehre von der Jungfrauengeburt einen so absoluten Neuanfang bedeuten würde, daß sie damit im Widerspruch zu der sehr viel wichtigeren Lehre von der Präexistenz Christi als ewiger Sohn stünde. In diesem späteren Werk vertritt er seine Ansicht jedoch mit weniger Eindringlichkeit und gibt zu, daß die Lehre von der Jungfrauengeburt im Laufe der Lehrentwicklung so interpretiert worden ist, daß sie sich mit der ursprünglich selbständigen Lehre von der Inkarnation des ewigen Wortes zusammenfügte. 8.4. Ein weiterer T h e o l o g e sollte hier aufgeführt werden, auch wenn er einer jüngeren G e n e r a t i o n angehört: D . - » B o n h o e f f e r . D i e Person Christi ist von zentraler Bedeutung in seinem D e n k e n . D a , wie er es a u s d r ü c k t , Christus der L o g o s ist, ist C h r i s t o l o g i e Logologie, das heißt, die h ö c h s t e W i s s e n s c h a f t (GS 111,167). D i e Anspielung auf R i t s c h i s B e t o nung des Werturteils ist u n ü b e r s e h b a r , wenn er ironisch sagt: „ D e r Christus ist der von der G e m e i n d e enthusiastisch vergötterte J e s u s " (ebd. 2 0 0 ) . D e r Versuch, in der C h r i s t o l o gie einen rein m e n s c h l i c h e n J e s u s herauslösen zu w o l l e n , m u ß verhängnisvolle Folgen h a b e n . D i e M e n s c h h e i t G o t t e s und die G o t t h e i t des M e n s c h e n müssen z u s a m m e n g e glaubt werden, da sie in J e s u s Christus z u s a m m e n g e h ö r e n . N i c h t in ihrer B e t o n u n g der Bedeutung Christi für den G l a u b e n d e n irrte die liberale T h e o l o g i e , sondern in d e m B e m ü hen, seine G o t t h e i t n u r h i e r a u f zu gründen, a n s t a t t sie in seiner eigenen N a t u r und Person zu finden. W i e B a r t h und K i e r k e g a a r d k a n n auch B o n h o e f f e r von der Niedrigkeit G o t t e s sprechen als e t w a s , das seiner N a t u r nicht fremd ist, sondern vielmehr zu seinem Wesen gehört. In Christus sehen wir, wie G o t t „sich aus der Welt herausdrängen [läßt] ans Kreuz, G o t t ist o h n m ä c h t i g und s c h w a c h in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft u n s " ( W i d e r s t a n d und E r g e b u n g 2 4 2 , B r i e f v o m 16. Juli 1944). 9. Existentielle

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9.1. Weitere b e k a n n t e T h e o l o g e n , die m i t der t h e o l o g i s c h e n Erneuerung a m Beginn des 20. J h . in ihren A n f ä n g e n in engem Z u s a m m e n h a n g standen, sind - > B u l t m a n n , - > G o g a r t e n und —»Tillich. I m L a u f der Z e i t rückten sie j e d o c h m e h r und m e h r von der Position Barths ab. W ä h r e n d sie e b e n s o wie er viele Z ü g e der liberalen T h e o l o g i e , wie e t w a die Suche nach d e m historischen J e s u s , ablehnten und die Bedeutung der O f f e n b a rung betonten, w a r ihre H a l t u n g der säkularen Kultur gegenüber weniger negativ; ihre T h e o l o g i e war s t ä r k e r a p o l o g e t i s c h , als m a n das von B a r t h o d e r auch von B r u n n e r sagen k a n n . Besonders die - » E x i s t e n z p h i l o s o p h i e in ihren verschiedenen F o r m e n hatte eine g r o ß e Anziehungskraft für sie. D i e s e P h i l o s o p h i e schien einige der grundlegendsten F r a gen und tiefsten Bedürfnisse des m o d e r n e n M e n s c h e n a u f z u d e c k e n , und so geht es einer

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„existentialen" Christologie darum, zu zeigen, inwiefern Jesus Christus die Antwort auf diese Fragen darstellt. In existentialer Sicht sind christologische Aussagen nicht in erster Linie deskriptive (metaphysische) Aussagen über Jesus, sondern Bekenntnisaussagen, die Jesu Bedeutung für den Glauben aussagen. Dies darf natürlich nicht so verstanden werden, daß in ihnen der Geisteszustand des Gläubigen subjektiv zum Ausdruck komme. Richtiger wäre es zu sagen, daß alles, was wir im Glauben über Jesus sagen, gleichzeitig auch eine Aussage über uns selbst ist. In diesem Abschnitt wollen wir uns auf Bultmann und Tillich beschränken, nicht nur weil sie die wichtigsten Vertreter einer existentialen Christologie sind, sondern auch zwei kontrastierende Ausgestaltungen vertreten. 9.2. Bultmanns klarste und zugleich umstrittenste Formulierung eines existentialen Verständnisses von Jesus Christus findet sich in dem kurzen Aufsatz Das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates (GuV 11,246-261). Als dieser Aufsatz erschien (1951), war Rudolf Bultmann bereits der bekannteste neutestamentliche Wissenschaftler in Europa und stand im Zentrum der Kontroverse um die von ihm angeregte Entmythologisierung. Die neutestamentliche Sprache sei in weiten Teilen eine objektivierende, mythologische Sprache, die ohne Zweifel dem 1. J h . sehr gemäß gewesen sei, die sich aber heute dem Verständnis des Evangeliums hinderlich in den Weg stelle. Dieses Evangelium sei die Botschaft einer neuen Möglichkeit menschlicher Existenz; wenn der moderne Mensch es verstehen und sich dafür oder dagegen entscheiden solle, müsse es neu gefaßt werden in einer Sprache, in der deutlich werde, daß sein Gegenstand unsere menschliche Existenz ist, und dies würde bedeuten, daß es in der Sprache menschlicher Existenz, insonderheit in der Sprache von M . -»Heideggers existentialer Analytik, zu interpretieren sei. M i t anderen Worten: Das Evangelium ist darzustellen als die christliche Antwori auf die Suche des Menschen nach sich selbst, nach seinem An-sich-Sein. Bultmann setzt an den Beginn seines Aufsatzes die Erklärung des Ökumenischen Rates: „Der Ökumenische Rat der Kirchen setzt sich zusammen aus Kirchen, die Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen". Indem wir aber sagen, „Jesus Christus ist G o t t " , bedienen wir uns der mythologischen Ausdrucksweise eines vergangenen Zeitalters. Als solche sei diese Aussage nicht nur überholt, sondern auch mißverständlich, da hier eine metaphysische Aussage über Gott gemacht schiene, während sie eigentlich als ein Glaubensbekenntnis zu verstehen sei. (Hier zeigt sich, daß Bultmann mit seinen Werturteilen, trotz des modernen Existentialisten-Vokabulars, in der Tradition des frühen Melanchthon - „Christus erkennen heißt seine Wohltaten erkennen" - und Ritschis steht.) In einem ersten Schritt zeigt Bultmann, daß im Neuen Testament selbst kaum jemals „Jesus Christus Gott g e n a n n t " wird ( a . a . O . 249). Das Bekenntnis des T h o m a s : „ M e i n Herr und mein G o t t ! " (Joh 2 0 , 2 8 ) ist die „einzige sichere Stelle", und hier handelt es sich ganz offensichtlich nicht um eine durchdachte theologische Aussage, sondern um ein Glaubensbekenntnis, ausgesprochen in einem Augenblick starker religiöser Erregung. Dieses W o r t müsse in einem existentialen, nicht aber in einem metaphysischen Sinne verstanden werden. Bultmanns nächster Schritt besteht in der logischen Analyse der Aussagen, in denen bekräftigt wird, daß Christus G o t t ist. „ R e d e n sie . . . von seiner (pooiq, oder reden sie von dem Christus pro mc? Wieweit ist eine christologische Aussage über ihn zugleich eine Aussage über mich? Hilft er mir, weil er der Sohn Gottes ist, oder ist er der Sohn Gottes, weil er mir hilft?" (a. a. O. 252). Bultmann beantwortet die von ihm hier gestellten Fragen in einem eindeutig existentialen Sinn. „Christus ist G o t t " heißt, daß ich in ihm dem Wort Gottes und d e m Handeln Gottes begegne. ( „ H a n d e l n " und „ W o r t " scheinen für Bultmann, wenn er von Gott spricht, praktisch identisch zu sein). N o c h deutlicher schreibt er: „Die F o r m e l , C h r i s t u s ist G o t t ' ist falsch in jedem Sinn, in dem Gott als eine objektivierbare Größe verstanden wird, mag sie nun arianisch oder nizäisch, o r t h o d o x oder liberal verstanden sein. Sie ist richtig, wenn , G o t t ' hier verstanden wird als das Ereignis des Handelns G o t t e s " (ebd. 258). An dieser Stelle scheint Bultmann ein Verbot jeglicher dogmatischen, spekulativen oder metaphysischen Christologie auszusprechen sie alle sind, wie er glaubt, „objektivierend", und objektivieren heißt, die dynamische existentiale Wirklichkeit ihrer Lebendigkeit zu berauben. Beachtet werden muß aber zugleich seine Aussage, daß G o t t zu verstehen sei als „das Ereignis des Handelns G o t t e s " . W i r können nichts über Gott als eine dauernde ewige Wirklichkeit aussagen - wir können das W o r t „ G o t t " nur im Z u s a m m e n h a n g mit einem Ereignis, nämlich wenn wir seinen zwingenden Anruf an uns erfahren, richtig sprechen. Durch

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Jesus oder die Predigt von Jesus (genitivus objectivus) werden wir angesprochen von Gottes Wort oder Handeln und erkennen Gott als Ereignis. Hieraus scheint sich zu ergeben, daß es für Bultmann keine systematische Lehraussage geben kann, die sich auf die Person Christi oder auf die Wirklichkeit Gottes bezöge. Für ihn gibt es nur das Bekenntnis, und das ist an den Augenblick gebunden. „So ist auch Christi Herr-Sein, seine Gottheit, immer nur je Ereignis" (ebd. 258). Hieraus erklärt sich auch Bultmanns Überzeugung, daß die persönliche Geschichte und die persönliche Eigenart Jesu unwichtig seien und daß —»Nachfolge nicht in der persönlichen frommen Verehrung Jesu bestehe. Jesus ist der Träger des Wortes, zuerst durch seine eigene Verkündigung und dann im apostolischen Kerygma, in dem er zum Verkündigten wurde und auf das sein eigenes Verkündigen nur vorbereitete. Im Hören und Verkündigen des Kerygmas spricht und handelt Gott, und hier findet das Ereignis von Christi Herr-Sein und Gottheit statt. D i e s e Darstellung J e s u Christi hat sehr viel, w a s für sie e i n n i m m t . Sie schweift nicht in scholastische Unterscheidungen und m e t a p h y s i s c h e S p e k u l a t i o n e n ab und bleibt in dieser H i n s i c h t der lutherischen T r a d i t i o n treu, so dal? m a n sie mit ebenso gutem R e c h t „luther i s c h " wie „ e x i s t e n t i a l " nennen k ö n n t e . Sie g e h ö r t d a n e b e n auch in die prophetische T r a d i t i o n und sieht - » N a c h f o l g e unter ethischen G e s i c h t s p u n k t e n als G e h o r s a m gegenüber d e m L i e b e s g e b o t ( - » L i e b e ) . M a n m u ß a b e r auch eine R e i h e von kritischen Fragen stellen. E b e n s o wie bei R i t s c h i s Werturteilen m u ß a u c h hier nach dem Grund gefragt werden, auf d e m der G l a u b e fußen soll: Inwiefern ist das W o r t J e s u Christi auch das W o r t G o t t e s ? Eine so wichtige E n t s c h e i d u n g k a n n nicht einfach willkürlich und beliebig sein. Auch ist n o c h die p h i l o s o p h i s c h e F r a g e zu b e a n t w o r t e n , wie ein göttliches W o r t auf uns einwirken k a n n durch M e n s c h e n w o r t - in W i r k l i c h k e i t also die F r a g e der I n k a r n a t i o n . Auch bestehen n o c h weitere F r a g e n über den J e - u n d - j e ' - C h a r a k t e r der Beziehung des G l ä u b i g e n zu G o t t und C h r i s t u s , die sehr episodisch erscheint. B u l t m a n n s S t a n d p u n k t hinsichtlich - » M y s t i k und Christusverehrung ist kein ausreichend fester; jedenfalls k r ä n kelt B u l t m a n n stark an d e m , w a s g e w ö h n l i c h bei M y s t i k und Pietismus als g r ö ß t e r Kritikp u n k t a n g e m e r k t wird, d e m - » I n d i v i d u a l i s m u s . B u l t m a n n spricht oft von dem pro me, aber nicht von einem pro ttobis. 9.3. Bei B u l t m a n n offen b l e i b e n d e F r a g e n und M ä n g e l finden sich zu einem gewissen G r a d b e h o b e n in der C h r i s t o l o g i e von Paul - » T i l l i c h ( 1 8 8 6 — 1 9 6 5 ) , der im zweiten B a n d seiner Systematischen Theologie, wenn a u c h ausgehend von der existentiellen Situation des M e n s c h e n , o n t o l o g i s c h e F r a g e n aufgreift. G o t t ist für T i l l i c h das „ S e i n - S e l b s t " , in einem gewissermaßen Heideggerschen Sinn verstanden als das, was für die W i r k l i c h k e i t steht, die nicht ein Seiendes ist, sondern jenseits aller Seienden steht und der Ursprung ihrer E x i s t e n z ist. W i s s e n von G o t t gibt es nur durch S y m b o l e , die über sich hinausweisen auf das G e h e i m n i s des h ö c h s t e n Seienden. Wenn ein - » S y m b o l nicht m e h r über sich hinausweist, dann wird es u m seiner selbst willen verehrt und dadurch zu einem A b g o t t . W i r gehen also von der G e g e b e n h e i t aus, in der der M e n s c h sich befindet. D i e natürliche T h e o l o g i e enthielt jedenfalls dies K ö r n c h e n W a h r h e i t , d a ß sie durch ihre Analyse der menschlichen Situation zeigte, d a ß die G o t t e s f r a g e zum M e n s c h s e i n hinzugehört. D e r M e n s c h in seiner E n d l i c h k e i t und E n t f r e m d u n g ist a u f der S u c h e nach der wahren Beziehung zum Sein. „ D e r M e n s c h als M e n s c h k e n n t die F r a g e n a c h G o t t " (Syst. T h e o l . 11,20). A b e r die A n t w o r t auf diese F r a g e k o m m t d u r c h O f f e n b a r u n g - nur durch G o t t gelangt der M e n s c h d a h i n , G o t t zu k e n n e n . T i l l i c h unterscheidet hier zwischen vorbereitender „ u n i v e r s a l e r " und „ l e t z t g ü l t i g e r " O f f e n b a r u n g . D i e erstere (in den nicht-christlichen R e l i g i o n e n und in religiösen P h i l o s o p h i e n zu finden) symbolisiert G o t t auf vielerlei Weise, m e h r oder weniger zutreffend. D i e zweite (das C h r i s t e n t u m ) n i m m t deswegen Letztgültigkeit für sich in A n s p r u c h , weil das S y m b o l selbst, durch das G o t t sich offenbart, negiert ist, so d a ß es ausschließlich über sich hinausweist. D e r T r ä g e r der O f f e n b a r u n g wird geopfert, das historische Bild von J e s u s von N a z a r e t h ist zerschlagen, so d a ß an die Stelle des M e n s c h e n J e s u s der Christus tritt. Christus wird „neues S e i n " g e n a n n t , das Sein, in d e m die E n t f r e m d u n g ü b e r w u n d e n ist und die rastlose S u c h e des M e n s c h e n nach E r l ö sung ihre Erfüllung findet ( a . a . O . 1 2 9 - 1 5 0 ) . A b e r auch T i l l i c h s Christologie war scharfer Kritik ausgesetzt. Aus dem B l i c k w i n k e l eines radikalen E x i s t e n t i a l i s m u s ist die Frage

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gestellt worden (F. Buri), ob man folgerichtig eine Ontologie mit existentialer Analytik verbinden könne. Kritik aus einer anderen Richtung (D. H. Kelsey) wirft Tillich vor, daß er in der Weise, wie er Symbole behandelt, Wahrheit mit emotionaler Erfüllung verwechsele. 10. Eschatologie

und

Befreiungstheologie

10.1. Wiederauflebendes Interesse an der Eschatologie. Im weiteren Verlauf des 20. Jh. hat sich die protestantische Theologie nach-Barthianischen und nach-Bultmannianischen Fragen zugewandt. Besonders Bultmann ist heftig angegriffen worden. Ihm wird vorgeworfen, er habe zwar viel von Eschatologie geredet, habe dabei aber das Wort seines eigentlichen Sinnes entleert. Ganz besonders habe er der Welt ihre Ausrichtung auf die Zukunft genommen, er habe die zentrale Vorstellung von der -»-Auferstehung (sowohl der Auferstehung Jesu als auch derjenigen der Toten) im Vollzug der Entmythologisierung zu einer geistigen Wahrheit gemacht, die schon in der Erfahrung der glaubenden christlichen Gemeinde „realisiert" sei. Neue Stimmen lassen sich hören mit der Behauptung, Eschatologie sei nicht nur ein mythologisches Gewand des Evangeliums, ein bloßer Rückstand aus dem 1. Jh., den es jetzt abzulösen gelte, damit das Eigentliche freigesetzt werde, sondern Eschatologie selbst sei das eigentlich Wesentliche des Evangeliums, so daß jeder Versuch, dieses Element herauszulösen oder auch nur die damit verbundene Zukunftsdimension abzutun, ein Angriff auf die Substanz des christlichen Glaubens sei. 10.2. Der bekannteste Vertreter der neuen eschatologischen Theologie ist wohl Jürgen Moltmann (geb. 1926). In seiner Theologie der Hoffnung ( 12 1985) ist -»Verheißung als zentrale Kategorie für das Verstehen der Bibel an die Stelle von Offenbarung getreten. Gott wird hier als die Macht der Zukunft bezeichnet, und „der christliche Glaube lebt von der Auferweckung des gekreuzigten Christus und streckt sich aus nach den Verheißungen der universalen Z u k u n f t Christi" (Theol. der Hoffnung 12). Jesu Auferstehung ist der Christenheit Verheißung oder Versprechen der zukünftigen Auferstehung der Toten. All dies erhält eine gesellschaftspolitische Bedeutung in Form einer utopischen Vision eines zukünftigen Reiches Gottes auf Erden. Bultmann wird sowohl wegen seiner Entmythologisierung der letzten Dinge als auch wegen seines Individualismus angegriffen. Moltmanns Theologie der Hoffnung ist in mancher Hinsicht eine theologische Parallele zu dem utopischen, quasi-pantheistischen Neomarxismus E. —»Blochs, wie er in seinem weit ausholenden und wortreichen Werk Das Prinzip Hoffnung (1959) zum Ausdruck kommt. Ein weiteres wichtiges Buch Moltmanns ist Der gekreuzigte Gott ( 4 1981), in dem seine starke Betonung von -»Hoffnung und Z u k u n f t dadurch qualifiziert wird, daß er hier die Allgegenwart des Leidens im menschlichen Leben zugibt. Er wendet sich gegen die überlieferten Vorstellungen von der Leidenslosigkeit Gottes und bringt vor, wenn wir es ernst meinten mit dem Glauben, daß Gott in Christus war, dann müßten wir ihn auch als an den Leiden der Welt teilnehmend denken. Dies führt ihn zu einer Form von Panentheismus. Wiederholt betont er, daß das alte Königsbild vom Gott des Monotheismus revolutioniert worden sei durch Inkarnation und Kreuzigung, und läßt auch hier wieder Bloch durchklingen. Die Frage stellt sich hier jedoch, ob Moltmann nicht den Weg einer Remythologisierung eingeschlagen hat und ob seine Einbeziehung des Marxismus nicht neue Probleme aufgeworfen hat. 10.3. Mit seinen Grundzügen der Christologie (1964 6 1982) ist Wolfhart Pannenberg (geb. 1928) der Verfasser eines der wichtigsten Bücher zur Christologie, die in den letzten Jahren geschrieben wurden. Wie Moltmann hebt er eschatologische Erwartung und die Auferstehung, sowohl die Jesu in der Vergangenheit als auch die der Toten in der Zukunft, stark hervor, erklärt, daß dies zum Wesentlichen des christlichen Glaubens gehöre, und greift Bultmann wegen seiner Entmythologisierung dieser Punkte an. Anders als Moltmann unternimmt er es jedoch nicht, politische Schlüsse daraus zu ziehen. Der stärkste philosophische Einfluß für Pannenberg ist wohl Hegel, und Pannenberg ist sich

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der Notwendigkeit einer Geschichtsphilosophie zur Verbindung von Fakten und Bedeutung bewußt. Bei seiner Darstellung der Person Christi insistiert er darauf, daß der Ausgangspunkt bei seiner Menschheit liegen müsse und daß sie das volle Gewicht erhalten müsse, aber er versteht die Auferstehung als den kritischen Transformationspunkt in der Geschichte Jesu. Dieser Auferstehungsgedanke, der von so überragender Bedeutung ist, ist jedoch von einigen Unklarheiten umgeben. Einerseits lehnt Pannenberg jegliches wörtliche Verständnis der Auferstehung ab, andererseits stimmt er auch nicht Bultmanns Ansicht zu, daß Auferstehung eine mythologische Vorstellung sei. Seine eigene Interpretation ist leider nicht ganz deutlich. 10.4. Zusammen mit Blochs Philosophie hat Moltmanns Theologie einen starken Einfluß auf einige der lateinamerikanischen „Befreiungstheologen" ausgeübt (—•Lateinamerika). Das Hauptwerk aus dieser „Schule", das sich mit der Person Christi befaßt, ist wohl das Buch des Jesuiten Jon Sobrino mit dem Titel Cristologia desde america latina (1976). Im Anschluß an Theologen wie Karl Rahner und Pannenberg geht Sobrino in seinen Untersuchungen von dem menschlichen Jesus aus und nicht von dem übernatürlichen Christus des Dogmas. Hier läßt sich für ihn eine gute Verbindung mit seinem politischen Engagement, das er mit Moltmann teilt, herstellen. Er sagt nämlich, daß christologische Reflexion an dem praktischen Ziel, durch Veränderung der sündigen Welt dem Reich Gottes zum Anbruch zu verhelfen, ausgerichtet sein müsse. Hieraus ergibt sich, daß die überlieferten neutestamentlichen Titel Jesu durch einen neuzeitlichen ersetzt werden sollten — durch den Namen „Befreier". Dies bedeute aber nicht, daß Jesus lediglich der Rang einer politischen Figur zukomme. Sobrino führt aus, daß es nur insofern richtig ist, Jesus als Befreier zu bezeichnen, als wir uns immer wieder daran erinnern, daß er es ist, durch den wir lernen müssen, was Befreiung wirklich ist und wie dieses Ziel zu erreichen ist.

11. Jesus Christus im römisch-katholischen

Denken

11.1. Das Zweite Vatikanum (-»Vatikanum II) hat eine starke Neubelebung der römisch-katholischen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jh. mit sich gebracht. Vor diesem Konzil enthielten die Handbücher zur Lehre der Kirche kaum mehr als Wiederholungen der traditionellen dogmatischen Formeln, zugegebenermaßen mit einigen Schwerpunktverschiebungen und Erklärungen von wechselnder Ausführlichkeit. Aber, wie Karl Rahner ganz richtig bemerkte, noch die 1950 erschienenen theologischen Handbücher waren nicht sehr verschieden von denen, die 1750 erschienen waren, und das trotz all der welterschütternden Ereignisse der dazwischen liegenden zwei Jahrhunderte. Heute dagegen ist katholische Theologie bemerkenswert frisch und voll neuer, fruchtbarer Gedanken. Sie hat manche der Erkenntnisse, die die protestantische Theologie im 19. Jh. gemacht hatte, aufgenommen, ist sich dabei aber stärker der Tradition bewußt, und darum ist es ihr oft besser gelungen, die neuen Erkenntnisse mit den ererbten Dogmen zu verbinden. 11.2. Ein prominentes Beispiel für einen solchen heutigen katholischen Theologen, der wertvolle neue Einsichten zum modernen theologischen Verständnis von Jesus Christus beigetragen hat, ist Karl -»Rahner (1904-1984). Hier sei nur verwiesen auf seine Schriften zur Theologie, im besonderen Band I, IV und V und auf seinen Grundkurs des Glaubens (1976). Charakteristisch für Rahner ist, daß er die in Chalcedon gegebene Definition als Grundlage für die theologische Reflexion über Jesus Christus akzeptiert, aber ebenso ist auch charakteristisch für ihn, daß er betont, diese berühmte dogmatische Definition sei ebenso sehr ein Anfang wie ein Ende und sie sei nicht dazu bestimmt, jede weitere Diskussion christologischer Themen zu ersticken oder auf alle Fragen über Jesus Christus eine erschöpfende Antwort zu geben. Natürlich könne es nicht darum gehen, Chalcedon aufzugeben, aber jede neue Generation müsse es sich neu aneignen und müsse die Wahrheit, die darin ausgedrückt werden sollte, für sich selbst finden (Sehr, zur Theol. 1,169-222). Die Formel von Chalcedon basiere auf der Bibel, und an die biblischen Quellen wendet sich Rahner, um hier die Wahrheit über Jesus Christus neu zu entdecken. Besonders richtet er seine Aufmerksamkeit auf solche Stellen, die die Menschheit Jesu betonen, seine wahre Teilhabe am kreatürlichen Sein. Wir sehen ihn im Gebet zum Vater

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und im Gehorsam dem Vater gegenüber. Die urchristliche Predigt beginnt „von u n t e n " G o t t hat, in der Predigt des Petrus, den gekreuzigten Jesus „zum Herrn und Christus" gemacht (Act 2,36). Aber ist diese Verkündigung nur unreflektiert „primitiv", fragt R a h ner. Ist sie wirklich durch die spätere Inkarnationschristologie des Johannes und der patristischen Schriftsteller überholt oder sagt sie vielleicht etwas Wesentliches über Jesus Christus, was die späteren Formulierungen, für sich genommen, allzu leicht verdecken? Durch Einführung des Gedankens vom Menschen in der Transzendenz gelingt es Rahner, eine „Urchristologie" zu entwickeln. Die menschliche N a t u r ist offen für Gott, so daß Jesus Christus gerade dadurch, daß er Mensch im vollen Sinne ist (was wir niemals sind), G o t t in die Welt des Endlichen einbringt. So verstanden kann Christologie als transzendentale Anthropologie beschrieben werden; umgekehrt kann man sagen, daß Anthropologie eine unausgeführte Christologie ist (Sehr, zur T h e o l . I V , 1 3 7 - 1 5 5 ) . So erhält die Christologie „von u n t e n " bei Rahner einen neuen Anstoß, aber in der Weise, daß das Ergebnis nicht eine Reduktion ist. 11.3. Der belgische Dominikaner Edward Schillebeeckx (geb. 1914) ist der Verfasser zweier gewichtiger Bände, der erste mit dem Titel Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden (1974) und der zweite Christus und die Christen (1977). Ebenso wie R a h n e r geht er auf die neutestamentlichen Quellen zurück, aber im Unterschied zu vielen modernen Neutestamentlern glaubt er an die Möglichkeit, daß sich eine ganze Menge historischer Information über Jesus aus ihnen gewinnen lassen könne. Die ältesten Schichten der Überlieferung zeigten Jesus als einen Propheten. Schillebeeckx findet es bedauerlich, daß der Begriff des Propheten in der Literatur vernachlässigt und unterschätzt worden sei. Er selbst sieht diesen Begriff als einen sehr fruchtbaren Ausdruck, in dem schon die Keime der zu Nizäa und Chalcedon führenden Entwicklung schlummerten, obwohl er gleichzeitig der Meinung ist, daß die bis dahin noch offene Pluralität christologischer Optionen durch diese beiden Konzilien eingeengt worden sei. Ein Schwachpunkt in Schillebeeckx' Ausführungen ist sein Verständnis der Auferstehung Christi. Der Glaube hieran, meint er, stütze sich nicht auf das leere G r a b oder die Erscheinungen Christi unter den Jüngern, sondern auf das Studium der Heiligen Schrift in den Tagen unmittelbar nach der Kreuzigung. Es fällt schwer, zu glauben, daß das ausgereicht h a b e und nichts Dramatischeres nötig gewesen sein sollte, um die trauernden Jünger zu der Überzeugung gelangen zu lassen, daß ihr Herr von den Toten auferstanden sei. 11.4. Erwähnt werden sollte auch der französische katholische T h e o l o g e Louis Bouyer (geb. 1913). Er behandelt die Hauptthemen christlicher Theologien in Le Père invisible (1976), Le Fils éternel (1974), Le Consolateur (1980), L'église de Dieu (1970). Bouyer bedient sich einer ganz speziellen M e t h o d e , die auf den ersten Blick einfach aussieht, tatsächlich aber sehr subtil ist. Er nimmt sich die Lehre, die er untersuchen will, vor - in diesem Fall die Lehre von Jesus Christus - , unterzieht erst ihre biblischen Wurzeln einer sorgfältigen Prüfung und verfolgt danach ihre Entwicklung durch das patristische Zeitalter, das Mittelalter und die Neuzeit im Detail. Jedes Stadium behandelt er mit sorgfältiger Kritik und Reflexion. Diese M e t h o d e folgt dem von der Überlieferung selbst vorgezeichneten Weg. So gleicht die Überlieferung einem Fluß, sie behält ihre Identität und ist doch fähig, neue Ideen zu assimilieren. Dieses Traditionsverständnis befindet sich offensichtlich in Übereinstimmung mit dem in dem Dokument Lumen gentium niedergelegten Verständnis von Vatikanum II; außerdem ist auch der Einfluß von Bouyers OratorianerBruder - » N e w m a n zu sehen, und hier erklärt sich auch Bouyers Nähe zum Anglikanismus (-•Anglikanische Kirchengemeinschaft) mit seiner starken historischen Ausrichtung und seiner Berufung auf die Bibel und die Kirchenväter. Bouyer zeigt, daß die überlieferte Christologie noch eine lebendige Kraft hat, die einflußreich ist und sich intellektuell vertreten läßt.

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Jesus C h r i s t u s V I I

12. Die orthodoxen

Kirchen des Ostens

12.1. D i e O r t h o d o x e n K i r c h e n des O s t e n s h a b e n ihre Lehre und ihr Verständnis des christlichen D o g m a s w o h l in n o c h s t ä r k e r e m M a ß e unverändert über die J a h r h u n d e r t e erhalten als die r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e K i r c h e . D e r reiche Schatz der o r t h o d o x e n T r a d i t i o n ist im Westen vor allem durch die Arbeiten von T h e o l o g e n , die sich in F r a n k r e i c h , in den Vereinigten Staaten und in anderen westlichen L ä n d e r n niedergelassen h a b e n , b e k a n n t g e w o r d e n , und an m a n c h e n P u n k t e n besteht eine erstaunliche N ä h e zwischen d e m , was diese T r a d i t i o n sagt, und einigen der Entwicklungslinien in der T h e o l o g i e , wie sie in den vorangegangenen A b s c h n i t t e n beschrieben wurden. Von den T h e o l o g e n , deren A r b e i t e n g r o ß e B e a c h t u n g gefunden h a b e n , sollten G e o r g e s Florovsky ( 1 8 9 3 - 1 9 7 1 ) , V l a d i m i r L o s s k y ( 1 9 0 3 - 1 9 5 8 ) und J o h n M e y e n d o r f f (geb. 1921) genannt werden. 12.2. Im besonderen zwei T h e m e n sind zu e r w ä h n e n , bei denen östliche und westliche T h e o l o g e n sich in ihrer R e f l e x i o n über J e s u s C h r i s t u s treffen. Die zentrale B e d e u t u n g der I n k a r n a t i o n in der östlichen T r a d i t i o n und der G l a u b e , d a ß in Christus das g a n z e M e n schengeschlecht in ein Verhältnis der Solidarität mit G o t t gebracht ist (so z. B. L o s s k y , Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche), hat sehr viel g e m e i n s a m mit B a r t h s L e h r e von der B u n d e s g e n o s s e n s c h a f t zwischen G o t t und den M e n s c h e n , wie sie d u r c h die E r w ä h l u n g J e s u Christi begründet wurde. W e n n m a n diese Lehre einer C h r i s t o l o g i e „ v o n o b e n " zuordnet, so k a n n m a n das G e g e n s t ü c k in der o r t h o d o x e n L e h r e von der Vergöttlichung des M e n s c h e n sehen, die M e y e n d o r f f in seinem Buch Christ in Eastern Christian Thought ausdrücklich mit R a h n e r s L e h r e von der Transzendenz des M e n s c h e n vergleicht. Diese kurzen B e m e r k u n g e n müssen hier genügen, um d a r a u f hinzuweisen, d a ß in der o r t h o d o x e n T r a d i t i o n M ö g l i c h k e i t e n s c h l u m m e r n , die es gelingen lassen k ö n n t e n , die beiden scheinbar g r ö ß t e n G e g e n s ä t z e im Verständnis J e s u Christi einander n ä h e r zu bringen. Anmerkungen 1

2

3

I. Kant, GS X X I , 1. Hälfte: Opus postumum, 25. Vgl. Erich Adickes, Kants Opus postumum, 1920, 824 (Kant-Studien 50). Hegel zitiert hier das „Klägliche Grab-Lied" (1643) von Johann Rist (vgl. EKG 73,2). Zur Herleitung und Interpretation der Formel vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977 ( 5 1986), 8 3 - 1 3 2 . Karl Barth, Vorwort zu: Dogmatics in Outline, London 1959, 5. Quellen und Literatur

s. S. 62

VII. Dogmatisch 1. Unterschiede zwischen neuzeitlichen Aussagen und der Christologie der kirchlichen Tradition 2. Die historische Fragestellung 3. Die Menschheit Christi 4. Gott in Christus: Inkarnation 5. Das Werk Christi 6. Die Geheimnisse Christi 7. Die Einzigartigkeit Christi (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 62)

1. Unterschiede chen Tradition

zwischen neuzeitlichen

Aussagen und der Christologie

der

kirchli-

1.1. Die heutige Situation. Die C h r i s t o l o g i e ist in ihrer klassischen F o r m u l i e r u n g , wie sie ausgehend v o m N e u e n T e s t a m e n t im L a u f e der frühen christlichen J a h r h u n d e r t e bis N i z ä a und C h a l c e d o n e n t w i c k e l t worden ist, bis zum Beginn der Neuzeit im wesentlichen unverändert geblieben. Selbst die R e f o r m a t i o n b r a c h t e keine grundlegende Veränderung (s. T R E 1 6 , 7 5 9 f f ) , denn o b w o h l L u t h e r für ein m e h r existentiell ausgerichtetes und weniger scholastisch geprägtes Verständnis J e s u Christi eintrat und trotz M e l a n c h t h o n s ber ü h m t e m Satz in der ersten Ausgabe der Loci communes (1521): „ C h r i s t u s e r k e n n e n heißt seine W o h l t a t e n e r k e n n e n " , blieb die klassische Christologie in den Grundzügen ihres

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Aufbaus in allen größeren christlichen Kirchen mit nur geringen Abweichungen gemeinsam erhalten. Im Zentrum dieser klassischen Christologie stand das Paradoxon vom Gott-Menschen, einer Person, in der zwei vollständige Naturen, eine menschliche und eine göttliche Natur, zusammentreffen. Dieses Paradoxon ist zugegebenermaßen ein so außerordentliches, daß die Erhaltung einer Ausgewogenheit schon immer schwierig war, und so haben sich in der christlichen Theologie im Laufe der Geschichte viele Häresien entwickelt. Vielleicht kann man tatsächlich wie - > G o r e und andere sagen, daß die klassische Christologie in der Art ihrer Darstellung einer doketischen Tendenz im kirchlichen Verständnis von Christus Vorschub geleistet hat. Aber seit der Aufklärung ist die Entwicklung mehr und mehr in die entgegengesetzte Richtung gegangen, und Christus wurde in zunehmendem M a ß e als rein menschlich dargestellt. Die Versuche Barths und der ihm nahestehenden Theologen, diese Tendenz umzukehren, waren letztlich nicht erfolgreich, und das, was an anderer Stelle als theologische Erneuerung bezeichnet worden ist, zeigt sich nun als ein nur vorübergehendes Innehalten der in Richtung auf eine mehr menschheitliche Christologie hindrängenden Entwicklung. Die Frage ist damit jedoch noch nicht abschließend beantwortet. Vielmehr muß man sich fragen, ob es Möglichkeiten gibt, einen Einklang zwischen der Tradition und den modernen Tendenzen herbeizuführen. Die klassische Zwei-Naturen-Lehre ist, wie Hans Küng sagt, „weder gedankenlos zu wiederholen noch gedankenlos abzutun, sondern differenziert für die Gegenwart zu interpretieren." 1 Dennoch mutet die klassische Christologie dem modernen Denken fremdartig an, nicht nur in ihrer Sprache und Begrifflichkeit, sondern auch in den ihr zugrundeliegenden unausgesprochenen Voraussetzungen. Fünf Punkte sollen hier genannt werden, an denen das moderne Denken sich in einer mehr oder weniger harten Kollision mit der überlieferten Lehre von Jesus Christus sieht. 1.2. Die historische Frage. Die klassische Christologie ging von der Annahme aus, daß wir verläßliches, ja sogar unfehlbar sicheres historisches Wissen über Jesus besitzen. Es wurde kein Versuch einer Unterscheidung zwischen Geschichte und Mythologie oder Legende gemacht, so daß zum Beispiel Kreuzigung und Auferstehung als Geschehnisse der gleichen Art angesehen wurden. Die verschiedenen neutestamentlichen Dokumente wurden nicht auf ihre historische Vertrauenswürdigkeit hin miteinander verglichen, so daß z.B. das Evangelium des Johannes im gleichen M a ß e wie die Synoptiker als Bericht von dem, was Jesus tatsächlich gesagt und getan hatte, eingeschätzt wurde. Diese Situation hat sich mit dem Aufkommen der historischen-kritischen Forschung vollkommen gewandelt. Heute, da das Neue Testament seit mehr als zwei Jahrhunderten einer solchen Kritik unterzogen worden ist, stellt sich die Frage, was wir denn überhaupt noch von dem wirklichen Jesus der Geschichte wissen können. Ist das historische Zeugnis einer völligen Erosion zum Opfer gefallen? Tatsächlich scheint sich eine Entwicklung abzuzeichnen, dem historischen Zeugnis des Neuen Testaments wieder mit mehr Aufnahmebereitschaft zu begegnen, und vielleicht ist der Höhepunkt der Skepsis bereits überschritten. 2 Aber eine Frage bleibt: Wie wichtig ist es, historisches Wissen von Jesus zu haben? Hat solch ein Wissen überhaupt irgendeine Bedeutung für die Theologie oder gar für den Glauben? 1.3. Wo liegt der Ausgangspunkt der Christologie? Die Christologie der Tradition war eine Christologie „von o b e n " . Das nizänisch-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis erreicht seinen dramatischen Höhepunkt mit dem „ d e s c e n d i t " , das erst kommt, nachdem die Gottheit Christi in den erhabensten Formulierungen ausgesagt worden ist. Seine Menschheit ist also auf den zweiten Platz verwiesen; dabei hat die schon erwähnte doketische Tendenz hier bereits festen Fuß gefaßt. Besonders in einem säkularen Zeitalter wie dem unsrigen, wo vielen Leuten schon das Wort „ G o t t " an sich nicht mehr viel sagt, ist es nicht möglich, von der göttlichen Seite auszugehen. Schon der Begriff der Inkarnation besagt aber ein „Abholen" der Menschen dort, wo sie sich tatsächlich befinden, und dies bedeutet wiederum, daß eine neuzeitliche Christologie ihren Ausgangspunkt „von unt e n " nehmen muß, ausgehend von der Menschheit Christi, wie dies tatsächlich auch viele

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Theologen des 19. und 20. Jh. getan haben (s.o.). Wenn man aber sagt, daß die Christologie bei der Menschheit ansetzen muß, so heißt das keineswegs, daß damit bereits eine Entscheidung getroffen wäre, daß sie nicht darüber hinausgehen könne. 1.4. Das Problem der Metaphysik. Die überlieferte Christologie hatte ein starkes metaphysisches Element. Schon im Neuen Testament zeichnen sich mehrere Möglichkeiten ab, Christus zu denken, was sich in den verschiedenartigen Titeln und ihn beschreibenden Aussagen widerspiegelt. Einige von diesen sind rein funktional, andere mythologisch. Im Laufe der Zeit hat das metaphysische Verständnis von der Person Christi den Vorrang erhalten. Es mag durchaus der Fall sein, daß aufs Ganze gesehen es nicht möglich ist, in der Christologie ohne Metaphysik auszukommen, und auch die Beantwortung der Frage, wer Jesus ist im Unterschied zu dem, was er tut, läßt sich auf die Dauer nicht umgehen. Bei Bultmann und Ritsehl (s.o.) hat sich gezeigt, daß Werturteile und eine existentiale Interpretation die Frage nach Jesus Christus nicht von sich aus in angemessener und ausreichender Weise zu beantworten vermögen. Nichtsdestoweniger kann man in einem Zeitalter wie dem unsrigen, in dem die Metaphysik selbst unter Philosophen unpopulär und suspekt geworden ist, die metaphysische Frage nach Jesus sozusagen nur in der begleitenden Stimme zu Gehör kommen lassen. Wir müssen uns hier besonders davor hüten, lediglich spekulativ zu werden oder uns in scholastischen Distinktionen zu verlieren, und dürfen nicht vergessen, daß nach Luther und Melanchthon die höchste Erkenntnis Christi eine Erkenntnis „uns zum Heil" ist. 1.5. Christus und das Menschengeschlecht. Die Versuche der klassischen Christologie, die Person und das Werk Christi zu der ganzen Menschheit in Beziehung zu setzen, haben nie zu sehr befriedigenden Ergebnissen geführt. Man hat diese Beziehung in quasimagischer Weise zu erklären versucht, so als ob dadurch, daß der göttliche Logos das Menschsein angenommen hat, die ganze Menschheit irgendwie eine neue Qualität hinzugewonnen habe. Oder man verstand Christus als den Stellvertreter, dessen Gerechtigkeit durch eine gesetzliche oder (genauer gesagt) eine quasi gesetzliche theologische Fiktion der ganzen Menschheit zugerechnet wird. Es verwundert nicht, daß solche Vorstellungen heute keinen großen Anklang mehr finden; das Problem bleibt jedoch unverändert bestehen. Wie ist es möglich, daß dieser Mensch, dieser Jesus von Nazareth, eine vitale Bedeutung für alle Menschen einschließlich uns selbst hat, die wir zweitausend Jahre nach seinen Erdentagen leben? Ein neues Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen und eine neue Begrifflichkeit, die uns heute mehr sagt als die Theologien der christlichen Tradition, können hier vielleicht den Weg zu einer Beantwortung dieser Fragen weisen. 1.6. Die Einzigartigkeit Christi. Jesus Christus nimmt zwar in der christlichen Religion die absolut zentrale Stellung ein, doch gibt es auf der Welt noch viele andere Religionen und viele andere „Erlöser". Natürlich sind sich die Christen immer der Tatsache bewußt gewesen, daß es andere religiöse Überzeugungen gibt — wie schon Paulus sagt: „wie es ja viele,Götter' und viele,Herren' gibt" (I Kor 8,5). Von Anfang an waren sich die Christen sowohl des Judentums als auch des Heidentums in seinen vielfältigen Formen bewußt, aber diese wurden im allgemeinen als Irrtümer betrachtet. Heute ist die Situation eine ganz andere. Wir erkennen, daß Vielfalt und Breite der Religionen in der ganzen Welt sehr viel größer sind, als man sich das in den ersten Jahrhunderten oder selbst noch vor zweihundert Jahren auch nur erträumt hätte. Wir erkennen auch, daß viele dieser Religionen einen tiefen spirituellen und ethischen Inhalt haben und zu einer Lebensführung anleiten, die von vielen als Heilsweg betrachtet wird. Nur wenige Christen wären heute noch schnell bei der Hand, diese nicht-christlichen Wege als bloße Irrtümer abzutun. In zunehmendem Maße (obwohl nicht überall) ist der Dialog an die Stelle der Polemik getreten, und Berührungspunkte wie auch Unterschiede werden eher in einem Geist gegenseitiger Achtung erforscht. Welche Konsequenzen ergeben sich jedoch hieraus für das Verständnis Jesu Christi? Kann man heute noch, wie viele Theologen in der Vergangenheit, sagen, daß hier und nur hier allein das Heil zu finden ist? Vielleicht sollten wir uns diese Frage neu stellen, und das nicht nur im Licht unseres erweiterten Kenntnisstandes in

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bezug auf andere Religionen, sondern auch, indem wir neu darüber nachdenken, was mit dem Wort „einzigartig" gemeint ist. 2. Die historische

Fragestellung

2.1. Die Auswirkung der neutestamentlichen Forschung. Seit Mitte des 19. Jh., als die Erforscher des Neuen Testaments durchaus noch zuversichtlich daran glaubten, daß es ihnen möglich sei, den sog. „historischen" Jesus zu rekonstruieren, haben sich grundlegende Veränderungen vollzogen, die den Eindruck hinterlassen, daß solche historische Information sich unserem Zugriff entzieht. Heute ist praktisch kein nennenswerter Wissenschaftler mehr der Uberzeugung, daß die Evangelien Augenzeugenberichte vom Lebensweg Jesu seien. Die Vertreter der Formkritik haben aufgezeigt, daß die Einheiten, aus denen sich die Evangelien zusammensetzen, Schöpfungen der frühen Kirche sind und uns mehr über ihr Leben als über das Leben Jesu berichten, während die Vertreter der Redaktionskritik dargelegt haben, wie aufeinanderfolgende Bearbeiter den Stoff so überarbeitet haben, daß er zum Träger bestimmter Deutungen sowohl Jesu als auch der Verkündigung der Kirche wurde. Es ist nicht zu leugnen, daß die Vertrauenswürdigkeit des Neuen Testaments, als historisches Dokument betrachtet, stark erschüttert ist. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wir hatten festgestellt, daß systematische Theologen nach einer Christologie „von unten" suchten, und dies eben bedeutet nichts anderes, als sich neu und ernsthafter mit dem Menschsein Christi einzulassen. Gerade da die Systematiker in diese Richtung aufbrechen, zeigt es sich, daß die Neutestamentier die Unmöglichkeit eines zuverlässigen Wissens von dem historischen Jesus festgestellt haben. Wie ist es dann aber möglich, sich in der angestrebten Weise mit der Frage der Menschheit Christi auseinanderzusetzen? Die Versuchung läge vielleicht nahe, historische Fragen ganz und gar auszuklammern. Neutestamentier sind bekannt für ihre Vielfalt an Forschungsergebnissen, und die neutestamentliche Forschung befindet sich ständig im Fluß. Es sieht nicht so aus, als ob diese in ständiger Bewegung befindlichen Meinungen jemals zu einer Übereinstimmung gelangen könnten; vielmehr scheint es, daß, solange die Systematiker die neutestamentliche Forschung berücksichtigen, zentrale Glaubenslehren immer in Gefahr sind, erschüttert zu werden, sobald neue historische Hypothesen vorgebracht werden. Wäre es da nicht vernünftig, wenn der systematische Theologe den von Strauß und Bultmann vorgezeichneten Weg einschlüge und für sich in Anspruch nähme, daß die dogmatische Wahrheit der Evangelien ohne Rücksicht auf die Frage nach ihrer historischen Zuverlässigkeit zu erheben sei? Dies hieße jedoch, sich vorzeitig der gestellten Aufgabe zu entziehen. Das historische Problem kann nicht einfach als unerheblich abgetan werden. Es genügt nicht, ein Konzept von Christus zu entwickeln, sei es nun ausschließlich idealistischer oder existentialer Prägung. Ein solches Ideal wäre zwar in der Tat nicht ohne Bedeutung, und es könnte sicher die Erwartungen nicht weniger Leute erfüllen, aber die Bedeutung, die Jesus in christlicher Einschätzung hat, würde dadurch stark verändert. Das Christentum hat von sich behauptet, eine historische Religion zu sein, und der springende Punkt dieser Behauptung (im Gegensatz etwa zum Piatonismus und jeder Form von philosophischem Idealismus) liegt darin, daß das Ideal tatsächlich unter historischen Bedingungen Wirklichkeit geworden ist. Oder anders ausgedrückt: Im Christentum gibt es nicht nur einen Logos (viele Nichtchristen, sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit, haben eine solche Vorstellung), sondern dieser Logos hat Fleisch angenommen und hat unter uns gewohnt. Diese konkrete historische Aussage gibt dem Christentum seinen Ansatzpunkt in der Welt, wie sie ist, und teilt dieser Welt seinen Geist der Hoffnung und des Vertrauens mit. Das Christentum verkündigt den Logos nicht als ein fernes Ideal, sondern als eine Wirklichkeit, die einen Platz hat im Gewebe der Geschichte und die Gestalt geworden ist in einem tatsächlichen Menschen. Diese Aussage ist für das Christentum wesentlich und auch in Neuformulierungen der Lehre unerläßlich, aber ohne Frage ist das Christen-

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tum an dieser Stelle sehr viel leichter angreifbar als Religionen, die sich nur mit metaphysischen und zeitlosen ethischen Wahrheiten befassen. Andererseits könnte man aber auch behaupten, daß in den jüngsten neutestamentlichen Forschungen doch wieder eine stärkere positive Tendenz zu beobachten ist als noch vor einer Generation. Vielleicht ist dies so, aber Theorien lösen einander so schnell und unerwartet ab, daß man nicht zu viel auf das geben sollte, was sich dann vielleicht nur als ein vorübergehendes Nachlassen kritischer Schärfe erweisen könnte. Schillebeeckx z. B. ist in seinem Entwurf eines detaillierten historischen Porträts Jesu sehr viel weiter gegangen als die meisten Autoren der jüngsten Zeit, aber in der Bewertung seines Werkes herrscht keineswegs Übereinstimmung unter Neutestamentlern. Der sicherste Weg für den Dogmatiker, wenn er das historische Problem nicht einfach ausklammern will, wäre wohl der, sich in seiner theologischen Arbeit von der Annahme leiten zu lassen, daß die mit der größten Skepsis gezogenen Schlußfolgerungen seiner neutestamentlichen Kollegen diejenigen sind, die er ernst nehmen kann. Das heißt nicht, daß er all diesen skeptischen Schlußfolgerungen auch zustimmen müßte, sondern nur, daß er berücksichtigen muß, daß sie jedenfalls ein Fragezeichen hinter viele der historischen Aussagen setzen, die früher nicht angezweifelt wurden. Z. B. haben viele der älteren Bücher über die Person Jesu ein Kapitel über Jesu Selbstverständnis und sein messianisches Bewußtsein, aber die historisch-kritische Forschung hat zu diesem Thema so viele Zweifel aufgeworfen, daß man sich wertender Aussagen hierüber enthalten sollte. 2.2. Historische Skepsis und Christologie. Als ein gutes Beispiel für eine recht skeptische Position gegenüber dem historischen Jesus kann Bultmann dienen. Natürlich ist selbst Bultmann nicht absolut skeptisch, sondern gesteht ein, daß die Evangelien echte Erinnerungen an die Worte Jesu und an einzelne Ereignisse in seinem Leben enthalten. Angenommen wir sind bereit, selbst wenn Bultmanns vorsichtigste Schlußfolgerungen uns nicht überzeugen, von der Annahme auszugehen, daß sie richtig sein könnten: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Theologie? Ein solcher Versuch wäre nicht nur an sich interessant, sondern er würde auch den Dogmatiker vor der Verlegenheit bewahren, vermeintlichen historischen „Tatsachen" zu vertrauen, die vielleicht später durch die weitere historische Forschung ausgehöhlt werden. Besonders zwei Fragen Bultmanns sind zu nennen, die das Problem der Person Christi sozusagen an seinem „wunden Punkt" berühren: Verstand Jesus sich selbst als den Messias? Und: Wie verstand Jesus seinen eigenen Tod? Auf beide Fragen gibt Bultmann Antworten, die nicht mit der christlichen Tradition übereinstimmen. Wir können Bultmann in dieser Sache zustimmen oder seine Ansicht ablehnen, wenn wir ihr aber jedenfalls vorläufig unsere Zustimmung nicht versagen, welche Bedeutung hat sie dann für die Dogmatik 3 . 2.3.1. Hatte Jesus ein messianisches Bewußtsein? Bultmann behauptet, Jesus habe sich selbst nie als Messias verstanden. Sehr viel wahrscheinlicher habe er sich selbst als einen messianischen oder eschatologischen Propheten gesehen, der auf das Kommen eines übernatürlichen Abgesandten Gottes - den „Menschensohn" - hindeutete, der er aber selbst nicht war. Dies kann Bultmann gut belegen. Die Beweislage ist zwar zugegebenermaßen nicht zwingend, denn als die Evangelien niedergeschrieben wurden, hatte sich schon die Überzeugung durchgesetzt, daß Jesus der Messias und der von Gott Gesandte war, der das neue Zeitalter heraufführen sollte. Aber trotz späterer Bearbeitungen sind in der Überlieferung Stellen erhalten geblieben, die darauf hinzuweisen scheinen, daß Jesus und der kommende „Menschensohn" zwei verschiedene Gestalten sind (z.B. Mk 8,38). Bultmann ist überzeugt, daß die Jünger Jesus erst nach der Kreuzigung und Auferstehung mit dem Messias identifizierten, daß dies aber zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben und nicht in seinem eigenen Bewußtsein geschah. Wenn dies so ist, so haben die sich daraus ergebenden dogmatischen Konsequenzen keineswegs negative Auswirkungen auf den christlichen Glauben. Ernsthaft in Frage gestellt würde nur das doketische Jesusbild, dessen Vertreter manchmal so weit gegangen sind zu behaupten, schon im Mutterleib sei Jesus sich dessen bewußt gewesen, daß er der Messias sei! Eine solche Art von übernatür-

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lichem Bewußtsein wäre aber sicherlich unvereinbar mit seinem wahren Menschsein, und so kann man an dieser Stelle zeigen, daß eine der bedeutendsten dogmatischen Konsequenzen, die sich aus Bultmanns Skeptizismus ergibt, eben gerade ein besseres Verständnis der wahren Menschheit Christi ist. 2.3.2. Jesu Verständnis seines eigenen Todes. Vor eine noch schwerwiegendere Frage stellt uns Jesu Verständnis seines eigenen Todes. Das Evangelienzeugnis ist hier ziemlich eindeutig. Jesus ging hinauf nach Jerusalem in dem Wissen, daß er getötet werden und vom Vater von den Toten auferweckt würde. Dies ist in der Geschichte der Christenheit fast ausnahmslos so geglaubt worden. Aber auch dies wird von Bultmann in Frage gestellt. Wie Jesus seinen eigenen Tod verstanden habe, könnten wir einfach nicht wissen, sagt er, genauso wenig, wie wir die Gründe wüßten, die ihn veranlaßt hätten, seinen letzten Weg nach Jerusalem anzutreten. Wie schon Reimarus ganz zu Beginn der neutestamentlichen historischen Kritik dargelegt hatte, daß Jesus nach Jerusalem hinaufgezogen sei, nicht um zu sterben, sondern um einen Aufstand gegen die Herrschaft der Römer anzuzetteln, so zieht Bultmann verschiedene mögliche Motive für diesen Weg Jesu in Betracht. Vielleicht hatte Jesus geglaubt, indem er seinen Gegnern in der heiligen Stadt entgegenträte, sei der kritische Zeitpunkt gekommen, zu dem der Menschensohn in seiner Kraft erscheinen, das neue Zeitalter anbrechen und Jesu Verkündigung des Reiches Gottes damit bestätigt würde. Und so war es vielleicht durchaus überraschend für ihn, als er festgenommen, vor Gericht gestellt und zur Hinrichtung geführt wurde. Hatte Gott ihn am Ende doch verlassen, worauf der Schrei am Kreuz hinzudeuten scheint? Die Beweislage läßt hier keinen eindeutigen Schluß zu. Auch Bultmann begnügt sich damit zu sagen, daß wir nicht wissen können, welche Absichten Jesus hegte, ais er nach Jerusalem hinaufzog. Gleichzeitig versieht er aber die überlieferte Interpretation mit einem Fragezeichen, so wie Reimarus das auch getan hatte. Ziehen aber nun diese hier dargestellten anderen Interpretationen nicht sehr ernste dogmatische Konsequenzen nach sich, indem sie die angebliche „Freiwilligkeit" von Jesu Tod in Frage stellen und damit auch die verschiedenen Versöhnungstheologien, die doch von der Voraussetzung ausgehen, daß sein Tod ein freiwilliges Hingeben seines Lebens zum Heil des Menschengeschlechts gewesen sei? Was wird dann aus all den Worten von der „Liebe, die sich selbst hingibt", von dem „Gehorsam bis zum T o d " und so weiter? Als ob das noch nicht genug wäre, fragt Bultmann dann noch weiter nach dem Tod, den Jesus tatsächlich gestorben ist. Er wurde hingerichtet durch die Römer, wahrscheinlich als politischer Verbrecher. Selbst wenn man annimmt, daß er nach Jerusalem gegangen war, um dort für das, was er gepredigt hatte, zu sterben, muß man dann nicht sagen, daß dieser Tod, der gar nicht direkt mit dem, was er gepredigt hatte, im Zusammenhang stand, außerordentlich unpassend war, ja, daß er beinahe so zufällig und sinnlos war, als wenn er auf seinem Weg nach Jerusalem durch einen Unfall umgekommen wäre? Dies sind schwerwiegende Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Ereignisse sehen im Rückblick ganz anders aus, als wenn man sich mitten in ihrem Ablauf befindet. Den Verfassern der Evangelien, die aus der Perspektive des Glaubens über mehrere Jahrzehnte zurückblickten, schien es deutlich, daß der Tod Jesu sich nach einem genauen Plan Gottes für die Erlösung seines Volkes ereignet hatte, und so mußte ihnen auch die Annahme ganz natürlich erscheinen, daß Jesus diesen Plan ganz bewußt ausgeführt habe. Darum zeigt ihre Darstellung, daß Jesus sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung vorausgewußt habe und daß er seinen Jüngern vorausgesagt habe, daß diese Dinge sich ereignen würden. Aus der sachlichen Perspektive des Historikers können diese Leidensankündigungen wohl kaum anders denn als vaticinia ex eventu, um mit Bultmann zu sprechen, verstanden werden. Hier muß jedoch ein weiterer Unterschied deutlich gemacht werden. Man kann sagen, daß die Evangelien Jesus ein Wissen über die Zukunft zuschreiben, das eindeutig übernatürlich ist - ein auf Einzelheiten bezogenes Vorauswissen, das ihm als dem Messias und als dem mit den Ratschlüssen Gottes Vertrauten zukam. Dies müssen wir ablehnen -

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nicht darum, weil wir unsere Zweifel an der Möglichkeit solch übernatürlichen Wissens haben, sondern aus dem rein theologischen Grund, daß der Besitz eines solchen Wissens das wahre Menschsein Jesu als unsinnig widerlegen würde und damit wieder zum Doketismus führen würde — wie es die Kenotiker im 19. Jh. deutlich erkannt haben. Wir müssen aber unterscheiden zwischen einem übernatürlichen Einblick in die Zukunft und dem vernünftigen Abschätzen des wahrscheinlichen Ablaufs der Ereignisse, einer Vorausschau, die keiner übernatürlichen Fähigkeiten, sondern nur einer durchschnittlichen Intelligenz und eines normalen Gespürs bedarf. Wir müßten Jesus für außerordentlich naiv halten, wenn wir glauben wollten, daß er ohne jegliche Vorahnung von Gefahr nach Jerusalem hinaufgezogen sei. Er wußte sehr genau, daß Jerusalem bekannt dafür war, seine Propheten umzubringen, und die Gefahren für Propheten, die mit Mahnungen und Fragen der etablierten Ordnung zusetzten, waren erst kürzlich durch den Tod Johannes des Täufers eindringlich deutlich gemacht worden. (Bultmanns Versuch, diesen Punkt herunterzuspielen, ist nicht überzeugend.) Wir können also annehmen, daß Jesus sich auf seinem Weg nach Jerusalem durchaus der Möglichkeit seines Todes bewußt war, aber da er ein Mensch war, hatte er keine Gewißheit darüber, was geschehen würde. J a , ist nicht sogar anzunehmen, daß er, wie eben ein Mensch, sich Hoffnungen machte, daß die ganze Sache anders enden würde, vielleicht damit, daß das Reich Gottes anbrechen und der Menschensohn vom Himmel herabsteigen würde? Dies läßt sich jedenfalls durchaus belegen, denn selbst in der elften Stunde, im Garten von Gethsemane, konnte er noch darum beten, daß der Kelch des Leidens vorübergehen möge. Und dabei hatte er nur zwei oder drei Stunden vorher in einer Stimmung von Trauer mit seinen Freunden beim letzten Abendmahl seines bevorstehenden Todes feierlich gedacht. Aber schon die Tatsache seiner Offenheit gegenüber der Möglichkeit des Todes genügt, um seine Freiwilligkeit sicherzustellen, die allem Anschein nach für eine Versöhnungstheologie notwendig ist. Die großen Märtyrer der Geschichte haben sich nicht dem Tod in die Arme geworfen, sondern sie haben mit solcher Festigkeit und Treue Zeugnis abgelegt für das, wofür sie sich eingesetzt hatten, daß sie bereit waren, den Tod in Kauf zu nehmen, wenn er nun einmal ein Teil des für die Sache zu entrichtenden Preises sein sollte. In diesem Sinne war der Tod Jesu weder mehr noch weniger „freiwillig" als etwa der von Martin Luther King. Keiner von beiden wußte genau Zeit und Umstände seines Todes voraus, aber beide setzten sich über lange Zeit und mit großer Treue für ihre Sache ein, die die Gefahr des Todes in sich barg. Bultmanns Bemerkung, daß Jesu Tod, seine Hinrichtung durch die römische Oberhoheit wegen eines politischen Vergehens, sinnlos sei in bezug auf seine Sendung, hat nicht viel Überzeugungskraft. Es ist eine allzu große Vereinfachung, will man die Gründe für Jesu Tod nur im politischen Bereich sehen, und obwohl die Hinrichtung als solche in der Hand der R ö m e r lag, so macht doch die Überlieferung deutlich, daß das Vergehen, das man Jesus tatsächlich vorwarf, in seiner Herausforderung der jüdischen religiösen Autoritäten bestand. Dem Kreuz hätte nicht die Bedeutung zukommen können, die sich damit verband, wenn es nicht sehr viel wesentlicher mit der Sendung und der Lehre Jesu verbunden gewesen wäre, als Bultmann zugibt. Folgt man nun aber Bultmann in seiner Kritik an dem überlieferten Verständnis von Jesu Wissen um seinen eigenen Tod, so führt das vor allem dazu, die christliche Theologie noch mehr von immer noch in ihr vorhandenen doketischen Elementen zu befreien. Kritische neutestamentliche Forschung stellt also den Glauben in Frage, daß Jesus sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung in den Einzelheiten vorausgesehen habe, dabei stellt sie aber nicht die „Freiwilligkeit" seines Todes in Frage und entzieht so auch keineswegs möglichen Versöhnungstheorien den Boden. Im Gegenteil, Tod und Leiden erhalten hierdurch wieder eine Wirklichkeitsnähe; denn wären diese Ereignisse nicht in gewissem M a ß e von Oberflächlichkeit und Unwirklichkeit behaftet, wenn wir uns vorstellten, daß Jesus, als er sie durchlebte, schon alles im Voraus gewußt habe, fast so, als spiele er nur die Rolle eines Schauspielers, der auch den weiteren Ablauf seiner Rolle schon sorgfältig memoriert hat?

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R a y m o n d B r o w n formuliert das sehr schön: „Ein J e s u s , der auf seinem Weg auf dieser Erde genau w u ß t e , was der M o r g e n bringt, der mit Sicherheit wußte, daß sein Vater ihn drei Tage nach seinem T o d wieder auferwecken wird, ein solcher J e s u s kann zwar unsere Bewunderung erwecken, aber er ist ein weit von uns entrückter Jesus. Er ist ein J e s u s weit entrückt von einer M e n s c h h e i t , die auf die Z u k u n f t nur hoffen kann und an die G ü t e G o t t e s nur glauben k a n n , eine Menschheit, die der letzten Ungewißheit des Todes ausgeliefert ist und sich dabei nur auf den G l a u b e n , nicht aber auf irgendein Wissen von dem, was jenseits liegt, verlassen k a n n . Ein Jesus andererseits, für den die Z u k u n f t ebenso sehr Geheimnis, Bedrohung und H o f f n u n g w a r , wie sie es für uns ist, und dennoch, zugleich, ein Jesus, der s a g t e : , N i c h t mein Wille geschehe sondern deiner' - ein solcher Jesus k ö n n t e es wohl bewirken, d a ß wir von ihm lernen, wie wir leben sollen, denn ein solcher Jesus wäre durch die wirklichen Anfechtungen des Lebens hindurchgegangen. D a n n k ö n n t e n wir auch die ganze Wahrheit des Wortes verstehen: . N i e m a n d hat größere Liebe als die, d a ß er sein Leben läßt für die, die er liebt' ( J o h 15,13), denn dann wüßten wir, daß er sein Leben ließ mit all der Todesangst und Q u a l , mit der wir es l a s s e n . " 4

2.4. Das Ende des Doketismus? Am Anfang dieses Abschnitts zur „historischen Fragestellung" wurde die Schwierigkeit angesprochen, daß die Systematiker zu einer neuen und ernsthafteren Beschäftigung mit der Menschheit Christi aufrufen, daß die Neutestamentler dieses aber gerade dadurch unmöglich zu machen scheinen, daß sie unser Wissen vom historischen Jesus auf ein äußerstes Minimum reduziert sehen. Doch die historische Kritik hat im Gegenteil unser Verhältnis zu der Menschheit Jesu keineswegs zerstört, sondern, indem wir gezwungen wurden, doketische Elemente, die schon sehr früh das Bild Jesu bestimmend beeinflußten, kritisch zu durchleuchten, sind wir ganz neu zu der Erkenntnis gelangt, daß der, der uns aus den Seiten der Evangelien entgegentritt, kein mythologischer Halbgott ist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und menschlichen Gefühlen; dies gilt ganz unabhängig davon, wie wir ihn darüber hinaus sonst beurteilen mögen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß den kritischen Untersuchungen viele malerische Details von Jesus zum Opfer gefallen sind, aber schon Kierkegaard hat darauf hingewiesen, daß die Anhäufung von biographischen Einzelheiten faktisch nichts dazu beiträgt, theologische Fragen über Jesus Christus zu beantworten. Historische Kritik ist hier aber nicht irrelevant für die Dogmatik, denn wie wir gesehen haben, bekräftigt sie die wirkliche Menschheit Jesu Christi und setzt damit der doketischen Häresie ein Ende. 3. Die Menschheit

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3.1. „Anabatische" oder Erhöhungschristologie. Wie wir gesehen haben, zwingt uns die historische Kritik des Neuen Testaments, trotz der tatsächlich starken Einschränkungen in bezug auf das, was mit einiger Sicherheit über den historischen Jesus ausgesagt werden kann, zu einer Anerkennung seines wirklichen Menschseins und hat sich darüber hinaus als mächtiger Verteidiger gegen das doketische Verständnis Christi erwiesen, das von den frühen Jahrhunderten an immer wieder eine starke Versuchung für die christlichen Gläubigen dargestellt hat. Während es sich nun aber gezeigt hat, daß historische Untersuchungen gewisse Implikationen für die Dogmatik haben, so können sie doch nicht von sich aus die Grundlage für eine neue Lehre von der Person und dem Werk Christi darstellen. Hierfür müssen wir uns an die systematische Theologie wenden. Und hier stoßen wir auf eine eindrucksvolle Einmütigkeit unter Theologen aus sehr verschiedenen Richtungen, die alle dahingehend übereinstimmen, daß das Menschsein Christi stärker betont werden müsse, als dies in der überlieferten Lehre der Fall war. Der naheliegende Schritt, der zu einer solchen neuerlichen Betonung der Menschheit Christi führen könnte, ist der, eben die Menschheit Christi zum Ausgangspunkt der Reflexion zu wählen. Das bedeutet, den traditionellen Aufbau der Christologie umzukehren und an den Anfang nicht den ewig seienden Logos, der am Anfang bei dem Vater war, zu setzen, sondern den Menschen, Jesus von Nazareth, der als die historische Manifestation des Logos Gottes identifiziert worden ist. Die Frage heißt nicht: „Wie wird Gott Mensch?", sondern: „Wie kann ein Mensch das Leben Gottes zum Ausdruck bringen?" Die Frage in dieser Weise zu stellen, zeigt natürlich auch schon, daß man die Möglichkeit, daß Christus

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in irgendeiner Weise nicht nur Mensch, sondern auch Gott sei, nicht von vornherein ausgeschlossen hat. Der Unterschied liegt in der Richtung und darum in der Betonung. Wenn wir nur die Ergebnisse der historischen Forschung berücksichtigten, dann könnten wir wohl zu dem Schluß kommen, daß Christus nur Mensch sei. Diese Schlußfolgerung würde sich allerdings unvermeidlich aus den methodischen Voraussetzungen der modernen Geschichtswissenschaft ergeben, da diese Wissenschaft sich nur mit öffentlich wahrnehmbaren oder feststellbaren Erscheinungen befaßt und keine Fragen über ein göttliches Handeln oder die Gegenwart Gottes in der Geschichte stellen kann. Historische Forschungen können uns nur den Menschen Jesus zeigen, insofern er solchen Forschungen überhaupt noch zugänglich ist. Man übernimmt hier ganz offen ein positivistisches oder empirisches Geschichtsbild, wie es heute wohl von der großen Mehrheit der historischen Fachvertreter akzeptiert wird. Wenn man aber sein Augenmerk auf die Tatsache richtet, daß der historische Jesus (oder, falls man das vorzieht, das Christus-Ereignis) der Ursprung einer neuen religiösen und geistigen Bewegung war, und wenn man bereit ist, dieser Sache mit Offenheit und frei von vorgefaßten Meinungen nachzugehen, dann muß man hier den Schritt von der Geschichtswissenschaft zur systematischen Theologie tun. 3.2. Der gegenwärtige Konsens. Es war keineswegs übertrieben, wenn behauptet wurde, daß sich gegenwärtig eine „eindrucksvolle Einmütigkeit" unter Theologen der verschiedensten Richtungen feststellen läßt in ihrem Bemühen, der Menschheit Jesu Christi die rechte Bedeutung beizumessen. Unter den protestantischen Theologen ist hierfür Pannenberg ein gutes Beispiel. So sagt er mit aller Offenheit: „Und wo etwa die Aussage, daß Jesus Gott ist, der wirklichen Menschheit Jesu widersprechen würde, da würde man wohl eher das Bekenntnis zu seiner Gottheit fahrenlassen, als daran zu zweifeln, daß Jesus wirklich Mensch war." 5 Aber diese Hervorhebung der Menschheit bedeutet ja nicht, daß man hier enden müßte - sondern lediglich, daß man hier beginnen muß. So lesen wir bei Pannenberg: „Zwar drängen alle christologischen Erwägungen auf den Inkarnationsgedanken hin; aber dieser kann nur den Abschluß der Christologie bilden." 6 Parallelen zu diesem hier von Pannenberg formulierten Standpunkt gibt es bei einigen anglikanischen Theologen, im besonderen bei John Knox und John Robinson. Auch bei römisch-katholischen Theologen finden sich ähnliche Gedankengänge; hier ist besonders Karl Rahner, der bedeutendste Theologe der Ära des Vaticanum II, zu nennen. Die Vertreter dieser „anabatischen" Theologie von der Person Christi erinnern daran, daß diese Theologie, obwohl sie den Aufbau klassischer dogmatischer Aussagen einschließlich des Glaubensbekenntnisses von Nizäa und der Definition von Chalcedon auf den Kopf stellt, nichtsdestoweniger aber auf die Erfahrungen der ersten Jünger zurückgeht, und daß in ihr die Entwicklung der christologischen Lehre im Neuen Testament reflektiert ist. Aus den synoptischen Evangelien geht deutlich hervor, daß die ersten Jünger, die sich Jesus anschlössen, ihn als einen Menschen sahen und als nichts sonst; vielleicht sahen sie in ihm einen Propheten (Schillebeeckx) oder genauer gesagt einen messianischen (Bultmann) oder einen charismatischen Propheten (Vermes) oder möglicherweise einen Rabbi (Barth). Selbst als die Jünger ihn dann mehr und mehr als Messias verstanden — und dies war sehr wahrscheinlich erst nach der Kreuzigung und Auferstehung der Fall - war der Messias noch eine menschliche, wenn auch zugegebenermaßen eine erhabene Gestalt mit einer besonders engen Beziehung zu Gott. Die Verklärungsgeschichte (die aber auch in die Zeit nach der Auferstehung gehören mag) könnte hier als Anzeichen für eine Entwicklung im Verständnis der Jünger gewertet werden, denn hier erscheint Jesus in himmlischer Herrlichkeit. Und weiter: Ein frühes Stadium eines christologischen Verständnisses ist in der Pfingstpredigt des Petrus zu finden: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiß, daß Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat" (Act 2,36). Hier tritt die anabatisch ausgerichtete Christologie in ihrer schärfsten und dramatischsten Ausführung hervor - Gott hat den gekreuzigten und den verworfenen Jesus durch die

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Auferstehung zum Herrn und zum Christus gemacht (vgl. Rom 1,3 f). Aber schon in eben dieser selben Predigt hatte Petrus erklärt, daß Jesus ausgeliefert worden war „durch Gottes Ratschluß und Vorsehung" (V. 23). Hier wird der Anfang der Ereignisse zurückversetzt in den Ratschluß Gottes, und der Weg wird eingeschlagen in Richtung auf die spätere Christologie „von oben", die für die späteren neutestamentlichen Schriften charakteristisch ist, vor allem für das Evangelium des Johannes mit seiner Lehre, daß der Logos, der am Anfang bei Gott war, Fleisch geworden ist. Seit der Entstehung der neuen Theologie des Herabkommens („katabatisch"), in der kulturelle Anstöße und philosophische Fragen der Zeit verarbeitet sind, ist die ursprüngliche anabatische Christologie ständig in Gefahr, verdrängt und vergessen zu werden. Aber Rahner trifft die Sache genau mit seiner Frage, ob die urchristliche Christologie nur diesem unentwickelten Urstadium zuzurechnen sei, oder ob hier etwas gesagt sei, was von dauernder Bedeutung ist und was in der späteren Inkarnationschristologie nicht mit dieser Deutlichkeit ausgesagt ist. 7 Die entscheidende Wahrheit, um deren Erhaltung es geht, ist natürlich die wahre Menschheit Christi; sie ist in Gefahr verdrängt zu werden, wenn man von dem himmlischen Logos ausgeht, was dann zu doketischen Tendenzen führt, wie sie im Verlauf der gesamten Kirchengeschichte immer wieder auftauchen. Selbst dort, wo Theologen deutlich vor dem Doketismus gewarnt haben, fand er doch unter dem Kirchenvolk weite Verbreitung. 3.3. Menschheit und Transzendenz. Wie aber ist es möglich, von der menschlichen Seite her einzusetzen und nicht zugleich bei einem rein menschlichen Christus zu enden, einem Christus, der als einer der großen hebräischen Propheten anzusehen oder mit Sokrates unter die Helden des Menschengeschlechts einzuordnen wäre, dem aber nicht ein besonderer Status zukäme aufgrund seines besonders engen Verhältnisses zu Gott, vielleicht sogar aufgrund „desselben Seins und Wesens" (homoousios) mit dem Vater? Diese Frage läßt sich nur dann befriedigend beantworten, wenn man im Menschen ein Prinzip der Transzendenz annimmt und die Möglichkeit zugesteht, daß der Mensch die Grenzen des Menschseins, wie wir es kennen, zu Gott hin überschreitet. Rahner z. B. legte die anthropologischen Grundlagen für seine Christologie in einer frühen Schrift mit dem Titel Geist in Welt (1957). Ausgehend von der Philosophie Thomas' von Aquin in ihrer in der Neuzeit entwickelten Form eines „transzendentalen Thomismus", vertritt Rahner die Position, daß der menschliche Geist die Begierde auf Sein schlechthin ist und daß er in sich das Vermögen der Transzendenz zu Gott hin trägt. Dies wiederum setzt eine Affinität zwischen dem menschlichen Geist und Gott voraus. Jesus Christus offenbart Gott eben genau dadurch, daß er Mensch im vollsten Sinne ist, was gewöhnliche sündige Menschen niemals erreichen. (Man mag sich hier an Schleiermachers Aussage erinnert fühlen, daß Jesus Christus die Erfüllung der Schöpfung der Menschheit sei, die ohne ihn nur auf eine vorläufige Weise existiert.) Hier können wir aber nun sehr viel weiter ausgreifen, wobei auffällt, daß die Vorstellung der Transzendenz (wenn auch verschieden verstanden) sich generell in fast allen modernen philosophischen Anthropologien findet. Diese Vorstellung ist nicht nur für den schon erwähnten transzendentalen Thomismus kennzeichnend, sondern auch für den Existentialismus. Wenn wir -»Nietzsche zu den Existentialisten rechnen, dann war er einer der stärksten Verfechter menschlicher Transzendenz. Er sieht den Menschen als ein Durchgangsstadium des Seins zwischen dem Tier und dem, was er als „Übermensch" bezeichnete, eine Seinsebene, die das in der Welt heute bekannte Menschsein übersteigt und seine Möglichkeiten vervollkommnen wird. Viele Nietzsche-Kritiker haben darauf hingewiesen, daß seine Vorstellung vom Übermenschen nichts anderes als eine säkularisierte und entchristlichte Version der theologischen Vorstellung vom „Gott-Menschen" sei. Der Gedanke vom Menschen in der Transzendenz kommt auch bei anderen Autoren des Existentialismus wie -»Heidegger, -»Sartre, -»Jaspers und -»Marcel vor. Auch bei Marxisten und Neo-Marxisten (-»Marx/Marxismus) ist diese Transzendenzvorstellung vorhanden. Marx selbst verwendet zwar den Terminus „Transzendenz" nicht, spricht aber vom Menschen, der „sich selbst macht" durch seine Arbeit; bei Autoren der neueren

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Zeit, z . B . bei M a r c u s e und - » B l o c h , wird der Terminus „Transzendenz" häufig verwendet. M a r c u s e meint, eine Gesellschaft „transzendiere" sich selbst, wenn sie durch Anwendung der kritischen Vernunft ihre eigenen akzeptierten Werte hinterfragt. Bloch sagt in seinen Schriften immer und immer wieder, daß der Mensch „in seiner Arbeit und durch sie immer wieder umgebildet [wird]. Er steht immer wieder vorn an Grenzen, die keine mehr sind, indem er sie wahrnimmt, er überschreitet s i e . " 8 Als ein anderes Beispiel aus dem Bereich der modernen Philosophie sollte auch die sog. „Prozeßphilosophie" genannt werden, die vor allem in den Vereinigten Staaten verbreitet ist und vielen dortigen T h e o logen das Begriffsgerüst liefert; hier wird der M e n s c h und sogar G o t t gesehen als fortwährend „über sich hinausschreitend". Die Bezeichnung des „Über-sich-Hinausschreitens", die besonders bei —»Hartshorne v o r k o m m t , steht zweifellos der „Transzendenz" in der Bedeutung sehr nahe. O b w o h l einige der hier erwähnten Philosophien durchaus säkular und sogar atheistisch sind, ist ihnen doch allen gemeinsam, daß sie von der Annahme ausgehen, daß der Mensch unfertig sei und daß er Entfaltungsmöglichkeiten besäße, die alles, was man bisher gesehen hat, weit übersteigen; die Offenheit und N ä h e zu einer solchen Christologie, wie wir sie bei R a h n e r gefunden haben, einer Christologie, die er selbst als „transzendentale A n t h r o p o l o g i e " beschreibt, ist unverkennbar. M a n tut auch gut, sich daran zu erinnern, daß die Grundlagen für eine Christologie, die aus einer dynamischen Anthropologie hervorgeht, in der biblischen und patristischen Überlieferung zu finden sind. Die biblische Begründung findet sich in dem Gedanken, daß der Mensch zum -»Bilde Gottes gemacht ist (Gen 1,26f), und darin, daß Jesus Christus der Mensch ist, in dem dieses Bild Gottes vollkommen verwirklicht und sichtbar geworden ist (Kol 1,15). Die dynamische Interpretation dieser Gedanken findet sich bei -»Irenaus von Lyon und bei - » T h e o p h i l u s von Antiochien, die beide lehrten, daß der M e n s c h nicht schon am Anfang vollkommen erschaffen sei, sondern daß in ihm die Möglichkeit angelegt sei, Gott zunehmend ähnlicher zu werden in einer Angleichung, die sich nur im Verlauf der Zeit, der Geschichte und der Erfahrung vollziehen könne. Das Ziel dieses Transzendenzprozesses bezeichneten sie als „Vergöttlichung". Aber widerspricht dieser Ansatz, der vom Menschlichen seinen Ausgang nimmt und von dort zu G o t t zu gelangen sucht, nicht dem Geist des Neuen Testaments in seiner Gesamtheit, denn dort ist von der Initiative Gottes die Rede, so daß (in den Worten des Paulus) „das alles von G o t t " ist (II Kor 5,18) ? Ist ein solches Verständnis nicht schon ganz und gar durchsetzt von Adoptianismus und Pelagianismus? Hier muß nun daran erinnert werden, daß die oben dargelegten Gedanken noch keine vollständige Christologie darstellen sollen. Es sollte nur versucht werden deutlich zu machen, wie recht Rahner mit seiner Erkenntnis hat, daß die „Urchristologie" des Neuen Testamentes, die mit dem Menschen Jesus anfängt, nicht in Vergessenheit geraten darf und von der späteren Inkarnationschristologie nicht völlig verdeckt werden darf. Die spätere Theologie ist vielschichtiger, aber wenn die Urchristologie einfach als überholt angesehen wird und verschwindet, dann sind wir den Gefahren doketischer Häresien schutzlos ausgeliefert. Adoptionsverständnis und Inkarnationsverständnis stehen keineswegs, wie oft angenommen, in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander. Vielmehr finden sich hier einander ergänzende Elemente, wie sie zu jeder ausgewogenen Christologie gehören. Das Adoptionsverständnis garantiert die wahre Menschheit Christi, das Inkarnationsverständnis erinnert uns an die göttliche Initiative. W i r bleiben nicht stehen bei dem Gedanken einer transzendierenden Menschheit, die ihre höchste Stufe in dem Gott-Menschen Jesus Christus erreicht. W i r müssen vielmehr sagen, daß es absurd wäre zu behaupten, ein Mensch könne sich zu G o t t erheben, wenn G o t t nicht in den Menschen herabgekommen wäre. M i t den Worten des Johannesevangeliums, „Niemand ist in den Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen i s t " (3,13). Darum müssen wir uns nun der anderen Seite, der Frage nach Gottes „ H e r a b k o m m e n " und der Bedeutung der Inkarnation zuwenden.

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4. Gott in Christus: Inkarnation 4.1. Gott und 'Welt. Die Schwierigkeit, die manche moderne Theologen mit der Vorstellung von der Inkarnation haben, ergibt sich in vielen Fällen aus einer unrichtigen Gottesvorstellung. Man hat sich Gott einseitig rein transzendent und über der Welt stehend gedacht; dadurch schien schon die Idee, daß er so eng in den Welt-Prozeß verwickelt werden könne, wie die Vorstellung von der Inkarnation das voraussetzt, von Anfang an ein Ding der Unmöglichkeit. Dieser ferne und ewige Gott, dieses „ganz andere" Sein, dieser himmlische Monarch gleicht zugegebenermaßen dem Gott des Alten Testaments und auch dem klassischen Gottesglauben stark, wenn er auch vielleicht dem Gott des Aufklärungs-Deismus noch ähnlicher ist. Dies ist jedoch nicht der Gott des christlichen Glaubens, der mit dem Bild eines Knechtes (-»Kierkegaard) richtiger dargestellt ist als mit dem Bild eines Königs, der Gott, für den die christliche Theologie das Konzept der Trinität gefunden hat, dadurch die Verbindung zwischen Gott und der Welt als eine bleibende aufweisend. Die Schöpfung ist nicht ein willkürlicher Willensakt von Seiten Gottes, und die Schöpfungsordnung ist auch nicht etwas, was bloß außerhalb Gottes läge. Vielmehr liegt der Ursprung der Schöpfung in der Natur Gottes selbst. So verstanden ergibt sich, daß das erste Attribut Gottes nicht Macht ist, sondern Liebe. Er ist, um hier mit -»Dionysius Areopagita zu sprechen, „durch das außerordentliche Verlangen seiner Güte aus sich herausgetreten in seinem der Vorhersehung gemäßen Handeln allen Dingen gegenüber... und ist so herabgezogen worden von seinem transzendenten Thron über allen Dingen, zu wohnen im Herzen aller Dinge." 9 Dieses dynamische Gottesverständnis ist das genaue Gegenteil von der deistischen Vorstellung von Gott als einem statischen, unbeweglichen Sein am Rande der Wirklichkeit. Solch ein Gott könnte in der Tat niemals inkarniert werden. Wenn aber Gott eine dynamische, schöpferische Kraft ist, die wir uns durch Beschreibungen wie „liebend" und „gebend" zu vergegenwärtigen suchen — ein solcher Gott ergießt sich sozusagen in die Schöpfung, bringt sich selbst in der Schöpfungsordnung zum Ausdruck und ist als immanenter Geist bemüht (Rom 8), sie zur Vereinigung mit sich zu erheben. Dieses Vorstellungsmodell von Gott und göttlichem Handeln, das als Alternative dem „königlichen" Denkmodell klassischer Gottesvorstellungen gegenübersteht, ist kein ausschließlich christliches; Parallelen hierzu finden sich in der neuplatonischen Tradition (von -»Plotih bis zu -»Nikolaus von Kues), und Anklänge trifft man in der neuzeitlichen Philosophie von -»Leibniz und -»Hegel bis zu —» Whitehead und -»Heidegger, ganz zu schweigen von Parallelen in solchen asiatischen Religionen, die auch die Vorstellung eines dreieinigen Gottes kennen; denn hier geht es überall darum, Gott nicht nur darzustellen als eine Verbindung von Transzendenz und Immanenz, sondern als die unbegreifliche Summe der Vollkommenheiten, die coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues. Eine solche Anschauung steht aber dem Pantheismus ebenso fern wie dem Deismus. Es soll nicht die Vorstellung geweckt werden, daß Gott überall dem Kosmos innewohne. Vielmehr drückt er sich in und durch die geschöpflichen Wesen aus und teilt sich durch diejenigen, die die Fähigkeit haben, Träger einer solchen Mitteilung zu sein, mit. Was nun unseren Planeten betrifft (und andere mögliche Welten sind uns jedenfalls nicht bekannt), so bedeutet das, daß der Mensch der locus der göttlichen Selbst-Mitteilung ist, denn wie wir gesehen haben, ist der Mensch ein Sein-in-Transzendenz, und er hat eine, wie es scheint, unbegrenzte Offenheit zu höheren Seinsformen hin. Der über sich hinaus gerichtete Drang menschlicher Transzendenz trifft zusammen mit dem in schöpferischer Liebe herabsteigenden, sich selbst mitteilenden Gott - oder richtiger, dieser menschliche Drang trifft nicht nur mit dieser Selbst-Mitteilung zusammen, sondern wird von ihr hervorgerufen und genährt. Der Mensch ist sowohl Empfänger als auch Träger von Gottes Mitteilung seiner eigenen Gegenwart. Der Mensch ist, in der Sprache des iro-schottischen Philosophen und Theologen Eriugena, sowohl Empfänger von „Theophanien" als auch selbst eine „Theophanie", der locus, in dem auf der Stufe der Endlichkeit der Gott, dessen Ebenbild er trägt, sichtbar wird.

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Bisher w a r natürlich nur die Rede von einer allgemeinen Möglichkeit von Inkarnation. Es muß nun noch gefragt werden, w a r u m von Jesus Christus behauptet werden kann, er sei der besondere historische Fall göttlicher Inkarnation. Wenn wir aber die Vorstellung vom Menschen-in-Transzendenz und die Vorstellung von einem aus sich herausgehenden G o t t , dessen Gestalt die eines Knechtes und nicht die eines Königs ist, nebeneinander rücken, dann zeigt sich, d a ß der Gedanke der Inkarnation nicht einfach als eine Urmythologie abgetan werden k a n n . Dieser Gedanke mag ein Paradoxon sein, ja sogar, wie Kierkegaard meint, das absolute P a r a d o x o n , aber er ist sicher kein Unsinn. Vielmehr ist dies eine der größten Ideen in der Religionsgeschichte, und sie hat eine ganz eigene Vernünftigkeit. Dies wird bei der genaueren Analyse der Frage der Inkarnation deutlich werden. 4.2. Inkarnation. Nicht selten wird behauptet, daß die Vorstellung von der Inkarnation untrennbar mit der mythologischen Denkweise des Hellenismus des 2. und 3. Jh. verbunden sei und d a r u m in unserer modernen Welt nicht mehr verständlich sei. Dies ist aber nicht der Fall, vielmehr können (s. z. B. o. S. 37) die wesentlichen Gedanken der Inkarnationsvorstellung in der Sprache neuzeitlicher Philosophien ausgedrückt werden. Auch in der antiken Welt bemühte man sich darum, die mythologische Sprache durch die, wie man meinte, universal gültige Sprache der Philosophie zu ersetzen; das erst im Verlauf mehrerer Jahrhunderte erreichte Ergebnis dieses Bemühens war die chalcedonensische Definition, die in der Kirche für lange Zeit den Rang einer Standardinterpretation des Dogmas von der Person Christi einnahm. Kann hier noch eine direkte Kontinuität zwischen der oben dargestellten Christologie, bei der menschliche Transzendenz zusammentrifft mit göttlicher Verflochtenheit mit der Schöpfungsordnung, und Chalcedon behauptet werden? Es läßt sich nicht leugnen, d a ß der Gesamtaufbau auf den Kopf gestellt worden ist, indem wir bei der menschlichen Seite einsetzen; ist aber die wesentliche Lehre des überlieferten Dogmas erhalten geblieben? Hier müssen wir uns Schleiermacher in Erinnerung rufen, der sagte, d a ß Jesus die Vollendung der menschlichen Schöpfung sei, und zugleich auch, d a ß Chalcedon logische Trugschlüsse enthielte, weil es keinen Oberbegriff „ N a t u r " geben könne, von dem sich eine göttliche und eine menschliche N a t u r als spezifische Unterbegriffe ableiten lassen könnten. Wenn man davon spräche, daß zwei N a t u r e n in einem Individuum zusammenkämen, dann vertausche man die Positionen des Universalen und des Besonderen. Schleiermachers Kritik ist unwiderlegbar, solange „ N a t u r " im neuzeitlichen Sinn einer festgelegten, unveränderlichen Wesensmäßigkeit verstanden wird. Betrachtet man aber das griechische Wort qtvaiQ, so stellt man fest, d a ß es eine sehr viel dynamischere Bedeutung hat, die etwa einem „ A u f t a u c h e n " oder einem Entstehen entspricht, oder wie C. Stead es ausdrückt, „ein immanentes formatives Prinzip, das die Entwicklung lebender Wesen b e s t i m m t " 1 0 , ist. Dies entspricht tatsächlich sehr gut d e m oben dargelegten dynamischen Verständnis von Mensch und Gott. Wenn die Bedeutung von „ N a t u r " ein solches Im-Fluß-sein miteinschließt, d a n n ist der Gedanke von zwei Naturen, die in einer Person z u s a m m e n k o m m e n , vollkommen sinnvoll. D a r u m k a n n man behaupten, d a ß eine Christologie, die unserer Zeit entspricht, beginnend von der Offenheit des Menschen her, durchaus innerhalb der durch die Definition von Chalcedon abgesteckten Grenzen liegt und sich in einer direkten Kontinuität damit befindet. Andererseits haben heutige Theologen wohl oft bei Einzelheiten der klassischen Überlieferung ein ungutes Gefühl. Aus der Reihe derer, die —»Cyrillus von Alexandrien folgten, k o m m t das Argument, d a ß die menschliche N a t u r des Gott-Menschen keine eigene menschliche Hypostase hatte - das heißt, sie w a r „anhypostatisch". -»Leontius von Byzanz dagegen vertrat die Meinung, es sei nicht zu verneinen, daß die menschliche N a t u r des Gott-Menschen ihre Hypostase hat, aber er sah diese Hypostase a u f g e n o m m e n in die Hypostase des göttlichen Logos - diese Lehre wird als „enhypostatisch" bezeichnet. Die moderne ablehnende H a l t u n g gegenüber der Metaphysik würde viele Theologen wohl eher vor solchen Fragen als zu spekulativ zurückschrecken lassen. Hier können Bultmann, die Nachfolger Ritschis und noch f r ü h e r Luther und Melanchthon das Korrek-

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tiv liefern, und es wird jetzt deutlich, daß die Christologie nicht von der Soteriologie getrennt werden kann; sonst besteht die Gefahr eines Verfalls in einen sterilen Scholastizismus. 5. Das Werk

Christi

Es ist nicht beabsichtigt, die Fragen nach Sühne, Versöhnung und Erlösung hier im Detail zu untersuchen, vielmehr soll den existentiellen Dimensionen in der Christologie besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, ohne die man sonst nur zu leicht auf entlegene metaphysische Spekulationen verfällt. Als in anderem Zusammenhang Bultmanns Frage erörtert wurde, ob Christus uns erlöse, weil er der Sohn Gottes ist, oder ob er der Sohn Gottes sei, weil er uns erlöst, wurde schon die in der Frage enthaltene falsche Trennung mit Recht abgelehnt, womit auch eine rein existentielle Christologie abgelehnt wurde, die es unterläßt, Gründe dafür zu nennen, warum wir glauben sollen, daß wir Christus und nicht ebenso gut einem anderen unsere Gefolgschaft zusagen sollten. Bultmann nennt die richtige Reihenfolge. Zuerst erfahren Menschen die Erlösung in Christus, und erst dann beginnen sie, Fragen nach seiner Person und seiner Natur zu stellen. Erlösung in Christus setzt eine bewußte Aneignung des Werkes Christi voraus, ein Sterben und Auferstehen mit ihm, wie es im christlichen Sakrament der Taufe symbolisch vollzogen und bewirkt wird. Weil der Mensch ein vernünftiges und verantwortliches Wesen ist, ist Erlösung für ihn nicht denkbar ohne das Moment einer bewußten Entscheidung und Identifikation mit dem Erlöser. Hier klammern wir solche Ansichten aus wie die von Barth, daß nämlich alle Menschen schon von Christus erlöst seien, ganz gleich ob sie es wüßten oder nicht, und ebenso die von Rahner, daß es „anonyme Christen" gäbe. Die Erlösung, von der sie sprechen, ist eine innerlich noch nicht angeeignete, bloße Potenz. Es handelt sich hier um ein magisches, subpersonales Verständnis des Werkes Christi, scholastischen Theorien von seiner Person vergleichbar. Beantworten läßt sich jetzt eine der Fragen, von der wir zu Beginn ausgegangen waren: Wie kann die Person und das Werk Christi sich auf das ganze Menschengeschlecht beziehen? Wie und in welcher Weise ist Christus von Bedeutung für Menschen heute und wie sind sie ein Teil von ihm? Diese Fragen können nur unter Berücksichtigung der Tatsache beantwortet werden, daß der Mensch das ihm in Christus angebotene Geschenk annimmt, in einem ganz persönlichen, freien und verantwortlichen Empfangen. Wie man sich einerseits vor der bei Ritsehl und Bultmann vorhandenen Tendenz zum Subjektivismus in acht nehmen muß, was die Vernachlässigung ontologischer Fragen über Jesus Christus bedeuten würde, so muß man sich doch ebensosehr vor einem rein objektiven Verständnis von Person und Werk Christi hüten, so, als ob diese Wirkung tun könnten ohne Bezug auf die Antwort (oder sogar das Mitwirken) der Menschen, an die sie gerichtet sind (propter nos homines et propter nostram salutem). Heute dürfte es wohl nur wenige Theologen geben, die den Standpunkt vertreten wollten, daß der Logos allein schon durch das Annehmen des Menschseins mehr oder weniger automatisch das ganze Menschengeschlecht qualitativ verändert hätte - dies ist eine mythisch-magische Vorstellung einer längst vergangenen Denkweise. Aber die Vorstellung des Opfers „ein für allemal", das Christus für uns gebracht hat, im stellvertretenen Sinne verstanden als etwas, das Erlösung schon gebracht hat, unabhängig davon, ob wir dies wissen oder nicht, diese Vorstellung ist durchaus noch verbreitet; aber auch sie ist abzulehnen. Verwiesen sei auf das Werk von Dorothee Solle, die die klärende Unterscheidung zwischen Stellvertretung und Ersatz einführt. Christus ist nicht unser „Ersatzmann", der alles für uns tut, so daß wir ganz passiv bleiben und nicht einmal zu wissen brauchen, was er getan hat. Eine solche Anschauung würde die Menschen zu manipulierbaren Marionetten machen. Christus ist vielmehr unser Vertreter in dem vollen Sinne eines Platzhalters; er tritt nicht an unsere Statt, sondern er hält uns einen Platz frei, damit wir, dies Angebot frei und verantwortlich annehmend, ihn einnehmen können. Eine ganz ähnliche Meinung findet sich schon in der Mitte des 19. Jh. bei dem schottischen Theologen John McLeod Campbell, der ausgeführt hatte, daß das zurückge-

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bliebene Verständnis des Werkes Christi als eines „ein für allemal" in der Vergangenheit geschehenen Ereignisses korrigiert werden müsse durch ein „prospektives" Verständnis als ein Werk, das sich jetzt gerade vollzieht und auch weiterhin geschehen wird, solange Gläubige sich mit Christus verbinden in seiner Trauer um die Sünden der Welt und seiner Hinwendung zum Vater. 1 1 Wie in dem, was Bultmann über das Sterben und Auferstehen mit Christus sagt, und wie auch bei manchem sakramentalen und sogar mystischen Verständnis von der Gemeinschaft mit Christus, so ist hier das Verhältnis zwischen Christus und der Menschheit auf eine ganz persönliche Grundlage gestellt und in gleicher Weise von magischen Vorstellungen und von Rechtsfiktionen befreit. 6. Die Geheimnisse

Christi

6.1. Mit dem Wort „Geheimnis" sollen hier diejenigen Aspekte und Geschehnisse in der Geschichte Jesu Christi bezeichnet werden, die nicht als historisch betrachtet werden können, vielleicht aber manchmal doch ein historisches Element in sich bergen und nicht als rein mythologisch beschrieben werden können. Natürlich sind diese Geheimnisse ausgedrückt in der Sprache der christlichen Tradition, wie sie den neutestamentlichen Autoren des 1. Jh. geläufig und gebräuchlich war in ihrem Bemühen, die von ihnen erkannte Bedeutung Jesu Christi in Worte zu fassen, um sie anderen mitteilen zu können. Vielleicht konnten sie diese Geheimnisse genausowenig wörtlich verstehen, wie wir das heute können - ja, sie wörtlich zu verstehen, hieße, ihren wesentlichen Sinn zu zerstören, indem man sie zu Tatsachen machte, während ihre Funktion doch darin liegt, ein tieferes Begreifen hervorzurufen, das uns über sichtbare Tatsachen hinaus zu der tiefen geistigen und theologischen Bedeutsamkeit, von der sie eben Zeugnis ablegen, leiten soll. Die Sprache gleicht hier mehr der Sprache der Dichtung als einer eindeutigen Beschreibung, doch wäre es ebenso falsch, wenn wir hier an eine an die Gefühle gerichtete oder eine nicht-kognitive Sprache denken wollten. Damit würden wir uns nur ein Armutszeugnis von dem, was wir uns unter Sprache und Erkenntnis vorstellen, ausstellen. Dichtung weist ebenso gut den Weg zur Wahrheit wie wissenschaftliche Prosa. 6.2. Die Präexistenz Jesu Christi. Die Vorstellung von der Präexistenz Christi findet sich schon sehr früh im christlichen Denken und durchzieht das gesamte Neue Testament. Aber steht diese Vorstellung nicht im klaren Widerspruch zu dem Glauben an seine wahre Menschheit, die von modernen Theologen so stark betont wird? Führt diese Vorstellung nicht unvermeidlich zu einem doketischen Verständnis von Christus als einem übernatürlichen Wesen, das nur für einige wenige Jahre ein Mensch zu sein schien? Diese unannehmbaren Konsequenzen würden sich tatsächlich aus einigen der Möglichkeiten, wie dieses Geheimnis zu verstehen ist, ergeben. So könnte daraus folgen, daß diese ganz bestimmte Person Jesus Christus mit dem Vater „im Himmel" gelebt hat, bevor er auf die Erde gekommen ist. Ein solches wörtliches Verständnis des Geheimnisses der Präexistenz könnte sich aufstellen im —> Johannesevangelium berufen und auf die Ansicht des -»Orígenes, daß die menschliche Seele Jesu (ebenso wie andere Seelen, in platonischer Philosophie) von Anfang an präexistent gewesen sei. Aber vielleicht sind die Worte des Johannes sehr viel subtiler, als wir es ihm zutrauen, während Plato ganz bewußt Mythen für Vorstellungen einsetzte, die sich sonst nicht ohne weiteres ausdrücken lassen. Viel eher sollte man den Mythos der Präexistenz als eine symbolische Aussage verstehen, durch die vermittelt werden soll, daß das persönliche Leben, das in Jesus Christus Ausdruck gewann, von demselben Sein (homoousios) ist wie der ewige Logos Gottes. Übergeht dies nun aber nicht die Menschheit Jesu völlig, und werden wir damit nicht auf den Doketismus zurückgeworfen? Nein, denn hier könnte nun folgendermaßen argumentiert werden: Wenn wir die Inkarnation als Prozeß denken (wofür gute Gründe angeführt worden sind) und nicht als ein Augenblicksereignis, dann hat die Menschwerdung Christi im Verlauf der langen Zeitabschnitte von Evolution und menschlicher Geschichte stattgefunden und findet statt als Theophanie des Logos, um hier noch einmal Eriugenas Wort zu verwenden. So konnte der Evolutionstheologe Teilhard de Chardin schreiben: „Die ver-

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schwenderischen Zeiträume, die der ersten Weihnacht vorausgehen, sind nicht leer von ihm [Christus], sondern von seinem machtvollen Einstrom d u r c h d r u n g e n . " 1 2 Christus wurde, so könnte man sagen, in seiner Menschheit eins mit dem Universum - eine Ansicht, von der man schon bei Schleiermacher Spuren finden kann. Und wenn das nun zu naturalistisch erscheinen mag, so als o b Christus erst im Laufe der Evolution entstanden sei, dann muß man sich daran erinnern, daß all dies von G o t t k o m m t . Dieses evolutionäre Verständnis wird ergänzt durch das, was Barth zur Prädestination sagt, daß Jesus Christus (einschließlich seiner und unserer Menschheit) am Anfang von allen Werken und Wegen Gottes schon da ist. In ähnlicher Weise wird das (anscheinend) wörtliche Verständnis der persönlichen Präexistenz Jesu Christi bei J o h a n n e s ergänzt, vielleicht korrigiert, aber jedenfalls sicher nicht negiert durch die weniger mythologische Lehre des Lukas, daß hinter der Geschichte Jesu Christi „ G o t t e s Ratschluß und Vorsehung" liege (Act 2,23). 6.3. Die Geburtsgeschichte Christi. Geschichten, die von der Geburt Jesu berichten und die sich überhaupt nur in den Evangelien des M a t t h ä u s und des Lukas finden, sind ganz offensichtlich spät und voller legendärem Material. Sie stimmen darin überein, daß die Empfängnis jungfräulich gewesen sei. Brunner und Bultmann glaubten, daß die Lehre von der Jungfrauengeburt im Widerspruch zu der Vorstellung von der Präexistenz stünde, da sie nach ihrer Meinung einen vollkommen neuen Anfang zum Ausdruck bringe. Es scheint aber vielmehr, daß diese Schwierigkeit dann entsteht, wenn man die Geschichte in einem wörtlich biologischen Sinne versteht, wobei man die theologische Aussage übersieht. Sie besteht darin, daß in Jesus Christus ein neues Menschsein hervortritt, nicht einfach als Produkt der Evolution, sondern mit seinem Ursprung in Gott. Diese theologische Aussage wird deutlicher in der Formulierung bei J o h a n n e s als bei Matthäus und Lukas, denn bei Johannes erscheint sie nicht als Legende von dem Individuum Jesus, sondern als ein theologischer Satz von dem neuen Volk Gottes, das Jesus erlöst und um sich sammelt: „ D i e nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines M a n n e s , sondern von G o t t geboren sind" (Joh 1,13). 6.4. Die Taufe Jesu. Dieses Geheimnis hat unzweifelhaft einen historischen Ursprung, denn die Tatsache, daß Jesus die Bußtaufe des J o h a n n e s erhalten hatte, bereitete den Jüngern Verlegenheit und wäre nicht berichtet worden, wenn die Taufe eben nicht eine zu bekannte Tatsache gewesen wäre. Aber so wie die Geschichte jetzt in den Evangelien steht, sind die Fakten der Sache (einschließlich der Gründe, warum Jesus zu Johannes ging) so verblaßt, daß sie nicht mehr rekonstruierbar sind. Die Geschichte hat eine christologische Bedeutung erhalten. Z u m einen ist die Taufe dargestellt als die Legitimation oder Autorisation von Person und Werk Jesu, der durch eine Stimme aus dem Himmel als Gottes lieber Sohn bezeugt wird. Dies ist offensichtlich eine Interpretation dieses Ereignisses aus dem Rückblick, möglich nur im Licht späterer theologischer Reflexion. Die Geschichte ist aber auch eine Berufungsgeschichte, und die Taufe gilt als die Eröffnung des Auftrags Jesu. Damit haben wir zugleich ein deutliches Zeugnis für seine wahre Menschheit, indem hier deutlich wird, wie sich Jesu Bewußtsein, von dem Vater beauftragt zu sein, schrittweise entwickelt. Die auf die Taufe folgenden Versuchungen unterstreichen diese echte Menschheit Jesu noch einmal; hier sehen wir, wie Jesus mit der Frage ringt, in welcher F o r m seine Aufgabe zu erfüllen sei. 6.5.1. Leiden und Tod Christi. Das zentrale Geheimnis in der Geschichte Jesu Christi ist sein Leiden. Alle Evangelisten widmen ihm viel R a u m , und sehr wahrscheinlich waren die Leidensberichte das Kernstück, um das herum die vollen Evangelienberichte konstruiert wurden. In einem früheren Abschnitt über „Das Werk Christi" (s.o. S . 5 5 f ) war das T h e m a des Leidens schon angeschnitten worden; dort war bereits darauf hingewiesen worden, daß es nicht als ein „ein für allemal" geschehenes Ereignis vergangener Geschichte anzusehen ist, sondern als ein auch heute noch andauerndes theologisches Geheimnis, durch das die Gläubigen, indem sie daran teilhaben, Erlösung und Aufnahme in Christus erfahren. Hierbei sind vier wichtige Punkte zu unterschieden.

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6.5.2. In der Theologie Kreuz und Leiden in den Vordergrund zu stellen, heißt nicht nur der Vorgabe des Neuen Testaments folgen, sondern stellt auch die existentielle Ausprägung der Theologie sicher. Es war schon deutlich geworden, daß Fragen nach der Person Christi leicht in scholastische Spekulationen abgleiten können, und dies gilt es zu vermeiden. M a n braucht hier nicht zu befürchten, daß die Christologie von der Soteriologie verdrängt würde (denn es hatte sich gezeigt, daß jede bloß funktionale Christologie unzureichend ist), sondern hier geht es darum, das rechte Gleichgewicht zu wahren, so daß solche Ideen wie Inkarnation und Gott-Mensch-Sein in ihrem Verhältnis zu menschlicher Erlösung und Erneuerung gesehen werden. 6.5.3. Das Kreuz bedeutet die stärkste Aussage der Historizität Christi. Die Geheimnisse um seine Person und sein Werk sind nicht ein bloßes mythologisches Gespinst, sondern sie sind an einem festen Punkt in der empirischen Wirklichkeit der Geschichte v e r a n k e r t - i m Apostolischen Glaubensbekenntnis wird das ausgesagt mit „gelitten unter Pontius Pilatus". Geschichte und Mythologie, Fleisch und Logos, Zeit und Ewigkeit berühren sich in diesem Punkte. Wie die meisten anderen der „Geheimnisse" Christi hat sein Leidensweg sowohl eine historische als auch eine mythologische Dimension, hier jedoch haben wir das in die Geschichte eingebaute Geheimnis par excellence. 6.5.4. Im Geheimnis der Passion liegt auch die stärkste Aussage der Menschheit Christi. Es überrascht nicht, daß Häretiker der doketischen und gnostischen Richtung sehr viel Erfindungsgeist aufgebracht haben, um zu zeigen, daß Jesus nicht wirklich gestorben sei. Denn Sterben ist das untrügliche Kennzeichen des Menschseins. Wenn also dem Leiden eine zentrale Stellung in der Christologie eingeräumt wird, dann ist damit ein Schutzwall errichtet gegen den sich immer wieder einschleichenden Irrtum des Doketismus. 6.5.5. Paradoxerweise kommt aber auch die Gottheit Christi in der Leidensgeschichte voll zum Ausdruck. Denn, wie schon Dorner richtig erkannte, ist dieser Augenblick der letzten und völligen Selbstaufgabe gleichzeitig auch der Augenblick, an dem der Prozeß der Inkarnation seine Erfüllung erreicht. Oder, wie die Kirche es interpretiert hat: Das Kreuz verleiht durch einen Menschen einer Liebe Ausdruck, die nichts weniger als göttlich ist, und spricht von einem Gott, dessen hervorragendes Kennzeichen vor allen anderen Liebe ist und nicht M a c h t . Die Reflexion über diese Dinge hat dann vielleicht zu einem weiteren „Geheimnis" in der biblischen Überlieferung geführt, der Verklärung, in der der menschliche Jesus in himmlischer Herrlichkeit leuchtet. 6.6. Der Abstieg in die Unterwelt. Dieses Geheimnis entbehrt einer klaren Grundlage im Neuen Testament, es setzt sich aus dunklen Hinweisen und Andeutungen, z.B. im I Petr zusammen. Dennoch hat es Eingang gefunden in die kirchlichen Bekenntnisse und hat auch in der späteren christlichen Überlieferung und Kunst starken Widerhall gefunden. Obwohl es sich hierbei um reine Mythologie handelt, so wird damit gezeigt, daß Gottes Erlösungswerk in Christus nicht auf die Gegenwart und die Zukunft beschränkt ist, sondern daß es auch zurückreicht in die Zeiten vor dem historischen Jesus, bis zu den „Geistern im Gefängnis" (I Petr 3,19). Gottes Erlösungswerk wäre ja auch sehr willkürlich, wenn es auf die zu einer bestimmten Zeit lebenden Menschen beschränkt bliebe. Der Sinn dieses Geheimnisses liegt darin, daß die Vergangenheit nicht einfach entschwunden und nicht eine tote, erstarrte, für immer von Christus abgetrennte Vergangenheit ist, sondern daß die Vergangenheit für Gott wirklich bleibt und ihm zugänglich ist. Das, was hier behauptet wird, kann nicht einfach als unwichtig übergangen werden, besonders nicht in einer Zeit wie der unsrigen, in der sich der Mensch der Rätselhaftigkeit der Zeit und der Unzulänglichkeit traditioneller Vorstellungen von zeitlicher Abfolge und Gleichzeitigkeit bewußt geworden ist. 1 3 6.7. Auferstehung. Es ist offensichtlich, daß die Auferstehung Christi nicht ein historisches (empirisch beobachtbares) Ereignis wie die Kreuzigung war. Dieses Geheimnis ist in erster Linie ein theologisches oder mythologisches. Seine Ursprünge sind wahrscheinlich in „Erscheinungen" des auferstandenen Christus zu suchen, und während diese Erschei-

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nungen auf verschiedene Art und Weise erklärt werden können, so erwuchs aus ihnen jedenfalls die Überzeugung, die sich vielleicht am einfachsten so zusammenfassen läßt, daß Christus in Gott und Gott in Christus weiterlebt. Dies ist keine reduktive Wiedergabe der Auferstehung, wie z. B. die Aussage, Christus lebe im Kerygma oder in der christlichen Gemeinde weiter (obwohl auch diese beiden Punkte wahr sind). Dies ist vielmehr nur eine vorsichtige Aussage, die Spekulationen vermeidet und sich begnügt zu sagen, daß Christus, der die transzendentalen Möglichkeiten der menschlichen „ N a t u r " vollendet hat, diese Natur auf eine neue Stufe gehoben und dabei ihr Vermögen zu einem ewigen Leben in Gemeinschaft mit Gott offenbar gemacht hat. Gleichzeitig ist Gott offenbar gemacht als der, der das Neue hervorbringen kann und dessen Zwecke und Ziele für seine Schöpfung nie ein endgültiges Ende erreichen. Wenn das Kreuz uns sagt, daß Gott mit den Geschöpfen im Fluß der Ereignisse steht, so spricht die Auferstehung davon, daß er immer auch den Ereignissen voraus ist. Beide Vorstellungen gehören notwendig zu einem angemessenen Gottesbild. 6.8. Himmelfahrt. Auch in der Himmelfahrt begegnet uns ein Geheimnis mit vorwiegend mythologischen Elementen. Dazu kommt noch die Schwierigkeit, daß die Himmelfahrt nur bei Lukas (so in Act 1, aber mit Unterschieden in Lk 24) ein von der Auferstehung eindeutig unterschiedenes Ereignis ist, das sich erst nach einem zeitlichen Zwischenraum von 40 Tagen ereignet. In den anderen neutestamentlichen Schriften ist die Himmelfahrt oder Erhöhung Christi praktisch nicht von seiner Auferstehung zu trennen. In den Bekenntnissen ist dann jedoch der Bericht des Lukas von der Auferstehung mit anschließender, nach einer Zwischenzeit der „Erscheinungen" folgender Himmelfahrt aufgenommen worden. Brunner sieht diese beiden Ereignisse dahingehend unterschieden, daß die Auferstehung Jesu Rückkehr zu seinen Jüngern sei, die Himmelfahrt dagegen seine Rückkehr zu Gott. Diese Unterscheidung ist vielleicht zu einfach, aber die Himmelfahrt scheint tatsächlich der ganzen mythisch-theologischen Geschichte von dem Christus ein Siegel aufzusetzen. Christi erster Ursprung ist vom Vater her und seine letzte Apotheose ist seine Rückkehr zum Vater. Hierin liegt der Anspruch seiner kosmischen und universalen Bedeutung. 7. Die Einzigartigkeit

Christi

Die Erwähnung der Himmelfahrt mit der darin enthaltenen Aussage, daß Christus erhöht ist zum Haupt über alle, stellt uns vor die Frage nach seiner Einzigartigkeit. Diese Frage stellt sich mit besonderer Dringlichkeit seit den letzten Jahrzehnten des 19. J h . Dadurch daß die Anthropologie und die Religionsgeschichte im Kreis der Wissenschaften mehr und mehr an Bedeutung und Beachtung gewonnen haben, ist die Sonderstellung des Christentums und der Bibel aufgebrochen worden, so daß wir beides heute im Zusammenhang mit einer breiten und vielfältigen Bewegung des menschlichen Geistes auf seiner Suche nach der Wahrheit von Gott und Religion sehen. Vor dem Hintergrund eines solchen Geflechts erscheint alles relativiert, und nichts ist einzigartig oder steht isoliert für sich selbst, als ob es senkrecht vom Himmel herabgekommen oder spontan entstanden wäre, unabhängig vom Fluß des allgemeinen historischen Geschehens. Die Bibelforschung hat schon selbst die Beziehung zu vielen der Ideen deutlich gemacht, die sich in verschiedenen Religionen des Nahen und Mittleren Orients finden. Obwohl diese Tendenz zum Relativismus durch anthropologische und religionsgeschichtliche Forschungen im 19. J h . verstärkt wurde, so reichen ihre Wurzeln doch bis zur Aufklärung und dem damals entstandenen, neuen Geschichtsverständnis zurück. Was bedeutet der Anspruch der Einzigartigkeit Christi und des Christentums? Die bloße Besonderheit und Einmaligkeit der Person kann hier nicht gemeint sein, denn jede Religion und jeder Religionsgründer sind einzigartig in dem Sinne, daß sie einmalig und besonders sind. Ist damit dann also ein Absolutheitsanspruch gemeint? Wenn beispielsweise Hegel vom Christentum als „absoluter" Religion spricht, heißt das, daß es absolut allein dasteht, nicht zu vergleichen mit irgendeiner anderen Religion? Die Schwierigkeit

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besteht darin, daß es keinen gibt, der ein solches Urteil fällen könnte. Wie schon Kierkegaard gesagt hat, sind wir „existierende" Denker, und das heißt, unser Denken geht aus von einer ganz bestimmten historischen und faktisch gegebenen Situation in Raum und Zeit und nicht von einem Standpunkt jenseits dieser Dimensionen, von dem aus man einen Überblick über alle Zeit und alle Existenz hätte. Nur Gott erfreut sich eines solchen Überblicks, so nehmen wir an. Ernst ->Troeltsch (1865-1923), der sein Leben lang mit Fragen von Geschichtlichkeit und Relativierung rang, brachte in seinem Werk Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1901) die Idee vom Christentum als der absoluten Religion ins Wanken. Sein Hauptgesichtspunkt war der schon soeben skizzierte - den Absolutheitsanspruch für das Christentum oder für irgendeine andere Religion anzumelden, hieße, ein vollkommen erschöpfendes Wissen, das Endgültigkeit erreicht hätte und das uns außerhalb des Zusammenhangs der Geschichte stellen würde, für sich in Anspruch zu nehmen. So muß man fragen, ob z. B. für Barth ein solcher übertriebener (und damit an sich schon absurder) Anspruch zutrifft, wenn er argumentiert, daß Religion nur ein irrtümlich besitzergreifendes Streben nach Gott sei und Offenbarung im Gegensatz dazu verstanden werden müsse als Gottes eigene, aus seiner Gnade heraus erfolgte Selbst-Enthüllung in Jesus Christus. Was aber geschieht, wenn der Absolutheitsanspruch nicht aufrecht erhalten werden kann? Es scheint zum Wesen von Religion zu gehören, absolute Bindung zu fordern. Religion befaßt sich, gemäß Tillichs Ausdruck, mit dem „letzten Anliegen" (ultimate concern), und das ist es auch, wodurch sie sich von der Vielzahl der sich uns im alltäglichen Leben stellenden und bedrängenden Anliegen unterscheidet. Religiöser Glaube fordert von uns, daß wir uns dem Gegenstand des Glaubens ganz und gar verpflichten und nicht bloß anerkennen, daß uns hier ein Gut unter anderen geboten wird, das von einem anderen vielleicht noch übertroffen werden könnte. Dieses Dilemma läßt sich vielleicht lösen, wenn wir uns deutlich machen, daß unsere menschliche Endlichkeit, die zwar jedes Urteil über den objektiven Absolutheitsanspruch einer Religion unmöglich macht, gerade von uns fordert, daß wir uns einem religiösen Ziel verpflichten, anstatt unsere Verpflichtungen auf eine Mehrzahl solcher Ziele aufzuteilen; denn hier bestünde die Gefahr des Synkretismus (was unweigerlich zu Oberflächlichkeit und einem bloßen Umhergetriebenwerden durch Gefühle führen würde). Es ist sicher für einen Gläubigen nicht unmöglich, sich mit ganzem Herzen und ausschließlich zu Christus zu bekennen und trotzdem gleichzeitig genügend Offenheit dafür zu haben, daß die Wahrheit Gottes auch in nicht-christlichen Religionen zu finden ist. Ja, ein solcher Schluß ergibt sich geradezu zwingend, wenn man zugibt, daß Christus der ewige Logos ist, durch den alle Dinge erschaffen sind und der sich darum in irgendeiner Weise und zu einem gewissen Grad in allen Dingen manifestiert. Der Gläubige ist dann möglicherweise sogar bereit zuzugeben, daß Anhänger eines anderen Glaubens manche Aspekte der Wahrheit Gottes klarer sehen als er selbst, und dann ist er möglicherweise auch bereit, sich auf einen Dialog einzulassen, der sowohl ihm als auch dem Anhänger des anderen Glaubens helfen kann, tiefer zur Wahrheit vorzudringen. Dies heißt nicht, daß er einem völligen Relativismus verfallen müßte - was Troeltsch als „orientierungslosen" Relativismus bezeichnet hat, also eine Geisteshaltung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß alle Unterschiede eingeebnet sind, und in der die Religion jeglicher Motivations- und Urteilskraft beraubt ist. Diese Art von Relativismus muß nicht aus dieser Offenheit folgen, denn es besteht keine Unvereinbarkeit mit dem Bekenntnis des Christen zu seinem Glauben (genauso wenig wie mit dem Bekenntnis irgendeines anderen Gläubigen zu seinem speziellen Glauben). Das Wort, das wohl am besten zum Ausdruck bringt, welcher Platz Jesus Christus in einem solchen Glaubensbekenntnis zukommt, ist nicht „Einzigartigkeit" (das ist zu vage) oder „Absolutheit" (das ist schlicht falsch), sondern „endgültige Bestimmung". Für den Christen ist Jesus Christus in entscheidender Weise und letztgültig bestimmend. In dem Wort „bestimmend" ist zugleich auch ein Akt von Seiten des Gläubigen ausgesagt - eine

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existentielle Entscheidung (Bultmann) oder ein Werturteil (Ritsehl). Gleichzeitig sind Entscheidungen oder Urteile von einer solchen Tragweite nicht einfach subjektiv, sondern sie fallen im Lichte der denkbar vollständigsten Kenntnis der objektiven Faktoren, die im Gegenstand des Glaubens manifestiert sind und die bei dem Gläubigen das Bekenntnis der endgültigen Bestimmung, des Bestimmtseins durch das oder den, an den er glaubt, hervorruft. Die endgültige Bestimmung des Christen durch Jesus Christus ist eine zweifache: 1. Christus bestimmt, was es heißt, Mensch zu sein. 2. Er bestimmt die Bedeutung des Wortes „Gott". Diese beiden Punkte sind in früheren Abschnitten dieses Artikels schon dargelegt worden. Es wurde gezeigt, daß der Mensch ein Sein-in-Transzendenz ist, ein mit einem Streben nach einer höheren Seinsform ausgestattetes Sein, von Vernunft und Gewissen in diese Richtung gewiesen. Christlicher Glaube behauptet, daß Jesus Christus diese neue Stufe des Menschseins offenbart, „zum vollendeten Menschsein, zum vollen Maß der Fülle Christi" (Eph 4,13). Aber es muß wohl auch noch gesagt werden, daß Christus, obwohl er das Ziel der Suche nach dem wahren Menschsein ist, doch in der biblischen Verkündigung nicht erschöpfend ausgesagt ist. Es muß noch ein weiteres „Geheimnis" Jesu Christi erwähnt werden, das bei der bisherigen Behandlung der Geheimnisse nicht erwähnt wurde. Dies ist das Geheimnis der „Wiederkunft". Obwohl die neutestamentlichen Belege für die Wiederkunft nicht eindeutig sind, ist sie doch in die Bekenntnisse aufgenommen worden und hat einen festen Platz im christlichen Glauben. Dabei ist die Formulierung des nizänischen Glaubensbekenntnisses besonders interessant: „Er wird wiederkommen in Herrlichkeit". Der Ausdruck „in Herrlichkeit" scheint eine neue Offenbarungsfülle in Christus aussagen zu wollen, die zu Zeiten seiner geschichtlichen Existenz verhüllt war. Man kann diese sprachliche Gestalt des Bekenntnisses mit den Formulierungen vergleichen, die im Neuen Testament in bezug auf die Jünger gebraucht werden: „Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist" (I Joh 3,2). Hier ist das Geheimnis menschlicher Transzendenz selbst gesichert zusammen mit seinen anscheinend nicht endenden Potenzen einer Entfaltung auf Gott hin, und diese Punkte sind in Verbindung gebracht mit der Unerschöpflichkeit dessen, was in Christus offenbar werden wird. Wir haben erörtert, inwiefern Jesus Christus in seiner bestimmenden Bedeutung für den Christen bestimmt, was es heißt, wirklich Mensch zu sein. Aber er bestimmt auch, was das Wort „Gott" bedeutet. Dies ist vielleicht der Punkt des stärksten Gegensatzes zwischen dem Christentum einerseits und dem breiten Spektrum der Religionen und der heutigen Gottesvorstellung andererseits. In den meisten Religionen ist die Gottesvorstellung in erster Linie gekennzeichnet durch den Gedanken der Macht. Im Christentum hat dieses Verständnis eine revolutionäre Veränderung durchgemacht. Natürlich ist die Gottesvorstellung nun nicht einfach eine Vorstellung von Schwäche, vielmehr kommt hier eine subtile Dialektik zum Zuge. Gott ist, in der Sprache der christlichen Überlieferung, „herabgekommen", um unter seinen Geschöpfen zu wohnen und im Herzen aller Dinge zu sein. Für ihn ist es ebenso natürlich - im Anklang an Barths Worte - schwach zu sein wie stark, niedrig wie auch majestätisch, nah wie auch fern zu sein. Der Gott, so wie ihn Jesus Christus bestimmt hat, ist der Gott, der durch die Welt geht vom Stall zum Kreuz, aber ebenso auch der Gott, der den Tod überwindet und zusagt, alle Dinge der Vollendung, die er für sie will, zuzuführen. Die Christen können nur bekennen, daß es Christus ist und die christliche Verkündigung, durch die sie diese Verwunderung und Erstaunen erregende Vision von Gott und Mensch und dem Band, das sie verbindet, erhalten haben. Christen können nicht von sich aus wissen, welche Wahrheiten von Gott den Anhängern eines anderen Glaubens geschenkt sind, und sie können auch nicht verneinen, daß es solche Wahrheiten gibt. Sie sollten gar nicht wünschen, das Vorhandensein solcher Wahrheiten zu verneinen, und sie sollten bereit sein, ihren eigenen Glauben und ihr eigenes Verständnis durch Kontakte mit Menschen anderer Glaubensgemeinschaften zu vertiefen. Doch

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werden sie dann entdecken, daß Jesus Christus vollauf genügt und daß die Kirche a u c h nach zweitausend J a h r e n seine Bedeutung noch nicht ausgeschöpft hat. In diesem Sinne ist er einzigartig, aber das Bekenntnis seiner Einzigartigkeit braucht nicht und sollte nicht eine Herabsetzung des Glaubens anderer mit sich bringen. I m m e r wieder haben christliche Theologen sich bemüht, eine genauere Beschreibung für das zu finden, was an Jesus Christus einzigartig ist. Gewöhnlich haben sie dabei versucht, ein charakteristisches M e r k m a l herauszustellen, von dem sie annahmen, es sei als das Wesensmerkmal Christi zu betrachten. Einige Beispiele aus der jüngsten Zeit: J o h n R o b i n s o n (angeregt durch Bonhoeffer) sieht die sich selbst hingebende Liebe als das besondere Kennzeichen Jesu, den er den „ M e n s c h e n - f ü r - a n d e r e " nennt; Paul van Buren versteht Jesus als den wirklich freien Menschen, frei sowohl in sich selbst als auch, indem er anderen Freiheit gibt; Karl Barth neigt mehr dazu, G e h o r s a m als das besondere Kennzeichen des Christus hervorzuheben; für Pannenberg ist die Auferstehung besonders bedeutend, da durch sie Christus auf eine neue Ebene über unser normales Menschsein gehoben wird. Es ist jedoch zweifelhaft, ob m a n irgendein einzelnes Charakteristikum herausstellen und es zum allein Tragenden machen kann. M a n könnte vielleicht richtiger sagen, daß in Jesus Christus all das z u s a m m e n k o m m t und gebündelt ist, was zum wahren Menschsein gehört und was uns wegen der Transzendenz des Menschen auch die E r kenntnis Gottes auftut. Anmerkungen 1 2

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und

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D i e A b w e i c h u n g e n von diesem keineswegs unberechtigten Ansatz, Praktische T h e o l o g i e über die E k k l e s i o l o g i e oder P n e u m a t o l o g i e mit der C h r i s t o l o gie zu vermitteln, sind lehrreich. Praktische T h e o l o g i e im G e f o l g e des N e u a n s a t z e s der - » D i a l e k t i s c h e n T h e o l o g i e bei J e s u s Christus als d e m einen W o r t G o t t e s r ü c k t e das H a n d e l n Christi in die M i t t e des Verständnisses von K i r c h e . K e n n z e i c h n e n d ist die dritte T h e s e der B a r m e r T h e o l o g i s c h e n E r k l ä r u n g von 1 9 3 4 , in der es heißt: „ D i e christliche K i r c h e ist die G e m e i n d e von B r ü d e r n , in der Jesus Christus in W o r t und S a k r a m e n t durch den Heiligen Geist als der H e r r gegenwärtig h a n d e l t " . —»Asmussen e n t w a r f eine „ L e h r e v o m G o t t e s d i e n s t " , die dieser E r k e n n t n i s folgte: „ Es gibt k e i n e p r a k t i s c h e ' T h e o l o g i e unter Absehung von der G e g e n w a r t Christi heute in seiner G e m e i n d e " (7). D i e s e r k o n s e q u e n t christologische Ansatz ist so nicht a u f g e n o m m e n w o r d e n . E r s t in letzter Z e i t hat m a n versucht, B a r m e n III in der Praktischen T h e o l o g i e wieder s t ä r k e r zur G e l t u n g zu bringen (vgl. Bloth 4 2 3 — 4 3 2 ) , w o b e i allerdings derzeit v o r allem die F r a g e n a c h d e m Verhältnis von B o t s c h a f t und O r d n u n g bzw. das P r o b l e m der K i r c h e n l e i t u n g ( - » K y b e r n e t i k als A u f g a b e und C h a r i s m a ) im Vordergrund steht.

Jesus Christus V i l i

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Die neue exegetische Rückwendung zu dem Problem des historischen Jesus (Käsemann u.a.) erbrachte Versuche, die Praktische T h e o l o g i e in der Anknüpfung an Leben und Verhalten Jesu jesulogisch neu zu bestimmen. Besonders markant taten dies katholische Entwürfe. W i r finden die These: „Jesus von Nazareth ist das Prinzip der Gemeinde, ihr Stifter und ihr Herr. Jesus von Nazareth ist auch das konkrete Prinzip der Praktischen Theologie. Nicht das abstrakte dogmatische Prinzip einer Zweinaturenlehre, sondern die konkrete historische Fülle dieser Gestalt, die alles Handeln der Kirche unter einen M a ß stab stellt" (Biemer/Siller 144). Ähnlich pointiert forderte H . Schuster in der Orientierung an der „Sache J e s u " eine „Ekklesiologie von u n t e n " als Grundlegung der Praktischen Theologie. Freilich zeigen auch diese Ansätze, daß es zwar notwendig ist, die Elemente der N a c h folgetradition der Evangelien und deren Verankerung in dem geschichtlichen Leben Jesu aufzunehmen, andererseits aber kann nicht darauf verzichtet werden, einem naiven Biblizismus oder supranatural begründetem Offenbarungspositivismus zu wehren. Das Handlungsinteresse entkommt nicht dem Erkenntnisproblem systematischer Theologie im Blick auf Historizität, Symbolik und Paradigmatik der Gestalt Jesu. D a ß diese Fragen bei den maßgeblichen derzeitigen Grundlegungen Praktischer T h e o logie auf protestantischer Seite (genannt seien R . Bohren, D . Rössler und G. Otto) kaum Beachtung finden, ist als Mangel anzusehen. Denn dadurch werden Fragestellungen der auch für die Konzeptionen des Gemeindeaufbaus wirksamen Frömmigkeitserfahrungen ebenso abgeblendet wie die Bemühungen, innerhalb der Säkularität eine „Wiedereinsetzung Jesu in die Kultur" (Kolakowski) zu vollziehen. Demgegenüber sollte Luthers bekannte Formel „ Vera theologia est practica et funda-

mentum eius est Christus, cuius mors fide apprehenditur"

[Die wahre Theologie ist

praktisch und ihre Grundlage ist Christus, dessen Tod durch den Glauben ergriffen wird] W A . T R 1, Nr. 153) neue Bedeutung gewinnen. Immer wieder ist in der Geschichte der Kirche durch den direkten Rückgriff auf die Bibel eine an Jesu Wort und Verhalten orientierte -»Frömmigkeit entstanden, die sich kirchenkritisch, -reformerisch oder -loyal auswirkte. A. Schlatter berichtet: „Fest stand für beide Eltern die Überordnung Jesu über die Kirche. Ihre Gemeinschaft kam dadurch zustande, daß beide im glaubenden Anschluß an Jesus die sie bewegende Regel b e s a ß e n " (Erlebtes 25). Die historische Darstellung der Entwicklung der Jesusfrömmigkeit steht Jahrhunderte noch aus, obwohl die Untersuchung von G . Pfannmüller Jesus im Urteil der (1908 2 1 9 3 8 ) viel Material bietet. Zu berücksichtigen wären auch die Arbeit von E. Pfennigsdorf und die Artikel zu Christusdichtung und Jesusbild, insbesondere der von C . H . R a t s c h o w , in der RGG. 1967 machte die von der Hippie-Bewegung herkommende Jesus Revolution von sich reden. Im Stil einer Gegenkultur wurden auch vorher drogenabhängige Jugendliche durch Bekehrungserfahrungen zu Schrittmachern der Jesus People Bewegung, die 1971 auch nach Europa übergriff. Für diese Frömmigkeit spielte auch bestimmte Musik eine erhebliche Rolle. D a s R o c k Biblical Godspell (deutsche Premiere 1972 in Hamburg in St. Petri) entsprach dabei mehr dem Glaubensverständnis der Jesus People als die auch mit ihnen in Verbindung gebrachte weltweit viel wirksamere R o c k o p e r Jesus Christ Superstar. Die Schwungkraft der Jesus People Bewegung ist inzwischen weitgehend erloschen oder hat sich in andere charismatische Gruppen verlagert. Außerdem ist im Liedgut der Kirchen auch eine Hinwendung zum Sacropop festzustellen. Durch die Erinnerung an alte Frömmigkeitstraditionen - z . B . das Jesusgebet (vgl. Vorgrimler) - wie auch die Aufnahme ökumenischer Impulse kann die Jesusfrömmigkeit neuen Tiefgang gewinnen. Erfahrungen der Basisgemeinden, wie sie auch in der Christologie L. Boffs sich niedergeschlagen haben, werden dabei eine Rolle spielen wie auch die Kenntnis, wie afrikanische Christusspiritualität sich äußert (vgl. Sundermeier). M i t Recht hat H . - R . M ü l l e r - S c h w e f e in seinem letzten Werk der Praktischen Theologie die Frage nach Christus im Zeitalter der Ö k u m e n e als Vermächtnis hinterlassen.

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Jesus Christus Vili

Von großer Bedeutung ist dabei die Wahrnehmung des kulturellen Kontextes. In überraschender Weise wird gegenwärtig, auch von Nichtchristen, die Bedeutung Jesu für die Kultur vielfach zum Thema. 1965 erregte L. Kolakowski in Warschau mit einer Rede Jesus Christus - Prophet und Reformator Aufsehen, in der er die „Wiedereinsetzung Jesu in die Kultur" forderte. Gegen den traditionellen Katholizismus gewendet, wurden fünf neue Weisungen formuliert: die „Aufhebung des Rechts zugunsten der Liebe", die „Aussicht auf Gewaltverzicht", die Einsicht, „daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt", die „Aufhebung der Idee eines erwählten Volkes" und die Ernstnahme des Themas des „organischen Elends der Endlichkeit". Dieser Ansatz wirkte sich auch auf religionspädagogische Konzeptionen aus (H. Stock 18ff). Ähnlich wirksam war M. Machovecs Buch Jesus für Atheisten sowie Schalom Ben Chorins Darstellung Jesu „als Bruder, nicht Messias". Zunehmend wird auch psychologisch neuer Zugang zu Jesus gesucht. H. Wolfis Darstellung Jesu als „nichtanimoser Mann" im Sinne androgyner Symbolik nach C.G. Jung übt starken Einfluß aus. Religionspsychologisch haben Hillerdal und Gustafsson Berichte über Jesusvisionen analysiert, was von anthroposophischer Seite als Beleg für R. Steiners Voraussage über zunehmende „Christus-Erscheinungen in der ätherischen Welt" genutzt worden ist. Über die hemmungslose Phantasie moderner Esoterik für die Gestalt Jesu berichtet anschaulich Ferrazini. Sehr wichtig sind die noch kaum ausgewerteten Sammlungen von zeitgenössischen Äußerungen von Prominenten, Pfarrern, einfachen Leuten durch May, Spaeman u. H. Weber. Neben der Entwicklung des Christusbildes (s.u.) ist auch der Frage, wie Jesus Christus in zeitgenössischer Literatur dargestellt wird, öfters Beachtung geschenkt worden. Nach Vorarbeiten von F. Hahn, H. Schröer, W. Jens u.a., hat K. J. Kuschel in einer ausgezeichneten Monographie für den deutschen Sprachraum eine gründliche Analyse vorgelegt und auch in einer Anthologie Der andere Jesus die wichtigsten Texte hilfreich für Unterricht und Selbststudium zusammengefaßt. Er stellt fest, daß literarisch, in Konvergenz zur exegetischen Entwicklung, das Ende des Jesusromans gekommen ist. Es sei eine „Einheit von kritischer Literatur und kritischer Theologie" sichtbar geworden (319). Dabei ist für die Christologie die ecce-homo-Aussage, gerade in der Verfremdung der traditionellen Christologie, zentral geworden. „Mit Jesus als dem Bruder ist gute Poesie zu machen, gegen den Christus als zweite trinitarische Person sträubt sich die Dichtung" (Kuschel, Jesus 312). Damit entsteht allerdings die Frage, wieweit solche Sicht dem neutestamentlichen Glaubenszeugnis noch entspricht, da dort die Einheit von Kreuz und Auferstehung maßgeblich ist. Zeigt sich die Grenze der Literatur? Muß man doch zwischen literatura und scriptura, Predigt und Dichtung, in dieser Frage unterscheiden oder läßt sich auch hier Konvergenz von Theologie und Literatur behaupten, zumal wenn man, wie Kuschel, nicht „jesuphorische" sondern „christophorische" Literatur (308) fordert. Wenn nach Kuschel die These gilt: „Nur von der Person Jesu her bekommt christliche Literatur ihre Identität" (309), ergibt sich sofort die Frage, was und auf welche Weise man von dieser Person wissen und glauben kann. Damit wird deutlich, daß die Literatur zumindest vor dem gleichen Problem wie die christologische Reflexion steht, die die Spannung von wahrem Menschsein und wahrem Gottsein, d.h. aktuell: von Kreuzes- und Inkarnationstheologie (vgl. O. Weber, Grundlagen der Dogmatik 2 1959,1,5) festhalten muß. Dabei dürfte es zur Integration von Kultur, Frömmigkeit bzw. ->Spiritualität und Theologie sinnvoll sein, auf die Einsichten M. Kählers über die Bedeutung des Christusbildes aus dem geschichtlichen Zeugnis im Zusammenhang mit dem Wortcharakter des Lebens Jesu zurückzugreifen. „Der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den er tut, in jeder Silbe, die er redet; der Jesus, dessen Bild wir uns einprägen, weil wir daraufhin mit ihm umgehen wollen und umgehen, als mit dem erhöhten Lebendigen. . . . Das ist nicht versichernde Predigt - das ist das Ergebnis haarscharfer Erwägung der vorliegenden Tatsachen; das ist das Ergebnis der sichtenden und prüfenden Dogmatik, nur darum in Schriftwort gekleidet, weil es eben mit diesem Schriftwort übereinstimmt" (Kahler 4 5 ; vgl. auch Schlatter, Rückblick 108).

Jesus Christus VIII

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Aber damit diese bei Kahler angestrebte wie auch vorausgesetzte spannungsvolle Einheit nicht nur Exegese und Dogmatik verbindet, sondern das reale Leben von Erkenntnis und Glauben einschließt, ist mit Bonhoeffer darauf zu achten, wie das Leben sich im Leben der Nachfolger Jesu historisch lebensweltlich fortsetzt (Nachfolge, München 3 1 9 5 0 , 218-224). Damit ist Praktische Theologie in die Theologie als Leben Jesu Forschung höherer Ordnung und tieferer Bedeutung einzubringen, wie es Luther in seiner Fassung von theologia practica bereits für seine Zeit vorbildlich getan hat. Quellen J e a n - C l a u d e B a r r e a u , Die M e m o i r e n v. J e s u s , F r a n k f u r t 1978. - A . - M . C a r r é (Hg.), Pour vous, qui est Jésus-Christ?, Paris 1971. - J a n D o b r a c z y n s k i , G i b mir deine Sorgen. Die Briefe des Nikodemus, Freiburg 1954 1 3 1 9 6 2 . - Ernst E g g i m a n n , J e s u s - T e x t e , Zürich 1972. - Wolfgang Fietkau (Hg.), T h e m a Weihnachten. Gedichte der G e g e n w a r t , Wuppertal 4 1 9 7 3 . - Walter J e n s , Der Fall J u d a s , Stuttgart 1975. - Jesus Christ Superstar. T e x t b u c h : T h e Original M o t i o n Picture Sound T r a c k Album M A P s 6 8 4 7 - D / l - 2 . - K a r l - J o s e f Kuschel (Hg.), D e r andere J e s u s , Z ü r i c h / G ü t e r s l o h 1983. Ders., Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu H a u s e fühlen, M ü n c h e n 1985. - Kurt M a r t i , O G o t t ! , Stuttgart 1 9 8 6 . - Fritz M a y , Christus aktuell, M o e r s 1980, 4 1 9 8 1 . - Luise Rinser, M i r j a m , Frankfurt 1984. Edzard Schaper, D a s Leben J e s u , F r a n k f u r t 1955 (Fischer Bücherei 96). - Heinrich Spaemann (Hg.), Wer ist Jesus von Nazareth - für mich, M ü n c h e n 1973 3 1 9 7 8 . - H a r t m u t Weber (Hg.), Was sagen die Leute, wer ich sei?, Stuttgart 1985. - R u d o l f O t t o W i e m e r , Ernstfall, Stuttgart 1963.

Literatur H a n s Asmussen, Die Lehre v. Gottesdienst, M ü n c h e n 1937. - G e o r g Baudler, Jesus im Spiegel seiner Gleichnisse, S t u t t g a r t / M ü n c h e n 1986. - Per B e s k o w , Strange tales a b o u t J e s u s , Philadelphia 1983. - G ü n t e r Biemer/Pius Silier, Grundfragen der P r a k t . T h e o l . M a i n z 1971. - Peter C. B l o t h , Prakt. T h e o l . : G e o r g Strecker (Hg.), T h e o l . i. 20. J h . , T ü b i n g e n 1983, 3 8 9 - 4 9 3 . - L e o n a r d o Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg 1986. - G e o r g Eichholz, Das Rätsel des hist. Jesus u. die Gegenwart Jesu Christi, München 1984 ( T h B 7 2 ) . - Bernhard Ferazzini, Jesusbilder moderner Apokryphen: E v . E r z . 3 9 (1987) 5 0 - 6 2 . - Heinrich Fries, Zeitgenössische Grundtypen nichtkirchl. Jesusdeutungen: Grundfragen der Christologie heute, Freiburg 1975, 3 6 - 7 6 . - H a n s J . Geppert, W i r Kinder G o t t e s . D i e J e s u s People Bewegung, Gütersloh 1972. - G ü n t e r G r ö n b o l d , Jesus in Indien das Ende einer Legende, M ü n c h e n 1985. - Friedrich H a h n , Bibel u. m o d e r n e Lit., Stuttgart 3 1 9 6 7 . Susanne H e i n e , Jesus u. Christus. Grundlinien einer didaktischen Analyse: E v . E r z . 3 9 (1987), 6 3 - 7 9 . - G u n n a r Hillerdal/Berndt Gustafsson, Sie erlebten Christus, S t o c k h o l m 1973; dt. Basel 1979. - Frid H u m b e l , Die Jesusgestalt in der Dichtung der G e g e n w a r t , Aeschi 1978. - M a r t i n Kahler, Der sog. hist. Jesus u. der gesch. bibl. Christus (1892), M ü n c h e n 1961 ( T h B 2 ) . - Günther K l e m p n a u e r , Christentum ist Brandstiftung, Wuppertal 1972. - Leszek K o l a k o w s k i , Jesus Christus-Prophet u. R e f o r m a t o r : A l m a n a c h 1 für Lit. u. T h e o l o g i e , Wuppertal 1967, 1 4 1 - 1 5 7 . - Wilfried Kroll (Hg.), Jesus Generation auch in E u r o p a , Wuppertal 1972. - Ders. (Hg.), Jesus k o m m t ! , Wuppertal 1971. Karl-Josef Kuschel, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartslit. Z ü r i c h / K ö l n / G ü t e r s l o h 1978 ( ö k u m . T h e o l . 1). - H a n s - G e o r g Link, Gesch. J e s u u. Bild Christi, Neukirchen 1975. - M i l a n M a c h o v e c , Jesus für Atheisten, Stuttgart 1972. - H a n s - R u d o l f M ü l l e r - S c h w e f e , Christus im Zeitalter der Ö k u m e n e , G ö t t i n g e n 1986. - R a u l N i e m a n n , Seht, welch ein M e n s c h ! , Gütersloh 1987. Gustav Pfannmüller, J e s u s im Urteil der J a h r h u n d e r t e , Berlin 1 9 3 9 2 . - Emil Pfennigsdorf, Christus im dt. Geistesleben, Schwerin 1915. - Carl Heinz R a t s c h o w , Jesusbild der G e g e n w a r t : R G G 3 3 (1959) 655—663. - D o r o t h y Sayers, T h e greatest d r a m a ever staged, 1947; dt.: D a s g r ö ß t e D r a m a aller Z e i t e n , Z ü r i c h 1959. - Wolfdietrich Schnurre, Eine schwierige R e p a r a t u r , Düsseldorf 1975. Adolf Schlatter, Erlebtes, Berlin 3 1 9 2 4 . - T h e o d o r Schlatter (Hg.), Adolf Schlatters R ü c k b l i c k auf seine Lebensarbeit, Gütersloh 1952. - Henning S c h r ö e r , M o d e r n e dt. Lit. in Predigt u. Religionsunterricht, Heidelberg 1 9 7 2 . - Heinz Schuster, Die P r a k t . T h e o l . unter dem Anspruch der Sache J e s u : Ferdinand K l o s t e r m a n n / R o l f Z e r f a ß , Prakt. T h e o l . heute, M ü n c h e n 1974, 1 5 0 - 1 6 3 . - H a n s S t o c k , Religionsunterricht in der krit. Schule, Gütersloh 2 1 9 6 9 . - G e r d T h e i ß e n , D e r Schatten des Galiläers, M ü n c h e n 1986. - H a n s Urner, Jesusromane?: M P T h 4 0 (1951) 3 0 - 4 1 . - H e r b e r t Vorgrimler, Jesusgebet: L T h K 5 (1960) 9 6 4 - 9 6 6 . - O t t o Weber, Grundlagen der D o g m a t i k , Neukirchen 2 1 9 5 9 . H a n n a Wolff, Jesus der M a n n , Stuttgart 1975. - Dietrich Zilleßen, Orientierung an Jesus von N a z a reth als L e r n p r o z e ß : ders. (Hg.), Religionspädagogisches W e r k b u c h , Frankfurt 1 9 7 2 2 1 9 7 9 , 184-187.

Henning Schröer

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Jesus Christus I X IX. Judentum

Die Beschäftigung jüdischer Forscher mit Jesus war erst möglich, nachdem u. a. durch Moses —•Mendelssohn (1729—1786) die Aufklärung innerhalb der Judenheit begonnen und die Emanzipation sich angebahnt hatte. Juden interessierten sich fortan meist aus zwei Motiven für Jesus: Je mehr sich die Wissenschaft des Judentums durchsetzte, war es unumgänglich, auch die Gestalt Jesu in die jüdische Religionsgeschichte der Spätantike einzubeziehen. Ferner strebten Juden danach, sich das Wissen über die anzueignen, in deren Mitte sie lebten. Einzelne Vorläufer hatten schon früher sachlich von Jesus Kenntnis genommen. Dazu gehört der italienische Rabbiner Leon Modena (1571-1648), der den historischen Jesus vorurteilslos darzustellen vermochte. Der Altonaer Rabbiner Jakob Emden (1697-1776) sieht in Jesus den Zerstörer des Götzendienstes und einen Lehrer der Ethik. Der französische Jude Joseph Salvador (1796-1873) widmete Jesus ein Werk {Das Leben Jesu und seine Lehre, 1841). Er war der erste jüdische Autor, der Jesus als Teil der jüdischen Geschichte betrachtete, wenngleich Salvador die rabbinischen Quellen nur unzulänglich beherrschte. Motive späterer Forschung finden sich bereits bei ihm. Er hat ferner die Geschichte des frühen Christentums berücksichtigt, in der er die Person Jesu, „des Meisters von Nazareth", in seiner „Hinneigung zur Milde und Liebe" darstellt. Nicht zufällig war es wiederum ein italienischer Rabbiner, Elia Benamozegh (1823—1900), der von seinem jüdischen ethischen System her Jesus in seine Betrachtungen einbezieht, das pharisäische Judentum verteidigt und Jesu Zuwendung zu den Sündern kritisch analysiert. Wie alle anderen jüdischen Autoren wendet auch er sich gegen den messianischen Anspruch von Jesus, der strikt verneint wird. Im deutschen Sprachgebiet erfolgte der Durchbruch im Zusammenhang mit der Wissenschaft des Judentums. Abraham -»Geiger (1810-1874) ist der Wegbereiter dieser Richtung, die mehr darstellt als nur ein wissenschaftliches Unternehmen. Das Christentum wird im Rahmen der jüdischen Religionsgeschichte verstanden. Jesus erfährt eine Behandlung wie andere Themen der jüdischen Spätantike. Geiger begreift ihn als Apokalyptiker, dessen Reich in einer nach seinem Glauben bald hereinbrechenden zukünftigen Welt beginnen werde. Mit dem folgenden Text klingen die meisten Motive an, die auch später die Auffassung jüdischer Denker bestimmen: „ E r war ein Jude, ein pharisäischer Jude mit galiläischer Färbung, ein M a n n , der die Hoffnungen der Zeit teilte und diese Hoffnungen in sich erfüllt glaubte. Einen neuen Gedanken sprach er keineswegs aus, auch brach er nicht etwa die Schranken der N a t i o n a l i t ä t . "

Geiger meint, in Jesus hätte sich der Glaube an die erfüllten messianischen Hoffnungen des pharisäischen Judentums verdichtet. „Was sonst noch über den Stifter des Christentums berichtet wird, gehört in die . . . Reihe von Sagenbildung." Der jüdische Historiker Heinrich -»Graetz (1817—1891) vergleicht Jesus mit -»Hillel, der auch die Vorschriften des Judentums verinnerlichen wollte. Als erster Jude hat der Engländer Claude G. Montefiore (1858-1939) einen Kommentar zu den Evangelien verfaßt {The Synoptic Gospels, 1909); er wollte als Mitbegründer des englischen Reformjudentums die Evangelien jüdischen Lesern nahebringen. Jesus gilt als Nachfolger der Propheten des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts, der das Kommen des Gottesreiches ankündigen wollte. Seine Lehre sei Neubelebung des prophetischen Judentums und damit Reform, jedoch nicht Gründung einer neuen Religion. Das Judentum könnte sich durch Kenntnis des Neuen Testaments geistig bereichern. Während die hebräische Bibel sich vor allem mit Recht und Gerechtigkeit in der Gesellschaft befaßt, erfährt man aus dem Wirken Jesu den Wert der Einzelseele. Die christologische Komponente hat bei Montefiore keinen Platz, dafür um so stärker die Ethik Jesu. Montefiore wurde von jüdischer Seite von Gerald Friedlander (1871-1923) (Sources) kritisiert, indem er behauptet, Montefiores Entdekkungen im Neuen Testament ließen sich bereits im Judentum finden. Friedlanders eigene Einschätzung Jesu ist die eines apokalyptischen Träumers von geringem Wert für das Alltagsleben, anerkennt jedoch Jesu Bedeutung für Nichtjuden. Gleiches gelte auch für

Jesus Christus IX

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den Koran. Schon ->Maimonides und ->Jehuda Hallevi hatten festgestellt, Christentum und Islam seien in die Welt gekommen, um den Weg für das kommende messianische Reich zu bereiten (Hilchot Melachim XI,4; Kusari IV,23). Wie sehr im 19. Jh. Jesus Gegenstand jüdischen Nachdenkens gewesen ist, erkennt man bei der Betrachtung der Philosophen Samuel Hirsch (1815-1889), Salomon Formstecher (1808-1889) sowie Salomon Steinheim (1789-1866), die sich in ihrem philosophischen Denken mit Kant, Schelling und Hegel auseinanderzusetzen hatten und damit indirekt auch mit Jesus und dem Christentum. Ein weiterer Schritt auf dem Wege des Verstehens Jesu durch Juden erfolgte durch Joseph Klausner (1874-1958), der in seinem zuerst hebräisch (1922), dann deutsch (1930) erschienenen Werk Jesus von Nazareth das Thema Jesus behandelt. Im Unterschied zu seinen Vorgängern stammt Klausner aus Osteuropa und lehrte in Jerusalem. Als Kenner jüdischer Zeitgeschichte zur Zeit Jesu bietet er eine Fülle jüdischer Quellen. Für ihn ist Jesus ein erhabener Sittenlehrer mit einem originellen ethischen System. Seine Gleichnisse stünden ohne Beispiel da. „Wenn einst der Tag kommen wird, wo diese Ethik die Hülle ihrer mystischen und mirakelhaften Umkleidung abstreift, dann wird Jesu Buch der Ethik einer der erlesensten Schätze der jüdischen Literatur sein." Klausner lehnt für Jesus alle anderen Kategorien ab, seien es prophetische oder messianische. Kritisch nahm zu Klausner Armand Kaminka (1866-1950) Stellung (hebr. Monatsschrift Ha-Toren, August 1922, 59ff), der sich gegen Klausners Methode der Entmythologisierung Jesu wendet. Der Wiener Robert Eisler (1882—1949) war der Begründer der später von andern aufgenommenen Theorie, Jesus sei Teil der Zelotenbewegung. Diese Auffassung ist zwar unzutreffend, obwohl es wahrscheinlich Querverbindungen zwischen den eschatologisch ausgerichteten Zeloten und Teilen der Urgemeinde gegeben haben mag. Eine besondere Bedeutung kommt dem 1938 erschienenen Buch von Leo ->Baeck (1873-1956) zu, Das Evangelium ah Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, ein klassisches Werk für die Auffassung moderner Juden zu Jesus. Baeck sieht in Jesus einen Menschen, „der während erregter, gespannter Tage im Lande der Juden lebte und half und wirkte, duldete und starb, ein Mann aus dem jüdischen Volke . . . im jüdischen Glauben und Hoffen, dessen Geist in der Heiligen Schrift wohnte . . . Vor uns steht ein Mann, der in seinem Volke seine Jünger gewonnen hat, die den Messias, den Sohn Davids, den Verheissenen suchten und in ihm dann fanden . . . die an ihn glaubten bis daß er an sich zu glauben begann . . . " . Baecks erste Stellungnahme zum Thema findet sich in seiner Polemik gegen Harnack (MGWJ, 45. Jahrgang 1901), seine letzte in einem Vortrag wenige Monate vor seinem Tode (1956): „Er war nach allem, was wir wissen und hören, ein Mann von großer Eigenart, ein Mann, in dem sich Weisheit des Denkens, Kraft des Hoffens und eine Anmut des Wesens miteinander vereinten. Sein Leben war kurz. Menschen rings um ihn glaubten, er sei der Verheißene." Martin -»Buber (1878-1965) hat sich wiederholt über Jesus geäußert, u.a. in Zwei Glaubensweisen (1950). Buber anerkennt das brüderlich Jüdische in Jesus, dem ein großer Platz in der Glaubensgeschichte Israels gebührt. Jesu Persönlichkeit kann durch keine der üblichen Kategorien umschrieben werden; er habe jedoch nicht an die Erlösung geglaubt. Über den historischen Jesus wisse man wenig; einzelne Sprüche Jesu dringen freilich tief ins Herz. Der Messias sei er nicht gewesen. Die Welt blieb auch nach ihm unerlöst. Der Erlanger Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) beschäftigte sich u. a. mit der Umformung des historischen Jesus in den kerygmatischen Christus, wie diese aus dem Bedürfnis der nachapostolischen Gemeinde erfolgte, um mit der Verzögerung der Parusie fertig zu werden. Schoeps möchte als Jude der inneren Zensur entgehen, die er bei christlichen Wissenschaftlern wahrzunehmen meint. „Das Jesusbild der frühchristlichen Überlieferung ist reflektiert, es sieht vom Wunder des leeren Grabes, vom Glauben an die erfolgte Auferstehung auf das irdische Leben Jesu zurück und deutet seine Fakten vom Ende aus . . . In der Darstellung des Lebens Jesu sind Geschehnisse

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und Deutung frühzeitig so ineinander verwoben worden, daß eine nachträgliche Trennung gar nicht mehr möglich ist . . . " . Der amerikanische Rabbiner Samuel Sandmel (1911 — 1979) wollte mit seinen Werken jüdischen Menschen die Religion ihrer christlichen Mitbürger vermitteln. Jesus und Israel ist ein Werk, das besonders in Frankreich Geschichte gemacht hat. Es wurde 1943 von Jules Isaac (1877-1963) im besetzten Frankreich verfaßt. Der Autor stellt einen Jesus dar, der sich im Rahmen des traditionellen Judentums bewegt. Das Ziel von Isaac war, Christen zu helfen, den Antijudaismus zu überwinden. Von Bedeutung für ein Einzelthema ist das Lebenswerk von Paul Winter (1904—1969), der in seinem Ott the Trial of Jesus sich mit dem Prozeß Jesu befaßt und zu dem Ergebnis kommt, die Berichte seien so gestaltet, um die römischen Behörden nicht mit dem Tode Jesu zu belasten. Eine Gerichtsverhandlung vor dem Sanhedrin habe nicht stattgefunden, sondern nur ein Verhör, nach dessen Abschluß Jesus dem Pilatus überwiesen worden sei. Ihm waren sadduzäische Kreise bei der Beseitigung Jesu behilflich. Jesus wurde von den Römern als Aufständischer verhaftet und als Kronprätendent verurteilt. Von religiösen Problemen verstand Pilatus nichts; er dachte allein in politischen Kategorien. David Flusser (geb. 1917) hat in seiner Monographie Jesus (1968) das bis heute verbreitetste jüdische Buch über Jesus verfaßt und tiefe Einsichten in ein jüdisches Verstehen Jesu vermittelt. Die in der Diskussion behandelten Themen über Jesus und die Pharisäer, das Gesetz, Probleme der Christologie, Gleichnisse und Vaterunser werden mit Wissen und Einfühlungsgabe erörtert und mit philologischem Können erschlossen. „Jesus hatte von sich selbst eine hohe Auffassung. Da aus den synoptischen Evangelien nicht zu ersehen ist, daß er sich für Gott hielt, lag in seinem Anspruch keine Blasphemie " Jesus habe sich nicht gegen das Judentum gestellt, wollte es nicht sprengen, lebte nach der Tora und prägte keinen neuen Gottesbegriff. Seine individuelle Morallehre wurde damals nicht als subversiv angesehen. Er tat nichts, was Widerstand der Pharisäer hervorrufen mußte, mit denen er sich im wesentlichen in Übereinstimmung befand. Seine Kritik lag im Rahmen pharisäischer Selbstkritik. Das Thema „Jesus" ist heute zentral im christlich-jüdischen Dialog, so daß es von allen Juden zu behandeln ist, die von ihrer christlichen Umwelt Kenntnis nehmen. Dazu gehören etwa auch Schalom Ben-Chorin (geb. 1913) und Pinchas Lapide (geb. 1922), die Christen das jüdische Verstehen Jesu zu vermitteln suchen. Der historische Jesus, soweit man ihn erschließen kann, ist heute Teil jüdischer Religionsgeschichte. Die Trennung zwischen Judentum und Christentum erfolgt nicht bei dem Juden Jesus, sondern angesichts der nach ihm entwickelten Christologie. Literatur Leo Baeck, Das Evangelium als Urkunde der jüd. Glaubensgesch., Berlin 1938; Neudr.: Paulus, die Pharisäer u. das NT, Frankfurt 1961. - Ders., Judentum, Christentum u. Islam, Privatdr. Zürich 1956. - Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Zürich 1950. - Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus, München 1967. - Ders., Jesus im Judentum, Wuppertal 1970. - Haim Cohn, The Trial and Death of Jesus, New York 1971. - Ernst Ludwig Ehrlich, Eine jüdische Auffassung von Jesus: W.P. Eckert/H. H. Henrix, Jesu Jude-Sein als Zugang zum Judentum, Aachen 1976, 3 5 - 4 9 . - David Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1968. - Ders., Die rabbinischen Gleichnisse u. der Gleichniserzähler Jesus, 1. T.: Das Wesen der Gleichnisse, Bern 1981. - Ders., Die letzten Tage Jesu in Jerusalem, Stuttgart 1982. - Ders., Bemerkungen eines Juden zur christl. Theologie, München 1984. - Gerald Friedlander, The Jewish Sources of the Sermon on the Mount, New York 1911, Neudr. 1969. - Abraham Geiger, Das Judentum u. seine Gesch., Breslau 1910. - Jules Isaac, Jesus und Israel, Wien 1968. - Walter Jacob, Christianity through Jewish Eyes, Cincinnati 1974. - Gerhard Jasper, Stimmen aus dem neureligiösen Judentum in seiner Stellung zum Christentum u. zu Jesus, Hamburg-Bergstedt 1958. - Joseph Klausner, Jesus von Nazareth, Berlin 1930. - Pinchas E. Lapide, Der Rabbi v. Nazareth, Wandlungen des jüd. Jesusbildes, Trier 1974. Ders., Ist das nicht Josephs Sohn? Jesus im heutigen Judentum, Stuttgart/München 1976. - Hyam Maccoby, König Jesus, Tübingen 1982. - Pnina Nave-Levinson, Der Jude Jesus: H.G. Link/M. Stöhr (Hg.), Der Herr des Lebens, Frankfurt 1985. - Gösta Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitli-

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Ernst Ludwig Ehrlich X. Religionsgeschichtlich 1. Thematische Einordnung 2. Jesus Christus im Islam 3. Jesus Christus in den indischen Religionen 4. Jesus Christus in den Neureligionen 5. Interreligiöse Konvergenzen (Literatur S. 74)

1. Thematische

Einordnung

Den unterschiedlichen religiösen Traditionen entspricht eine unterschiedliche Bewertung der Person und des Werkes Jesu Christi in der Religionsgeschichte. Es gibt keine gemeinsamen Kriterien für die Beurteilung der christlichen Verkündigung in den außerchristlichen Religionen. Allenfalls lassen sich Tendenzen aufzeigen: So z.B. die bewußte Abkehr von einem Jesusbild, das die christliche Mission vermittelte und den Herrschaftsanspruch des Westens verkörperte („Der orientalische Christus", „Jesus der Asiat", „Der antiimperialistische Jesus"), eine sich von daher ergebende Inkulturation der Person Jesu in den jeweiligen religiösen Kontext („Jesus der P r o p h e t " , „Christus der Avatar") oder eine bewußt qualitative Unterscheidung zwischen Christus und dem Christentum („Der verfälschte Christus") und schließlich - unter dem Eindruck brennender Gegenwartsprobleme bzw. ausgelöst durch die Befreiungsbewegungen - eine Reduzierung der Verkündigung Jesu auf ethische und gesellschaftspolitische Fragestellungen („Jesus der Erfüller der Bergpredigt", „Der Fürst der Satyägrahl", „Der w a h r e G u r u " ) . Die Gemeinsamkeit zwischen den Religionen endet aber dort, w o die Rezeption Jesu mit einem Bekenntnis zum universalen Christus und seiner Gottheit verbunden ist. N u r die indischen Religionen sind dazu auf Grund ihrer monistischen Christusinterpretation in der Lage, wobei freilich das Prinzip der Inklusivität relativiert und nivelliert. 2. Jesus Christus im —• Islam Die Gottessohnschaft Jesu verbietet sich in den außerchristlichen monotheistischen Religionen auf Grund ihres Exklusivitätsanspruchs ebenso wie die Entwicklung einer Christologie. M u h a m m a d s „Antisemitismus" entsprach zunächst eine wohlwollende H a l t u n g gegenüber den nestorianischen Christen. Das m a g u . a . der Grund d a f ü r sein, d a ß der Kur'an — im Gegensatz zu dem eindeutig negativen Jesusbild des mittelalterlichen J u d e n t u m s - Jesus ('Tsä) durchaus positiv beurteilt. Er wendet sich ausdrücklich gegen die Juden (Sure 61,6; 5,110), weil sie Jesus nicht akzeptierten, und wirft ihnen Unglauben vor. Für M u h a m m a d ist Jesus der große Prophet (Sure 19,30f), der dem „Siegel des Prophet e n " (33,40) voranging. Er ist das Wort (kalima) Gottes (19,29f), vom Heiligen Geist gestärkt (5,109; 19,30-33), angesehen „in Diesseits und Jenseits" (3,45), er ist Messias (masih, l l m a l in den medinensischen Suren) im Sinne eines hervorragenden Gesandten. 33mal wird Jesus „Sohn M a r i e n s " genannt, die Jungfrauengeburt (21,91) und seine Wunder werden berichtet (5,110; 3,49), deren Kenntnis die Beschäftigung mit der apokryphen Evangelienliteratur voraussetzt; H i m m e l f a h r t (4,158) und Wiederkunft am Tage des Gerichts (4,159; 3,55 f) werden erwähnt, Passion und Kreuzigung hingegen ausdrücklich abgelehnt (4,155-159); denn sie widersprechen der Messianität Jesu und der absoluten Gerechtigkeit Allahs.

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Jesus Christus X

Muhammad unterscheidet zwischen vera und falsa religio. Das wahre Christentum erfuhr er in seinen Offenbarungen, die Verfälschung hingegen erlebte er im christlichen Dogma. Aus diesem Grunde verwirft er die Gottessohnschaft Jesu und die christologischen Spekulationen (Sure 5,17 bzw. 72,116; 9,30f), weil er hinter ihnen Polytheismus vermutet: Gott „hat weder Kinder gezeugt, noch ist er (selber) gezeugt worden" (Sure 112; 19,35). Die christliche Trinität erscheint ihm als heidnischer Tritheismus (4,171; 5,73). Jesus, 'Isä, ist nach Sure 19,30; 43,59 lediglich 'abd, Diener, Sklave Gottes und als solcher Allahs Eigentum; er ist Gesandter (rasül), vor dem es bereits andere Gesandte gegeben hat (5,75). Die Geschöpflichkeit Jesu wird an keiner Stelle des Kur'än in Frage gestellt. Die islamische Theologie folgt der Schrifttradition, wobei einerseits die Richterfunktion Jesu am Jüngsten Tage hervorgehoben wird (al-Baidäwi, al-BukhärT) und 'Isä und der Mahdt sogar miteinander verschmelzen (AhmadTya-Bewegung), andererseits aber der Christologie eine deutliche Absage erteilt wird (al-Ghazäll). Die Gottessohnschaft Jesu steht natürlich auch im gegenwärtigen Islam (-»Islam III) nicht zur Debatte. Er weist das „Bekenntnis zur Fleischwerdung" als „ Anthropomorphismus" zurück (al-Nowaihi 70). Dagegen wird Jesus nun - wie im Süfitum — zu einem asketisch-sittlichen Vorbild, dessen Liebe die vollendete Menschlichkeit darstellt: „Durch das Gesetz der Liebe bereitete Jesus dem Gesetz der Heuchler und Hochmütigen ein Ende". Von dieser programmatischen Aussage al-Aqqads (Das Leben Christi 169) ist es nurmehr ein Schritt zum Sozialreformer und Revolutionär Jesus, der — wie es Mustafa alSibai formuliert (49) - gegen soziale Unterdrückung, Klassengegensätze und Armut in seiner Zeit auftrat und damit — zusammen mit Muhammad — Wegbereiter einer gerechten Gesellschaft wurde. Doch sind solche radikal vereinseitigenden Urteile nicht repräsentativ; sie bleiben die Meinung einzelner muslimischer Intellektueller aus dem islamischsozialistischen Lager. 3. Jesus Christus in den indischen

Religionen

Die Rezeption biblisch-christlicher Theologie erfolgte in den indischen Religionen sehr spät, obwohl die christliche Missionsgeschichte längst begonnen hatte und es über die sogenannten Thomaschristen mindestens seit dem 6. Jh. zu Konvergenzen gekommen sein muß, ganz zu schweigen von den Akkommodationsversuchen eines Roberto de Nobili im 17. Jh. Einen Grund dafür niag man im irenischen Charakter des Hinduismus suchen, der nicht zu Konfrontationen, sondern zu Assimilationen neigt, wie die Neustiftungen von synkretistischen Systemen aus den letzten 150 Jahren zeigen. 3.1. Im Hinduismus. Das Urteil O. Wolfis, „daß der Hinduismus die am meisten von der Christusfrage umgetriebene nicht-christliche Religion" sei (Christus unter den Hindus 9) trifft deshalb nur bedingt zu. Denn die Zeugnisse, die wir seit der „Bengalischen Renaissance" (Anfang 18. Jh.) aus dem Hinduismus besitzen, betreffen nur die Aussagen einiger weniger hinduistischer Intellektueller, sind aber für die Volksfrömmigkeit kaum von Bedeutung geworden. Ihre Christusrezeption spiegelt diese allenfalls wider, weil zu den Merkmalen hinduistischer Frömmigkeit die monistische All-Einheitslehre ebenso gehört wie das Denken in a-personalen und a-historischen Kategorien. In diesem Sinne konnte z.B. Keshab Chandra Sen (1838-1884) Jesus einen Orientalen nennen, der zu Indien gehöre und der Indien aufruft, christusförmig zu leben; Rämakrishna (1836-1886) erfuhr in einer Christusvision, daß Jesus die Inkarnation Gottes ist, und verkündete seitdem die Synthese aller Religionen; Vivekananda (1862-1902) interpretierte das Wesen Jesu Christi mit der Advaita-Lehre Sarikaras; für Swami Akhilänanda (1894-1962) war Jesus ein echter Yogi, der alle drei Arten des Yoga praktizierte und den Weg zur „rechten Versenkung" (samädht) wies, und für Swami Abhedänanda ist er der Sohn Gottes, in dem „alle Dualität verschwindet, jeder Gedanke des Getrenntseins für immer aufhört und wo der gewaltige Einbruch des göttlichen Wesens alle Barrieren und Grenzen unseres menschlichen Bewußtseins niederbricht. Wer immer diesen Zustand

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erreicht, wird ein Christus, sei er Krishna oder Buddha oder Jesus von Nazareth" (14 f)• Das Zitat ist besonders aufschlußreich für die „hinduistische Christologie"; denn hier wird Christus zu einem Avatar, einer Herabkunft der Gottheit, die sich nach Bhagavadgltä IV,5 f jeweils dann ereignet, wenn die universale Ordnung (Dharma) gefährdet ist. Der Herabkunft der Gottheit entspricht ein Aufstieg des Menschen zum höchsten Gottesbewußtsein. Das Modell des Integralen Yoga Sri Aurobindos (18721950) wird damit auf die Christologie angewandt. In dem gleichen Sinne läßt der Sikh Gopal Singh Christus sagen: „Andere haben von Gott gesprochen. Ich bin gekommen, um Gotter aus euch zu machen. Denn jeder ist größer als er selbst" (71). Inkarnation als die Vergöttlichung der menschlichen Seele ist darum möglich, weil „jede Seele (bereits) ein latenter Christus" ist (R. Hummel: Christentum im Spiegel der Weltreligionen 96). Wer mit Christus sagen kann: „Ich und der Vater sind eins", der wird selbst ein „Christus". Angesichts dieses überzeitlichen und überpersonalen Christusprinzips wird die Frage nach der Historizität Jesu unwichtig. Schon Gandhi hatte gesagt: „Der historische Jesus hat mich nie beschäftigt" (S. Samartha 97). Neben dieser „integralen Christologie" gibt es im Neohinduismus auch eine „liberale Jesulogie", d. h. eine am Rationalismus geschulte Methode, die Jesus entmythologisieren, entdogmatisieren und aus den Herrschaftsstrukturen der Kirchen befreien möchte. Hierher gehören Ram Mohan Roy (1773-1833), für den Jesus der große Lehrer der Religion und Moral war, Mohandas Karamcand Gandhi (1869-1948), der Jesus als Fürst der gewaltlos Überlegenen (satyagrähi) pries, und Sarvepalli Radhakrishnan (1888-1978), der sich der historisch-kritischen Forschung bediente und durch sie zu einem ethischliberalen Jesusbild gelangte. Im hinduistischen Christus ist Platz für jeden Aspekt, den die indische Religionsphilosophie bietet. 3.1.1. Der Einfluß auf die indische christliche Theologie. Die hinduistische Rezeption Jesu Christi hat ihrerseits eine nachhaltige Wirkung auf die neuere indische Theologie und bereichert deren Christologie. Pandipeddi Chenchiah (1886-1959) entdeckte in der Anthropologie Aurobindos die hermeneutischen Voraussetzungen für seine kosmische und evolutionistische Deutung Jesu Christi und sah dadurch zugleich die Möglichkeit, aus der „Babylonischen Gefangenschaft", in der sich der europäische Christus befindet, auszubrechen. Die Christologie erhält bei ihm ihren Deutungshorizont durch die Kosmologie, welche nicht nur die Universalität des Raumes, sondern auch der Zeit umfaßt. Der Synkretisierung setzt Chenchiah die sogenannte „Christifizierung" der religiösen Traditionen Indiens entgegen. Das Johannesevangelium sowie Epheser- und Kolosserbrief spielen sowohl bei der Rezeption Jesu Christi im Hinduismus wie in der indisch-christlichen Theologie eine nicht zu übersehende Rolle. 3.2. Jesus Christus in buddhistischen Laienbewegungen. Obwohl christlicherseits eine Fülle religionswissenschaftlicher und theologischer Vergleiche zum Thema „Christus und Buddha" vorliegt, fehlt eigenartigerweise die entsprechende Literatur aus dem Bereich des Buddhismus. Zumindest in den klassischen Systemen hat man sich bisher nicht oder nur kaum mit der Person Jesu Christi auseinandergesetzt, obwohl gerade dort (z. B. im Theraväda) eine große Bereitschaft zum Dialog mit dem Christentum besteht. Die Gründe für das Fehlen einer Christusrezeption in der neueren buddhistischen Philosophie können nur in der Unterschiedlichkeit der Denkstrukturen zu suchen sein, die eine Auseinandersetzung mit der Person und dem Werk Jesu Christi erschweren. Lediglich in den buddhistischen Laienbewegungen Japans (shinko shükyö), die in der Regel synkretistische Stiftungen sind, finden sich Ansätze für eine Christusrezeption. So polemisiert Masaharu Taniguchi, der Stifter der Seichö-no Ie, gegen den historischen Jesus, der Gott entmachte und daher das eigentliche Wesen des Christentums verkürze, und fordert die Unterscheidung zwischen dem „Jesus im Fleisch" und der ewigen Gottheit, die sich als Christus inkarniert. Erlösung geschieht dadurch, daß sich der Mensch seiner Gottessohnschaft bewußt wird und erkennt: Ich selbst bin Buddha, ich selbst bin Christus, ich selbst bin unbegrenzt.

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Jesus Christus X 4. Jesus

Christus

in den

Neureligionen

Die neuen religiösen Bewegungen -»Indiens, die im Westen auftreten, übernehmen in der Regel das hinduistische Christusbild und bieten von daher keine neuen Ansätze. Jesus Christus ist Guru oder Yogi, und er wird mystisch interpretiert ( R ä d h ä s o ä m i Satsarig); Krishnaverehrung und Christusglauben werden eins; es sei gleich, o b m a n „ K r i s h n a " oder „ C h r i s t o " ( „ K r i s c h t o " ) „ c h a n t e t " , - „es ist dieselbe S a c h e " ; denn linguistisch (!) hätten beide den gleichen Ursprung ( I S K C O N = Hare-Krishna-Bewegung). Hier dient ebenso wie z. B. in der Vereinigungskirche S. M . M u n s und in anderen Gruppierungen die Person Jesu Christi lediglich dazu, Defizite des neuen Glaubens durch christliche Z u s ä t z e aufzufüllen. 5 . Interreligiöse

Konvergenzen

Die Rezeption Jesu Christi in der gegenwärtigen Religionsgeschichte läßt sich aber nicht nur als Synkretisierung bzw. Relativierung bewerten, sondern durchaus auch als eine Bereicherung und Vertiefung der christlichen Verkündigung verstehen. Konvergenzen und Translationen wirken sich dabei positiv aus. Die südindische christliche T h e o l o gie spricht hier von einer „pleromatischen Dimension C h r i s t i " und meint damit eine umfassende Durchdringung der Religionen, die wechselseitig ist: Ein bestimmter Aspekt Jesu Christi oder seiner Botschaft wird von einer außerchristlichen religiösen Tradition aufgenommen, dort reflektiert und in den entsprechenden religiösen Kontext gestellt. So angereichert kehrt der Aspekt wieder in die christliche Theologie zurück und wird nun durch sie rezipiert und reflektiert. Beispiele für eine solche wechselseitige Durchdringung sind die südindische Theologie mit ihrer kosmischen Christologie und die japanische Theologie (Kazoh Kitamori) mit ihrer v o m Buddhismus beeinflußten Passionslehre. In neuerer Zeit finden namentlich die soteriologischen T h e m e n der Bergpredigt (Frieden, Gerechtigkeit usw.) Eingang in außerchristliche Religionen und werden auf diese Weise zu universalen, die Menschheit insgesamt betreffenden „ P r o g r a m m e n " . Die gegenwärtige Religionsgeschichte hat sich damit des T h e m a s Jesus Christus in geradezu existentieller Weise a n g e n o m m e n . Literatur Allgemein: Heinrich Fries u. a., Jesus in den Weltreligionen (Kirche und Religionen - Begegnung und Dialog 1), St. Ottilien 1981 (Lit.). - Heinz-Jürgen Loth/Michael Mildenberger/Udo Tworuschka, Christentum im Spiegel der Weltreligionen. Krit. Texte u. Kommentare, Stuttgart 2 1979 (Lit.). - Udo Tworuschka (Hg.), Religionen heute. Themen u. Texte für Unterricht u. Studium, Frankfurt/München 1977. - Ders., „Dieser Gott kann uns helfen". Die wichtigsten nicht-christl. Jesusdeutungen: LM 15 (1976) 1 2 0 - 1 2 4 . Zu 2: Georges C. Anawati, Art. 'Isä: EI 4 (1978) 8 1 - 8 6 (Lit.). - Ders., Die Botschaft des Koran u. die bibl. Offenbarung: Ansgar Paus (Hg.), Jesus Christus u. die Religionen, Graz/Wien/Köln 1980, 1 0 9 - 1 5 9 . - Tor Andrae, Islamische Mystik, Stuttgart 2 1980. - Peter Antes u.a., Islam - Hinduismus - Buddhismus. Eine Herausforderung des Christentums, Mainz 1973. - Abbas Muhammad alAqqad, Das Leben Christi, Beirut 2 1969 (arab.). - Muhammad Asad/Hans Zbinden (Hg.), Islam u. Abendland, Olten/Freiburg i. Br. 1960. - Muhammad 'Ata ur-Rahim, Jesus Prophet of Islam, Norfolk 1977. - Frederik Lambertus Bakker, Jesus en de Islam, Den Haag 1955. - Smail Balic, Das JesusBild in der heutigen islamischen Theol.: Abdoldjavad Falaturi/Walter Strolz (Hg.), Glauben an den Einen Gott. Menschliche Gotteserfahrung im Christentum u. im Islam, Freiburg 1975, 1 1 - 2 1 . Walter Beltz, Die Mythen des Koran. Der Schlüssel zum Islam, Berlin/Weimar 1980. - Edgar Blochet, Le Messianisme dans l'heterodoxie musulmane, Paris 1903. - Johan Bouman, Das Wort v. Kreuz u. das Bekenntnis zu Allah, Frankfurt 1980. - Andreas Bsteh (Hg.), Der Gott des Christentums u. des Islams, Mödling/Wien 1978 (Beitr. zur Religionstheol.). - Muhammad Din, The Crucifixion in the Koran; M W 14 (1924) 2 3 - 2 9 . - Eleonore von Dungern (Hg.), Das große Gespräch der Religionen, München/Basel 1964 (Terra Nova 2). - Abdoldjavad Falaturi/Walter Strolz, Glauben an den Einen Gott. Menschliche Gotteserfahrung im Christentum u. im Islam, Freiburg i.Br. 1975. - Dies., Drei Wege zu dem einen Gott. Glaubenserfahrung in den monotheistischen Religionen, Freiburg i.Br. 1976. - Michael Fitzgerald, Moslems u. Christen - Partner?, Graz/Wien/Köln 1976. - Louis Gardet, Islam, Köln 1968. - Carolus Fridericus Gerock, Versuch einer Darst. der Christologie des Koran,

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Peter Gerlitz XI. Das Christusbild in der Kunst l.AlteKirche tur S. 83)

1. Alte

2. Mittelalter

3. Vom Mittelalter bis zur G e g e n w a r t

(Anmerkungen/Litera-

Kirche

Über die physiognomische Erscheinung des Herrn berichten die Evangelisten nichts. Widerstände gegen künstlerische Darstellungen Jesu sind bezeugt (so von -> Eusebius /on Caesarea, Ep. ad. Const.: PG 20,1545; dt.: T K T G 9 [1968] 1 5 - 1 7 ; vgl. Schwebel 87-19), scheinen jedoch ohne Einfluß geblieben zu sein. Die erstaunliche Verbreitung der wohl sicher ins 3. Jh. zurückreichenden Abgar-Legende (vgl. TRE 9,278-281) erweist eher das Gegenteil. Während in einer Fassung die Rede ist von einem Bildnis Christi, dem Ache ropoiiton, das also nicht von menschlicher Hand stammt, berichtet eine andere Fassung, Christus habe sein Antlitz auf das für das Gemälde bestimmte Tuch gedrückt. Sehr ähnlich die Bernikeüberlieferung, die gegen 1300 zur Veronikalegende ausgeschmückt wird. In -»Edessa hat es ein „nicht mit Händen gemachtes" Christusbild gegeben, das 944 nach Konstantinopel überführt und dort hochverehrt wurde. Wenn hier auch das sogenannte Turiner Leichentuch außer Betracht bleiben muß - nach den jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen sicher nicht als Bildnis anzusehen, sondern ein bisher rätselhafter Abdruck eines Gemarterten und Gekreuzigten mit seltsam erhabenen Zügen -, so fällt auf, daß auch das „Abgar"-Bildnis zu Edessa, ähnlich der Veronikareliquie im römischen Petersdom (wofern nicht beide identisch sind), als Abdrücke des Antliizes Christi verstanden wurden. Bildnis und Reliquie sind hier Eines, die Christus-Ikone ?on Edessa ist mithin schon sehr früh als Reliquie verehrt worden. 1 Doch ist dies ein Sonderfall. Bildliche Darstellungen Christi hat es spätestens seit dem 3. Jh. gegeben, so in Gern sicher 232/33 datierbaren Taufraum der Hauskirche von Dura-Europos in Mesopotamien. Hier sind an der Wand, in zwei Streifen übereinander, Wunder aus dem Neien Testament gemalt, und in der Lünette über dem Taufbecken der Gute Hirte neben Adam und Eva. Vorkonstantinische Kulträume und Kirchen sind fast alle vernichtet. Auch Dura-Iuropos verdankt seine Erhaltung - und wir unsere Kenntnis dieser frühen Taufkapelle einem geschichtlichen Zufall. Um so bemerkenswerter ist, daß die gleichen biblisdien Szenen (Heilung des Lahmen, Samaritanerin am Brunnen, Schafträger usw.) gleichzetig in römischen Katakomben dargestellt worden sind. Das scheint darauf hinzudeuten, daß diese Zyklen ihren Ursprung in einer noch früheren Zeit hatten; sicher besaßen sie die gleiche Funktion als „paradigmatische Gebete", in denen sie entweder in der Sepulkialkunst der Hoffnung auf die Auferstehung der Verstorbenen oder - diesem Gedanlen theologisch verwandt - der Liturgie der Taufe Ausdruck verliehen. 2 Die sepulkrale Deutung findet ihre Bestätigung in den Darstellungen auf altchrislichen Sarkophagen. Hier erscheinen Szenen des Alten und Neuen Testaments, insbesondere Darstellungen Christi in Beziehung auf den Verstorbenen, ähnlich wie auf heidnisclen Sarkophagen die Bedeutung antiker Mythen zu verstehen ist. So sind auf dem christliclen Sarkophag in der S.M. Antiqua zu Rom (wohl um 245) neben dem unter der Kürlislaube ruhenden Jonas, die Taufe Christi und der Gute Hirte dargestellt, in der Mitte ;in

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lesender Philosoph und eine Beterin, beider Gesichter unvollendet, also vermutlich für Bildnisse der Grabinhaber bestimmt, auf welche die übrigen Szenen zu beziehen sind. Die frühesten Darstellungen Christi fallen in mehrere Gruppen. a) Typologische, also solche, in denen eine Gestalt des Alten Testaments auf Christus verweist. Hierzu gehört der eben erwähnte Jona, der nach seiner Errettung aus dem Bauch des Wals unter einer Kürbislaube ruht. Ein neutestamentlicher Bezug ergab sich durch M t 12,40. In der christlichen Sepulkralkunst weist die Szene auf die durch Christi Tod und Auferstehung gewährleistete Auferstehungshoffnung des Verstorbenen hin. b) Allegorische. In diese Gruppe gehört die häufigste, früheste und offenbar beliebteste Darstellung des Lammträgers (die älteste plastische wohl auf dem Marmorsarkophag des Lateran, 3. Jh.). Maßgeblich wirkten hier biblische Texte wie Joh 10,14; Ps 23; Jes 40,11; Ez 34,23; I Petr 5,4. Bei der Wahl dieses Themas hat aber zunächst sicher noch ein anderer Gedanke mitgespielt. Der Lammträger ist ein uraltes Motiv der antiken Kunst. In der römischen Sepulkralkunst erscheint er als Sinnbild der Philanthropia. Altchristliche Auftraggeber werden das T h e m a bevorzugt haben, einerseits weil sie ihre Bestellungen Werkstätten übertrugen, deren Bildhauer für heidnische Besteller arbeiteten, andererseits bot sich der Gute Hirte in Zeiten der Verfolgung gerade wegen seiner Doppeldeutigkeit an: Er erlaubte die Auslegung sowohl als Christus wie als Sinnbild der Humanität, als Tugend der Verstorbenen. Das „kryptochristliche" Motiv sollte jedoch nicht überbewertet werden. Die altchristliche Sepulkralkunst bezeugt, daß es naturgemäß zunächst einen der Gemeinde verständlichen Typenvorrat nicht gab. Auch der ruhende Jonas geht zurück auf die Gestalt des schönen Jünglings Endymion. Bezeichnend, daß der älteste bekannte Sarkophag für einen Christen, auf 217 datierbar, der des freigelassenen kaiserlichen Kämmerers Marcus Aurelius Porsenna, zwar eine christliche Inschrift trägt, jedoch ausschließlich Motive der heidnischen Sepulkralkunst verwendet. c) Schon im 3. J h . erscheint, wiederum sowohl in Dura-Europos wie in der römischen Callixtus-Katakombe (ca. 210) Christus auch in Szenen des Neuen Testaments. Als Motive neben der Taufe, der Anbetung der Magier tauchen vor allem Heilungswunder auf. Diese - die Heilung des Gichtbrüchigen, des Blinden, des Aussätzigen usw. zusammen mit dem sitzenden Christus der Bergpredigt — erscheinen auf Grabverschlußplatten des Thermenmuseums, die bereits um 300 entstanden sind. Obgleich grob in der Ausführung, weisen diese Sarkophage mit ausschließlich neutestamentlichen Szenen, in deren Mittelpunkt Christus steht, sowohl in der Themenwahl wie in der doppelzeiligen Anordnung den Weg in die nachkonstantinische Zeit: Sarkophag des Stadtpräfekten Junius Bassus (gest. 359), hier auch Passionsdarstellungen, zunächst ohne Kreuzigung; über dem Einzug Christi, in der Mitte der unteren Reihe, Christus über dem Caelus, thronend. d) In eine besondere Kategorie gehören Darstellungen des lehrenden Christus. Sie bilden nicht so sehr Szenen des Neuen Testaments ab, wenn sie auch aus deren frühesten Darstellungen (s. o.) abgeleitet sein mögen, als den Hinweis auf Lehramt und Lehrautorität Christi. Besonders schön auf dem Sarkophag in S. Ambrogio in Mailand (um 400). In diesen Zusammenhang gehört auch die „traditio-legis": Christus zwischen Petrus und Paulus. Darstellungen Christi waren schon in altchristlicher Zeit nicht allein auf die Sepulkralkunst beschränkt. Statuetten des Guten Hirten, gelegentlich vielleicht als Brunnenfiguren bestimmt, sind wohl schon im 3. J h . , wieder sowohl in R o m wie in Kleinasien, entstanden. Im 5. J h . erscheinen dann die frühesten Szenen in römischen Kirchen. So die berühmten Reliefs auf den Holztüren in S. Sabina in Rom, mit einer der ältesten Darstellungen der Kreuzigung. Gleichzeitig tauchen sie auch in Werken der Kleinkunst, etwa auf dem Elfenbeinreliquiar in Brescia, der Berliner Pyxis usw. auf. Das älteste erhaltene monumentale Mosaik einer christlichen Kirche in der Apsis von S. Pudenziana (ca. 400) stellt Christus inmitten der Apostel dar; die stark restaurierte Komposition hat gleichfalls ihre Vorgänger in den Katakomben.

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Seit dieser Zeit erscheint das Christusbild in zunehmend theologischer Bedeutung, so auf dem Triumphbogen von S. M a r i a Maggiore, dessen Mosaiken höchstwahrscheinlich als direkter Hinweis auf die Beschlüsse des Konzils zu Ephesus (431) zu verstehen sind. M a r i a und ihr Kind werden in den Szenen der Kindheitsgeschichte, als Hinweis auf ihre W ü r d e , in der Pracht byzantinischer G e w a n d u n g gezeigt. Christus wird in zwei verschiedenen Typen dargestellt: Neben den bärtigen, mit lang herabfallendem H a u p t h a a r , tritt der jugendliche bartlose. Quelle des letzteren könnten die a p o k r y p h e n Apostelakten sein: So schildern die T h o m a s a k t e n , wohl im 3. Jh. entstanden, Christus als schönen Jüngling. Ähnlich in der Passio SS. Perpetuae et Felicitatis (Anfang 3. Jh.), wohl von Tertullian, die Erscheinung des Herrn vor den Glaubenszeugen im Jenseits und in der Vita et Passio des Cyprian von Karthago. 3 Dieser Typ erscheint auf dem Junius Bassus Sarkophag, auf Elfenbeinen und liturgischen Gefäßen des 5. Jh., auf dem Apsismosaik von S. Vitale in Ravenna (6. Jh.); der bärtige Christus, schon auf dem erwähnten vorkonstantinischen Fragment des Thermenmuseums, wird allmählich vorherrschend, geprägt wohl von der kaiserlichen Kunst in Byzanz. Die berühmte Ikone des Katharinenklosters (Sinai, 6. Jh.) zeigt diesen Typ bereits in vollendeter Ausprägung. In der Verbindung strenger unbewegter Symmetrie mit leichter Unregelmäßigkeit des Antlitzes hat m a n , wohl mit Recht, den Versuch erblickt, die gottmenschliche N a t u r des Erlösers zu veranschaulichen. 4 Die in den Katakomben und auf Sarkophagen erhaltenen frühesten Christusbilder sind bis in die konstantinische Zeit und weit darüber hinaus vorbildlich geblieben. Einige der Heilungswunder werden in den Mosaiken von S. Apollinare N u o v o zu Ravenna (6. Jh.) fast wörtlich von jenen übernommen. In dem Mausoleum der Tochter Konstantins, S. Constanza zu R o m , erscheinen in den Apsismosaiken der Quernischen Christus und Petrus bei der Schlüsselübergabe und, offenbar nach Eph 2, 14—18, Christus als G e w ä h r e r des Friedens. Das alte Schema „Christus zwischen den Apostelfürsten" wiederholt sich auch in SS. Cosma e Damiano, wo diese in dem Apsismosaik die Titelheiligen zu Christus führen (6. Jh.). Auch die eschatologischen Visionen sind in der Sepulkralkunst vorgebildet, so Christus über dem Himmel thronend (s.o. Junius Bassus Sarkophag), als Vorwegnahme der Darstellung Christi auf der Weltkugel in San Vitale; der inmitten der 12 Jünger thronende Christus auf dem Apsismosaik von S. Aquilino, Mailand, etwa gleichzeitig mit dem Sarkophag von San Ambrogio. In Hosios David (Saloniki, um 500) auf dem Apsismosaik haben wir die früheste erhaltene M o n u m e n t a l k o m p o s i t i o n Christi mit dem T e t r a m o r p h vor uns, also die Maiestas Domini, welche die karolingische und romanische Kunst beherrschen wird (vgl. Hinz 1,63ff, 78ff; 2,9ff). 2.

Mittelalter

In der Pfalzkapelle Karls d. Gr. zu Aachen befand sich eine Maiestasdarstellung, offenbar in der Kuppel gegenüber dem T h r o n des Kaisers: der göttliche Weltenherrscher im Blick des irdischen. Die gleiche Darstellung liegt im Chor des karolingischen Kölner D o m s vor, ebenso auf dem Einband des Codex Aureus aus St. Emmeran (München, ca. 870); hier thront Christus, bartlos und jugendlich, von den Evangelisten umgeben, auf der Weltkugel, inmitten von Szenen aus dem Leben Jesu. Wandmalereien mit der Christusvita sind erst vor wenigen Jahrzehnten im Langhaus von Müstair (Graubünden), einem von Karl d. Gr. gestifteten Kloster, aufgedeckt worden. Theologisches Denken beeinflußt die Kreuzigungsdarstellungen der Zeit: der Kruzifixus zwischen Ecclesia und Synagoge. Auch die ottonische Epoche (um 1000) setzt diese Tradition fort, jedoch erscheint nun, wahrscheinlich unter byzantinischem Einfluß, ein neuer Typ des Gekreuzigten. Während die karolingische Kunst Christus stets mit geöffneten Augen, also lebend am Kreuz dargestellt hatte, erscheint er seit Ende des 10. Jh. - jedenfalls in N o r d e u r o p a - mit geschlossenen Augen, als Verstorbener: Gero-Kruzifix (Köln, Dom); Kruzifix (Essen-Werden); Psalter wohl aus der Ramsey-Abtei, British-Museum (London). Bei der Ausbildung dieses

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Typs werden theologische Gedanken mitgewirkt haben. Bezeichnend, d a ß in Italien Kardinal H u m b e r t um 1054 diese byzantinischen Darstellungen (hominis morituri imagines) als Blasphemie bezeichnet. 5 Mit dem 12. Jh. erfährt das Christusbild eine neue Wandlung. In Moissac (ca. 1120) erscheint Christus gekrönt, Schrecken erregend inmitten der Evangelistensymbole. Am Westportal von Chartres, nur 30 Jahre später, finden wir die gleiche Darstellung. 6 Aber an die Stelle des furchtgebietenden Richters ist hier der milde, ungekrönte Erlöser getreten, fast sicher unter dem Einfluß Bernhards von Clairvaux, der in seiner Auslegung der Regel Benedikts Liebe an die Stelle der Furcht vor dem Gericht treten läßt. Dieser Gedanke f ü h r t auch zur Umgestaltung der Ikonographie des Jüngsten Gerichts (das nun die Maiestas Do mini ablöst). Am Südquerhaus der Kathedrale von Chartres (ca. 1205) thront Christus mit fürbittend erhobenen H ä n d e n , und - eine weitere bedeutsame U m w a n d l u n g des Deesis (Fürbitte)-Motivs der byzantinischen Kunst - statt Maria und J o h a n n e s dem T ä u f e r , die Muttergottes mit dem Evangelisten Johannes, dem Jünger, „den Christus liebte", Bernhards Hauptzeuge für seine Theologie der Liebe. An den Kathedralen des 13. Jh. (Chartres, Reims, Amiens) erscheint als Neufassung des schon in frühbyzantinischer Zeit nachweisbaren Motivs, Christus, (nach Ps 90) auf die Tiere der Hölle tretend, statuarisch vor Mittelpfeilern der Portale als Hinweis auf das: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das L e b e n " (Joh 14,6). Unter der Einwirkung franziskanischer Theologie und Mystik wandelt sich seit der Mitte des 13. Jh. das Christusbild abermals. H a t t e die vorausgehende Zeit die Kunst wesentlich zur Veranschaulichung der kirchlichen Lehre benutzt, so wenden sich Malerei und Plastik, gerade bei Christusdarstellungen, an die Empfindungen. Die Triumphkreuze, monumentale Darstellungen des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes, fassen das Ereignis zunächst noch im Sinne der frühchristlichen Tradition als Sieg des Erlösers über den Tod auf; der Gekreuzigte erscheint lebend (Halberstadt, Wechselburg). Die gleiche G r u p p e im N a u m b u r g e r D o m (um 1250) betont das Leiden des sterbenden Erlösers. Schon in Wechselburg (um 1240) wird der Vier-Nagel-Kruzifix ersetzt durch den DreiNagel-Typus (die Füße übereinander genagelt), mindestens in Spanien zunächst als zu realistisch mißbilligt. Die gleiche Entwicklung spielt sich, besonders großartig, in den gemalten Triumphkreuzen Italiens ab: Cimabues in der Franziskanerkirche S. Croce zu Florenz, Giottos bei den Dominikanern in S. Maria Novella ebendort. N o c h nicht eindeutig erklärt ist das in Italien und Deutschland gleichzeitig entstehende Gabelkruzifix (Giovanni Pisano, Pisaner Kanzel; S. Maria im Kapitol, Köln), bei dem die besonders krasse Herausarbeitung der Leidensmerkmale wesentlich ist. Dies wird zunehmend zum H a u p t akzent der Passionsdarstellung, zumal der Geißelung, vor allem in der deutschen Malerei seit dem 14. Jh., während Italien, entscheidend von Giotto geprägt (Arena Kapelle, Pad u a , um 1305), den tragischen Ernst des Passionsgeschehens veranschaulicht. Zu diesem Gedankenkreis gehören zwei Motive, die in der Meditation des 14. und 15. Jh. immer stärker hervortreten: Die Kreuzabnahme (vgl. Hinz 11,32ff) durch Josef von Arimathia und N i k o d e m u s sowie die Totenklage. Das erste T h e m a , am großartigsten bei Rogier van der Weyden (Prado, Madrid), der unübersehbar das Mitleiden M a r i a e und d a m i t ihr Mitwirken als co-redemptrix beim Erlösungswerk betont, wie sie besonders die franziskanische Theologie lehrte. Die Totenklage hat sich allmählich aus den Begräbnisdarstellungen der Ostkirche entwickelt, bis sie, zuerst in der deutschen Kunst um 1300, als Einzelgruppe des Vesperbildes (oder der Pietä) erscheint (-»Andachtsbild). Byzantinischen Ursprungs ist auch der Schmerzensmann, im Westen eng mit Grablegung und M a rienklage verbunden. Der sogenannte Gregorianische Schmerzensmann f u ß t auf einer Legende, wonach Gregor d . G r . während der Messe und im Augenblick der Wandlung Christus als Schmerzensmann erblickt habe. Als Bestätigung der wahren Präsenz Christi im Altarsakrament ist dieses Thema in der spätmittelalterlichen Malerei beliebt. Z u den bevorzugten Themen gehört in dieser Zeit auch die Vera Ikon, der Abdruck von Jesu Antlitz auf dem Schweißtuch der Veronika: Tafel des Veronika Meisters (Köln) sowie ein

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verlorenes, aber in zahlreichen Kopien erhaltenes Werk des Jan van Eyck. Darstellungen der Passion, schon seit frühchristlicher Zeit bekannt, in der Buchmalerei zuerst im Purpurcodex von Rossano (6. Jh.), finden im 16. Jh. auch in der Druckgraphik (->Durer; -»Graphik) ein breites Publikum. Auch das Jesuskind bzw. die Mutter Gottes mit Kind wird im Spatmittelalter in einem neuen Sinn aufgefaßt. An die Stelle der majestätisch thronenden Muttergottes mit dem meist stehenden kindlichen Welterloser tritt nun die Thematisierung eines innigen Verhältnisses zwischen Mutter und Kind. Vorbild ist, wiederum in Byzanz, die Glykophilusa. Die besonders liebliche Darstellung von Mutter und Kind m der böhmischen Malerei des 14. Jh. wird namentlich in den plastischen „Schonen M a d o n n e n " weiterentwickelt. Doch deutet auch hier das scheinbar Spielerische des Kindes auf einen tieferen Sinn- etwa der Apfel auf den Sundenfall, der Stieglitz, mit welchem das Kind spielt (Raphael), auf die Passion. Daß Maria, diese vorausahnend, als „Priesterin" schon bei der Darstellung im Tempel ihr Kind gleichsam als Opfer auf dem Altar anbietet, oder sogar beim Anblick des schlafenden Kindes auf ihrem Schoß ihre Klage um den Gekreuzigten voraussieht (der Gedanke begegnet auch in der mystischen Dichtung ]ener Zeit), erklart den häufig tragischen Ernst in Haltung und Ausdruck Mariae: Michelangelos Brügge-Madonna vor 1506, von Kaufleuten der Hansestadt bestellt. 3 Vom Mittelalter

bis zur

Gegenwart

Der italienische H u m a n i s m u s der „Hochrenaissance" gestaltet das Christusbild im Sinne seines Ideals. Michelangelo sieht den Erloser fast antikisch. Die heroische Statue des Auferstandenen, der sein Kreuz halt in S. Maria Sopra Minerva, sowie Christus als Weltenrichter - bartlos und jugendlich - in dem Weltgerichtsfresko der Sistina. Beide Deutungen sind untrennbar mit der Person des Kunstlers verbunden, der nun das Christusbild mit bisher unbekannter Freiheit deutet. Die tiefe Religiosität des Meisters spricht sich auch in anderen Themen aus. Immer wieder hat ihn die Pieta, die Marienklage beschäftigt. Das in Deutschland offenbar zuerst geschaffene, im 15. Jh. in der franzosischen Malerei (Avignon Pieta, Louvre) verbreitete Vesperbild (s.o.) ubernimmt Michelangelo, so im Petersdom (für einen franzosischen Auftraggeber), spater verschmolzen mit der Kreuzabnahme (Florentiner D o m und Pieta Rondanmi). Für die f r o m m e Vittoria Colonna hat Michelangelo um 1540 jenes Kruzifix geschaffen, das den Heiland nach den Worten seines Hausgenossen Condivi im Augenblick des Gebetsrufs „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", also in der Gottesverlassenheit darstellt. 7 Luther und vor allem Calvin haben die Gottverlassenheit als zur Erlösung notwendig verstanden, und es ist keineswegs auszuschließen, daß auch der Kunstler von diesen Gedanken beeinflußt war, zumal Vittoria Colonna, wie wir auch aus anderen Zusammenhangen wissen, mit der reformatorischen Theologie in Beruhrung gekommen ist. Auch Raphael (Verklarung, Vatikan) verwandelt den traditionellen, in diesem Fall bartigen Christustyp: Vom majestätisch Ernsten fort, im Smne einer fast lyrisch gestimmten Empfindsamkeit, wahrend es in Leonardos Abendmahl (Mailand) dem Kunstler weniger um die Einsetzung des Altarsakraments als um die Vergegenwartigung der Erregung geht, welche die Junger bei dem Wort Christi uberfallt, daß der Verrater unter ihnen sei. In ihrer Mitte jedoch, alles beherrschend, der Erloser, wiederum bartlos, das H a u p t leicht geneigt, mit gesenkten Augenlidern. Die Skizze (Brera) erlaubt weit besser als das ruinöse Fresko, den Ausdruck erhabenen Duldens zu erfassen, der die Passion vorwegzunehmen scheint. Andere Wege geht die Kunst Venedigs. Sie nimmt einerseits die auch im Norden seit dem 15. Jh. verbreitete Tendenz des „ C l o s e - u p " auf, die uns als Betrachter ein Geschehen aus dem Leben Jesu, sei es ein Wunder, sei es eine Szene der Passion wie die Kreuztragung, dadurch besonders naherucken will, daß das Motiv, auf wenige Figuren beschrankt, sich im Bildvordergrund abspielt: Tizians Zinsgroschen (Dresden), Ecce H o m o (Privatbesitz). Tizian steigert die Emzelszene gelegentlich ins Monumentale, so die Dor-

TAFEL 1

Guter Hirte, 3. ]h. (Louvre)

TAFEL 2

Christusikone, 1. H . 6. J h . (Katharinenkloster, Sinai)

TAFEL 3

TAFEL 4

Chartres, Kathedrale, Westfassade, mittleres Tympanon, Majestas Domini, um 1150

TAFEL 5

Schmerzensmann, Terrakotta, ursprünglich bemalt, florentinisch (Dello Delli?), frühes 15. Jh., London (Victoria and Albert Museum)

TAFEL 6

Michelangelo, Christus am Kreuz, Zeichnung, London (British Museum)

TAFEL 7

Rembrandt, Christus, Berlin (Dahlem)

TAFEL 8

Karl Schmidt-Rottluff, Christuskopf, Glaskomposition, 1919, Berlin (Brücke-Museum)

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nenkrönungen (im Louvre und in München). Andererseits verleihen aber auch zahlreiche Assistenzfiguren und nebensächliche Einzelheiten den christologischen Ereignissen gelegentlich etwas Spielerisches. Das Christusbild läuft Gefahr, nebensächlich zu erscheinen. So schon in Tizians Abendmahl (Urbino), erst recht aber in der Hochzeit zu Kana (Louvre) des Paolo Veronese, wo Christus nicht mehr ist als eine schwächliche Begleitfigur. Der Maler hat es deswegen mit der Inquisition zu tun bekommen. Der tiefsinnigste religiöse Maler der Tizianschule ist zweifellos Tintoretto (gest. 1594), der in der Scuola grande di San Rocco wohl zum letzten Mal den Passionszyklus in monumentalen Wandbildern dargestellt hat, vielfigurig, doch von ergreifender Kraft der Vergegenwärtigung: Christus vor Pilatus; Kreuztragung. Auch in Deutschland ist das Christusbild im 16. Jh. stark von dem subjektiv Erlebten des Künstlers geprägt. Am merkwürdigsten im Werk des wegen seiner Beteiligung am Bauernaufstand hingerichteten Jörg Ratgeb (Auferstehung des Herrenberger Hochaltars), am bedeutendsten in ->Grünewalds (richtig: Mathis Neithard) Isenheimer Altar; für die dortige Klosterkirche der Antoniter, einen Hospitalorden, geschaffen, dessen Patienten als Gottes Märtyrer bezeichnet wurden, mag die Christusfigur sehr wohl im Zusammenhang mit der Tatsache stehen, daß die Kranken zunächst zum Altar geführt wurden. Der furchtbar gemarterte Leichnam, die in Tod und Leiden entstellten Züge Christi veranschaulichen das Erlösungswerk als die Tat, in welcher Christus die Leiden der Menschheit - die Erbsünde - sozusagen als Krankheit auf sich genommen hat. Doch findet sich diese Auffassung, wenn auch weniger kraß, ebenso auf anderen Kreuzigungsdarstellungen des Meisters, und man darf vermuten, daß in diesen Darstellungen Gedanken der Zeit zur Anschauung kommen, in denen das Erlösungswerk im Karfreitagsgeschehen mehr als in der österlichen Auferstehung erblickt wird. Im 17. Jh. deutet vor allem die italienische Malerei (—>Künste, Bildende) das Christusbild in einer für den heutigen Betrachter oft schwer erträglichen Weise um: Annibale Carracci (Dresden), Domenico Fetti (München), Guido Reni (Dresden) und Carlo Dolci (Christus bei der Einsetzung des Abendmahls). Die Züge des Erlösers, gleichgültig in welcher Szene, erhalten etwas Weiches, Exaltiertes, offenbar in dem Wunsch, auf die Empfindungen des Betrachters zu wirken. Geistliches Schauspiel und Meditation der gegenreformatorischen Epoche sind von ähnlichen Affekten bestimmt. Ganz anders die Entwicklung im Norden. Hier wird das Christusbild wesentlich von zwei Meistern gestaltet: im protestantischen Norden der Niederlande von -»Rembrandt, im katholischen Flandern von Rubens. Entscheidend bei Rembrandt ist die Verinnerlichung und Vermenschlichung des überlieferten Christusbildes: Eindrucksvoll in dem Christus (Berlin), mehr Bildnis als Andachtsbild oder gar Altarbild. Jesus erscheint nicht als Erlöser, Dulder, Auferstandener oder gar Richter. Das Gesicht zur Seite gewandt, gewissermaßen ohne den Betrachter gewahr zu werden, gibt das Bild, welches nur Kopf und Schultern zeigt, die Züge des wie in Gedanken Versunkenen wieder. In seinen Radierungen hat Rembrandt Jesus wie kein anderer Künstler in seiner Menschlichkeit vergegenwärtigt: Krankenheilung (100 Gulden Blatt), Emmaus, Ecce Homo, Kreuzigung, Grablegung usw. Die kleinformatige Gemäldefolge aus dem Leben Jesu (München), von dem Statthalter von Oranien bestellt, ist vor allem persönliches Bekenntnis (in der Kreuzaufrichtung stellt der Maler sich selbst dar, als Mitschuldigen am Leiden des Erlösers). Dies ist um so bemerkenswerter, als Rembrandt sich in der „Kreuzaufrichtung" und in der „Kreuzabnahme" an zwei Meisterwerken des um eine Generation älteren Rubens orientiert hat, den monumentalen Altartafeln gleichen Inhalts (beide heute in der Kathedrale von Antwerpen). Sind im Werk des Holländers Gemälde dieses monumentalen Charakters die Ausnahme, so bei Rubens solche intimer Wirkung. Er ist der Maler der triumphierenden Kirche der Gegenreformation und gestaltet das Christusbild in diesem Sinne: Weltgericht vom Neuburger Hochaltar (München), Heilige Drei Könige (Prado), ein von dem Meister häufig wieder aufgenommenes Thema, nicht weniger bezeichnend für ihn, als die Hirtenanbetung für Rembrandt. Neben den genannten Szenen hat Rubens

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häufig den Auferstandenen gemalt, zumal für Epitaphe, da der Verstorbene nach christlicher Lehre Teil hat an der Auferstehung Christi.) Rubens knüpft hier an eine uralte Tradition an, die wir bis in die Katakombenmalerei zurückverfolgen können. (Bezeichnenderweise begegnen in protestantischen Epitaphien sehr viel seltener Darstellungen der Auferstehung als Szenen aus der Passion Christi 8 ). Für Darstellungen des Gekreuzigten wählt Rubens, an den mittelalterlichen Gabelkruzifix anknüpfend, den Typus des mit erhobenen Armen ans Kreuz Gehefteten, den auch die Plastik von ihm übernimmt. In seinen Gemälden der Grablegung nimmt Rubens, italienische Anregungen abwandelnd, die Tradition des Andachtsbildes auf. Die spanische Malerei des 17. Jh. greift in ihren Christusbildern häufig auf Visionen und deren Darstellungen seit dem 14. Jh. zurück, ähnlich wie die zeitgenössische spirituelle Literatur: Christus an die Geisseisäule gefesselt, daneben, von einem Engel geleitet, in mitleidender Betrachtung die christliche Seele von Veläzquez (London); Christus vom Kreuz niedersteigend und den hl. Bernhard umarmend, am ergreifendsten von F. Ribalta (Prado). Im 18. Jh., im Zusammenhang mit den allgemeinen Tendenzen der Zeit, wird das Christusbild seltener, immerhin entsteht Goyas Gefangennahme Christi, gemäß dem Ethos des Malers ganz auf die Wehrlosigkeit des Opfers konzentriert, den Judasverrat und die Malchusszenen ausblendend (Toledo, Sakristei der Kathedrale, Skizze Prado). Tiepolos vielfiguriges Kreuzigungsbild (Burano) knüpft an seinen venezianischen Vorgänger Tintoretto an. G.A. Guardis süßliche Christus-Johannesgruppe (Crema) ist mit den stillebenhaften Geräten der Abendmahlsszene gerade in ihrer Oberflächlichkeit für das Zeitalter bezeichnend. Vor allem in der Plastik (-»Künste, Bildende) andererseits gibt es bedeutende Neuformungen traditioneller Themen: monumentale Beweinung Christi mit Engel, von Raphael Donner im Dom zu Gurk und die Pietä Ignaz Günthers in Weyarn. Mit dem 19. Jh. bricht nicht nur die künstlerische Tradition ab. Die beiden bedeutendsten Künstler der norddeutschen —»Romantik ersetzen das Christusbild durch die religiöse Landschaft: Ph. O. Runge bereitet seine Flucht nach Ägypten durch eine Skizze vor, in welcher die Heilige Familie durch landschaftliche Elemente ersetzt wird; C. D. Friedrichs „Kreuz im Gebirge", ursprünglich für den Tetschener Altar bestimmt (Dresden), verwendet - zum Zorn der Kritiker - als erster die Landschaft als Altarbild. Für ihn wie für Runge ist übrigens der Mond ein Bild Christi. Anders die -»Nazarener, die die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist des Christentums erstrebten, wobei sie, ähnlich den Präraphaeliten in England, an die vorklassische Kunst Italiens, vor allem an Fra -»Angelico anzuknüpfen suchten: Overbeck (Grablegung Christi), Ungläubiger Thomas, Guter Hirte; J. v. Führich, Lazarus; Schnorr v. Carolsfeld, Hochzeit zu Kana; W. v. Schadow, Christus inmitten der klugen und der törichten Jungfrauen; gleiches Thema bei P. Cornelius. 9 Gleichzeitig schaffen Thorwaldsen für die Kopenhagener Frauenkirche und Dannecker ihre kolossalen Marmorstatuen des predigenden Christus. Allen diesen Werken eignet eine merkwürdig blutlose, frömmelnde Kälte, die sie dem Leben entrückt, vor allem jedoch bezeugt, daß das religiöse Denken seine Quelle nicht mehr in dem Erlebnis des Numinosen (R. Otto) hat. Nicht anders die Düsseldorfer Malerei. Ernst Deger, ein ausgesprochener Kirchenmaler, ist in seiner Darstellung der Kreuzigung und Auferstehung in der Appolinaris-Kirche in Remagen (um 1845) klar im kompositorischen Aufbau, aber leer im Ausdruck und charakterisiert damit die religiöse Malerei der Zeit. Das Phänomen gilt nicht nur für Deutschland. Frankreich, dessen akademischer Klassizismus nicht weniger gekünstelt wirkt als die christliche Malerei der Nazarener, hat in den seltenen Thematisierungen des Christusbildes damals nichts Überzeugenderes geschaffen: Ingres' „Schlüsselübergabe" (Montauban); Delacroix' „Gethsemane" (Paris, St. Paul- und -St. Louis) faßt die Szene als Christi Begegnung mit drei trauernden Engeln auf, eine Deutung, welche das Ereignis eher romantisch verhüllt als vergegenwärtigt.

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N o c h seltener haben die großen französischen M a l e r des J a h r h u n d e r t e n d e s das Christusbild thematisiert. M a n e t s m ä c h t i g e r „ T o t e r C h r i s t u s mit trauernden E n g e l n " (1864, M e tropolitan M u s e u m , N e w York) n i m m t n o c h e i n m a l das mittelalterliche T h e m a der „ E n g e l - P i e t ä " auf, w o b e i jedoch späte Fassungen ( R i b a l t a , Veronese) zum Vorbild gedient haben m ö g e n . Z o l a s B e m e r k u n g dazu: „ E i n K a d a v e r in vollem L i c h t , frei und kraftvoll g e m a l t " , trifft den Kern. Ähnliches gilt für M a n e t s Verspottung Christi ( 1 8 6 5 , C h i c a g o ) , bei der wiederum ältere W e r k e (van D y c k , T i z i a n ) Pate gestanden h a b e n . N i c h t o h n e R e c h t hat m a n gemeint, M a n e t h a b e hier versucht, den im 19. J h . i m m e r breiteren G r a b e n zu ü b e r b r ü c k e n , der die religiöse Kunst von D a r s t e l l u n g e n des m o d e r n e n L e b e n s trennte. Keines der genannten Bilder ist im kirchlichen A u f t r a g oder für eine religiöse F u n k t i o n entstanden. Gleiches gilt für die a k a d e m i s c h e M a l e r e i , deren Christusdarstellungen v o m S t a a t angekauft wurden. D i e naturalistische Vergegenwärtigung von Christi L e b e n — Fritz von Uhdes „ G a n g nach E m m a u s " (1893) u. a. - erscheint ebenso a b w e g i g wie der Versuch der Benediktinerabtei B e u r o n , die liturgische Kunst mit H i l f e strenger g e o m e t r i s c h e r , auch ägyptisierender F o r m e n zu beleben. Beide bleiben o h n e N a c h w i r k u n g e n . Im 20. J h . h a b e n sich Künstler selten mit dem Christusbild b e f a ß t . A u s n a h m e ist in F r a n k r e i c h R o u a u l t . Sohn eines H a n d w e r k e r s , erlebt er das L e b e n Christi als die B o t schaft an die A r m e n . Sein „ M i s e r e r e " , im 1. Weltkrieg e n t s t a n d e n , als druckgrafische Folge erst 1948 veröffentlicht, läßt das Christusbild des leidenden Erlösers u n m i t t e l b a r zu allen sprechen, die im Dunkel der Welt leben. In D e u t s c h l a n d einige bedeutende Darstellungen expressionistischer Künstler: B a r l a c h (Kruzifix a m L e t t n e r der E l i s a b e t h k i r c h e in M a r b u r g , 1931), N o l d e und S c h m i d t - R o t t l u f f , dessen Christusbild aus d e m gleichen Kriegserlebnis hervorgegangen ist wie das R o u a u l t s ( C h r i s t u s k o p f , Glasfenster, 1 9 1 9 , Berlin, B r ü c k e - M u s e u m ) , der bisher letzte Versuch in der R e i h e der Christusbilder, deren Typus bis zur frühchristlich-byzantinischen Kunst zurückreicht. D a s sind A u s n a h m e n . Picassos Kreuzigung (1930, M u s e e Picasso, Paris) benutzt das B i l d s c h e m a o h n e religiösen Bezug. D a s spätere 20. J h . , auch in den seltenen Fällen w o das Christusbild thematisiert wird, löst sich von der traditionellen theologischen und religiösen Bedeutung. Die Z e r s t ö rung des M e n s c h e n b i l d e s , die „ a b s t o ß e n d e n D e f o r m a t i o n e n des M e n s c h l i c h e n " (A. G e h len), M e r k m a l der Kunst unserer Z e i t , prägen auch das Christusbild: S c h ö n e b e c k s „ D e r G e k r e u z i g t e " ( 1 9 6 4 , Privatbesitz). Andererseits bringt die A b k e h r v o m Bildhaften überhaupt, welche die G e g e n w a r t s k u n s t b e h e r r s c h t , auch das Christusbild zum Verschwinden. Die Stahlskulptur „ G o l g a t h a " neben der spätgotischen K i r c h e von M a r i a - Z e l l , die heute zum G e r m a n i s c h e n N a t i o n a l m u s e u m (Nürnberg) g e h ö r t , von den Bildhauern Brigitte und M a r t i n M a t s c h i n s k y - D e n n i g h o f f ( 1 9 8 2 / 8 3 ) , übersetzt das P a s s i o n s m o t i v in eine ganz neue S p r a c h e , und zwar nicht nur, weil die Künstler den Kreuzestod Christi „ a l s übergreifend humanistische A u s s a g e " verstanden wissen w o l l e n , sondern weil sich ihnen, noch bezeichnender, „die figürliche Darstellung des M e n s c h e n a m Kreuz verbietet . . . wegen der Aussagelosigkeit, zu der das figürliche M o t i v in unserer Z e i t v e r k o m m e n " s e i . 1 0 D o c h h a t u. a. Schwebet gezeigt, d a ß in vielfältiger Weise, v o r n e h m l i c h von S u b j e k tivität und K o n t e x t des Künstlers b e s t i m m t , Christusdarstellungen entstanden sind, die auch als n o t w e n d i g e H e r a u s f o r d e r u n g zu neuen Begegnungen von Kunst und T h e o l o g i e aufgefaßt werden k ö n n e n . D a m i t zeichnen sich auch neue A n t w o r t e n auf die von W. S c h ö n e vertretene T h e s e a b , die Bildgeschichte G o t t e s im A b e n d l a n d sei zu E n d e g e k o m m e n , weil G o t t „ u n d a r s t e l l b a r " geworden sei (54, vgl. S c h w e b e l l f f ) : S o die b e m e r k e n s werten, z u m Altarbild hinführenden G e m ä l d e der C h o r w ä n d e der T a n z e n b e r g e r K i r c h e (Kärnten) von Valentin O m a n . Anmerkungen 1

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Henri Leclerq, Art. Abgar: DACL 1,1 (1924) 8 7 - 9 7 . - Ders., Art. Edesse: DACL 4,2 (1921) 2 0 5 8 - 2 1 1 0 . - Vgl. B. Brenk, Spätantike und frühes Christentum, Berlin 1977. Vgl. W. Neuss, Art. Christusbild: Reallexikon der dt. Kunstgesch. 3 (1954) 6 0 9 - 7 4 4 .

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Vgl. die entsprechenden Artikel im R B K . Vgl. K. Weitzmann, T h e Monastery of Saint Catherine at the M o u n t Sinai, T h e Icons I, Princeton 1976. Vgl. J o h n R . Martin, T h e Dead Christ on the Cross in Byzantine Art: Late Classical and Mediaeval Studies in H o n o r of Albert Mathias Friend J R . , Princeton 1955, 1 8 9 - 1 9 6 . Vgl. O t t o v. Simson, T h e Cistercian Contribution: Monasticism and the Arts, Syracuse 1984, 115-137. R . Haussherr, Michelangelos Kruzifixus für Vittoria Colonna, Opladen 1971. Vgl. B. Steinborn, M a l o w n a Epitafia Mieszcanskie na Slasku W Latach 1 5 2 0 - 1 6 2 0 (mit deutscher Zusammenfassung der wichtigen Arbeit über gemalte Bürgerepitaphien in Schlesien): Roczniki Sztuki Slaskiej 4, Breslau 1967. Die Nazarener, Katalog, Frankfurt 1977, mit Abbildungen der hier erwähnten Werke. Leider ist noch nicht der 3 . Band der Untersuchung von P. Hinz zu der Christusfrage in der Kunst erschienen. Die bisherige profunde Arbeit dieses Autors läßt Klärungen erhoffen, die, wie auch der Sammelband von F. Mennekes zeigt, derzeit von hoher Bedeutung für das Verhältnis von Menschenbild und Christusbild sind. Literatur

H . Aurenhammer, Art. Christusbild: LCI 1 (1959) 4 5 4 - 6 3 8 . - Rodriguez Culebras, El rostro de Christo en el arte espanol, Madrid 1974. - E d u a r d von Dobschütz, Christusbilder, Leipzig 1899. - G. Fallani, Immagine di Cristo, Neapel 1974. - Anita H a r b a r t h , Wer ist dieser Mensch?, M a i n z 1981. Peter Hinz, Deus h o m o , Berlin, 1 1973, II 1981 (Lit.). - Johannes Kollwitz, Z u r Frühgesch. der Bildverehrung: Das Gottesbild im Abendland, hg. v. Günter H o w e , Witten 1957, 5 7 - 7 6 . - Ders., Art. Christusbild: R A C 3 (1957) 1 - 2 4 . —Heinrich Laag, D i e D a r s t . Christi in der bildenden Kunst der Gegenwart: Jesus Christus - das Christusverständnis im Wandel der Zeiten, hg. v. Hans G r a ß / Werner Georg Kümmel, M a r b u r g 1963, 1 4 9 - 1 6 0 . - Kurt Lüthi, Das Ende des Christusbildes in der modernen Malerei: Z E E 10 (1966) 2 5 7 - 2 7 2 . - Friedhelm Mennekes (Hg.), Zwischen Kunst u. Kirche, Stuttgart 1987. - Heinrich Pfeiffer, Gottes Wort im Bild, München 1986. - Hans Preuß, Das Bild Christi im Wandel der Zeiten, Leipzig 1915. - H . Priebe, Das Christusbild in der Kunst des 19. und 20. J h . , Diss. Halle 1932. - Christian Rietschel, D a s Antlitz. Selbstbildnisse u. Christusbilder der Zeiten, Berlin 2 1 9 5 4 . — Günter R o m b o l d / H o r s t Schwebel, Christus in der Kunst des 20. J h . , Freiburg 1983. - G . Schiller, Ikonographie der christl. Kunst, Gütersloh, I Von Inkarnation bis Erweckung des Lazarus, 1966; II Die Passion Christi, 1969; III Die Auferstehung u. Erhöhung Christi, 1971; Registerheft/Außerbiblische Quellen, 1980. - Wolfgang Schöne, Die Bildgesch. der christl. Gottesgestalten in der abendländischen Kunst: Das Gottesbild im Abendland, s . o . , 7 - 5 6 . - Horst Schwebel, D a s Christusbild in der bildenden Kunst der Gegenwart, Gießen 1980 (Lit.). - Denis T h o m a s , Jesus Christus, sein Bildnis in der Kunst, Zollikon 1980. - O s k a r Thulin, Die Sprache der Christusbilder, Berlin 1962. O t t o v. S i m s o n Jesus Sirach

-»Sirach/Sirachbuch

Jiddische Sprache und Literatur - » L i t e r a t u r und Religion

Joachim von Fiore (ca.

1135-1202)

I . Leben und Werk 2. Drei methodische Grundsätze Zukunft (Quellen/Literatur S. 88)

3. J o a c h i m s Sicht der Gegenwart und

1. Leben und Werk J o a c h i m w u r d e u m 1 1 3 5 als S o h n eines im D i e n s t e der n o r m a n n i s c h e n H e r r s c h e r des K ö n i g r e i c h e s - » S i z i l i e n s t e h e n d e n N o t a r s in K a l a b r i e n g e b o r e n u n d v e r f o l g t e z u n ä c h s t d i e L a u f b a h n s e i n e s V a t e r s , b i s ihn ein n i c h t g e n a u e r zu d a t i e r e n d e s B e k e h r u n g s e r l e b n i s s i c h d e m m o n a s t i s c h e n L e b e n z u w e n d e n l i e ß . H ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h u n t e r n a h m er u n m i t t e l b a r n a c h dieser B e k e h r u n g eine Pilgerfahrt ins - » H e i l i g e L a n d , lebte d a n a c h eine Zeitlang als E i n s i e d l e r in d e r N ä h e d e s Ä t n a u n d w u r d e d a n n M ö n c h in d e m k a l a b r i s c h e n Z i s t e r z i e n s e r k l o s t e r S a m b u c i n a ; d o c h d a s e r s t e v ö l l i g g e s i c h e r t e D a t u m s e i n e s geistlichen L e b e n s ist, d a ß er gegen 1 1 7 7 A b t des k a l a b r i s c h e n B e n e d i k t i n e r k l o s t e r s C o r a z z o w u r d e .

Joachim von Fiore

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Es war eine wenig bedeutende, erst zwanzig Jahre zuvor begründete Abtei, für die Joachim aber nach Kräften um die Erlangung von Privilegien und den Erwerb von Besitzungen und um eine zeitgemäße Ausrichtung der Lebensgestaltung durch die Einführung zisterziensischen Brauchs (-»Zisterzienser) bemüht war. Da er eine völlige Eingliederung Corazzos in den Zisterzienserorden anstrebte, reiste er, nachdem sein Ansuchen, von Sambucina den Status eines Tochterklosters zu erhalten, abgewiesen war, 1183 in das Zisterzienserkloster Casamari in Latium, um zu erkunden, ob dessen Abt sich zu einer Filiation von Corazzo bereitfinden könne. Obwohl Joachims Ansuchen auch dieses Mal wieder abschlägig beschieden wurde (hier wie zuvor, weil Corazzo zu arm war), gestattete ihm Abt Gerald, anderthalb Jahre in Casamari zu bleiben, so daß er in Muße die Abfassung seines exegetisch-prophetischen Werks in Angriff nehmen konnte. Nach seiner Rückkehr nach Corazzo brachte er dort um 1186 seine erste Hauptschrift, das Psalterium decem chordarum zum Abschluß. Bald darauf jedoch hatte er sich mit seinen eigenen Mönchen so auseinandergelebt, daß er sich an einen abgeschiedenen Ort in der Nachbarschaft zurückzog und 1188 nach Rom reiste, um Papst Clemens III. (1187-1191) um Entbindung von der Abtswürde zu ersuchen. Nachdem ihm diese gewährt war, kehrte er mit dem doppelten Ziel vor Augen nach Kalabrien zurück, einmal eine neue monastische Gemeinschaft ins Leben zu rufen, die kontemplativer sein sollte als die zisterziensische, und zum anderen sein in Casamari begonnenes exegetisch-prophetisches Arbeitsvorhaben zuende zu bringen. Um 1189 gründete er in der Abgeschiedenheit des kalabrischen Silagebirges das Kloster San Giovanni in Fiore. Um 1191 brachte er sein zweites Hauptwerk, den Liber concordie Not/i ac Veteris Testamenti zum Abschluß. 1196 erbat und erhielt er die päpstliche Genehmigung zur Gründung des selbständigen Ordens der Floriazenser. Um 1196 führte er den letzten Teil seiner großen exegetisch-prophetischen Trilogie, die Expositio in Apocalipsim zuende. Außerdem gehören zu seinem prophetischen Werk noch eine Reihe kürzerer Abhandlungen und Briefe, ein Liber figurarum, der seine umfassende Gesamtschau in Bildern und Zeichnungen veranschaulichen sollte, und sein ehrgeiziges, unvollendet gebliebenes Spätwerk des Tractatus super Quatuor Evangelia. Seiner prophetischen Gaben wegen gerühmt, genoß Joachim die Gunst von vieren der fünf zwischen 1181 und 1198 amtierenden Päpste und wurde vor König Richard I. Löwenherz von England (1189-1199) bei dessen Überwinterung in Messina 1190/91 sowie vor Kaiser Heinrich VI. (1190-1197) und Kaiserin Konstanzegeladen, um sich zu gegenwärtigen und zukünftigen Geschehnissen zu äußern. Er starb am 30. März 1202 in hohem Ansehen als monastischer Reformer und Meister eines prophetischen Schriftverständnisses. 2. Drei methodische

Grundsätze

Nur wenige mittelalterliche Denker haben einen großen eigenständigen Gedanken zu Geltung gebracht; Joachim aber bringt gleich drei zum Tragen, die Hermeneutik der Entsprechungen, die Annahme einer „Vollständigkeit" der -»Apokalypse des Johannes und die Anwendung eines trinitarischen Deutungsschemas auf die Heilsgeschichte. Auch wenn Joachim je einen dieser Gedanken als tragendes methodisches Leitprinzip in jeweils einen der drei einzelnen Teile seines Hauptwerkes eingebracht hat, so sind sie doch in ihrem Ineinandergreifen auf eine umfassende Gesamtschau angelegt. Joachim ging damit weit über die geläufige mittelalterliche Anschauung hinaus, daß einzelne Texte des Alten Testamentes typische Vorabschattungen der Inkarnation und des neuen Gesetzes enthielten (-»Schriftauslegung), daß er als erster behauptete, es bestehe zwischen im Wortsinn zu fassenden geschichtlichen Begebenheiten des Alten und des Neuen Testamentes eine so weitgehende völlige Entsprechung (concordia), daß es möglich sei, die Linien zu einem Verlaufsbild der christlichen Geschichte über das Neue Testament hinaus in die nachapostolische Zeit und die Z u k u n f t hinein weiter auszuziehen. Wenn also eine in der Genesis anhebende abgeschlossene Folge von Begebenheiten einer in den Evangelien anhebenden unabgeschlossenen entspreche, lasse sich die nach-

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Joachim von Fiore

apostolische Geschichte in das Abfolgemuster der parallelen Geschehnisse einordnen und so die Zukunft vorhersagen. Dafür eines der von Joachim selbst gegebenen Beispiele: Sofern ein eingehendes Studium des Alten Testaments enthüllt, daß den Hebräern sieben Verfolgungen widerfahren seien (seitens der Ägypter, Kanaaniter, Philister, Assyrer, Babylonier, Perser und Griechen), ergibt sich, daß auch der Kirche sieben Verfolgungen widerfahren müssen; die beiden ersten von ihnen (durch die Juden und durch die Heiden) begegneten im Neuen Testament, zwei weitere (durch die Arianer und durch die Sarazenen) könnten aus der Kenntnis der nachapostolischen Geschichte ausgemacht werden, und die drei letzten wären mithin durch Extrapolieren voraussagbar. Für sich allein angewandt hätte die Entsprechungsmethode ein außerordentliches Zutrauen in die Möglichkeit verlangt, christliche Geschichte allein von der Grundlage des Alten Testamentes aus zu erfassen. Joachim hat ihr indessen seine „umfassende" Deutung der Johannesapokalypse zur Seite gestellt. Seine Auffassung von der „Vollständigkeit" der Johannesoffenbarung war ebenso eigenständig wie seine Entsprechungshermeneutik. Vor ihm war die Auslegung des letzten Buches der Bibel methodisch entweder „Zeile für Zeile" oder „Vision für Vision" vorgegangen. Das erste, beispielsweise von Haimo von Auxerre (gest. ca. 855) verwandte Verfahren beschränkte sich im Sinne moralischer Schriftdeutung auf eine Anwendung der einzelnen Texte auf das Ringen des einzelnen Christen um sein Heil, ohne dabei umgreifendere geschichtliche Bezüge in Erwägung zu ziehen. Die „Vision für Vision" vorgehende Methode dagegen, der -»Beda den Weg geebnet und die —»Richard von St. Viktor zur vollen Entfaltung gebracht hatte, gliederte die Offenbarung in sieben geschlossene Teile, von denen einzelne zwar eine ausführliche Darstellung der Geschicke der Kirche boten, keiner jedoch innerhalb eines umfassenderen Entwicklungszusammenhangs zu anderen in Beziehung trat. Von diesem Ansatz ausgehend, gliederte Joachim die Offenbarung in acht Visionen, von denen einige wohl eine Darstellung der gesamten Geschichte der Kirche in sich schlössen, die als Ganzes im Zusammenhang gelesen aber auf einer anderen Ebene gleichermaßen die ganze Geschichte der Kirche von ihren Anfängen bis zum Ende der Geschichte erzählten. In seinen Entsprechungssetzungen einerseits und seinem Neuansatz in der Auslegung der Apokalypse andererseits fand Joachim somit unterschiedliche, unabhängige Zugangsweisen zu einem Wissen darüber, was sich zwischen Christus und dem Endgericht zutragen sollte. Das Entsprechungsverfahren wie die Apokalypseauslegung führten nachdrücklich auf eine zweistufige Sicht der Heilsgeschichte hinaus, bei der einer Ablauffolge von Geschehnissen bis zur Inkarnation eine andere, von dieser bis zum Endgericht verlaufende entsprach. Nachdem aber Joachim einmal auf seine „umfassende" Deutung der Apokalypse festgelegt war, wurde er zum Chiliasten (-»Chiliasmus), das heißt, er kam zu dem Schluß, daß nach dem Tode des -»-Antichrist und unmittelbar vor dem Ende der Zeiten ein „Sabbat" des Friedens und der Vollendung auf Erden statthaben werde. Einmal aber zum Chiliasten geworden, fand er zu seiner trinitarischen Geschichtsdeutung, die sein zweistufiges Verlaufsmodell mit einem es ergänzenden dreistufigen verknüpfte. Joachims trinitarische Geschichtsschau kann leicht mißverstanden werden. Sicherlich trifft zu, daß er ein Denkbild von drei „Zuständen" (status) des Weltzeitalters zugrundelegt, von denen einer durch den Vater, ein zweiter durch den Sohn und der dritte durch den heiligen Geist gekennzeichnet sei. Es ist jedoch wesentlich, dabei im Auge zu behalten, daß diese drei Zustände nicht voneinander geschieden, sondern miteinander verknüpft sind. Während der erste Status, der des Vaters, mit Adam beginnt und mit der Inkarnation endet, beginnt der zweite, der des Sohnes, mit dem alttestamentlichen König Asarja von Juda und währt bis in die nahe Zukunft, wogegen der dritte, der des heiligen Geistes, entsprechend dem doppelten Ausgang des Geistes (-»Geist, heiliger; -»Trinität) zwei Einsätze hat, den einen bei —»Elisa im ersten und den anderen bei -»Benedikt von Nursia im zweiten Status, und bis zum Ende der Zeiten andauert. Wie aus diesem Abriß ersichtlich, impliziert Joachims Drei-Status-Lehre auch, daß die Geschichte nicht sprunghaft, sondern schrittweise, in sich überschneidenden Stufen verläuft.

Joachim von Fiore 3. Joachims

Sicht der Gegenwart

und

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Zukunft

So sehr die Geschichte auch in allmählichen Schritten verläuft, schreitet sie ohne Zweifel doch vorwärts. Für Joachim ist die gesamte Geschichte des Menschheitsweges vom Fall bis zur Herabkunft des himmlischen Jerusalem nach dem Endgericht die Geschichte eines beständigen Fortschreitens zu einem immer reineren kontemplativen —>Mönchtum und zu geistlicher Erleuchtung. Daher gilt ihm der erste Status als Zeit der erdgebundenen Eheleute, der zweite als die der teilweise befreiten, unverehelichten Kleriker und der dritte als die der gänzlich befreiten, kontemplativen Mönche; der erste Status ist die Zeit des Buchstabens des Alten Testaments, der zweite die des Buchstabens des Neuen Testaments und der dritte die des „geistlichen Verstehens, das von beiden ausgeht". Durchzogen wird die Geschichte von immer neuen, stets schrecklicheren, vom Teufel veranlaßten Verfolgungen, doch sie werden ausnahmslos überstanden, und der Gang des Fortschritts hält an. Zweifellos war Joachim überzeugt, daß seine eigene Zeit am Vorabend des Höhepunktes der Geschichte sich befinde und mithin sowohl die letzte schreckliche teuflische Verfolgung - abgesehen von derjenigen von Gog und Magog, die Teil des Dramas des Endgerichtes ist - als auch die höchste Blüte des dritten Status unmittelbar bevorstünden. Nach seiner Meinung war „der große Antichrist" bereits in der Welt gegenwärtig und würde alsbald, einer Verbindung von Nero und —»Simon Magus gleich, hervorbrechen mit dem Versuch, die Kirche mit der verderblichsten Häresie zugrunde zu richten. Aber auch das kontemplative Mönchtum hatte schon einen gewaltigen Fortgang genommen; von dein einsamen Ausgestoßenen Elisa über Benedikt als Begründer eines blühenden Ordens bis zu den Zisterziensern der Zeit Joachims nahmen die Mönche zahlenmäßig zu und schritten in ihrer immer mehr der Kontemplation dienlichen Lebensgestaltung fort. Zudem nahm auch die „geistliche Erkenntnis" zu, unausgesprochen nicht zuletzt auch infolge Joachims eigener Einsichten in das geistlichste Buch der Bibel, die von dem mönchisch-kontemplativen Apostel, dem Evangelisten Johannes geschriebene Apokalypse. Die Welt sei somit gerüstet, den Anschlägen des Antichrist zu widerstehen, und dann werde er, habe man ihm erst widerstanden, durch Christi Macht vernichtet. (Zu bemerken ist, daß Joachim dabei nie auch nur annäherungsweise zu verstehen gibt, daß Menschen zu den Waffen greifen und für eine bessere Zukunft kämpfen sollten.) Wenn dies vollbracht sei, werde der dritte Status in reiner Form in Geltung stehen. Einigermaßen umstritten ist, ob Joachim für seine Zukunftserwartung die Christozentrik und die Ordnung des priesterlichen Amtes und der Sakramente in Abrede gestellt hat. Argumente gibt es sicherlich dafür wie dagegen, je nachdem, ob man seine innerhalb des zweistufigen oder innerhalb des dreistufigen Verlaufsmusters ausgeformten Voraussagungen in Betracht zieht. Da Joachim stets beide miteinander verknüpft hat, hat er nie bestritten, daß die Zeit Christi und des Neuen Testamentes bis zum Ende dauern werde. Aus dem gleichen Grunde wird auch die Kirche Petri und der Sakramente bis zum Ende währen. Andererseits jedoch hat Joachim ohne Zweifel im dritten Status eine vollständige Umformung der Kirche erwartet. Vornehmlich wird die ecclesia activa des zweiten sich zur ecclesia spiritualis oder contemplativa des dritten Status wandeln: Die Kirche Petri wird fortbestehen, aber Petrus als Typus der tätigen Weltgeistlichkeit wird dem Evangelisten Johannes als dem Typus des kontemplativen Mönchtums weichen. Sicherlich wird im dritten Status das -»Papsttum verschwinden und sehr wahrscheinlich ebenfalls die gesamte Geistlichkeit (doch gibt es mancherlei Unsicherheit hinsichtlich Joachims genauer Stellung zu dieser Frage). Zwar wird es die Sakramente noch geben, doch werden sie ganz unmittelbar und geistlich sein, statt wie zuvor aus äußerlichen Symbolen und Gestalten zu bestehen. Joachims Hauptanliegen bei der Beschreibung des dritten Status ist, daß in ihm alle Gläubigen eine unmittelbare Erkenntnis der Wahrheit erlangen werden. Daher wird der dritte Status dem zweiten in gleichem Maße überlegen sein, wie der zweite es dem ersten

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J o a c h i m von Fiore

gegenüber war. D e r erste Status sei, wie er sagt, wenn sich der Ausdruck seiner E r w a r t u n gen ins Poetische steigert, wie der W i n t e r , der zweite wie der Frühling und der dritte wie der S o m m e r ; der erste sei wie W a s s e r , der zweite wie Wein und der dritte wie Ö l ; der erste sei erleuchtet vom Sternenlicht, der zweite von der T a g e s d ä m m e r u n g und der dritte v o m vollen Tageslicht; der erste sei g e k e n n z e i c h n e t durch Kenntnis, der zweite durch Weisheit und der dritte durch die Fülle geistlicher Einsicht. Eine E i n s c h r ä n k u n g indessen, die B e a c h t u n g fordert, liegt darin, d a ß J o a c h i m , so entschieden er sich a u c h über die W u n d e r des dritten Status ausgelassen h a t , d o c h der M e i n u n g w a r , d a ß er nur a u ß e r o r d e n t l i c h k u r z a n d a u e r n werde, vielleicht nicht l ä n g e r als ganze sechs M o n a t e . Unter diesem B l i c k p u n k t m a g der dritte Status als nur ein kurzes Vorspiel auf die E w i g k e i t erscheinen. G l e i c h w o h l w a r J o a c h i m zweifellos der erste A b e n d l ä n d e r , der ein k l a r ausgearbeitetes F o r t s c h r i t t s d e n k e n vorgetragen hat, und der erste, der innerhalb der abendländischen Überlieferung n a c h h a l t i g den G e d a n k e n einer grundlegend besseren irdischen Z u k u n f t zur S p r a c h e g e b r a c h t hat. U n m i t t e l b a r wie auf lange Sicht hat er eine tiefgreifende W i r k u n g ausgeübt, die darzustellen den hier vorgegebenen R a h m e n sprengen m ü ß t e . Quellen Liber de Concordia Noui ac Veteris Testamenti: Libri I—IV. Hg. v. E. Randolph Daniel, 1983 (TAPhS 73, T. 8). - Abbatis Joachim Liber Concordie Novi ac Veteris Testamenti, Venedig 1519 = Frankfurt a. M. 1964. - Expositio magni Prophete Abbatis Joachimi in Apocalypsim, Venedig 1527 = Frankfurt a . M . 1964. - Tractatus super Quatuor Evangelia. 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Jochanan ben Z a k k a j

89

Jobeljahr -»Jubeljahr Jochanan ben Zakkaj 1. Einleitung 2. N a m e , Titel, rabbinische Biographie 3. Halachisches W i r k e n und theologische bzw. religiöse Ansichten 4. Kritische Bewertung der J o c h a n a n - T r a d i t i o n (Quellen/ Literatur S.90)

1. Einleitung Jochanan ben Zakkaj war ein rabbinischer Weiser des 1. Jh.; sein Geburts- sowie sein Todesdatum sind unbekannt, letzteres liegt jedoch wahrscheinlich um 80 bis 85 n. Chr. Die rabbinische Legende und die spätere jüdische Tradition bzw. Geschichtsschreibung schreiben Jochanan ben Zakkaj die Rettung des —•Judentums nach der Zerstörung Jerusalems und des -»Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. zu. Er soll von Vespasian oder Titus die Erlaubnis erhalten haben, sich in der Stadt Jabne niederzulassen und dort ein Lehrhaus zu errichten. Das rabbinische Gesetz, der rabbinische Kult, die Gemeindeorganisation sowie die Rolle des Rabbiners im jüdischen Leben nach der Zerstörung bis in die Gegenwart gelten als unmittelbares Ergebnis von Jochanans Wirken. 2. Name,

Titel, rabbinische

Biographie

Der N a m e Jochanan ben Zakkaj bietet kaum Anhaltspunkte für eine Identifizierung. Zakkaj kann entweder auf einen aus dem Exil nach Jerusalem zurückgekehrten Familienverband (Esr 2,9; Neh 7,14) verweisen oder auch eine aramäische Übersetzung des hebräischen zadik darstellen; im letzteren Fall wäre ben Zakkaj als Titel („Der Gerechte" oder „Der Heilige") zu verstehen. Das apokryphe EvThom (6-8) berichtet über eine legendäre Unterhaltung zwischen dem Kind Jesus und einem älteren Lehrer namens Zachäus (eine griechische Entsprechung von Zakkaj). Auch Gelehrten aus späterer Zeit wurde dieser Name beigegeben. Der Titel Rabban, mit dem Jochanan ben Z a k k a j in allen frühen Quellen anachronistisch ausgestattet wurde, galt als Zeichen der Verehrung und mag späteren Generationen angezeigt haben, daß Jochanan das Amt des Nasi, des Patriarchen, ausgeübt hatte. Das rabbinische Judentum brachte keine vollständigen Gelehrtenbiographien hervor; es gibt weder Augenzeugenberichte über Ereignisse im Leben Jochanans, noch sind seine religiösen und halachischen Aussagen (-»Halacha) im genauen, von ihm gewählten Wortlaut überliefert. Seine Biographie ist ein Mosaik aus verschiedenen rabbinischen Quellen, wobei manche dieser Quellen noch 200 Jahre nach Jochanans Tod neue Geschichten bzw. Begebenheiten zu berichten wußten. Über Geburt und Familie Jochanans ben Zakkaj ist nichts bekannt. Er könnte der jüngste und hoffnungsvollste Schüler -»Hillels gewesen sein (yNed 39 b). Nach seiner Heirat und der Geburt eines kranken Sohnes zog er nach Galiläa und verbrachte achtzehn Jahre in der Stadt 'Arab. Sein Leben dort verlief ohne besondere Ereignisse; er wurde allerdings mit einem als Wundertäter geltenden Schüler, Chanina ben Dosa (yShab 16,8; bBer 34b), in Verbindung gebracht. Um 40 n. Chr. kehrte er nach Jerusalem zurück und erwarb sich im Laufe der Jahre einen bedeutenden Ruf als in den Auseinandersetzungen mit den -»Sadduzäern engagierter -»Pharisäer (mYad 4,5; bMen 65a; bBB 115b; tPar 3,8); seine führende Stellung teilte er mit Simon ben Gamliel I., dem Enkel Hillels; er lehrte im Schatten des Tempels (Pes 26a) und versammelte eine Schar bedeutender Schüler um sich: Eliezer ben Hyrkanos, Josua ben Chananja, den Priester Jose, Simeon ben Nathanael, Eleazar ben Arak (Av 2,8). Bereits vor der Erhebung gegen Rom im Jahre 66 n. Chr. war Jochanan ben Zakkaj für seinen Pazifismus berühmt. Er verließ Jerusalem wahrscheinlich 68 n. Chr.; von seiner Flucht, seinem Treffen mit Vespasian und seiner Niederlassung in Jabne sind mindestens drei Versionen überliefert (ARN B, 6 [Schechter 10a]; EkahR zu Thr 1,31; bGit 5 6 a - b ; s. auch Mish 15). In Jabne gründete er ein Lehrhaus, das auch als Gerichtshof fungierte; als

Jochanan ben Z a k k a j

90

schließlich ->Gamliel II. seine Nachfolge dort übernahm, zog er sich vermutlich nach Beror Hajil zurück.

3. Halachisches

Wirken und theologische

bzw. religiöse

Ansichten

Von den Rabbinen wurden vor allem die halachischen Entscheidungen J o c h a n a n s hervorgehoben, die nach 70 n. Chr. getroffen wurden und in Zusammenhang mit der Errichtung des Lehrhauses in J a b n e standen. Denn Jochanan ben Z a k k a j unternahm Schritte, um bestimmte, Jerusalem und dem Tempel vorbehaltene Privilegien a u f J a b n e zu übertragen (mRHSh 4,1.3.4): Der sofar, das Widderhorn, etwa sollte auch an den Neujahrstagen, die auf einen —»Sabbat fielen, in Jabne geblasen werden dürfen - eine Entscheidung, die auf einigen Widerstand stieß (bRHSh 29 b). Seine übrigen halachischen Entscheidungen beziehen sich im wesentlichen auf einen beschränkten Themenkreis: Reinheit, rituelle und liturgische Probleme. Jochanan ben Z a k k a j werden zahlreiche haggadische Äußerungen (->Haggada) über den Wert des Torastudiums sowie eine Vielzahl moralischer Maximen und Anmerkungen zur menschlichen Natur zugeschrieben (Av 2,8.9). Der Generation nach der Zerstörung des Tempels vermittelte er durch die Versicherung, Akte von häsäd (Gnade) seien Gott angenehmer als Opfer, Trost und ein Gefühl der Kontinuität. Ferner werden ihm sowohl einige Streitgespräche mit Nichtjuden als auch Bibelauslegungen zugeschrieben (z.B. bBer 5 a ; ySan 1,4; B e m R 4,9; BerR 17,19; 19,7); er war für eine besondere Art analogischer Exegese [homer] (tBQ 7 , 2 - 5 ) sowie für seine Mer&dbii-Spekulationen bekannt (tHag 2 , 1 - 7 und par.).

4. Kritische Bewertung der

Jochanan-Tradition

Neusner (Development) hat die gesamte Jochanan-Tradition ausgewertet, ihre Entwicklung durch die verschiedenen Strata der frühen rabbinischen Literatur zurückverfolgt sowie das halachische, biographische, historische und exegetische Material synoptisch untersucht. Er hat gezeigt, daß die früheren tannaitischen Quellen (-»Tannaiten) frühere Traditionsschichten enthalten und die späteren Quellen, insbesondere der Babylonische -»Talmud, eine Weiterentwicklung früherer Materialien und die Schaffung neuer Traditionen wiedergeben. Besonders bedeutend ist seine Diskussion der „Fluchtlegend e n " , die eher eine literarische Antwort auf die einfache Frage „Wie kam J o c h a n a n ben Z a k k a j nach J a b n e ? " darstellen, denn den Niederschlag eines tatsächlichen historischen Ereignisses (Alon u.a.). Die von Scholem bejahte Verläßlichkeit der Tradition, wonach Jochanan ben Z a k k a j an der Merkaba-Spekulation beteiligt war, wird von Urbach und neuerdings von Halperin bezweifelt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen vermuten, daß ein großer Teil der Jochanan-Tradition, einschließlich der Verbindung Jochanans mit dem Mystizismus, spät entstanden ist und seinen Ursprung im babylonischen Judentum des 3. J h . haben dürfte. Auch die Zugehörigkeit Jochanans zu den Pharisäern ist historisch nicht gesichert. Quellen/Literatur Aba Ahimeir, Bet Hillel u-Bet Shammai: H a - ' u m a h 6 6 / 6 7 (5742) 6 0 - 6 9 . - Gedalia Alon, The Jews in their Land in the Talmudic Age ( 7 0 - 6 4 0 C . E . ) , Jerusalem 1980, 8 6 - 1 1 8 . - Ders., Jews, Judaism and the Classical World, Jerusalem 1977, 2 6 9 - 3 4 3 . - M . Cohen, Quelques observations au sujet de la personnalité et du rôle historique de Raban Yohanan Ben Z a k k a y : R H R 187 ( 1 9 7 5 ) 2 2 - 2 5 . - J . W . Doeve, T h e Flight of R a b b a n Yohanan ben Z a k k a i from Jerusalem - When and Why?: Übersetzung u. Deutung. Stud. zu dem A T u. seiner Umwelt. Alexander Reinard Hülst gewidmet, Kijkerk 1977, 5 0 - 6 5 . - Judah Golden, M a s e h u ' c al Bet Midraso sei R a b b a n Yohanan ben Z a k k ' a y : H a r r y Wolfson Jubilee Volume, Hebrew Section III, Jerusalem 1965, 6 9 - 9 2 . - David Halperin, The Merkabah in Rabbinic Literature, N e w Häven 1980. - Abraham Kaminka, Rabbi J o c h a n a n Ben Z a c c a i and His Disciples: Zion 9 ( 1 9 4 3 - 1 9 4 4 ) 7 0 - 8 3 . - I. Konovitz, Tannaitic Symposia III, Jerusalem 1968, 8 0 - 9 7 . - H . Merhavyah, Rabbi Yohanan ben Z a k k ' a y - M a h Hayah u - M a h l o ' Hayah: H a - ' u m a h 64 (5742) 2 6 5 - 2 7 7 . - J a c o b Neusner, First Century Judaism in Crisis. Yohanan ben

Joel/Joelbuch

91

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Joel/Joelbuch 1. Person und Zeit 1. Person

und

2. Botschaft

3. Buch

(Anmerkung/Literatur S. 96)

Zeit

Von der Person des P r o p h e t e n wissen wir so gut wie nichts. W i r kennen nur den ungeläufigen N a m e n seines Vaters (Petuel, Bedeutung ungesichert) und den geläufigen B e k e n n t n i s n a m e n des P r o p h e t e n selber ( J o e l = „ J a h w e ist [der wahre] G o t t " ) . Dieser N a m e ist neben J o e l 1,1 nur einmal a u ß e r h a l b des chronistischen G e s c h i c h t s w e r k s belegt (I S a m 8 , 2 ) , in letzterem dafür um so häufiger ( 1 8 m a l ) . E r w a r offensichtlich in der Spätzeit des Alten T e s t a m e n t s g e b r ä u c h l i c h e r als in der Frühzeit. I m übrigen k ö n n e n wir mit einiger Sicherheit nur n o c h J e r u s a l e m als den O r t der T ä t i g k e i t J o e l s nennen; deren u n m i t t e l b a r e n A n l a ß bildete eine N a t u r k a t a s t r o p h e u n g e w ö h n l i c h e n A u s m a ß e s (ein alle E r n t e vernichtender H e u s c h r e c k e n e i n f a l l , wie er bis zum A n f a n g unseres J a h r h u n d e r t s i m m e r wieder einmal Palästina heimsuchte, verbunden mit einer verheerenden Dürre). D i e T h e s e , d a ß J o e l Kultprophet gewesen sei (Kapelrud, Keller, R u d o l p h ) , ist aus der Analyse des B u c h e s erschlossen und von der A n n a h m e eines vorexilischen Ansatzes des Buches a b h ä n g i g . M i t dem gegenteiligen Ansatz des B u c h e s in die n a c h e x i l i s c h e Z e i t ging lange Z e i t die A n s i c h t H a n d in H a n d , J o e l sei weniger ein P r o p h e t , sondern m e h r ein „ D i c h t e r " gewesen (etwa H a l l e r , B e w e r , C a n n o n ) . Weit treffender ist die C h a r a k t e r i s i e rung J o e l s als „ S c h r i f t p r o p h e t " im Sinne einer „gelehrten P r o p h e t i e " (Wolff) bzw. als „ S c h r i f t i n t e r p r e t " (Bergler). Da sich dem Buch Joel direkte Bezüge auf geschichtliche Ereignisse nicht entnehmen lassen, ist sein Ansatz umstritten. „Wir haben keinen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Lebenszeit des Propheten", sagt daher Ibn Esra zu Joel 1,1. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts nahm man die Stellung des Joelbuches im hebräischen Kanon zwischen den Büchern Hosea und Arnos (anders die L X X : hinter dem Buch Micha) zum Anlaß für eine frühe Datierung und dachte gern an die gleiche Zeit wie die der beiden Nordreichspropheten (etwa de Wette, Knobel) oder gar - weil im Buch kein König genannt wird - an die Zeit des noch unmündigen Joas in der 2. Hälfte des 9. Jh. (zuerst Credner, dann etwa Ewald, Hitzig, Delitzsch, Wünsche; heute noch Bic). Aber es gab schon früh auch Gegenstimmen. Raschi zitiert die Halacbot gedoloth mit der Ansicht, Joel habe wie Nahum und Habakuk zur Zeit Manasses gewirkt (Widmer 19f). Entsprechend konnte Martin Luther, obwohl er sich zumeist der traditionellen Ansicht angeschlossen hat, in Vorlesungen lehren, daß im Buch Joel das Exil - er dachte an dasjenige des Nordreichs - vorausgesetzt werden müsse (Walchsche Ausgabe 2162f). J . D . -»Michaelis plädierte 1782 erstmalig für die äußerste Spätzeit des Alten Testaments (er dachte an die Makkabäerzeit). Heute rechnet die überwiegende Mehrzahl der Ausleger (u. a. sämtliche geläufigen Einleitungen) im Gefolge der Biblischen Theologie W. -»Vatkes von 1835 (1,462) und von Auslegern wie Merx, Hilgenfeld, Stade, Wellhausen und Scholz m.E. zu Recht mit einer spätnachexilischen Ansetzung Joels (um oder nach 400 v. Chr.). Ein frühnachexilisches Datum (Zeit Haggais und Sacharjas: J . M . Myers, Bo Reicke; zwischen Tempelneubau 515 und Nehemia:

92

Joel/Joelbuch

G . W . Ahlström) wird selten vertreten, und die wenigen Autoren, die ein vorexilisches Datum nennen, wagen nicht über 6 3 0 (Keller; K. Koch, Die Profeten I [1978] 170ff), 6 0 0 (Kapelrud; Niederschrift drei Jahrhunderte später) bzw. 5 9 7 (Rudolph) hinauszugehen. 1

Die Stellung des Buches Joel zwischen Hosea und Arnos beruht vermutlich auf der bemerkenswerten Verwandtschaft von Joel 4,16.18 mit Am 1,2 und 9,13 sowie möglicherweise zudem auf dem Arnos und Joel gemeinsamen Thema des „Tages J a h w e s " . Für die Datierungsfrage ergibt sich aus dieser Stellung nichts. Indirekte geschichtliche Implikationen sind nur dem Schlußkapitel 4 des Buches zu entnehmen: V.2f (und 3,5 b) setzen die Besetzung des Landes, die Exilierung und eine weltweite Diaspora voraus, V.17b die Erfahrung mit Besatzern in Jerusalem, V.19 blutige Gewalttaten an Judäern durch Ägypten und Edom (wobei allerdings nicht sicher ist, ob diese Namen wörtlich oder typologisch verwendet sind). Präzisere Angaben machen die V. 4 , 4 - 8 , die aber den Z u s a m m e n h a n g von 4 , 2 f mit 4,9ff zerreißen und in ihrer prosaischen Fügung seit langem als Ergänzung erkannt sind. In diesen Versen ist v o m Verkauf von Judäern und Jerusalemern als Sklaven an Griechen die Rede. Als Subjekt gelten Tyrus, Sidon und die Philisterstädte. Nun waren die Küstenstädte Palästinas schon seit dem 7 . / 6 . J h . im Handel mit Griechen (Myers; D. Auscher: V T 17 [1967] 8ff), aber erst in der Zeit nach den Perserkriegen spielten Sklaven für die Griechen und ihre weitgestreuten wirtschaftlichen Interessen eine wesentliche Rolle (Juden als Sklaven sind uns außerhalb von Joel 4 erst wieder in der Seleukidenzeit belegt; vgl. I M a k k 3 , 4 1 ; II M a k k 8,10), und die Nebeneinanderordnung von Phönikern und Philistern setzt aller Wahrscheinlichkeit nach jene politische Gemeinschaft der Küstenstädte voraus, die wir aus der späten Perserzeit durch die Küstenbeschreibung des Pseudo-Skylax kennen (K. Elliger: Z A W 6 2 [1950] 6 3 - 1 1 5 , 69ff; Wolff). In jedem Fall ist aber das J a h r 3 4 3 v. Chr. als terminus ad quem zu werten; in ihm wurde Sidon von A r t a x e r x e s III. zerstört.

Wesentlicher und eindeutiger für die Datierung des Joelbuches ist der traditionsgeschichtliche Befund. Bezugnahmen auf ältere Prophetie finden sich überaus häufig, und zwar so, daß auf vorliegende Prophetenworte nicht nur dann und wann einmal beiläufig angespielt wird, sondern daß sie über weite Strecken geradezu die Basis bilden, die in den Joelworten ausgelegt wird. Das gilt insbesondere für Jes 13, aber auch für Zeph 1 und den zweiten Teil des Obadjabuches bei der Thematik des „Tages J a h w e s " sowie für Jeremias Verkündigung vom Feind aus dem Norden (Jer 4 - 6 ) . Nicht so eindeutig hinsichtlich der Priorität sind die Berührungen mit J o n a 3 - 4 zu werten. (Vgl. das weitere Material bei Wolff [lOf] und Bergler.) Hat man diese Zusammenhänge gesehen, gewinnen auch die traditionell für die Spätdatierung verwendeten Argumente Gewicht, daß die Führung des Staatswesens im Buch Joel bei den Ältesten und Priestern liegt (1,2.13f; 2,16f), die Priester „Diener J a h w e s " bzw. „Diener des Altares" heißen (1,9.13; 2,7), das tägliche Opfer „Speis- und Trankopf e r " (1,9.13; 2,14) und (wieder) eine Mauer um Jerusalem steht (2,7.9). Auch die Aramaismen in 1,8; 2,20 und der Sprachgebrauch der Spätzeit in 1,17 und 2 , 7 f unterstützen diesen Ansatz. Daß Joel (im Unterschied zu 4 , 4 - 8 ) nur allgemein von „ V ö l k e r n " redet, ohne sie bei Namen zu nennen, hat er mit anderen frühapokalyptischen Schriften im Alten Testament gemein (vgl. P. Hanson: J B L 92 [1973] 3 7 f f zu Sach 9). Ein Ansatz des Buches in der 1. Hälfte des 4. J h . , wie er heute von der Mehrheit der Ausleger vertreten wird, hat damit alle Wahrscheinlichkeit für sich. Es ist eine Zeit relativer außenpolitischer Ruhe, in der der tägliche Opfergottesdienst am Jerusalemer Tempel als einzigem Heiligtum nach den Reformen Nehemias und Esras wieder wohl geordnet ist. 2. Buch Das Buch Joel besteht aus zwei etwa gleichgewichtigen Teilen, die nach der Zählung im hebräischen Text (seit der Ausgabe der Rabbiner-Bibel des J a k o b ben Chajjim 1524/25) Joel 1 , 2 - 2 , 1 7 und 2 , 1 8 - 4 , 2 1 umfassen ( L X X und Vg. zählen mit der älteren Kapiteleinteilung des Mittelalters Kap. 3 als 2 , 2 8 - 3 2 ) . Der erste Teil ist beherrscht vom prophetischen Aufruf zur Klage, zum Fasten und zur (kultischen) Buße, der zweite enthält nach dem Überleitungsvers 2,18 nur noch Gottesrede, mit der Jerusalem und Juda heil-

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volle Zukunft angesagt wird. Durch 2,18 f ist die Gottesrede als Erhörungswort auf die vorausgesetzte Klage und Bitte des Volkes gekennzeichnet. Der Gesamtaufbau des Buches folgt damit grob der Klageliturgie eines Fasttages, bei der auf das Gebet der Gemeinde bzw. des für die Gemeinde redenden Propheten hin die Antwort Gottes durch den Propheten übermittelt wird (vgl. die Dürreliturgie J e r 1 4 , 2 - 1 5 , 3 ; H a b 1 u. ö.; dazu Kapelrud; M . Gerlach, Die prophetischen Liturgien im Alten Testament, Diss. Bonn 1967). Allerdings ist im Falle des Buches J o e l der literarische Charakter der Textabfolge trotz aller äußeren Anlehnung an eine Liturgie schon daran deutlich, daß die Klage selber nicht mitgeteilt wird, sondern nur der dringliche Aufruf zu ihr durch den Propheten. Entscheidend für das Verständnis des Buches ist die Beobachtung, daß beide Sachhälften der imitierten Liturgie jeweils doppelt durchlaufen werden. Z w e i m a l , und zwar wörtlich gleich, erfolgt der Aufruf zum Fasttag „heiligt einen sôm, ruft einen Feiertag a u s " in 1,14 und 2,15; ebenfalls zweimal - mit geringfügiger Variation - findet das angekündigte heilvolle Gotteshandeln seinen Zielpunkt in der Erkenntnisaussage, wie sie bei Ezechiel geläufig ist: „Ihr werdet erkennen, daß . . . ich J a h w e , euer G o t t , b i n " (2,27; 4,17). Die beiden Anlässe zum Fasttag in Kap. 1 und 2 sind auf den ersten Blick scheinbar verschieden. In Kap. 1 ist es die durch Heuschrecken und Dürre hervorgerufene Naturkatastrophe, in Kap. 2 dagegen mischt sich der Aufruf zum Fasten mit einem Alarmruf angesichts eines übermächtigen Heeres, das gegen Jerusalem ziehen wird, an dessen Spitze J a h w e selber steht und das den furchtbaren „ T a g J a h w e s " heraufführt. Der erste Anlaß ist damit eine schon erfahrene N o t , der zweite eine unmittelbar bevorstehende militärische Katastrophe. Den beiden Anlässen entsprechen die beiden Teile der heilvollen Gottesantwort. Der erste sagt den Abschluß der N o t zu, d . h . das Ende der die Wirtschaft ruinierenden Plage und damit einen neuen Segen für das Land ( 2 , 1 9 - 2 7 ) ; der zweite Teil dagegen kündigt Israel Rettung und Verschonung am bevorstehenden „ T a g J a h w e s " an, der nun in seiner vernichtenden Gewalt nur die Völker treffen wird (Kap. 3 - 4 ) . Die Zweistufigkeit von Klage und Gottesantwort stellt das am heftigsten umstrittene Problem des Buches dar. Seit dem Targum bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts hat man die Einheitlichkeit des Buches zumeist unter der Annahme vertreten, auch die N o t von Kap. 1 sei eine zukünftige, indem die Heuschrecken als Symbol für ein Fremdvolk, etwa die Assyrer, galten. Als man am Ende des vergangenen Jahrhunderts zwingend nachwies, daß sich Kap. 1 auf eine schon erfahrene N o t bezieht (Wellhausen, N o w a c k , M a r t i u . a . ; so schon Luther in seinen Vorlesungen ab 1524; vgl. W A 13,88), wurde zumeist eine literarkritische Lösung bevorzugt. Erstmals hatte M . Vernes 1872 Kap. 1—2 und Kap. 3—4 auf zwei Autoren aufgeteilt, deren erster von einem schon zurückliegenden, deren zweiter von einem erst kommenden „ T a g J a h w e s " sprach (Le peuple d'Israël et ses espérances 4 6 - 5 4 ) . Diese Ansicht wurde im deutschen Sprachraum durch J . W. Rothstein (in der von ihm herausgegebenen Einleitung von S. R . Driver) 1896 aufgegriffen, bevor sie B. D u h m ( Z A W 31 [1911] 1 8 4 - 8 7 ) zu einer in der 1. Hälfte unseres Jahrhunderts höchst einflußreichen T h e s e (etwa Bewer, Hölscher, Sellin, R o b i n s o n ) ausgestaltete. Demnach wären nicht nur die „eschatologischen" Kapitel 3—4 Fortschreibung eines späteren Autors, sondern auch die Hinweise auf den „ T a g J a h w e s " in 1,15; 2 , l b - 2 a . (10a.) I I b . (Duhm hielt auch den ersten Teil der Gottesantwort in 2 , 1 8 - 2 7 für einen Nachtrag, fand darin aber kaum Gefolgschaft.) Das ursprüngliche Buch J o e l hätte also nur Klage über gegenwärtige N o t und den Aufruf zu einem Fasttag enthalten. Grundvoraussetzung der literarkritischen Lösung des zentralen Joel-Problems war die Annahme, daß J o e l 2 , 1 - 1 1 (ohne die „ T a g J a h w e " - V e r s e ) die Beschreibung der Heuschreckenplage aus Kap. 1 fortsetze. Diese Annahme hat sich der neueren Forschung nicht bestätigt. Vielmehr herrscht in J o e l I d a s Perfekt, in 2,1 - 1 1 aber das Imperfekt vor, handelt J o e l 1 von einem Wirtschaftszusammenbruch, Joel 2,1 - 1 1 aber von einer militärischen Bedrohung Jerusalems. Allerdings werden die N ö t e in Kap. 1 und 2 terminologisch bewußt aufeinander bezogen, so daß das gegen Jerusalem anstürmende Heer mit Farben des Heuschreckeneinfalls gemalt wird. Das geschieht aber, um die schon erfahre-

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ne Demütigung für die kommende Katastrophe des „Tages Jahwes" mit ihrem endgültigen Charakter transparent zu machen. Wenn in neuerer Zeit im Unterschied zur literarkritischen Lösung überwiegend die Einheitlichkeit des Buches (mit geringfügigen Ergänzungen) vertreten wird, so beruht diese Einschätzung wesentlich auf der Einsicht, daß die Zweistufigkeit der beklagten Not und zugleich der heilvollen Gottesantwort gerade das eigentliche Anliegen des Buches darstellt. Die von Vertretern der literarkritischen Lösung hervorgehobene Beobachtung, daß die Abhängigkeit Joels von älterer Prophetie stärker in den „eschatologischen" Passagen zu Buche schlägt als bei der Beschreibung der Heuschreckenplage, liegt demgegenüber in der Natur der Sache. Es geht dem Buch Joel entscheidend darum, die gegenwärtig erfahrene Not als Anbruch der von früheren'Propheten verkündeten Endzeit zu deuten. Die vielfältigen internen Wortbezüge zwischen Joel 1 - 2 und 3 - 4 (Wolff, 7) sind mit dieser Absicht gesetzt. Allerdings gibt es auch Wachstumsspuren im Buch. Von der Mehrzahl der Ausleger wird 4 , 4 - 8 als N a c h t r a g gewertet, der den Zusammenhang von 4 , 2 und 4 , 9 zerstört. E r präzisiert die allgemeine Rede von „ V ö l k e r n " , die Menschen „verkauften", auf spezifische Unrechtstaten von Phöniker- und Philisterstädten hin. Möglicherweise ist auch 4 , 1 8 - 2 1 (zumindest aber V.21 a) als sekundär zu beurteilen; dafür könnte die üblicherweise redaktionelle Einleitungsformel „ a n jenem Tage wird es geschehen" sprechen sowie die Tatsache, daß das Joelbuch ohne 4 , 1 8 - 2 1 mit der Erkenntnisaussage von 4 , 1 7 schlösse, die die Gottesrede so bewußt gliedert. Auch die Aufrufe zur Freude in 2 , 2 1 - 2 3 sind für sekundär gehalten worden, weil sie in einem verheißenden Kontext stehen und die Heuschrecken nicht erwähnen; aber die letztgenannte Eigenschaft verbindet die Verse mit 1,17 ff, und das erste Argument berücksichtigt den bewußt kompositioneilen Charakter von 2,18 ff zu wenig. Schließlich hat O . Plöger das gesamte Kap. 3 als N a c h t r a g konventikelhafter Kreise betrachten wollen, hat mit dieser Ansicht aber keine Nachfolge gefunden.

Mündliche Vorstufen des Buches lassen sich allenfalls hinter 1,5 ff, wo Bergler ein mehrstrophiges Dürregedicht als Vorlage aufdecken möchte, und hinter 2,12ff.l9ff rekonstruieren. Dagegen rechnet 2 , 1 - 1 1 mit seinen vielfachen Anspielungen auf ältere Prophetie vermutlich von Anbeginn mit Lesern, und das gleiche gilt mit größerer Sicherheit für die Kapitel 3 - 4 (Müller). In dieser Differenz liegt das Wahrheitsmoment der genannten literarkritischen Lösung des Joelbuches. Vor allem die berichtenden Partien in 1 , 2 - 4 und 2,18 f verdeutlichen jedoch, daß Joel als Buch im strengen Sinn verstanden sein möchte, eben als „gelehrte Prophetie". 3.

Botschaft

Das Joelbuch kreist von Beginn bis Ende um ein einziges Thema, das seit dem Beginn der klassischen Prophetie geläufig war: den „Tag Jahwes". Joel setzt die Geschichte der prophetischen Verkündigung von Arnos und Jesaja über Zephanja und Ez 30 hin zu Obadja, Mal 3, Jes 13 und 34 zum „Tag Jahwes" bei seinen Lesern schon voraus. Er will ihnen zeigen, wie jene bislang noch unerfüllte Prophetie in ihren Tagen zur Realisation und Vollendung gelangt. Zweierlei ist neu und analogielos an seiner eigenen Botschaft von diesem Tag. Zum einen nimmt er ihm die reine Zukunftsperspektive und läßt ihn schon in gegenwärtiger Erfahrung anbrechen; zum anderen gibt er ihm inhaltlich ein Doppelgesicht: Er kann für Israel grundsätzlich sowohl Vernichtung als auch endgültiges Heil bedeuten. Daß der „Tag Jahwes" ansatzweise für Joel und seine Generation schon erfahrbar war, hängt mit der Unvergleichbarkeit der geschilderten Naturkatastrophe zusammen ( 1 , 2 - 4 ) . Die im Rückblick zitierten Aufrufe zur Klage in 1 , 5 - 1 4 verdeutlichen, daß alle Berufstände ohne Ausnahme betroffen war, sei es, daß ihre Lebensgrundlage, sei es, daß ihr Luxus (Wein) vernichtet waren. Das hilflose Brüllen der Tiere ( 1 , 1 8 - 2 0 ; vgl. die analoge Erwähnung am Schluß des Jona-Buches) vervollständigt den Schrecken des Unheils. Eine beherrschende Rolle spielt hierbei das wiederholte Wortspiel zwischen jbs „vertrocknen" und bws „beschämt dastehen, zuschanden werden" in 1,10-12.17.20. Wesentlicher aber als alle äußere Not ist dem Propheten, daß kein Opfergottesdienst

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mehr stattfinden konnte (1,9.13.16). Spätestens hieran mußte Israel spüren, daß der Heuschreckeneinfall mehr w a r als eine vorübergehende Not wie jede andere: Als „starkes Volk ohne Z a h l " sind die Heuschrecken Vorboten des endzeitlichen Heeres J a h w e s (vgl. 1,6 mit 2,2.5.11). Da sie „in meinem Land . . . meinen Weinstock und meinen Feigenb a u m " vertilgen, also Gottes primäre Heilsgaben an sein Volk ( l , 6 f ) , klingt schon in Kap. 1 der Gedanke an ein mögliches Ende der Heilsgeschichte an (vgl. 2,3). Der Schrekkensschrei: „Ach, dieser Tag! Wie nahe ist der Tag J a h w e s ! " in 1,15 führt diesen Gedanken explizit ins Bewußtsein. Der Schrei präludiert zugleich der Schilderung des „Tages J a h w e s " in 2 , 1 - 1 1 . Das „zahlreiche, starke Volk" ist unter der H a n d zum unüberwindbaren, nie ermüdenden, schonungslos kämpfenden apokalyptischen Heer geworden, vor dem Flucht unmöglich ist. Die erlebte Heuschrecken- und Dürreplage ist aus dieser Perspektive nur Vorspiel auf die letzte Katastrophe hin, gewinnt ihre Bedeutung erst als Modell des endzeitlichen „Tages J a h w e s " . Obwohl aber J a h w e selber in und unter dem grausamen Heer erscheint, wie die zahlreichen Theophaniemotive in 2,1 - 3 . 6 . 1 0 f zeigen (Kutsch), und obwohl der „Tag J a h w e s " ebendort unter Erschütterung der Welt wie die Rückkehr des Chaos gezeichnet wird (Childs), ertönt auf dem Zion auf Initiative des Propheten hin noch einmal das Alarmhorn: in 2,1 als Warnung vor dem kommenden Feind, in 2,15 als erneuter (vgl. 1,14) und jetzt noch dringlicherer Aufruf zum Fasttag. Die prophetische Initiative zum Alarmruf ihrerseits gründet in einem feierlichen Gotteswort, das im Anschluß an Umkehrmahnungen des DtrG (Dtn 30,10; I Sam 7,3; I Reg 8,48 u.ö.) als Einladung zur „Umkehr zu mir mit eurem ganzen Herzen" formuliert ist (2,12). Der Israel tödlich bedrohende Gott ist also immer noch auf seine Rettung aus und hofft auf sie; das wird mit dem Bekenntnis zu seiner Langmut und Geduld begründet, wie es die Spätzeit des Alten Testaments prägt (Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17; die genaueste Parallele zu Joel 2,13 bietet Jona 4,2). Es liegt somit an Israel und an seiner Einsicht, ob es geschlossen und ohne Ausnahme (2,17) „ u m k e h r t " , d. h. den Fastengottesdienst mit der Bitte um Gottes Erbarmen „von ganzem Herzen" vollzieht, oder aber am „Tag J a h w e s " untergeht. Von einer Schuld Israels ist auffälligerweise nicht die Rede, wohl aber wird allem Automatismus der Verschonung gewehrt: Auch Israels „ U m k e h r " führt Gottes Güte und Rettung nur „vielleicht" herauf (vgl. wieder Jona 4,2 und zuvor Am 5,15; Zeph 2,3; dazu Jeremias). Gott bleibt in seinem Handeln frei, aber es ist einzig, um mit Luther zu sprechen, die „Flucht zu Gott", die Israel „vor Gott" rettet. Der zweite Teil des Joelbuches ( 2 , 1 8 - 4 , 2 1 ) setzt Israels Umkehr im Fastengottesdienst und Jahwes antwortendes Erbarmen als schon erfolgt voraus. Damit gewinnt die Botschaft vom „Tag J a h w e s " eine gegenüber Kap. 1 - 2 ganz neue Gestalt. Z w a r bleibt der „Tag J a h w e s " schrecklich und nahe bevorstehend; zwar sind seine Vorzeichen an Erde („Blut, Feuer, Rauchpilze") und Himmel (Verfinsterung der Gestirne: 3,3 f) ebenso verheerend wie seine schon zuvor und jetzt wieder geschilderten Begleiterscheinungen (Beben und Verfinsterung des Kosmos: 4,15 f; vgl. 2,1 f.lOf), aber er trifft jetzt nur noch die Völker, und zwar insbesondere diejenigen, die durch Wegführung der Bevölkerung und durch Verkauf von Kriegsgefangenen am Gottesvolk schuldig wurden (Kap. 4). Dabei wird die Vertilgung der Feinde Israels mit Hilfe der Tradition vom vergeblichen Ansturm der Völker gegen Jerusalem gezeichnet (Jes 8,9f; 1 7 , 1 2 - 1 4 ; Ez 38f u.ö.); die Völker werden vor den Toren Jerusalems versammelt (der N a m e der Talebene „ J o s a p h a t " ist symbolträchtig: „ J a h w e vollführt Gericht") — um selber vernichtet zu werden. Die Schilderung entspricht damit spiegelbildlich der Androhung der Vernichtung Jerusalems in 2 , 1 - 1 1 (Lutz). Die Entsprechungen zwischen beiden Teilen des Joelbuches reichen aber weiter. Das Heil Israels ist ebenso zweitaktig dargestellt wie seine Not in Kap. 1 - 2 . Es beinhaltet daher als erstes, noch vor dem „Tag J a h w e s " , die Beseitigung der erfahrenen furchtbaren Katastrophe. Dabei greifen die Heilsworte in 2 , 1 9 - 2 6 bewußt und ständig die Begrifflichkeit von Joel 1 auf: statt Hunger Sättigung, statt Schmach Freude und Jubel, statt Dürre

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üppiger Regen, statt Mangel Überfluß. Formal kontrastieren die Aufrufe zur Freude (2,21—23) den Aufrufen zur Klage (1,5ff). Ein neuer Gedanke kommt darin zum Ausdruck, daß die beseitigten Heuschrecken in 2,20 typisierend als „der Nördliche" erscheinen und insofern mit ihnen die zuvor als noch unerfüllt (oder nur teilweise erfüllt) geltende Unheilsprophetie Jeremias abgegolten ist. M i t der Vertilgung der Heuschrecken ist Israel von seinem letzten Gegner befreit, und es kann nun angesichts dieser endgültigen Wendung zur Erkenntnis Jahwes aufgerufen werden, mit der die Verheißung verbunden ist, daß das Gottesvolk nie wieder zuschanden wird (2,27; vgl. 2,19). Diese Verheißung weist schon über die Wendung der gegenwärtigen Not vorweg auf den zweiten Erkenntnisaufruf in 4,17, der auf den „Tag J a h w e s " anspielt, wenn nach Beseitigung aller Feinde „nie wieder Fremde durch es (Jerusalem) hindurchziehen" (leicht verändertes Zitat aus Jes 52,1; Nah 2,1). Im letzten sind Heuschreckenplage und „Tag J a h w e s " ein Geschehen, an dem Israel untergeht oder aber endgültig Heil erfährt. Sachlich und zeitlich mitten zwischen die beiden unlöslich aufeinander bezogenen Akte des Heils - die Rettung vor den Heuschrecken und die Verschonung am „ T a g J a h w e s " - tritt mit 3,1 f die Verwandlung Israels durch Jahwes Geist. Er wird verschwenderisch „ausgeschüttet auf alles Fleisch", so daß künftig alle Glieder des Gottesvolkes ausnahmslos nicht mehr durch einen Propheten wie Joel auf Gottes zukünftiges Handeln hingewiesen werden müssen, sondern in einer neuen prophetischen Unmittelbarkeit zu Gott stehen und Gottes die Welt vollendendem „ T a g " entgegensehen. Solchen beständigen Blickes bedarf es aber auch, denn gerettet werden wird nur, wer „den Namen Jahwes anruft", d.h. wie Israel während der Heuschreckennot am gottesdienstlichen Bekenntnis zu Jahwe festhält. Zu zeigen, daß die Zugehörigkeit zum Gottesvolk allein noch nicht die Rettung bringt, ist Joels Anliegen vom ersten bis zum letzten Vers, insbesondere aber in den zentralen Versen 2 , 1 2 - 1 7 , die am Wendepunkt des Buches stehen. Es bedarf zur Rettung gleicherweise der ständigen Beschäftigung mit der prophetischen Überlieferung, die der Geist vermittelt, wie des ständigen Gottesdienstes. W ä h r e n d die Gerichtsaussagen des Joelbuches in der Apk (besonders Kap. 9) starken Widerhall fanden, hat das Neue Testament Joels zuletzt genannte große Heilsankündigungen in Kap. 3 durch Beziehung auf Jesus ansonsten universal gedeutet; explizit gilt das für Act 2 (Kerrigan) und R o m 10,12f. Aus Joel 2,23 (und H o s 10,12) hat die Qumrangemeinde möglicherweise den Titel des „Lehrers der Gerechtigkeit" abgeleitet (Roth; anders Wolff). Im übrigen ist die jüdische und christliche Auslegungstradition von den Anfängen bis zur Reformation in der Darstellung bei M e r x zugänglich, die Auslegung der großen jüdischen Exegeten des Mittelalters im Wortlaut bei Widmer. Anmerkung 1

Aus der Fülle von Spezialabhandlungen zur Datierung des Joelbuches seien folgende genannt: Georg Amon, Die Abfassungszeit des Buches Joel, Diss. W ü r z b u r g 1942. - G . M . Butterworth, T h e Date of the B o o k of Joel, Diss. Nottingham 1 9 7 0 / 7 1 . - J o h n Buchanan Gray, T h e Parallel Passages in Joel in their Bearing on the Question of Date: E x p . IV,8 (1893) 2 0 8 - 2 5 . - Heinrich Holzinger, Sprachcharakter und Abfassungszeit des Buches Joel: Z A W 9 (1889) 8 9 - 1 3 1 . - J a c o b M . Myers, Some Considerations Bearing on the Date of Joel: Z A W 7 4 (1962) 1 7 7 - 9 5 . - Bo Reicke, Joel und seine Zeit: W o r t - Gebot - Glaube. FS W . Eichrodt, 1970 ( A T h A N T 59), 1 3 3 - 4 1 . Wilhelm Rudolph, W a n n wirkte Joel?: Das ferne und nahe W o r t . FS L. Rost, 1967 ( B Z A W 105), 1 9 3 - 9 8 . - F . R . Stephenson, T h e Date of the Book of Joel: V T 19 (1969) 2 2 4 - 2 9 . - John A . T h o m p s o n , T h e Date of Joel: A Light unto M y Path. FS J . M . Myers, Philadelphia 1 9 7 4 , 4 5 3 - 6 4 . M a r c o Treves, T h e Date of Joel: V T 7 (1957) 1 4 9 - 5 6 . Literatur

Die bedeutendsten Kommentare nennen die Einleitungen. Exemplarisch seien unter den älteren Karl August Credner (1831), August Wünsche (1872), A. Scholz (1885), Julius August Bewer (1911), Joseph Schmalohr, 1 9 2 2 (AA VII,4) und Ernst Sellin, 3 1 9 2 9 ( K A T ) aufgeführt. Nach dem 2. Weltkrieg erschienen Kommentare u . a . von John A. T h o m p s o n , 1956 (IB), Joseph Trinquet, 2 1 9 5 9 (SB J), Milos Bic, 1960, Matthias Delcor, 1961 (La Sainte Bible VIII/1), Douglas Rawlinson Jones, 1964 ( T B C ) , Carl A. Keller, 1965 ( C A T ) , Artur Weiser, 7 1 9 7 5 ( A T D ) , Leslie C. Allen, 1 9 7 6

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(NIC on the O T ) , Alfons Deissler, 1981 (NEB). Die beiden bedeutendsten stammen von Hans Walter Wolff, 1963; 3 1985 (BK XIV/2) und Wilhelm Rudolph, 1971 (KAT XIII/2). Sonstige Literatur: Gösta W. Ahlström, Joel and the Temple Cult of Jerusalem, 1971 (VT.S 21). Walter Baumgartner, Joel 1 u. 2: FS K. Budde, 1920 (BZAW 34), 1 0 - 1 9 . - S. Bergler, Joel als Schriftinterpret, Diss. München 1987. - Joseph Bourke, Le jour de Jahvé dans Joël: R B 66 (1959) 5 - 3 1 . 1 9 1 - 2 1 2 . - Karl Budde, „Der von Norden" in Joel 2,20. Der Umschwung in Joel 2: OLZ 22 (1919) 1 - 5 . 1 0 4 - 1 1 0 . - William Walter Cannon, „The Day of the Lord" in Joel: CQR 103 (1927) 3 2 - 6 3 . - Brevard Springs Childs, The Enemy from the North and the Chaos Tradition: J B L 78 (1959) 1 8 7 - 1 9 8 . - Louis Dennefeld, Les problèmes du livre de Joël: RevSR 4 (1924) 5 5 5 - 5 7 5 ; 5 (1925) 3 5 - 5 7 . 5 9 1 - 6 0 8 ; 6 (1926) 2 6 - 4 9 . - Danielle Ellul, Introduction au livre de Joël: EThR 54 (1979) 4 2 6 - 4 3 7 . - David Fleer, Exegesis of Joel 2 , 1 - 1 1 : RestQ 26 ( 1983) 1 4 9 - 1 6 0 . - Duane A. Garrett, The Structure of Joel: J E T S 28 (1985) 2 8 9 - 2 9 7 . - Alfred Jepsen, Kleine Beitr. zum Zwölfprophetenbuch. 1. Joel: ZAW 56 (1938) 8 5 - 9 6 . - Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, 1975 (BSt 65), 8 7 - 9 7 . - Arvid Schou Kapelrud, Joel-Studies, 1948 (UUÂ 1948/4). - Benjamin Kedar-Kopfstein, The Hebrew Text of Joel as Reflected in the Vulgata: Textus 9 (1981) 1 6 - 3 5 . - Alexander Kerrigan, The „Sensus Plenior" of Joel 3, 1 - 5 in Acts 2, 1 4 - 3 6 : Sacra Pagina II, 1959 (BETHL 13), 2 9 5 - 3 1 3 . - Wilhelm Knieschke, Die Eschatologie des Buches Joel in ihrer hist.-geogr. Bestimmtheit, Diss. Rostock 1912. - Johann H. Kritzinger, De Profesie van Joel, Amsterdam 1935. - Ernst Kutsch, Heuschreckenplage u. Tag Jahwes in Joel 1 u. 2: T h Z 18 (1962) 8 1 - 9 4 = ders., KS zum AT, 1986 (BZAW 168), 2 3 1 - 2 4 4 . - Oswald Loretz, Regenritual u. Jahwetag im Joelbuch 1986 (UBL 4). - Hans-Martin Lutz, Jahwe, Jerusalem u. die Völker, 1968 ( W M A N T 27). - E. O. Adalbert Merx, Die Prophetie des Joel u. ihre Ausleger v. den ältesten Zeiten bis zu den Reformatoren, Halle 1879. - Hans-Peter Müller, Prophetie u. Apokalyptik bei Joel: ThViat 10 (1966) 2 3 2 - 2 5 2 . - Graham S. Ogden, Joel 4 and Prophetie Responses to National Laments: Journal for the Study of the O T 26 (1983) 9 7 - 1 0 6 . - Otto Plöger, Theokratie u. Eschatologie, 3 1968 ( W M A N T 2). - Willem S. Prinsloo, The Theology of the Book of Joel, 1985 (BZAW 163). - P. L. Redditt, The Book of Joel and Peripheral Prophecy: CBQ 48 (1986) 2 2 5 - 2 4 0 . - Giovanni M . Rinaldi, Gioele e il Salmo 65: BeO 10 (1968) 1 1 3 - 1 3 2 . - Cecil Roth, The Teacher of Righteousness and the Prophecy of Joel: V T 13 (1963) 9 1 - 9 5 . - S t e f a n Schreiner, Partikularismus oder Universalismus? Exegetische Unters, zu den Prophetenbüchern Joel - Obadja - Maleachi - Jona, Diss. Halle 1974. - P.J. Smith, A Discourse-Analytical Discussion of Joel 1 , 1 - 2 , 1 7 : OTWSA 25/26 (1982/83) 1 5 0 - 1 6 2 . - H.-S. Stocks, Der „Nördliche" u. die Komposition des Buches Joel: NKZ 19 (1908) 7 2 5 - 7 5 0 . - John A. Thompson, The Use of Repetition in the Prophecy of Joel: FS E. A. Nida, Den Haag/Paris 1 9 7 4 , 1 0 1 - 1 1 0 . - E. Thurre, Dieu et son peuple selon le livre de Joël, Diss. Freiburg i.Ue. 1975/76. - Adam Cleghorn Welch, Joel and the Post-Exilic Community: Exp. 8. Ser. 20 (1920) 1 6 1 - 1 8 0 . - H. Weichbillig, Stud, zur Formgesch. des Buches Joel, Diss. Trier 1967. Gottfried Widmer, Die Komm. v. Raschi, Ibn Esra, Radaq zu Joel, Basel 1945. - Hans Walter Wolff, Die Botschaft des Buches Joel, 1963 (ThEx 109). Jörg Jeremias J o h a n n Friedrich von Sachsen 1. Leben

2. Politisches Handeln

(1503-1554) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 102)

1. Leben J o h a n n Friedrich wurde a m 3 0 . 6 . 1 5 0 3 als Sohn H e r z o g - » J o h a n n s von Sachsen zu T o r g a u geboren. Seine M u t t e r Sophia von M e c k l e n b u r g (geb. 1481) starb wenige Tage nach seiner Geburt a m 1 2 . 7 . Da Kurfürst - » F r i e d r i c h unverheiratet blieb, ruhten auf J o h a n n Friedrich die Hoffnungen der ernestinischen Linie, was in einer sorgfältigen Erziehung zum Ausdruck k a m . Wenn auch die ritterliche Ausbildung bald das Übergewicht erhielt, blieb das von den Prinzenerziehern G. -»Spalatin und Alexius Chrosner (um 1 4 9 0 - 1 5 3 5 ) begründete wissenschaftliche Interesse wirksam. Es galt besonders der Historiographie und theologischen Fragen. Die zahllosen deutschen Briefe und Gutachten bezeugen eine gründliche Kenntnisvermittlung, während der Unterricht in Latein und Französisch für eine aktive Anwendung nicht ausreichte. Zielstrebig ließ er Bücher und Handschriften sammeln. Z u R e c h t zählte ihn M . - » L u t h e r 1 5 2 5 zu den Förderern der Wittenberger Universität a m H o f ( W A . B 3 , 5 0 1 f). Eine Episode blieb die im Umkreis der Kaiserwahl 1 5 1 9 vereinbarte Heirat J o h a n n Friedrichs mit Katharina von Spanien ( 1 5 0 7 - 1 5 7 8 ) , einer Schwester - » K a r l s V. Das Scheitern des Planes 1 5 2 4 zeigte das Desinteresse der H a b s b u r g e r an tragbaren Beziehungen zum ernestinischen Kursachsen. Die bereits 1518 zur Überwindung von Lehnstreitigkei-

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ten beabsichtigten Eheverhandlungen um Sibylla von Jülich-Cleve (1512—1554) kamen 1526 zum Abschluß. Am 2 . 6 . 1 5 2 7 wurde die Kurprinzessin in Torgau feierlich eingeholt. Der glücklichen Ehe entstammten der Nachfolger und in Verbindung mit den Grumbachschen Händeln 1567 geächtete und abgesetzte Johann Friedrich der Mittlere ( 1 5 2 9 1565) sowie Johann Wilhelm ( 1 5 3 0 - 1 5 7 3 ) , Johann Ernst II. (geb. 5., gest. 1 1 . 1 . 1 5 3 5 ) und Johann Friedrich der Jüngere ( 1 5 3 8 - 1 5 6 5 ) . 1532 trat Johann Friedrich die Nachfolge als Kurfürst an. Seinen Halbbruder Johann Ernst I. (1521 — 1553) beteiligte er entsprechend dem väterlichen Testament an der Regierung, bevor dessen Heirat mit Katharina von Braunschweig-Grubenhagen ( 1 5 2 4 - 1 5 8 1 ) 1542 eine Mutschierung erforderlich machte, die dem Jüngeren die Einkünfte und die Verwaltung der Pflege Coburg zusprach. Den wichtigsten Einschnitt in der wettinischen Geschichte seit 1485 bedeutete die Niederlage Johann Friedrichs im -»Schmalkaldischen Krieg. Mit der Wittenberger Kapitulation vom 1 9 . 5 . 1 5 4 7 verlor er mit der Kurwürde das Kurland, die Ämter östlich der Saale und alle Rechte auf die Burggrafschaft Magdeburg, auf die Stifte Magdeburg, Halberstadt, Naumburg-Zeitz und Meißen sowie auf die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen an den Albertiner - » M o r i t z von Sachsen. Das Restterritorium verwalteten Johann Friedrichs Söhne bis zu seiner Freilassung aus kaiserlicher Gefangenschaft am 2 8 . 8 . 1 5 5 2 . Umjubelt kehrte er nach Weimar zurück. Erst mit Kurfürst August (1526—1586) konnte er am 2 4 . 2 . 1 5 5 4 im Naumburger Vertrag zu einer Verständigung kommen und die Streitigkeiten über die Erfüllung der Wittenberger Kapitulation beenden. Wenige Tage danach, am 3 . 3 . , starb Johann Friedrich und wurde in der Weimarer Stadtkirche St. Peter und Paul beigesetzt. 2. Politisches

Handeln

Frühzeitig interessierte sich Johann Friedrich für das Wirken Luthers. Dieser dankte Ende Oktober 1520 dem jungen Herzog für die intensive Fürsprache bei Kurfürst Friedrich nach Bekanntwerden der Bannandrohungsbulle und lobte seinen „großen willen vnnd lust zcu der heyligenn gottlichenn wahrheytt" (WA.B 2, 205 f). Aus gleichem Anlaß widmete der Reformator am 10.3.1521 dem Kurprinzen seine Schrift Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (WA 7, 544 f). In diesen Monaten bildete sich zwischen beiden ein enges, andauerndes Vertrauensverhältnis aus, so daß Johann Friedrich in Luther einen „gaystlichen vater" (WA.B 2, 237f) sehen konnte. Sie stimmten in der Beurteilung von -»A.B. Karlstadt und Th. -»Müntzer, der am 13.7.1524 seine „Fürstenpredigt" vor Johann und Johann Friedrich in Allstedt hielt, überein. Mit G. -»Brück bemühte sich der Kurprinz, seinen Vater zum Eingreifen gegen die „Schwärmer" zu bewegen. Für ihn führten „senfftmutigkeyt" und Briefe nicht zum Ziel, zur Bestrafung des Bösen müsse das von Gott verordnete Schwert gebraucht werden" (WA.B 3, 311).

Im Mai 1525 nahm er an der Niederschlagung des thüringischen Bauernaufstandes teil. Die zur gleichen Zeit erfolgte Regierungsübernahme durch Johann gab dem jungen Herzog größere Möglichkeiten zum politischen Handeln. In Friedewald bereitete er mit Landgraf -»Philipp das Gothaer Bündnis vom Frühjahr 1526 zwischen Kursachsen und Hessen vor. An der durch O t t o von Pack ausgelösten Krise nahm der Kurprinz regen Anteil. Über ihn versuchte der Landgraf, auf Johann einzuwirken und gegenüber den zum Frieden mahnenden Wittenberger Theologen ein Gegengewicht zu schaffen. Tatsächlich rechnete Johann Friedrich noch Ende Mai 1528 mit militärischen Auseinandersetzungen. Während des Reichstages zu Speyer 1529 blieb er in Weimar und führte die kursächsische Regierung. Die -»Protestation fand seine volle Zustimmung. Später förderte er bei seinem Vater die Teilnahme der Wittenberger Theologen am -»Marburger Religionsgespräch. Die Augsburgische Konfession trägt seine Unterschrift. Im Vierzehnerausschuß im August 1530 vertrat er offensiv die evangelische Sache. Er rechtfertigte die kursächsische Verhandlungsposition, in der er die Grenze für ein Entgegenkommen erreicht sah. Der habsburgische Plan, -»Ferdinand I. durch die Kurfürsten zum römischen König wählen zu lassen, stieß frühzeitig auch in Kursachsen auf Widerspruch. 1529 trat Johann Friedrich dafür ein, die Wahl zu verhindern, ohne sich aber für einen Gegenkandidaten

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einzusetzen. Ende Dezember 1530 brachte er bei der Wahlhandlung in Köln die kursächsischen Einwände vor, die sich mit juristischen Gründen besonders gegen die Wahl noch zu Lebzeiten des Kaisers richteten. Konnte auch die Bestimmung Ferdinands nicht verhindert werden, so führte der Wahlprotest doch zu jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Habsburgern. Der Ausgang des —> Augsburger Reichstages 1530 und die Isolierung Kursachsens bei der Königswahl verstärkten die seit 1529 laufenden Bemühungen, die bestehenden Absprachen unter den evangelischen Reichsständen zu einem Bund umzuformen. Besonders trat der Kurprinz für eine „Verfassung zur Gegenwehr" ein, die dann am 27.2.1531 in Schmalkalden abgeschlossen und von Johann Friedrich mitunterzeichnet wurde. Er selbst kümmerte sich um militärische und finanzielle Probleme des Bundes. Auf den Tagungen vertrat er schon vor der Regierungsübernahme mehrfach Kursachsen. An dem Ausbau des Schmalkaldischen Bundes zu einem Instrument protestantischer Politik im Reich wirkte er aktiv mit. Mit großem Eifer betrieb er Ausgleichsverhandlungen mit dem Kaiser, die Ende Juli 1532 zum -»Nürnberger Anstand führten und den protestantischen Territorien befristet Schutz vor kriegerischen Angriffen aus Glaubensgründen sowie die Einstellung der Religionsprozesse am Reichskammergericht gewährten. Als Johann Friedrich am 16.8.1532 die Regierungsverantwortung übernahm, war er in jeder Hinsicht mit der ernestinischen Politik vertraut. Hatte er Ende der 20er Jahre mehrfach die hessische Politik gegen Habsburg unterstützt, so setzte er nach 1532 die vorsichtige, vom Nürnberger Anstand geprägte Linie seines Vaters fort. Sein auf Ausgleich gerichtetes Verhalten bestand im Frühjahr während der württembergischen Krise eine bemerkenswerte Bewährungsprobe. Die konsequente Neutralität ermöglichte dem Kurfürsten gemeinsam mit Kardinal -*Albrecht von Mainz und Herzog —»Georg im Vertrag von Kaaden vom 28.6.1534 sowohl eine Verständigung zwischen Habsburg und -•Württemberg zu erreichen, so daß der Weg zur Einführung der Reformation in diesem Territorium frei wurde, als auch den Rahmen für einen möglichen Ausgleich zwischen Kursachsen und Ferdinand I. zu bestimmen. Die Anerkennung Ferdinands als römischer König erfolgte gegen die in Aussicht genommene Ergänzung der in der Goldenen Bulle niedergelegten Wahlbestimmungen. Dieser honorierte kaum das Entgegenkommen der Ernestiner. Bei der Reise nach Wien erfolgte zwar die Belehnung, aber der dort am 20.11.1535 geschlossene Vertrag verschob alle anderen Fragen wie die Aussetzung der Religionsprozesse am Reichskammergericht, die Novellierung der Goldenen Bulle und die damit verbundene endgültige Anerkennung Ferdinands als römischer König auf unbestimmte Zeit. Die Enttäuschung über den gescheiterten Ausgleich mit Habsburg veranlaßte Johann Friedrich, mit der ersten Bundesverfassung vom 23.12.1535 der Erweiterung und Verlängerung des Schmalkaldischen Bundes zuzustimmen. An dem Grundsatz, ein politisches Bündnis setze Übereinstimmung in theologischen Fragen voraus, hielt Johann Friedrich wie die Wittenberger Theologen fest. Mit diesem Vorbehalt scheiterte die vor allem von Hessen vertretene Ausdehnung des Bundes auf Frankreich und England. Er beeinträchtigte außerdem die politische Effektivität dieser protestantischen Ständegruppierung. Z u m gemeinsamen politischen Handeln waren die Mitglieder des Bundes nicht fähig. Höhepunkt in seiner Geschichte war zweifellos der Bundestag vom Februar 1537 in Schmalkalden. Johann Friedrich gelang es, die Teilnehmer auf die Zurückweisung des von Papst -•Paul III. nach Mantua einberufenen Konzils festzulegen. Trotz großer Bemühungen des Kurfürsten fanden Luthers -»-Schmalkaldische Artikel nicht die gewünschte Anerkennung als Bekenntnis des Bundes. Der -»Frankfurter Anstand beseitigte im Frühjahr 1539 zunächst die befürchtete militärische Konfrontation zwischen den Religionsparteien, wenn auch Kursachsen einen unbegrenzten oder längerbefristeten Frieden für alle protestantischen Reichsstände wieder nicht erreichte. Deutlich erkannte Johann Friedrich die politischen Folgen der Doppelehe Philipps von Hessen. Religionsvergleichen gegenüber zeigte er sich unzugänglich. In Regensburg 1541 lehnte er alle Zugeständnisse ab.

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Die folgenden Jahre bis zum Schmalkaldischen Krieg sind von politischen Erfolgen bestimmt, aber auch von Sorgen, Unsicherheit und Ungewißheit. Als Ersatz für die ausbleibende habsburgische Schuldentilgung ließ Johann Friedrich 1540 das Kloster Doberlug besetzen. Anfang 1542 setzte er N. von -* Amsdorf als Bischof von Naumburg-Zeitz ein. Der Kriegszug gegen Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1489-1568) führte wenig später zu dessen Vertreibung. Im Herbst 1545 geriet der Herzog in hessische Gefangenschaft, als er die Rückeroberung seines Landes versuchte. Die Speyerer Verträge mit Johann Friedrich dienten Karl V. eher zur Verschleierung seiner Pläne, obwohl langgehegte kursächsische Wünsche erfüllt wurden: Bestätigung der Wiener Belehnung von 1535, der Mutschierung von 1542 und der Heirat mit Sibylla einschließlich der dabei getroffenen Erbvereinbarungen. Die wahren Absichten des Kaisers, die religiöse Trennung mit Waffengewalt zu überwinden, blieben dem sächsischen Kurfürsten verborgen. Er ließ sich von Friedensbeteuerungen beeindrucken, die sein Wunschbild von Kaiser und Reich bestätigten. Kursachsen war der kaiserlichen Diplomatie nicht gewachsen. Erst während des Regensburger Reichstages 1546 offenbarten die Rüstungen, Erklärungen und Verträge des Kaisers den Ernst der Lage. Das Schwanken zwischen Neutralität, Loyalität und offensiver Abwehr in der kursächsischen Politik bestärkte Karl V. in seinen Plänen. Die Spannungen zwischen Albertinern und Ernestinern erwiesen sich im Schmalkaldischen Krieg als verhängnisvoll. Da Johann Friedrich den Grimmaischen Machtspruch vom 17.7.1531 nicht anerkannte, versuchten Beauftragte der Landstände beider Linien, mit dem Grimmaer Vertrag vom 18.11.1533 - wieder vergeblich - die Streitigkeiten beizulegen. Immer wieder erregte Luther mit seinen scharfen Äußerungen gegen Georg Anstoß. Der Kurfürst trat klar auf die Seite des Reformators. Ebenso unterstützte er die 1537 zum Abschluß gekommene Hinwendung der in Freiberg residierenden albertinischen Nebenlinie Herzog Heinrichs (1473—1541) zur Reformation und die gleichzeitige Einführung der neuen Lehre durch Herzogin Elisabeth (1502-1557) in ihrem Rochlitzer Wittum. Wie 1539 dann im gesamten albertinischen Sachsen, setzte der Ernestiner bei der kirchlichen Neuordnung im Freiberger Gebiet seine ganze Autorität ein und ließ nach Wittenberger Vorbild visitieren, ohne auf die Besonderheiten im albertinischen Teil zu achten. Wenig Fingerspitzengefühl bewies er auch gegenüber Moritz von Sachsen. Er sah in seinem Vetter keinen ebenbürtigen Partner und war überrascht, als das albertinische Sachsen eine eigenständige Innen- und Außenpolitik betrieb. Mit der Besetzung Wurzens im Frühjahr 1542 mißachtete Johann Friedrich die Rechte der Albertiner, die sich aus der 1485 festgelegten gemeinsamen Schutzherrschaft über das Bistum Meißen ergaben. Nur die sofortige Vermittlung Landgraf Philipps verhinderte einen Bruderkrieg. Die Wurzener Fehde offenbarte das innerwettinische Konfliktpotential, das 1546/47 zu der folgenschweren Konfrontation führte. Johann Friedrich fühlte sich von Moritz hintergangen und verraten. Die Anfang 1547 sich ergebenden strategischen Vorteile konnte der Ernestiner nicht nutzen. Seine militärische Unfähigkeit, seine Unentschiedenheit gegenüber dem Bündnisangebot der aufständischen Böhmen und die zahlenmäßige Überlegenheit der vereinigten kaiserlichen, königlichen und albertinischen Truppen besiegelten bei Mühlberg am 24.4.1547 das politische Schicksal des letzten ernestinischen Kurfürsten. Während Johann Friedrich bei den Vertragsverhandlungen vor Wittenberg in politischen und territorialen Fragen dem siegreichen Kaiser nichts entgegenzusetzen hatte, behauptete er seine religiöse Überzeugung. Beharrlich lehnte er im Gegensatz zu Landgraf Philipp jedes Entgegenkommen im Blick auf das Konzil und das Augsburger -»Interim ab. Aufmerksam verfolgte er die Bemühungen seines Rivalen Moritz, eine gangbare Interimslösung zu finden, sah jedoch in den albertinischen Kompromißlösungen ein Abweichen von der wahren Lehre und teilte damit die in der flacianischen Propaganda sichtbar werdenden Grundpositionen. Als Moritz bei der Vorbereitung des Fürstenkrieges die Ernestiner für das antikaiserli-

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che Bündnis zu gewinnen suchte, versagte sich Johann Friedrich. Er setzte bei den Kämpfen im Frühjahr 1552 auf den Kaiser und erhoffte eine Umkehrung der Entwicklung von 1547. Er war bereit, die kaisertreuen Protestanten zu sammeln, Karl V. zu unterstützen und eine erwartete Reichsacht gegen Moritz zu vollstrecken. Der Passauer Vertrag zerstörte diese unrealistischen Träume. Wie 1547 befand sich der Ernestiner auf der Seite der Verlierer. Er war nicht in der Lage, eine realitätsnahe Politik zu verwirklichen und politische Entwicklungen ohne Illusionen wahrzunehmen. So bemühte er sich vergeblich, das im Sommer 1553 durch den Tod von Moritz kurzzeitig entstandene Machtvakuum zu nutzen. Kein Reichsstand war an neuen Unruhen interessiert. Johann Friedrich mußte die Entscheidungen von 1547 und die bleibende albertinische Dominanz anerkennen. In besonderem Maße hatte Johann Friedrich die Kirchenpolitik seines Vaters mitgestaltet. Sein Bemühen galt der weiteren Ausgestaltung des neuen Kirchenwesens. Die noch von Johann angeordnete zweite große Visitation ließ er 1533/35 durchführen. Die Arbeit der Sequestrationskommissionen wurde fortgesetzt. 1543 gelang es Johann Friedrich, den Einfluß der Landstände bei der Verwaltung der Kloster- und Stiftsgüter zurückzudrängen und sie allein den kurfürstlichen Amtleuten zu übertragen. Große Summen aus den Einkünften kamen dem Landesherrn zugute und wurden zur Schuldentilgung genutzt. 1540 begann der Verkauf des Klosterbesitzes. Reichere Klöster — wie Reinhardsbrunn und Georgenthal - wurden in landesherrliche Ämter umgewandelt. Die Unterhaltung der Pfarrer erwies sich zunehmend als Hauptproblem. Daher erfolgte 1544 eine gründliche Erhebung durch die Superintendenten, deren Ergebnisse die kurfürstliche Kanzlei prüfte, um durch Zusammenlegen oder Zulagen den Dorfpfarrern ein Mindesteinkommen von 50 Gulden zu ermöglichen. Das sog. Bewidmungswerk kam erst 1550/51 zum Abschluß und gehörte neben den Visitationen zur zweiten großen Stütze der kirchlichen Neuordnung. 1539 entstand mit den Konsistorien auf Anregung der Landstände ein weiteres Organ des sich im Aufbau befindlichen landesherrlichen Kirchenregiments. Von 1547 bis 1561 übernahm vorübergehend die herzogliche Kanzlei die Funktionen dieser kirchlichen Oberbehörde. Als 1547 die Universität Wittenberg an die Albertiner verlorenging, kümmerte sich Johann Friedrich sofort um Ersatz. Da die Verlegung der Wittenberger Bildungsanstalt nach Jena nicht zustandekam, entstand am 19.3.1548 im dortigen Dominikanerkloster das neue Gymnasium academicum oder Pädagogium provinciale, aus dem sich dank herzoglicher Förderung eine blühende Universität entwickelte, die 1557 vom Kaiser privilegiert wurde. 3.

Nachwirkung

In seinem politischen Handeln erfuhr Johann Friedrich mehrfach die Grenzen seiner Möglichkeiten. 1547 und 1552 mußte er das Scheitern seiner Konzeptionen erleben. Sein Bild wird aber mehr geprägt von seinem standhaften Verhalten in Glaubensfragen während der fünfjährigen kaiserlichen Gefangenschaft. Er wurde zum Märtyrer des Protestantismus und mit Christus gleichgesetzt, wie Moritz zum Verräter und „Judas von Meißen" wurde. Bald erhielt Johann Friedrich den Beinamen „der Großmütige", erstmals 1569 nachweisbar. Seine eigentliche Bedeutung liegt im Eintreten für die von Luther geprägte kirchliche Neuordnung mit allen Folgen, in dem ständigen Bemühen, der Reformation neue Wirkungsräume zu eröffnen und in seiner auf die Heilige Schrift und die Confessio Augustana gegründeten Frömmigkeit. Johann Friedrich ist der lutherische Fürst unter den Wettinern. Frühzeitig bemühte er sich um die Sammlung und Publikation von Lutherschriften. Die 1539 begonnene Wittenberger Lutherausgabe wie auch die Jenaer, an der seit Herbst 1552 gearbeitet wurde, um das Werk Luthers „rein, vnuerfelscht, on Zusatz, gantz vnd ordentlich" zu bewahren (WA 60, 4 9 5 - 4 9 9 ) , gehen auf Anordnungen des „geborenen Churfürsten" zurück.

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Johann von Sachsen

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Günther Wartenberg Johann von Sachsen 1. Leben

1.

(1468-1532)

2. Kirchenpolitik

(Bibliographien/Quellen/Literatur S. 105)

Leben

Johann wurde am 30.6.1468 in Meißen geboren. Sein Vater Ernst (1441—1486) war seit 1464 Kurfürst von Sachsen, seine Mutter war Elisabeth von Bayern (1443-1484). Johann erhielt eine gute Bildung und eine standesgemäße Erziehung auch am kaiserlichen Hof. Er heiratete prunkvoll am 1.3.1500 in Torgau die Herzogin Sophia von Mecklenburg (geb. 1481), die bald nach der Geburt von ->Johann Friedrich von Sachsen am 12.7.1503 in Torgau starb. Am 13.11.1513 vermählte sich Johann mit Margareta von Anhalt (geb. 1494), die ihm Maria (1515-1560), Margareta (1518-1535), Johann (1519-1519) sowie Johann Ernst (1521-1553) gebar und am 7.10.1521 starb. Entsprechend dem Testament des Vaters übernahmen nach dessen Tod am 26.8.1486 Johanns älterer Bruder —»Friedrich der Weise und Johann gemeinsam die Regierung über das ernestinische Gebiet, dessen Grenzen 1485 die Leipziger Teilung gezogen hatte. 1513 vollzogen die Brüder eine Verwaltungsteilung, die die politische Einheit nicht berührte. Johann wurde für die ernestinischen Gebiete in Thüringen und Franken und für das Vogtland zuständig und erhielt eine eigene Kanzlei und eigene Finanzen. Zur Residenz erwählte er Weimar. Während Friedrich als Kurfürst die außenpolitischen Maßnahmen vertrat, leitete Johann seit 1514 die Finanzverwaltung für das ganze Kurfürstentum. Die Brüder regierten fast 40 Jahre lang gemeinsam in bemerkenswerter Eintracht. Nachdem Friedrich am 5.5.1525 gestorben war, übernahm Johann als Kurfürst die Regierungsgeschäfte allein und verlegte seine Residenz nach Torgau, wo sich seit 1485 die kursächsische Kanzlei befand. Johann starb am 16.8.1532 im Schloß Schweinitz (Kreis Jessen). M. -»Luther und Ph. —»Melanchthon, die auch die Grabreden hielten (WA 36,237-254; CR 11,223-227), als Johann am 18.8. in der Wittenberger Schloßkirche vor dem Altar neben Friedrich beigesetzt wurde, hatten an seinem Sterbebett gestanden. Eine vierteilige, gravierte Bronzeplatte schließt sein Grab ab. An der Südwand steht ein mächtiges Bronzeepitaph Hans Vischers (1489-1550) von 1534. 2.

Kirchenpolitik

Johann beschäftigte sich früh intensiv mit Luthers Gedanken. Er wünschte sich von Luther eine Widmungsvorrede, die dieser zu seinem Sermon Von den guten Werken (WA 6 , 2 0 2 - 2 7 6 ) am 29.3.1520 für ihn verfaßte. Johann ließ sich neuerscheinende Lutherschriften zusenden und drängte Friedrich, Luther zu schützen. Seit 1521 holte er bei Luther theologische Auskünfte ein. Als Luther ihm 1522 einzelne Bogen seiner Übersetzung des Neuen Testaments übersandte, bewegte ihn das zu anhaltender Bibellektüre.

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Johann von Sachsen

Johann förderte die evangelische Predigt im Schloß (Hofprediger Wolfgang Stein, gest. vor 1553) und in der Stadt Weimar. Während Friedrich sich scheute, seine Verbindungen zu Luther öffentlich zu zeigen, ließ Johann ihn im Oktober 1522 mehrmals in der Weimarer Schloßkirche predigen und veranlaßte ihn, aus zwei dieser Predigten die Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523, WA 11,245-281) zu erarbeiten. Johann ließ neben Luthers Gedanken auch andere reformatorische Anschauungen gelten. Erduldete die Ansicht des Eisenacher Predigers Jakob Strauß (1480/85-um 1533), daß auch das Zahlen von Zinsen sündig sei, und erwog - angeregt von Stein - , ob das kaiserliche Gesetz durch das mosaische abzulösen sei. Er ließ A. -»Karlstadt in Orlamünde und Th. -»Müntzer in Allstedt zunächst gewähren. Aber angesichts der Differenzierung der reformatorischen Bewegung im Thüringer Raum und Johanns Haltung dazu bildete sich um Johann Friedrich mit Johanns Kanzler G. -» Brück ein Kreis, der negative politische Folgen befürchtete und seit Sommer 1524 auf Gegenmaßnahmen drängte. Am 24.6.1524 schlug Johann Friedrich, der als „Ketzermeister" galt, Luther eine Visitation vor, bei der Luther die Tauglichkeit der Prediger feststellen, die Obrigkeit die untauglichen absetzen sollte. Luther ging darauf zwar nicht ein, wurde aber angespornt, Strauß und Stein zu belehren sowie sich mit Müntzer (Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist, Juli 1524, WA 15,210-221) und Karlstadt (Predigtreise im August 1524) auseinanderzusetzen. Johann schwenkte auf diese Linie ein und ging nun sowohl gegen radikale Evangelische als auch gegen hartnäckige Altgläubige vor. Daher floh Müntzer am 7.8. aus Allstedt. Karlstadt wurde am 18.9.1524 ausgewiesen. Im Januar und im März 1525 erhielt Strauß den Auftrag, das Eisenacher Land zu visitieren. Den Franziskanern in Weimar wurde Ende März 1525 die öffentliche Predigt verboten. Da der Weimarer Stadtpfarrer nicht evangelisch lehren wollte, wurde er am 25.4. abgelöst. Die Bauernerhebung, die Johann bis zum Juli 1525 niederwarf, bestärkte den Weimarer Hof, in die Kirche ordnend einzugreifen. Nachdem Johann die kursächsische Verwaltung ganz übernommen hatte, förderte er die von Luther ausgehende kirchliche Erneuerung offen und entschieden. Auf Luthers Ersuchen half er über G. —»Spalatin im Herbst 1525 der verarmten Universität -»Wittenberg auf. Er übernahm Kirchengut in seine Verwaltung ohne Scheu vor den Rechtsfolgen. Den Geistlichen des Amtes Weimar befahl er am 17.8.1525, Gottes Wort unverfälscht zu predigen. Auf sein Drängen hin arbeitete Luther die Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts (WA 19,72-113) aus, die Weihnachten 1525 in Wittenberg eingeführt und Neujahr 1526 veröffentlicht wurde. Johann machte sie in der Fastenzeit 1526 für das ganze Land verbindlich und demonstrierte gleichzeitig seinen Bruch mit den päpstlichen Gesetzen durch ein Festessen mit seinem Hof, das im Widerspruch zu den Fastengeboten (-»Fasten/Fasttage III) stand. Außenpolitisch wirkte Johann Einmischungsversuchen des Herzogs —»Georg von Sachsen entgegen und schloß mit —»Philipp von Hessen in Gotha am 27.2.1526 ein Verteidigungsbündnis, das am 2.5. in Torgau ratifiziert wurde und seit dem 12.6. weitere Mitglieder gewann. In Wittenberg begann er energisch mit dem Ausbau der Befestigungsanlage. Nachdem er am 20.7.1526 zum Reichstag nach Speyer (-»Reichstage der Reformation) gekommen war, verschmähte er auch dort die römische Messe, mißachtete ostentativ die Fastengebote und ließ sich in seiner Herberge die evangelische Predigt, die sehr großen Zulauf hatte, nicht verbieten. Auf den folgenden Reichstagen von 1529 und 1530 verhielt er sich ebenso. Johann isolierte sich zwar durch seine entschiedene Haltung, erreichte aber 1526 einen Reichstagsbeschluß, der die Strafverfolgung der Evangelischen aussetzte. So konnte er sich unter günstigeren Bedingungen einer Neuordnung der Kirche zuwenden. Er strebte eine —»Visitation an, um die Lehre zu prüfen und zum Aufruhr verführende Prediger auszuweisen. Luther hingegen wollte mit ihr das Kirchengut für Verkündigung, Bildung und Armenfürsorge erhalten. Schließlich übertrug Johann nach Probevisi-

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tationen den Visitatoren beide Aufgaben und ließ sein Land 1528/29 visitieren. Die Gemeinden erhielten neue Ordnungen, und die ersten Superintendenturen wurden geschaffen. Ein Streit über Stellenbesetzungen in Zwickau zwischen dem R a t und den Theologen - die Luther entschlossen unterstützte - führte im August 1531 zu der Entscheidung, daß Pfarrer nur nach Unterrichtung des Kurfürsten eingesetzt und entlassen werden dürften. Aufgrund des Reichsmandates vom 4 . 1 . 1 5 2 8 erließ J o h a n n am 1 7 . 1 . ein M a n d a t gegen die -»-Täufer, ohne dafür die Zustimmung der Wittenberger zu haben, die er ihnen erst 1530 abgewann, wobei Luther gegen die Todesstrafe Bedenken behielt. J o h a n n zog die Wittenberger Reformatoren nicht nur in kirchlichen, sondern auch in politischen Fragen als Gutachter heran. Diese bewahrten ihn 1528 davor, sich in einen Präventivkrieg gegen altgläubige Reichsstände hineinziehen zu lassen, die angeblich die Vernichtung der Evangelischen militärisch vorbereiteten. Nachdem sich dies als Fehlinformation erwiesen hatte, entschied sich J o h a n n für mehr Zurückhaltung, friedliche Lösungen und Ausgleich mit dem Kaiser, soweit er seinen evangelischen Glauben nicht aufgeben mußte. Im Frühjahr 1529 betrieb er auf dem Speyerer Reichstag die -»Protestation gegen die reformationsfeindlichen Beschlüsse der Mehrheit. Daraufhin gewährten sich die Reichsstände in Sicherheitsverträgen einen befristeten Waffenstillstand. J o h a n n erreichte durch seine Politik, die ein Bündnis nur bei Ubereinstimmung in der Lehre für möglich hielt, auf dem Augsburger Reichstag das Verlesen des —• Augsburger Bekenntnisses am 2 5 . 6 . 1 5 3 0 , allerdings ohne Zustimmung süddeutscher Städte ( - » C o n f e s s i o Tetrapolitana) und H . -•Zwingiis. Von seinem Bekenntnis zum Evangelium ließ er sich nicht abbringen, obgleich ihm —»Karl V. deshalb die feierliche Belehnung mit der ererbten Kurwürde und die Bestätigung von Erbansprüchen auf das Herzogtum Jülich-Cleve versagte. Selbst D r o hungen, ihn durch Krieg von Land und Leuten zu jagen, erreichten nichts. Diese Standhaftigkeit hob Luther hervor und sie wurde - nachweisbar seit 1580 - in seinem Beinamen „der B e s t ä n d i g e " festgehalten. Trotz aller Bedrohungen, die die Protestanten nun verstärkt zu einem Bündnis drängten, hatte er - von Luther bestärkt - immer noch Bedenken, sich gegen einen Angriff des Kaisers zu verbünden. Erst eine neue Interpretation der Reichsverfassung durch Juristen öffnete den Weg zum -»Schmalkaldischen Bund, der J o h a n n neben Philipp von Hessen zum Hauptmann wählte und im O k t o b e r 1531 in Saalfeld sich mit den bayerischen Herzögen gegen Habsburg verband. Gegenüber päpstlichen und kaiserlichen Forderungen bestand er seit 1526 auf einem freien, christlichen Konzil, auf dem nur nach Gottes Wort geurteilt werden sollte. Am Ende seines Lebens hatte J o h a n n die äußeren Grundlagen für ein evangelisches Kirchenwesen geschaffen. Er erreichte am 1 7 . 7 . 1 5 3 1 durch den „Grimmaischen M a c h t s p r u c h " eine gewisse Entspannung innerwettinischer Streitigkeiten und durch den —•Nürnberger Anstand vom 2 3 . 7 . 1 5 3 2 eine Verständigung mit - » K a r l V. Bibliographien B D G 3 3 0 9 7 a - 3 3 1 2 5 . 4 3 9 4 5 . 4 5 6 3 8 . - Bibliogr. der sächsischen Gesch., hg. v. Rudolf Bemmann, Leipzig, 1/1 1918, 1 4 1 - 1 4 9 .

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Johann von Sachsen

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Rom: Leben u. Werk Martin Luthers v. 1526 bis 1546, hg. v. Helmar Junghans, Berlin/Göttingen 1983, Berlin 2 1985, I 3 6 9 - 4 0 1 , II 8 4 9 - 8 6 0 . - Ders., Die röm. Kurie u. die Reformation 1523-1534, 1969 (QFRG 38). Paul Plotenhauer, Miszelle zum Geburtsjahr Johanns: ASäG 8 (1870) 3 2 9 - 3 3 1 . - Louis Reimer, Reichstag, Reichsregiment u. reformatorische Predigt in Speyer 1526-1529: BPfKG 34 (1967) 1 8 8 - 2 1 0 . - Hans v. Schubert, Bekenntnisbildung u. Religionspolitik 1529/30 (1524-1534), Gotha 1910. - Bernd Stephan, Beitr. zu einer Biographie Kurfürst Friedrichs III. v. Sachsen, des Weisen (1463-1525), Diss. Leipzig 1980. - Johannes Walter, Der Reichstag zu Augsburg 1530: LuJ 12 (1930) 1 - 9 0 . - Günther Wartenberg, Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten: Leben u. Werk Martin Luthers v. 1526 bis 1546, hg. v. Helmar Junghans, Berlin/Göttingen 1983, Berlin 2 1985, I 5 4 9 - 5 7 1 , II 9 1 6 - 9 2 9 . - Ders., Zum Verhältnis Martin Luthers zu Herzog u. Kurfürst Johann v. Sachsen: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, hg. v. Günter Vogler, Berlin 1 9 8 3 , 1 6 9 - 1 7 7 . - Eike Wolgast, Die Wittenberger Theol. u. die Politik der ev. Stände, 1977 (QFRG 47). Porträts: Die Gemälde v. Lucas Cranach, hg. v. Max J. Friedländer/Jakob Rosenberg, Berlin 1932, Basel 2 1979. - Dieter Koepplin/Tilman Falk, Lukas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphiken, 2 Bde., Basel 1974/1976. - Werner Schade, Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974 2 1977, Gütersloh 1983. H e l m a r Junghans

Johanna von Orléans

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Johanna von Orléans 1. D e r historische Hintergrund 2. Leben schungsproblematik (Quellen/Literatur S. 109)

1. Der historische

3. Persönlichkeit und W i r k u n g

4. Zur For-

Hintergrund

Leben und Bedeutung der Johanna sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England im 100-jährigen Krieg (1339-1453), dessen Wurzeln tief in die Geschichte beider Königreiche zurückreichen: Aufgrund ihrer Herkunft sowie durch Erbschaft und Heirat war es den englischen Königen gelungen, einen bedeutenden Teil Frankreichs unter ihre Herrschaft zu bringen. Der Tod des kinderlosen französischen Königs Karl IV. im Jahre 1328, mit dem das Haus der Capetinger ausstarb, ergab für den englischen König Eduard III. die Möglichkeit, erneut in die französischen Verhältnisse einzugreifen. Seine Erbansprüche wurden jedoch von den französischen Großen, die die Erbfolge der Valois unterstützten, bestritten. In dem nun folgenden langandauernden Krieg gelang es der englischen Krone - begünstigt durch den Übertritt Burgunds (1419) und seit 1472 durch die Schwäche des in seiner Legitimation umstrittenen Dauphin Karl - , Frankreich bis zur Loire-Linie zu unterwerfen. Am 7. Okt. begann die Belagerung der strategisch wichtigen Stadt Orléans, mit deren Befreiung der Name Johannas unlösbar verbunden ist. 2.

Leben

Johanna wurde wahrscheinlich 1412 als Tochter nicht ganz armer Bauern in dem auf dem linken Maasufer gelegenen Dorf Domrémy an der Grenze Lothringens geboren. Der Ort gehörte und bekannte sich zum Herrschaftsbereich des Dauphin Karl, während ein Nachbarort bereits unter burgundischem Einfluß stand. Nach einer als harmonisch beschriebenen Kindheit entdeckte Johanna im Sommer 1425 als 13-jährige - vielleicht unter Einfluß von Ubergriffen gegnerischer Truppen auf das Dorf - ein von ihr zuerst als Geheimnis gehütetes besonderes Sendungsbewußtsein. Sie gab später an, Stimmen von Engeln und Heiligen gehört zu haben, die ihr rieten, nach Frankreich zu gehen und Karl in seinem Abwehrkampf zum Sieg zu führen. Im Februar 1429 wurde sie in Chinon an der Vienne nach zahlreichen, auch körperlichen Untersuchungen, in denen u.a. ihre Jungfräulichkeit bestätigt wurde, von dem innerlich und äußerlich bedrängten Dauphin empfangen, den sie mit den Worten begrüßt haben soll: „Clarissime domine Dalphine, ego veni et sum missa ex parte Dei, ad praebendum adjutorium vobis et regno" [Erlauchter Dauphin, ich bin gekommen, von Gott gesandt, um Hilfe zu bringen - Euch und dem Königreich Frankreich] (Quicherat III, 17 [im folgenden: Q]). Sie erhielt die ungewöhnliche Erlaubnis, in Männerkleidern und bewaffnet mit den Soldaten in die Schlacht zu ziehen, wobei nicht geklärt werden kann, ob die Überzeugungskraft Johannas, religiöse Empfindungen des Dauphin vor dem Hintergrund alter Legenden oder nur propagandistische Überlegungen für diesen Entschluß maßgebend gewesen sind. „Jehanne la Pucelle", wie sie sich selbst nannte, war dann am 29. April 1429 an der Befreiung von Orléans beteiligt, dessen Eroberung den verbündeten Engländern und Burgundern den Weg in das letzte Zufluchtsgebiet Karls öffnen sollte. Obgleich nicht zu Planungs- und Lenkungsaufgaben hinzugezogen, scheint sie in einigen entscheidenden Phasen die Initiative der Kampfesführung an sich gerissen zu haben. Nach ihrer Beteiligung an weiteren Siegen befand sie sich im Geleit des Dauphin, als dieser als Karl VII. im Juli 1429 in der bisher von Engländern besetzten alten Krönungsstadt Reims, wie von ihr prophezeit, mit dem heiligen Öl gesalbt wurde. Nach diesem Höhepunkt verblaßte Johannas Glanz rasch: Im Gefolge des Königs hatte sie kaum Freunde, und ein Vorstoß auf Paris scheiterte noch im Herbst des gleichen Jahres. Im März 1430 eilte sie dem belagerten Compiègne zu Hilfe, wurde in der Nähe jedoch von Burgundern gefangengenommen und einige Monate später an die Engländer ausgeliefert. In dem vom 21.2. bis 24.5.1431 in Rouen stattfindenden

Johanna von Orléans

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Ketzerprozeß berief sich Johanna auf die Autorität Gottes und der Heiligen und bekannte sich zu ihrer Sendung. Um ihr Leben zu retten, widerrief sie am 24. Mai, nahm den Widerruf jedoch zurück, als ihr lebenslange Haft angekündigt wurde. Daraufhin wurde sie als rückfällige Ketzerin am 30. Mai 1431 in Rouen verbrannt. 3. Persönlichkeit

und

Wirkung

Johannas Persönlichkeit ist nicht zu begreifen ohne ihren unbedingten Glauben an Gott und die Göttlichkeit ihrer Sendung. In ihrer schlichten und ungebrochenen Frömmigkeit bewegte sie sich innerhalb der Vorstellungswelt der kleinen Leute ihrer Zeit; die Bindung an die Amtskirche und das Papsttum traten gegenüber diesem elementaren Glauben an Gott, Maria und die Heiligen ganz zurück (Tisset 1,166f; Q I,174f). Typisch für die Sicherheit, Selbstverständlichkeit und „Heilsgewißheit" (B. Hilliger) ihres Glaubens ist die in den Prozeßakten bezeugte Aussage: „Dixit ulterius quod venit ex parte Dei et non habet hic negociari quicquam, petens ut remicteretur ad Deum a quo venerat" [Ich bin von Gott gekommen und habe hier nichts zu schaffen. Schickt mich zurück zu Gott, von dem ich gesandt bin] (Tisset 1,57; Q 1,61). Neben diesem unangefochtenen und sehr persönlichen Glauben an Gott und seine Heiligen war ihr Wesen bestimmt von einer ebenso persönlichen Verehrung und Liebe zum französischen Königshaus. Die Treue zu Karl VII. entwickelte sich bereits in ihrer Jugend, wobei sich religiöse und politische Gesichtspunkte überlagern. Der moderne Nationenbegriff, den J. Michelet, A. de Lamertine und Fr. Sieburg betonen, spielt dagegen in ihrem Denken keine Rolle. Ihr Aufstieg und ihre Ausstrahlung wären schließlich nicht möglich ohne den Mut, die Gradlinigkeit und Durchsetzungskraft ihres Handelns. Sie wirkt in ihrer seelischen Haltung - unabhängig von der Bewertung der Stimmen - nüchtern, realistisch und frei von Überspanntheit und Aberglaube (s. z.B. Q 1,88f.100.178.187; 11,85ff; IV,290). Johannas unmittelbare Wirkung auf ihre Umgebung liegt in der Siegesgewißheit, die sie verkörperte und ausstrahlte und die sich die königliche Propaganda auch geschickt, wie J. Cordier nachgewiesen hat, zur Stärkung der Kampfbereitschaft zunutzemachte. Schon zu Lebzeiten galt sie für viele einfache Leute als Symbol der Rechtmäßigkeit der Ansprüche Karls VII. gegenüber den fremden Engländern und als Garant des Sieges. Nach dem als Wunder gepriesenen Sieg von Orleans wurde ihre Gestalt bereits zu Lebzeiten legendenhaft ausgeschmückt. Seit der Revolution entwickelte sie sich in der Erinnerung zur Personifizierung des französischen Nationalbewußtseins und zur Nationalheiligen. 4. Zur

Forschungsproblematik

Die Bemühungen der Forschung sind bis heute bestimmt von dem Versuch, das Außergewöhnliche am Leben Johannas, die Tatsache, daß eine junge Frau, zudem nicht der adeligen Führungsschicht angehörend, aufgrund einer inneren Berufung eine Rolle am Hofe spielen und, mehr noch, in Männerkleidung und bewaffnet an Kämpfen teilnehmen konnte, zu verstehen und einzuordnen. Manche Forscher verlassen jedoch in dem verständlichen Bemühen, rationale Erklärungen für die außergewöhnliche Lebensgeschichte anzubieten, den Boden einer sachlichen Quellenauswertung. So stützt sich die Theorie, Johanna sei nicht das einfache Bauernmädchen, sondern in Wirklichkeit als außereheliche Tochter des Herzogs Ludwig von Orleans und der Gemahlin Karls VI., Isabella, eine Halbschwester Karls VII., dem sie dieses Geheimnis in Chinon anvertraut habe, auf eine überzogene Auswertung unklarer und zumeist legendenhafter Quellen (Q IV,277f.257ff. 271; vgl. A. Kröning 243ff). In die gleiche hypothetische und spekulative Richtung geht die etwa von G. Pesme vertretene Behauptung, eine andere Frau sei an Johannas Stelle verbrannt worden, sie selber habe im Jahre 1436 unter einem anderen Namen einen Bruder eines ihrer Kampfgefährten geheiratet. Auch die unlängst von W. Rost mit Hilfe medizinischer Gutachten erstellte These, Johanna sei eine „männliche Jungfrau", also genetisch ein Mann, hilft wenig, das außergewöhnliche Lebensschicksal der Johanna zu erklären.

Johannes X X I I .

109

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Hartmut Steinbach Johannes X X I I . , Papst

(7.8.1316-4.12.1334)

(Quellen/Literatur S. 112)

J o h a n n e s X X I I . , römischer Papst, 7 . 8 . 1 3 1 6 - 4 . 1 2 . 1 3 3 4 , geb. um 1245 Cahors, gest. Avignon, vor der Wahl: Jacques Duèze, intensives Studium der Theologie und der Kanonistik; politische Verbindungen nach Neapel zum Königshof der Anjou; 1300 Bischof von Fréjus, 1310 Bischof von Avignon, 1312 Kardinalbischof von Ostia. Nach dem T o d e - » C l e m e n s ' V . folgte eine lange Sedisvakanz infolge der Zusammensetzung des Kardinalskollegs aus siebzehn Franzosen und sieben Italienern. Erst zwei J a h r e später k o n n t e unter dem D r u c k des Bruders des französischen Königs, des G r a f e n von Poitiers, eine Papstneuwahl erfolgen. Sie fiel am 7. August 1316 auf den zweiundsiebzigjährigen Kardinalbischof von O s t i a . G r ö ß t e Erfahrungen brachte er in Fragen der Politik und Verwaltung mit, nicht zuletzt aufgrund der T a t s a c h e , daß er 1 3 0 8 - 1 3 1 0 Kanzler des Königs Karl II. von N e a p e l gewesen war. Die Kurie fand er in einem desolaten Zustand vor. In Lyon fand am 5. September 1316 in G e g e n w a r t des französischen Königs in ungewohnter Feierlichkeit die Papstkrönung statt. I m O k t o b e r nahm J o h a n n e s X X I I . dann in Avignon seinen Sitz, das für die nächsten sechs J a h r z e h n t e Sitz des Papsttums blieb.

Sein langer Pontifikat stand eindeutig unter dem Vorzeichen der Politik, die für bzw. von Frankreich und für Anjou in Süd- und Mittelitalien im wesentlichen gemacht wurde. Für Italien hieß es Zurückdrängung und Ausschaltung des Imperiums; insofern war J o hannes mittelbar das Haupt der Guelfen als einer der in Italien virulenten politischen Gruppen. Die Auseinandersetzung zwischen Johannes und dem römischen Kaiser erwies sich als unausweichlich und dauerte trotz den Rekonziliationsverhandlungen über seinen Pontifikat hinweg. J o h a n n e s ' Absicht kam entgegen, daß 1314 im Reich eine Doppelwahl stattgefunden hatte, aus der der Wittelsbacher Ludwig von Oberbayern ( - » L u d w i g IV.) und der Habsburger Friedrich der Schöne hervorgingen. Im Sinne der hierokratischen T h e o r i e behandelte J o h a n n e s sie als electi, für die ihm die Approbation eines der beiden zukäme. In Italien aber griff er auf den Reichsvikariatsanspruch seines Vorgängers zurück und verbot den aus Heinrichs VII. Tagen noch tätigen Vikaren die Amtsausübung. Den König R o b e r t von Neapel setzte er zum Reichsvikar für das gesamte Italien ein. Z u r Durchsetzung dieser Politik griff er auch zum Einsatz geistlicher Strafmittel bis zur Ketzerdeklarierung, E x k o m m u n i k a t i o n und Verhängung des Interdikts. Unerbittlich verlangte J o h a n nes die gewaltsame Beseitigung der Herrschaft der Visconti in M a i l a n d und in der L o m bardei. Dabei ging er so weit, contra hereticos et rebelles partium Italiae den Kreuzzugsablaß zu gewähren. Die Italienpolitik war auch die tiefere Ursache für die verbissene Auseinandersetzung mit Ludwig dem Bayern, nachdem dieser sich 1322 gegenüber Friedrich dem Schönen behauptet hatte. J o h a n n e s betrachtete Ludwig auch weiterhin nur als electus. Als Ludwig einen Generalvikar für die italienischen Reichsgebiete ernannt hatte, forderte J o h a n n e s ihn im O k t o b e r 1323 unter Androhung des Bannes auf, innerhalb von drei M o n a t e n die Reichskrone anzulegen, bis die Entscheidung über die T h r o n f o l g e

110

Johannes X X I I .

durch ihn erfolgt sei. Ludwig der Bayer appellierte im Dezember 1323 in Nürnberg dagegen an ein allgemeines Konzil, wobei er Johannes der Ketzerbegünstigung beschuldigte; er erneuerte seine Appellation am 22. Mai 1324 in Sachsenhausen, wobei er dem Papst mißbräuchliche Verwendung kirchlicher Strafmittel vorwarf und ihn wegen der Entscheidung im Armutsstreit (s. u.) als formellen Häretiker, der nicht mehr rechtmäßig Papst sei, bezeichnete. Johannes nannte Ludwig fortan Bavarus, nicht mehr electus. Mit dieser Frontbildung kam es zum dritten und letzten großen Streit des Mittelalters zwischen sacerdotium und imperium (-»Kaisertum und Papsttum). Johannes sprach in der Eskalation des Streites Ludwig die Fähigkeit ab, den deutschen Thron zu besteigen, und verhängte auch über dessen Anhänger Exkommunikation und -»Interdikt, was zu einer weitgehenden, ins 16. Jh. weisenden Abschnürung des deutschen Sprachraumes von der päpstlichen Kurie führte, verstärkt durch die Tatsache, daß im Kardinalskollegium kein Deutscher vertreten war. Der Kampf fand in einer Vielzahl von Streitschriften Niederschlag. Diese politische Auseinandersetzung ist mit innerkirchlichen Konflikten verquickt worden. Johannes hatte wie schon Vorgänger auf der cathedra Petri die Spiritualen (-»Franziskaner), die mit der Kurie den Streit um die Ausdehnung der franziskanischen Armutsversplichtung austrugen, durch Gesetz unterdrücken und verfolgen lassen. Im theoretischen Armutsstreit zwischen den Dominikanern und Franziskanern äußerte er sich gegen die unter diesen verbreitete Ansicht, daß Christus und die Apostel weder im Einzelfall noch gemeinsam Eigentum besessen hätten. Deshalb verkündete 1322 ein Generalkapitel der Franziskaner in Perugia, daß der Satz katholische Lehre sei. Johannes erklärte daraufhin, daß Eigentumsrecht des Apostolischen Stuhls am Besitz des Ordens nicht bestehe. Im Dekret cum inter nonnullos vom November 1323 verwarf er die Behauptung der Armut Christi und der Apostel als häretisch. Eine um den Ordensgeneral Michael von Cesena (gest. 1342) gescharte Minderheit des Ordens hielt ihrerseits diese Meinung des Papstes für häretisch. Der Streit, der den Pontifikat des Johannes unentschieden überdauern sollte, veranlaßte Michael von Cesena ebenso wie die Franziskaner Bonagratia von Bergamo (gest. 1340) und -»Wilhelm von Ockham 1328 zu dem in gesteigertem Kampf gegen Papst Johannes befindlichen Kaiser Ludwig Zuflucht zu nehmen.

Das prominenteste Beispiel politischer Streitschriften-Literatur bot —»Marsilius von Padua mit seinem Werk defetisor pacis, das Ludwig dem Bayern gewidmet war und radikalste Thesen über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt enthielt. Als Grundübel brandmarkt Marsilius den Anspruch des Papstes auf die plenitudo potestatis (vgl. -»Augustinus Triumphus). Nach Marsilius überträgt das Volk die Ausübung der Gewalt einem Herrscher. Die Gewalt der Kirche ist delegiert. Der Primat des römischen Bischofs wird abgestritten. Johannes XXII. hat am 23. Oktober 1327 fünf Sätze aus dem defensor pacis verurteilt, ohne damit der Verbreitung der Schrift Abbruch zu tun; im Gegenteil, Ludwig der Bayer versuchte Vorstellungen des Marsilius in praktische Politik umzusetzen. Mit seinem Romzug folgte er dem Ruf der päpstlichen Gegenpartei, der Ghibellinen. Nach einem jubelnden Empfang in Rom ließ er sich am 17. Januar 1328 unter kirchlichem Beistand zweier exkommunizierter Bischöfe von Sciarra Colonna im Namen des römischen Volkes in St. Peter die Kaiserkrone aufs Haupt setzen. In einer Versammlung des römischen Volkes erklärte der neue Kaiser Johannes X X I I . wegen Häresie für abgesetzt. Am 11. Mai 1328 wählte das römische Volk einen neuen Papst, den Minoriten Reinalducci aus Corvaro, der sich als (Gegen-)Papst den Namen Nikolaus V. gab. Johannes XXII. konnte aber, als Ludwig Rom verlassen hatte, Nikolaus V. zur Reise nach Avignon veranlassen und ihn dort 1330 zur Abdankung bewegen. Johannes hat es aber auch in anderer Hinsicht nicht daran fehlen lassen, seinem Gegner Angriffsmöglichkeiten zu bieten. Die Tendenz, das inkriminierte Treiben von angeblichen - » H e x e n unter Häresieverdacht zu stellen und Inquisitionsprozessen zu unterwerfen, veranlaßte 1326 den von Hexenangst getriebenen Johannes dazu, in der Bulle super illius specula die Zauberer ausdrücklich dogmatischen Ketzern gleichzustellen. Die Ketzergerichtsbarkeit der -»Inquisition zog daraufhin auch die Hexenverfolgung an sich. 1331 erörterte Johannes in Predigten die Frage, ob die Gerechten alsbald nach dem Tode oder erst nach dem Weltgericht zur Anschauung Gottes gelangen würden. Er ging

J o h a n n e s XXII.

Ili

davon aus, d a ß die A n s c h a u u n g Gottes erst nach d e m Weltgericht einträte. D a m i t rief er starken Widerspruch hervor; die Universität - » P a r i s und ein Teil der Kardinäle stellten sich gegen ihn, weshalb er sich genötigt sah, seine Ansicht zu widerrufen. Seine Predigttätigkeit ist in über dreißig Predigten z.T. als A u t o g r a p h e n überliefert. Meist handelt es sich um Marienpredigten mit unverhohlener Kritik an der Lehre von der conceptio immaculata ( - » M a r i a ) , aber auch um Stellungnahmen zur Politik. Den Weg seiner großen Vorgänger - » I n n o c e n z IV. und Bonifaz XIII., neues Recht zu setzen, ging J o h a n n e s weiter. Er w u r d e mit seinen Dekretalen zum E x p o n e n t e n des unerbittlich politisierenden Papsttums. So h a t er auch die seit dem 13. Jh. von der Kurie beanspruchten Rechte auf dem Gebiet der Ehedispense mit größter Parteilichkeit f ü r seine politischen Ziele eingesetzt. Auch die Verhängung kirchlicher Strafen aus rein politischen G r ü n d e n und willkürliche G e w ä h r u n g oder Verweigerung von —»Dispensen werden durch necessitas et utilitas ecclesiae oder d u r c h utilitas publica bemäntelt. In verhängnisvoller Gleichsetzung w u r d e die Politik mit der Kirche identifiziert wie die Hierarchie mit der Religion. J o h a n n e s ' Pontifikat ist der H ö h e p u n k t des hierokratischen Systems. Als gelehrter Kanonist n a h m er 1317 die Publizierung der revidierten Dekretalen bis einschließlich Clemens V. unter der Bezeichnung Clementinen (-» Kirchenrechtsquellen) vor, die auch zwei Dekretalen hochpolitischen Inhalts enthielten, nämlich Romani principes mit d e m A n s p r u c h der päpstlichen A p p r o b a t i o n der deutschen Königswahl und pastoralis cura mit der Feststellung der Lehensabhängigkeit des Königs von Neapel vom Heiligen Stuhle. Die Organisation der —>Kurie h a t J o h a n n e s weiter ausgebaut. Für Kanzlei u n d R o t a regelte er in Kanzleiordnungen 1331 den G e s c h ä f t s g a n g , vor allem a u c h die G e b ü h r e n f ü r die Kanzlei, den auditor litterarum contradictarum u n d die R o t a . Unter J o h a n n e s beginnt auch der confessor (Beichtvater) eine Rolle zu spielen. Er h a t t e die päpstlichen G e m ä c h e r zu beaufsichtigen u n d a n d e r e Tätigkeiten zu erledigen, die aber wegen dessen Vertrauensstellung selten genau definierbar sind. Ferner fungierten Sekretäre f ü r die päpstliche K o r r e s p o n d e n z u n d R e f e r e n d a re, welche d e m Papst wichtige Schriftstücke v o r t r u g e n u n d allmählich der Kanzlei eingegliedert w u r d e n . In der s o g e n a n n t e n K a m m e r schlössen sich die f ü r die S c h r i f t f ü h r u n g zuständigen K a m m e r kleriker z u s a m m e n (siebenköpfiges Kolleg).

Der Organisation der Z e n t r a l e k o r r e s p o n d i e r t e die Einteilung der Gesamtkirche in regionale fiskalische Bereiche (Kollektorien) zur Eintreibung der E i n n a h m e n . Die Kurialen w u r d e n seit J o h a n n e s d u r c h Geld entlohnt. Eine Steigerung des G e l d b e d a r f s durch die Kurie verursachten auch die Vergrößerung des Personals und der h ö h e r e L e b e n s a u f w a n d der Kardinäle und des Papstes. Unter J o h a n n e s begann die effektivste fiskalische Erfassung der Gesamtkirche d u r c h das P a p s t t u m . Z u diesem Z w e c k erweiterte J o h a n n e s mit der Konstitution ex debito 1316 die R e s e r v a t i o n e n . Auch die Verleihung niederer P f r ü n d e n (-»Beneficium) w u r d e i m m e r häufiger an die Kurie verlegt u n d d o r t finanziell genutzt, w a s zu P f r ü n d e n h ä u f u n g f ü h r t e , die J o h a n n e s 1317 d u r c h die Konstitution execrabilis zu u n t e r b i n d e n suchte, in der Weise, d a ß der I n h a b e r einer mit Seelsorge v e r b u n d e nen P f r ü n d e , beneficium cum cura, n u r noch eine P f r ü n d e o h n e Seelsorgepflichten, beneficium sine cura, haben d u r f t e . J o h a n n e s hielt sich aber an seine eigene Vorschrift selbst nicht, er verschlimmerte die Situation n o c h d u r c h die Vergabe zahlreicher E x s p e k t a n z e n . Die E r h e b u n g von A n n a t e n steigerte er 1326 d a h i n g e h e n d , d a ß f ü r alle an der Kurie v a k a n t e n P f r ü n d e n A n n a t e n zu zahlen w a r e n , wobei alle ab 25 G u l d e n jährlichen E i n k o m m e n s e r f a ß t w a r e n . Es ergaben sich so vier E i n k u n f t s a r t e n : Servitien, A n n a t e n , Spolien u n d I n t e r k a l a r f r ü c h t e . J o h a n n e s h a t d a s meiste e i n g e n o m m e n e Geld zur D u r c h s e t z u n g politischer Ziele a u f g e w a n d t , so durchschnittlich zwei Drittel f ü r K r i e g f ü h r u n g u n d ein k n a p p e s Z w a n z i g s t e l f ü r V e r w a n d t e u n d F r e u n d e .

Liturgisch h a t J o h a n n e s auf dem Gebiet der - * K i r c h e n m u s i k 1323/25 durch die Konstitution docta SS. Patrum e i n g e w i r k t - d i e erste auf musikalisch-technische Fragen eingeh e n d e päpstliche Verlautbarung dieser Art. Die W i r k s a m k e i t dieses Papstes h a t sich auch auf die Missionsarbeit im N a h e n und Fernen Osten d u r c h starke F ö r d e r u n g ausgewirkt. Persönlich ist J o h a n n e s von tiefer Frömmigkeit und vorbildlicher Sittenstrenge gewe-

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Johannes XXII.

sen. Auch Anspruchslosigkeit persönlicher Art zeichnete ihn aus. D e m N e p o t i s m u s hat er wie seine Vorgänger gehuldigt. D a s französische Übergewicht im Kardinalskollegium und die Etablierung des Papsttums in Avignon hat er weiter gesteigert. Innerkirchlich waren die Entscheidungen, 1326 verschiedene Schriften des P. J. —•Olivi und 1329 26 Sätze des Meister —>Eckhart durch die Bulle in agro dominico zu verurteilen, v o n Bedeutung. Insgesamt entsprechen seine M a ß n a h m e n d e m zentralistischen Denken, das unter dem Vorzeichen des päpstlichen Hierokratismus z. T. zu einem unheilvollen Fiskalismus führte. Wenn Johannes 1317 a m 25. Oktober durch die Bulle quoniam nulla die revidierten Clementinen publizierte, so wurden später zwanzig seiner Dekretalen als Extravaganten d e m Corpus iuris canonici einverleibt (->Kirchenrechtsquellen). Quellen Jean XXII. Lettres communes. Hg. v. Guillaume Mollat, 16 Bde., Paris 1904-1946. - Kaiser, Volk u. Avignon. Ausgew. Quellen zur antikurialen Bewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 14. Jh. Hg. v. O. Berthold/K. Czok/W. Hofmann, Berlin 1960 (Leipziger Übers, u. Abh. zum MA, R. A III). - Lettres de Jean XXII. Hg. v. A. Fayen, 2 Bde., Rom 1908-1909. - Lettres secrètes et curiales du pape Jean XXII. relatives à la France. Hg. v. A. Coulon/S. Clemencet, 1900-1965. - Die Protokollbücher der päpstlichen Kammerkleriker 1329-1347. Hg. v. H. Schröder: AKG 27 (1937) 121-286.-Vatikanische Akten zur dt. Gesch. in der Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern. Hg. v. Sigmund Riezler, Innsbruck 1891. Literatur B. Aistermann, Beitr. zum Konflikt Johannes XXII. mit dem dt. Königtum, Diss. Freiburg/Bonn 1909. - J. Asal, Die Wahl Johanns XXII., Berlin/Leipzig 1919. - St. Baluze/Guillaume Mollat, Vitae paparum Avenionensium I., Paris 1916. - Friedrich Bock, Stud. zum politischen Inquisitionsprozeß Johanns XXII.: QFIAB 26 (1936/36) 21-142. - Ders., Die Appellationsschr. König Ludwigs IV. in den Jahren 1323/24: DA 4 (1940) 179-205. - Ders., Reichsidee u. Nationalstaaten, München 1943. Ders., Politik u. kanonischer Prozeß zur Zeit Johanns XXII.: ZBLG 22 (1959) 1 - 1 2 . - D. Douie, John XXII. and the Beatific Vision: DomSt 3 (1950) 154-174. - G. Dürrholder, Die Kreuzzugspolitik unter Papst Johannes XXII., Diss. Straßburg 1913. - A. Esch, Die Ehedispense Johanns XXII. u. ihre Beziehung zur Politik, Berlin 1929. - Hans Erich Feine, Kirchl. Rechtsgesch. I, Die kath. Kirche, Köln/Graz 5 1972. - Karl August Fink, Von Johann XXII. zu Clemens VI.: HK.G (J) III/2,384-393. August Franzen/Remigius Bäumer, Papstgesch., Freiburg i.Br. 1974, 242-247. - G. Frotscher, Die Anschauung v. Papst Johannes XXII. über Kirche u. Staat, Jena 1933. - E. Göller, Die Einnahmen der Apost. Kammer unter Johann XXII., Paderborn 1910. - Bernard Guillemain, La cour pontificale d'Avignon, Paris 1962. - F . Lackner, Zur Eschatologie bei Johann XXII.: ZKTh 72 (1950) 326-332. Carl August Lückerath, Zu den Rekonziliationsverhandlungen Ludwigs des Bayern: DA 23 (1971) 222-231. - Ders., Päpstliche Approbation: H R G 3 (1984) 317-321. - Jürgen Miethke, Kaiser u. Papst im Spätma.: ZHF 10 (1983) 421-446. - Paul Mikat, Art. Johannes XXII: LThK 2 5 (1960) 993 - 994. - Guillaume Mollat, Les papes d'Avignon, Paris 10 1965. - Ders., Art. Jean XXII.: DThC 8 (1937) 633-641. - H. Otto, Zur ital. Politik Johanns XXII: QFIAB 14 (1911) 140-265. - Edith Pâsztor, Una raccolta di sermoni di Giovanni XXII: Bollettino dell'Archivio paleografico italiano 2 - 3 (1956/57) 265-289. - Willibald M. Plöchl, Gesch. des Kirchenrechts, 3 Bde., Wien 2 1969-1970. - Friedrich Prinz, Marsilius v. Padua: ZBLG 39 (1976) 39-77. - Sigmund Riezler, Die lit. Widersacher der Päpste zur Zeit Ludwigs des Bayern, Leipzig 1874. — E. Sol, Un des plus grands papes de l'histoire Jean XXII., Paris 1948. - K.H. Schäfer, Die Ausgaben der Apost. Kammer unter Johann XXII., Paderborn 1911. - Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum, Darmstadt 1984, 223-234. Alois Schütz, Der Kampf Ludwigs des Bayern gegen Papst Johannes XXII. u. die Rolle der Gelehrten am Münchener Hof: Wittelsbach u. Bayern, München, I 1980,388-397. - Ders., Die Prokuratorien u. Instruktionen Ludwigs des Bayern für die Kurie (1331-1345), Kallmünz 1973. - Hermann Otto Schwöbel, Der diplomatische Kampf zwischen Ludwig dem Bayern u. der röm. Kurie im Rahmen des kanonistischen Absolutionsprozesses, Weimar 1968. - Edmund Ernst Stengel, Avignon u. Rhens, Weimar 1930. - Giovanni Tabacco, La casa di Francia nell'azione politica di papa Giovanni XXII, Rom 1953. Carl August Lückerath

Johannes XXIII. Johannes XXIII., Papst 1. Leben und Werk S. 117)

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(1958-1963)

2. Vatikanum II

3. Letztes Wirken

4. Würdigung

(Quellen/Literatur

1. Leben und Werk 1.1. Jugend und Ausbildung. Angelo Giuseppe Roncalli entstammte einer kinderreichen Familie und wurde am 25. November 1881 in Sotto il Monte (Bergamo), einem kleinen Dörfchen der lombardischen Voralpen, geboren; seine Eltern, Giovanni Battista und Marianna Mazzola, waren einfache Bauern. Er erhielt seine erste Bildung und religiöse Erziehung in der eigenen Familie durch seinen Onkel Zaverio und in der Pfarrei, wo ihn der Pfarrer Rebuzzini mit der Imitatio Christi bekannt machte. Von 1892 bis 1900 besuchte er das Seminar der Diözese Bergamo und 1901 konnte er mit Hilfe eines Stipendiums am Römischen Seminar in Rom sein Theologiestudium fortsetzen. Von November 1901 bis November 1902 leistete er den Grundwehrdienst ab. Sein Beichtvater im Römischen Seminar war der Redemptorist Francesco Pitocchi, der ihn entscheidend prägte. Außerdem hatte er Lehrer von Rang, wie Umberto Benigni, und zu seinen Mitschülern zählten E. -»Buonaiuti, Francesco Borgongini-Duca und Eugenio Pacelli. Gärungsprozesse in Gesellschaft und Theologie kennzeichneten diese Jahre und erweckten in Roncalli besonderes Interesse an der Geschichte. Er beendete das Theologiestudium im Juli 1904 und wurde einen Monat später zum Priester geweiht. Der neue Bischof von Bergamo, Monsignore Giacomo Radini-Tedeschi, machte ihn zu seinem Sekretär und behielt ihn ohne Unterbrechung in seinem Dienst bis zu seinem frühzeitigen Tode im August 1914. 1.2. Erste Praxis. Radini galt als einer der erleuchtetsten Bischöfe seiner Zeit. In der Zusammenarbeit mit ihm und unter seiner Leitung erwarb sich Roncalli eine umfassende pastorale Praxis. Er unterrichtete Kirchengeschichte am Seminar, leitete und redigierte das Diözesanbulletin, begleitete Radini bei avantgardistischen sozialen Initiativen und häufigen Zusammenkünften mit europäischen Prälaten, war Sekretär der Diözesansynode von 1910 und der Pastoralvisitation ( 1 9 0 5 - 1 9 0 9 und 1 9 1 1 - 1 9 1 4 ) . Aus diesen Jahren ist ein Vortrag von 1907 zur Zentenarfeier des Cacsare Baronius (-»Kirchengeschichtsschreibung) hervorzuheben, in welchem Roncalli auf die Bedeutung des Geschichtsstudiums hinwies und die Legitimität der induktiven Methode vertrat; in diese Zeit fielen ferner die Vorarbeiten für die Herausgabe der Visitationsakten C. —»Borromeos in Bergamo von 1575 und der Entwurf des gemeinsamen Briefes der lombardischen Bischöfe von 1912 anläßlich der Jubiläumsfeier des Konstantinischen Edikts. Radinis Tod traf Roncalli sehr schmerzlich, und er fühlte nun die Verpflichtung, seinem Vorbild nachzueifern. Davon zeugt eine liebevolle Biographie, die 1916 erschien, während er ( 1 9 1 5 - 1 9 1 8 ) im Weltkrieg Militärdienst leistete. Nach Beendigung des Krieges und seines Dienstes als Militärseelsorger beauftragte ihn der neue Bischof von Bergamo mit der geistlichen Leitung des dortigen Seminars und übertrug ihm die Verantwortung für ein Studentenheim. Trotz der Leidenschaft, mit der Roncalli solche Aufgaben erfüllte, blieb sein Verhältnis zu Monsignore Marelli unbefriedigend, und so setzten sich Anfang 1921 ehemalige Mitschüler des Römischen Seminars dafür ein, daß er als Italiens Präsident des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung nach Rom berufen wurde. Durch Kardinal Ferraris Zuraten ermutigt, entschloß er sich, Bergamo zu verlassen.

1.3. Apostolischer Visitator und Nuntius. Im November 1924 war Roncalli zum Professor für Patristik an der Päpstlichen Lateranhochschule ernannt worden, doch bereits im Februar des folgenden Jahres sandte ihn -»Pius XI. als apostolischen Visitator nach Bulgarien. Vor seiner Abreise, am 19. März 1925, empfing er die Bischofsweihe. Entgegen den Zusicherungen, die er ursprünglich erhalten hatte, blieb er bis Ende 1934 in Sofia (ab 1931 als apostolischer Delegat). Einsamkeit, bisweilen auch Gefühle des Unvermögens begleiteten ihn durch diese Jahre. Dennoch nutzte er sie zur Horizonterweiterung, lernte das orthodoxe Christentum kennen und entwickelte ökumenische Sensibilität. Als apostolischer Delegat (auch für Griechenland) in die Türkei versetzt, verbrachte er das Jahrzehnt von 1935 bis 1944 in Istanbul und gewann neue Perspektiven in der Berührung mit einer nichtchristlichen Kultur. Sein Status als päpstlicher Diplomat bekam während des Zweiten Weltkrieges unerwartete Bedeutung, sowohl durch die Kontakte, die ihm möglich waren, als auch dadurch, daß er vielen Juden zur Ausreise aus den vom Nationalso-

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Johannes XXIII.

zialismus beherrschten Gebieten verhelfen konnte. In diesem Zusammenhang knüpfte er auch Beziehungen zu dem deutschen Botschafter und Vertreter der konservativen Katholiken, Franz von Papen, an, von dem er sogar recht dreiste Angebote und Annäherungsversuche nach Rom übermittelte. Wie seine Depeschen an den Heiligen Stuhl zweifellos bezeugen, maß er seiner eigenen Stellung vorwiegend pastorale und weniger politischdiplomatische Bedeutung zu. Die Korrespondenz aus diesen Jahren liefert viele interessante Angaben nicht nur über Roncallis Tätigkeit, sondern auch über seine Lektüre sowie Reflexionen über seine innere Entwicklung. Vorherrschend waren dabei seine stets gleichbleibende Heiterkeit und die im Umgang mit der Bibel und den Vätern vertiefte Theologie des Kreuzes. Ende 1944, als die Regierung De Gaulle den Abzug des Nuntius Valeri aus Paris sowie die Substitution zahlreicher, der Kollaboration mit der NS-freundlichen Regierung beschuldigter französischer Bischöfe verlangte, sah sich -»Pius XII. gezwungen, in großer Eile einen neuen Nuntius für Frankreich zu benennen. Seine Wahl fiel aus noch unbekannten Gründen auf Roncalli und traf diesen völlig unerwartet. So kam es, daß ein apostolischer Delegat niederen Ranges sich innerhalb weniger Tage zum Repräsentanten des Papstes in der angesehensten und bedeutendsten Metropole der Nachkriegszeit erhoben sah. Frankreich war auch vom kirchlichen Standpunkt aus gesehen eines der lebendigsten katholischen Gebiete; denn hier manifestierte sich in besonderer Weise das Drängen nach theoretischer (tbéologie nouvelle), apostolischer (Arbeiterpriester) und pastoraler Erneuerung. Vieles gärte unter der Oberfläche, und der Nuntius lernte in den sieben Pariser Jahren aus eigener Anschauung die zentralen Probleme im Nachkriegsfrankreich kennen und konnte sie mit der Randproblematik vergleichen, die er in Bulgarien und der Türkei erfahren hatte. Auch hier diente Roncallis Anwesenheit mehr pastoralen als diplomatischen Aufgaben; zahlreiche Reisen führten ihn durch das ganze Land und 1950 auch nach Algerien. In der Zwischenzeit war es Roncalli gelungen, das Problem jener der Kollaboration bezichtigten Bischöfe zu lösen und die Zahl der Substitutionen auf drei zu begrenzen. Nebenbei arbeitete er laufend an seinen schon 1895 begonnenen geistlichen Aufzeichnungen, die nach seinem Tode unter dem Titel Geistliches Tagebuch veröffentlicht werden sollten. 1.4. Kardinal von Venedig. Gegen Ende 1952 starb unerwartet der Patriarch von Venedig, Monsignore Agostini. Daraufhin bot Pius XII. Roncalli durch Monsignore Montini die Nachfolge an. Roncalli wurde, bevor er Paris verließ, am 12. Januar 1953 zum Kardinal ernannt und empfing das Barett aus der Hand des sozialistischen Präsidenten der Republik. Am 15. März 1953 hielt er in Venedig seinen feierlichen Einzug als Patriarch und erreichte damit im Alter von 72 Jahren das Ziel, das ihm sein Leben lang vorgeschwebt hatte: sich unmittelbar und ausschließlich seelsorgerischen Aufgaben widmen zu können. Als Patriarch verwaltete er sein Amt ganz im Zeichen der Versöhnung in der durch das strenge Regiment seines Vorgängers zermürbten Diözese. Gegenüber nicht an die Kirche gebundenen gesellschaftlichen und politischen Kreisen verhielt er sich wohlwollend. Er wollte „Vater und Hirt", nicht „ H e r r " seiner Kirche sein. Selbst den venezianischen Episkopat, der von jeher ziemlich verschlossen war, vermochte er zu beeinflussen und in der italienischen Bischofskonferenz vertrat er eine Linie der Milde und der konsequenten biblischen Ausrichtung. Aufgrund seiner Anordnung wurde die Exkommunikation der Kommunisten von 1949 in seiner Diözese sehr gemäßigt angewandt. 1.5. Konklave und Beginn des Pontifikats. Als im Herbst 1958 Pius XII. starb (9. Oktober), stand der Kardinal Roncalli kurz vor der Vollendung des 77. Lebensjahres. Das Konklave, das vom 25. bis 28. Oktober dauerte, vollzog sich in einem ungünstigen Klima, einmal wegen der gespannten Atmosphäre, die die letzten Jahre, vor allem aber die letzten Wochen des Pontifikats Pacelli gekennzeichnet hatte, zum andern wegen der weltweiten Probleme, die auch auf der Kirche lasteten. Man befand sich noch im Zustand des „Kalten Krieges", die Welt war in zwei starre Blöcke gespalten; in Asien wie in Afrika nahm die Entkolonialisierung ihren Lauf, wodurch sich neue, schwere Probleme ergaben;

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Erneuerungsbewegungen im Katholizismus, die Pius XII. als kirchliche Randerscheinungen abgetan oder geradezu als verdächtig angesehen hatte, bedrängten die Kirche von innen. Den Kardinälen, die am Konklave teilnahmen, war dieses ganze Fragenbündel mehr oder weniger deutlich bewußt; jedenfalls stellte sich die Mehrheit rasch auf einen Kandidaten ein, der die Gewähr bot für ein kurzes, Spannungen lösendes Pontifikat, der die Kontinuität mit Pius XII. vermeiden würde, ohne doch eine völlig andere Richtung zu vertreten. In diesem Zusammenhang bedeutete die Wahl Roncallis die Entscheidung für einen Geistlichen, der sich von Pacelli deutlich unterschied und in mancher Hinsicht geradezu sein Gegenteil verkörperte. Von einem vornehmen Römer zu einem Stadtrandbauern; von einem hochgestellten Diplomaten ohne pastorale Erfahrung zu einem residierenden Bischof, dessen diplomatische Tätigkeit sich zum großen Teil an unbedeutenden Orten abgespielt hatte. Für einen Teil des Konklaves schließlich dürfte die Wahl Roncallis ein Akt des Abwartens gewesen sein im Blick auf die spätere Wahl Giovanni Battista Montinis. Diesen angesehenen Mitarbeiter hatte Pius XII. unerwarteterweise als Erzbischof nach Mailand gesandt, ohne ihn indessen zum Kardinal zu ernennen, so daß er von der Nachfolge ausgeschlossen war. Schon durch seine allerersten Amtshandlungen bewies Roncalli, daß er eine sehr präzise Vorstellung vom Pontifikat hatte und sich durchaus nicht mit einer Übergangsrolle begnügen würde. Er wählte einen unerwarteten und seit Jahrhunderten ungebräuchlichen Namen: Johannes; er stellte ein Programm der Erneuerung auf, wobei er auf Johannes den Täufer zurückgriff; er unterstrich seine eigene Stellung als Bischof der römischen Diözese; er begann die kurialen Funktionen wiederherzustellen, an die sich sein Vorgänger längst nicht mehr gehalten hatte. In diesem Sinne nahm er Besuche in notleidenden römischen Gebieten auf, repristinierte den Besitz der Lateranbasilika, ernannte einen Staatssekretär - das Amt war seit Jahren vakant - in der Person Domenico Tardinis, seines ehemaligen Vorgesetzten und Kritikers. 2. —>Vatikanum II 2.1. Der Weg zum Konzil. Kaum drei Monate nach der Wahl, am 25. Januar 1959, dem letzten Tag der Gebetsoktav für die Einheit, kündigte der Papst die Einberufung eines neuen Generalkonzils und einer Diözesansynode für Rom an. Nach dem Konzil sollte der Kodex des kanonischen Rechts ( - • Kirchenrechtsquellen) revidiert werden. Die Ankündigung erregte enormes Interesse und weckte große Erwartungen, stieß jedoch auch auf Einspruch und Widerstand (vgl. T R E 16, 416, 38ff). Das Pontifikat war sozusagen beherrscht durch die Vorbereitung und den Beginn dieses Konzils. Die Vorbereitung wurde dem Staatssekretär übertragen mit der Maßgabe, daß Bischöfe und Theologen aller kirchlichen Parteien und Richtungen miteinbezogen würden. Johannes respektierte seinerseits gewissenhaft die Selbständigkeit der Gremien, bemühte sich jedoch gleichzeitig unablässig darum, die Ziele des Konzils öffentlich deutlich zu machen als historische Chance („neue Pfingsten") für ein „Aggiornamento" der Kirche, was ihre innere Ordnung, ihr Verhältnis zu den anderen christlichen Kirchen und ihre Teilhabe an den großen gesellschaftlichen Problemen betraf. Auf dieses Bemühen lassen sich auch seine Enzykliken zurückführen: Ad Petri cathedram (29.Juni 1959), Sacerdotii nostri primordia (1. August 1959), Mater et Magistra (5.Mai 1961; s. T R E 9, 442, 16ff), Aeterna Dei (11. Nov. 1961 ),Pacem in terris (11. April 1963). Einige dieser Enzykliken enthielten wichtige Aussagen, so die Unterscheidung zwischen Irrtum und Irrendem und zwischen Ideologie und geschichtlicher Bewegung, sowie die Feststellung, daß der Begriff „gerechter Krieg" im Atomzeitalter unbrauchbar geworden sei (s. T R E 11, 639, 49ff). 2.2. Eröffnungsrede. Vor Beginn der Konzilsarbeiten, am 11. September und am 11. Oktober 1962, hielt er zwei bedeutende Reden, in denen er die Möglichkeiten der Erneuerung aufzeigte, die sich der katholischen Kirche, ja dem Christentum überhaupt boten (Rundfunkbotschaft an die Katholiken der Welt: Ecclesia Christi Lumen Gentium-, dt.: HerKorr 17, 1962/63, 4 3 - 4 6 . Die Eröffnungsrede: AAS 26.11.1962, 7 8 6 - 7 9 5 ; dt.: HerKorr 17, 1962/63, 8 5 - 8 8 ) . Seine Darlegungen fanden großen Widerhall; so unter-

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strich er erneut die Fruchtbarkeit der Konzilstradition, die viele mit dem Ersten Vatikanum für abgeschlossen hielten, und erklärte: „ D i e ö k u m e n i s c h e n Konzilien sind, wann immer sie zusammentreten, die solenne Feier der Vereinigung Christi mit seiner K i r c h e . " D a s bedeutete nach seiner Ansicht: „ V o m Lichte dieses Konzils erleuchtet, wird die Kirche - das ist Unsere feste Zuversicht - innerlich wachsen und, aus ihrem geistlichen Reichtum neue K r a f t schöpfend, furchtlos in die Zukunft blicken. Denn die Kirche wird durch sinnvolle Anpassungen und kluge Regelung der Zusammenarbeit bewirken, daß die Menschen, die Familien, die Völker tatsächlich ihren Sinn auf die himmlischen Dinge richten." Z u diesem Ausblick fügte der Papst hinzu: „In der täglichen Ausübung Unseres priesterlichen Amtes versuchen bisweilen Leute Unser Ohr zu gewinnen, die zwar glühen vor Eifer, aber k a u m über Urteilskraft und Augenmaß verfügen. Sie sehen in der heutigen Zeit nur Verrat und Niedergang; sie behaupten stets, unser Zeitalter sei schlimmer als alle vorangegangenen; und sie gebärden sich, als hätten sie nichts aus der Geschichte, dieser Lehrmeisterin des Lebens, gelernt, als hätte zur Zeit früherer ö k u m e n i s c h e r Konzilien die christliche Idee und Lebensweise und echte Religionsfreiheit in einem einzigen großen Siegeszug alles mit sich fortgerissen. Wir sind der Meinung, daß man diesen Unheilspropheten, die lauter verhängnisvolle Ereignisse ankündigen, als stünde das Ende der Welt bevor, entgegentreten muß. G e r a d e im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick führt uns die göttliche Vorsehung zu einer neuen Ordnung menschlicher Beziehungen; und diese werden sich, durch die Menschen selbst und weit über ihre eigene Erwartung hinaus, nach höheren und ungeahnten Plänen vollenden. Und alles, auch die menschlichen Widrigkeiten, geschieht zum Besten der Kirche."

Schließlich hieß es in seiner Ansprache: „Unsere Aufgabe ist es, nicht nur diesen kostbaren Schatz zu hüten, als wäre uns einzig das Vergangene wichtig, sondern uns recht mit Lust und ohne Furcht den Aufgaben unserer Zeit zu widmen und so den Weg fortzusetzen, den die Kirche seit nunmehr fast zwanzig Jahrhunderten durchschreitet. Der Hauptzweck dieses Konzils ist daher nicht die Diskussion des einen oder anderen Themas der kirchlichen Fundamentallehre unter weitschweifiger Wiederholung dessen, was die Väter oder die alten und modernen Theologen lehren - das alles wird als wohlbekannt und stets dem Geiste gegenwärtig vorausgesetzt... Denn das eine ist der Niederschlag des Glaubens selbst, das heißt, die in unserer Lehre enthaltenen Wahrheiten; etwas anderes ist die Form, in der diese ausgesagt werden, ohne daß sie ihren Sinn und ihre Bedeutung verändern. M a n wird diese Form sehr wichtig nehmen und sie notfalls mit Geduld immer wieder neu ausarbeiten müssen; und man muß eine Darstellungsweise wählen, die dem vorwiegend seelsorgerischen Charakter des Lehramts besser entspricht." Zuletzt, das entscheidende Thema der Irrtümer aufgreifend, erklärte Johannes: „ D i e Kirche hat sich den Irrtümern stets widersetzt und sie oft auch mit größter Strenge verurteilt. Heute dagegen sieht die Braut Christi in der Barmherzigkeit das bessere Heilmittel als in der Strenge. Sie glaubt den heutigen Bedürfnissen am besten dadurch entgegenzukommen, daß sie die Wirksamkeit ihrer Lehre beweist, statt Verdammungen zu erneuern." 3. Letztes

Wirken

Johannes erreichte, daß „Beobachter" aller wichtigen christlichen Kirchen und Konfessionen, auch des Patriarchats von M o s k a u , am Konzil teilnahmen. Mit der UdSSR knüpfte er Respektsbeziehungen an, die durch das Ende des Stalinismus begünstigt wurden und ihren Höhepunkt mit der Freilassung des ukrainischen Patriarchen Slypy und dem Besuch von Chruschtschows Schwiegersohn beim Papst erreichten. Anläßlich der Kuba-Krise (Oktober 1962) vermittelte er erfolgreich zwischen den USA und der UdSSR. Bei der Eröffnung des Konzils wußte er bereits, daß er an einer tödlichen Krankheit litt; dennoch verfolgte er voller Eifer und Achtung den Beginn der Arbeiten und schaltete sich ein, wenn die Versammlung in Schwierigkeiten schien; denkwürdig ist der Beschluß geblieben, mit dem die Neufassung des vorkonziliaren Schemas über die „ Z w e i Quellen der Offenbarung" angenommen wurde. Nach der ersten Konzilsperiode (11. Oktober bis 8.Dezember 1962) verschlechterte sich sein Gesundheitszustand mehr und mehr, bis er am 3. Juni 1963, einem Pfingstmontag, starb. Seine Agonie und sein Tod waren ein außer-

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g e w ö h n l i c h e s , weltweit die M a s s e n ergreifendes geistliches Ereignis: So g r o ß w a r der durch J o h a n n e s trotz der Kürze seines Pontifikats g e w i r k t e Konsens. Indem er sich in die kirchliche T r a d i t i o n vertiefte, v e r m o c h t e er die darin verborgene G e s c h i c h t e und die „ Z e i c h e n der Z e i t " positiv zu b e t r a c h t e n , und er rief die Kirchen auf zu einer E r n e u e r u n g , die sie zu evangelischer Z e u g e n s c h a f t in der jeweiligen geschichtlichen Situation befähigen sollte. 4.

Würdigung

In der Ausübung des Primats w ä h r e n d seines kurzen Pontifikats verband J o h a n n e s ein H ö c h s t m a ß an persönlicher V e r a n t w o r t u n g — wie er sie durch den E n t s c h l u ß zu einem neuen Konzil bewies - mit dem ebenso gewissenhaften wie ungewohnten R e s p e k t für die V e r a n t w o r t l i c h k e i t des E p i s k o p a t s (vgl. T R E 1 1 , 7 7 8 , 4 8 f f ) . Seit J a h r h u n d e r t e n w a r es nicht v o r g e k o m m e n , daß ein Papst den K a t h o l i z i s m u s zu einer R e f o r m und zum Ö k u m e nismus aufrief (er gründete das Sekretariat für die Einigung der Christen) und zur B e a c h tung der G e s c h i c h t e aufforderte. Paul V I . leitete den k a n o n i s c h e n P r o z e ß der Seligsprechung ein; w ä h r e n d des Z w e i t e n V a t i k a n u m s hatten viele B i s c h ö f e die K a n o n i s i e r u n g d u r c h das Konzil selbst b e f ü r w o r t e t . D a s j o h a n n e i s c h e Pontifikat hat eine tiefe Spur im L e b e n des Katholizismus hinterlassen, indem es die K i r c h e aus dem seit vier J a h r h u n d e r t e n andauernden Stadium der defensiven Verschanzung ( „ G e g e n r e f o r m a t i o n " ) h e r a u s g e f ü h r t h a t . Einige sind der M e i n u n g , J o hannes h a b e instinktiv gehandelt und von den vielschichtigen Implikationen der geplanten Erneuerung nur eine begrenzte Vorstellung g e h a b t ; d o c h zeigen erste Ergebnisse der historischen F o r s c h u n g , d a ß die Initiativen des j o h a n n e i s c h e n Pontifikats in einer langen, schrittweisen und tiefgehenden, in der K o n f r o n t a t i o n mit sehr unterschiedlichen Situationen e r p r o b t e n , geistlichen R e i f u n g ihre Wurzeln h a b e n . Quellen Für die Zeit vor dem Pontifikat: Il giornale dell'anima e altri scritti di pietà, Rom 7 1976; dt.: Johannes XXIII., Geistliches Tagebuch u. andere geistliche Sehr., eingel. v. Loris Capovilla, Freiburg i.Br. 1964. - Lettere ai familiari, hg. v. Loris Capovilla, 2 Bde., Rom 1968; dt.: Johannes XXIII., Briefe an die Familie, hg. v. Loris Capovilla, I 1 9 0 1 - 1 9 4 4 , Freiburg i.Br. 1969; II 1945-1962, Freiburg i.Br. 1970. - Lettere ai vescovi di Bergamo (1931-1961), Bergamo 1973. - La Misericordia Maggiore di Bergamo e le altre Istituzioni di beneficenza amministrate dalla Congregazione di Carità, Bergamo 1912. - Gli Atti della visita apostolica di S. Carlo Borromeo a Bergamo (1575), hg. v. Angelo Guiseppe Roncalli, 5 Bde., Florenz 1 9 3 6 - 1 9 5 7 . — Gli inizi del Seminario di Bergamo e S. Carlo Borromeo, Bergamo 1939. - Il cardinale Cesare Baronio, Rom 2 1961; Angelo Roncalli, Baronius. Vortrag, gehalten am 4. Dezember 1907 im Seminar zu Bergamo bei Anlaß der dreihundertsten Wiederkehr seines Todestages, Einsiedeln 1963. — Möns. Giacomo Maria Radini-Tedeschi, Vescovo di Bergamo, Rom 3 1963. - Lettere dall'Oriente e altre inedite, hg. v. C. Valenziano, Brescia 1969. Scritti e discorsi 1953-1958, 4 Bde., Rom 1 9 5 9 - 1 9 6 2 . - Souvenirs d'un nonce. Cahiers de France (1944-1953), Rom 1963. - Viele Angaben über die Tätigkeit Roncallis während des Krieges finden sich: Actes et documents du Saint Siège relatifs à la seconde guerre mondiale, hg. v. Pierre Biet u. a., Vatikanstadt 1965 ff. Für die Zeit des Pontifikats: Die wichtigsten Dokumente über das Pontifikat finden sich - außer in A A S - : Discorsi, messaggi, colloqui del Santo Padre Giovanni XXIII, 1 9 5 8 - 1 9 6 3 , 5 Bde. u. Index, Vatikanstadt 1960-1967. - Der Sekretär Loris Capovilla gab heraus: Lettere 1958-1963, Rom 1978 (217 private u. öffentliche Briefe sowie 131 „Notizen" und Memoranden). Literatur Giuseppe u. Angelina Alberigo, Giovanni XXIII. Profezia nella fedeltà, Brescia 1978. - Giuseppe Alberigo u.a. (Hg.), Fede. Tradizione. Profezia. Studi su Giovanni XXIII e sul Vaticano II, Brescia 1984. - Leone Algisi, Papa Giovanni XXIII, Turin 4 1981; dt.: Johannes XXIII., München 1960. Ernesto Balducci, Papa Giovanni, Florenz 1964. - Bernard R. Bonnot, Pope John XXIII, An Astute Pastoral Leader, New York 1979. - Jean-Yves Calvez, Eglise et société économique. L'enseignement social de Jean XXIII, Paris 1963. — Lawrence Elliot, I will be called John. A biography of Pope John XXIII, New York 1973; dt.: Johannes XXIII. Das Leben eines großen Papstes, Freiburg i.Br. 1974. Giovanni X X I I I in alcuni scritti di G. De Luca, Brescia 1963. — Jules Gritti, Jean XXIII dans l'opinion

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Johannes Chrysostomus

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Giuseppe Alberigo Johannes Chrysostomus (ca.

350-407)

1. Voraussetzungen 2. Der Asket 6. Der Theologe 7. Der Reformbischof

1.

3. Der Seelsorger 4. Der Lehrer 5. Der (Bibliographien/Quellen/Literatur S. 125)

Prophet

Voraussetzungen

Johannes ist um 350 in —• Antiochien geboren (Baur, Johannes 1,3). Er entstammt einer vornehmen christlichen Familie. Sein Vater war ein in Antiochien stationierter höherer Offizier wohl lateinischer Herkunft. Er starb, als sein Sohn noch keine zwei Jahre alt war, und so wurde Johannes von seiner Mutter Anthusa, einer Griechin, erzogen, die ihm eine standesgemäße Bildung zukommen ließ (Baur, Johannes I,4f). Von den besten Rhetoren und Philosophen, wahrscheinlich, wenn auch nicht unmittelbar zu belegen (Baur, Johannes 1,11-18), auch von dem berühmten Libanios unterwiesen, eignete sich Johannes daher eine völlige Beherrschung der zeitgenössischen weltlichen Geistesbildung, insbesondere des Instrumentariums der Rhetorik und der Lehren der stoischen Schultradition (-»Stoa) an, und er hat dabei wahrscheinlich auch die Kunst der Diatribe erlernt, die ihn zu einem gefürchteten Disputanten werden ließ (RAC 4, 9 9 0 - 1 0 0 9 , Diatribe). Durch seine Mutter, die eine tief religiöse Frau war, kam er auch mit den christlichen Lehrern Antiochiens in Berührung. Allerdings hat er sich in diesen Jahren, die in die Regierungszeit des Valens ( 3 6 4 - 3 7 1 ) mit ihrer vorübergehenden Durchsetzung des ->Arianismus fielen, von den arianischen wie auch von den radikal nikänischen Kreisen ferngehalten und vornehmlich mit dem nonkonformistischen Kreis Verbindung gehalten, der durch den seinerzeit exilierten Bischof Meletius ( 3 6 0 - 3 8 1 ) und durch seine Freunde, die Asketen -»Diodor von Tarsus und Flavian (Bischof von Antiochen 381 - 4 0 4 ) vertreten wurde. Bei ihnen erhielt er eine hervorragende exegetische und dogmatische Bildung und fand Zugang zu den Verstehensvoraussetzungen der -*Askese (Meyer 1 - 2 5 ) . 2. Der

Asket

372 ließ Johannes sich taufen, ein Schritt, der nach der Aussage seines Biographen Palladius (121) für den jungen Mann zum Ausgangspunkt eines immer tiefergreifenc'eren Strebens nach Innerlichkeit wurde. Sehr bald hatte er das Verlangen, in den Diens: der Kirche zu treten, und wahrscheinlich führte er bei Diodor das einesteils dem Studium der heiligen Schrift und anderenteils der asketischen Übung und Kontemplation gewidmete Leben eines Mönchs (Festugiere 182f; ->Mönchtum). 375 wurde er Anagnost und sollte anscheinend die Abfolge der verschiedenen Weihegrade durchlaufen. Plötzlich jedoch fühlte er sich aus nicht durchschaubaren Gründen von seiner Lebensweise unbefriedigt und beschloß, im Streben nach Vollkommenheit weiter voranzuschreiten. Er gab alles auf, um sich in eine Mönchsgemeinschaft in der Nähe von Antiochien zurückzuziehen.

Johannes Chrysostomus

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Dort blieb er vier Jahre. Von seinem Verlangen nach Vollkommenheit umgetrieben, suchte er dann die Erfahrung asketischen Lebens aufs äußerste zu steigern, und wurde Einsiedler. In der Einsamkeit setzte er durch übermäßige Abtötungsübungen seine Gesundheit aufs Spiel, seiner Veranlagung nach aber sah er sich weiterhin durch geistige Arbeit in Bann gezogen und nutzte die selbstgewählte Abgeschiedenheit, seine Schriftkenntnis zu vervollkommnen und die Testamente Christi, nämlich die Evangelien und die paulinischen Briefe, auswendig zu lernen. Zwei J a h r e später, 381, gab er infolge einer schmerzhaften körperlichen und seelischen Krise, deren Ursachen im dunkeln bleiben, das Einsiedlerleben auf und stellte sich seinem Bischof Meletios zur Verfügung, der ihn zum Diakon weihte (Meyer 3 9 - 4 3 ) . Fünf J a h r e lang widmete sich Johannes den mit dem Diakonenamt gegebenen administrativen und liturgischen Aufgaben. Ihm oblag das schwere Amt, die Mittel zum Unterhalt der Jungfrauen und Witwen zu verwalten und über ihre leibliche und seelische Sicherheit zu wachen. Während dieser Zeit entstand der größte Teil seiner asketischen, auf das monastische Leben oder auf Fragen des Witwen- und Jungfrauenstandes eingehenden Schriften. Wie Palladius berichtet, trat er in seiner Amtsführung auch schon durch M a ß n a h m e n zur Volksunterweisung hervor (Palladius 29). Außerdem brachte er um 386 seinen nach den geläufigen Regeln der zeitgenössischen literarischen Überlieferung gestalteten Dialog Vom Priestertum (SC 272) heraus, den bereits —»Hieronymus 3 9 2 anführt (De viris inl. 129) und der alsbald zu einem klassischen Werk der christlichen Literatur wurde. Johannes vergleicht darin die jeweiligen Funktionen und Verdienste des M ö n c h s und des Priesters in der christlichen Gemeinschaft; vor allem aber findet er darin die Gelegenheit, seine Gedanken im Licht seiner eigenen Lebenserfahrung während der sechs voraufgegangenen J a h r e aufzuarbeiten. Er beschließt diese Arbeit mit dem Innewerden einer geistlichen Gegebenheit, die sein gesamtes Leben bestimmen sollte: M a n kann nicht das Heil allein für sich gewinnen, und dem Dienst am Nächsten und der Übung der Liebe ist der Vorrang zu geben vor dem heroischen Ausgehen auf individuelle Vervollkommnung. Am 2 8 . F e b r u a r 386 wurde Johannes von Flavian von Antiochien zum Presbyter geweiht; nun besaß er die Möglichkeit, sein Drängen auf Vollkommenheit in die T a t umzusetzen.

3. Der

Seelsorger

Kaum zum Presbyter geweiht, trat Johannes mit Nachdruck den Feinden des Christentums entgegen. Die Arianer waren dabei, wie zu erwarten, die ersten, gegen die er sich wandte. Vor allem diejenigen griff er an, die die Geheimnisse der göttlichen Natur aus der Kraft der Vernunft zu durchdringen beanspruchten. In seinen elf Homilien Gegen die Anhomöer (SC 28; C P G 4 3 1 8 - 4 3 2 4 ) setzte er mit dem Aufweis der Unmöglichkeit, die göttlichen Geheimnisse zu durchdringen, und einer Grenzabsteckung zwischen Glaube und Vernunft in meisterlicher Weise einen ihm von Meletius überkommenen Leitgedanken um. D a n a c h nahm er sich die es mit jüdischer Gesetzesobservanz haltenden Christen zum Ziel und legte in acht Homilien Gegen die Juden ( C P G 4327) die Gründe für die Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und der Gesetzesübung des alten Bundes dar. In ihrer Wirkungsgeschichte haben diese Homilien sein Ansehen belastet, denn sie ließen ihn seit dem Mittelalter zu einem der Väter des —»Antisemitismus werden, weil die Abendländer Bilder wörtlich nahmen, die für ihn nur Kunstmittel der Diatribe gewesen waren (Simon 256 - 2 6 4 ) . M i t De sancto Babyla contra Iulianum et Gentiles (CPG 4348) wendet er sich auch gegen die Heiden und prangert die Niederträchtigkeit der antichristlichen Politik des Kaisers Julian ( 3 6 1 - 3 6 3 ) an, der unter dem Vorwand der Liberalität die Verächtlichmachung der Christen ihrer offenen Verfolgung vorgezogen habe, obwohl es auch unter ihm, wie Johannes aufweist, nicht an Z w a n g s m a ß n a h m e n gefehlt habe (Baur, J o h a n n e s 1 , 4 0 - 5 6 ) . Schließlich wandte er sich in einer Reihe von sieben Homilien Über den reichen Mann und armen Lazarus (CPG 4329) auch gegen seine zukünftigen Hauptgegner, die Reichen und Mächtigen.

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Johannes Chrysostomus

Indessen beschränkte sich seine Predigttätigkeit nicht auf dieser Art Waffengänge. Sie war gleichermaßen auch von einer großen Zahl auf das innergemeindliche Leben abgestellter Predigten bestimmt, die, dem Kirchenjahresablauf folgend, dessen liturgische Festkreise erläutern oder die Märtyrerfeste begehen (CPG 4334-4366). Diese bei Gelegenheit großer Zusammenkünfte gehaltenen Predigten geben einen volksnahen Prediger zu erkennen, der stärker auf Anstöße zu sittlicher Bewußtseinsbildung als auf ein Ausloten der großen Lehrfragen bedacht war. So hilfreich die Predigten auch sind, Chrysostomus in seinem gemeindepädagogischen Wirken kennenzulernen, seine Lehrgrundsätze darf man nicht in seinem rednerischen Werk suchen; sie werden eingehender in seinen großen Schrifterklärungen entfaltet. Seinen Höhepunkt aber sollte Johannes' Ansehen infolge unvorhersehbarer Geschehnisse im Frühjahr 387 erreichen. Das unruhige und ungezügelte Antiochien fügte sich nur schwer den Zwängen der kaiserlichen Gewalt. Eine unglückliche Steuererhebung hatte einen Aufruhr ausgelöst, im Verlauf dessen die Kaiserbilder zertrümmert wurden. Innerhalb weniger Stunden hatte die Ordnungsmacht die Erhebung erstickt, und die Stadt hatte unnachsichtige Vergeltungsmaßnahmen zu gewärtigen. Bischof Flavian begab sich nach Konstantinopel, um vom Kaiser Nachsicht zu erflehen, und beauftragte Johannes, der gerade mit seiner Predigtreihe zur Fastenzeit begann, in Erwartung der kaiserlichen Entscheidung die Gemüter zu besänftigen. Das war der Anlaß für seine 21 Homilien Über die Statuen (CPG 4330), in denen seine Redekunst einen Höhepunkt erreicht. O h n e seine katechetische Aufgabe zu vernachlässigen, durchsetzt Johannes aus der eigenen Verbundenheit mit den Besorgnissen seiner Gemeinde seine Unterweisung mit eingeschalteten Hinweisen, die immer wieder die Gemütsverfassung seiner Zuhörerschaft aufscheinen lassen. In seiner Ansprache der Hörer verbindet er so die aus seinem Amt fließende Autorität und die eigene Betroffenheit von der Bedrängnis seiner Gemeinde. 4. Der Lehrer In der Folge erlebte Johannes für fünfzehn Jahre eine Zeit offensichtlich ungestörten Wirkens. Als herausragende Persönlichkeit von reichsweitem Ansehen profilierte er sich doch ganz in seinem gemeindlichen Amt. Kein herausfallendes Ereignis kennzeichnet seine Amtsführung während dieser Jahre. Selbst seine Erhebung zum Bischof, so außergewöhnlich sie auch war, scheint seine Verhaltensweise nicht verändert zu haben. O b in Konstantinopel oder in Antiochien, er setzt unerschütterlich die Veröffentlichung seiner ausschließlich von katechetischem Interesse getragenen Schrifterklärungen fort (CPG 4424-4440). Es ist nicht einmal möglich, eine gesicherte Chronologie dieser Arbeiten zu erstellen, deren rein pastorale Ausrichtung sie von jeder eindeutigen Bezugnahme auf bestimmte Ereignisse absehen läßt. Auch ihre autobiographischen Andeutungen und die Nutzbarmachung von Hinweisen auf das alltägliche Leben bedürfen einer bedachtsamen Deutung; denn dieserart Beispiele sind nicht von ungefähr eingebracht, sie illustrieren vielmehr die vorgetragene Unterweisung. M a n kann daher lediglich anhand innerer, an zuweilen recht vagen Hinweisen und Anspielungen festzumachender Bezugnahmen eine Art von Reihung der Kommentare untereinander erschließen (Meyer X I - X X X V I I I ) . Unmöglich ist es dagegen, innerhalb der Lehre des Johannes eine Entwicklung auszumachen. Daher erscheint es angebracht, vor der Zuwendung zum letzten, kurzen, aber tragischen Abschnitt seines Lebens zu versuchen, die bestimmenden Linien seines Denkens abzustecken, zumal das auch ein besseres Verständnis dafür erlaubt, daß seine Sendung nach irdischen Maßstäben gescheitert ist. 5. Der Prophet Als Verkünder einer überweltlichen Botschaft war Johannes Chrysostomus in erster Linie ein Prophet, der in seinem Drang, den Aufruf zur Vollkommenheit zur Geltung zu bringen, niemals nachließ und auf dessen Sendung die Zufälle der Tagesgegebenheiten

Johannes Chrysostomus

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keine Auswirkung hatten. Seine umgänglich konkrete Redeweise darf darüber nicht täuschen; denn wenn er eine Gegebenheit des alltäglichen Lebens einbringt, so geschieht das stets einer dabei sich auftuenden Beziehung zu seiner Unterweisung wegen. Diese ist Katechese, und das heißt, Unterricht, der auf den E r w e r b der zur Erlangung der Vollkommenheit notwendigen Kenntnisse ausgerichtet ist (Meyer 4 4 f ) . Der christliche Glaube beruht für J o h a n n e s nicht auf Vernunftgründen und -urteilen, sondern auf dem Wert des in der Schrift zur Sprache kommenden Zeugnisses Gottes; denn G o t t hat den Menschen aus Liebe geschaffen und gibt sich ihm selbst in seiner Herablassung (auyxaTäßaaiq) zu verstehen, um ihn zur übernatürlichen Wirklichkeit zu geleiten. Dazu hat er die Schöpfung hinreichend vollkommen gestaltet, um dem Menschen die Erkenntnis Gottes zu ermöglichen, aber auch so weit unvollkommen, d a ß der Mensch gehalten ist, sich um ein Fortschreiten zu bemühen, und sich nicht G o t t gleich dünkt. In dieser pädagogischen Ausrichtung hat G o t t zunächst eine Wegleitung bereitgestellt, die Schrift als eine Art Kontaktmedium, das dem Menschen erlaubt, mit dem Unansprechbaren in ein Gespräch zu treten, und beiden wie Freunden eine wechselseitige Teilnahme an ihren jeweiligen Anliegen und gegenseitiges Helfen ermöglicht (Leroux, Bible et les Pères 75). Sodann hat G o t t seinen Sohn gesandt, Christus, der durch seine Menschwerdung zum schlechthinnigen Vorbild wird, das es zur Erlangung der Vollkommenheit nachzuvollziehen gilt (Meyer 2 2 0 - 2 2 8 ) . Von diesen Voraussetzungen aus erteilt J o h a n n e s eine Unterweisung, die tief im täglichen Leben verwurzelt ist, ihren R ü c k h a l t aber in der Schrift findet, die dabei nicht als eigenständiges Ziel gesehen ist, sondern als vorrangiges Mittel, die Richtlinien der Vollkommenheit aufzudecken. Seine Lehrerörterungen folgen den üblichen Regeln des weltlichen Unterrichts, der è^riyrjaiç. Seine Auslegungsreihen sind in herkömmlicher Weise in Homilien eingeteilt, stellen sich aber eher als Unterrichtseinheiten im Sinne der herkömmlichen naiôeia dar. Jede seiner Homilien bringt als ersten Teil eine Vers für Vers fortschreitende Texterklärung mit kritischer Wort- und Sinndeutung, die von einer im allgemeinen sehr kurzen Lehrerörterung gefolgt wird. Lehrhaften Darlegungen ist J o h a n nes abgeneigt; er bevorzugt es, Schritt für Schritt a m T e x t entlang fortzuschreiten, k o m m t dabei aber unablässig auf das T h e m a zurück, das er sich gesetzt hat, und stellt dabei nötigenfalls den Wortlaut der Erläuterung auf die Erfordernisse seiner Unterweisung ein. Aus pädagogischem Bestreben wiederholt er gern immer und immer wieder in verschiedenen Ausformungen das gleiche T h e m a , weil er darin das beste Verfahren sieht, sich verständlich zu machen. Daher rührt die offenkundige Schwerfälligkeit seiner Ausführungen und die Zergliederung seiner Reden. Seine Schrifterklärungen sind indessen auch nicht darauf angelegt, in einem Zuge von Anfang bis Ende gelesen zu werden; sie sind eher eine Art von Skripten zu einem Lehrvortrag, auf die man beständig zurückgreifen soll, um ihn sich inhaltlich ganz zu eigen zu machen. D e m zeitgenössischen Herkommen entsprechend bringt der Lehrer zum Abschluß einer jeden Homilie eine Paränese, eine mehr oder minder umfangreiche ethische Darlegung, deren Verbindung mit den voraufgehenden exegetischen Ausführungen häufig recht locker ist. Eben diese Vorgehensweise ist der Grund dafür, daß J o h a n n e s häufig als Moralist eingestuft wird; denn seine Kommentatoren zeigen sich oft für diese paränetischen Darlegungen empfänglicher als für seine T e x t erläuterungen, die schwerer eingänglich sind, weil sie zu einem angemessenen Verständnis einen Vergleich zahlreicher Parallelstellen erfordern. Tatsächlich muß man jedoch bei seinen Kommentaren in erster Linie die außerordentliche Gediegenheit seiner für seine Lehrentfaltung insgesamt grundlegenden -»Schriftauslegung hervorheben. Beachtenswert ist die Sorgfalt, die er auf den Wortlaut des biblischen Textes verwendet. Getreu seinem Schriftverständnis, für das die heilige Schrift die göttliche Botschaft ist, die dem Menschen einen Zugang zur Anschauung Gottes ermöglicht, vermag Johannes sich im Umgang mit dem Bibeltext keine willkürlichen Einfälle zu erlauben. Abgesehen von zahlreichen Anspielungen oder Reminiszenzen, die zumal in den paränetischen Teilen seines Werkes und seinen volksnahen Homilien häufig begegnen, verwendet er im Verlauf seiner Erklärungen insgesamt mehr als achtzigtausend ausdrückliche Anführungen, die

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Johannes Chrysostomus

ein außergewöhnliches Zeugnis für den zu seiner Zeit in Antiochien geläufigen Bibeltext darstellen. Zudem schlägt sich die lehrhafte Indienstnahme der biblischen Texte für die Unterweisung deutlich in der Verteilung der Anführungen nieder, die weithin den paulinischen Briefen und den Evangelien den Vorzug gegenüber den alttestamentlichen Schriften gibt. Johannes ist außerdem durch seine biblische Schulung bei Diodor Erbe einer langen exegetischen Überlieferung, die über -»Eusebius von Caesarea bis zu ->Origenes zurückreicht und deren recht eigenständiger Schüler er ist (Leroux, Epektasis 3 3 5 - 3 4 0 ) . Dank der Arbeiten Eusebs und der von ihm geführten anhaltenden Auseinandersetzung mit den Vertretern antichristlicher rationalistischer Philosophie, insbesondere mit -»Porphyrius, waren die Exegeten des Kreises um Diodor und damit auch Johannes Chrysostomus besonders darauf bedacht, der Gefahr einer Vermengung von Elementen der christlichen Lehre mit irgendeinem Mythos aus dem Wege zu gehen; daher rührt auch ihre Zurückhaltung gegenüber der sogenannten allegorischen Schriftauslegung. So hat auch Johannes wie die meisten Theologen seines Heimatraumes unter Verzicht auf die Allegorese den geschichtlichen und innerweltlichen Bereich in seine Schriftbetrachtung einbezogen. Daher ist er bei der Untersuchung eines Textes zuerst darum bemüht, ihn vor der Erörterung seiner Einbindung in die Botschaft des Evangeliums in seinem literarischen und geschichtlichen Kontext zu orten und nach Ursache, Umfeld und Ort (xaipöq, ijdoq, rönoq) genau zu bestimmen. Darin gründet seine Vorliebe für die -»Typologie, die Bestimmung der Bedeutung eines Textes innerhalb des göttlichen Heilsplans (Puech, Histoire 111,503). In diesem Rahmen vollzieht sich die von Johannes aufgenommene Unterweisung, und sie fügt sich in ihrer dadurch gegebenen Gestalt nicht in die herkömmlichen Regeln theologischen Unterrichts (Baur 1 , 2 6 0 - 2 7 1 ) .

6. Der Theologe M a n muß sich zunächst bewußt machen, daß die Lehrverkündigung von Johannes Chrysostomus ihren O r t in einem Windschatten der großen theologischen Streitigkeiten der Zeit findet. Die Auseinandersetzungen über die -»Trinität, denen die Synode von -•Konstantinopel 381 einen Schlußpunkt gesetzt hatte, waren im Abklingen. Die in ihren Voraussetzungen sich abzeichnenden christologischen Streitigkeiten (—• Jesus Christus) sollten erst zwei Jahrzehnte später mit —>Nestorius in voller Schärfe entbrennen. Im Westen begann der Streit um den freien Willen und den Vorrang der Gnade für die Bestimmung des menschlichen Gottesverhältnisses (—•Pelagius/Pelagianischer Streit), doch er erreichte den Osten erst einige Zeit später und in sehr abgeschwächter Form. Auch Johannes brauchte sich nicht unmittelbar mit diesen Fragen zu befassen. Das heißt nicht, daß er sie außer acht gelassen hätte; doch seine Stellungnahme hat infolge einer Verkennung seiner einschlägigen Arbeiten in der Forschung keine Beachtung gefunden. Vor allem hat er dank seiner meisterlichen Beherrschung der griechischen Sprache und der Verwendung einer angemessenen Begrifflichkeit zur Ausformulierung seiner Gedanken bei allen diffizilen Themen Entgleisungen und Fallstricke zu vermeiden verstanden (Danielou/Marrou 1,383). Das zu vergegenwärtigen genügt schon eine Analyse seines Wortschatzes und der Auswahl seiner Schriftanführungen im Blick auf die trinitarischen und christologischen Probleme oder auf anderweits strittige Fragen. Er verfügte in der Tat über die Kunst, den rechten Ausdruck zu treffen, um seine Gedanken zur Sprache zu bringen, ohne sich dabei zu anfechtbaren Stellungnahmen hinreißen zu lassen. Seine Stärke beruht vor allem auf seinem Sinn für das, was Geheimnis ist und bleibt, der ihm die notwendige Bescheidung vermittelt, die Grenzen auszumachen, jenseits derer die Vernunft sich in einen Bereich verliert, dem sie nicht gewachsen ist (Danielou, SC 28 bis 2 6 - 2 9 ) . Nach deutlicher Kennzeichnung der dem Denken gesetzten Grenzen (Boularand 6 5 - 1 0 3 ) wirft sich Johannes Chrysostomus darauf, zur Zeit und zur Unzeit seiner Zielsetzung nachzugehen, die Menschheit auf die Vollkommenheit hinzuführen, deren Verwirklichungsrahmen die ideale Gemeinschaft ist, die durch die in Christus, das Haupt der

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mystischen Kirche, eingeleibte Menschheit gebildet wird (Leroux, Théologie 1 7 3 - 1 8 5 ) . Da die spekulativen Fragen zur göttlichen Natur und ihre Weiterungen in den Bereich des Glaubens fallen, geht Johannes darauf aus, die Anthropologie und die in ihr beschlossenen Folgen verstehen zu lehren. Gründlich verkannt werden die Chrysostomus leitenden Vorstellungen, wenn, wie vielfach geschehen, sein Aufrufen der Christen zu einem geistlichen Ideal verkürzt wird zu einem bloßen Moralismus. Gewiß schärft Johannes, vor allem in seinen Homilien, die sich an große, anläßlich gottesdienstlicher Festlichkeiten zusammenfindende Volksmassen richten, auch schlichte Grundregeln christlicher Lebensführung ein; doch es handelt sich dabei um Vorbedingungen, die für jedes geistliche Fortschreiten unentbehrlich sind, und der ihnen zukommende Stellenwert ist an den Augenblick, an Zeit und Ort, wie es der Redner selbst ausdrückt, gebunden. Sein Streben geht wesentlich weiter und greift über den engeren Bereich der Moral hinaus; es zielt auf die Einleibung in Christus durch die zur Lebensform werdende Übung der Gebote des Evangeliums, nötigenfalls auch unter Verstoß gegen gesellschaftlich etablierte Regeln bürgerlichen oder religiösen Verhaltens. Als guter Pädagoge fordert Johannes nicht von vornherein schon heldenhaftes Handeln; er ruft selbst unablässig den Vorrang von -»Liebe und -»Glauben gegenüber Werken der Abtötung und Weltentsagung, die nur Mittel, nicht Selbstzweck sein dürfen, ins Gedächtnis. Andererseits wiederholt er unermüdlich die Notwendigkeit, über sich hinaus zu kommen, um durch Nachahmung Christi oder des Apostels Paulus zur Vollkommenheit zu gelangen (Auf der Maur 102 f). So schwankt seine Ethik unablässig zwischen der Zielvorgabe einer in dieser Welt unerreichbaren Vollkommenheit und einer auf das gesunde Empfinden oder, wie er es mit Vorliebe ausdrückt, die uezpionäQeia, die Kunst des ausgewogenen Maßes, gegründeten Praxis. Johannes möchte in seiner Unterweisung ausschließlich als Seelsorger wirken; für ihn bestimmen Glaube und Liebe das Geschick des Menschen und können nicht bloße Begleitmomente von Erkenntnis sein; sie sind vielmehr Lebensnorm. Daher kann das Ideal des Christseins nicht auf ein Leben individueller Abtötung und einen Wettstreit mehr oder minder überzogener asketischer Praxis hinauslaufen. Diesen Grundsätzen des geistlichen Lebens entsprechend muß sich der Christ vielmehr, gestützt auf die Betrachtung und das Studium der von der Schrift enthüllten Geheimnisse, bemühen, das Vorbild Christi nachzuvollziehen und alle aus solcher Meditation gewonnene Kraft auf den Dienst an der Gemeinschaft verwenden; denn niemand kann ohne Liebe und ohne das Heil des Nächsten sein eigenes Leben zu einem guten Ende führen, weil das Kennzeichen des Christus in Liebe zugewandten Gläubigen nichts anderes als die Sorge um seine Brüder und das Bemühen um ihr Heil ist (Johannes Chrys., De beato Philogonio [ = c. Anom. VI] 2: PG 48, 751). Das ist die Botschaft, die Johannes, ausgerichtet an seiner Erklärung der neutestamentlichen wie der für seine Katechese in Betracht kommenden alttestamentlichen Schriften, unablässig entfaltet. Diese Unterweisung zieht sich über fünfzehn Jahre hin, zuerst, bis 397, in Antiochien, dann in Konstantinopel, ohne daß sich in seiner Wahrnehmung dieser Aufgabe eine merkliche Diskontinuität erkennen läßt. Da Johannes zudem sein Amt im reifen Alter angetreten hat, fällt es schwer, innerhalb der relativ kurzen Dauer seiner Seelsorgetätigkeit eine Entwicklung eines Denkstils auszumachen, den er seit seiner langen Zurückgezogenheit als Mönch vollendet beherrschte. Im übrigen ist festzustellen, daß sein Übergang nach Konstantinopel im Blick auf seine seelsorgerliche Tätigkeit nur als beiläufiges Geschehen erscheint. Mit seiner Arbeit fährt er so fort, wie er es vorgesehen hatte. Er führt seine Schrifterklärung, die er in Antiochien nicht zum Abschluß hat bringen können, weiter in der Absicht, die Erläuterungen der seine Katechese betreffenden biblischen Schriften insgesamt zu veröffentlichen. Andererseits aber stellt ihn seine Erhebung zum Bischof vor die Fragen des Umgangs mit der Amtsgewalt. Er versucht, für seine Gemeinde eine Idealvorstellung in die Wirklichkeit umzusetzen, die sich in ihrer hochgegriffenen Zielsetzung als utopisch erweist und Anlaß zu einer ausgesprochenen Tragödie gibt.

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Johannes Chrysostomus 7. Der

Reformbischof

Am 26. Februar 398 wurde Johannes als designierter Bischof der Reichshauptstadt auf Anordnung des Kaisers durch seinen erbittertsten Gegner, -»Theophilus von Alexandrien, geweiht (Baur 11,1-20). Als Inhaber eines der vornehmsten Bischofssitze schritt er in praktischer Umsetzung seiner Lehre sogleich zur Tat. Einige Monate lang, während der Zeit der notwendigen Einstellung auf seine neue Aufgabe, erfreute er sich noch einer gewissen Geltung. Doch sein Auftreten trug ihm schnell Schwierigkeiten ein. Es erhielt die begeisterte Beistimmung bestimmter Christen und der Masse des Kirchen volkes, rief aber zugleich bei den Machthabern erbitterten Widerstand wach, denn er ging mit großem Eifer daran, die von ihm verkündeten evangelischen Grundsätze praktisch anzuwenden (Baur 11,51-64). Als erstes reformierte er seine eigene Kirche. Er traf die erforderlichen Maßnahmen, im bischöflichen Palast einen seinem geistlichen Ideal entsprechenden Lebensstil zur Geltung zu bringen: bescheidene Mahlzeiten, Vermeidung unnötigen Aufwandes, asketisches Leben. Er verkaufte verschiedene kostbare Stücke aus Kirchenbesitz zur Unterstützung diakonischer Tätigkeiten. Er richtete mehrere Hospize für Kranke, Bedürftige und Fremde ein und unterstellte sie der Leitung tüchtiger und rechtschaffener Geistlicher. Dann versuchte er, Ordnung unter den die Stadt bevölkernden Mönchsscharen zu schaffen und sie der bischöflichen Aufsicht zu unterwerfen, was ihm die Gegnerschaft eines Teils der Mönche eintrug. Mit einer Reorganisation des Diakonissenwesens und des Dienstes der Witwen setzte er die aufgenommene Tätigkeit fort und legte dabei den einem asketischen Leben Widerstrebenden nahe, sich ohne weiteres Zögern wieder zu verheiraten. Desgleichen ergriff er die zu einer Erneuerung der Geistlichkeit unumgänglichen Maßnahmen und verlangte von den Geistlichen eine untadelige Lebensführung (Puech 469). Solche Maßnahmen versetzten die christliche Gemeinde in Erregung, zumal er zur Unterdrükkung der ketzerischen Gruppierungen ausgedehnte Prozessionen und gottesdienstliche Versammlungen veranstaltete. Im gleichen Sinn setzte er alsbald eine gotische Geistlichkeit mit der Aufgabe ein, die zahlreichen fremden Söldner in der Hauptstadt zu evangelisieren, und trug keine Bedenken, einen dieser Geistlichen in Anwesenheit der ganzen Gemeinde in der Hagia Sophia in seiner Volkssprache predigen zu lassen (Puech 470). Durch sein Amt war er auch zum Eingreifen in staatliche Angelegenheiten gehalten, und er sah sich dazu bei zwei Gelegenheiten veranlaßt, bei denen er in der Treue zu seinen Leitvorstellungen in Konflikt mit der Staatsmacht geriet. Zunächst gewährte er dem in Ungnade gefallenen korrupten ersten Minister Eutropius -*Asylrecht (399); dieser Vorfall war für Johannes der Anlaß zu einer Rede, die zu den klassischen Stücken der Redekunst gehört und in der er mit Nachdruck die entsprechenden Leitsätze des Evangeliums ins Bewußtsein rief. Desgleichen zögerte er wenig später (400) nicht, Kirchengut zu verschleudern, um von dem aufständischen gotischen Heermeister Gainas den Abzug aus Konstantinopel und den Verzicht auf eine Plünderung der Stadt zu erreichen (Baur 11,91-112). Danach trug er, stets im Namen des Evangeliums, keine Bedenken, sich im Verlauf zweier seinerzeit beträchtliches Aufsehen erregender Affären auch innerkirchlichen Machtpositionen entgegenzustellen. Während des Jahres 400 griff er in die Verhältnisse der kleinasiatischen Kirchen ein, obwohl diese nicht eigentlich seiner unmittelbaren Jurisdiktion unterstanden, und veranlaßte die Amtsenthebung simonistischer Bischöfe und ihre Ersetzung durch Männer, deren einwandfreie Lebensführung ihm bekannt war (Baur 11,119-134). Nicht lange danach gewährte er ägyptischen Mönchen, den „langen Brüdern", die wegen Verdachtes auf Origenismus (-»Origenes/Origenismus) Repressalien von Seiten ihres Bischofs ausgesetzt waren, Aufnahme in Konstantinopel (402). Ohne in der Sache Stellung zu nehmen, forderte er für sie ein unparteiisches, einer Sacherörterung offenes Untersuchungsverfahren. Zugleich verweigerte er sich einer pauschalen Verurteilung des Origenes, in dem er einen der großen Denker der Kirche sah. Desgleichen legte er sich mit den vermögenden Inhabern weltlicher Machtpositionen an und mahnte

Johannes Chrysostomus

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sie schonungslos an ihre Pflichten. Die hochgestellten D a m e n , a u f die er Einfluß hatte, unter ihnen O l y m p i a s , rief er dazu auf, ihr Vermögen für L i e b e s w e r k e hinzugeben und ihre zahlreichen S k l a v e n freizulassen. A u f der anderen Seite prangerte er heftig die unziemliche L e b e n s w e i s e von Angehörigen der vermögenden O b e r s c h i c h t an und forderte von ihnen mehr Bescheidenheit. D i e Kaiserin E u d o x i a selbst fühlte sich von solchen Äußerungen betroffen und stellte sich an die Spitze einer V e r s c h w ö r u n g , die den Sturz des Bischofs verlangte (Puech 4 7 3 ) . D a ß sich so weltliche wie kirchliche M ä c h t e gegen J o h a n n e s z u s a m m e n f a n d e n , h a t t e seinen G r u n d in seinem bedingungslosen Utopismus. Seine A u f n a h m e der „langen B r ü d e r " b o t seinen G e g n e r n A n l a ß , ein Verfahren gegen ihn in G a n g zu bringen, das d a r a u f hinauslief, J o h a n n e s vor eine eigens dazu z u s a m m e n t r e t e n d e K i r c h e n v e r s a m m l u n g zu laden. D i e V e r s a m m l u n g , die sog. E i c h e n s y n o d e , verurteilte ihn nach Aufstellung einer langen Liste von V o r w ü r f e n gegen ihn in A b w e s e n h e i t und e n t h o b ihn seines A m t e s (Photios, Bibl. 5 9 ) . N a c h einem ersten Verbannungsversuch, der infolge einer a u f g e b r a c h ten H a l t u n g in der B e v ö l k e r u n g diesem ungerechten Urteil gegenüber scheiterte, o r d n e t e der Kaiser a m 9. J u n i 4 0 4 mit einem E r l a ß die V e r b a n n u n g an (Baur 1 1 , 2 0 2 - 2 2 2 ) . J o h a n nes wurde zunächst nach K u k u s o s in Kleinasien a b g e s c h o b e n . Von diesem abgelegenen O r t aus m a c h t e er weiterhin bei seinen Freunden wie bei den westlichen Bischöfen das R e c h t seiner S a c h e geltend, w ä h r e n d seine A n h ä n g e r heftigen Repressalien unterworfen waren (Baur 1 1 , 2 5 8 - 2 7 6 ) . Zugleich unterhielt er einen ausgedehnten herzlichen geistlichen Briefwechsel mit O l y m p i a s (SC 13bis) und b e s t ä r k t e M i s s i o n s b e m ü h u n g e n in n o c h heidnischen G e b i e t e n , insbesondere in Phoinikien und Persien. Dieser von J o h a n n e s C h r y s o s t o m u s von seinem Verbannungsort aus i m m e r n o c h ausgeübte Einfluß erregte den A r g w o h n der S t a a t s g e w a l t , und m a n b e s c h l o ß , ihn in den K a u k a s u s zu deportieren. W ä h r e n d seiner unter grauenvollen Begleitumständen durchgeführten Verbringung d o r t hin ist er a m 21. S e p t e m b e r 4 0 7 unterwegs an E r s c h ö p f u n g gestorben (Baur 1 1 , 3 2 6 - 3 3 3 ) . Bereits 4 1 2 wurde er a u f Verlangen des Papstes und zahlreicher anderer B i s c h ö f e rehabilitiert, 4 3 8 wurden seine R e l i q u i e n im T r i u m p h nach K o n s t a n t i n o p e l überführt. Seitdem wird er als einer der herausragendsten K i r c h e n v ä t e r verehrt. Sein gesamtes Werk erfuhr weite Verbreitung, w o b e i sich insbesondere seine volksnahen H o m i l i e n g r o ß e r Beliebtheit erfreuten. W ä h r e n d seine K o m m e n t a r e in recht guter Überlieferung vorliegen, stellt sein H o m i l i e n w e r k v o r b e s o n d e r e Identifizierungsprobleme; die Begeisterung für seine Predigten w a r so g r o ß , d a ß es mitunter schwerfällt, die U r h e b e r s c h a f t der unter seinem N a m e n stehenden T e x t e zu b e s t i m m e n ; vor der Fülle der echten H o m i l i e n , der ü b e r a r b e i teten oder interpolierten Predigten, der C e n t o n e s , der S a m m l u n g e n ausgewählter A b schnitte, der Plagiate und willkürlichen Unterschiebungen sieht sich die F o r s c h u n g vor eine A u f g a b e gestellt, deren befriedigende L ö s u n g noch langjähriger Anstrengungen bed a r f (De A l d a m a , R e p e r t o r i u m ) . Bibliographien Chrysostomus Baur, Johannes Chrysostomus u. seine Zeit, 2 Bde., München 1 9 2 9 - 1 9 3 0 (s. auch: ders., S. Jean Chrysostome et ses oeuvres dans l'histoire littéraire, Paris/Louvain 1907). - D . C . Bürger, A complété bibliography of the scholarship on the life and works of Saint John Chrysostom (veröffentlicht v. Autor, 621 Garret Place, Evanston/Illinois, USA) 1964. - Codices chrysostomici graeci. I Brittaniae et Hiberniae. Ed. Michel Aubineau, Paris 1968; II Germaniae. Ed. Robert E. Carter, Paris 1968; III Americae et Europae occidentalis. Ed. Robert E. Carter, Paris 1970. - CPG 4305 - 4499 (genuina)/4500-5197 (spuria et dubia). - J . A. de Aldama, Repertorium pseudo-chrysostomicum, Paris 1965. Quellen Johannes Chrysostomus: Ioannis Chrysostomi opéra omnia. Ed. Henricus Savilius, 8 Bde., Eton 1612. - PG 4 7 - 6 4 . - A. Théodore. Ed. Jean Dumortier, 1966 (SC 117). - A une jeune veuve/Sur le mariage unique. Ed. Bernard Grillot/G.H. Ettlinger, 1968 (SC 138). - Homélies sur Ozias. Ed. Jean Dumortier (SC 277). - Les cohabitations suspectes. Ed. ders., Paris 1985 (Les belles lettres).-Lettres d'exil. Ed. Anne-Marie Malingrey, 1964 (SC 103). - Lettres à Olympias et la Vie anonyme

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Johannes Chrysostomus

d'Olympias. Ed. diess., 1968 (SC 13bis). - Panégyriques de s. Paul. Ed. Auguste Piédagnel, 1982 (SC 300). - Sur l'incompréhensibilité de Dieu. Ed. Jean Daniélou/Anne-Marie Malingrey/Robert Flacelière, 1970 (SC 28bis). - Sur la providence de Dieu. Ed. Anne-Marie Malingrey, 1962 (SC 79). - Sur la vaine gloire et l'éducation des enfants. Ed. diess., 1972 (SC 188). - Sur le sacerdoce. Ed. diess., 1980 (SC 272). Andere: Huit catéchèses baptismales inédites. Ed. Antoine Wenger 2 1970 (SC 50). - Palladius, Dialogus de vita S. Ioannis Chrysostomi. Ed. P. R. Coleman-Norton, Cambridge 1928 2 1958. Photius, Bibliotheca codd. 52/96. Ed. René Henry 1 (1959) 5 2 - 5 7 ; II (1960) 4 8 - 6 3 (CBy). Literatur

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Johannes von Damaskus

127

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Jean-Marie Leroux Johannes von Damaskus (ca. 1. Leben

1.

2. Werke

650-?)

3. Würdigung

4. N a c h w i r k u n g

( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 130)

Leben

Johannes ist geboren in Damaskus wohl um 650 als Sohn der Familie der Mansur, die über Generationen Staatsämter bei den Byzantinern und Kalifen bekleidete, bei ersteren freilich mit dem Makel behaftet war, daß ein Mansur 635 Damaskos den Arabern übergeben hat. Sein Vater Sargun ließ Johannes und seinem Adoptivbruder Kosmas durch den freigekauften kriegsgefangenen Lehrer Kosmas aus Unteritalien die übliche Schulausbildung vermitteln. Johannes pflog zusammen mit dem arabischen Dichter Ahtal (geb. ca. 640) freundschaftliche Beziehungen mit dem späteren Kalifen Jazid (680-683). Wie seinem Vater wurden auch Johannes Vertrauensämter am Hof übertragen. Das tolerante Verhalten der Kalifen gegenüber den Christen änderte sich indessen unter den Marwaniden Abdel Malek (685-705) und besonders Omar II. (717-720); kein Christ konnte mehr eine hohe Verwaltungsstelle einnehmen. So quittierte Johannes seinen Staatsdienst und zog sich mit seinem Adoptivbruder Kosmas nach Mar Saba zurück, widmete sich hier der Askese und dem Studium der Bibel und der Väter, verfaßte theologische Schriften zur Darstellung und Verteidigung der Orthodoxie und zur Erbauung des Volkes und wurde zum Berater benachbarter Bischöfe. Groß war sein Name als Hymnendichter. Von Johannes V. von Jerusalem (706-727) wurde er auf den Titel der Anastasis-Kirche zum Priester geweiht. In der Heiligen Stadt trat er verschiedentlich als Prediger auf. Im Bilderstreit setzte er sich für die Verehrung der Ikonen ein (—»Bilder). Die Erzählung von der abgehauenen Hand und ihrer Heilung durch die Gottesmutter (tricheirusa) ist Legende. Gegen Ende seines Lebens soll er seine Schriften revidiert haben, eine Nachricht, die von der handschriftlichen Überlieferung gestützt wird. Im hohen Alter beschloß er an einem 4. Dezember unbekannten Jahres sein Leben und wurde in Mar Saba beigesetzt. Die Ikonoklastensynode von Hieria (754) bezeichnete ihn als verstorben, verhängte über ihn das dreifache Anathem und mißbrauchte seinen Familien- zum Schimpfnamen MavÇrjpôç (Bastard). Das zweite Konzil von -»Nicäa (787) rehabilitierte Johannes. - Abgebildet wird Johannes mit dem Turban (LCI 7,102). 2. Werke (mit der Nr. der CPG) 2.1. Echte. Die Quelle der Erkenntnis (IIr\yrj yvtbaeojç). In einer vorausgesetzten Epistel widmet Johannes das Werk seinem Adoptivbruder Kosmas, Bischof von Majuma, und kündet den Gegenstand des dreiteiligen Werkes an: a) In den philosophischen Kapiteln, auch Dialektik genannt (8041; Ausg. Kotier [K.] 1,27), will er das Beste der heidnischen Philosophen darlegen. - b) Im Buch über die Irrlehren (8044; K. IV,1) stellt er zur Abgrenzung der Wahrheit gegenüber der Lüge die Häresien bis auf seine Zeit zusammen, die ersten 80 aus der Anakephalaiosis des Epiphanios. — c) Die Genaue Auslegung ( "EKÔOUIÇ) des rechten Glaubens (8043; K. II) gibt die kirchliche Lehre wieder: Gott und Schöpfung, Anthropologie, Christologie, Soteriologie und Eschatologie, eingeschoben sind gegen Ende Einzelfragen. Die Reihenfolge Irrlehren vor der Dogmatik ist vorgegeben im Kompendium der Irrlehren des -»Theodoretos von Kyrrhos (6223), die Anordnung des Stoffes in etwa im 5. Buch dieses Werkes. Es kehren darin Gedanken des -»Gregor von Nazianz und der Doctrina patrum, des Pseudo-Kyrillos, Eulogios von Alexandreia und Nemesios von Emesa wieder. - Jeder der drei Teile ist in zwei Gestalten überliefert: Die philosophischen Kapitel mit 68 und 50 Kapiteln, die Haereses in der zweiten Form mit

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Johannes von Damaskus

Zusätzen zu den einzelnen Nummern und AK'EKÖOOIQ in der gruppenweisen Umstellung der Kapitel; 100 bzw. 50 Kapitel stellen ganze oder halbe Zenturien dar. - Einige scheinbar selbständige Schriften des Johannes sind nur Auszüge aus der Ekdosis: Über die Willensfreiheit = Kap. 3 9 - 4 4 , Über das Kreuz = Kap. 84 (8084), Über den Leib und das Blut Christi = Kap. 86 und die Auferstehung der Toten = Kap. 100. - Als Nachschrift eines Lehrvortrages (and (pcovrjq) bezeichnet sich die kurze Elementare Einführung in die Dogmen, vielleicht etwas wie eine Vorarbeit zu den philosophischen Kapiteln, gewidmet dem Bischof Johannes von Laodikeia, wohl der Metropolis von Antiocheia (8040; K. 1,1). — Büchlein von der rechten Gesinnung (8046), ein Glaubensbekenntnis. - In den Drei Reden an die Schmäher der hl. Ikonen (8045; K. III) wird, von einer zur anderen fortschreitend und verdeutlichend, behandelt der Zweck des Bildes als Begreiflichmachung von rein geistigen Gehalten, das Verhältnis vom Prototyp zum Antityp, seine Verehrung (Proskynesis, während Latreia nur für die Gottheit), seine Bezogenheit auf das Urbild und seine Berechtigung aus der Inkarnation des Logos (-»Bilder). - Gegen Irrlehren sind gerichtet die Schriften Über den Glauben gegen die Nestorianer (8054; K. IV,233), Gegen die Nestorianer (8053; K. IV,255), Über die zusammengesetzte Natur gegen die Akephaler (8051; K. IV,399) und Gegen die Jakobiten (8047; K. IV,99); ein Teil der Überlieferung weil? dazu noch, daß die Schrift Über den Trisagion-Hymnos (8049; K. IV,289) auf Ersuchen des Metropoliten Petros II. von Damaskus verfaßt wurde und für den Bischof von Dara bestimmt war, die Frage betreffend, ob an das Trisagion (-»Trishagion) der als monophysitisch empfundene Zusatz des Petros Knapheus „der für uns gekreuzigt wurde" angefügt werden darf oder abzulehnen ist; andere freilich kommen zu dem Schluß, diese Schrift sei von Sophronios Sophistes. - Die Schrift Über die Idiome der in unserem einen Herrn Christus vereinigten zwei Naturen, beiläufig auch über die zwei Willen und Energien, und die eine Hypostase (8052; K. IV,155) verteidigt die kirchliche Lehre gegen -»Monophysiten und Monotheleten. - Der Dialog Gegen die Manichäer (8048; K. IV,333) nimmt die dualistischen Lehren der Manichäer auf und widerlegt sie. - Das Streitgespräch zwischen einem Sarazenen und Christen (8075; K. IV,419) ist nur über -»Theodor Abu Qurra „nach einem Lehrvortrag" unserem Kirchenvater zuzueignen. Erklärung der Paulusbriefe, näherhin Auszug aus der Auslegung des Johannes Chrysostomos zu den Paulinen (8079; PG 95,441), verläßt diese aber ganz in Eph, Phil, Kol, I.II Thess und weitgehend in II Tim, so daß für diese Teile geistiges Gut des Johannes nicht auszuschließen ist. - Die Hiera, nach dem 3. Buch gewöhnlich Sacra Parallela genannt (8056; PG 95/96), eine biblisch-patristische Stoffsammlung für das christliche Leben, in der ursprünglichen Form nur noch teilweise erhalten; die Autorschaft ist unsicher. Paschalion (8055; PG 95,239), eine Tafel zur Berechnung des Ostertermins. - Eine kurze Abhandlung Über das Fasten (8050, PG 95,63). - An Predigten von Johannes sind erhalten solche: a) Auf die hl. Geburt Christi (8067; K. V,305), mit dem Religionsgespräch am Sassanidenhof als großer Einschaltung; b) Auf den verdorrten Feigenbaum und das Gleichnis vom Weinberg (8058; K. V,91), gehalten an einem Montag der Karwoche; Kap. 7 ist auch getrennt überliefert als Anweisung für die Lauterkeit der Seele (Hoeck [ = H.] Nr. 56); c) Auf den Karsamstag oder das Begräbnis des Herrn und die Myrophoren (8059; K. V , l l l ) ; d) Auf die Verklärung unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus (8057; K. V,419); e) Auf den Geburtstag der hl. Gottesmutter Maria (8060; SC 80; K. V,147), es bestehen Zweifel an der Echtheit; f) Auf die Entschlafung der hl. Gottesmutter (8061-8063; SC 80,80; K. V,461), gehalten an einem 15. August als Triologie bei der ganznächtlichen Festfeier. In die zweite Predigt ist als Kap. 18 die Historia Euthymiaca eingefügt, eine Interpolation, die sich der ganzen Überlieferung bemächtigte; Hoeck will in ihr ein Werk des Michael Synkellos sehen; g) Auf den hl. Johannes Chrysostomos (8064; K. V,349) zum Gedenktag am 27. Januar; h) Auf die hl. und berühmte Martyrin Christi Barbara (8065; K. V,247) vermutlich an einem 4. Dezember, unter Auswertung einer Passio. - Hypomnema oder genauer Bericht vom Martyrium des hl. und berühmten Großmartyrers und Wundertäters Artemios, zusammengestellt aus der Kirchengeschich-

Johannes von Damaskus

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te des Philostorgios und mancher anderer (8082; K. V,183); Johannes von Rhodos als Verfasser ist a u s z u s c h l i e ß e n . - E r b a u l i c h e Geschichte von Barlaam und Joasaph (8120; K. VI in Vorb.), christliche Bearbeitung der Buddha-Legende und indischer Fabeln; eingebaut ist die Apologie des Aristides (1062). Für Johannes als Autor sprechen die weitaus größte Zahl der Handschriften und das Zeugnis der ältesten (arabischen) Vita. - Von den vielen Johannes zugeschriebenen Dichtungen (8070) sind sicher echt die sog. jambischen Kanones auf Weihnachten, Epiphanie und Pfingsten (ed. A. Nauck: BASP n.s. 4 [36] 1 0 5 - 1 2 9 ; PG 96, 8 1 7 - 8 4 0 ) und die Kanones auf Ostern, Antipascha, Himmelfahrt und Verklärung Christi (PG 96; 8 4 0 - 8 5 3 ; Ausg. mit Noten: M M B T 6 und M M B A 2). Erstere entsprechen den metrischen Gesetzen des antiken jambischen Trimeters, des byzantinischen Zwölfsilbers und der Strophik und ergeben in ihrer Akrostichis zwei elegische Distichen als epigrammatische Formulierung des Festgeheimnisses. Über Weiteres s. H . Follieri: S t T 215 (1966) 273 f (Index). 2.2. Dubia. Akten von der hl. Catharina ( H . 7 2 , verloren?); Erzählung von Bischof Meletios von Antiocheia (H. 77); Rede Auf das Michaelwunder in Chonai (8125) und den Euangelismos (8118), eine Abhandlung Über die Trinität (8077), Erotapokriseis (2261; H. 4), Exzerpte und Fragmente geringen Umfangs (8087); unediert ein Glaubensbekenntnis (H. 8), Auszüge aus Maximos ( H . 4 6 ) , Reden Über die Fastenzeit (H. 100) und die Parusie (H. 112), Abhandlungen Über das Gebet des Herrn (H. 58), die Gerechtigkeit, den rechten Glauben und gegen die Arianer und Juden (H. 137f) und Gebete (8081). — Nur in Übersetzungen sind erhalten: arabisch (8078; 8088—8091) Auslegung und Erklärung des Glaubens (lat. PG 95,417), Widerlegung der Sarazenen, über die Theotokos, über die Jungfräulichkeit, Rede auf Christi Himmelfahrt-, armenisch ( 8 0 9 2 - 8 0 9 4 ) Antworten an die Juden, Über das Paradies, Über die Vorsehung-, georgisch ( 8 0 9 5 - 8 1 0 0 ) Reden Auf den Weihetag der Auferstehungskirche, Auf die Märtyrer und Väter, Auf die Erzengel, Auf die Geburt des Herrn, Auf den Täufer und ein Martyrium des Petros von Kapitolias. 2.3. Spuria. a) unbekannter Herkunft: Reden Auf Hypapante (8066; K. V,371), Auf den Palmsonntag (8086; K. V,63), Über die im Herrn Entschlafenen (8112), Über den Tag des Gerichtes (H. 113), Auf Elias (8083; K. V,397), Anastasia (8068; K. V,279), An die Lateiner (8127, arm); Synopse des AT (H.65), Doctrina Patrum (H. 18), Über den unbefleckten Leib (8117), Synopsis zum großen Kanon (8085), Vita des Johannes Kalybites (H. 75), Passio der 60 Märtyrer von Jerusalem (H. 76), Über die Zeugung des Menschen (8123), Über Drachen und Hexen (8087), Über die 8 Geister der Bosheit (8110,3975), eine Grammatische Schrift (BySl 40, 1979, 301), ein Glossar (H. 121), Lehrhafte Erklärungen (8124). - Unechtes über Physik, Medizin, Astronomie und Musiktheorie (H. 1 1 8 - 1 2 5 ; 1 4 3 - 1 5 0 ) . — b) Was anderen Autoren zugewiesen wurde, ist hier nicht mehr aufgeführt (vgl. Hoeck und Kotter), außerdem Dialexis mit einem Manichäer (H.27) von Leon Grammatikos. 3.

Würdigung

Johannes ist vorwiegend Kompilator, der mit kritischem Blick auswählt und mit geschickter Hand die verschiedenartigen Teile seinem Gesamtplan einfügt und so in der TJrjyrj yvdtaeoJQ eine Systematik erreicht, die zwar hinter den Summen des lateinischen Westens zurückbleibt, aber für die Byzantiner beachtenswert ist. Er erweist sich darin nicht als originaler Denker, wohl aber als der originalste Mosaizist innerhalb der Kunst der Theologie (Beck). M i t seinem Grundsatz, nichts Eigenes sagen zu wollen, bekennt er sich zu einer Zeit und Welt, in der Originalität suspekt ist, weil dabei die Marksteine der Lehre, die die gottgesinnten Väter in göttlicher Inspiration gesetzt hatten, angerührt werden könnten, und die es darum vorzieht, Wahrheiten zu formulieren, indem man zitiert (Andresen). Gleichwohl zeigt Johannes in den Bilderreden und an nicht wenigen Stellen gerade der kleineren theologischen Abhandlungen eigenständiges Denken. Er darf zu den großen Dogmatikern der griechischen Kirche gezählt werden, zu den vielseitigsten religiösen Schriftstellern und beliebten Predigern des Ostens und als der meist bewunder-

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te K i r c h e n d i c h t e r gelten. Als literarische C h a r a k t e r i s t i k des J o h a n n e s h a t Franz D ö l g e r ( S B A W . P P H 1951 H . 6 , 9 f ) erarbeitet: D a s Einfügen von dogmatischen Definitionen oft an unpassenden Stellen, wörtliches Ausschreiben eigener T e x t e a u f lange Strecken, bedenkenloses Ü b e r n e h m e n ganzer Kapitel aus fremden Werken und die Benutzung von A p o kryphen und - d a m a l s u n g e w o h n t - von sog. T h e o s o p h i e n zur H e i d e n a p o l o g e t i k .

4.

Nachwirkung

Abgeschrieben wurden vor allem die Iltjyij (ca. 2 4 0 Hss), die Marienpredigten und der Barlaam. Z u E r k l ä r u n g e n regten besonders die gekünstelte F o r m und der oft d u n k l e Inhalt seiner D i c h t u n g e n an. Von den Schriftstellern der Folgezeit wurden die W e r k e des J o h a n n e s m e h r f a c h verwendet, so im M a x i m o s - F l o r i l e g von - » E u t h y m i o s Z i g a b e n o s , N i k e t a s C h o n i a t e s und Neilos D o x o p a t r e s , k a u m a b e r die D i a l e k t i k . R i c h t u n g g e b e n d blieben die Ausführungen des J o h a n n e s über das Vorherwissen G o t t e s , über die Vorsehung und V o r h e r b e s t i m m u n g ( - » P r ä d e s t i n a t i o n ) und die von ihm geprägten T e r m i n i von avyxcöptjaiQ und napaxojptjoiq, von avzöparov und Tr/l- O b J o h a n n e s damit auch die islamische T h e o l o g i e ( - » I s l a m ) beeinflußt h a t , ist umstritten. In den Unionsfragen wurde besonders bei der Trinitätslehre auf J o h a n n e s zurückgegriffen, auch in den B e k e n n t n i s schriften der griechischen K i r c h e in den Fragen des Filioque (—»Trinität) und des Heiligen-, Bilder- und Reliquienkultes. In Ubersetzungen gelangte J o h a n n e s zu den b e n a c h barten V ö l k e r n , seit dem 1 0 . / I I . J h . zu den G e o r g i e r n , Armeniern und A r a b e r n , v o r a n i m m e r die Tlr\yr]. Diese stellt in den O s t k i r c h e n das grundlegende Werk des theologischen D e n k e n s in den nun folgenden wenig schöpferischen G e n e r a t i o n e n dar. A u f a u s n e h m e n d fruchtbaren B o d e n fielen die Werke des J o h a n n e s bei den Slaven. Bis fast in das 17. J h . blieb die "EKÖOOIQ das einzige Werk der russischen T h e o l o g i e . In der Neuzeit genießt sie das Ansehen einer altkirchlichen und altpatristischen D o g m a t i k . Aleksej K o n s t a n t i n o v i c T o l s t o j widmete J o h a n n e s ein G e d i c h t , wie s c h o n - » M a r k o s E u g e n i k o s einen K a n o n . In den lateinischen Westen k a m e n zuerst die H o m i l i e n , dann c a . 1 1 4 0 über Ungarn die "EKÖOOIQ in der Übersetzung des Burgundio von Pisa; R o b e r t - » G r o s s e t e s t e überarbeitete letztere und übertrug a u c h die restlichen Teile der Tlr\yf], Z u n ä c h s t begegnete m a n J o h a n nes und der E i n f ü h r u n g der griechischen T e r m i n o l o g i e mit Vorsicht, a b e r mit der Billigung der Trinitätslehre des - » P e t r u s L o m b a r d u s auf dem Vierten L a t e r a n k o n z i l von 1 2 1 5 ( - • L a t e r a n s y n o d e n ) s c h w a n d dieses M i ß t r a u e n . In der Folgezeit w u r d e die "EKÖOOIQ eifrig kopiert und zitiert. In Anlehnung an die Sentenzen des Petrus L o m b a r d u s zerlegte m a n M i t t e des 13. J h . a u c h d\e"EKÖOOIQ (De Fide Orthodoxa) in vier B ü c h e r , eine Gliederung, die fortan im Westen gültig blieb, und n a n n t e sie vielfach Sententiae Damasceni. D e r Einfluß des J o h a n n e s auf die - » S c h o l a s t i k beruht weniger in der F ö r d e r u n g der Systematik als in der Z u f u h r von Erkenntnisstoffen und einer ziemlich gut ausgebildeten T e r m i n o l o g i e . In den Unionsverhandlungen von F e r r a r a - F l o r e n z ( - » B a s e l - F e r r a r a - F l o renz) wird J o h a n n e s m e h r f a c h angerufen in Fragen des Filioque und der Eucharistie. Seit 1507 erschienen in einer u n u n t e r b r o c h e n e n Kette die "EKÖOOIQ und die übrigen Teile der Ilriyri in lateinischer Übersetzung im D r u c k , zunächst in der B e a r b e i t u n g des —•Faber Stapulensis. Billius bringt 1577 die erste G e s a m t a u s g a b e , teilweise mit griechischem T e x t , 1 7 1 2 Lequien die erweiterte A u s g a b e mit neuer lateinischer Übersetzung, n a c h g e d r u c k t 1 8 6 0 von M i g n e , zugleich Vorlage für fast alle m o d e r n e n (Teil-) Übersetzungen: neugriechisch, r u m ä n i s c h , russisch, polnisch, deutsch, italienisch, französisch, niederländisch, englisch; den R e k o r d an Übersetzungen aber hält der Barlaam.

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Johannes von Damaskus

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versehen u. als sein Werk bezeichnet. - Vita (Joannis) a Joanne VII patriarcha Hierosolymitano (gest. 966) conscripta (BHG 884), auf der Grundlage der vorigen arab. Vita. - Laudatio a Constantino Acropolita (gest. ca. 1321; BHG 885). Legendäre Bearb. der vorigen Vita. - Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae, ed. H. Delehaye. Propylaeum ad ActaSS Nov. Bruxelles 1902,278f (BHG 885 e; 4. Dez.). - Vita Cosmae et Joannis Damasceni anonyma (BHG 394). - Vita Cosmae et Joannis a Joanne Mercuropulo (gest. ca. 1165; BHG 395). Ausg.: PG 9 4 - 9 6 . - D i e Schriften des Johannes von Damaskos, hg.v. Byz. Institut der Abtei Scheyern, besorgt v. Bonifatius Kotter I - V . [ = K.], 1969-1986 (PTS 7.12.17.22.29). Literatur Gregorio de Andrés, Carta de Teodosio el Gramático (s. IX) sobre el Léxico de los Cánones de San Juan Damasceno, según el códice Complutense „Villamil Nr. 3 0 " : EM 41 (1973) 3 7 7 - 3 9 5 . 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Johannes von Fécamp

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f Bonifatius Kotter Johannes von Fécamp (nach 1. Leben

2 . Werk

990-1078)

(Literatur S. 133)

1. Leben Vermutlich kurz nach 990 in der Gegend von Ravenna geboren, begann Johannes früh den monastischen Lebensweg. Mit Sicherheit war er Mönch des Klosters St.-Bénigne von Dijon, in dessen Konvent er 1015/16 die Gründungsurkunde von Fruttuaria als Zeuge unterzeichnete: in der Form Johannulinus, die auf seine kleine Gestalt anspielt (vgl. auch PL 162,827 D). Sein Landsmann Wilhelm von Volpiano, der als Abt von St.-Bénigne (990-1031) eine ausgedehnte klösterliche Reformtätigkeit in Burgund, Franzien, Lothringen und der Normandie entfaltete, war sein Lehrer und großer Förderer. Er schickte Johannes 1017 als Prior in das normannische Kloster La Trinité von Fécamp an der Côte d'Albâtre, das er 1001 reformiert hatte und das in besonders engem Verhältnis zum Herzogshaus stand und einen religiösen und geistigen Mittelpunkt der Normandie bildete. Von 1028 bis zu seinem Tod am 22. Februar 1078 war Johannes Abt von Fécamp. In diesen fünfzig Jahren setzte er Wilhelms Werk im normannischen Mönchtum erfolgreich fort. 1052-1054 leitete er neben seinem eigenen Kloster zugleich St.-Bénigne; auch andere Klöster wie Blangy, Evreux und Bernay unterstanden ihm zeitweilig. Seine ausgedehnte kirchenpolitische Tätigkeit führte ihn 1050 nach Italien und 1054 nach England; von einer Reise ins -»Heilige Land wird ebenfalls berichtet, die ihm Gefangenschaft eingetragen haben soll. 2. Werk Johannes ist nicht nur Exponent der großen monastischen Reformbewegung im 10. Jh., sondern auch ein wichtiger literarischer Vertreter des damals wieder erwachten anachoretischen Ideals, dem er selbst vermutlich in seiner Jugend nachgestrebt hatte und das im normannischen Mönchtum seiner Zeit etwa durch Anastasius und Robert von Tombelaine verwirklicht wurde. Das Leiden an dem Zwiespalt zwischen einem ersehnten Einsiedlerleben und seiner tatsächlichen Existenz in der Gemeinschaft, zwischen dem Verlangen nach Ruhe zur Kontemplation und dem Zwang zu ausgedehnten Aktivitäten, dem der Leiter monastischer Gemeinschaften unterliegt, prägten seine Frömmigkeit und sein literarisches Schaffen. Seine Hauptwerke bilden drei Sammlungen von Gebeten und Meditationen, die in gewisser Hinsicht die Art von -»Florilegien aus Bibel und Kirchenvätern besitzen (vgl. PL 147,455 A: defloratiunculae, 455 C: deflorationis opusculum). Besonders viel verdankt Johannes den Kirchenvätern -»Augustin und -»Gregor d.Gr.; aber er hat sein aus der Lektüre der originalen Quellen geschöpftes Material in sehr eigenständiger Weise verarbeitet. Wie er im Titel seines grundlegenden Werks die alte hymnisch-homologische Bedeutung des Theologiebegriffs wieder aufgreift, so hat auch seine Gedankenführung noch nicht den Charakter scharfen Zergliederns und Argumentierens, sondern den einer anbetend-meditierenden Vertiefung in die Überlieferung. Johannes formuliert seine Gedanken immer wieder neu, scheut sich jedoch auch nicht vor umfangreichen, teilweise wörtlichen Wiederholungen. Diese schriftstellerische Eigenart wirkte nach seinem Tode fort und ließ seine Werke zur Quelle zahlreicher Kurzfassungen und Textsammlungen werden, die teils anonym, teils unter fremdem Namen (besonders unter dem des von Johannes häufig zitierten Augustin) überliefert wurden. Erst mit Jean Mabillons Mitteilungen (1675) aus einer Handschrift von St. Arnulf in Metz aus dem 11. Jh. (später: Bibl. Comm. 245) hat die Forschung begonnen, ihm seine Werke zurück-

Johannes von Fécamp

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zuerstatten (im 20. J h . v. a. A. Wilmart, J . Leclercq, J.-P. Bonnes). Abschließende Untersuchungen und eine kritische Gesamtausgabe fehlen bis heute. Hauptwerke: a) Confessio theologica: Erstmals herausgegeben unter dem N a m e n Johannes Cassians, Paris 1539, danach unter dem Augustins, Antwerpen 1545 u . ö . , später in Vergessenheit geraten (ed. Leclercq/Bonnes 1 0 9 - 1 8 3 ; Bruchstücke einer verkürzten Fassung im cod. Metz: PL 1 4 7 , 4 5 9 - 4 6 1 ) . Enthält drei Teile: 1. Trinität, 2. Erlöser, Erlösung und Gnadenwirkungen, 3. Weg zu G o t t . Vor 1028 verfaßt (als Johannes noch Prior war, vgl. II, 400 Leclercq/Bonnes). - b) Libellus de scripturis et verbis patrum collectus ad eorum praesertim utilitatem, qui contemplativae sunt amatores: Herausgegeben mit fremden Zusätzen unter dem Titel Meditationes S. Augustini (PL 4 0 , 8 9 7 - 9 4 2 ) . Libellus pars 1: M e d . 1 2 - 1 7 ; 2: M e d . 1 8 - 2 5 ; 3: M e d . 2 7 - 3 3 ; abschließend vier Gebete: M e d . 3 5 , 36, 3 7 a , 3 7 b . Entstanden vor 1063, vermutlich 1030/50, unter Verwendung großer Partien der Confessio theologica, jedoch mit anderem Aufbau: 1. Weg zu G o t t , 2. Liebe zum Erlöser, 3. Aufstieg zur Schau der Trinität. - c) Confessio fidei: Aus einer Handschrift von Lyon, später cod. Montpellier Univ. 309, erstmals unter dem N a m e n Alcuins herausgegeben von P.F. Chifflet, Dijon 1656 (PL 1 0 1 , 1 0 2 7 - 1 0 9 8 ) . Ist in der Edition in vier Teile gegliedert, die den tatsächlichen Aufbau verschleiern: I) 1 De deo uno et trino + 2 De verbo incarnato, teilweise unter Verwendung von Confessio theologica 1 + 2 ; II) 3 De deo trino et uno, de Christo ac de aliis plerisque ecclesiasticis dogmatibus, ein zu einem Abriß der Dogmatik erweitertes Symbol; III) 4 , 1 - 9 De corpore et sanguine Domini, Abhandlung über das Abendmahl in Auseinandersetzung mit -»Berengar von Tours; IV) 4 , 1 0 - 1 8 , neue Version von Teil II; 4 , 1 0 - 1 1 weitgehend nach Confessio theologica deeep2 , 1 - 3 . Da Johannes den Gegner als Häretiker anspricht (c. 5 , 1 0 8 9 D: tu haeretico tus spiritü), dürfte Teil III nach den Verurteilungen Berengars durch die Synoden von 1050 entstanden sein; entsprechend ist die ganze Confessio fidei zu datieren. Kleinere Werke (ihre Zuweisung ist z . T . noch nicht endgültig geklärt): 1. Deploratio quietis et solitudinis derelictae (ed. Leclercq/Bonnes 184—197), eine Verherrlichung des Einsiedlerlebens in den T ö n e n der Brautmystik verbunden mit einer ergreifenden Klage über die Unmöglichkeit, ein solches Leben zu führen. — 2. Ein Gebet Summe Sacerdos, das unter dem Titel Oratio S. Ambrosii in das Missale R o m a n u m eingegangen ist (Wilmart, Auteurs 1 1 4 - 1 2 4 , auch als Oratio S. Anselmi 29: PL 1 5 8 , 9 2 1 - 9 2 5 ) . - 3. Versiculi ad excitandam cordis compunctionem: Klage über das Elend des Menschen und Erinnerung an das künftige Gericht (ed. Wilmart 1 3 1 - 1 3 4 ) . - 4 . Lessus paenitentiae O mi custos (ed. Leclercq/Bonnes 2 2 1 - 2 2 8 ) . - 5 . Gratiarum actiones pro benefieiis divinae misericordiae (PL 1 5 8 , 7 9 8 - 8 0 3 ) . - 6. Überarbeitung einer Oratio de vitiis et virtutibus des Ambrosius Autpertus (ed. Leclercq: A n M o 2, 7 - 1 7 ) . - 7. Wahrscheinlich das Gebet Pater mi (ed. Leclercq/Bonnes 2 2 9 - 2 3 0 ) . - 8. Wahrscheinlich die Heiligenlitanei im cod. Paris B N lat. 2401, f. 1 3 5 r - 1 3 6 v (ed. Leclercq, Prières 1 6 3 - 1 6 6 ) . Briefe: 1. an eine unbekannte Nonne mit (erster) Widmung des Libellus (ed. W i l m a r t , Deux préfaces 1 0 - 2 2 ; Leclercq/Bonnes 2 0 5 - 2 1 0 ) . - 2. an Agnes (v. Poitou), Witwe Kaiser Heinrichs III., mit (zweiter) Widmung des Libellus, wohl Ende 1063 (PL 1 4 7 , 4 5 3 458; Wilmart, Deux préfaces 1 0 - 2 2 ; Leclercq/Bonnes 2 1 1 - 2 1 7 ) , teilweise unter Verwendung des 1. Briefs. - 3. Tuae quidem an einen unbekannten Freund (Leclercq/Bonnes 1 9 8 - 2 0 4 ) . - 4. Sechs Briefe an ungehorsame M ö n c h e (PL 1 4 7 , 4 7 3 B - 4 7 4 C ; Leclercq/ Bonnes 2 1 8 - 2 2 0 ) , an Äbte und M ö n c h e von Fécamp abhängiger Klöster (PL 1 4 7 , 4 6 4 D 4 6 5 D ; 4 7 4 D - 4 7 5 C ) , an König Wilhelm von England (PL 147,476 A - C ) , und Papst Leo I X . (PL 1 4 3 , 7 9 7 - 8 0 0 ) . Literatur L ' a b b a y e bénédictine de F é c a m p . Ouvrage scientifique du X I I I e centenaire 6 5 8 - 1 9 5 8 , 4 Bde., F é c a m p 1 9 5 9 - 1 9 6 3 . - Neithard Bulst, Unters, zu den Klosterreformen Wilhelms v. Dijon ( 9 6 2 - 1 0 3 1 ) , Bonn 1973 (Pariser Hist. Stud. 11). - Robert Bultot, Christianisme et valeurs humaines. A. L a doctrine du mépris du monde, en Occident, de S. Ambroise à Innocent III, IV/2, Louvain/Paris

Johannes vom Kreuz

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1964, 1 1 - 2 3 . - J o s e p h D a o u s t , Art. F é c a m p : D i z i o n a r i o degli Istituti di perfezione 3 (1976) 1 4 2 5 - 1 4 2 8 . - J o s e f Geiselmann, Stud. zu f r ü h m a . A b e n d m a h l s s c h r . , Paderborn 1926 ( 5 1 - 9 7 : Ps.Alkuins Confessio Fidei pars IV de corpore et sanguine Domini). - Histoire littéraire de la France, nouv. ed., V i l i , 1868, 4 8 - 5 9 . - J e a n Leclercq, Écrits spirituels de l'école de J e a n de F é c a m p : A n M o 1 5 = StAns 2 0 (1948) 9 1 - 1 1 4 . - Ders., La prière au sujet des vices et des vertus: A n M o 2 = StAns 31 (1953) 3 - 1 7 . - Ders., Prières attribuables à Guillaume et à J e a n de Fruttuaria: M o n a s t e r i in Alta Italia d o p o le invasioni saracene et magiare (sec. X - X I I ) , Turin 1 9 6 6 , 1 5 7 - 1 6 6 . - Ders., Art. J e a n de F é c a m p : D S p 8 (1974) 5 0 9 - 5 1 1 . - J e a n L e c l e r c q / J e a n - P a u l B o n n e s , Un maître de la vie spirituelle au X I ' siècle. J e a n de F é c a m p , 1946 ( E T H S 9). - G é r a r d M a t h o n , J e a n de F é c a m p théologien monasti10 que? (Notes de Lecture de Confessio fidei, III, 3 6 - 4 0 ) : La N o r m a n d i e bénédictine au temps de Guillaume le C o n q u é r a n t ( X I e siècle), Lille 1 9 6 7 , 4 8 5 - 5 0 0 . - A n d r é W i l m a r t , Auteurs spirituels et textes dévots du moyen âge latin, Paris 1932 ( N a c h d r . Paris 1971). - D e r s . , F o r m e s successives ou paralleles des „ M é d i t a t i o n s de Saint A u g u s t i n " : R A M 17 (1936) 3 3 7 - 3 5 7 . - Ders., D e u x préfaces spirituelles de J e a n de F é c a m p : R A M 18 (1937) 3 - 4 4 .

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Ulrich Köpf

Johannes vom Kreuz 1. Leben S. 139)

(1542-1591)

2. Schriften und T h e o l o g i e

3. W i r k u n g e n

(Quellen/Bibliographien/Literatur

J o h a n n e s vom Kreuz war über lange Z e i t ein nur dem N a m e n nach bekannter T h e o l o g e , der 20 bestenfalls von Spaniern und von Franzosen gelesen und untersucht wurde. Die protestantische Welt w u ß t e fast nichts von ihm. Die R E gibt ihm noch in der 3 . Auflage keinen Artikel, ebensowenig das E K L 1958. Übersetzungen seiner Werke in außerspanische Sprachen werden erst im 20. J h . angefertigt, aber mittlerweile mehren sich m o n o g r a p h i s c h e Untersuchungen auch im deutschen und englischen Sprachraum. D a f ü r gibt es verschiedene G r ü n d e : - » S p a n i e n ist aus der geographischen R a n d 25 läge mittlerweile stärker mit dem übrigen E u r o p a verbunden: Die Eigenart der spanischen Geschichte und Kirchengeschichte, nicht nur des 16. J h . , tritt zunehmend deutlicher hervor; gerne verlagert die Forschung ihr Interesse von den weithin untersuchten Zentralfiguren auf die Randgestalten der Geschichte; und die neu erwachte, fast schwärmerische H i n w e n d u n g zur - » Mystik und - » E s o t e r i k hat auch J o h a n n e s vom Kreuz stärker ins Blickfeld gerückt, nachdem seine Erhebung zum Kirchen30 lehrer 1926 die theologische Beschäftigung mit ihm zur Pflicht g e m a c h t hatte.

1. Leben

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Johannes wurde am 2 4 . 6 . 1 5 4 2 in Fontivera/Fontiberos in der Nähe von Avila geboren. Seine Familie, dem Adelsgeschlecht de Yepes entstammend, war bitterarm und versuchte, den Sohn frühzeitig ein Handwerk lernen zu lassen. Aber als Tischler und Schneider, als Maler und Bildhauer erwies er sich als untauglich, und so wurde er schließlich einem Hospital übergeben und zum Einsammeln von Almosen herangezogen. Als Juan de S. Matia schloß er sich um 1560 den -»Karmeliten an und wurde von seinem Kloster aufgrund seiner Begabung zum Studium nach Salamanca geschickt. Hier studierte er die Schriften der Patristiker und Scholastiker, besonders -»Gregor von Nyssa und -»Augustin, -»Dionysios Areopagita und - » T h o m a s von Aquin, vor allem aber die Heilige Schrift selbst. Auf Profeß und Studium folgte die Priesterweihe, aber keineswegs ein zufriedenes Leben; zu groß erschien Johannes die Verwahrlosung des Ordensstandes in seiner Zeit, so daß der Plan in ihm reifte, sich den strengen -»Kartäusern anzuschließen. In diese Zeit fiel 1567 die schicksalshafte Begegnung mit -»Teresa von Avila ( 1 5 1 5 1582), die ihre Klosterreform auf die Männerklöster des Karmeliterordens ausweiten wollte und dafür Beistand suchte. Trotz ihrer unterschiedlichen Veranlagung und Ausprägung erkannten die beiden sogleich ihre seelische Verwandtschaft, und es begann eine geistliche Freundschaft, die ein Leben lang anhielt und für beide von größter Bedeutung wurde. „Für Johannes war es einer der größten Glücksfälle seines Lebens, daß er in verhältnismäßig jungen Jahren dem entscheidenden Menschen seines Lebens begegnete, der bereits jenes Sein verkörperte, nach welchem er noch suchte, und dessen religiöse Struktur ihm völlig ebenbürtig w a r " (Nigg 225). Johannes, der sich nie hat porträtieren lassen und dessen Aussehen die Nachwelt nur

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einem Zufall, nämlich einem während einer Ekstase gemalten Bild verdankt, hat sich über diese Beziehung nie geäußert, wohl aber Teresa. Zuerst nannte sie ihn ob seiner kleinen Gestalt nur einen „halben Menschen", aber bald war sie anderer Meinung. „Niemals haben wir eine Unvollkommenheit an ihm entdeckt. Beherzt ist e r . . . e r wird uns hier fehlen, denn er ist besonnenen Geistes und für unsere Weise geeignet... Es ist ein starker Beter und von großer Geisteskraft" (zitiert bei Behn, Im Dunkel 11). „Er war so fromm, daß ich viel mehr von ihm hätte lernen können als er von mir" (Sämtl. Sehr. II, 131). In einem Brief an Philipp II. schreibt sie 1577: „Die ganze Stadt hält ihn für einen Heiligen..., und nach meiner Meinung ist er es ein ganzes Leben hindurch gewesen" (Briefe I [1936], 573). Sie beschrieb ihn auch als ihren „kleinen Seneca" und „in Wahrheit als den Vater meiner Seele, dessen Worte mich reich gefördert haben" (Briefe II, 105). Dabei sah sie auch deutlich seine Grenzen, wenn sie scherzhaft schrieb: „Gott befreie mich von so vergeistigten Menschen!... Mit allem, was ihm in Reichweite kommt, zielt er auf die vollkommene Beschauung", oder noch deutlicher: „Mit dem Frater Juan kann man nicht über Gott sprechen; denn gleich schwindet er zu ihm hinüber oder läßt zu ihm hinüberschwinden" (zitiert bei J. Behn, Im Dunkel 13). Auch wenn die beiden sich nicht häufig gesehen und nur durch ein Gitter hindurch haben sprechen können, war ihr Austausch intensiv, und offenbar haben sie auch ekstatische Erfahrungen miteinander geteilt. Ihr Briefwechsel ist leider nicht erhalten geblieben. Jedenfalls hat Teresa Johannes bei den Karmeliten gehalten, ihn allerdings auf die Seite ihrer Reform gezogen. So gründete Johannes am 28.11.1568 unter dem Namen Juan de la Cruz das erste Männerkloster der unbeschuhten Karmeliten in Duruelo und lebte dort in größter Armut ganz nach der Tradition der Wüstenväter, die er so intensiv studiert hatte. Bald fand er Mitbrüder und konnte seine Begabung für geistliche Führung zur Wirkung bringen. In seinen Verhaltensmaßregeln für Ordenspersonen und Geistlichen Leitsätzen und Denksprüchen, deren Datierung unsicher ist, tritt die asketische Steilheit seiner Einstellung hervor: „Verlange nichts anderes als das Kreuz, und zwar ohne Trost; denn das ist vollkommen" (Werke V, 135). „Verzichte auf deine Wünsche, und du wirst erlangen, was dein Herz begehrt" (ebd. 61). 1570 eröffnete er als Magister das Ordenskolleg in Alcalá, 1572—1577 wirkte er als Spiritual am Kloster der Menschwerdung in Avila, deren Priorin Teresa war und die er mit allen literarischen und persönlichen Mitteln in ihrem Kampf für die Reform unterstützte. In dieser fruchtbaren gemeinsamen Zeit vertiefte er seine Kenntnisse mystischer Literatur und seine Erfahrungen im Austausch mit Gott und Menschen. Wahrscheinlich sind in diesen Jahren schon mystagogische Schriften von ihm entstanden, die er allerdings selbst vernichtete, offenbar um sie dem Zugriff des eigenen Ordens und der -»Inquisition zu entziehen. Seine Ordensbrüder der beschuhten Karmeliten empfanden seine Lebensweise als deutlichen Vorwurf und reagierten mit Verleumdung, Intrigen und H a ß gegen ihn. Am 3.12.1577 wurde Johannes überfallen und ins Kloster Toledo geschleppt, wo man ihn auf die schlimmste Weise geistig und körperlich quälte. Trotzdem war diese neunmonatige Leidenszeit für ihn der Durchbruch zur eigentlich mystischen Erfahrung und Dichtung. Als er schließlich dem Kloster entfliehen konnte und bei unbeschuhten Karmeliterinnen zunächst Aufnahme fand, diktierte er als erstes die ihm in der Haft geschenkten Gedichte. Die Priorin Anna von Jesus bat ihn, diese dunklen Texte selbst zu interpretieren, und nach einigem Zögern begann Johannes, ausführliche Kommentare zu seinen Gedichten abzufassen. So sind seit 1578 seine Hauptschriften entstanden, vielleicht in dem entlegenen Kloster Calvario, in das er sich von Toledo aus zurückzog. Seit dieser Zeit entwickelten sich seine poetischen, musikalischen und künstlerischen Fähigkeiten intensiv - immer im Dienst seiner religiösen Erfahrungen. Aber wieder nahm ihn sein Orden in die Pflicht. 1579-1581 lehrte er als Rektor des Ordenskollege in Bäeza, von 1581-1588 in Granada als Prior des Klosters de los Mártires, danach als Prior des Hauptklosters der unbeschuhten Karmeliten in Segovia. In diesen

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Jahren wurde er neben seiner eigentlichen Neigung und Tätigkeit als Seelenführer mit einer Fülle von Lehr- und Verwaltungsaufgaben für seinen Orden überhäuft. Aber „immer singt er", so bezeugte es sein ständiger Begleiter. 1588 wurde er, offenbar bereits schwerkrank, von seinen Ämtern entlastet und zog sich in die Kartause Penuela zurück. Von hier aus ging er, erneut verkannt und verleumdet selbst von seinen eigenen Ordensbrüdern, todkrank ins Kloster Ubeda, um dort am 14.12.1591 zu sterben, von dem ihm feindlich gesinnten Prior des Klosters aufs unwürdigste behandelt und erst im letzten Augenblick vom Ordensprovinzial befreit. Die päpstliche Anerkennung der unbeschuhten Karmeliten 1593 hatte er zwar vorbereitet, aber nicht mehr erleben können. Am 25.1.1675 wurde er selig-, am 26.12.1726 heiliggesprochen und am 24.8.1926 als doctor mysticus zum Kirchenlehrer erhoben. Am 24. November wird im Heiligenkalender seiner gedacht. 2. Schriften und

Theologie

Sieht man von der Leidensgeschichte ab, die Johannes durchlaufen mußte - schon zu Lebzeiten wurde er als „ H i o b " des 16. Jh. bezeichnet - so ist seine äußere Biographie durchaus unauffällig gewesen. Anders verhält es sich mit seinem inneren Weg, der ihn von Beginn seines Lebens an quer zur normalen Gesellschaft stellte. Seine Andersartigkeit ließ ihn - in Erfahrungen und Schriften — zu Aussagen kommen, die den Zugang zu ihm beträchtlich erschweren, wenn nicht überhaupt versperren. In der Erläuterung des Geistlichen Gesangs bemerkt er, daß ihm diese Lieder aus überströmender mystischer Einsicht entsprungen sind und deshalb nicht angemessen erklärt werden können. Nicht zufällig drückt er deshalb im Gedicht aus, was ihm zuteil wurde, weil die übliche Ausdrucksweise zu prosaisch, zu ungenügend ist, um das unglaubliche Widerfahrnis der Gottesbegegnung zu beschreiben. So bedient er sich der Dichtung, um symbolhaft verschlüsselt, der Brautmystik des -»Hohenliedes vergleichbar, auszudrücken, was er ekstatisch erfuhr. So wie er die Heilige Schrift allegorisch auslegt, so erwartet er es auch für seine eigenen Schriften. Seine Gedichte (und seine Prosa) richten sich ausdrücklich nicht an alle Christen, noch nicht einmal an alle Ordensgenossen, sondern nur an die, die von Gottes Liebe bereits getroffen und zu „verwundeten Seelen" gemacht wurden, die also den Weg der Vollkommenheit wirklich gehen wollen. „Suche die Befriedigung nicht in dem, was du von Gott verstehst, sondern vielmehr in dem, was du von ihm nicht verstehst" (Werke IV, 33) Seine Hauptgedichte hat Johannes sämtlich selbst kommentiert, ohne jede wissenschaftliche Hilfe und ohne Benutzung eines Buches inklusiv der Bibel. „Gott und die Seele", dieses augustinische Thema durchglüht auch ihn, und wo er schreibt, geht es um seine eigene Liebesgeschichte mit Gott, um seine innere Autobiographie. Deshalb schreibt er keine Dogmatik, selbst wenn seine Gewährsleute erkennbar werden und Augustin, der Areopagite und vor allem Thomas eigens erwähnt werden. Aber sie gehören zu ihm als „Lebensmeister", nicht als Lehrer, die man zitiert. Deshalb schreibt er auch niemals apologetisch, und Häretiker kommen bei ihm ebenso wenig vor wie Mißstände in Kirche und Welt. Aus Erfahrung spricht er von der Nähe Gottes im Menschen als dem größten Geheimnis der Welt und versucht, diese seit eh und je vorhandene Beziehung, so gut es geht, in Worte zu bringen. Dabei kommt der „dunklen N a c h t " eine große Bedeutung zu; hier geschieht Reinigung der Sinne wie des Geistes, Verstummen der Begierden und „Aufstieg der Seele auf den heiligen Berg Karmel". Nacht ermöglicht Entkleidung, Entäußerung und langsame innere Befreiung; sie bringt aber auch die Gott-Verlassenheit, die äußerste acedia zum Ausdruck und ist zugleich - paradox genug - das äußerste Licht, ja die Überhelle selbst. „Je klarer und offenbarer die göttlichen Dinge an sich sind, umso dunkler und verborgener sind sie naturgemäß für die Seele" (Werke II, 78). Oder in seiner Dichtung gesprochen: „Stieg ich auch auf von Höhen zu Höhen,/Es wird doch nie er-

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reichbar sein/Die dunkle Wolke zu verstehen/Die in der Nacht gibt hellen Schein" (Werke V, 195). In diesem Zusammenhang spricht Johannes immer wieder vom Glauben, mit dessen Hilfe die Seele den Aufstieg gewinnt, der Trockenheit widersteht und den Einreden der Vernunft begegnet. Niemals macht die Erfahrung den Glauben überflüssig. Er hat vielmehr Offenbarung und Visionen immer zurückhaltend behandelt und als „Wasserschößlinge, die zu keinem Fortschritt verhelfen", „geistige Sonnenstäubchen" (Hinweis bei Nigg 252) u.a. bezeichnet. Die Nacht des Glaubens entspricht bei Johannes merkwürdig genau der reformatorischen „Extra - Dimension". Der Wille als Kraft der Liebe enthält die „Fähigkeit des Überstiegs", und der Glaube markiert die bleibende Erfahrung des Abstandes zu Gott. Nie ist das „Gold Gottes" außerhalb des „Silbers des Glaubens", also außerhalb der verschiedenen Weisen der Gottesoffenbarung in Wort und Sakrament — in der Theologie und ganz selten in der Spitzenerfahrung der Ekstase, zu haben. Deshalb hat Johannes die Ekstasen selbst niemals gesucht, sondern er wurde von ihnen heimgesucht — manchmal jeden Tag. Wie er die dogmatischen Formulierungen nicht zur Beschreibung seiner Erfahrungen gebraucht, so auch nicht irgendeine mystischkontemplative Technik. Sänger der Liebe war er, „von Liebe und Sehnsucht erfüllt, entzündet und verwundet". Und auf die Reinigung der Sinne und des Geistes, auf die Erleuchtung durch den Heiligen Geist folgt der unabweisbare Wunsch nach Vereinigung. „Es ist der Liebe eigen, nach Vereinigung und Verbindung, nach Gleichförmigkeit und Ähnlichkeit mit dem Geliebten zu streben" (Werke II, 127). Aber niemals gibt Johannes der Vorstellung Raum, als könnte die erreichte Vereinigung während des Erdenlebens von Dauer sein; immer ist Vereinigung intensive Begegnung und Teilhabe an Gott, aber nie Identifikation mit ihm. Deswegen brechen beinahe all seine Werke vor dem eigentlichen Schluß ab, weil er die Unzulänglichkeit der Sprache spürt und die sehnsuchtsvolle Liebe nicht zur wissenschaftlichen Klarheit verdünnen möchte. „Die dunkle Nacht des Geistes ist kein Verschmelzen mit der Gottheit, keine Bewußtseinserweiterung in kosmische Dimensionen, kein methodisches Sich-Heranschleichen an Letzterfahrungen, kein Versinken in eigene Subjektivität. Alles, was man als Mensch Gott vorweisen könnte, muß beiseite gelassen werden; nicht der Mensch, sondern Gott bewirkt die Reinigung, das Beiseiteschaffen und Leerwerden" (J. Sudbrack 67). Die Entstehungsdaten der großen Prosaschriften liegen sämtlich zwischen 1583 und 1585. Alle sind Kommentare zu den drei großen Gedichten: Der Aufstieg auf den Berg Karmel (Subida) und die Dunkle Nacht (Nocke Oscura), der Geistliche Gesang (Cäntico) und die Lebendige Liebesflamme (Llama de Amor viva). Als Kommentare sind sie Inspirationen, Meditationen, Darlegungen und Anweisungen in einem, Ermunterung zum Leerwerden, zum Leiden an und für Gott, zur leidenschaftlichen Liebe seiner Schönheit und zum bräutlichen Jubel gegenüber der Erfahrung seiner Nähe. „Das ist die große Wonne des Erwachens (Des Bräutigams in der Seele): Durch Gott die Geschöpfe erkennen und nicht durch die Geschöpfe Gott" (Werke III, 131 f). Die Menschwerdung Gottes ist es, in der die gesamte Schöpfung gipfelt. In Christus ist die Unschuld Adams dem Menschen wiedergegeben, und seitdem singen alle Geschöpfe das Lob Gottes und feiern die Größe des Schöpfers; vollends „die Liebe des Menschen hat den Charakter des dankenden Lobes" (R. Mosis 175). „So dankt die Seele neu dem Vater und liebt ihn in seinem Sohn Jesus Christus, mit und in i h m . . . D i e Wonne dieses Lobes ist so fein, daß sie völlig unsagbar ist" (Werke IV, 282). Vier Bücher beträchtlichen Umfangs entfalten und modulieren dieses Thema, verbunden mit allerlei Hinweisen zur Kontemplation für den einzelnen. Sechs kleinere Schriften sind in einem 5. Band gesammelt (Verhaltensmaßregeln für Ordenspersonen; Vier Winke für einen Ordensmann, um zur Selbstvervollkommnung zu gelangen; Geistliche Leitsätze und Denksprüche; Aussprüche über das geistliche Leben; Zwiegespräche zwischen Christus, dem Bräutigam, und der bräutlichen Seele, um sie im Gebetsleben zu vervollkommenen; Kurze Abhandlung über die dunkle, bejahende und verneinende Erkenntnis

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Gottes sowie über die Art der Liebesvereinigung der Seele mit Gott). Außerdem sind eine Reihe von weiteren Gedichten und „geistlichen Briefen des Heiligen an verschiedene Personen" erhalten und der Nachwelt dargeboten. Die Beurteilung von Johannes vom Kreuz ist nicht einfach: Daß er ein großer Sprachschöpfer, Literat und einer der Väter der spanischen Sprache ist, darin sind sich die Romanisten einig; daß er als Denker die Auseinandersetzung um die Metaphysik und damit die Philosophiegeschichte beeinflußt hat, steht außer Frage; daß er ein bedeutender Theologe ist, allerdings mehr im Sinne einer negativ-apophatischen als der herkömmlichen Theologie, bestreitet niemand; mit Schrift und Tradition vermag er souverän umzugehen, und für ökumenische Verständigung bietet er sich geradezu an. Was Johannes von anderen unterscheidet: Er gehört sicherlich zu den wenigen großen Seelenführern und Mystagogen der Kirche, er ist einer ihrer großen Mystiker, mit Meister -»Eckhart und anderen durchaus vergleichbar, und er ist, selten genug, ein glaubwürdiger Mystograph, der seine Grenzerfahrungen auch zu beschreiben vermag. Vielleicht gehört er schließlich zu den Vätern der neuzeitlichen -»Autobiographie und Psychologie, sicherlich zu den beachtenswerten Zeugen der Nähe, der Liebe und der Erfahrbarkeit Gottes, nicht nur für das 16. Jh. 3.

Wirkungen

Menschen wie Johannes vom Kreuz sind nie in die große Öffentlichkeit getreten und dieser daher auch in der Regel unbekannt geblieben. Sein Orden hat schon bald nach seinem frühen Tod Frieden mit ihm geschlossen und ist seit langem stolz auf seinen großen Sohn. Die Kirchen, gleich welcher Provenienz, haben mit ihm eher weniger als mehr anfangen können - auch nach seiner Erhebung zum Kirchenlehrer. Selbst wer ein Gespür für mystische Erfahrungen hat, findet nicht sofort und unmittelbar Zugang zu Johannes. Trotzdem hat Johannes durch die Jahrhunderte hindurch zwar eher am Rande, aber doch spürbar weitergewirkt, so im französischen Quietismus im Kreis -»Fenelons und der Madame de Guyon. Im französischen Katholizismus hat Johannes, wie die Literatur über ihn zeigt, allezeit ein ehrendes Andenken behalten. Erstaunlicherweise hat er jedoch auch in den deutschen Frühpietismus (-»Pietismus) hinein gewirkt, und zwar über Gerhard ->Tersteegen, der mit dem Quietismus in Frankreich enge Verbindungen hatte. Tersteegen, der evangelische „Mystiker" vom Niederrhein, hat zwischen 1733 und 1754 seine Hauptschrift, Die Auserlesenen Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen, herausgegeben und in ihnen etwa 25 Christen ausschließlich römisch-katholischer Herkunft dem evangelischen Leser nahegebracht, unter ihnen auch Johannes vom Kreuz. In seinem ausführlichen „Vorbericht" gibt Tersteegen an, warum er Johannes für darstellenswert erachtet: wegen „der Wege der Reinigung und der Vollendung der Heiligung", die Johannes selbst lebt und anderen empfiehlt. Außerdem benennt Tersteegen drei weitere evangelische Zeugen, die ausdrücklich und positiv Johannes erwähnen: Gottfried -»Arnold, Pierre Poiret und Daniel Wille aus der Schweiz. Der Lebensbericht und die Würdigung von Johannes vom Kreuz, die Tersteegen vornimmt, ist ein eindrucksvolles Zeugnis von dessen Kongenialität. Dann aber verlieren sich die Spuren für gut 200 Jahre. Erst Annette von DrosteHülshoff nimmt ihn dankbar, erstaunt zur Kenntnis, und Reinhold Schneider schreibt einen tiefsinnigen und eindringenden Essay über Die geistige Gestalt des heiligen Johannes vom Kreuz (Macht und Gnade [1954] 2 8 5 - 2 9 6 ) . Vor allem aber Edith -»Stein hat ihren Ordensbruder in ihrer „Kreuzeswissenschaft" wieder bekannt gemacht, und inzwischen ist er in großen und kleinen Ausgaben zugänglich geworden, und in der theologischen Auseinandersetzung wie in der meditativen Erfahrung ist er wieder ein viel beachteter geistlicher Lehrer der Gesamtkirche geworden.

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140

Johannes Moschus

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Gerhard Ruhbach Johannes Moschus (ca. SSO-ca. 1. Leben

1.

2. W e r k e

3. W i r k u n g

634) ( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 143)

Leben

Johannes Moschus - 'Icoâvvrjç ô Moa/oç oder roß Môaxov> auch ( ' m Genitiv) rov eôxpâTOV — war ein byzantinischer M ö n c h , der während der zweiten Hälfte des sechsten und der ersten Jahrzehnte des siebten Jahrhunderts gelebt hat und wohl nicht später als 634 verstorben ist. Er bereiste vor allem den östlichen Mittelmeerraum und sammelte dabei erbauliche Erzählungen, die sich dann in seinem Aeijucbv wiederfinden. Begleitet wurde er von seinem Schüler Sophronios mit dem Beinamen der Sophist, dem späteren Patriarchen von Jerusalem ( 6 3 4 - 6 3 8 ) , dem das Werk gewidmet ist. Gemeinsam haben sie ein Leben des Johannes Eleemon (c. 5 6 0 - 6 1 9 / 2 0 ) verfaßt. Moschus muß um 550 in oder bei Aigai in Kilikien geboren sein (Aei/icbv 171 a, neuer Text) und nahm das Mönchsgewand einige Zeit vor 578 im Kloster des heiligen Theodosios in Judaia, lebte in der judäischen Wüste und zog hier später in die neue Laura des heiligen Sabas. Vielleicht zwischen 568 und 578 verbrachte er zehn Jahre in der Laura von Pharan (Aeifimv 40). Zu Beginn der Regierungszeit Tiberios I. ( 5 7 8 - 5 8 2 ) reiste er in einem Auftrag des Klosters nach Ägypten, vielleicht bis zur großen Oase - allerdings läßt die Quelle für diesen Besuch der großen Oase auch einen späteren Ansatz zu. Vielleicht um diese Zeit, während der achtziger bis in die neunziger Jahre, verbrachte er zehn Jahre in der Ailiot-Laura auf dem Sinai (Aeifimv 67). 594 begleitete er seinen Hegumenos (dessen Kloster nicht genannt wird) nach Jerusalem zur Weihe des Patriarchen Arnos ( A e i f i m v 149). Beim Einfall der Perser ins Reich 603 flüchtete er aus Palästina nach Antiochien und wandte sich von dort beim weiteren Vormarsch der Perser nach Alexandrien (vielleicht 608). Als 614 die heiligen Stätten in -»Jerusalem in persische Hand fielen, reiste er mit Sophronios über eine Reihe von Inseln, darunter Zypern und Samos, nach R o m . Bei seinem Tod vertraute er Sophronios sein Buch, den Aeifimv, an und trug ihm auf, ihn nicht in R o m zu begraben, sondern auf den Sinai oder, falls das durch feindliche Einfälle unmöglich gemacht werde, in das Kloster des heiligen Theodosios zu überführen. Mit zwölf weiteren Schülern fuhr Sophronios nach Askalon. Der Zugang zum Sinai war durch Arabereinfälle versperrt, und daher brachte er den sterblichen Rest seines Lehrers nach Jerusalem, wo er mit dem Hegumenos des Theodosiosklosters, Georg, zusammentraf. Gemeinsam geleiteten sie den Leichnam in das Kloster und setzten ihn dort bei. (Zum Datum dieser Ereignisse s. u.)

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141

Soweit im Vorstehenden nicht andere Quellenangaben gemacht werden, ergeben sich diese biographischen Daten aus dem 77pöXoyoq zum Aeiß(bv. Die Textgeschichte des gesamten Aeificbv legt die Annahme nahe, daß diese Lebensbeschreibung innerhalb höchstens einer Generation, wahrscheinlich aber sehr bald nach Moschus' Tod geschrieben worden ist. Sprachliche und stilistische Anzeichen deuten darauf hin, daß der Verfasser nicht Sophronios, aber doch jemand aus der engsten Umgebung des Verstorbenen war, vielleicht einer der anderen Schüler, von denen die Rede ist, oder gar der Hegumenos Georg (?). Weitere Nachrichten lassen sich dem Aeipcbv entnehmen, der über seinen Umgang und seine Aufenthaltsorte Auskunft gibt. Eine dritte Quelle, der jedoch anscheinend kein selbständiger Wert zukommt, ist ->Photios (Bibl., cod. 199). Dem IIpökoyoq zufolge ist Moschus zu Beginn der achten Indiktion, d. h. im September, eventuell Anfang Oktober, gestorben. Dabei kommen zwei Jahresdaten in Betracht, nämlich 619 oder 634. Die sich mit diesen Daten ergebenden Probleme sind von Chadwick erörtert worden. Eine der Schwierigkeiten, die sich mit einem Ansatz auf 6 1 9 verbinden, liegt darin, daß Johannes Eleemon wahrscheinlich erst später gestorben ist, eine weitere darin, daß etwa Kap. 196 offensichtlich erst später anzusetzen ist, es aber aus textimmanenten Gründen nicht als unecht ausgeschieden werden kann. Gegen einen Ansatz auf 6 3 4 steht die Bemerkung des npoÄoyog, daß Sophronios nach der Beisetzung seines Lehrers tdv ÖTtoXemov xpovov im Theodosioskloster verbracht habe. Möglicherweise ist diese Stelle (Zeilen 6 4 f Usener) verderbt, sofern sie von einer finiten Verbform im Plural zu einem singularischen Partizip übergeht. Unmittelbar davor könnte eine Wendung wie etwa ö Si LuxppöviOQ dnijAdev vaxspov gestanden haben und möglicherweise sogar ein Hinweis auf seine Wahl zum Patriarchen. Zwischen naxepcov, dem W o r t vor rriv, und rov selbst besteht faktisch ein H o m o i o teleuton. Allerdings bleibt man hier bei einer reinen Vermutung.

Es gibt noch eine dritte, wenn auch ihrerseits nicht stärker als die Ansätze auf 619 oder 634 beweisbare Möglichkeit. Sie kann hier nur vorläufig vorgetragen werden (ihre ausführliche Erörterung soll in einer späteren Veröffentlichung erfolgen). Sie beruht auf der Textgeschichte und dem paläographischen Befund des Aeißtbv und besteht im wesentlichen aus der Annahme einer Verlesung von devrepat; (B oder ß) als dyöotjg (H oder >]"). Träfe sie zu, käme man auf September/Anfang Oktober 628 als Todesdatum. Bei diesem Ansatz hätte Moschus die Zeit gehabt, das Leben des Johannes Eleemon zu schreiben und u.a. Georg als Eparchen zu kennen (Kap. 196); desgleichen läßt er für Sophronios eine Zeitspanne offen, die er vor seiner Erhebung auf den Stuhl von Jerusalem 634 im Theodosioskloster verbracht haben könnte. Der Verfasser des Aeifxcbv heißt 'Icüävvrjq, und soweit die Handschriften diesem Namen eine Näherbestimmung geben, lautet sie rov euxparov. Der ITpöXoyoq sagt, daß das Werk vno 'Icoävvou ... ¿nixXrjv rov Möa/ov allein verfaßt worden sei. Die Bezeichnung evxpäTOü bezieht sich auf ein bei den Mönchen der Zeit gebräuchliches Getränk, suxpag oder EÖxparov, und begegnet in Verbindung mit zwei Klöstern, je einem in Konstantinopel und Nordafrika. Wie Moschus zu diesem Beinamen gekommen ist, läßt sich aus dem Text nicht ersehen. Wäre er 628 gestorben, dann könnte er zwischen 626 und 628 -•Maximus Confessor kennengelernt und als einer der von diesem erwähnten evxpäraÖEQ (PG 111, 461A) in Afrika aufgesucht haben. 2. Werke Moschus' Hauptwerk ist 'O Aeificbv, wie er es in seiner Vorrede bezeichnet (das Beiwort nveofianxög begegnet lediglich in einer Handschrift). In einigen Überlieferungszweigen, die eine größere Anzahl von Kapiteln als die bei Migne gedruckte Sammlung aufweisen, wird das Werk Johannes und Sophronios gemeinsam zugeschrieben; ungeachtet der offenen Frage des Todesdatums ist denkbar, daß Sophronios ein von Johannes begonnenes, aber nicht ganz zu Ende geführtes Werk vervollständigt hat, zumal einige Kapitel in den entsprechenden Handschriften Datierungsprobleme aufwerfen, die sich von keinem der für Moschus' Todesdatum angesetzten Daten her lösen lassen.

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Der üpöloyoq gewährt Einblick in die Kompositionsweise und spricht davon, daß der Verfasser alles, was er von heiligen Männern gehört und gesehen habe, aufgezeichnet (iavaypäcpsaOai) und dann, noch unmittelbar vor seinem Tod, seine Aufzeichnungen schriftlich ausgearbeitet (aweypaif/azo) habe; dabei habe er sie „nicht in der Reihenfolge, wie er sie gehört und gesehen habe, zusammengestellt, sondern von den gehörten und mit eigenen Augen geschauten Begebenheiten die einander jeweils ähnlichen aneinandergereiht". So sind dann auch die Erzählungen nicht in zeitlicher Abfolge angeordnet; vielmehr spannt sich von jeder von ihnen nach vorn und hinten eine Beziehung aufgrund von Ähnlichkeiten, sei es des Gegenstandes, des Erzählers oder einer handelnden Person, der geistlichen Motivation, ja selbst einer Namensgleichheit unterschiedlicher Örtlichkeiten, und darin bekundet sich ein innerer Zusammenhang des Gesamtwerkes. Die Bestimmung des Textbestandes wirft schwierige Probleme auf. Der geläufige Mignetext ist ein Konglomerat aus zwei Teilausgaben des griechischen Textes und einer leicht bearbeiteten Neuausgabe einer bereits vor allen griechischen Druckausgaben erschienenen lateinischen Übersetzung. Diese ist 1423 von Ambrosius Traversari verfaßt worden und erstmals 1558 im Druck erschienen; sie ist eine recht sorgfältige Wiedergabe aufgrund einer guten griechischen Handschrift. Eine Erstausgabe von 115 Kapiteln des griechischen Textes wurde 1624 von Fronten du Duc veröffentlicht und ist ohne Sorgfalt gearbeitet, keine kritische Ausgabe, sondern eine häufig fehlerhafte, philologisch wie historisch unzuverlässige Wiedergabe von drei nicht sehr überlieferungstreuen Handschriften. 1681 brachte Jean-Baptiste Cotelier eine Ergänzung mit den meisten der noch ausstehenden, in der lateinischen Fassung vorliegenden Kapitel. Sein Text beruht auf einer guten, aber verstümmelten Handschrift und zwei weiteren, paraphrasierenden Handschriften sowie gelegentlichen Rückgriffen auf eine oder zwei andere Quellen und wird von einer eigenen lateinischen Übersetzung begleitet. Diese Vorlagen hat Migne mit einigen zusätzlichen Fehlern seinerseits zusammengefügt; daher rührt es auch, daß in PG die griechische und die lateinische Fassung häufig auseinandergehen. Den üpöXoyot; aus der Ausgabe von du Duc hat er ausgelassen. In ihrem bei Migne vorliegenden Umfang kann die Sammlung als überlieferungsgeschichtliche Einheit angesehen werden. Sie besteht aus einer Vorrede und 219 Kapiteln, deren Zählung jedoch lediglich auf eine Texteinteilung aus dem 16. Jh. zurückgeht; tatsächlich bilden sie 301 Kapitel, die wiederum möglicherweise ursprünglich 300 verkörpern. Bereits Photios hat das Werk in Fassungen von 304 - hierbei handelt es sich so gut wie sicher um die heute vorliegenden 301 (219) Kapitel - und 342 Kapiteln vor Augen gehabt. Eine genaue Bestimmung der ursprünglichen Sammlung ist nahezu unmöglich, und damit bleibt auch die Zahl der Handschriften offen, die das Werk enthalten. Annähernd 145 bieten Teile davon, wobei die Spannweite von solchen mit lediglich einem in ähnliche Arbeiten anderer Verfasser geratenen Kapitel bis hin zu solchen reicht, die die Sammlung in ihrem bei Migne vorliegenden Umfang oder mit noch weiteren Erzählungen darüber hinaus bieten. Derartige überschießende Stücke mit eindeutig auf Moschus weisenden Stilmerkmalen zeigen, daß die bei Migne vorliegende Sammlung nicht vollständig ist. Einige von ihnen sind mittlerweile ediert worden, doch handelt es sich dabei lediglich am Auswahlausgaben, die die textgeschichtlichen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Handschriften nicht erkennen lassen. Einzelne Erzählungen inner- wie außerhalb der Migneschen Sammlung begegnen atch in anderen Schriften, und es ist oft nicht möglich auszumachen, ob Moschus im jeweiligen Falle die Quelle oder nur Reproduzent ist. In einigen Fällen besteht eine nahezu wortwörtliche Übereinstimmung, während man in anderen für Moschus mit einer duich mündliche Quellen vermittelten Abhängigkeit rechnen muß. Andere Stücke bieten zu wenig tragfähige Anhaltspunkte für eine Zuordnung. Zu Erweiterungen des Werkes isi es bis in die Zeit um 700 gekommen. Die H a u p t m a s s e der H a n d s c h r i f t e n gliedert sich in siebzehn Familien. Dabei zeichnen sich crei g r ö ß e r e Überlieferungszweige ab. Einer d a v o n ist das Ü b e r l i e f e r u n g s m e d i u m der bei M i g n e sich

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befindenden Sammlung (q>), ein zweiter bietet sie in einer durch Einschaltungen wie Anfügungen erweiterten Form (¿;), und der dritte weist noch weitere Zusätze gleicher Art auf (a). Die Form a enthält den IJpôXoyoç und bringt wichtige, den anderen Fassungen gegenüber neue Einzelangaben, die aus literarischen und historischen Gründen auf einen Moschus möglicherweise persönlich wie zeitlich nahestehenden Bearbeiter hindeuten. Leider sind von dieser Form keine Handschriften bekannt, die unversehrt sind oder einen ungekürzten Text bringen.

Das Leben des Johannes Eleemon von Johannes und Sophronios wird im weiteren Verlauf des siebten Jahrhunderts erstmals von Leontios von Neapolis angeführt. Die ersten fünfzehn Kapitel dieser Schrift sind von Hippolyte Delehaye (AB 45, 1927, 5 - 7 4 ) wiederentdeckt worden, und einen Auszug aus einer anderen Handschrift hat Eurydice Lappa-Zizicas veröffentlicht (AB 88, 1970, 2 6 5 - 2 7 8 ) . Die Schrift zeigt die gleichen Stilmerkmale wie der Aeißcbv. Eine als Nachtoffizium bezeichnete, unabhängig vom Aei/icbv überlieferte Erzählung (BHG 1438 w), die von Moschus und Sophronios in dritter Person spricht und sie dem Schreiber eine Geschichte mitteilen läßt, dürfte nicht von Moschus selbst stammen. 3.

Wirkung

Moschus' Erzählungen erfreuten sich während des Mittelalters sehr großer Beliebtheit, wie die große Zahl der erhaltenen Handschriften erkennen läßt. Daß der Aeificbv 787 auf dem zweiten Konzil von Nikaia (->Nicäa) angeführt wurde - wenn auch möglicherweise nur, weil er unter dem Namen des Sophronios stand - , mag dieser unangefochtenen Beliebtheit zugute gekommen sein. Benutzt wurden allerdings vornehmlich auszugsweise Fassungen. Seine Textüberlieferung hat sich stellenweise mit der der Apophthegmata Patrum, des Anastasios Sinaites, Daniel Sketiotes u.a. verbunden. Es liegen mittelalterliche Übersetzungen ins Arabische, Armenische, Äthiopische, Georgische, Lateinische und Altslavische vor. Als Schriftsteller wollte Moschus durch Beispiele christlicher Tugend erbauen, eine klare chalkedonensische Rechtgläubigkeit hochhalten und den Monophysitismus durch Berichte über das Schicksal einiger seiner Anhänger herabsetzen. Sein Werk besteht hauptsächlich aus Erzählungen mit einigen Apophthegmen. Seine unumwundene Wundergläubigkeit seinen Geschichten gegenüber findet für ihn eine Stütze in einer genauen Ausmalung der Einzelzüge. Eine Reihe von Päpsten, so etwa —»Gregor d.Gr., hat sein Werk sehr geschätzt. Er ist jedoch kein theologischer Denker. Als Kilikier hatte er auch ein besonderes Interesse an Männern aus seiner Heimat. Der Aeißdiv hat wohl als Muster für ähnliche Erzählungen gedient, so etwa für die des Bischofs Paulos von Monembasia (10. Jh.) und viele andere nicht datierbare und titellose narrationes, die mit den Apophthegmata und dem Aeificbv überliefert sind. Seine Leserschaft ist vornehmlich in monastischen Kreisen zu suchen. Im Westen hatte man von ihm bis ins fünfzehnte Jahrhundert nur geringe Kenntnis, dann aber wurde er mehrmals in italienischer und lateinischer Sprache gedruckt und z.B. von Franciscus Collius in seinem De animabus paganorutn (Mailand 1622 u. 1633) als kräftiges Zeugnis benutzt. Quellen CPG II 7376; III 7647. - Eine neue kritische Ausgabe des Aeißcbv durch den Unterzeichner im CChr.SG und als editio minor in SC steht vor der Fertigstellung; eine englische Ubersetzung mit Erläuterungen ist in Arbeit. Aeifubv: PG 87,3,2847-3116 ( = Fronto Ducaeus, Bibliothcca veterum Patrum, Paris 1624 + Johannes-Baptista Cotelerius, Ecclesiae graecae Monumenta II, Paris 1681). - TlpöXoyoc,-. nicht in PG, aber bei Ducaeus, Neuausg. v. Hermann Usener, Der hl. Tychon, Leipzig 1907, 9 1 - 9 3 . - Nicht im griechischen Text in PG erscheinende Kapitel: Philip Pattenden, The Text of the Pratum Spirituale: JThS.NS 26 (1975) 3 8 - 5 4 . - Weitere (teilweise echte) Kapitel: François Nau: ROC 7 (1902) 6 0 4 - 6 1 7 ; 8 (1903) 9 1 - 1 0 0 ; Léon Clugnet: ROC 10 (1905) 3 9 - 5 6 ; Theodor Nissen: BZ 38 (1938) 3 5 1 - 3 7 6 ; Elpidio Mioni: OCP 17 (1951) 8 4 - 9 4 ; SBNE 8 (1953) 2 7 - 3 6 .

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Johannes Philoponus

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2. Werk

3. Wirkung

570) (Quellen/Literatur S. 148)

Leben

J o h a n n e s Philoponus, ein Christ mit n e u p l a t o n i s c h e r Schulung ( - > N e u p l a t o n i s m u s ) lebte e t w a von den 90er J a h r e n des 5. bis in die 7 0 e r J a h r e des 6. J h . in - > A l e x a n d r i e n . H i e r studierte er bei A m m o n i o s H e r m e i o u P h i l o s o p h i e . In A l e x a n d r i e n bestand ein Einvernehmen zwischen Christen und N e u p l a t o n i k e r n , nicht dagegen in Athen, dessen heidnisch neuplatonische Schule 5 2 9 endgültig von - » J u s t i n i a n geschlossen wurde. Einer ihrer heidnischen A n g e h ö r i g e n , Simplikios, a n t w o r t e t e d a r a u f mit einem erbitterten Angriff a u f P h i l o p o n u s . E r b e t r a c h t e t e dessen C h r i s t e n t u m als eine lästerliche, allerdings a u c h kurzlebige Lehre, die den L e i b Christi über die göttlichen H i m m e l erhebe. Philoponus legt weder den Ü b e r s c h w a n g noch die E r b i t t e r u n g des Simplikios an den T a g . Sein Angriff auf die heidnische Position ist auf eine gedanklich n ü c h t e r n e , kritische Auseinandersetzung g e s t i m m t . Vor 5 5 3 bestand ein G r o ß t e i l seiner A r b e i t e n aus K o m m e n t a r e n zu - » A r i s t o t e l e s . D a r i n bot sich ihm nur hin und wieder Gelegenheit, seine christliche Überzeugung zur S p r a c h e zu bringen. D a ß er von Anfang an C h r i s t w a r (Evrard B A B . L V 39; anders G u d e m a n - K r o l l ) , ergibt sich nicht nur aus seinem christlichen N a m e n J o h a n n e s , sondern auch daraus, d a ß bei ihm schon früh die k e n n z e i c h n e n d christliche Auffassung von einem A n f a n g der M a t e r i e selbst (und nicht nur ihres gegenwärtigen Geordnetseins) in der Z e i t begegnet, n ä m l i c h im K o m m e n t a r zur Physik von 5 1 7 , der sich auf die n o c h früheren Zvßfiixza 0£Ojpijßara zurückbezieht. Vier der sieben erhaltenen A r i s t o t e l e s k o m m e n t a r e werden in den Handschriften als „ a u s den Lehrveranstaltungen des A m m o n i o s " s t a m m e n d bezeichnet, allerdings in drei Fällen mit d e m Z u s a t z „ m i t einigen persönlichen E r w ä g u n g e n " . Es k o n n t e gezeigt werden (vornehmlich von R i c h a r d : Byz. 2 0 ) , d a ß sich diese A n g a b e n mit der offensichtlich bei J o h a n n e s vorzufindenden beträchtlichen U n a b h ä n g i g k e i t von A m m o n i o s vereinbaren lassen. D e r N a m e Philoponos („Arbeitsliebhaber") ist ein B e i n a m e , der auf seinen Arbeitseifer a b h e b e n oder aber besagen k a n n , d a ß er einer B r u d e r s c h a f t von tpiXönovoi benannten christlichen L a i e n m i t a r b e i t e r n angehörte. Selbst bezeichnete er sich als einen G r a m m a t i ker, d e m es nicht gelungen ist, ein philosophisches L e h r a m t zu erlangen. Diese Bezeichnung k ö n n t e Bezug nehmen auf sein G r a m m a t i k s t u d i u m bei R o m a n o s und die Veröffentlichung g r a m m a t i s c h e r Schriften, von denen zwei erhalten sind. Sollte er indessen als G r a m m a t i k l e h r e r tätig gewesen sein, m a g es sich dabei u m ein L e h r a m t oder auch nur einen Lehrauftrag innerhalb der koptischen G e m e i n d e in Alexandrien gehandelt haben. 2.

Werk

P h i l o p o n u s ' antiaristotelische Vorstellungen bilden ein G e s a m t g e f ü g e , aus dem einige E l e m e n t e eine H e r v o r h e b u n g verdienen. D a s zentralste M o m e n t dabei ist die christliche Überzeugung, d a ß die M a t e r i e einen A n f a n g h a t , und das stärkste Argument dafür m a c h t sich die aristotelische Auffassung der U n e n d l i c h k e i t zunutze. Philoponus sieht sich imstande, im Z e n t r u m heidnischen griechischen D e n k e n s einen Widerspruch auszumachen, sofern es einerseits den aristotelischen Begriff der U n e n d l i c h k e i t a u f n a h m , w ä h r e n d es auf

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der anderen Seite die Auffassung abwies, daß die Materie selbst (im Gegensatz zu ihrer gegenwärtigen Geordnetheit) einen Anfang hat. Er macht geltend, daß das All, wäre die Materie anfangslos, bereits eine mehr als endliche Zahl von Jahren durchlaufen haben müsse, nach aristotelischem Verständnis aber die Annahme unzulässig sei, daß etwas in einer mehr als endlichen Zahl von Jahren existiere oder einen solchen Zeitraum durchlaufe. Zudem fügte er noch hinzu, daß, wäre zur Zeit des gegenwärtigen Jahres eine mehr als endliche Zahl von Jahren durchmessen, im Folgejahr die durchmessene Zahl noch größer sein müsse als diese mehr als endliche. Das wäre in den Augen heidnischer griechischer Denker eine noch ausgeprägtere Sinnwidrigkeit, und erst im 14. Jh. hat man im Abendland mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden begonnen. In der Dynamik kam Philoponus durch Einführung der Impetustheorie zu einem einheitlichen Entwurf. Bei Aristoteles war die Dynamik uneinheitlich geblieben, da sie unterschiedliche Erklärungen für die erzwungene Bewegung geworfener Gegenstände, den natürlichen Fall von Steinen und die (unterstellte) Kreisbewegung der Himmel bot. Steine fallen danach aufgrund ihrer inneren Natur, während erzwungene Bewegung durch einen äußeren Grund veranlaßt wird, im Falle geworfener Gegenstände durch die bewegende Wirksamkeit aufeinander folgender Luftvolumina hinter dem Gegenstand. Demgegenüber erklärte Philoponus in seinem Physik-Kommentar die Wurfbewegung als Folge der Mitteilung eines Impetus durch den (außerhalb des geworfenen Gegenstandes befindlichen) Werfer nicht an Luftvolumina, sondern an den Gegenstand selbst. Noch zur Zeit -»Galileis war diese neue Vorstellung geläufige Anschauung. In seinem späteren, mit dem biblischen Schöpfungsbericht befaßten Werk De opificio mundi weitete Philoponus den Impetusgedanken durch Einbringen des Schöpfergiaubens auf jede Bewegung aus, auch auf die des fallenden Steines und der kreisenden Himmel. Gott ist es, der den Fall des Steines und die Kreisbewegung der Himmel durch Mitteilung eines jeweils entsprechenden Impetus zur Zeit der Schöpfung veranlaßt hat. Neu war hier nicht die Vorstellung einer inneren Kraft, sondern die einer von außen mitgeteilten inneren Kraft. So sehr man sich auch darum bemüht hat, findet man für sie im griechischen Denken keine Vorläufer. Sie rückt Philoponus in große Nähe zu einigen islamischen Denkern und im Westen dann auch zu Johannes Buridan (ca. 1300-nach 1358) und Nikolaus Oresme (1320/25-1382). Bei Galilei (De motu, ca. 1590) hat er Anerkennung auch für seine Widerlegung der aristotelischen Auffassung gefunden, daß, gäbe es einen leeren Raum, der Mangel eines Widerstandes per impossibile die Geschwindigkeit unendlich werden lassen müsse. Philoponus hält dem im Physikkommentar entgegen, daß eine Beseitigung des Widerstandes eine Bewegung nicht der Notwendigkeit der Zeit entnehme. Sie lasse vielmehr lediglich ein Erfordernis an zusätzlicher Zeit über die von einer gegebenen Bewegung unvermeidlich erforderte Zeit hinaus entfallen. Philoponus' antiaristotelische Überzeugung von der theoretischen (niemals aktualisierbaren) Möglichkeit des leeren Raumes war ebensowenig neu wie seine Vorstellung des Ortes als einer dreidimensionalen Erstreckung oder Ausdehnung. Viele Denker hatten sie der aristotelischen Anschauung vom Ort als der - grob gesprochen - Umgebung eines Dinges vorgezogen. Die Sorgfalt aber, mit der er seine Vorstellung vom leeren Raum und vom Ort in seinem Physikkommentar verfocht, führte dazu, daß seine Gedanken im 16. Jh. von —>Pico della Mirandola aufgenommen wurden und Einfluß auf die Naturwissenschaft der -»Renaissance gewannen. Der Begriff der Ausdehnung ist auch für Philoponus' Verständnis der Materie von Bedeutung. Nach anfänglicher Zustimmung ist er in De aeternitate contra Proclum zu einer Ablehnung dessen gekommen, was er für die aristotelische Sicht hielt. Unter Materie versteht er die erste Materie, also nicht einen Körper, sondern das letzte Subjekt der Eigenschaften in einem Körper. Seine Vorstellung ist, daß die dreidimensionale Ausdehnung als letztes Subjekt fungiere. Ein Körper könne dann als eine mit Eigenschaften versehene besondere Weise der Ausdehnung bestimmt werden. Die hervorstechende Bedeutung, die Philoponus der Ausdehnung zumaß, hatte Weite-

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rungen für die aristotelische Einteilung der Wesenheiten des Alls in ein Kategorienschema. Die Ausdehnung gehörte für Aristoteles in die zweite Kategorie, die Kategorie der Quantität, und wäre damit den Körpern untergeordnet, die seine erste Kategorie ausmachen. Philoponos verwahrt sich zunächst in seinem Physikkommentar dagegen, daß die Ausdehnung untergeordnet sei; denn sie könne grundsätzlich ohne Körper existieren und würde so existieren im Falle eines leeren Raumes. Später, in De aeternitate contra Proclum, erhebt er die Ausdehnung in den Rang der ersten Kategorie, weil sie sowohl das letzte Subjekt in als auch die artbildende Bestimmung von Körpern sei. Diese Umschichtung des aristotelischen Kategorienschemas hat im 16. J h . möglicherweise Francesco Patrizzi ( 1 5 2 9 - 1 5 9 7 ) beeinflußt, der die räumliche Ausdehnung überhaupt aus dem Kategorienschema herausgehoben hat {De spatio physico, 1587). Einen ausdrücklichen Angriff auf Aristoteles führte Philoponus mit seiner Schrift Contra Aristotelem. Darin stellt er sich auf die Seite derer, die die aristotelische Vorstellung verwarfen, die Himmel kreisten, weil sie aus einem fünften, göttlichen Element mit einem ihm eigenen Bestreben zur Kreisbewegung bestünden. Dieses Element (der Äther, die „Quintessenz") galt als unerschaffbar und unzerstörbar und mußte daher von Philoponus bestritten werden, wollte er die Auffassung aufrecht erhalten, daß die Materie einen Anfang habe. Christian Wildberg hat in seiner englischen Zusammenstellung der Fragmente aufgewiesen, daß diese Schrift zwei Bücher enthielt, die für eine christliche Auffassung eintraten, nach der an die Stelle unserer heutigen Welt ein neuer Himmel und eine neue Erde treten werden. Das Abtun des mit einem inneren Bestreben zur Kreisbewegung versehenen fünften Elementes ebnete für Philoponus den Weg zu seiner späteren Einführung eines göttlichen Impetus als Ursprung der Kreisbewegung. Simplikios dagegen beklagte sein Abtun als Mangel an Ehrerbietung, der der Göttlichkeit der Himmel die Achtung versage. Im Blick auf die Vorgeschichte seiner Anschauungen ist Philoponus in der älteren griechischen philosophischen Arbeit verwurzelt, und es sind daher gelegentlich antiaristotelische Positionen anderer, die er verficht, obwohl er anderwärts auch wieder neue entwickelt. Verfehlt ist jedoch die Ansicht, er vertrete eine bestimmte philosophische Schultradition, wobei vornehmlich an den Piatonismus (—>Plato) oder Stoizismus (-•Stoa) gedacht worden ist. Im Voraufgehenden sind lediglich einige der Philoponus' antiaristotelische Positionen verknüpfenden Wechselbeziehungen*herausgestellt worden. Der Schöpfungsglaube ermöglicht nicht nur die Ausweitung der Impetustheorie, er liefert auch einen Teil der Begründung dafür, den Ort als Ausdehnung anzusehen. Seinerseits wiederum wird er nicht allein durch die Abweisung eines fünften Elementes gestützt, sondern auch dadurch, daß den Himmeln Ausdehnung als stoffliches Subjekt zugeschrieben wird. Die Theologie wirkt sich hier auf die naturwissenschaftliche Theoriebildung in einem M a ß e aus, das in der griechischen Antike seinesgleichen nur noch in Piatons Timaios findet. Zugleich trifft aber auch zu, daß Philoponus' philosophische Neigungen, insbesondere sein Widerstreben, die Zahl der Wesenheiten über ein notwendiges M a ß hinaus zu vermehren, seinen Umgang mit der christlichen Lehre beeinflußt hat. Ihr wandte er seine besondere Aufmerksamkeit seit 553 zu, als er auf die meisten der im Voraufgehenden angesprochenen Werke bereits zurückblicken konnte, und im Verlauf der folgenden zwei Jahrzehnte versetzte er ihr drei verheerende Schläge. Der Geschehensablauf ist durch die neuerlichen Übersetzungen syrischen Textmaterials von van Roey deutlicher faßbar geworden. Zunächst verfocht Philoponus in einer Reihe von Arbeiten die auf dem vierten ökumenischen Konzil in —>Chalkedon 451 verworfene Anschauung der -»Monophysiten, daß Christus nur eine Natur und nicht zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche habe (-»Jesus Christus). Die Reihe begann zur Zeit des fünften, 553 in —>Konstantinopel gehaltenen ökumenischen Konzils mit dem Arbiter. Philoponus bediente sich darin logischer Beweisgründe gegen das, was er als die in der Zwei-Naturen-Lehre beschlossene unnötige Vermehrung von Wesenheiten ansah. Sein Brief, in dem er eine Einladung Justi-

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nians, zur Erläuterung seiner Anschauungen nach Konstantinopel zu k o m m e n , ablehnte, ist noch erhalten. Philoponus' zweiter Schlag spaltete die Monophysiten, als er gegen Ende 567 in der Schrift Über die Trinität mit den gleichen Gründen denkerischer Ö k o n o m i e offensichtlich einem Tritheismus das Wort redete. Er trat dafür ein, die drei Personen der -»Trinität als drei Substanzen und drei Götter zu betrachten, während die Trinität selbst lediglich als Allgemeinbegriff und somit als etwas allein im Geist Existentes angesehen werden sollte. Philoponus' dritter Schlag spaltete die Tritheisten. Einige Zeit vor 575 trat er in der Schrift Über die Auferstehung dafür ein, daß wir in der -»Auferstehung nicht unseren alten Leib, sondern einen neuen empfangen würden. Zudem würden wir dann, da der neue Leib unsterblich sein werde, Menschen aber per definitionem sterblich seien, keine Menschen mehr sein. Dieses Verständnis der Auferstehung ergänzt seine schon in Contra Aristotelem vorgelegte Vorstellung neuer Himmel und einer neuen Erde. Der hier gegebene Überblick über Philoponus' Schriften deckt keineswegs sein gesamtes Arbeitsfeld ab. Zu dem, was uns von seinen Arbeiten überkommen ist, gehört die älteste erhaltene griechische Abhandlung über das Astrolabium, und es zählen dazu zwei mit Akzentuationsfragen befaßte grammatische Bücher. Umstritten ist, o b ihm auch einige medizinische Werke zugeschrieben werden können. Er hat des weiteren auch Plato kommentiert, doch ist sein Kommentar zu Phaidon verloren gegangen, und er hat eine Erläuterung zur Einführung in die Arithmetik des N i k o m a c h o s von Gerasa verfaßt. Für einen Teil seiner Schriften läßt sich folgende vorläufige Zeitfolge aufstellen:

vor den Zvßßixza Oecopr/ßaza vor 5 1 7 517 529 nach 5 2 9 nach C o n t r a Aristotelem, jedoch vor De opificio mundi ca. 5 5 3 5 5 3 oder später nach 5 5 3 nach 5 5 6 / 7 557/60 nach De opificio mundi vor 5 6 5 vor 5 6 7 567 ca. 5 7 4

K o m m e n t a r zu De anima K o m m e n t a r zu De generatione et corruptione K o m m e n t a r zu den Kategorien

Zößßixxa decoprifiara

K o m m e n t a r zur Physik De aeternitate mundi contra Proclum C o n t r a Aristotelem K o m m e n t a r zu den Meteorologica nichtpolemische Schrift/Schriften gegen die Ewigkeit des Alls Arbiter (zhaizt]Tij< Epitome des Arbiter Zwei Apologien für den Arbiter Vier Tßrißaxa gegen Chalkedon De differentia, numero et divisione De opificio mundi De paschate Brief an Justinian C o n t r a Andream Arianum De trinitate De resurrectione

3. Wirkung D a ß Philoponus 680 anathematisiert wurde, schreckte Christen davon ab, sich ausdrücklich auf ihn zu beziehen. Die arabische Eroberung jedoch erwies sich als seinen Vorstellungen förderlich. Ein besonders gut bezeugtes Beispiel dafür bietet seine Beweisführung für einen Anfang der Welt, die von islamischen und jüdischen Denkern immer wieder aufgenommen worden ist (Davidson: J A O S 89). Als -»Bonaventura sie indessen im 13. J h . unter Verwendung der von Philoponus selbst gegebenen Beispiele lateinisch vortrug, tat er das ohne Namensnennung, und möglicherweise war ihm Philoponus' Urheberschaft gar nicht bekannt. Deshalb hat auf mediävistischer Seite die Vorstellung aufkommen können, Bonaventura habe die Beweisführung selbst entwickelt. Lediglich vom Kommentar zu De anima weiß man, daß er zu dieser Zeit ins Lateinische übertragen worden ist, wobei strittig ist, o b es sich dabei nicht lediglich um einen kleinen Teil dieser

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Schrift gehandelt hat. D a s heißt jedoch nicht, daß nicht auch andere seiner Anschauungen durchgedrungen sind. A u c h außerhalb der Schöpfungslehre gibt es Spuren einer W i r k u n g von Contra Aristotelem, und Ausformungen der Impetustheorie im 14. Jh. weisen eine große N ä h e zu der des Philoponus auf. Umstritten ist, ob dabei islamische Quellen zugrunde lagen; immerhin ist jetzt gesichert, daß islamische Impetustheoretiker unter dem Einfluß von Philoponus gestanden haben (Pines, Isis 4 4 ; Z i m m e r m a n n ) . Im wesentlichen aber erfolgte die Übersetzung ins Lateinische im 16. Jh. Damals fand der originäre Philoponus seinen Weg ins Abendland und trug dazu bei, die Abkehr von der aristotelischen Naturwissenschaft zu untermauern. Seine Beweisführung für das Geschaffensein der M a terie verlieh ihm Ansehen, und er verhalf zu neuen Auffassungen über die Bewegung, das Vakuum und den R a u m . Quellen /. Kommentare zu Aristoteles: Commentaria in Aristotelem Graeca. Hg. v. Hermann Diels, Berlin, X I I I - X V I I 1 8 8 2 - 1 9 0 9 . Der größte Teil dieser Komm, wird in engl. Übers, hg. v. Richard R . K . Sorabji (London/Ithaca N.Y.).-Philoponus' Komm, zu De Anima 3 , 4 - 8 existiert in lat. Ubers, v. Wilhelm v. Moerbeke, Jean Philopon commentaire sur le De Anima d'Aristote. Hg. v. Gérard Verbeke, 1966 (CLCAG 3). - / / . Kommentar zu Porphyrius' ¡sagoge zu Aristoteles' Kategorien in lat. Übers.: Philoponi Interpretatio in Quinque Voces, Vat. Lat. MS 4558,193r-230r. - III. Medizinische Schriften: Zwei angeblich von Philoponus stammende griech. Hss. - Über das Fieber, Mosquensis Gr. 466, fol. 157ff. - Über den Puls, Cod. Vat. Gr. 280, fol. 204 ff. - /V. Mathematisches: Komm, zu Nikomachos' Einl. in die Arithmetik. Hg. v. Richard Hoche, I—II Leipzig 1864, III Berlin 1867. V. Astronomisches: De Usu Astrolabii eiusque Constructione Libellus. Hg. v. Heinrich Hase: R M P 6 (1839) 1 2 7 - 1 7 1 . Nachdr. mit franz. Ubers, v. Alain P. Segonds, Paris 1981. - V/. Grammatische Schriften: De Vocabulis quae Diversum Significatum Exhibent Secundum Differentiam Accentus. Hg. v. Lloyd W. Daly, Philadelphia 1983. - Tonika Parangelmata Ailiou Herodianou peri Schematon. Hg. v. Wilhelm Dindorf, Leipzig 1825. - Vll. Schriften über Schöpfung u. Vergänglichkeit der Welt. Alle außer * werden in engl. Übers, hg. v. Richard R . K . Sorabji (London/Ithaca N.Y.) erscheinen. - De Aeternitate Mundi Contra Aristotelem. Frgm. in engl. Ubers, hg. v. Christian Wildberg, London/Ithaca N. Y. 1986. - De Aeternitate Mundi Contra Proclum. Hg. v. Hugo Rabe, Leipzig 1899.-Auszüge aus einer anderen Sehr, zum Thema bei Simplicius in Phys 1 3 2 6 - 1 3 3 6 . - D e Opificio Mundi. Hg. v. Walter Reichhardt, Leipzig 1897. - * Shlomo Pines, An Arabie Summary of a lost work of John Philoponus: IOS 2 , 3 2 0 - 3 5 2 . - Vi//. Monophysitische Schriften: Syr. Texte mit lat. Ubers.: Opuscula Monophysitica Ioannis Philoponi. Hg. v. 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Johann Rucherat von Wesel

150

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Johannes Quidort

Staatsphilosophie

Johann Rucherat von Wesel (Johann von Wesel, Johannes de Wesalia; ca. 1420 bis 1481 ) 1. Leben

2. Lehre

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 152)

1. Leben E t w a um 1 4 2 0 in Oberwesel a m Rhein (Erzbistum Trier) geboren, studierte R u c h e r a t seit dem Wintersemester 1 4 4 1 / 4 2 in —»Erfurt, w o er 1 4 4 5 Magister Artium wurde und lehrend und lernend nach weiteren elf J a h r e n sein Theologiestudium als Lizentiat und D o k t o r der Theologie abschloß ( 1 5 . 1 1 . 1 4 5 6 ) . Im Wintersemester 1 4 5 6 / 5 7 w a r er R e k t o r der Universität Erfurt. Im September 1 4 6 0 D o m h e r r in W o r m s , wurde er zum Professor der Heiligen Schrift an die neubegründete Universität Basel berufen (1461), von w o er nach W o r m s zurückkehrte (1463). Hier w a r er über 14 J a h r e als Domprediger tätig, bis er wegen kirchenkritischer Äußerungen, insbesondere gegen die Lehre vom —• Ablaß — wohl im Zusammenhang mit dem Jubiläumsablaß von 1475 - , von Bischof Reinhard von Sikkingen gemaßregelt und entlassen wurde (1477). Z w a r erlangte er sogleich anschließend die Stelle eines Dompfarrers in M a i n z . Aber hier wurde er wegen eines von der Kirchen-

Johann Rucherat von Wesel

151

lehre abweichenden Traktats über die Verbindlichkeit kirchlicher Gebote angezeigt, den er einem Nikolaus von Böhmen, einem Hussiten, ausgehändigt hatte. Erzbischof Dieter von Isenburg ließ ihn daraufhin verhaften und übergab ihn einem Inquisitionsgericht unter Leitung des Kölner Dominikaners Gerhard von Elten, das ihn nach mehrtägiger Verhandlung wegen Häresie aburteilte. Indem er am Sonntag Estomihi 1479 (21. Februar) auf dem Marktplatz in Mainz öffentlich Widerruf leistete, rettete Rucherat zwar sein Leben. Aber seine Stellung verlor er, und seine Schriften wurden verbrannt. Nicht lange danach verstarb er in Mainz in Klosterhaft bei den Augustinereremiten (1481). Es war „der einzige Inquisitionsprozeß, der im 15. J h . in Deutschland gegen einen Professor der Theologie geführt wurde" (Kleineidam 11,114). Unter den vier Versionen des Prozeßberichts (A, seit dem 16. J h . mehrfach gedruckt; B = Bonn UB, Hs.747, im II. Weltkrieg verloren, Abdruck bei Clemen, s.u. Quellen; C = Clm 4 4 3 , 1 7 8 äff; W = Wiesbaden LB, Hs. 35, mit B konform) kommt B dem Protokoll des Verhörs vom 1 5 . - 1 9 . 2 . 1 4 7 9 und dem Verlauf des Prozesses am nächsten. Hiernach bejahte Rucherat auf Nachfrage seine Verfasserschaft von vier inkriminierten Trak-

taten: Super modo

obligationis

legum bumanarum,

de potestate

ecclesiastica,

de indul-

gentiis, de ieiunio. Von diesen ist der Ablaßtraktat erhalten geblieben, zu dessen Aussagen sich Rucherat im Verhör unumwunden bekannte. Den Verdacht geheimer Sympathie mit dem Hussitentum wies er aber weit von sich. Die Irrtumslosigkeit der allgemeinen Kirche und die Vorrangstellung und Rechtgläubigkeit der Kirche von R o m bejahte er. Auch hinsichtlich der Abendmahlslehre erklärte er sich im orthodoxen Sinn. Dagegen lehnte er das filioque (-»Trinität) als nicht schriftgemäß ab, er bestritt dem Klerus die Autorität einer über die Heilige Schrift hinausgehenden kirchlichen Gesetzgebung iure divino, und die augustinische Erbsündenlehre verwarf er. Dem Papst sprach er den Rang eines Stellvertreters Christi auf Erden ab, und selbst die Inspiration eines Konzils durch den Heiligen Geist zog er in Zweifel. Im Laufe des Verhörs verhärtete sich sein Widerstand. Doch lenkte er schließlich ein, als ihm bei der Privatverhandlung (18.2.1479) die Delegierten erklärten, seinen Widerruf auf ihr Gewissen nehmen zu wollen. M i t dem Widerruf seiner Sätze (Clemen, s. u. Quellen) mußte er sich implizit zum filioque, zur Lehre vom Papst als Stellvertreter Christi, zur gesetzgeberischen Vollmacht der Hierarchie, zur kirchlichen Lehre von der Erbsünde und zur Gültigkeit des päpstlichen Ablasses bekennen.

2. Lehre Aus der Zeit seiner akademischen Lehrtätigkeit (bis 1463) sind von Rucherat ein

Exercitium

physicum,

ein Exercitium

metaphysicum,

sein Kommentar

zu Buch I—II1 der

Sentenzen des —»Petrus Lombardus sowie eine Osterpredigt handschriftlich erhalten, von der via moderna geprägte, kirchlich korrekte, im Schulbetrieb uneingeschränkt rezipierte Schriften. -»Luther erinnerte sich noch 1539 daran, „wie M . Johannes W e s a l i a . . . zuvor zu Erfford die hohe Schule mit seinen büchern regirt, aus welchen ich daselbs auch bin Magister worden" (WA 50,600). Gleichwohl ist es auffällig, daß Rucherat bereits in Erfurt mit dem Kartäuser Johannes Hagen über die Autorität der Heiligen Schrift und der Konzilien diskutierte. Seine Abweichungen von der Kirchenlehre werden aus den - der älteren Forschung unbekannt gebliebenen - Abhandlungen der 1470er Jahre erkennbar, die Gerhard Ritter aus einer Stockholmer Handschrift erstmals bekannt gemacht hat (Quellenstücke 5 8 - 1 0 5 ) : Hiernach lehnte Rucherat zunächst (1470) im Zusammenhang mit der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens, für die er eintrat, die augustinische Erbsündenlehre ab. In dem Bewußtsein, zum Verteidiger der Heiligen Schrift berufen zu sein (ligatus iuramento pro defensandis sacris scripturis, ebd. 87), kehrte er dabei das Schriftprinzip gegen den Kirchenvater (ebd. 98). In einem theologischen Briefwechsel mit seinem früheren Schüler, dem Mainzer Domprediger J o h a n n von Lautern (Johannes de Lutra), schränkte er sodann (1472), gleichfalls unter Berufung auf die Heilige Schrift, die Autorität von Papst und Konzilien erheblich ein und bejahte die Konsequenzen, die sich hieraus ergaben: Bei der Lehre von der Himmelfahrt Mariens, den

Johann Rucherat von Wesel

152

Fastengeboten, der Verpflichtung des Klerus zum Stundengebet und zur Enthaltsamkeit und dem Gebot der Kommunion unter einer Gestalt handle es sich um kirchliche Satzungen von nur minderer Autorität. Die Frage nach der Autorität in geistlichen Dingen wurde zur „Fundamentalfrage der Weselschen Theologie" (ebd. 16). Rucherats Kritik an der Ablaßlehre (um 1475), bei der er das Schriftprinzip erneut mit seinen nominalistischen Grundsätzen verband, fiel schließlich besonders scharf aus: Weder das Neue Testament noch die Kirchenväter kennen und nennen den Ablaß, erst seit dem 13. Jh. ist er aufgekommen (Benrath, Reformtheologen 39.52). Zwar schenkt Gott die Gnade der Sündenvergebung, - wobei deren Wirkungskraft übrigens nicht dem Bußsakrament als solchem innewohnt, sondern auf dem sakramentlichen Dienst der Priester beruht, den Gott legitimiert hat (ebd. 48). Aber Gott erläßt darum die irdischen Strafen keineswegs (ebd. 53). Ablaß ist vielmehr frommer Betrug an den Gläubigen (quod tales remissiones vocate indulgencie sint pie fraudes fidelium, ebd. 58), - „fromm" insofern, als Ablaßwerke immerhin verdienstliche Werke sein können. Den Ablaß mit der Irrtumslosigkeit der universalen Kirche begründen zu wollen, ist hingegen unmöglich, denn die Kirche als ganze setzt sich aus ihren Teilen zusammen und wird in der Heiligen Schrift bald als heilig und irrtumslos gelobt, bald als sündhaft und irrend getadelt: Ablaß in Kraft zu setzen, ist eine Behauptung der irrenden Kirche (Ecclesia enim facit indulgencias, pro illa parte verum est, que errat, ebd. 60). 3.

Nachwirkung

Der Ausgang des Prozesses gegen Rucherat erregte Aufsehen nicht nur in Mainz und Erfurt. Noch Jahrzehnte später hielten die vom -»Humanismus berührten Schultheologen das Andenken an Rucherat als an einen zu Unrecht Verfolgten hoch, so z.B. Johann -•Geiler von Kaysersberg, Egeling Becker von Braunschweig und Jakob Wimpfeling mit seinen Freunden. In dem Frankfurter Theologenstreit (1501/02) zwischen dem Dominikanerprior Wigand Wirt und dem Stadtpfarrer Konrad Hensel, einem Schüler Rucherats, setzte sich Wimpfeling, der den Prozeßbericht Rucherats kritisch kommentiert hatte, in einer - allerdings Pseudonymen - Schrift für Rucherat ein, und mit der Hilfe von Sebastian -»Brant gewann Hensel seinen Prozeß gegen Wirt (Kleineidam II,114f): Es war ein erster Sieg der Humanisten gegen den Orden der Inquisition und zugleich ein Vorspiel ihres späteren Kampfes für Reuchlin wider die „Dunkelmänner". Luther wußte zwar über Rucherats Verdienst und Schicksal Bescheid, doch blieb ihm dessen Ablaßkritik - im Unterschied zu den Lehren von —>Hus, -»Pupper von Goch, Wessel -»Gansfort und -»Savonarola - offenbar unbekannt. Auf die lutherische Reformation übte Rucherat keinen Einfluß aus. Gleichwohl hat ihn die protestantische Geschichtsschreibung seit -•Flacius zum „Zeugen der Wahrheit" reklamiert und schließlich sogar als einen der „Reformatoren vor der Reformation" (Carl Ulimann) bezeichnet. Jedenfalls dürfte dem bemerkenswerten kirchlichen Opponenten und Reformtheologen auch bei den modernen Historiographen der spätmittelalterlichen Kirchen- und Geistesgeschichte, die von jener Überschätzung Abstand genommen haben, fortwährende Beachtung sicher sein.

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Johannes von Salisbury

153

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Gustav Adolf Benrath Johannes von Salisbury

(1115/20-1180)

(Schriften/Literatur S.155)

Johannes wurde 1115/20 in Old Sarum (in der Nähe des heutigen Salisbury) geboren. Nahezu zwölf Jahre (1136-1147) hat er an den Schulen von -»Paris (und möglicherweise auch -»Chartres) verbracht und dabei -»Abaelard, Alberich von Paris und ->Robert von Melun über Logik und Dialektik, Wilhelm von Conches, Richard l'Eveque, Thierry von Chartres und Peter Elias über lateinische Literatur und Rhetorik sowie Gilbert Porreta, Robert Pullen und Simon von Poissy über Theologie gehört (vgl. Metalogicon 2.10). Einer Empfehlung -»Bernhards von Clairvaux (ep. 361: PL 182,562) folgend, ging er 1147 an den herausragenden Hof des Erzbischofs Theobald von Canterbury, dessen Sekretär und Rechtsberater er alsbald wurde und den er in zahlreichen Missionen auf dem Kontinent vertreten hat (Metalogicon 3 prol.). Eine Frucht dieses Abschnittes seines Werdegangs ist seine erste Briefsammlung. Desgleichen schrieb er während dieser Zeit seine beiden bedeutendsten Werke, das Metalogicon (1159) und den Policraticus (1156-59), in denen sein philosophisches und politisches Denken Ausdruck findet. 1156 ließ ihn eine nicht deutlich faßbare Anfeindung kurzzeitig die Gunst Heinrichs II. verlieren. 1162 trat er in den Dienst des neuen Erzbischofs von Canterbury, seines Freundes und früheren Amtsgefährten Th. —»Becket. Sein freimütiges Eintreten für die Freiheit der Kirche und sein bewährter juristischer und diplomatischer Sachverstand führten letztlich, wohl um Becket seines Ratgebers zu berauben, zu seiner Verbannung, als sich gegen Ende 1163 das Ungewitter des Jurisdiktionskonflikts zwischen König und Erzbischof zusammenzog. Die Verbannungsjahre (1163-November 1170) verbrachte er als Gast seines alten Gönners und Freundes Petrus Cellensis, für den er die Historia Pontificalis schrieb, im „Paradies" zu St. Remigius in Reims. Seine Weigerung, die Konstitutionen von Clarendon anzuerkennen, sowie seine Loyalität gegenüber Becket und -»Alexander III. brachten ihn 1166 um die Wiedererlangung der Gunst des Königs (Letters II, 9 7 - 9 9 ; FitzStephen: Materials III, 98 f), und mit zunehmender Deutlichkeit verfocht er in der Folge die Haltung Beckets. Seine zweite Briefsammlung stellt weitgehend einen Niederschlag der Auseinandersetzungen um Becket während dieser Jahre dar. Nach der Aussöhnung zwischen Becket und Heinrich II. am 22. Juli 1170 in Freteval war er einer der zur Vorbereitung der Rückkehr Beckets nach England entsandten Beauftragten. Am verhängnisvollen Tag der Ermordung Beckets (29. Dezember 1170) befand er sich bei ihm, und von ihm stammt, obwohl er selbst nicht unmittelbarer Augenzeuge war, der erste schriftliche Bericht über Beckets Märtyrertod in Gestalt eines Briefes an Bischof Johannes von Poitiers {Ex insperato: Letters 11,724-738), der später zu einer volkstümlichen Passio sancti Thome erweitert wurde (Materials 11,301-22); beide Texte fanden auf dem europäischen Kontinent weite Verbreitung. Während der nächsten fünfeinhalb Jahre findet man ihn in der Umgebung verschiedener englischer Bischöfe. Zu einer Beförderung kam es erst, als Erzbischof Wil-

154

Johannes von Salisbury

heim von Sens und der französische König Ludwig VII. Mitte 1176 seine Wahl auf den Stuhl von Chartres in die Wege leiteten. Nach seiner Bischofsweihe am 8. und der Amtseinsetzung in der Kathedrale zu Chartres am 15. August 1176 war ihm eine kurze, ohne besondere Vorkommnisse verlaufende Amtszeit bis zu seinem Tod am 25. Oktober 1180 beschieden. Sein Grab fand er in der Klosterkirche von Notre-Dame-de-Josaphat. Johannes war ein herausragendes Beispiel des aus der Erneuerungsbewegung des 12. Jh. hervorgegangenen neuen Schlages gebildeter Geistlicher. Wohlbewandert in der klassischen wie biblischen Literatur, meisterlich in der Beherrschung des Lateinischen und erfüllt von reformerischer Zeitkritik war er durch seine Laufbahn als Sekretär zweier Erzbischöfe von -»Canterbury als Berater und Polemiker in die vorderste Frontlinie kirchlicher Politik gestellt worden. Es waren seine Worte, in denen die Vorstellungen Theobalds Ausdruck fanden und die sehr häufig den Argumenten Beckets Gestalt gaben. Inwieweit er auch Urheber ihrer Auffassungen selbst war, ist eine strittige Frage. In das Blickfeld der Kritik sind seine klassische Gelehrsamkeit, seine politische Theorie und seine Rolle während der Auseinandersetzungen um Becket getreten, und in allen drei Bereichen hat sich in der jüngsten Zeit ein Meinungsumschwung vollzogen. Johannes' Liebe zur klassischen lateinischen Literatur und seine Kenntnis von ihr bekunden sich in allem, was er geschrieben hat; indessen hat J . Martin aufgewiesen, daß er bei der Verwendung klassischer Autoren doch nicht so kenntnisreich und sorgfältig war, wie C. Webb (1909) angenommen hatte. Er hat sicher das florilegium Heirics von Auxerre aus dem 9. Jh. benutzt, er hat möglicherweise - was allerdings von M. Kerner in Frage gestellt wird - die Institutio Trajani fingiert, und er hat sich die Freiheit gelassen, seine Quellen den Bedürfnissen seiner Gedankenführung entsprechend zu verändern. Der Policraticus ist Johannes' streitbarstes Werk und gilt als die bedeutendste politische Abhandlung, die in der Zeit vom Untergang des römischen Reiches bis zum Ende des 12. Jh. in Westeuropa geschrieben wurde. Sie ist abschnittsweise zwischen 1156 und 1159 entstanden und dem neuen Kanzler Heinrichs II., Thomas Becket, gewidmet. Durch sie wurde das Ansehen ihres Verfassers zu seinen Lebzeiten begründet, und sie wurde auch weiterhin das spätere Mittelalter hindurch bis in die frühe Neuzeit angeführt. Ihr bestimmendes Thema ist der Machtmißbrauch in Kirche und Staat und auf allen Ebenen der Gesellschaft. Käuflichkeit, Selbstüberhebung, Unterdrückung und Amtsmißbrauch stellen sich als die schlimmsten Züge in der Regierungsausübung des 12. Jh. dar, und Johannes schlägt als Gegenmittel einen besoldeten Verwaltungsapparat vor, die Anerkennung des wechselseitigen Angewiesenseins aller Angehöriger des Gemeinwesens aufeinander (die organische Staatsauffassung), ein gut ausgebildetes, diszipliniertes Heer und eine freie und reformierte Kirche. Der Fürst sollte Wahrer des Rechtes und nicht sein Umstürzer, Hüter seines Volkes und nicht sein Unterdrücker, Beschützer der Kirche und nicht ihr Ausbeuter sein. Unverhältnismäßig große Beachtung hat ihres revolutionären Einschlags wegen seine Behandlung des Tyrannenmordes gefunden. Die Überschrift zum 20. Kap. des 8. Buches stellt die kühne Behauptung auf: licitum et gloriosum est públicos tyrannos occidere... [es ist statthaft und rühmlich, öffentliche Tyrannen zu töten...], doch das Kapitel selbst kommt nach einer Aufzählung der unseligen Geschicke klassischer und biblischer Tyrannen zu dem Schluß, die beste und wirksamste Art, auf die sich ein Volk eines ungerechten Herrschers entledigen könne, sei es, unbefleckte Hände im Gebet zu Gott zu erheben (puras tnanus levantes ad Dominum, devotis precibus flagellum, quo affliguntur, avertant [(daß sie), reine Hände zum Herrn erhebend, mit hingebungsvollen Gebeten die Geißel, mit der sie geschlagen sind, von sich wenden]. Diese Unklarheit, ja Widersprüchlichkeit hat Generationen von Kommentatoren zu schaffen gemacht. Hat er nun den Tyrannenmord befürwortet oder nicht? Zwar ist es später zu einer Traditionsbildung gekommen, die aus dem Policraticus eine Theorie oder zumindest doch eine Rechtfertigung des Tyrannenmordes hergeleitet hat (z.B. Jean Petit 1408; Jean Boucher 1589), und auch moderne Forscher haben im Gefolge von F. Kern diese Auffassung vertreten; die neuere Forschung aber (H. Liebeschütz, Medieval Humanism; R. u. M. Rouse; M. Ker-

J o h a n n e s von Salisbury

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ner, J o h a n n e s v. Salisbury) hat bestritten, d a ß er den T y r a n n e n m o r d als erlaubtes politisches M i t t e l b e f ü r w o r t e t h a b e , und J . van L a a r h o v e n schlägt vor, den Begriff T y r a n n e n m o r d l e h r e zugunsten von T y r a n n e n l e h r e fallen zu lassen. D e r Policraticus ist viel m e h r als eine R e c h t f e r t i g u n g des T y r a n n e n m o r d e s ein Angriff a u f den M i ß b r a u c h von M a c h t im weitesten Sinne. D i e langen A n f ü h r u n g e n , wie T y r a n n e n zu T o d e g e k o m m e n sind, zielen auf eine E n t m u t i g u n g von M ö c h t e g e r n t y r a n n e n , nicht a u f eine E r m u t i g u n g zu M o r d , V e r s c h w ö r u n g oder A u f r u h r . G l e i c h e r m a ß e n geklärt w o r d e n ist die R o l l e , die J o h a n n e s in den Auseinandersetzungen u m B e c k e t gespielt h a t . M i t R e c h t hat B . Smalley die Auffassung in Frage gestellt, er h a b e im Streit zwischen S t a a t und K i r c h e eine „ g e m ä ß i g t e " Stellung e i n g e n o m m e n , und die N e u a u s g a b e seiner späteren Briefe mit einer besseren C h r o n o l o g i e (1981) hat diese Kritik b e s t ä r k t (A. D u g g a n ) . E r ist stets ein entschiedener Verfechter der Kirchenfreiheit gewesen und hat für seine H a l t u n g mit der E i n b u ß e einer seiner Befähigung entsprechenden k i r c h l i c h e n Aufstiegsmöglichkeit in England bezahlt. Schriften Entheticus (1155-57), ed. Ronald E. Pepin: Traditio 31 (1975) 1 2 7 - 1 9 3 . - Metalogicon (1159), ed. Clement C. J . Webb, Oxford 1929; engl. Übers.: Daniel D. McGarry, The Metalogicon of John of Salisbury. A twelfth-century defense of the verbal and logical arts of the trivium, Berkeley/Los Angeles 1955, Nachdr. 1962. - Policraticus sive de nugis curialium (1156-59), ed. Clement C . J . Webb, 2 Bde., Oxford 1909; Übersetzungen: engl.: Buch 4 - 6 u. Teile von 7 - 8 v. John Dickinson, New York 1927; Buch 1 - 3 u. Teile von 7 - 8 v. Joseph B. Pike, Minneapolis/London 1938; span.: v. M. Alcala u.a., Clasicos para una Biblioteca Contemporanea. Pensiamento. Editoria Nacional, Madrid 1984. - Vita beati Anselmi (1163), PL 1 9 9 , 1 0 0 9 - 1 0 4 0 . - Historia Pontificalis (1164 -70), ed. Marjorie Chibnall, John of Salisbury's Memoirs of the Papal Court, 1965, Nachdr. 1965. - Vita beati Thome ( 1 1 7 1 - 7 3 ) , ed. James C. Robertson/John B. Sheppard: Materials for the History of Archbishop Thomas Becket, 7 Bde., 1875-1885 (RBMAS 67), I I 3 0 1 - 3 2 2 . - The Letters of John of Salisbury 1. The Early Letters (1153-61), ed. W.J. Millor/H.L. Butler/Christopher N . L . Brooke, Oxford 1955, Nachdr. 1979. - The Letters of John of Salisbury II. The Later Letters (1163-80), ed. W.J. Millor/Christopher N.L. Brooke, 1979. - Johannes Saresberiensis...Opera Omnia, ed. John A. Giles, 5 Bde., Oxford 1848 (PEA), PL 199. - Materials for the History of Archbishop Thomas Becket, s.o., V - V I I passim. Literatur Bibliographien: Hans Hohenleutner, Johannes v. Salisbury in der Lit. der letzten zehn Jahre: H J 77 (1958) 4 9 3 - 5 0 0 . - David Luscombe, A Bibliography 1953-1982: The World of John of Salisbury, ed. Michael Wilks, Oxford 1984, 4 4 5 - 4 5 7 ; vgl. ders., John of Salisbury in Recent Literature: ebd. 21-38. Anne J . Duggan, John of Salisbury and Thomas Becket: The World of John Salisbury and Thomas Becket, s.o. Bibliogr., 4 2 7 - 4 3 8 . - Klaus Gluth, Johannes v. Salisbury (1115/20-1180), St. Ottilien 1978 (Stud, zur Kirchen-, Kultur- u. Sozialgesch. Westeuropas im 12. Jh., M T h S . H 20). Fritz Kern, Gottesgnadentum u. Widerstandsrecht im früheren MA. Zur Entwicklungsgesch. der Monarchie, Leipzig 1914 (Ma. Stud. 1.2); Neuausg. v. Rudolf Buchner, Darmstadt 1950. - M a x Kerner, Randbemerkungen zur Institutio Traiani: The World of John of Salisbury, s.o. Bibliogr., 203 - 2 0 6 . - D e r s . , Johannes v. Salisbury u. die logische Struktur seines Policraticus, Wiesbaden 1977. - Jan van Laarhoven, Thou shalt not slay a tyrant! The so-called theory of John of Salisbury: The world of John Salisbury, s. o., 3 1 9 - 3 4 1 . - Hans Liebenschütz, Medieval Humanism in the Life and Writings of John of Salisbury (Studies of the Warburg Institute 17), London 1950. - Ders., John of Salisbury and Pseudo-Plutarch: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 6 (1943) 3 3 - 3 9 . Janet Martin, John of Salisbury's Manuscripts of Frontinus and of Gellius: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 40 (1977) 1 - 2 6 . - Dies., Uses of Tradition: Gellius, Petronius and John of Salisbury: Viator 10 (1979) 5 7 - 7 6 . - Richard u. Mary A. Rouse, John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide: Speculum 42 (1967) 6 9 3 - 7 0 9 . - Carl M . W. Schaarschmidt, Johannes Saresberiensis, Leipzig 1862. - Beryl Smalley, The Becket Controversy and the Schools: A Study of Intellectuals in Politics, Oxford 1973, 8 7 - 1 0 8 . - Tilman Struve, Vita civilis naturam imitetur... Der Gedanke der Nachahmung der Natur als Grundlage der organologischen Staatskonzeption Johannes' v. Salisbury: H J 101 (1981) 3 4 1 - 3 6 1 . - Clement C. J. Webb, John of Salisbury, London 1932. Anne J . Duggan

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Johannes Scottus Eriugena

J o h a n n e s Scottus Eriugena 1. Eriugena als Lehrer der freien Künste 2. Eriugena als Gutachter im Prädestinationsstreit 3. Eriugena als Übersetzer griechischer Theologie 4. Eriugena als wissenschaftlicher Ausleger der Heiligen Schrift (Anmerkungen/Werke/Literatur S. 164) Eriugena ist, wie dieser selbstgegebene Beiname betonen soll, einer von jenen „in Irland geborenen" Gelehrten, die seit etwa dem ausgehenden 8. Jh. über mehrere Generationen hin vor den Wikingern in das Frankenreich auswichen. Er wird zum ersten Mal historisch greifbar für die Jahre vor 845/46'. Als Mitglied der wandernden Umgebung des Hofs Karls des Kahlen (840-877) 2 war er dem König zu vasallitischer Treue verpflichtet 3 , jedoch ohne ein kirchliches Amt zu bekleiden 4 . Er unterrichtete die freien Künste 5 (—• Artes liberales), verfaßte zu außerordentlichen Ereignissen am Hof Gedichte 6 und stand offenbar zeit seines Lebens dem König für besondere gelehrte Aufgaben zur Verfügung. Den Unterricht scheint er zeitweilig in der Königspfalz von Compiegne erteilt zu haben 7 . Mit Sicherheit unterrichtete er auch in Laon, vermutlich in der Klosterpfalz des Königsklosters von St. Johannes St. Maria 8 . Einer seiner Schüler war Prudentius, der 845/6 Bischof von Troyes wurde; ein anderer vielleicht Wicbald, der spätere Bischof von Auxerre 9 . 1. Eriugena

als Lehrer

der freien

Künste

E t w a s außergewöhnlich w a r das Lehrbuch, das Eriugena seinem Unterricht zugrundelegte: ein heidnisches H a n d b u c h der sieben freien Künste, im ersten Drittel des 5. J h . von M a r t i a n u s Capeila, einem N o r d a f r i k a n e r ' 0 , verfaßt, von Cassiodor für den Anfängerunterricht e m p f o h l e n 1 1 . Eingeflochten in die mythische Rahmenhandlung des hieros gamos zwischen Merkur und Philologia enthält es zu jeder einzelnen Kunst ein knappes und zuverlässiges Kompendium. Es ist geprägt von dem religiösen Geist jenes Bildungsverständnisses, von dem her sich eine kleine, heidnisch gebliebene Oberschicht des spätantiken Römischen Reichs verstand. Im Karolingerreich machten zwei Überzeugungen seine Rezeption möglich. Zum einen glaubte man, von den Römern mit dem Imperium auch das wertvollste Geistesgut der Antike, die Wissenschaft (philosophia), geerbt zu haben, und sah deren Inbegriff ausschließlich in den sieben freien Künsten (translatio artium12). Zum andern hatte man erkannt, daß man das wertvollste christliche Geistesgut, die als die wahre Weisheitslehre (vera philosophia) verstandene göttliche Offenbarung, den maßgeblichen Texten nur dann richtig für die Verkündigung entnehmen kann, wenn man die freien Künste beherrscht 13 . Der gewöhnliche Unterricht darin hatte sich bisher jedoch auf das praktisch Notwendigste beschränken müssen. Der Einführung des Martianschen Handbuchs, das seit Karl dem Großen im Frankenreich gewesen zu sein scheint 14 , standen zu große sprachliche und inhaltliche Schwierigkeiten entgegen. Eriugena ist es gelungen, sie zu überwinden. Ein Brief, den er an einen „Herrn Winibert" richtete 15 , nach Contreni den Abt des Klosters Schüttern bei Straßburg 1 6 , zeigt, daß er sich zuerst um die Herstellung eines zuverlässigen Texts bemüht hat. Nachdem äußere Gründe die Zusammenarbeit mit Winibert beendet hatten, stieß er zu einem uns unbekannten Zeitpunkt in Martin, dem magister der Kathedralschule in Laon 1 7 , auf einen Gelehrten, der wie er an Martianus Capella interessiert war. Die Frucht dieser Zusammenarbeit, eine im Unterricht eines jeden entstandene je andersartige Glossierung des ganzen Handbuchs 1 8 , war eine außergewöhnliche gelehrte Leistung. Als deren nachhaltigste Folge wurde das Martiansche Kompendium für gut eineinhalb Jahrhunderte zu „dem" Lehrbuch der freien Künste im lateinischen Mittelalter. Im Karolingerreich war dadurch eine tiefgreifende Veränderung der wissenschaftlichen Grundausbildung möglich geworden: Man konnte künftig alle sieben freien Künste sachgerecht und in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Eigengewicht vermitteln, nicht mehr nur die praktisch notwendigen, noch dazu inhaltlich entsprechend eingeschränkt. Eriugenas Martianglosse ist durchgehend in zwei nicht gänzlich inhaltsgleichen Handschriften überliefert, fragmentarisch in vier w e i t e r e n 1 9 . Dem überlieferten Text k o m m t jedoch nur mittelbare Authentizität z u 2 0 . Dennoch kann ihm zuverlässig entnommen werden, daß Eriugenas Unterricht, den er übrigens auch in den Jahren 8 5 9 / 6 0 erteilt zu haben s c h e i n t 2 1 , auf jeden Fall auf d e m Feld der Logik (dialectica) so außergewöhnlich w a r , daß darin der Anfang der mittelalterlichen Logiktradition gesehen werden m u ß 2 2 . Bis dahin w a r die Logik als bloßes Bildungsgut tradiert worden. Durch Augustin wußte m a n zwar um ihren wissenschaftlichen W e r t als scientia veritatis13, vermochte aber keinen entsprechenden Gebrauch von ihr zu machen. Erstmals Eriugenas Schüler lernten sie

Johannes Scottus Eriugena

157

auch zu handhaben, und zwar als das in der Syllogistik gipfelnde 2 4 System jener formalen Regeln, an die sich halten muß, wer die Wahrheit über das Ganze, das die Wirklichkeit ist, wissenschaftlich untersuchen will 2 5 . Die Logik war damit als die formale Grundlage der übrigen sechs Disziplinen begriffen (mater artium)26 und der inhaltliche Begriff der Wissenschaft ( p h i l o s o p h i a = Septem artes) auf den formalen Begriff der Wissenschaftlichkeit (philosophia = dialéctica) zurückgeführt. A u f die außergewöhnliche methodische Umsicht, mit der Eriugena seinen Schülern einen zuverlässigen Zugang auch zur antiken M y t h o l o g i e der R a h m e n h a n d l u n g eröffnet hat, hat Préaux aufmerksam g e m a c h t 2 7 ; sie hat nach M a t h o n ebenfalls eine Tradition g e s t i f t e t 2 8 . D a s Geschehen selbst wurde von Eriugena kosmologisch ausgelegt. A n h a n d des Abstiegs der M u s e n als Brautwerber aus dem supralunarischen Götterhimmel zur Erde und ihres Wiederaufstiegs dorthin mit Philologia als Braut vermittelte er Wissen über so grundlegende N a t u r p h ä n o m e n e wie die vier Elemente und ihre Syzygien, die Planeten, ihre Bewegungen und die darin zum Ausdruck k o m m e n d e Weltharmonie, den Einfluß der Planeten auf das irdische Leben, die „ W e l t s e e l e " als das Prinzip aller B e w e g u n g 2 ' . W i e Liebeschütz gezeigt h a t 3 0 , entstammten die vermittelten Kenntnisse nicht eigener N a t u r b e o b achtung, sondern der kritisch vergleichenden L e k t ü r e entsprechender Schriften aus der Antike. Eriugena teilte mit seinen Zeitgenossen die Überzeugung, der K o s m o s sei von den Gelehrten der Antike ( p h i l o s o p h i ) bereits vollständig erforscht w o r d e n . Dessen Begriff, nicht bloßes Einzelwissen von ihm wollte er vermitteln. Schlagartig wird das greifbar an seinem Interesse für die genaue Ausdehnung des K o s m o s 3 1 . Es enthüllt zugleich seine Auffassung, die S u m m e der Einzelerkenntnisse vom K o s m o s ergebe nicht nur, wie beschaffen er sei, sondern vor allem, was er im ganzen sei - eine Auffassung, die auch seinem H a u p t w e r k zugrundeliegt und dort ebenfalls verhindert, d a ß die grundlegenden Begriffe eindeutig werden. Allerdings k o n n t e man im karolingischen Bildungswesen, das weder den allgemeinen Begriff der - » M e t a p h y s i k noch ihn in einer seiner geschichtlichen Verwirklichungen ausdrücklich kannte, der Frage, was die W i r k l i c h k e i t im ganzen sei, wissenschaftlich k a u m anders nachgehen als in der F o r m einer K o s m o l o g i e , die zwischen naturwissenschaftlichen und theologischen Aussagen hin- und herschweift. D a ß hinter Eriugenas kosmologischer Auslegung der R a h m e n h a n d l u n g tatsächlich metaphysisches Interesse stand, bezeugt ungewollt die Erregung des Prudentius über einzelne seiner F e s t s t e l l u n g e n 3 2 ; es zeigt sich auch in Eriugenas Bemühen um einen wissenschaftlich vertretbaren Begriff der H ö l l e 3 3 und in der Auslegung der Vermählung Philologias mit M e r k u r . Er begriff diese in der Tradition Ciceros als ein Bild für die Notwendigkeit, Beredsamkeit um das Streben nach Weisheit zu e r g ä n z e n 3 4 . D a ß Philologia ihrem Weisheitsstreben die A u f n a h m e in die Gemeinschaft der G ö t t e r verdankt, bedeutet, d a ß der M e n s c h , wenn er die freien Künste betreibt, weise und darin göttlich w i r d 3 5 ; denn er entfaltet nicht nur formal seine wertvollste Naturanlage, die Fähigkeit zur zuverlässigen Erkenntnis der W i r k l i c h k e i t ; er behebt zugleich auch das Unheil seiner Seele, indem er das Wissen um den Sinn von allem erwirbt. Dieses Wissen sagt ihm vor allem, d a ß G o t t sein Ursprung ist und in der R ü c k k e h r zu G o t t sein G l ü c k besteht. So befreit es seine f o r m a l gegebene Freiheit, das W ä h l e n k ö n n e n beliebiger Handlungsziele, von der Unwissenheit um den richtigen Begriff des Glücks. Die mit diesem gegebene Fähigkeit, das R i c h t i g e zu wählen, wächst somit in dem A u s m a ß , wie die Weisheit eines M e n s c h e n z u n i m m t 3 6 . Durch eine solche Auslegung ist aus der R a h m e n h a n d l u n g eine heidnische Bestätigung für die Richtigkeit der christlichen Uberzeugung geworden, mit der von G o t t geoffenbarten und in der Hl. Schrift überlieferten wahren Weisheitslehre sei das Heil grundsätzlich aller M e n s c h e n wieder möglich geworden.

2. Eriugena

als Gutachter

im

Prädestinationsstreit

Um die Freiheit des Menschen und die auf ihr beruhende Verantwortung für seine Handlungen ging es im Prädestinationsstreit 3 7 . Vordergründig stritt man darum, ob die Auslegung, die —• Gottschalk der kirchlichen Lehre von der Vorherbestimmung des Menschen durch Gott ( - • Prädestination) gegeben hatte, rechtgläubig sei. Ein von Karl dem Kahlen und ->Hinkmar von Reims angefordertes Gutachten Eriugenas sollte die kirchliche Verurteilung Gottschalks wissenschaftlich rechtfertigen. Eriugena sah sich daher sowohl als Fachmann für Logik angesprochen 3 8 wie auch als Augustinuskenner 3 9 , der sich als grammaticus an die Regeln der wissenschaftlichen Textauslegung h ä l t 4 0 . Seinem formalen Wissenschaftsbegriff entsprechend entwickelte er eine neue Methode des wissenschaftlichen Beweises. Danach wird eine umstrittene Glaubenswahrheit in einem ersten Schritt der Heiligen Schrift oder einer kirchlichen Festlegung entnommen. Ihr richtiges Verständnis wird in einem zweiten Schritt dadurch wissenschaftlich gesi-

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Johannes Scottus Eriugena

chert, daß sie mit Hilfe der Logik, insbesondere der syllogistischen Verfahren, in ein begrifflich eindeutiges und in sich widerspruchsfreies Aussagesystem umgeformt wird, weil nur diese Form ihrer Allgemeingültigkeit als Wahrheit entspricht. Die Rechtgläubigkeit der nunmehr wissenschaftlich ausgesagten Wahrheit wird in einem dritten Schritt mit entsprechenden Vätertexten belegt. Die bisherige M e t h o d e des wissenschaftlichen Beweises, der Autoritätsbeweis, blieb damit beibehalten, allerdings war ihr wissenschaftlicher R a n g gemindert w o r d e n 4 1 . Der Möglichkeit, daß diese methodische Neuerung von den Kirchenführungen abgelehnt wurde, war sich Eriugena b e w u ß t 4 2 . Vorbeugend unterstrich er daher die verschiedenartigen Aufgaben von Rhetorik und L o g i k 4 3 und berief sich für sein neuartiges methodisches Vorgehen (ratione et auctoritate) auf den K ö n i g 4 4 . Z u r Begutachtung lagen ihm Gottschalks Confessio brevior und Confessio prolixior v o r 4 5 . Er widerlegte die darin vorgetragene Lehrmeinung, indem er, vielleicht aus Willfährigkeit gegenüber den Auftraggebern ein wenig zu spitzfindig 4 6 , den von Gottschalk aufgenommenen Ausdruck gemina praedestinatio im Sinn von dupla oder bipertita praedestinatio nahm, seine Unvereinbarkeit mit dem Begriff der einen göttlichen Substanz n a c h w i e s 4 7 und abschließend den systematischen O r t dieser „ H ä r e s i e " innerhalb der entsprechenden Theologiegeschichte b e s t i m m t e 4 8 . Gegen Gottschalks Verneinung jeder menschlichen Freiheit stellte er diese Auffassung der kirchlichen Prädestinationslehre 4 9 : G o t t hat noch vor der Erschaffung der Menschheit - im Wissen um ihren künftigen Sündenfall in Adam, der den Verlust des Wissens zur Folge hat, worin das wahre Glück des Menschen besteht - bestimmt, wenigstens einem Teil der Menschen die Chance der R ü c k k e h r zu ihm als ihrem wahren Glück zu geben. Die weltumspannende Wirksamkeit dieses Plans begann mit J e s u s 5 0 . Wer nämlich auf ihn getauft ist, den führt die Kirche zeit seines Lebens immer tiefer in die wahre Weisheitslehre ein. Dadurch weiß er wieder, worin das wahre Glück des Menschen besteht. Kraft dieses Wissens vermag er seine Entscheidungsfreiheit wieder richtig zu gebrauchen und sich für immer glücklich zu machen. Auf den, der die Freiheit nicht richtig gebraucht, sei er getauft oder Heide, wartet nach seinem leiblichen T o d dagegen die gerechte Strafe des ewigen Höllenfeuers. Dieses ist jedoch kein physisches Leiden, das ihm G o t t zufügte, sondern eine immerwährende seelische Q u a l , die er sich selbst zugefügt hat. Sie besteht in dem Wissen um sein wahres Glück bei gleichzeitigem Unvermögen, entsprechend zu handeln, aber der zum Z w a n g gewordenen Gewohnheit, den als falsch durchschauten eigenen Glücksvorstellungen entsprechend handeln zu wollen, ohne es überhaupt noch zu können 5 1 '. Um die Rechtgläubigkeit dieser Lehrauffassung zu belegen, führte Eriugena Vätertexte an: vorwiegend von Augustinus 5 2 , für den Begriff der Hölle zusätzlich von —»Gregor dem G r o ß e n 5 3 . Auch dem dritten Schritt der neuen Methode schickte er, wie bereits dem zweiten, ein Methodenkapitel voraus; es macht insbesondere auf die Grundregel der Hermeneutik aufmerksam, erst dann nach dem Sinn einer Aussage zu fragen, wenn über die Feststellung des modus locutionis die Aussageabsicht bestimmt worden i s t 5 4 . Das H i n k m a r und Karl dem Kahlen ausgehändigte Gutachten wurde über Erzbischof Wenilo von Sens, Bischof Prudentius von Troyes und Erzdiakon Florus von Lyon ein Mittel im kirchenpolitischen Kampf gegen H i n k m a r . So fanden es zwei Gegengutachten e m p ö r e n d 5 5 , daß so objektive geschichtliche Tatsachen wie der Sündenfall, das Gericht oder die Hölle als rein subjektive Bewußtseinszustände scheinbar wegerklärt werden sollten, und betrachteten die Verwendung logischer Argumentationstechnik bei der Erörterung von Glaubensfragen als einen Verstoß gegen das G e b o t der „Schlichtheit im Glaub e n " 5 6 . Zwei Synoden im kaiserlichen Reichsteil (855 Valence, 859 Langres) verurteilten einzelne Inhalte und die neue M e t h o d e . Damit war dieser die Möglichkeit genommen, im karolingischen Bildungswesen eine anerkannte Rolle zu spielen, obwohl sie eine Erweiterung der bestehenden theoretischen Möglichkeiten bedeutete.

Johannes Scottus Eriugena

3. Eriugena als Übersetzer

griechischer

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Theologie

Hinkmar distanzierte sich geschickt von E r i u g e n a 5 7 . Der König dagegen griff zu einem uns unbekannten Z e i t p u n k t 5 8 den mit einer „Arbeitsprobe" verbundenen Hinweis des Gutachtens auf, man müsse in Fragen der Weisheit bis zu den griechischen Glaubensquellen zurückgehen 5 9 . Er bat Eriugena, die von Abt Hilduin zwischen 832 und 834/5 für das Kloster S. Denis angefertigte und teilweise schwer verständliche Übersetzung des Corpus Dionysiacum60 (-»Dionysius Areopagita) so zu überarbeiten, daß sie auch allgemein zugänglich gemacht werden k ö n n e 6 1 . Seit dieses aus vier Schriften und zehn Briefen bestehende Werk, ein Staatsgeschenk des oströmischen Kaisers an Ludwig den F r o m m e n , am 8. Oktober 8 2 7 an das Königskloster S. Denis, Grablege bedeutender Merowinger und Karolinger, weitergeschenkt worden w a r 6 2 , genoß es in der karolingischen Gelehrtenwelt ein fast apostolisches Ansehen. Auch Eriugena hielt den fiktiven, nach wie vor unbekannten Verfasser aus der Proklosschule für das von Paulus getaufte Areopagmitglied Dionysius, dem im Beisein der Apostel Jakobus und Petrus der auferstandene Jesus erschienen s e i 6 3 . O b er die in Hilduins Passio S. Dionysii64 vorgenommene, unter den karolingischen Gelehrten jedoch u m s t r i t t e n e 6 5 Gleichsetzung dieses Dionysius mit jenem, dessen Gebeine in S. Denis ruhen, billigte, ist u n g e k l ä r t 6 6 ; desgleichen, inwieweit Karl der Kahle durch H i n k m a r auf das Corpus Dionysiacum aufmerksam geworden w a r 6 7 ; denn dieser hatte sich als Schüler Hilduins offenbar als einziger im Prädestinationsstreit auf dessen Übersetzung stützen k ö n n e n 6 8 . O b der König um Eriugenas wortwörtliche und teilweise lücken- wie fehlerhafte Übersetzung der anthropologischen Schrift 77epi HaxaaxeorjQ äv&pämou des Gregor von Nyssa w u ß t e 6 9 , ist ebenfalls unbekannt. Eriugena bezog sich in seinem Unterricht namentlich darauf - nach Liebeschütz auf der Grundlage einer anderen Übersetzung als der des Dionysius E x i g u u s 7 0 ; und ohne Namensnennung hatte er in sein Gutachten, das nur lateinische Väter anführt, zwei wichtige Gedanken aus dieser Schrift e i n g e b r a c h t 7 1 .

Der durch die Aufregung um sein Gutachten verunsicherte Eriugena sah in dem wohl deswegen umstrittenen 7 2 königlichen Auftrag ein Zeichen für die anhaltende Gunst Karls des K a h l e n 7 3 . Seine Griechischkenntnisse waren allerdings nicht die besten und stießen auf eine teilweise lücken- und fehlerhafte griechische V o r l a g e 7 4 . Aus Ehrfurcht vor dem T e x t 7 5 bildete er ihn wortgetreu in lateinischer Sprache ab. Entsprechend unbeholfen fiel die Übersetzung aus. Mitunter gibt sie falsch wieder, was bei Hilduin richtig ist. J a , sie verkehrt, wenn Eriugena anderer Meinung als Dionysius ist, gelegentlich gar den Sinn eines Satzes in sein Gegenteil 7 6 . Dennoch übertrifft sie nach Roques die Übersetzung Hilduins. Sie sei terminologischer, weil sie gleiche Wörter stets gleich übertrage. Vor allem aber seien in ihr begriffen die Lehre von der affirmativen und negativen Theologie und die Lehre von der eingeschränkten Leistungsfähigkeit wissenschaftlicher Sprache bei Aussagen über G o t t 7 7 . D a ß Eriugena insgesamt dem Denken des Dionysius näher gekommen ist, zeigt sich darin, daß er im Widmungsbrief an Karl den Kahlen den wesentlichen Inhalt jeder Schrift knapp zusammenzufassen v e r m o c h t e 7 8 . Hilduin hatte nur die einzelnen Kapitelüberschriften aneinanderreihen k ö n n e n 7 9 . Wohl in der Hoffnung auf eine noch verständlichere Fassung hatte der König die neue Übersetzung dem bedeutendsten Gräzisten der damaligen lateinischen Welt zukommen lassen, Anastasius bibliothecarius in R o m 8 0 . Dieser förderte, seit Karl als möglicher künftiger Kaiser galt, dessen Bemühungen, die griechische Theologie auch im Frankenreich heimisch werden zu lassen 8 1 . Anastasius w a r überrascht von so viel Griechischkenntnissen im Karolingerreich und Eriugenas Übersetzermut angesichts einer sprachlich wie inhaltlich derart schwierigen Theologie. Allerdings mache die Wörtlichkeit der Übersetzung eigentlich eine weitere nötig. Trotzdem beschränkte er sich auf ein paar Texteingriffe und schrieb einige Dionysiusscholien des M a x i m u s Confessor und Johannes von Skythopolis an den R a n d 8 2 .

Eriugena wußte selbst, daß seine Übersetzung eines Kommentars bedurfte 8 3 . So übersetzte er, als er entdeckte, daß in den Ambigua des - » M a x i m u s Confessor Sätze auch des Dionysius zur Erhellung schwieriger Stellen aus „ G r e g o r " (von Nazianz) näher aufgeschlüsselt sind, dieses eine der beiden Hauptwerke des größten griechischen Theologen des 7. J h . Er übertrug es auf königlichen Wunsch „eilends" und unmittelbar aus dem G r i e c h i s c h e n 8 4 . O b die Entdeckung die Ursache oder die Folge des königlichen Auftrags

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J o h a n n e s Scottus Eriugena

w a r , ist noch nicht geklärt; ebensowenig, w o h e r wohl der Hinweis auf M a x i m u s k a m und woher die griechische Vorlage. (Jeauneau bereitet eine kritische Edition vor; eine der längeren Glossen aus Wulfads E x e m p l a r der Übersetzung, Hs. Paris M a z a r i n e 5 6 1 , ist von Cappuyns ediert w o r d e n 8 5 . ) O b sich Eriugena von den Quaestiones ad Thalassium, dem anderen H a u p t w e r k des M a x i m u s , weitere Aufschlüsse über Dionysius versprach, ist unbekannt. E r übertrug es ebenfalls, und zwar nach Fertigstellung von Periphyseon III und vor Beginn der Bücher I V / V seines H a u p t w e r k s 8 6 . Gute Gründe sprechen für die A n n a h me, er könne sich auch um die Übersetzung des Hexaemeron des -»Basilius, des Ancoratus des Epiphanius von Salamis und die Solutiones ad Chosroem eines gewissen Priscianus Lydus bemüht h a b e n 8 7 . D e m Corpus Dionysiacum w a n d t e er sich nach der Fertigstellung seines H a u p t w e r k s wieder zu und verfaßte - vielleicht im Z u s a m m e n h a n g mit entsprechendem Unterricht - einen K o m m e n t a r zu De caelesti hierarchiass. Darin geht er Satz für Satz seine Übersetzung durch, bedenkt andere Übertragungsmöglichkeiten, bestimmt den Literalsinn und erschließt von ihm aus den Gedanken. Gleichsam nebenbei wird die ursprüngliche Übersetzung noch einmal überarbeitet. Die folgenden Indizien empfehlen zu fragen, ob Eriugena nicht im Bereich des Klosters S. Medard vor Soissons die Hilduinsche Ubersetzung überarbeitet, die Ambigua übersetzt, Periphyseon I-Ill geschrieben, die Quaestiones ad Thalassium übertragen, vielleicht gar Periphyseon IV/V verfaßt und im Unterricht die Caelestis hierarchia erläutert haben könnte: Während er im Jahre 852 wieder, vermutlich in Laon, die freien Künste anhand des Martianus Capella lehrte 8 9 , erregte sein Gutachten unter den Gelehrten Unmut und wurde innerhalb des Episkopats zu einer Waffe gegen Hinkmar und seine Anhänger. Angesichts der Haltung Hinkmars bedurfte Eriugena des königlichen Schutzes. Den konnte ihm bis zum Jahre 856/7 leicht Bischof Pardulus von Laon gewähren; er war ein enger Vertrauter des Königs und hat zusammen mit Bischof Rothad von Soissons und Wulfad eine Angelegenheit des Frauenklosters Notre Dame in Soissons geregelt 9 0 . Nach seinem Tod könnte der König Wulfad diese Aufgabe zugewiesen haben. Dieser ist der führende Kopf jener Reimser Kleriker, die —>Ebo geweiht, Hinkmar aber nicht als rechtmäßig geweiht anerkannt hatte. Der König hatte sich ihn etwa 850/1 von Hinkmar für die Hofkapelle erbeten 0 1 . Hier hatte er rasch das Vertrauen und die Wertschätzung Karls gewonnen. Dieser übertrug ihm um 855 die Ausbildung seines Sohnes Karlmann, der im Jahre 854 in S. Medard die Tonsur erhalten hatte 9 2 . Seit dieser Zeit dürfte Wulfad in S. Medard eine führende Rolle gespielt haben 9 3 . Nach dem Tod Abt Hilduins des Jüngeren am 22.11.860 wurde Karlmann A b t 9 4 . Für Abt Hilduin, den Erzkapellan des Königs 9 5 , dürfte es ein leichtes gewesen sein, von Abt Ludwig von S. Denis, dem Kanzler des Königs, das griechische Corpus Dionysiacum samt Hilduins lateinischer Ubersetzung ausgeliehen zu bekommen - ein Vorgang zwischen zwei Königsklöstern. Karl der Kahle hat sich in der Klosterpfalz von S. Medard öfter aufgehalten als in jener von St. Johannes/St. Maria in L a o n 9 6 . Die terra S. Medardi besaß ein Sonderrecht für die Aufnahme von „Fremdlingen" 9 7 . Als advena kennzeichnete sich Eriugena im ersten Widmungsgedicht seiner Dionysiusüberarbeitung 98 . Den König, Eigenherr von S. Medard, nennt er darin „seinen Karl", betont die Notwendigkeit des königlichen Schutzes für seine Arbeit und hält möglichen böswilligen Kritikern seiner Dionysiusüberarbeitung den stolzen Satz entgegen: „Um auf sicherem Grund feststehend (.stabilis) zu bleiben, wird es genügen, am königlichen Gestüt festzumachen" 9 9 . Vor dem Hintergrund der Klage im Widmungsbrief des Gutachtens über die seiner wissenschaftlichen Arbeit abträgliche Unruhe, die das Umherziehen im königlichen Gefolge mit sich bringt, hört sich das an wie Freude über eine Art stabilitas loci, die ihm mit Sicherheit der Übersetzungsauftrag, vielleicht aber auch die Beteiligung an der Ausbildung Karlmanns 1 0 0 gebracht haben. Wo könnte die nachweisbare Freundschaft zwischen Wulfad und Eriugena besser gewachsen sein als in S. Medard? Sie beruhte auf gemeinsamen religiösen Ansichten und den entsprechenden wissenschaftlichen Interessen. Periphyseon geht auf Wulfads Anregung und geistige Anteilnahme zur ü c k 1 0 1 . Dem seit September 866 in Bourges als Bischof residierenden Wulfad schickte Eriugena das fertige Werk zu (oder nur noch die Bücher IV/V?) und bat ihn zu prüfen, ob darin wirklich, wie versprochen, alle theologischen Fragen gelöst seien 1 0 2 . Nach Bischoff stehen die ältesten Handschriften von Periphyseon (Bamberg Ph 2/1; Reims 875) und die Laoner Handschrift des Johanneskommentars (Laud. 81) einem „lokalen Stil nahe, der in Soissons fixiert werden k a n n " 1 0 3 . Nach dem Verzeichnis der Bücher Wulfads auf fol. 219 Y der in S. Medard geschriebenen und ihm gehörenden Handschrift Paris Mazarine 561, das keineswegs schon 866 angelegt worden sein muß, besaß Wulfad neben diesem Exemplar der Ambiguaübersetzung noch Eriugenas Dionysiusüberarbeitung, Periphyseon auf zwei Bände verteilt, die Übertragung der Quaestiones ad Thalassium und vielleicht auch die Homilie zum Prolog des Johannesevangeliums 1 0 4 .

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Heiric von Auxerre dürfte diese in S. Medard kennengelernt haben 1 ° 5 . Dort weilte er von 862 bis 865, um sich von Wulfad, so Quadri, in Eriugenas Denken einführen zu lassen. Wahrscheinlicher ist, daß er zu Griechischstudien dorthin geschickt worden w a r 1 0 6 und von dem Denken seines Griechischlehrers Eriugena so beeindruckt wurde, daß die Klosterschule S. Germain in Auxerre unter seiner Leitung ab etwa 866/7 zu einem Zentrum des „Erigenismus" im 9. Jh. wurde 1 0 7 . Erst wenn diese als solches näher untersucht worden ist, wobei zusätzlich zu beachten ist, daß im Jahre 879 der Eriugenaschüler Wicbald Bischof von Auxerre wurde, sind verläßlichere Antworten auf die Frage möglich, ob wirklich auch alle die Schriften von Eriugena stammen, deren mögliche Zuschreibung an ihn derzeit erörtert w i r d 1 0 8 . Auf räumliche Distanz zwischen Martin von Laon und Eriugena weist auch folgende Tatsache hin: Martin nahm in seinen berühmten Cod. Laud. 444 zwar die griechischen Wörter auf, die Eriugena in seinen Gedichten verwandte, auch Hilduins Wiedergabe von ierarchia als sacer vel caelestis principatus, nicht jedoch die reichhaltigen lexikalischen und grammatischen Kenntnisse, die sich Eriugena beim Übersetzen angeeignet h a t 1 0 9 . Vielleicht wollte sich Karl der Kahle in St. Medard ein Übersetzungszentrum für griechische Theologie schaffen 1 1 0 . Fraglich ist, ob Eriugena das Gedicht Aulae sidereae wirklich, wie seit Vieillard-Troiekouroff angenommen wird, zum Tag der Weihe der Pfalzkapelle St. Maria in Compiegne am 5. Mai 877 verfaßt h a t 1 1 1 . Zu Dümmlers nach wie vor nicht ausgeräumten Bedenken, der am Weihnachtsfest 875 zum Kaiser gekrönte Karl werde ohne Hinweis auf dieses Ereignis in dem Gedicht zweimal lediglich König tituliert, kommt die Frage, warum vom Bau der Kapelle im Präsens und nicht im Perfekt gesprochen w i r d 1 1 2 . Wahrscheinlich ist dieses für ein Weihnachtsfest geschriebene Gedicht entstanden, als Karl den Kanoniker Hedenulf von Laon beauftragte, in Compiegne sowohl die Aachener Pfalzkapelle nachzubauen als auch ein Kanonikerstift wie in Aachen einzurichten; nach den Annales S. Maximini Trevirensis erteilte er diesen Auftrag im Jahre 8 6 5 1 1 3 . Dann könnte auch Cappuyns' Vermutung aufrecht erhalten werden 1 1 4 , Eriugena sei bereits unter den Toten gewesen, als ihn Anastasius in einem Brief vom März 875 an Karl den Kahlen einen „in allem heiligen M a n n " nannte 1 l s . Ob in dieser Äußerung nicht eine offiziöse kirchliche Rehabilitierung des von zwei Synoden verurteilten Eriugena gesehen werden muß? 4. Eriugena

als wissenschaftlicher

Ausleger

der Heiligen

Schrift

In Kenntnis der Tradition -»-Alkuin »Beda - Augustinus hat sich Eriugena auch an eine Auslegung des Johannesevangeliums g e w a g t 1 1 6 — zunächst in der F o r m einer H o m i lie zum Prolog, dann in der F o r m eines fortlaufenden K o m m e n t a r s zum übrigen Evangel i u m 1 1 7 . W i e Beda ging er dabei mitunter bis zu einer griechischen Textvorlage zurück, die noch nicht identifiziert werden k o n n t e 1 1 8 . Inwieweit die fragmentarische F o r m des K o m m e n t a r s (ad 1,11—29; 3 , 1 - 4 . 2 8 a ; 6 , 5 — 14) auf die Überlieferungsgeschichte zurückgeht, inwieweit sie auch von Eriugenas Tod verursacht ist, ist noch nicht völlig g e k l ä r t 1 1 9 . Homilie wie K o m m e n t a r machen noch einmal die Überzeugung sichtbar, auf der in inhaltlicher Hinsicht sein ganzes Denken beruht: M i t der Heiligen Schrift verfügt die Menschheit endlich über die wahre Weisheitslehre. Vollständig ist sein Denken jedoch erst dann gekennzeichnet, wenn auch die Überzeugung benannt ist, die in formaler Hinsicht grundlegend für es ist: Die in der Heiligen Schrift in bildlicher Verschlüsselung niedergelegte Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen hat erst dann die ihr als der Wahrheit angemessene F o r m , wenn sie mit den Mitteln der Wissenschaft in ihrem systematischen Z u s a m m e n h a n g begrifflich eindeutig und ohne inneren Widerspruch ausgesagt w o r d e n ist. Gelingt nach der gläubigen auch diese ihre wissenschaftliche Inbesitznahme, dann ist damit nicht nur die Voraussetzung dafür geschaffen, daß sie in der richtigen Weise durch die Kleriker für alle Gläubigen praktisch bedeutsam g e m a c h t werden kann; sie ist damit zugleich für jedes vernünftige Wesen, und nicht mehr nur für den Gläubigen, als die Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen zugänglich g e w o r d e n ; denn die gelungene U m f o r m u n g in die wissenschaftlich ausgesagte Wahrheit ist der wissenschaftliche N a c h w e i s dafür, daß die Heilige Schrift den Anspruch auf allgemeine Anerkennung als die Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen zu R e c h t erhebt. Periphyseon, Eriugenas H a u p t w e r k , ist in allen wesentlichen Z ü g e n von den beiden Überzeugungen bestimmt, auf denen sein ganzes Denken beruht. Es hat die über Iren und Angelsachsen auch im Karolingerreich beliebt gewordene literarische F o r m des Zwiegesprächs zwischen dem Lehrer und seinem S c h ü l e r 1 2 0 . Auf Wulfads Drängen hin ist es

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begonnen worden — vermutlich wegen der folgenden von Eriugena in ihm geweckten Erwartung: Die vielen theologischen Kontroversen der Zeit würden gegenstandslos, wenn es gelänge, der Heiligen Schrift wissenschaftlich die ganze Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen abzugewinnen und sie in ihrem systematischen Zusammenhang eindeutig und widerspruchsfrei a u s z u s a g e n 1 2 1 . Die Absicht, der Heiligen Schrift die Wahrheit zu entnehmen, war nicht neu. Schon der Alkuinbibel, dem auf Wunsch Karls des Großen revidierten und allen Bischofssitzen und Klöstern zur Verwendung empfohlenen vollständigen Text der Heiligen Schrift, war die Clavis scripturae beigegeben worden, ein als wissenschaftliches Hilfsmittel verstandenes Lexikon der verschiedenartigen Bedeutungen der sinntragenden biblischen W o r t e : 1 2 2 . - » H r a b a n u s M a u r u s hatte die damit geschaffene neue Möglichkeit der wissenschaftlichen Wahrheitserschließung genutzt und die Heilige Schrift Buch für Buch auszulegen versucht. Für Notker den Stammler ist er deswegen noch im Jahre 885/86 „ d i e " Autorität auf diesem G e b i e t 1 2 3 . Neu ist bei Eriugena allein die Form, in der er der Heiligen Schrift die Wahrheit abgewonnen hat: nicht mehr additiv wie H r a b a n , sondern systemaúsch anhand der Methode, die er in ihren drei Schritten „scriptura - dialéctica - patres" erstmals im Prädestinationsgutachten gehandhabt hatte; denn nur die so vorgenommene Wahrheitserschließung kann nach ihm wissenschaftlich sein. Doch hat er in Vorbereitung des ersten methodischen Schritts die Heilige Schrift eingeschränkt auf Gen 1 - 3 . In diesen drei Kapiteln sind in der Form mythischer Ereigniserzählung vier grundlegende Befindlichkeiten des Menschen mitgeteilt: unter dem Bild der Schöpfung, daß ein glücklicher Mensch zu sein Gott zu kennen und zu lieben taißt; unter dem Bild des Sündenfalls, daß der Mensch die ihm von Gott angebotene Gotteskenntnis ausgeschlagen hat; unter dem Bild der Vertreibung aus dem Paradies, daß ihm damit nur noch die Weltkenntnis geblieben ist; unter dem Bild der Verheißung der Erlösung, daß ihm Gott erneut die allein ihn glücklich machende Gottkenntnis anbieten v/ird. Eriugena hat diesen Text ad litteram ausgelegt, indem er die darin enthaltene Wahrheit mit Hilfe der allegorischen Methode aus der Bildsprache des Mythos in die Begriffssprache der Wissenschaft umsetzte. Damit das systematisch geschieht 1 2 4 , hat er in Vorbereitung des zweiten methodischen Schritts ein entsprechendes formales Fundament geschaffen. Z u diesem Z w e c k hat er zunächst den allgemeinsten Begriff, der der wissenschaftlichen Wirklichkeitszuwendung zugrundegelegt werden kann, den Begriff der Wirklichkeit schlechthin (natura), nach dem Verfahren der dichotomischen logischen Einteilung zerlegt. Dabei hat er sich einnul des Einteilungsgrunds „ e r s c h a f f e n d " ( quae creat), einmal des Einteilungsgrunds „erschaffen werdend" (quae creatur) bedient; denn das sind die beiden Bestimmungen, auf die in der einen oder anderen F o r m die richtige, d. h. auf dem Boden der Heiligen Schrift stehende, wissenschaftliche Wirllichkeitszuwendung immer als die grundlegenden Bestimmungen von Wirklichkeit stoßen muß. Er hat sodann jedes der vier sich ergebenden Einteilungsglieder mit jedem verbunden, da es um die Enteilung des Begriffs der Wirklichkeit schlechthin geht und nicht um die des Begriffs der erschaffeiden oder der erschaffen werdenden Wirklichkeit. D a s hat vier Ausdrücke ergeben, von denen jedtr für eine bestimmte Art von Wirklichkeit steht: „erschaffende und nicht erschaffen werdende Wirtlichk e i t " für Gott als die Ursache von allem; „erschaffen werdende und erschaffende Wirklichkeit' für die Gründe, weswegen G o t t ein jedes zu dem Zeitpunkt in Erscheinung treten läßt, da es die; tut; „erschaffen werdende und nicht erschaffende Wirklichkeit" für die Dinge, die unter den Bedirgungen von R a u m und Zeit entstehen; „ w e d e r erschaffende noch erschaffen werdende Wirklichkeit" für Gott, sofern nach dem Ende von R a u m und Zeit jedes Geschaffene in ihm in seiner höchsten Vcllendung es selbst ist. Diese vier Ausdrücke bezeichnen zugleich die vier Gesichtspunkte, unter denen allein eine wissenschaftliche Zuwendung zur Wirklichkeit schlechthin möglich ist und unter denen insgesamt eine solche vorgenommen werden muß, wenn sie vollständig sein soll. Der logischen Einteilung des Wirklichkeitsbegriffs hat Eriugena eine andere in die Glieder „Etwas Bestimmtes s e i e n d " (ea quae sunt) und „ e t w a s Bestimmtes nicht s e i e n d " (ea quae non sunt) zu und logisch v o r g e o r d n e t 1 2 5 . Ihr hat er eine Zusammenstellung der fünf Bedeutungen folgen lasser, die die Kopula am häufigsten in Aussagesätzen a n n i m m t 1 2 6 . Also sind die beiden logischen Einteiluigen Einteilungen des Subjekts und des Prädikats des allgemeinsten Aussagesatzes ( natura est). Da s e als solche das formale Fundament für die Auslegung von Gen 1 - 3 sind, erbringt diese nicht, was die

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Wirklichkeit schlechthin unter jedem der vier G e s i c h t s p u n k t e ist, sondern nur, als w a s sie a u f g r u n d der richtigen w i s s e n s c h a f t l i c h e n Z u w e n d u n g zu ihr ausgesagt w e r d e n d a r f , als w a s nicht. Folgerichtig hat Eriugena im Verlauf der A u s l e g u n g i m m e r w i e d e r unterstrichen, d a ß den Ergebnissen nicht der Wahrheitswert „ w a h r " z u k o m m t , sondern der Wahrheitswert „ w a h r s c h e i n l i c h " im Sinn v o n richtiger, a b e r grundsätzlich unvollständiger W a h r h e i t s e r s c h l i e ß u n g 1 2 7 .

Auf diesem Fundament hat er im Gewand von Gedankengängen, die sich durch zusätzliches Nachdenken über ihre logische Form ständig auch ihrer wissenschaftlichen Fehlerfreiheit zu vergewissern suchen, aus den genannten Kapiteln der Heiligen Schrift im wesentlichen diesen Inhalt als die Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen erschlossen: Buch I: Grundsätzlich gilt, daß nicht wörtlich verstanden werden darf, was in der Heiligen Schrift über Gott, den Schöpfer, erzählt ist; denn nur im Rahmen der zehn Kategorien war das möglich. Diese nehmen ihre eigentliche Bedeutung aber allein in Aussagen über wahrnehmbare Wirklichkeit an, haben also in Aussagen über Gott übertragene Bedeutung. Dieser kann man sich zuverlässig nur über die drei vorbildlich von Dionysius und Maximus gehandhabten methodischen Schritte der affirmativen und negativen Theologie nähern. Man spricht Gott eine bestimmte Eigenschaft in der Bedeutung zu, die das betreffende Wort in Aussagen über die wahrnehmbare Wirklichkeit hat; denn er ist die Ursache dieser Eigenschaft (deus est bonus). Sodann spricht man sie ihm wieder ab; denn sie kommt ihm nicht in der für dieses Wort eigentümlichen Bedeutung zu (deus non est bonus). Schließlich spricht man sie ihm in erweiterter Bedeutung zu (deus est plus-quambonus). Hierbei muß man sich jedoch dessen bewußt sein, daß dieser Satz in affirmativer Form ein bestimmtes Nichtwissen feststellt. Buch II: Gott gibt sich neben der Heiligen Schrift der Menschheit auch in den Entstehungsgründen (primordiales causae) zu erkennen, die er für jedes einzelne Geschaffene in jeweils dem Zustand innerhalb jeweils der Umgebung hat, in der ein Mensch auf es aufmerksam wird. Das wird ein Mensch dadurch, daß er in diesem Geschaffenen einen individuellen Ausdruck einer bestimmten Vollkommenheit wie Gutsein schlechthin, Lebendigkeit schlechthin sieht. Dem um Gotteserkenntnis bemühten Menschen teilt dieses Geschaffene auf diese Weise eine der Vollkommenheiten mit, die der Ursache von allem zukommen. Diese Mitteilung stellt zugleich die Aufforderung Gottes an diesen Menschen dar, durch eine entsprechende Lebensführung sich selbst dazu fähig zu machen, auf seine Weise diese Vollkommenheit ebenfalls auszudrücken. Buch III: Schließlich gibt sich Gott der Menschheit zu erkennen in den Gesetzmäßigkeiten (rationes aeternae), die die Identität der raumzeitlichen Dinge ausmachen und ihr Zusammenwirken regeln. Das ist der einzige Weg, auf dem die Menschheit ohne unmittelbare göttliche Offenbarung zu der Erkenntnis kommen kann, daß es Gott als die notwendige Ursache von allem gibt. Die philosophi sind ihn erfolgreich gegangen. Bücher IV/V: Allein dem Getauften sind beide Wege zur Gotteserkenntnis möglich; zu der Erkenntnis, daß es Gott gibt (quia est), über die rationes aeternae-, zu der Erkenntnis, wie beschaffen Gott ist (quid sit), über die primordiales causae. Die Intensität der Gotteserkenntnis auf dem Weg der primordiales causae wächst im Maß der sittlichen Läuterung eines Menschen. Diese ist vollkommen, wenn ein Mensch dazu fähig geworden ist, auf seine Weise Gott in Gestalt jeweils der Vollkommenheit zum Ausdruck zu bringen, die seinem Verhalten von der betreffenden Situation abverlangt wird. Ein solcher Mensch ist seitens seines Wissens ein individueller und wahrer Inbegriff der Wirklichkeit; seitens seiner sittlichen Fähigkeit, in seinem Verhalten Gott, und zwar stets situationsgerecht, zum Ausdruck zu bringen, ist er auf seine individuelle Weise ein zweiter Gott (alter deus)-, in dieser Fähigkeit, seinem geistigen Leib (corpus spirituale), ist er für immer lebensfähig 128 . Im Rahmen des dritten methodischen Schritts hat sich Eriugena für die Rechtgläubigkeit dieses Gedankens in erster Linie auf die folgenden Kirchenväter berufen: für die Notwendigkeit des Schriftverständnisses im Sinn der affirmativen und negativen Theologie auf Dionysius und Maximus; desgleichen für die Lehre von den Entstehungsgründen; dagegen waren pbilosopbi wie —>Plato, Pythagoras, Eratosthenes die Autoritäten, deren

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Schriften er das Wissen um die rationes aeternae der Dinge hat entnehmen müssen, weil sie es bereits vollständig gesichert haben; schließlich haben ihm —»Gregor von Nyssaund Maximus die Rechtgläubigkeit der Lehre bezeugt, daß sich unter allen Lebewesen einzig der Mensch kraft seiner geistigen Fähigkeiten selbst gestalten kann und, wenn er glücklich werden will, zu einem „anderen Gott" gestalten muß. Unbeirrt von den beiden kirchlichen Verurteilungen der neuen Methode zur Erschließung der Wahrheit aus der Heiligen Schrift hat sich Eriugena auch in Periphyseon an sie gehalten. Ihr oberstes Wahrheitskriterium ist die logische Fehlerfreiheit der Wahrheitsaussagen, nicht mehr, wie bei der Methode des Autoritätsbeweises, die Wahrung der Identität bestimmter Inhalte. Kraft der neuen Methode, die den Autoritätsbeweis mit veränderter Aufgabenstellung in sich einbegreift, ist es ihm erstmals im lateinischen Mittelalter mit Periphyseon gelungen, die in der Heiligen Schrift enthaltene wahre Weisheitslehre in die Form eines geschlossenen begrifflichen und in sich widerspruchsfreien Aussagesystems zu bringen und gewichtige Autoritäten als Garanten für dessen Rechtgläubigkeit zu benennen. Allerdings ist die Eindeutigkeit der zentralen Begriffe der Preis, den er für die Geschlossenheit des Systems gezahlt hat; das gleiche Wort hat bald metaphysische, bald naturwissenschaftliche, oder bald metaphysische, bald ethische Bedeutung angenommen. Unterstützt von Wulfad scheint Periphyseon als Lehrbuch der Weisheit gedacht gewesen zu sein. Vielleicht sollte es in der Weise, wie Martianus Capellas Kompendium der freien Künste die Grundlage für das Studium der artes geworden war, die Grundlage für das Bibelstudium werden; denn aus der Rückschau auf das vollendete Werk hat Eriugena es als „etwas Nützliches und zum Aufbau des allgemeinen Glaubens Dienendes" gekennzeichnet; mit beinahe den gleichen Worten war auch die Latinisierung des Dionysius erst von Ludwig dem Frommen, dann von Karl dem Kahlen, schließlich gar von Anastasius bibliothecarius gekennzeichnet worden 1 2 9 . Doch ist im karolingischen Bildungswesen dem Hauptwerk Eriugenas, anders als De nuptiis, die allgemeine Anerkennung als Lehrbuch der sapientia versagt worden, wohl wegen der Neuartigkeit der Methode. Das hatte Folgen für die Wirkungsgeschichte: Die entscheidende philosophiegeschichtliche Bedeutung von Periphyseon besteht allein darin, daß darin zum ersten Mal jener geistige Impuls ganz Wirklichkeit geworden ist, auf den alle wesentlichen Erscheinungen der mittelalterlichen —»Scholastik zurückgeführt werden können: der Wille, die von Gott in der Heiligen Schrift bildlich verschlüsselt mitgeteilte Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen wissenschaftlich auszusagen. Im Verlauf der Geschichte der mittelalterlichen Scholastik hat sich nicht dieser Wille geändert, wohl aber ständig der bei seiner Verwirklichung maßgebliche Begriff der Wissenschaft. Da das lateinische Mittelalter eine Kultur ist, die auf der Grundlage der Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Lehre die geschichtliche Wirklichkeit geworden ist, als die wir sie aus der Rückschau kennzeichnen müssen, nämlich eine christliche Kultur, war der Wille, sich nicht nur gläubig, sondern iuch wissenschaftlich der Wahrheit dieser Lehre zu vergewissern, die Form, in der allen in dieser Kultur Philosophie, verstanden als die wissenschaftliche Erschließung der Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen, geschichtlich möglich war. In diesem Sinn ist Periphyseon ein philosophisches Werk und Eriugena ein Philosoph. Anmerkungen 1

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Der 8 4 5 / 4 6 zum Bischof von Troyes ernannte Prudentius war Schüler Eriugenas (De praedesrinatione contra J. Scotum, PL 115, 1 0 1 1 / 2 D ) . 851 klagt er (Iohannis Scotti de divina praedestinatione, ed. G. Madec, C C h r . C M 50, ]978, 3 . 1 8 - 2 4 [ = Praed.]): .. nos uero e diuerso inter undosum ueliuolumque pelagus imperii seriorts nostri, domini uidelicet gloriosissimi Karoli, quasi quaedam nauicula diuersis fluctibus agtati, quandoque tarnen in portu serenitatis eius stabilitanda occupati, uix aliquando ad uestigii sapientiae intuenda breuissimo temporis sinimur interuallo. Bischof Pardulus von Leon stelt im Jahr 851 oder 852 (J. J. Contreni, The Cathedral School of Laon from 850 to 930. Its Manuscripts and Masters, München 1978, 85) aus der Rückschau auf das Jahr 8 5 0 / 5 1 fest (PL 121,1052 K). Sed

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quia haec inter se valde dissentiebant, Scotum illum, qui est in palatio regis, Joannem nomine, scribere coegimus. Im Begleitschreiben zu seinem Prädestinationsgutachten kennzeichnet er unter Einbeziehung Hinkmars und des Pardulus Karl den Kahlen als „senior noster" (Praed., wie Anm. 2). Im Gutachten selbst hält er die Beauftragung durch Hinkmar und Pardulus erneut fest, unterstreicht aber zugleich, daß Karl der Kahle damit einverstanden sei (Praed. 6 , 3 7 - 7 , 4 4 ) . Prudentius (PL 115,1043 A) fragt i h n : . . . quis enim te barbarum, et nullis ecclesiasticae dignitatis gradibus insignitum nec umquam a catholicis insigniendum, adversus Romanae urbis et apostolicae sedis antistitem Gregorium, et ejus sicut doctrinae et fidei, ita dignitatis atque officii socium, beatum videlicet lsidorum episcopum, audiat oblatrantem. Vgl. Remigius von Lyon, De tribus epistolis liber, PL 1 2 1 . 1 0 5 4 B - 1 0 5 5 A . Prudentius wirft ihm seine Deutung der Hölle vor (PL 115,1294B): Nam ille tuus Capella, exceptis aliis, vel maxime in hunc labyrinthum induxisse creditur, cujus meditationi magis quam veritati evangelicae animum appulisti. Iohannis Scotti Carmina, ed. L. Traube, MGH.PL 3 . 5 1 8 - 5 5 6 ; 757. R . R . Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en occident (500-1200). Première partie: La tradition impériale de la fin de l'antiquité au Xle siècle, Paris 1968, 2 0 2 - 2 0 6 . MGH.Ep. 6 , 1 8 2 - 1 8 6 ; hier 184.17-24. Vgl. dazu J . J. Contreni,Three CarolingianTexts Attributed to Laon: Reconsiderations: StMed 17 (1976) 7 9 7 - 8 1 3 , hier 7 9 8 - 8 0 2 (mit Lit.). B. Merlette (Écoles et bibliothèques, à Laon du déclin de l'antiquité au développement de l'université: Actes du 95e Congrès National des Sociétés Savantes [Reims 1970], Section de philologie et d'histoire jusqu'à 1610, Paris, I 1975, 2 1 - 5 3 , hier 36f) hält es für nicht ausgeschlossen, daß der erwähnte Manno Schüler Eriugenas war. Contreni dagegen (The Irish 'Colony' at Laon Düring the Time of John Scottus: Roques 5 9 - 6 7 , hier 65) hält es für wahrscheinlicher, daß Manno Schüler des Martin von Laon war. Vgl. C. Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium Regis. Stud. zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich u. in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich u. Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jh., I. Text, Köln/Graz 1968,29. Für einen zeitweisen Aufenthalt Eriugenas in Laon spricht die enge wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen ihm und Martinus Hibernensis, dem Leiter der Kathedralschule in Laon (Contreni, wie Anm. 2 , 9 5 - 1 3 4 ) . Sie läßt sich aus den folgenden drei Tatsachen erschließen: (1) Martin legt innerhalb des Codex Laudenensis 444, nach B. Bischoff (Das griech. Element in der abendländischen Bildung des MA. Ma. Stud. Ausgew. Aufs, zu Schriftkunde u. Literaturgesch., 3 Bde., Stuttgart 1966-1981, II. 2 4 6 - 2 7 5 , hier 266) ein „wahrer Thesaurus linguae Graecae in seinem Jahrhundert", auch ein Glossar zu jenen griechischen Wörtern an, die Eriugena in seinen Gedichten verwendet hat (ed. E. Miller, Glossaire Grec-Latin de la Bibliothèque de Laon, Notices et Extraits des Manuscripts de la Bibliothèque Nationale et autres Bibliothèques, Bd. 29.2, Paris 1 8 8 0 , 1 9 4 - 1 9 8 unter dem Titel: Graeca quae sunt in versibus Johannis Scotti. Zum Cod. Laud. 444 vgl. auch Contreni, wie Anm. 2, 6 9 - 7 1 ; W. Berschin, Griech.-lat. MA. Von Hieronymus zu Nikolaus v. Kues, Bern/München 1980,169). (2) Martin wie Eriugena glossieren Martianus Capella. (3) Eriugena schickt einen Codex, der Eigentum Martins ist (Contreni, Irish 'Colony' 64, wie Anm. 7) und den Liber interpretationis hebraicorum nominum des Hieronymus enthält, an einen gewissen Winibert. Ferner spricht dafür, daß Eriugena sich zeitweise in Laon aufhielt, die Tatsache, daß Bischof Pardulus von Laon es war, der ihn im Namen Erzbischof Hinkmars von Reims und mit Zustimmung Karls des Kahlen „drängte" (coegimus, s. Anm. 2), ein Gutachten zur Prädestinationsfrage zu erstellen. Daß Eriugena, wiewohl in Laon, nicht in der Kathedralschule Unterricht gab, legen die Annales Laudunenses insofern nahe, als sie Eriugena nicht erwähnen, wohl aber die magistri der Kathedralschule. Ex gestis Episcoporum Autisiodorensium, MGH.SS 13, 399. Contreni (wie Anm. 2, 87) bezweifelt zu Recht, daß auch Elias, der spätere Bischof von Angoulême, sein Schüler gewesen ist. Martianus Capella, ed. J . Willis, Leipzig 1983. Vgl. J. Préaux, Jean Scot et Martin de Laon en face du „De nuptiis" de Martianus Capella: Roques 1 6 1 - 1 7 0 . Institutiones 2, 1 3 0 . 1 1 - 1 6 Mynors. Franz Josef Worstbrock, Translatio artium. Über die Herkunft u. Entwicklung einer kulturhist. Theorie: AKuG 47 (1965) 1 - 2 2 . Alkuin, Disputatio de vera philosophia, PL 101,849-854. Vgl. Schrimpf, Das Werk 39. B. Bischoff, Irische Schreiber im Karolingerreich: Roques 4 7 - 5 8 , hier 56f. Zu Stellen philologischer Textkritik im überlieferten Text der Martianglosse Eriugenas Schrimpf, Das Werk 22 f, Anm. 10. J . J. Contreni, A propos de quelques manuscrits de l'école de Laon au IXe siècle: découvertes et problèmes: MA 78 (1972) 5 - 3 9 , hier 9 - 1 4 ; ebd. 10: Domine Winiberte commodate nobis Felicem

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Capellam parva tempore et si vultis emendabo in Ulis partibus quas dum simul eramus praetermisimus. Utinam in uno loco essemus etiam parvo tempore! Contreni (wie Anm.2) 99. Dunchad, Glossae in Martianum, ed. C.E. Lutz, Lancaster/Pa. 1944. Zuschreibung an Martin von Laon durch J.G. Préaux, Le commentaire de Martin de Laon sur l'oeuvre de Martianus Capeila, Latomus 12 (1953) 437-459. Zur handschriftlichen Grundlage einer künftigen vollständigen Edition: G. Glauche, Schullektüre im MA. Entstehung u. Wandlungen des Lektürekanons bis 1200, München 1970,45. Zu Martin von Laon: Contreni (wie Anm. 2) 95 - 1 3 4 ; er hält Préaux' Zuschreibung der Martianglosse Dunchads an Martin für noch nicht hinreichend gesichert (95). Zu Eriugena: Iohannis Scoti Annotationes in Marcianum, ed. C. E. Lutz, Cambridge/Mass. 1939 [ = Annot.]. É. Jeauneau, Quatre thèmes érigéniens, Montréal/Paris 1978, 91-184 (Edition von Buch I nach Hs. Oxford Bodl. Auct. T. 2. 19) [ = Annot./Jeauneau]. Vollständig in Hs. Paris B.N. lat. 12960 (aus Corbie), ed. Lutz, und Oxford Bodl. Auct. T. 2. 19 (aus Metz), Buch I ed. Jeauneau; fragmentarisch in: Hs. Bern Bürgerbibliothek 331; Hs. Paris B.N. lat. 8675; Hs. Wien österr. Nationalbibliothek 3222 (Endlicher 330); Hs. Leiden, B.P. L. 88. Vgl. C. Leonardi, Glosse Eriugeniane a Marziano Capella in un codice Leidense: Roques 171-182. G. Schrimpf, Zur Frage der Authentizität unserer Texte von Johannes Scottus' „Annotationes in Martianum", The Mind of Eriugena, Papers of a Colloquium, ed. by J. J.O'Meara/L. Bieler, Dublin 1973, 125-139. C.C. Coulter, The Date of John the Scot's Annotationes in Marcianum: Spec. 16 (1941) 487 f. Coulter hat zwei astronomische Glossen aus den Büchern VII und VIII auf die Jahre 859/60 datieren können. Ihrer Folgerung, damit sei das ganze Glossenwerk 859/60 entstanden, kann nicht gefolgt werden; denn datiert sind allein die beiden herangezogenen Glossen. A. van de Vyver (Hucbald de Saint-Amand, écolâtre, et l'invention du Nombre d'or, Mélanges A. Pelzer, Louvain 1947, 61-79, hier 64f, Anm. 16) hat eine andere Glosse auf das Jahr 852 datiert. G. Schrimpf, Wertung u. Rezeption antiker Logik im Karolingerreich: Logik, Ethik, Theorie der Geisteswissenschaften, XI. Deutscher Kongreß für Philosophie, hg. v. G. Patzig/E. Scheibe/W. Wieland, Hamburg 1977, 451-456. Augustinus, Contra Academicos; De ordine. Annot. 90.23 f. Annot. 90.9-11. Annot. 89.12f. Periphyseon IV,4: PL 122.870C (mater artium). L'hymne à Jupiter de Valerius de Sora, Hommages à M. Delcourt, Collection Latomus, vol. 114, Brüssel 1970, 182-195. Vgl. G. Mathon, Jean Scot Érigène, Chalcidius et le problème de l'âme universelle. A propos des „Annotationes in Martianum" 7.10, L'homme et son destin d'après les penseurs du Moyen Ages, Louvain/Paris 1960, 361-375. Les formes et la signification de la pédagogie des arts libéraux au milieu du IXe siècle. L'enseignement palatin de Jean Scot Érigène, Arts libéraux et philosophie au Moyen Age, Montréal/Paris 1969, 4 7 - 6 4 . Annot. 4,2-28 (Elemente und ihre Syzygien); 18, 1-19,26 (Planetenbewegungen und ihre Harmonie); dazu Annot./Jeauneau 123, 1-130,2: „De armonia caelestium motuum siderumque sonis"; Annot. 19,36-20,5 (Einflußnahme der Planeten auf das irdische Leben); Annot. 10,16-24 und Annot./Jeauneau 149,15-23 (Seele/Weltseele). H. Liebeschütz, Texterklärung und Weltdeutung bei Johannes Eriugena: AKuG 40 (1958) 66-96. Annot. 19,9-22. Vgl. Periphyseon III. PL 115,1293A-1294B. Annot. 21,32-22, 19. Annot./Jeauneau 130,3-132, 23. Annot. 3,19-22. G. Nuchelmans, Philologia et son mariage avec Mercure jusqu'à la fin du Xlle siècle: Latomus 16 (1957) 84-107. Annot. 54,3-6. Vgl. Iohannis Scotti Carmina 550.13f. Expositio in Ierarchiam Coelestem (ed. J. Barbet, CChr.CM 31; = Expos.) 16,542ff; ebd. 16,550fï; Praed. 110,5-111,10. Annot. 96,32-38; 97,12 - 2 4 (Septem artes-, fast inhaltsgleich mit 86.24-30; 87.8-15); 12.26-37 (Verhältnis zwischen Wissen und Freiheit); dazu 13,12-18; 14,1-4; 27,1-4 Annot. 27,10-22 (Seele); dazu 10,16-24 Lutz und Annot./Jeauneau 110,7-11. H. Liebeschütz, Zur Geschichte und Erklärung des Martianus Capella bei Eriugena: Ph. 104 (1960) 127-137; ders., The Place of the Martianus Glossae in the Development of Eriugena's Thought, Mind (wie Anm. 20) 4 9 - 5 8 . M. Cappuyns, Jean Scot Erigène, sa vie, son oeuvre, sa pensée, Louvain/Paris 1933, Nachdr. Brüssel 1969, 102-127. H . J . Ryan, The „De praedestinatione" of John Scottus Eriugena. An Introductory Study, Rom 1967. J. Dévissé, Hincmar. Archevêque de Reims, Genf 1976,115-279. Storia délia Chiesa VI: E. Amman, L'epoca carolingia (757-888), Turin 2 1977, 377-414. G. Schrimpf, Die ethischen Implikationen der Auseinandersetzung zwischen Hraban und Gott-

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schalk um die Prädestinationslehre: Hrabanus Maurus und seine Schule, hg. v. W. Böhne, Fulda 1980, 1 6 4 - 1 7 4 ; ders., Beitr. 8 1 9 - 8 6 5 ; F. Rädle, Art. „Gottschalk der Sachse": VerLex 2 3 (1981) 189-199. Praed. 6 , 3 1 - 7 , 4 4 . Ebd. 68, 4 4 - 4 9 . Vgl. M. Jacquin, Le néo-platonisme de Jean Scot: RSPhTh 1 (1907) 6 7 4 - 6 8 5 . G. Mathon, L' utilisation des textes de saint Augustin par Jean Scot Érigène dans son De Praedestinatione: AugM 3 (1954) 4 1 9 - 4 2 8 ; H. Liebeschütz, A philosopher's reinterpretation of St. Augustine, The Cambridge History of Later Greek and Early Médiéval History, hg. v. A.H. Armstrong, Cambridge 1967, 5 7 9 - 5 8 6 ; B. Stock, Observations on the Use of Augustine by Johannes Scottus Eriugena: H T h R 60 (1967) 2 1 3 - 2 2 0 ; M . Cristiani, La notion. G. Madec, L'augustinisme 1 8 3 - 1 9 0 ; J . J . O'Meara; B. Stock. Praed. cap. 9 , 1 - 1 0 , 2 . Schrimpf (wie Anm.22). Praed. p.4, 4 3 - 5 5 ; 6 7 , 9 - 1 8 . Praed. 3 , 3 0 - 3 2 ; 7 , 4 7 - 5 9 ; 4 5 , 1 7 - 26. Praed. 7 , 4 0 - 4 4 ; vgl. 68,41 f; 80,55 f; 104,4. Praed. 21,103 f; 22,128. „Confessio brevior", ed. C. Lambot, Oeuvres théologiques et grammaticales de Godescalc d'Orbais, Louvain 1945, 5 2 - 5 4 ; „Confessio prolixior", ebd. 5 5 - 7 8 . Vgl. Praed. 2 3 . 1 6 4 - 1 6 7 ; übrigens in der logischen Terminologie des Martianus Capella: vgl. 13.61; 13.84-87; 2 3 . 1 5 1 - 1 5 3 (v.a. forma für species). Praed. cap. 1 , 4 - 3 , 7 ; typisch cap. 3.2. Praed. cap. 4 , 1 - 4 , 2 . Praed. cap. 4 , 3 - 8 , 9 . Vgl. Praed. p.37, 9 4 - 1 0 1 ; 113,94-96; 4 1 , 2 0 5 - 2 1 5 . Praed. capp. 16, 17 und 19. Vgl. Expos. 129,425-130,435. Vgl. Devisse (wie Anm.37) 189; nach Madecs (wie Anm. 2) Index aus 44 (46) verschiedenen Schriften 281 (291) Zitate oder Anspielungen. Praed. 103,302-104,331. Praed. cap. 9 , 1 - 1 0 , 2 . E. Amman, L'époque Carolingienne, 1947 (HE 6), 330 (Prudentius). Devisse (wie Anm. 37), 189 f (Florus). Schrimpf, Das Werk 1 0 8 - 1 1 3 . Prudentius von Troyes, De praedestinatione contra Joannem Scotum, PL 1 1 5 , 1 0 0 9 - 1 3 6 6 . Florus von Lyon, Adversus Joannis Scoti Erigenae erroneas definitiones Über, PL 119, 1 0 1 - 2 5 0 . Vgl. J.P. Bouhot, Le „De diuina praedestinatione" de Jean Scot (A propos d'une édition récente): REAug 25 (1979) 256 - 263 (neue Thesen, aber ohne Belege). Cappuyns (wie Anm.37) 114. PL 125, 51A. Seit G. Théry (Études Dionysiennes. I: Hilduin, traducteur de Denys, Paris 1932, 1 4 3 - 1 5 5 ) nachgewiesen hat, daß Hinkmar nicht aus der Dionysiusübersetzung Eriugenas, sondern der Hilduins zitiert, ist Traubes Datierung hinfällig geworden. Praed. cap. 1 8 , 1 - 4 . É. Jeauneau, Jean Scot Érigène et le grec 21. Ed. G. Théry, Études Dionysiennes. II: Hilduin, traducteur de Denys, Paris 1937. M G H . Ep 6,158: novis moderntsque editionibus. G. Théry, L'entrée du Pseudo-Denys en occident, BiblThom 14, Paris 1930, 2 3 - 3 0 . Ders., Scot Érigène, introducteur de Denys: NSchol 7 (1933) 9 1 - 1 0 8 . M . Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis und ihr kirchenpolitischer Hintergrund. Studien zur Gleichsetzung Dionysius' des Areopagiten mit dem hl. Dionysius von Paris sowie zur Fälschungstechnik am Vorabend der Entstehung der Pseudoisidorischen Dekretalen, Paderborn 1939. R. J . Loenertz, La légende parisienne de S. Denys l'Aréopagite. Sa genèse et son premier témoin: AnBoll 69 (1951) 2 1 7 - 237. M G H . E p 6 , 159.10-20. PL 106,23-50. Vgl. Brief des Anastasius bibliothecarius an Karl den Kahlen vom Juni 876 (MGH.Ep 7, 440.13-19). Die These von G. Laehr (Die Briefe und Prologe des Bibliothekars Anastasius: NA 47 [1928] 4 1 6 - 4 6 8 , hier 462), Eriugena habe an der Gleichsetzung gezweifelt, ist nicht näher begründet. Cappuyns vertritt die gleiche These (wie Anm. 37 [154]), stützt sie aber auf den unkritischen Text in der PL, statt auf den kritischen in den MGH.Ep. Doch gerade in diesem Punkt unterscheiden sich beide Texte erheblich voneinander. Karl der Kahle wurde 833/4 zusammen mit seinem Vater Ludwig dem Frommen von Lothar in S. Denis gefangengehalten. Zu dieser Zeit fertigte Hilduin die Übersetzung des Dionysius an. Als beide wieder frei waren, bat Ludwig der Fromme Hilduin, eine Lebensbeschreibung des hl. Dionysius abzufassen. Er begründete seinen Auftrag u. a. damit: quatenus ... possit.,. omnibus

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aedificationis utilitas provideri (MGH.Ep 5, 3 2 7 . 1 3 - 1 6 ) . Karl der Kahle begründet die Zuwendung zu den griechischen Vätern so: in augmetttum aedificationis catholicae fidei... (MGH.Ep 6, 158.33-35). Anastasius bibliothecarius schreibt in dem Brief, den er der von ihm revidierten Ubersetzung des Eriugena beifügt, mit Bezug auf diesen: Nam hunc magistra karitas docuit, quod ad multorum instructionem et aedificationem patravit (MGH.Ep 7, 431.24f). Eriugena schreibt in der Widmung seines Hauptwerks an Wulfad: Sin autem in eo utile et ad aedificationem catholicae fidei pertinens arriserit... (PL 122.1021 C). Cappuyns (wie Anm.37) 158. M . Cappuyns (ed.), Le „De imagine" de Grégoire de Nysse traduit par Jean Scot Érigène: R T h A M 32 (1965) 2 0 5 - 2 6 2 . É. Jeauneau (La division des sexes chez Grégoire de Nysse et chez Jean Scot Érigène, Eriugena: Studien 3 3 - 5 4 , hier 54) hat auf eine zweite Handschrift der Ubersetzung aufmerksam gemacht. Vgl. Ph. Levine, Two Early Latin Versions of St. Gregory of Nyssa's Ilepi xaxaoxEDfjç dv9pcbnou: HSCP 63 (1958) 4 7 3 - 4 9 3 , hier 479ff. Annot./Jeauneau 122. H. Liebeschütz, The Place of the Martianus .Glossae' in the Development of Eriugena's Thought, The Mind (wie Anm.20), 4 9 - 5 8 , hier 54f. (1) Natura humana non punitur. (2) Miseria: iniquitas torquetur a se ipsa, in se ipsa, per se ipsam. Vgl. Jean Scot, Homélie sur le prologue de Jean, ed. É. Jeauneau, Paris 1969, 36 f. MGH.Ep 6, 159,21-25; 159,32f; MGH.PL 3, 5 4 7 . 1 5 - 1 8 . Ob ihn Anastasius bibliothecarius im Hinblick auf die Aufregung um das Gutachten virum, quantum auditu comperi, per omnia sanctum nennt (MGH.Ep 7, 431.20f)? MGH.Ep 6,159,2f; 159,23f; 159,32f. MGH.PL 3,547,2: advena; ebd.: meo Karolo; 547,10: firmetur vestro pondéré iudicii-, 547,17f: Ut vero stabilis maneat fundamine firmo, / Regali stathmo figere sufficiet. G. Théry, Scot Érigène, traducteur de Denys: ALMA 5/6 (1930/31) 1 8 5 - 2 7 8 ; Jeauneau, Jean Scot Érigène et le grec. So Anastasius bibliothecarius (MGH.Ep 7, 4 3 2 , 2 - 4 ) . Vollständige Wiedergabe der Überarbeitung: Dionysiaca. Recueil donnant l'ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de L'Aréopage et synopse marquant la valeur de citations presque innombrables allant seules depuis trop longtemps remises enfin dans leur contexte au moyen d'une nomenclature rendue d'un usage très facile, ed. Ph. Chevallier, 2 Bde., 1 9 3 7 - 1 9 5 0 . R. Roques, „Valde artificialiter". Le sens d'un contresens: ders., Libres sentiers vers l'Érigenisme, Rom 1975, 4 5 - 9 8 . R. Roques, Traduction ou interprétation? Brèves remarques sur Jean Scot, traducteur de Denys: ders., (wie Anm.76) 9 9 - 1 3 0 . MGH.Ep 6, 160,14-161,26. Passio Sanctissimi Dionysii, PL 106,29-32. Dafür spricht, daß die wahrscheinlich älteste Handschrift der Dionysiusübersetzung Eriugenas, Berlin 46. Phill. 1668 (beschrieben: Die Handschriftenverzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin XII: V. Rose, Verzeichnis der lat. Hs., Berlin, I 1893, 6 6 - 6 8 ) , eine Abschrift jenes Exemplars ist, das Anastasius bibliothecarius mit Verbesserungen und Ergänzungen an Karl den Kahlen zurückgesandt hat (vgl. R. McKitterick, Charles the Bald [ 8 2 3 - 8 7 7 ] and his library. The patronage of learning: EHR 95 [1980] 2 8 - 4 7 , hier 36 Anm. 2). Cappuyns (wie Anm. 3 7 , 1 5 5 - 1 5 7 ) hat es wahrscheinlich gemacht, daß jener Brief Papst Nikolaus' I. (MGH.Ep 6,651 f), der die Ubersetzung zur Uberprüfung und Approbation nach Rom einforderte, eine Fälschung Lanfrancs ist (leichte Vorbehalte: Berschin, wie Anm. 8, 209 Anm. 32). So darf angenommen werden, daß Karl aus eigenem Antrieb handelte. Thérys These (wie Anm. 58,167), Hinkmar habe hinter Karls Rücken Anastasius auf die neue Übersetzung aufmerksam gemacht, ist ohne jeden Beleg aufgestellt. Zum Verhältnis zwischen Hinkmar und Anastasius vgl. Devisse (wie Anm.37), 618 Anm. 340; 626 Anm. 395. Laehr (wie Anm. 66) 449. Berschin (wie Anm. 8) 1 9 9 - 2 0 4 . MGH.Ep 7 , 4 3 0 - 4 3 4 . Die Ergänzungen durch Anastasius sind noch nicht ediert. Von Eriugenas Übersetzung steht eine kritische Edition ebenfalls noch aus. MGH.Ep 6,159,28: me Interpretern huius operis esse, non expositorem. Vgl. den Widmungsbrief an Karl den Kahlen: MGH.Ep 6,161 f, bes. 4,14. Vgl. ebenso die drei Widmungsgedichte: MGH.PL 3,549 f; 549,23: cursim transtulimus. Am 6.10.867 wurde Karl der Kahle Abt von S. Denis. Ob „eilends" damit zusammenhängt? M . Cappuyns, Glose inédite de Jean Scot sur un passage de Maxime: R T h A M 31 (1964) 3 2 0 - 3 2 4 . É. Jeauneau, La traduction érigénienne des Ambigua de Maxime le Confesseur. Thomas Gale (1636-1702) et le Codex Remensis: Roques 1 3 5 - 1 4 4 , hier 135; Jeauneau weist nach, daß neben Hs. Paris Mazarine 561 und Hs. Paris Arsenal 237 auch Hs. Cambridge Trinity College 0 . 9 . 5 bei der Herstellung eines kritischen Texts berücksichtigt werden muß, da es eine Abschrift einer Handschrift des 9. Jh. ist.

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Die kritische Edition ist begonnen: Maximi Confessoris Quaestiones ad Thalassium, I Quaestiones I - L V una cum latina interpretatione Ioannis Scotti Eriugenae iuxta posita, ed. C. Laga et C. Steel, CChr. SG 7, 1980; zu Eriugena: Introduction X C I - C I X ; dort XCVIII die Datierung. Cappuyns (wie Anm.37) 178 f. A Siegmund, Die Überlieferung der griechischen christlichen Literatur in der lateinischen Kirche bis zum 12. Jh., München 1949, 1 8 5 - 1 8 8 . Berschin (wie Anm. 8) 1 4 5 - 1 4 8 . Zu den „Solutiones ad Chosroem" zuletzt M.-Th. d'Alverny, Les „Solutiones ad Chosroem" de Priscianus Lydus et Jean Scot: Roques 1 4 5 - 1 6 0 . Barbet, ed. (wie Anm. 35). Bezugnahme auf Periphyseon: IV,100 und XI,102. Die literarische Form des Kommentars ist derjenigen der Martianglosse des Remigius von Auxerre sehr ähnlich; diese war die Grundlage seines Unterrichts. Vgl. Remigii Autissiodorensis Commentum in Martianum Capellam, ed. C. E. Lutz, 2 Bde., Leiden 1962-1965. Vgl. van de Vyver (wie Anm. 21) 64f Anm. 16. Florus v. Lyon, Liber adv. Joannem Scotum (PL 119, 1 2 6 B - C ) , ist verärgert, daß er ungehindert allen gelehrten Aktivitäten nachgehen kann. S. Martinet, Pardule, Évêque de Laon, ami de Charles le Chauve et medecin de notre ville, Mémoires de la Fédération des Sociétés Savantes de l'Aisne 16 (1970) 1 5 9 - 1 6 9 , hier 164. Contreni (wie Anm. 12) 19f. G. Tessier (ed.), Recueil des Actes de Charles II le Chauve, roi de France, 3 Bde., Paris 1943-1955, hier I, 197. Zu Wulfad vgl. H. Schrörs, Hinkmar, Erzbischof v. Reims. Sein Leben u. seine Sehr., Freiburg 1884, 2 7 3 - 2 9 2 . J . Fleckenstein, Die Hofkapelle der dt. Könige I, Stuttgart 1 9 5 9 , 1 4 6 - 1 5 0 ; 161. R. Kaiser, Bischofsherrschaft zwischen Königtum u. Fürstenmacht. Stud. zur bischöflichen Stadtherrschaft im westfränkisch-franz. Reich im frühen und hohen MA, Bonn 1981, 94; 97 f. Devisse (wie Anm.37) 9 1 - 1 0 0 . Annales Bertiniani, ad. ann. 864. Nach Tessier II, 251 (wie Anm. 90) war Wulfad unter Abt Hilduin „recteur". Vgl. Gallia Christiana nova, IX, 412: praefecturam obtinuit. M . Buchner, Pseudoisidor u. die Hofkapelle Karls des Kahlen: H J 57 (1937) 1 8 0 - 2 0 8 , hier 191. Fleckenstein (wie Anm. 91) 144f. Brühl (wie Anm. 8) 42f, Anm. 153. Kaiser (wie Anm. 91) 590f. MGH.PL 3, 547, VII,1.2: Advena lohannes spondo meo Karolo. MGH.PL 3,547,17f (s. Anm. 73). Regali stathmo figere. PL 122, 1 0 2 2 A - B . Eriugena nennt ihn dort seinen cooperator. Als cooperator der Bischöfe Hinkmar und Pardulus hatte er sich im Widmungsbrief des Gutachtens gekennzeichnet (Praed., praef. 18). Ebd.: Si autem de bis, quae in contextu huius operis gravitate materiae rerumque exponendarum copia coactus praetermisi deque eis, quantulameumque quandoque rationem me redditurum promisi sollicitus ac veluti promissorum exaetor fueris, opere recurso omnibusque promissionibus repertis inque unum collectis cursim capitulatimque pro viribus tractabitur. Roques 56; ebd. 144 „Discussion". M . Cappuyns, Les „Bibli Vulfadi" et Jean Scot Érigène": R T h A M 13 (1966) 1 3 7 - 1 3 9 ; L. Brix, Note sur la bibliothèque de Wulfad de Reims: REAug 14 (1968) 1 3 9 - 1 4 1 . Die Homilie könnte Bestandteil des Codex 26 mit dem Titel Omeliae iohannis diuersae gewesen sein. É. Jeauneau, Dans le sillage de l'Érigène: Une Homélie d'Héric d'Auxerre sur le prologue de Jean: StMed 11 (1970) 9 3 7 - 9 5 5 . Jeauneau weist im Vorwort zur Edition die Abhängigkeit Heirics von Eriugenas Homilie nach. Daß bereits vor 873 die Bücher I - I I I und V von Periphyseon sowie die Homilie in Auxerre Heiric zur Verfügung standen, hat Jeauneau ebenfalls nachgewiesen (Les écoles de Laon et d'Auxerre au IXe siècle, 1972 [SSAM 19] 4 9 5 - 5 2 2 ) . Das von Mathon (RThAM 20) und Marenbon (RThAM 47) edierte Florilegium aus Periphyseon I und II soll nach J . Marenbon (From the Circle of Alcuin to the School of Auxerre. Logic, Theology and Philosophy in the Early Middle Ages, Cambridge 1981, 103 f) in Auxerre angefertigt worden sein. Könnte es sich Heiric nicht schon in S. Médard hergestellt haben? R. Quadri, I. Collectanea di Eirico di Auxerre, Freiburg/Schweiz 1966, 1 7 - 2 4 . Quadri stellt diese Vermutung deswegen nicht an, weil für ihn feststeht, daß die Hofschule in Laon fest installiert und Eriugena ihr Leiter war. Gegen eine solche Annahme erheben P. Riehe (Charles le Chauve et la culture de son temps: Roques 3 7 - 4 6 , hier 38 f) wie J . M . Wallace-Hadrill (A Carolingian Renaissance Prince: The Emperor Charles the Bald: PBA 64 [1978] 1 5 5 - 1 8 5 , hier 168 f) Bedenken. Zum Verhältnis Eriugena - Heiric vgl. Marenbon (wie Anm. 105) 114f; Contreni (wie Anm. 2) 145 f; Wollaschs Verbannungsthese (Zu den persönlichen Notizen des Heiricus von S. Germain d'Auxerre: DA 15 [1959] 2 1 1 - 2 2 6 ) muß wohl aufgegeben werden. Nach Berschin (wie Anm. 8), 170, gehen Heirics Griechischkenntnisse auf Eriugena zurück. M . Cappuyns: BThAM 7 (1954-1957) 657; 8 (1958-1961) 216.

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Es handelt sich um folgende Schriften: 1) Glossae divinae historiae (J. J . Contreni, The biblical Glosses of Haimo of Auxerre and John Scottus Eriugena: Spec. 51 [1976] 4 1 1 - 4 3 4 ; vgl. Jeauneau, wie Anm. 59,32). 2) Exegetische Notizen (B. Bischoff/É. Jeauneau, Ein neuer Text aus der Gedankenwelt des Johannes Scottus: Roques 1 0 9 - 1 1 6 ) . 3) Zwei Distichen (C. Leonardi, Nuove voci poetiche tra secolo IX e XI: StMed 3 [1961] 1 3 9 - 1 6 8 , hier 1 4 7 - 1 4 9 ) . 4) Glossen zu 1. III m. IX der „Cons.phil." (H. Silvestre, Le commentaire inédit de Jean Scot Érigène au mètre IX du livre III du „De consolatione Philosophiae de Boèce: RHE 47 [1952] 4 4 - 1 2 2 ; vgl. Rez. Cappuyns: BThAM 7 [1954/57] 657). 5) Glossen zu Prudentius (H. Silvestre, Jean Scot Érigène, commentateur de Prudence: Scr. 10 [1956] 9 0 - 9 2 ; vgl. Rez. Cappuyns: B T h A M 7 [1954/57] 657). 6) Liber Grecus lohannis (B. Bischoff, Irische Schreiber im Karolingerreich: Roques 4 7 - 5 8 , hier 54; vgl. Jeauneau, Jean Scot Érigène et le grec 34, Anm. 153). 7) Übersetzung eines Priscianus Lydus (wie Anm. 87). 8) Ist Eriugena der „Iohannes medicus"? (Contreni, wie Anm. 2, 86). 9) Zu einem Gedicht aus Auxerre im Geist Eriugenas ( J . J . Contreni, A propos de quelques manuscrits de l'école de Laon au IXe siècle: découvertes et problèmes: MA 78 [1972] 5 - 3 9 , hier 28-37).

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Miller (wie Anm. 8) 190. So Théry (wie Anm. 74) 196. A. Jacob, Une lettre de Charles le Chauve au clergé de Ravenne?: R H E 67 (1972) 4 0 9 - 4 2 2 . Danach wünschte Karl als Kaiser auch die Feier des griechischen Basiliusritus. MGH.PL 3, 5 5 0 - 5 5 2 . Neue Edition mit Übersetzung ins Französische: M . Foussard, Aulae sidereae: CAr 21 (1971) 7 9 - 8 8 . Vgl. M. Vieillard-Troiekouroff, La Chapelle du Palais de Charles le Chauve au Compiègne: CAr 21 (1971) 8 9 - 1 0 8 ; Y. Christe, Sainte-Marie de Compiègne et le Temple d'Hézéchiel: Roques 4 7 7 - 4 8 1 . Vgl. Vieillard-Troiekouroff (wie Anm. 111) 89. M G H . PL 3, 552,78; 552,98; ebd. 552,85: fabricat. MGH.SS 4, 6: Karolus rex per Hedenulfum Laudunensis ecclesiae presbiterum, postea quoque eiusdem ecclesiae episcopum, coepit congregare clerum sub norma canonica Deo militaturum in coenobio a se fundato, quod prius regium ac deinceps apostolica auctoritate vocatum est novum. Vgl. Contreni (wie Anm. 2) 22. Cappuyns (wie Anm. 37) 238. S. Anm. 72. Vgl. Berschin (wie Anm. 8) 147f. Homilie (wie Anm. 71). Jean Scot, Commentaire sur l'évangile de Jean. Introduction, texte critique, traduction, notes et index de É. Jeauneau, Paris 1972. Jeauneau, Commentaire (wie Anm. 117) 1 6 - 1 8 . E. Nestle, Scotus Erigena on Greek Manuscripts of the Fourth Gospel: J T h S 12 (1912) 596 f. Jeauneau, Commentaire (wie Anm. 117) 7 8 - 8 0 . Zu Bd. I—II der Ausg. v. I. P. Sheldon-Williams/L. Bieler vgl. P. Lucentini, La nuova edizione del „Periphyseon" dell' Eriugena: MS 17 (1976) 393 - 4 1 4 ; zu III vgl. G. d'Onofrio, Natura e scrittura. Due nuove edizioni di testi Eriugeniani: SMSR 50 (1984) 1 5 5 - 1 7 2 ; desgl. zu dem Einfluß des Maximus Confessor, bes. der Quaestiones ad Thalassium, auf Eriugena. Bücher IV/V: PL 122, 7 4 1 - 1 0 2 2 . Zur Redaktionsgeschichte von Periphyseon und der Frage der Autographa Eriugenas (I 1 ; I 2 ) vgl. T . A . M . Bishop, Autographa of John the Scot: Roques 8 9 - 9 9 . PL 122, 1022 B. J . B . Pitra (ed.), Spicilegium Solesmense, 2 Bde., Paris 1855, Nachdr. Graz 1963. Vgl. Jeauneau, Commentaire (wie Anm. 117) 34 Anm. 57: Si glossulas volueris in totam divinam scripturam, sufficit tibi Hrabanus Magontiacensis arcbiepiscopus. Periph.I, 3 6 , 1 1 - 3 8 , 6 Sheldon-Williams. Periph.I, 3 8 , 1 1 - 1 6 Sheldon-Williams. Periph.I, 3 8 , 1 7 - 4 4 , 2 6 Sheldon-Williams. G. Schrimpf, Rezeption 1 4 5 - 1 4 7 . Ausführlicher: R. Roques, Remarques sur la signification de Jean Scot Érigène, Miscellanea André Combes (Cathedra S. Thomae Pontificiae Universitatis Lateranensis 3), Rom 1967, 2 4 5 - 3 2 9 . Ders., Art. „Jean Scot (Érigène)" (mit Lit.): DSp 8 (1974) 7 3 5 - 7 6 1 . Vgl. W. Beierwaltes, Aspekte; ders., Sprache und Sache. S. Anm. 67.

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Werke Unvollständige Gesamtausgabe: J . P. Migne, PL 122, 125-1244. - Einzelausgaben: Annotationes in Martianum, ed. Cora E. Lutz, Cambridge/Mass. 1939; Edouard Jeauneau, Quatre thèmes érigéniens, Montreal/Paris 1978, 9 1 - 1 8 4 (Edition von Buch I nach Hs. Oxford Bodl. Auct. T.2. 19). Carmina, ed. Ludwig Traube, MGH.PL 3 . 5 1 8 - 5 5 6 ; 757. - „Aulae sidereae", ed. M. Foussard: CAr 21 (1971) 7 9 - 8 8 . - De divina praedestinatione, ed. Goulven Madec, CChr.CM 50. - Versio Gregorii

Johannes Scottus Eriugena

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Nysseni (De imagine), ed. M a i e u l Cappuyns: R T h A M 3 2 (1965) 2 0 5 - 2 6 2 . - Versio Dionysii, ed. (unkrit.) Ph. Chevallier, D i o n y s i a c a , 2 Bde., Paris 1 9 3 7 - 1 9 5 0 . - Versio A m b i g u o r u m S. M a x i m i , ed. (unvollständig) T h . G a l e , J o a n n i s Scoti Erigenae D e divisione naturae libri V. Accedit appendix ex Ambiguis S. M a x i m i graece et latine, O x f o r d 1681, app. 1 - 7 0 ; ed. (unvollständig) J . Floss, P L 122, 1 1 9 3 - 1 2 2 2 ; vollständig in den Hss. Paris M a z a r i n e 5 6 1 und Paris Arsenal 2 3 7 . - Versio Q u a e s t i o n u m ad T h a l a s s i u m S. M a x i m i , ed. C . L a g a / C . Steel, C C h r . S G 7 ; vollständig in den Hss. M o n t e Cassino 3 3 3 E und Troyes 1234. - Epistulae, M G H . E p 5 , 6 3 0 f; M G H . E p 6, 1 5 8 - 1 6 2 . - Periphyseon libri V (De divisione naturae), 1 - 3 ed. I.P. S h e l d o n - W i l l i a m s / L u d w i g Bieler, Dublin 1 9 6 8 - 1 9 8 1 ; 4 / 5 ed. J . Floss, PL 122, 7 4 1 - 1 0 2 2 . Z u Periphyseon I - V (PL 4 4 1 - 1 0 2 2 ) : J o h a n n i s Scoti Eriugenae Periphyseo n . Indices generales, conf. G . H . Allard, M o n t r é a l / P a r i s 1983. - E x p o s i t i o n e s in Ierarchiam Coelestem, ed. J e a n n e B a r b e t , C C h r . C M 31. - H o m i l i a in prologum S. Evangelii sec. J o h a n n e m , ed. E d o u a r d J e a u n e a u , Paris 1969. - C o m m e n t u m in S. Evangelium sec. J o h a n n e m , ed. Edouard J e a u neau, Paris 1972.

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Johannes der Täufer I

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S c o t o e R e m i g i o di Auxerre: a proposito di alcuni c o m m e n t i altomedievali a B o e z i o : S t M e d 3 . ser., 22 (1981) 5 8 7 - 6 9 3 . - D e r s . , F o n s scientiae. L a dialettica nell ' O c c i d e n t e t a r d o a n t i c o , N e a p e l 1 9 8 6 . - M . dal Pra, S c o t o Eriugena (o Erigena), G i o v a n n i : Enciclopedia filosofica 2 5 (1969) 1 1 9 1 - 1 1 9 7 . - R e n é R o q u e s (Hg.), J e a n S c o t Erigène et l'histoire de la philosophie. C o l l o q u e s I n t e r n a t i o n a u x du C N R S N o . 5 6 1 (Laon 7 . - 1 2 . 7 . 1 9 7 5 ) , Paris 1977. - G a n g o l f Schrimpf, D e r Beitr. des J o h a n n e s Scottus Eriugena zum Prädestinationsstreit: Heinz L ö w e (Hg.), D i e Iren u. E u r o p a im früheren M A , Stuttgart 1982, 8 1 9 - 8 6 5 . - Ders., D a s Werk des J o h a n n e s Scottus Eriugena im R a h m e n des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit. Eine Hinführung zu Periphyseon, M ü n s t e r 1 9 8 2 . - D e r s . , J o h a n n e s Scottus Eriugena u. die Rezeption des M a r t i a n u s Capella im karolingischen Bildungswesen: Werner Beierwaltes, Eriugena, s . o . , 1 3 5 - 1 4 8 . - Brian S t o c k , In Search o f Eriugena's Augustine, Eriugena. Stud. zu seinen Quellen, hg. v. Werner Beierwaltes, Heidelberg 1 9 8 0 , 7 5 - 8 4 . - J . Trouillard, Érigène et la naissance du sens: Piatonismus u. Christentum, FS Heinrich D ö r r i e , hg. v. H . - D . Blume/Friedhelm M a n n : J A C Erg.bd. 10 (1983) 2 6 7 - 2 7 6 . - E m s t Ludwig Waeltner, O r g a n i c u m M e l o s . Z u r M u s i k a n s c h a u u n g des Iohannes Scottus (Eriugena), M ü n c h e n 1 9 7 7 .

Gangolf Schrimpf Johannes der Täufer I. Religionsgeschichtlich II. Neues Testament

173

I. Religionsgeschichtlich 1. Die Quellen und ihre Hauptaussagen der T ä u f e r als Prophet 4. N a c h w i r k u n g e n

1. Die Quellen und ihre

2. Religionsgeschichtliche Parallelen (Literatur S. 180)

3. Johannes

Hauptaussagen

Von den antiken Quellen, die über J o h a n n e s den T ä u f e r berichten, ist nur der A b s c h n i t t 1 8 , 1 1 6 - 1 1 9 des - » J o s e p h u s Flavius außerchristlicher H e r k u n f t ; die skurrilen T ä u f e r n o t i z e n slavischen Josephus (hinter Bell 2 , 1 1 0 . 1 6 8 ) sind christliche Interpolationen o h n e Q u e l l e n w e r t . meisten und wichtigsten Belege zu Gestalt und B o t s c h a f t des T ä u f e r s finden sich j e d o c h in Evangelien (s.u. A b s c h n . I I . l ) .

Ant des Die den

Josephus und die Evangelisten schildern Johannes als einen altjüdischen Bußprediger, der zur Zeit des Herodes Antipas (4 v. C h r . - 3 9 n. Chr.) gelehrt und die Bußwilligen einem Wasserbad unterzogen hat, von Herodes jedoch hingerichtet wurde. Dem Neuen Testament wichtig als Lehrer, Täufer (und Vorläufer) Jesu, war Johannes zufolge Josephus ein Tugendlehrer, den Herodes zu Unrecht revolutionärer Umtriebe verdächtigte. Aus den Evangelien wissen wir, daß Johannes in der Wüste predigte und seine Anhänger im Jordan taufte; zufolge Mt 3,4 par. Mk 1,6 trug er einen Kamelhaarmantel mit ledernem Gürtel und ernährte sich von Heuschrecken und wildem Honig. Übereinstimmend teilen Josephus und das Neue Testament den Beinamen des Johannes mit: „Täufer" bzw. „Untertaucher" (Ant 18,116: ßamiaTtjg-, Neues Testament: ßanziaxrjc;, ßanzi^ojv). 2. Religionsgeschichtliche

Parallelen

D i e Ankündigung eines endzeitlichen R i c h t e r s , der den Frevlern das Feuer bringen wird, während den Bußwilligen die Wassertaufe R e t t u n g im G e r i c h t verbürgen soll, ordnet den T ä u f e r der altjüdischen —»Eschatologie und —> Apokalyptik zu. D e r erwartete R i c h t e r ist der - » M e s s i a s ; die nach Josephus, Ant 18,118 von Herodes befürchteten Unruhen waren vermutlich politisch-messianischer Natur. D a z u paßt die W ü s t e als Aufenthaltsort; da man nach J e s 4 0 , 3 ; H o s 2 , 1 6 ; 12,10 den M e s s i a s in der W ü s t e erwartet, nehmen messianische Bewegungen hier ihren Ausgang (Josephus, Bell 2 , 2 5 8 - 2 6 3 ; vgl. M t 2 4 , 2 6 ; Act 2 1 , 3 8 ) . D i e J o r d a n t a u f e verknüpft alttestamentliche Hoffnungen nach Art von J e s 4 4 , 3 ; Ez 3 6 , 2 5 - 2 7 ; 4 7 , 1 - 1 2 ; Sach 13,1 f mit der H o c h s c h ä t z u n g des J o r d a n w a s s e r s (II R e g 5 , 1 - 1 4 ) und mit Vorstellungen der altjüdischen Kathartik ( - » R e i n h e i t ) . Aus der spätestens im 1. J h . v. C h r . entstandenen Proselytentaufe ( —•Proselyten/Proselytentaufe) (vgl. Bill. 1,102 f), die aus Heiden S ö h n e A b r a h a m s m a c h t , wird bei J o h a n n e s der Initiationsritus für die Zugehörigkeit zum wahren, von Sündenschuld gereinigten Israel der Endzeit. Proselyten- und J o h a n n e s t a u f e dürften sich als Erfüllung der prophetischen Verheißungen von Ez 3 6 , 2 5 - 2 7 usw. oder doch als A n s t o ß zu solcher Erfüllung verstanden h a b e n . Da unreine G e r ä t e , die einer Lustration durch Feuer nicht ausgesetzt werden k ö n n t e n , ersatz-

Johannes der Täufer II

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weise mit Wasser gereinigt werden dürfen (Num 3 1 , 2 2 f ; vgl. A Z 5 , 1 2 ; Kel 2 , 1 - 7 ) , ist es nur folgerichtig, daß Johannes seine bußwilligen Hörer vor der Vernichtung im endzeitlichen Feuer durch ein Wasserbad bewahren will, das solche „ R e i n i g u n g " (vgl. Sach 13,9) vorwegnimmt. D a ß eine derartige Verbindung ethischer Ansprüche, eschatologischer Erwartungen und ritueller Praktiken im Judentum des 1. J h . n. Chr. nichts Außergewöhnliches war, lehren vor allem die Texte von - > Q u m r a n , ohne daß unbedingt mit einer Zugehörigkeit des Täufers zu den -»Essenern gerechnet werden müßte (vgl. 1QS 3,8 f; 4,21 f; Josephus, Bell 2,159). Ein dem T ä u f e r vergleichbarer Einzelgänger ist Bannüs, der Lehrer des Josephus (Josephus, Vita 11); Bannüs lebt - wie die Qumraniten und Johannes der T ä u f e r - in der Wüste, wo er sich „mit kaltem Wasser Tag und Nacht häufig" reinigt. Von den Waschungen in Qumran wie von denjenigen des Bannüs unterscheidet sich die Täufertaufe durch ihre Einmaligkeit; auch darin ist sie mit der Proselytentaufe verwandt. Die Ernährung von Heuschrecken und Honigwasser ( M t 3,4 par. M k 1,6), d . h . der Verzicht auf Fleisch und Wein (Lk 1,15; 7,33; äpTOSerubbabel, ein Enkel des Königs, beim Wiederaufbau des nachexilischen Jerusalem, eine hervorragende Rolle (Hag 1 - 2 ; Sach 4; 6 , 9 - 1 5 ; Esr 3; vgl. vor allem Jer 22,24 mit Hag 2,23). Ähnliches könnte für Scheschbazzar gelten (Esr 1), vorausgesetzt, er ist mit dem in I Chr 3,17 erwähnten Schenazzar identisch (Rudolph 29). Wie lange Jojachin nach seiner Begnadigung noch am Hofe des babylonischen Königs lebte, ist nicht bekannt. Literatur Peter R . Ackroyd, Israel under Babylon and Persia, 1970 ( N C B . O T 4). - Yohanan Aharoni, T h e Citadel of R a m a t Rahel: Arch. 18 (1965) 1 5 - 2 5 . - William Foxwell Albright, King Joiachin in Exile: B A 5 (1942) 4 9 - 5 5 = BA-Reader, hg. v. G. Ernest Wright/David Noel Freedman, Garden City N . Y . 1961, 1 0 6 - 1 1 2 . - Ders., T h e Seal of Eliakim and the Latest Preexilic History of Judah, with Some

Jojakim

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Observations on Ezekiel: J B L 51 (1932) 7 7 - 1 0 6 . - Henri Cazelles, L e roi Yoyakin et le Serviteur du Seigneur: Proceedings o f the Fifth World Congress of Jewish Studies I, Jerusalem o . J . , 1 2 1 - 1 2 5 . K.S. F r e e d y / D . B . Redford, T h e Dates in Ezekiel in Relation to Biblical, Babylonian and Egyptian Sources: J A O S 9 0 (1970) 4 6 2 - 4 8 5 . - Ernst Kutsch, Die chronologischen Daten des Ezechielbuches, 1985 ( O B O 62). - Franz Marius T h e o d o r de Liagre Böhl, Nebukadnezar en Jojachin: Ders., Opera Minora, Groningen 1953, 4 2 3 - 4 2 9 . - A b r a h a m M a l a m a t , Jeremiah and the Last T w o Kings of Judah: P E Q 83 (1951) 8 1 - 8 7 . - Herbert Gordon M a y , T h r e e Hebrew Seals and the Status of Exiled Jehoiakin: A J S L 5 6 (1939) 1 4 6 - 1 4 8 . - Rudolph Meyer, Das Gebet des Nabonid. Eine in den Q u m ran-Hss. wiederentdeckte Weisheitserzählung, 1962 (SSAW.PH 107.3). - Martin N o t h , Die Einnahme v. Jerusalem im J a h r e 5 9 7 v. Chr.: Z D P V 7 4 (1958) 1 3 3 - 1 5 6 = ders., Aufs, zur bibl. Landes- u. Altertumskunde, Neukirchen, 1 1971, 1 1 1 - 1 3 2 . - J . Wilhelm Rothstein, Die Genealogie des Königs Jojachin u. seiner N a c h k o m m e n (1. Chron. 3 , 1 7 - 2 4 ) in gesch. Beleuchtung. Eine krit. Stud, z u r j ü d . Gesch. und Litteratur, Berlin 1902. - Wilhelm Rudolph, Chronikbücher, 1955 ( H A T 1/21). - Ronald H . Sack, Amel-Marduk 5 6 2 - 5 6 0 B. C. A Study based on Cuneiform, OT, Greek, Latin and Rabbinical Sources. With Plates, 1972 ( A O A T 4). - Ernst F. Weidner, Jojachin, König v. Juda, in babylonischen Keilschrifttexten: Melanges Syriens offerts a Monsieur René Dussaud, Paris, I I 1 9 3 9 , 9 2 3 - 9 3 5 . - Donald J o h n Wiseman, Chronicles of Chaldaean Kings ( 6 2 6 - 5 5 6 B . C . ) in the British Museum, London 1965. - Ran Z a d o k , T h e Jews in Babylonia During the Chaldean and Achaemenian Periods According t o the Babylonian Sources, Haifa 1979 (Studies in the History of the Jewish People and the Land of Israel. M o n o g r a p h Ser. III). - Erich Zenger, Die dtr. Interpretation der Rehabilitierung Jojachins: B Z 12 (1968) 1 6 - 3 0 . - Walther Zimmerli, Ezechiel, 1 1969 2 1 9 7 9 ( B K . A T 13/1). - S. auch Lit. zu -»Geschichte Israels (Gesamtdarstellungen) u. - » J o j a k i m .

Gunther Wanke Jojakim J o j a k i m , König von J u d a , Sohn des -> J o s i a und der Sebuda, der Tochter eines gewissen Pedaja aus R u m a , w a r Nachfolger seines um zwei Jahre jüngeren Bruders J o a h a s , der nach nur dreimonatiger Regierung von Pharao Necho abgesetzt und nach Ägypten gebracht wurde. Die Angaben über das Alter der Könige bei ihrer Thronbesteigung in II Reg 22,1; 2 3 , 3 1 . 3 6 sind zumindest fragwürdig. N a c h ihnen wäre Josia bei der Geburt des J o a h a s 16 J a h r e und bei der Geburt J o j a k i m s sogar nur 14 J a h r e alt gewesen. Angesichts dieser auch für israelitische Verhältnisse ungewöhnlichen Daten muß offen bleiben, o b J o j a k i m wirklich der älteste Sohn Josias gewesen ist. J o j a k i m regierte von etwa S e p t e m b e r / O k t o b e r 609 bis Dezember 5 9 8 . Die Überlieferung von ihm findet sich in den im wesentlichen deuteronomistischen Notizen in II R e g 2 3 , 3 4 - 2 4 , 6 (par. II C h r 3 6 , 4 - 8 ) und innerhalb des Jeremiabuchs vor allem in J e r 2 2 , 1 3 - 1 9 ; 2 6 , 2 0 - 2 4 und 3 6 , die ein sehr negatives Bild des Königs zeichnen. Die Regierung J o j a k i m s fällt in die Zeit der Auseinandersetzung zwischen Ägypten und dem Neubabylonischen Reich um das assyrische Erbe in Syrien-Palästina (-»Ägypten II; -»Geschichte Israels). Unmittelbar nach seiner nicht sehr erfolgreichen Expedition zur Unterstützung des assyrischen Reststaates unter Aschur-uballit in der Gegend von Haran gegen die Babylonier und ihre Verbündeten wandte sich Pharao Necho ( 6 0 9 - 5 9 4 ) Syrien-Palästina zu, um es in Besitz zu nehmen. Josias Nachfolger, J o a h a s , wurde in Nechos Hauptquartier nach Ribla am Orontes zitiert und abgesetzt. An seine Stelle trat sein Bruder Eljakim, dessen N a m e zur Dokumentation der ägyptischen Oberhoheit in J o j a k i m geändert wurde. Den von Ägypten geforderten Tribut trieb J o j a k i m über eine nach dem Besitz der einzelnen Bürger bemessenen Kopfsteuer ein (II Reg 23,33—35). Die folgenden J a h r e ( 6 0 9 - 6 0 4 / 6 0 3 ) blieb J o j a k i m ägyptischer Tributär. Das änderte sich, als die Babylonier sich anschickten, nach der Vernichtung des neuassyrischen Reiches auch Syrien-Palästina ihrem Einflußbereich einzuverleiben. Im J a h r e 605 gelang es Nebukadnezar, damals noch Kronprinz, die Ägypter aus Karkemisch zu vertreiben (vgl. J e r 4 6 , 2 , vor allem aber die sog. Wiseman-Chronik, die wichtige Informationen über dieses und die folgenden J a h r e der babylonischen Geschichte liefert). Bald nach seiner Thronbesteigung (Sept. 605) wendet er sich Syrien-Palästina zu, das er auch in den folgenden J a h r e n mittels zahlreicher Feldzüge seiner Herrschaft unterwarf. Bereits ein

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Jojakim

J a h r später (604) m a c h t e er sich die Kleinstaaten des Gebietes Untertan und e r h o b schweren T r i b u t . W o h l im Z u s a m m e n h a n g mit der E r o b e r u n g der Stadt A s k a l o n ( D e z e m b e r 6 0 4 ) ist die U n t e r w e r f u n g J o j a k i m s unter die B a b y l o n i e r zu sehen (II R e g 2 4 , 1 ? ) . D r e i J a h r e lang blieb J o j a k i m N e b u k a d n e z a r Untertan. Wahrscheinlicher A n l a ß für die Aufkündigung des Vasallitätsverhältnisses durch den judäischen König w a r die Niederlage N e b u k a d n e z a r s gegen Ägypten im R a h m e n seines Palästinafeldzugs (Dezember 6 0 1 — Februar/März? 600). Die Verluste Nebukadnezars müssen empfindlich gewesen sein. E r brauchte jedenfalls m e h r als ein J a h r , um seine Streitmacht zu reorganisieren. J o j a k i m hatte sich nach seinem Abfall mit den Angriffen babylonischer Besatzungstruppen und östlicher N a c h b a r n ( - » A r a m ä e r ; —>Moab und —•Amnion) auseinanderzusetzen, die J u d a verwüstet h a b e n sollen (II Reg 24,2). In diesen Z u s a m m e n h a n g gehört wohl auch die Erw ä h n u n g edomitischer Einfälle in einem A r a d - O s t r a k o n (Aharoni: B A 3 1 , 1 7 f ; —•Edom). Erst im D e z e m b e r 5 9 8 / J a n u a r 5 9 7 wendet sich N e b u k a d n e z a r wieder persönlich den palästinischen Angelegenheiten zu. E t w a zur selben Z e i t stirbt J o j a k i m in J e r u s a l e m ( D e z e m b e r 5 9 8 ) . Sein Sohn - > J o j a c h i n folgt ihm auf den T h r o n - » D a v i d s . O b J o j a k i m eines natürlichen T o d e s gestorben ist („er legte sich zu seinen V ä t e r n " II R e g 2 4 , 6 ) oder e r m o r d e t wurde (Albright: J B L 5 1 , 9 0 f u . a . unter H i n w e i s auf J e r 2 2 , 1 8 f ; 3 6 , 3 0 ) , m u ß e b e n s o offen bleiben, wie die B e a n t w o r t u n g der Frage, o b N e b u k a d n e z a r s Palästinafeldzug u n m i t t e l b a r durch den T o d J o j a k i m s v e r a n l a ß t w u r d e ( N o t h , Aufsätze I), oder von vornherein als Strafexpedition gegen den abgefallenen König geplant w a r ( M a l a m a t : I E J 18; vgl. G r e e n ) . D i e J e r e m i a ü b e r l i e f e r u n g zeichnet J o j a k i m als einen despotischen H e r r s c h e r , der das W o r t der Propheten J a h w e s m i ß a c h t e t e , die Propheten verfolgte und tötete. So soll er die E r m o r d u n g des P r o p h e t e n Uria ben S c h e m a j a veranlaßt h a b e n , der wie —• J e r e m i a als U n h e i l s p r o p h e t aufgetreten ist (Jer 2 6 , 2 0 - 2 4 ) . J e r e m i a , dessen Unheilsankündigungen im wesentlichen das J u d a J o j a k i m s b e t r a f e n , soll zu dessen Z e i t einmal in den B l o c k gespannt (Jer 1 9 , 1 - 2 0 , 6 ) , v o m T e m p e l b e s u c h ausgeschlossen (Jer 3 6 ) und eines todeswürdigen Verbrechens (Ankündigung der Z e r s t ö r u n g J e r u s a l e m s : J e r 2 6 , 1 — 19) bezichtigt w o r d e n sein. Schließlich soll J o j a k i m die in einer B u c h r o l l e schriftlich fixierten W o r t e J e r e m i a s d e m o n s t r a t i v verbrannt h a b e n ( J e r 3 6 ) . In direkter K o n f r o n t a t i o n bezeichnete J e r e m i a den König als einen H e r r s c h e r , dessen H a n d e l n an L u x u s , Eigennutz, Ausbeutung und B e d r ü c k u n g orientiert w a r (Jer 2 2 , 1 3 - 1 9 ) . D e r in J e r 2 2 , 1 3 - 1 9 e r w ä h n t e P a l a s t b a u wird von Y. A h a r o n i mit der inneren Z i t a d e l le von R a m a t R a h e l (Bet-Kerem J e r 6 , 1 ) , h a l b w e g s zwischen J e r u s a l e m und - » B e t h l e h e m gelegen, identifiziert. Literatur Peter R. Ackroyd, Israel under Babylon and Persia, 1970 (NCB.OT4). - Yohanan Aharoni, Arad. Its Inscriptions and Temple: BA 31 (1968) 2 - 3 2 . - Ders., The Citadel of Ramat Rahel: Arch. 18 (1965) 1 5 - 2 5 . - Ders., Excavations at Ramat Rahel, Seasons 1959 and 1960, Rom 1962. - Ders., Excavations at Ramat Rahel, Seasons 1961 and 1962, Rom 1964. - Knud Tage Andersen, Die Chronologie der Könige v.'Israel u. Juda: StTh 23 (1969) 6 9 - 1 1 4 . - D.J.A. Clines, Regnal Year Reckoning in the Last Years of the Kingdom of Judah: AJBA 2,1 (1972) 9 - 3 4 . - Jack Finegan, Handbook of Biblical Chronology - Principles of Time Reckoning in the Ancient World and Problems of Chronology in the Bible, Princeton 1964. - David Noel Freedman, The Babylonian Chronicle: BA 19 (1956) 5 0 - 6 0 . - Alberto R. Green, The Fate of Jehoiakim: AUSS 20 (1982) 103-109. Ihromi, Die Königinmutter u. der 'amm ha'arez im Reich Juda: VT 24 (1974) 4 2 1 - 4 2 9 . - Alfred Jepsen (Hg.), Von Sinuhe bis Nebukadnezar, Berlin 3 1979. - Ernst Kutsch, Zur Chronologie der letzten judäischen Könige (Josia bis Zedekia): ZAW 71 (1959) 2 7 0 - 2 7 4 . - Ders., Das Jahr der Katastrophe: 587 v.Chr. Krit. Erwägungen zu neueren chronologischen Versuchen: Bib. 55 (1974) 5 2 0 - 5 4 5 . - Gerhard Larsson, When Did the Babylonian Captivity Begin?: JThS NS 18 (1967) 4 1 7 - 4 2 3 . - Abraham Malamat, The Last Kings of Judah and the Fall of Jerusalem. 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E d o m and J u d a h in the Sixth-Fifth Centuries B . C . : N e a r Eastern Studies in H o n o r o f W i l l i a m F o x w e l l Albright, B a l t i m o r e / L o n d o n 1971, 3 7 7 - 3 9 2 . - Bustenay Oded, W h e n Did the Kingdom o f J u d a h B e c o m e S u b j e c t e d to Babylonian Rule? (hebr.): T a r b . 35 (1965/66) 1 0 3 - 1 0 7 . - E r n s t Vogt, D i e neubabylonische C h r o n i k über die Schlacht bei K a r k e m i s c h u. die E i n n a h m e v. Jerusalem: Volume du congrès: Strasbourg 1956, 1957 (VT.S 4) 6 7 - 9 6 . - D o n a l d J o h n W i s e m a n , Chronicles o f Chaldaean Kings ( 6 2 6 - 5 5 6 B . C . ) in the British M u s e u m , L o n d o n 1956. - S. auch Lit. zu - » G e s c h i c h t e Israels (Gesamtdarstellungen) u. - » J o j a c h i n .

Gunther Wanke Jona/Jonabuch 1. Person 2. Buch 3. Abfassungszeit 4. Einheitlichkeit 6. G a t t u n g und Tendenz 7 . Nachgeschichte (Literatur S. 233)

5 . Stoffe und M o t i v e

1. Person Im Königsbuch wird ein Prophet Jona ben Amittai aus Gat-Hepher erwähnt. Von ihm wird mitgeteilt, daß die Erweiterung des Gebiets des Nordreichs Israel durch Jerobeam II. auf Geheiß JHWHs geschehen sei, der durch seinen Knecht, den Propheten Jona, gesprochen habe (II Reg 14,25). Diese Notiz gehört nicht zum deuteronomistischen Rahmen (V.23f.28f), ist also von Dtr anderen Quellen entnommen und historisch kaum verdächtig. Folglich gab es z.Zt. -»-Jerobeams II. (787-747) im Nordreich Israel einen Heilspropheten namens Jona („die Taube"), Sohn des Amittai. Seine Heimat war das noch Jos 19,13 genannte Gat-Hepher = hirbet ez-zerrä' (heute Khirbet ez-zurra'), 5 km nordöstlich von Nazareth. 2. Buch Das Jonabuch gehört zum —>Dodekapropheton, das Jesus Sirach als Teil des Prophetenkanons bereits kannte, da im Preis der Väter nach Hesekiel die zwölf Propheten erstmalig als abgeschlossenes Buch erwähnt werden (Sir 4 9 , 8 - 1 0 ; zur Problematik des in V.9 genannten Hiob vgl. zuletzt G. Sauer, J S H R Z III/5, 629). Dabei erfolgt die Einordnung dieses Büchleins hinter Arnos und Obadja im M T nach historischem Gesichtspunkt; Jona wird zu den Propheten des 8. Jh. v. Chr. gestellt, wohl auf Grund der Königsbuchnotiz. Davon weicht die Ordnung der L X X ab. Das Jonabuch wird hier auf die sechste Stelle hinter Joel und Obadja gerückt, was vielleicht mit dem Umfang der jeweiligen Bücher zusammenhängt oder weil es auf Grund inhaltlicher Gesichtspunkte die Mitte des Dodekapropheton markieren sollte. Im Unterschied zu den anderen Prophetenbüchern enthält das Jonabuch bis auf das kurze Wort: „Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört!" (3,4b) nicht die Botschaft des Propheten, sondern eine, oder noch genauer zwei Erzählungen über ihn, die wegen des formalen Gesichtspunktes des zweimaligen Auftrages (1,1; 3,1) in Kap. 1 - 2 und 3 - 4 oder wegen inhaltlicher Gründe in Kap. 1 - 3 und 4 gesehen werden. Damit hängt zusammen, daß auch die sonst übliche redaktionelle Überschrift fehlt. Die erste Erzählung beginnt d a m i t , d a ß das Wort J H W H s an J o n a ergeht und ihn mit einer G e r i c h t s b o t s c h a f t nach Ninive schickt. Aber statt nach Osten m a c h t er sich nach Westen auf, um sich J H W H zu entziehen. Er besteigt ein nach Tarsis fahrendes Schiff. Ein heftiger Sturm läßt die Schiffsleute nach dem Schuldigen suchen. Sie finden ihn in J o n a und werfen ihn ins M e e r , das dadurch beruhigt wird (Kap. 1). J H W H aber schickt einen großen Fisch, der J o n a verschlingt und ihn, nachdem er drei Tage im Bauch war und ein D a n k g e b e t angestimmt hatte, an Land speit (Kap. 2). N a c h d e m das Wort J H W H s abermals an ihn ergangen war, folgt er nun dem göttlichen Befehl, reist nach Ninive und predigt den Untergang. Die Leute aber ergreift Furcht; sie tun Buße, und G o t t läßt sich das Unheil gereuen (Kap. 3). D a r ü b e r aber wird J o n a unmutig und zornig. J H W H m a c h t ihm das Unsinnige seines Verhaltens dadurch klar, d a ß er eine Rizinusstaude wachsen läßt, über deren Schatten sich J o n a freut, daß J H W H dann aber über N a c h t die Staude durch einen Wurm stechen und vertrocknen läßt, so daß die S o n n e J o n a s H a u p t trifft und er sich den T o d wünscht. J o n a , s o schlußfolgert J H W H , jammert um den Rizinus; um wieviel m e h r müßte er um Ninive j a m m e r n , weil sie eine große Stadt mit vielen Kindern und einer M e n g e Vieh ist (Kap. 4).

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230 3.

Abfassungszeit

D a ß der Jona des 8. Jh. der Autor unseres Buches ist, ist höchst unwahrscheinlich (anders noch Aalders 68.74). Schon die Tatsache, d a ß unsere Erzählung von Jona in der 3. Person handelt, spricht dagegen, wie auch der Umstand, d a ß Jona in der Erzählung nicht der strahlende Held, der beispielhafte Prophet ist, sondern in zweifelhaftem Licht erscheint. Hinzu k o m m t eine Reihe anderer Beobachtungen, die an die nachexilische (Watts) und spätnachexilische, vielleicht sogar an die persische Zeit (Rudolph) als Abfassungszeit unseres Büchleins denken lassen. Die Elia-Erzählung, die deuteronomistische Redaktion des Jeremia-Buches (Wolff 55; van der Woude 10) und das Joel-Buch werden vorausgesetzt. Aramaismen (Levine; Z i m m e r m a n n ) und Spätformen des Hebräischen (Wolff 54; van der Woude 10) weisen in noch jüngere Zeit, wobei Ausdrücke wie „der Gott des H i m m e l s " (1,9) und „der König und seine G r o ß e n " (3,7) wohl persischen Einfluß verraten. O b griechische Seemannserzählungen oder auch die Stoa (Fäj) unser Büchlein beeinflußt haben, läßt sich nicht mit Sicherheit ausmachen. 4.

Einheitlichkeit

In der Forschungsgeschichte sind bis heute im wesentlichen drei Probleme diskutiert worden. Das erste ist die Dublette in 4,5b und 4,6a: Jona sitzt unter einem Schatten spendenden Schirmdach bzw. unter dem Rizinus. Diese Schwierigkeit hat Winckler einst so zu lösen versucht, d a ß er 4,5 an 3,4 anschloß. Andere (so Rudolph) halten die Dublette für nicht gegeben und somit eine Umstellung des Verses für nicht notwendig. Und neuerdings haben auch Hinweise auf eine bewußt gestaltende Erzählweise des Autors die sinnvolle O r d n u n g des jetzigen Textes bestätigt (Wolff; van der Woude). Denjenigen, die dieser Lösung nicht zustimmen können, mag eine literarkritische Lösung angeboten werden. Sie nimmt eine älteste Gestalt der Erzählung an, in der 4,5a auf 3,10b folgte und mit dem Hinweis, d a ß mit d e m Verlassen der Stadt der Versuch Jonas, sich J H W H endgültig zu entziehen, verbunden war, diese Erzählung endete, an die sich eine zweischichtige redaktionelle Bearbeitung anschloß (Weimar). Das zweite Problem betrifft den Psalm. Seit langem wird er überwiegend als sekundäre Z u t a t verstanden. Andere indes treten für seine ursprüngliche Zugehörigkeit zur Erzählung ein (jüngst Fretheim; Holbert; Deissler; Magonet). Diejenigen, die ihn hinzugefügt sein lassen, sind abermals uneins in der Frage, o b der Psalm älter oder jünger als das Buch ist. Auch in dieser Frage sind jüngst neue Wege gesucht worden, indem die Sprache, der Stil und der Inhalt des Psalms mit der Jonaerzählung verglichen wurden. Das führte erneut zu der Schlußfolgerung, d a ß der Psalm der Erzählung hinzugewachsen ist. Ungeachtet der Z u s t i m m u n g zu diesem Ergebnis bleibt die Möglichkeit bestehen, den Psalm als funktionalen und bewußt integrierten Bestandteil einer der jüngsten Stufen der Ausgestaltung der Erzählung zu verstehen. Das dritte Problem ist der Wechsel von J H W H und Elohim in der Erzählung. Denn in 1 , 1 - 3 , 4 findet sich J H W H , in 3 , 5 - 1 0 Elohim, in 4 , 1 - 5 J H W H , in 4,6 J H W H - E l o h i m , in 4 , 7 - 9 Elohim und in 4 , 1 0 - 1 1 J H W H . Läßt sich noch das Elohim im M u n d e der Niniviten erklären (3,5-10; in 3,3 b umschreibt Elohim einen Superlativ), so bleibt der Wechsel in Kap. 4 undurchsichtig. Der Versuch von Böhme und H . Schmidt, durch Quellenscheidung das Problem zu lösen, hat nicht überzeugt und mit Recht keine Z u s t i m m u n g gefunden. Neuerdings ist von L. Schmidt dieser literarkritische Versuch insofern modifiziert worden, als er eine Elohim gebrauchende Grundschicht und eine Bearbeitungsschicht mit J H W H als Gottesnamen a n n i m m t . W ä h r e n d es in der ersten Schicht u m die Buße der Niniviten und die Reue Gottes gehe, stehe für die Bearbeitung die Allmacht des Schöpfers und die Gnade J H W H s im Mittelpunkt der Erzählung, der v o r a b 1,3-2,10(11) und 4 , 2 - 4 zugewiesen wird. Doch auch gegen diesen Vorschlag sind vielfach Bedenken erhoben worden, die darin kulminieren, d a ß 4,2 ff ein integraler, nicht herauslösbarer Bestandteil der Erzählung Kap. 3 - 4 ist. Ähnlich sieht der Vorschlag von Nielsen aus, eine aus nur

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wenigen Versen bestehende Grunderzählung anzunehmen (1,1 —2; 3,1—4; 4,5; 3,5.10; 4,1— 2a.3a/?b.4.8.9a), der es um die Sorge Gottes um den Propheten und um seine Geschöpfe ging. Doch auch hierbei bleibt unklar, warum gerade diese Verse die ursprüngliche Erzählung bilden und wie daraus der gegenwärtige Umfang entstanden ist. Somit bleibt nur der andere Weg, die offensichtlichen Spannungen innerhalb des Büchleins angesichts der nicht zu leugnenden Einheitlichkeit des Gesamtkonzeptes entweder auf die Arbeitsweise des Autors oder auf die Wachstumsgeschichte der Erzählung zurückzuführen. Auf die kunstvolle Erzähltechnik macht im Anschluß an Wolff besonders van der Woude aufmerksam. Da sich die jeweiligen Stileigentümlichkeiten, mit Ausnahme des Psalms, in allen Teilen der Erzählung finden, muß man diese als literarische, von einem Autor gestaltete Einheit betrachten. Und da der Psalm durch 2,1.11 aufs engste mit der Erzählung vom Fisch verbunden ist, kann auch er schon vom Autor diese Funktion erhalten haben. Jedenfalls muß der Psalm, wenn nicht gar als Kompilat, so doch als Beispiel für den Musivstil (Kaiser 200) angesprochen werden, was es zweifelhaft erscheinen läßt, daß er je für sich existierte. 5. Stoffe und

Motive

Eißfeldt (KS IV,141) weist mit Recht darauf hin, daß unser Büchlein insofern in einer sachlich-stofflichen Verbindung zur Notiz von II Reg 14 steht, als angenommen werden kann, daß nicht nur von Elia oder Jesaja, sondern eben auch von Jona schon früh Legenden erzählt wurden und daß diese Legenden in der Tat den Zeitraum zwischen dem Jonabuch und dem Propheten des 8. Jh. überbrücken. Auch darin hat Eißfeldt (Einleitung 546) Recht, daß dem Jonabuch zwei solcher Legenden zugrundeliegen. Die eine handelt von der schließlich doch überwundenen Weigerung Jonas, einer fremden Stadt Buße zu predigen, und die andere von Jonas nicht berechtigtem Unmut über die Gnade JHWHs. In diese beiden Legenden sind verschiedene Motive eingebaut worden. Am klarsten ist das Motiv vom Verschlucken und Ausspeien eines Menschen durch einen großen Fisch, wie es auch die Perseus-Sage enthält, erkennbar. Der Märchenwelt könnte das Motiv von der rasch wachsenden Pflanze entstammen. Und das in der ersten Erzählung verarbeitete Motiv vom inneren Ringen des Propheten zwischen menschlichem Wunsch und göttlichem Auftrag geht auf alttestamentliche Vorlagen (Elia, Jesaja, Jeremia) zurück. 6. Gattung und

Tendenz

Heftig umstritten ist nach wie vor die Gattungszuweisung und die Bestimmung der Tendenz oder der Absicht des Jonabuches. Daß es keine Prophetenbiographie oder auch nur ein Ausschnitt einer solchen ist, wie es neuerdings noch Ridderbos, Aalders, Sutcliffe und Vaccari annehmen, wird an den historischen Unrichtigkeiten deutlich. Historisch-biographisches Interesse hat den Autor offenbar nicht geleitet. Für Wellhausen und viele nach ihm ist das Buch „eine Legende, eine Erzählung im Stil des Midrasch", die „keinen historischen, sondern einen moralischen Zweck" hat (221 f). Und Eißfeldt präzisiert die Zweckbestimmung lediglich dahingehend, daß er vom „didaktisch-moralischen Zweck" (KS IV,142) spricht. An dieser Bestimmung des Büchleins als einer belehrenden Prophetenlegende, die, wie Koch (185) schreibt, „eher zu den Profetenerzählungen in den Königsbüchern paßt", bereitet doch der Umstand erhebliche Schwierigkeiten, daß Jona als die Hauptperson der Erzählung gerade nicht das letzte Wort hat und auch nicht das leuchtende Vorbild ist, dem es nachzueifern gilt, sondern die Ausländer die beispielhaft Glaubenden sind. Denn während Jona um seinen Gott weiß und das auch im Bekenntnis ausspricht, aber nicht danach handelt, werden die anderen Personen, die Seeleute und die Niniviten, als solche geschildert, die entweder schon längst gottesfürchtig sind und nur erst den richtigen Gott kennen lernen müssen, oder die, sobald sie die Botschaft hören, ihr Leben danach radikal gestalten. Wenn das Buch mithin kaum eine Legende ist, könnte Wellhausen doch mit dem

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Hinweis auf den midraschartigen Stil das Richtige getroffen haben. Denn wenn man unter Midrasch eine didaktisch-erzieherische Erzählform versteht, die die Gedanken eines Autors über ein bestimmtes alttestamentliches Thema oder über eine Schriftstelle entfaltet, dann trifft das insoweit auf unser Buch zu, als die didaktisch-belehrende Absicht die Erzählung in der Tat prägt und auf Stellen wie II Reg 14,25; Jer 18,7 f; 33; I Reg 19,4.9; Ex 34,6; Joel 2,13 f verwiesen werden kann. Schwierig allerdings bleibt die Bestimmung des Themas. Vesteht man gleichnishaft Jona als Vertreter der Juden, dann könnte man als Thema „Falsche und wahre Frömmigkeit von Juden und Heiden" oder „Vermeidung der Engherzigkeit den Fremdvölkern gegenüber" (J. Schreiner) formulieren, was keinesfalls bedeutet, das Jonabuch fordere Israel zur Heidenmission auf (Eisenblätter). Dabei bleibt freilich unberücksichtigt der prophetische Zwiespalt in Jona selbst sowie die Frage, warum das Thema Jude - Heide gerade an einer Prophetengestalt exemplifiziert wird. Dem entspricht, daß die Erzählung eigentlich von Gott und dem Propheten sowie von Gott und den Heiden handelt (van der Woude). Das könnte auf das Thema „Wahre und falsche Prophetie" (Berlin) führen. Andere sehen als Thema Jer 18,8 an: J H W H s Barmherzigkeitserweis gegenüber dem reuigen Sünder (ähnlich Rudolph; Fretheim; Witzenrath). Doch auch diese Angaben decken nicht die Rizinusstaudenszene. Schließlich erheben sich ebenfalls gegen den Vorschlag Levines, das Jonabuch als philosophischen Text in erzählendem Rahmen zu verstehen und als Thema die Frage nach der Gerechtigkeit anzusehen, Einwände; denn das Buch macht gerade nicht den Eindruck einer philosophischen Abhandlung, und das Thema Gerechtigkeit ist nicht das einzige, worum die Erzählung kreist. Neuerdings ist die Bezeichnung Novelle in die Diskussion gebracht worden, nachdem schon Baudissin (bei Rudolph 325) unser Büchlein als „märchenhaft gehaltene Novelle mit lehrhafter Tendenz" beschrieben hatte. Dafür spricht, daß die Personen und ihre Charaktere fein gezeichnet werden, daß Gottes Handeln ganz hintergründig vorgestellt wird, daß die Erzählung in mehrere Szenen mit je eigen nuancierten Aussagen gegliedert ist, die Einzelszenen aber dennoch zielstrebig auf den Schluß hin zulaufen, ja daß das Jonabuch ein literarisches Kunstwerk ist (Wolff 60ff; Kaiser 200; vgl. Vanoni). Freilich wird dabei die didaktische Absicht, die vornehmlich darin besteht, den Hörer oder Leser so anzusprechen, daß er sich selbst in dem Geschehen wiederfindet, etwas in den Hintergrund gedrängt. Das mag auch dazu geführt haben, unser Büchlein als Satire (Ackerman; Holbert), ironische Satire (Good), Burlesque (Mather), Parodie (Miles) oder gar als Karikatur zu charakterisieren. Daß es das alles nun wahrlich nicht ist, macht der Schluß in 4,11 deutlich, der eher didaktisch als satirisch und dgl. ist. Dennoch steht außer Frage, daß satirische oder karikaturistische Töne angeschlagen werden und die ganze Erzählung mit Überraschungseffekten (Häuser) und mit einem Schuß Humor gewürzt ist. Will man nicht den Begriff der Novelle neu definieren (so Wolff 61 ff), bleibt nur die Schlußfolgerung van der Woudes (13): „Het boek Jona laat zieh ook literair niet vangen in een definitie en lijkt ook literair een uniek karakter te dragen." Ähnlich äußert sich Deissler, der insgesamt auf Midrasch, Novelle und weisheitlich orientierte Lehrerzählung hinweist. 7.

Nachgeschichte

Daß das Jonabuch von Anfang an sehr beliebt war, zeigt seine reiche Nachgeschichte. Das Neue Testament spielt in zweifacher Weise auf unser Büchlein an. Einmal wird die Buße der Niniviten als beispielhaft für den Glauben genannt (Mt 12,41; Lk 11,32). Dann aber ist der Umstand, daß Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Meerungeheuers war, als Vorwegnahme dessen gedeutet worden, daß der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein wird (Mt 12,40). Ob damit „das Zeichen des J o n a " gemeint ist (Mt 12,39; 16,4; Lk 11,29) oder ob damit andere Inhalte wie etwa der Glaube an die Verkündigung Jesu angesprochen werden, ist umstritten (Jeremias: T h W N T 3,410ff). Die Fischszene hat schon in altjüdischer Zeit die Gemüter bewegt (Bill. 1,644ff) und

Jona/Jonabuch

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schließlich auch dazu geführt, d a ß J o n a als „ d e r mit dem F i s c h " o d e r ähnlich in den K o r a n Eingang fand (Sure 2 1 , 8 7 ; 3 7 , 1 3 9 ; 6 8 , 4 8 ; vgl. S. Schreiner). D a n e b e n ist das M o t i v „ J o n a unter dem R i z i n u s " in der Kunstgeschichte ebenfalls schon früh bezeugt ( O v a diah). Und das Verständnis J o n a s als des Prototyps J e s u Christi hat n a c h h a l t i g Kunst und Literatur bis in die G e g e n w a r t hinein angeregt, wie denn J o n a in der Alten K i r c h e „ z u m S y m b o l christlicher A u f e r s t e h u n g s h o f f n u n g " wurde (Kaiser 2 0 0 ) . Literatur Gerhard Charles Aalders, Obadja en Jona, Kampen 1958 (COT). - J . S . Ackermann, Satire and Symbolism in the Song of Jonah: Traditions in Transformation, hg. v. B. Halpern/J.D. Levenson, Winona Lake 1981, 2 1 3 - 2 4 6 . - A d e l e Berlin, A Rejoinder to John A. Miles, Jr., with some Observations on the Nature of Prophecy: J Q R 65 (1975/76) 2 2 7 - 2 3 5 . - W. 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Beobachtungen zur Entstehung der Jonaerzäh-

Jonas

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Hans-Jürgen Zobel

Jonadab ben Rekab -» Nomaden tum im Alten Testament

Jonas, Justus 1. Leben

(1493-1555) 2. Werk

3. Nachwirkung

(Anmerkung/Quellen/Literatur S. 237)

1. Leben Justus ( J o d o c u s ) Jonas, mit ursprünglichem Namen Koch, wurde am 5. Juni 1493 in der Reichsstadt Nordhausen als Sohn des Ratsmeisters Jonas Koch geboren. Der offenbar frühe Verlust der Mutter, die Wiederheirat des Vaters sowie dessen baldiger Tod überschatteten seine Kindheit. Nachdem er in seiner Geburtsstadt eine gute Schulbildung erhalten hatte, nahm er im Sommersemester 1506 ein Studium an der Artistenfakultät in -»Erfurt auf. Bereits 1507 erwarb er das Baccalauréat; 1510 schloß er die akademische Grundausbildung mit dem Magisterexamen ab und wandte sich darauf juristischen Studien zu. Geistig wurde für ihn der Anschluß an den in Erfurt um Eobanus Hessus gesammelten Humanistenkreis (—»Humanismus) wichtig. Bald verband ihn enge Freundschaft mit Eobanus. Die teilweise Auflösung dieses Kreises im Gefolge der Erfurter Unruhen 1509/10, die Übersiedlung des hochangesehenen Juristen Hennig Goede nach -»Wittenberg (1509) sowie der wachsende Ruf der Leucorea zogen ihn dorthin. In Wittenberg studierte er vom Sommersemester 1511 bis zum Frühjahr 1515 und wurde dort an der Juristischen Fakultät Baccalaureus (1513). Freundschaftliche Bindungen entstanden offenbar zu dem ihm bereits aus der Erfurter Zeit bekannten -»Spalatin (seit 1509 in Wittenberg). Brieflich hielt er die Verbindung nach Erfurt aufrecht. Beziehungen zu —»Luther sind aus dieser frühen Zeit weder für Erfurt noch für Wittenberg nachweisbar. Nach seiner Rückkehr nach Erfurt, das um 1515 den Höhepunkt seines Ruhmes als ein Zentrum des Humanismus erreichte, entwickelte sich eine starke Bindung an den in Gotha wirkenden, in Erfurt einflußreichen Mutian. Dieser sowie der nach Erfurt zurückgekehrte Eoban prägten seine geistige Entwicklung. Während seines ungezwungenen, freien Lebens im Humanistenkreis zeigte J o n a s bereits zunehmendes Interesse an theologischen Fragen. Nach eigener Auskunft begann er 1516 - nach voraufgegangener Priesterweihe - selbst zu predigen. Am 1 6 . 8 . 1 5 1 8 promovierte er zum Lic.jur. Etwa zur gleichen Zeit erhielt er ein Kanonikat an St. Severi und versah die mit diesem verbundene juristische Vorlesung (nicht die kanonistische Vorlesung von H. Goede). Diese gab er im Zuge seiner Orientierung auf die Theologie zwei Jahre später auf. Bedeutungsvoll wurde auch für Jonas die Hinwendung des Erfurter Humanistenkreises zu -»Erasmus. Während seiner Reise zu Erasmus (1519), die auf die vom sächsischen Kurfürsten geförderte Zusammenführung Luthers und des großen Humanisten zielte, wurde Jonas zum Rektor in Erfurt gewählt. Die humanistische Universitätsreform erreichte zu dieser Zeit ihren H ö hepunkt. Wesentliche Anstöße für den Übergang zur Theologie vermittelte Erasmus. Wirksame Anregungen für die Verbindung von Humanismus und reformatorischer Theologie verdankte Jonas dem Luther folgenden Prior des Augustinerklosters Johann Lang. Dieser führte ihn in die griechische Sprache ein. Der Übertritt zur Theologie mit dem Beginn biblischer Vorlesungen (Korintherbriefe) brachte noch nicht den Anschluß an Luther und die Reformation. Erasmus blieb zunächst auch theologisch für Jonas der Lehrmeister. Wirksam wurde für ihn dann aber die Ausstrahlung der Leipziger Disputa-

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tion. Jonas gehörte zu den Verächtern ->Ecks. Etwa seit 1520 (erstes Schreiben Luthers an Jonas) verstärkte sich offenbar für ihn die Anziehungskraft der Wittenberger Theologie. Im Januar 1521 wurden durch Goedes Tod dessen Kirchenrechtsprofessur und das Propstamt am Allerheiligenstift in Wittenberg vakant. Die Frage der Wiederbesetzung erlangte Bedeutung im Rahmen der Universitätsreform. Obwohl Spalatin sofort Jonas empfahl, faßte der Kurfürst zunächst Mutian als Kandidaten ins Auge. Dieser empfahl seinerseits den bereits hochangesehenen Jonas auf das wärmste. Mit der demonstrativen Begleitung Luthers zum ->Wormser Reichstag (April 1521) bekundete Jonas seinen Anschluß an den Wittenberger Reformator, den er in den von ihm verfaßten Acta et res gesta Doctoris Martini Lutheri eindrücklich bekräftigte. Bemühungen des Erasmus, ihn vom vollen Anschluß an Luther und die Wittenberger Reformation zurückzuhalten, blieben erfolglos. Die fortschreitende Lösung aus humanistischen Bindungen erreichte jedoch erst im Herbst 1527 mit der endgültigen Abkehr von Erasmus klare Konturen. Sofort nach dem Amtsantritt als Propst in Wittenberg (6.6.1521) bemühte sich Jonas darum, von der als Gewissensbelastung empfundenen Verpflichtung zu Vorlesungen über kanonisches Recht entbunden zu werden. Seine Interessen zielten auf den gänzlichen Übertritt zur Theologie. Nach längeren Verhandlungen wurde eine seinen Vorstellungen gemäße Regelung (Trennung von Propstamt und juristischer Professur) erreicht. Nach Promotion zum Licentiaten (24.9.) und zum Doktor der Theologie (14.10.) wurde der Stiftspropst Mitglied der Theologischen Fakultät, der er von 1523-1533 ununterbrochen als Dekan vorstand. Das Rektorat führte er im Sommersemester 1526 sowie jeweils im Wintersemester 1530 und 1536. Als Propst wurde Jonas alsbald in die auch von ihm leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen um die Stiftsreform einbezogen. Hier wie in der Wittenberger Reformbewegung trat er, überzeugt von deren Übereinstimmung mit Luthers Schriften, sehr engagiert auf, war jedoch zu Kompromissen oder zeitweiligem Einhalten bereit. Am 9.2.1522 heiratete Jonas, beeindruckt von —»Karlstadts Beispiel, Katharina Falk aus Bleddin bei Wittenberg. Den Bildersturm im Frühjahr 1522 mißbilligte er, zeigte aber im Gesamtverhalten gewisse Schwankungen. Nach Luthers Rückkehr von der Wartburg vertraute er sich offenbar gern dessen Führung an. Bewährungsfeld der wachsenden Freundschaft zwischen beiden wurden die verstärkten Bemühungen um die Stiftsreform. Von Luther wurde er dabei gegen Vorwürfe in Schutz genommen. Die Auseinandersetzungen um die Stiftsreform fanden Ende 1524 nach dramatischer Zuspitzung (durch Luther!) mit der von Jonas und dem Stadtpfarrer —»Bugenhagen erarbeiteten Gottesdienstordnung für das Stift ihren Abschluß. Das Predigtamt an der Schloßkirche und Lehrverpflichtungen an der Universität standen in diesen Jahren im Vordergrund seiner Tätigkeit in Wittenberg. Über den Römerbrief las er 1523, seine auf eine Vorlesung zurückgehenden Annotationes zu Act publizierte er 1524; 1529 war er mit einer Psalmenvorlesung befaßt. Luthers schweren Zusammenbruch 1527 hat er in freundschaftlicher Anteilnahme miterlebt und darüber berichtet. Während der Pest suchte er mit der Familie Zuflucht in Nordhausen. Luther entbehrte den längst voll in die Arbeits- und Lebensgemeinschaft der Wittenberger Theologen integrierten Freund in dieser Zeit sehr. Seit Oktober 1528 war Jonas an den kursächsischen Visitationen beteiligt. Auf dem praktischen Arbeitsfeld entfaltete er seine besonderen Fähigkeiten. In den einsetzenden Abendmahlsstreitigkeiten (-+ Abendmahl III) trat er zwar nicht mit eigenen Beiträgen hervor, bemühte sich jedoch, soweit möglich, um Vermittlung (Luther >Bucer). Am -»Marburger Religionsgespräch nahm er als aufmerksamer und sachkundiger Beobachter teil. An den Vorbereitungen für den Augsburger Reichstag 1530 war er beteiligt. In Augsburg stand er ->Melanchthon zur Seite, fand aber neben mancherlei Aktivitäten noch Zeit, Luthers Jona-Kommentar zu übersetzen. In zahlreichen Briefen informierte er Luther auf der Coburg über den Gang der Dinge, aber auch über periphere Ereignisse des Reichstages. Seine Mitarbeit im Kreis der Wittenberger Theologen einschließlich der Bibelübersetzung (Entwurf für Tob), seine von den Reformatoren hochgeschätzten Übersetzungen ihrer Schriften (u.a. De servo arbitrio-, Loci communes), sein umfängliches und umsichtiges

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Wirken beim Aufbau reformatorischen Kirchenwesens in Kursachsen (Konsistorialordnung), in die er vor allem auch seine juristischen Kenntnisse einbringen konnte, seine Tätigkeit als Berater der anhaltinischen Fürsten (seit 1532; weit über 100 Briefe seit 1534) mit zeitweiliger Wirksamkeit in Zerbst (Kirchenordnung), seine Teilnahme an den Verhandlungen mit einer englischen Gesandtschaft Anfang 1536, reformatorische Predigttätigkeit in Naumburg (1536) und nach 1539 vielfältiger Einsatz bei der Einführung und Sicherung der Reformation im Herzogtum Sachsen (Kirchenordnung) sind wesentliche Stationen seines Wirkens von Wittenberg aus in diesen Jahren. Seit 1529 war er längere Zeit in heftige Auseinandersetzungen mit G. -»Witzel verwickelt. M i t Luther verband ihn eine beiderseitig hochgeschätzte menschlich warme Freundschaft, die sich auch auf die Familien erstreckte. Als sich im Frühjahr 1541 durch die markante Schwächung der Position Kardinal Albrechts (-»Albrecht von Mainz) günstige Bedingungen für die bisher von diesem unterdrückte Einführung der Reformation in der Saalestadt ergaben, begann Jonas im Auftrage des sächsischen Kurfürsten eine zunächst befristete Tätigkeit in Halle. Trotz kräftigen Widerstandes machte die Reformation in der Stadt unter seiner energischen Führung gute Fortschritte. J o n a s ' Aufenthalt in Halle wurde mehrfach verlängert und mündete schließlich in eine Tätigkeit auf Dauer. Laut Urkunde vom 1 1 . 1 2 . 1 5 4 4 wurde er zum Pfarrer an St. Marien und zum Stadtsuperintendenten berufen. Peinlichkeiten waren in den voraufgegangenen Verhandlungen wegen der Aufgabe der Wittenberger Ämter entstanden, da sich Jonas - wie auch sonst gelegentlich - zu sehr auf seinen materiellen Vorteil bedacht zeigte. Anlaß zu Kritik und Nachrede boten auch seine raschen Wiederheiraten jeweils nach dem Tod seiner ersten (Dezember 1542) und seiner zweiten Frau (Juli 1549) im Juni 1543 bzw. M a i 1550. Wichtig für die kirchliche Neugestaltung in Halle wurde die von J o n a s 1543 verfaßte, am Wittenberger Vorbild orientierte und seine Erfahrungen auf diesem Gebiet verratende Kirchenordnung. Die Festigung der Reformation in der Stadt ist ohne sein Wirken nicht denkbar. Sie erreichte 1546 ihren Höhepunkt. Im Januar 1546 begleitete Jonas Luther auf seiner Reise nach Eisleben. Dort stand er dem Reformator in seinen letzten Stunden zur Seite. Luthers Tod traf ihn schwer. Der Ausgang des -»Schmalkaldischen Krieges brachte für Jonas, der sich heftig gegen die späteren Sieger geäußert hatte, bittere Demütigungen und notvolle Jahre. Der Ausweisung durch - » M o r i t z von Sachsen im November 1546 folgte zunächst im Januar 1547 die Rückkehr mit dem vollen Sieg der Reformation in der Stadt. Nach der Niederlage der Evangelischen floh J o n a s vor den heranrückenden kaiserlichen Truppen nach Nordhausen. Durch Vermittlung u. a. auch Melanchthons erhielt er eine Berufung nach Hildesheim. Von dort strebte er jedoch mit aller Kraft nach Halle zurück. Fürsprache von verschiedener Seite ermöglichte ihm die Rückkehr im M ä r z 1548. In den Interimsstreitigkeiten (-»Interim) bemühte Jonas sich zunächst um eine mittlere Position zwischen M e lanchthon und den strengen Lutheranern, näherte sich dann aber offenbar den letzteren — mit der Folge einer gewissen Abkühlung der Freundschaft zwischen jenem und ihm. Seine Hoffnung auf Wiedereinsetzung in sein Amt in Halle erfüllte sich nicht. Nach zermürbender Wartezeit erhielt der sichtlich gealterte und gedemütigte Mitarbeiter Luthers eine Berufung als Superintendent und Hofprediger nach Coburg. Hervorgetreten ist J o n a s noch einmal im Streit um —»Oslander. M i t dessen Rechtfertigungslehre setzte er sich in einem längeren Gutachten auseinander. Einer pfarramtlichen Tätigkeit in Regensburg (1552) folgte bereits im J a h r darauf die Übernahme der Pfarre in Eisfeld, die der inzwischen verstorbene Herzog Johann Ernst für ihn bestimmt hatte. Nach den unsteten und enttäuschenden Jahren, in denen der gesundheitlich bereits in Wittenberg anfällige J o n a s (Steinleiden) wiederholt unter Anfechtungen gelitten hatte, starb er am 9 . 1 0 . 1 5 5 5 , wenige Tage nach dem Abschluß des —»Augsburger Religionsfriedens. 2. Werk Jonas hat vergleichsweise wenige Schriften verfaßt. Seine vielfältige praktische Tätigkeit bei der Gestaltung reformatorischen Kirchenwesens, für die ihn seine juristischen

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Kenntnisse, Lebenserfahrung und Geschick als Verhandlungspartner besonders befähigten, sowie seine hochgeschätzte Ubersetzertätigkeit haben eindeutig überwogen. Seine Arbeitsleistung an der Universität wurde vom sächsischen Kanzler —• Brück 1544 kritisch eingeschätzt. Seine ersten literarischen Verdienste als reformatorischer Theologe erwarb er in der ihm von Luther überlassenen polemischen Auseinandersetzung mit Johann ->Fabri über die Priesterehe. Weder seine Annotationes zu Act noch seine angesichts der Türkengefahr 1529 verfaßte Auslegung von Dan 7 oder andere Schriften haben nachhaltigeren Eindruck hinterlassen 1 . Sie zeigen - wie seine Briefe und Vorworte zu Übersetzungen - Jonas als ganz in den Bahnen der Wittenberger Theologie denkenden, aber keineswegs dogmatisch starren reformatorischen Theologen und Kirchenmann. Als Polemiker unterscheidet er sich kaum vom Stil der Zeit. Als Prediger erfreute er sich eines ausgezeichneten Rufes. Drei gedruckte Predigten ( 1 5 4 3 , 1 5 4 6 , 1 5 5 4 ) bieten jedoch keine ausreichende Grundlage für die Beurteilung seiner Predigttätigkeit. Mehrere Kirchenordnungen bezeugen seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Sein umfänglicher Briefwechsel stellt eine wertvolle reformationsgeschichtliche Quelle dar. 3.

Nachwirkung

Eine größere Nachwirkung blieb dem im Schatten Luthers stehenden Jonas versagt. M a n bewahrte ihm als Freund und Mitarbeiter Luthers, als vielfältig engagiertem und durchaus erfolgreichem Praktiker, als Übersetzer von Schriften der Reformatoren sowie als Reformator von Halle ein ehrendes Gedächtnis. Als „den Vater der lutherischen O r t h o d o x i e " (Delius 100) wird man ihn wohl schwerlich bezeichnen können. Ungerechtfertigt erscheint die Behauptung (Delius 128), er sei nach dem Urteil der Zeitgenossen auf den 3. Rang neben Luther und Melanchthon zu setzen. Durch sein Wirken hat er jedoch einen unverlierbaren Platz in der Geschichte der lutherischen Reformation erworben. Anmerkung 1

Einige seiner Schriften sind jedoch in der 1. Hälfte des 16. J h . in S o p r o n - O e d e n b u r g (Ungarn) und 1567 in Utrecht n a c h w e i s b a r . Käroly Karner, Eine Sammlung von Erst- u. Frühdrucken aus der Reformationszeit: T h L Z 97 (1972) 6 9 - 7 6 . - B . A . Vermaseren, An u n k n o w n b o o k b i n d e r and bookseller of Z w o l l e : Gelis van B a t h m a n (ca. 1567), Teil 1: Q u a e r e n d o 10 ( 1 9 8 0 ) ' 1 1 3 .

Quellen Verzeichnisse der von J o n a s verfaßten Schriften und Übersetzungen in den Biographien von Walter Delius, s . u . , 129 ff und M a r t i n Ernst L e h m a n n , s . u . , 196 f. - Kirchenordnungen: Emil Sehling (Hg.), Die Ev. Kirchenordnungen des X V I . J h . , Leipzig 1 1 9 0 2 , II 1904. - D e r Briefwechsel des J u s t u s J o n a s , ges. u. b e a r b . v. G u s t a v Kawerau, 2 Bde., Halle 1884/85 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, 17,1.2), N a c h d r . Hildesheim 1964. - E r g ä n z u n g e n zum Briefwechsel sind zusammengestellt und bibliographisch nachgewiesen bei Walter Delius, Ergänzungen zum Briefwechsel des J u s t u s J o n a s : A R G 4 2 (1951) 1 3 6 - 1 4 5 . - Briefwechsel zw. J o n a s u. Kurfürst J o h a n n Friedrich bei Walter Delius, J o n a s - B i o g r a p h i e , s . u . , 144ff. Z u r Überlieferung bisher unbekannter N a c h s c h r . v. Schriftauslegungen und Z u s a m m e n f a s s u n g e n einiger Predigten s. E . Koch, Hs. Überlieferungen aus der R e f o r m a t i o n s z e i t in der Stadtbibl. Dessau: A R G 7 8 (1987) 3 2 1 - 3 4 5 .

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Joris

238

Die Reformationsgesch. der Stadt Halle a. S., Berlin 1953 (BKGD 1) (Lit.). - Ders., Art. Jonas, Justus: NDB 10 (1974) 593 f. - Ernst Günther Förstemann, KS zur Gesch. der Stadt Nordhausen, Nordhausen 1855. - G. Frank, Art. Jonas, Justus: ADB 14 (1881) 4 9 2 - 4 9 4 . - Walter Friedensburg, Gesch. der Univ. Wittenberg, Halle 1917 (Reg.). - Fritz Hallbauer, Mutianus Rufus u. seine geistesgesch. Stellung, Leipzig 1929 (Beitr. zur Kulturgesch. des MA u. der Renaissance 38). - H . G . Hasse, Justus Jonas: Moritz Meurer, Altväter der luth. Kirche 8, Elberfeld 1862. - Friedrich Hauss, Väter der Christenheit, Wuppertal 2 1 9 6 8 , 1 8 1 - 1 8 4 . - R . Jordan, Die Familienbeziehungen des Propstes Justus Jonas zur Stadt Mühlhausen: ZVKGS 7 (1910) 1 5 6 - 1 6 1 . - P . Kalkoff, Humanismus u. Reformation in Erfurt 1 5 0 0 - 1 5 3 0 , Halle 1926. - Gustav Kawerau, Art. Jonas, Justus: RE 3 9 (1901) 3 4 1 - 3 4 6 . Ders., Der Streit über die Reliquiae Sacramenti in Eisleben 1543: Z K G 33 (1912) 2 8 6 - 3 0 8 . - Erich Kleineidam, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Gesch. der Univ. Erfurt im MA 1392-1521, II 1460-1521, 1969 (EThSt 22) (Reg.). - Felix Köster, Beitr. zur Reformationsgesch. Naumburgs von 1525-1545: ZKG 22 (1901) 1 4 5 - 1 5 9 . 2 7 8 - 3 3 0 . - Carl Krause, Helius Eobanus Hessus. Sein Leben u. seine Werke, 2 Bde., Gotha 1879, Nachdr. Nieuwkoop 1963. - Hans-Günter Leder, Luthers Beziehungen zu seinen Wittenberger Freunden: Leben u. Werk Martin Luthers v. 1526 bis 1546. FG zu seinem 500. Geburtstag, hg. v. Helmar Junghans, Berlin 1983 = Göttingen 1983, I, 4 1 9 - 4 4 0 ; II, 8 6 3 - 8 7 0 (sowie Reg.). - Martin Ernest Lehmann, Justus Jonas. A Collaborator with Luther: LuthQ 2 (1950) 1 8 9 - 2 0 0 . - Ders., Justus Jonas, loyal reformer, Minneapolis 1963 (Lit.). - K. Meyer, FS zur Jubelfeier des 400-jährigen Geburtstages des Justus Jonas, Nordhausen 1893. - Nikolaus Müller, Die Kirchen- u. Schulvisitationen im Kreise Beizig 1530 u. 1534 . . . , 1904 (JBrKG 1). Ders., Die Wittenberger Bewegung 1521 u. 1522, Leipzig 2 1911. - Das tausendjährige Nordhausen, Nordhausen, I 1927. - Heiko Augustinus Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst u. Judenplage im Zeitalter v. Humanismus u. Reformation, Berlin 1981 2 1983. - K. Pallas, Urkunden das Allerheiligenstift zu Wittenberg betreffend, 1 5 2 2 - 1 5 2 6 : ARG 12 (1915) 1 - 4 6 . 8 1 - 1 3 1 . - Theodor Presset, Justus Jonas, 1862 (LASLK 8). - Albrecht Ritsehl, Georg Witzeis Abkehr vom Luthertum: ZKG 2 (1878) 3 8 6 - 4 1 7 . - Martin Schellbach, Justus Jonas, Essen 1941. - Ders., Kampf u. Sieg der Reformation in Halle. FS zur 400-Jahr-Feier der Einf. der Reformation 1541 - 1 9 4 1 , Halle 1941. — Hans Volz, Vorwort zu: D. Martin Luther, Biblia. Das ist die gantze Hl. Schrift Deudsch auffs new zugericht, hg. v. Hans Volz, 2 Bde., München 1974. - Philipp Wackernagel, Das dt. Kirchenlied v. der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jh., Leipzig, III 1870, Nachdr. Hildesheim 1964. - Werner Zeutschel, Nikolaus Kindt u. Justus Jonas. Die Reformatoren des Eisfelder Landes: Ach, Herr Gott, wie reich tröstest du. Luthers Freunde u. Schüler in Thüringen, bearb. v. Karl Brinkel/Herbert von Hintzenstern, Berlin, II 1962, 9 2 - 1 2 2 . H a n s - G ü n t e r Leder

Joris, David (ca. 1. Leben

1501-1556)

2. Werk

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 241)

1. Leben David J o r i s w u r d e 1 5 0 1 oder 1 5 0 2 w a h r s c h e i n l i c h in F l a n d e r n g e b o r e n . Sein Vater, J o r i s (Georg), w a r ein kleiner K a u f m a n n . E r g a b seinem S o h n den N a m e n David, weil er selbst als M i t g l i e d eines K a m m e r t h e a t e r s gerade die R o l l e des alttestamentlichen Königs spielte. D a v i d wurde zum G l a s m a l e r ausgebildet und v e r b r a c h t e u m 1 5 2 0 einen Teil seiner Gesellenzeit in Frankreich und E n g l a n d . 1 5 2 4 ließ er sich in D e l f t , der Heimatstadt seiner M u t t e r , nieder und heiratete D i r k g e n W i l l e m . E r w a r ein eifriger Verfechter der frühen R e f o r m a t i o n , und als er a m H i m m e l f a h r t s t a g 1528 öffentlich eine H o s t i e n p r o z e s s i o n kritisierte, w u r d e er zu Auspeitschung, Durchbohrung der Z u n g e und dreijähriger V e r b a n n u n g aus Delft verurteilt. I m W i n t e r 1534/35 empfing D a v i d die E r w a c h s e n e n t a u f e und b e k a m von O b b e Philips den Auftrag zu lehren. W ä h r e n d des Gottesreiches zu M ü n s t e r lehnte David bewaffnete A k t i o n e n holländischer T ä u f e r zur Unterstützung M ü n s t e r s a b , w a n d t e sich j e d o c h nicht gegen das Königreich M ü n s t e r selbst. Davids Aufstieg begann im Z u s a m m e n h a n g mit einem T r e f f e n der führenden Täufer in B o c h o l t / W e s t f a l e n im August 1 5 3 6 . A u f diesem B o c h o l t e r Treffen hoffte m a n wieder Einigkeit zu erzielen, n a c h d e m der Fall M ü n s t e r s 1535 unter den seit 1 5 3 0 von M e l c h i o r —»Hoffman angeführten a p o k a l y p t i s c h e n T ä u f e r n zu Spaltungen geführt hatte. Die hauptsächlichen Streitfragen w a r e n die für das M ü n s t e r i s c h e T ä u f e r t u m c h a r a k t e r sti-

Joris

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sehen Züge: die gewaltsame Errichtung eines Gottesreichs auf Erden und die Polygamie. David Joris umging diese Fragen und legte das Hauptgewicht auf die Hoffman eigene Inkarnationslehre, die Übung der Erwachsenentaufe und eine einstweilige Wahrung der öffentlichen Sicherheit als Konsensbasis für alle Täufer in Norddeutschland und den Niederlanden mit Ausnahme der Terrorbanden Jan van Batenburgs. Ermutigt durch seinen Erfolg als Vermittler in Bocholt, strebte David nun nach der prophetisch-charismatischen Führerschaft, die von Anfang an ein Merkmal der Täuferbewegung in Norddeutschland und den Niederlanden gewesen war. Die Anführer, leicht zu beeindrucken und oft durch ihre Bewunderer angefeuert, hatten sich als die endzeitlichen Boten Elia oder Henoch oder als den verheißenen David messianischer Weissagung ausgegeben. Ein Brief einer Glaubensschwester, möglicherweise Annekin Jans, versetzte David in einen über eine Woche andauernden visionären Zustand. Diese Zeit der Ekstase im Dezember 1536 betrachtete David später als Offenbarung seiner einzigartigen, persönlichen Berufung, in den letzten Tagen vor dem Weltende die Herde Christi zu versammeln. In seinem Kampf um die Führerrolle unter den Taufgesinnten hatte David anfangs Erfolg bei den apokalyptischen Streitern und Polygamisten, bei Überlebenden des Gottesreiches zu Münster, die sich in Oldenburg zusammengefunden hatten, und bei ehemaligen Gefolgsleuten Jan van Batenburgs. Batenburg hatte in der Gerichtsverhandlung vor seiner Hinrichtung 1538 auf David als „das H a u p t " der Täufer hingewiesen. Trotzdem gelang es David auf einer Reise nach Straßburg im Juni 1538 nicht, die Anerkennung der engsten Anhänger Melchior Hoffmans zu gewinnen. Ein Briefwechsel mit -»Menno Simons nach dem Erscheinen von dessen Fundamentbuch (1539) blieb für David ebenfalls fruchtlos. Menno, der nach 1540 als leitender Ältester der nunmehr friedlichen Täufer der Niederlande und Norddeutschlands hervortrat, bezeichnete David abfällig als Anführer einer „korrupten Sekte" Münsterscher Prägung und gottlosen Heuchler. Im Zuge schwerer Verfolgungen der Davidschen Partei in den Jahren 1538 und 1539 wurden seine Mutter und viele seiner Anhänger in Delft hingerichtet. Danach fand David selber mit seiner Familie von 1539 bis 1543 Zuflucht in Antwerpen. Damals begann er seine Lehre vollständig zu spiritualisieren. Das bedeutete den Verzicht auf die Erwachsenentaufe, äußerliche Konformität mit den etablierten Kirchen, in denen seine Anhänger jeweils lebten, und ein Verblassen seiner apokalyptischen Vorstellungen. Von wohlhabenden Gleichgesinnten gingen vermehrt großzügige Spenden ein, die in erster Linie für die Veröffentlichung seiner zahlreichen Schriften bestimmt waren, so daß vor allem die Erstausgabe des Wonderboeck ca. 1543 erscheinen konnte. Die Zusicherung finanzieller Unterstützung durch Joachim van Berchen, einen vornehmen Gefolgsmann, ermöglichte David Joris, 1544 mit seiner Frau und elf Kindern nach Basel überzusiedeln. Unter dem Namen „Johann van Brügge" gab er sich als Kaufmann und Glaubensflüchtling aus den Niederlanden aus, ließ sich einbürgern und paßte sich nach außen hin der Reformierten Kirche an. Über zwölf Jahre lang führte David so in Basel das Leben eines Ehrenmannes und war u.a. mit Sebastian -»Castellio befreundet. Er setzte seine literarische Tätigkeit fort, indem er das Wonderboeck für eine Neuauflage 1551 überarbeitete, mehr als zweihundert einzelne Titel veröffentlichte und mit einem wahrhaft internationalen Kreise von Anhängern in den Niederlanden, Deutschland, Dänemark und Frankreich in Briefwechsel stand. Streitigkeiten unter seinen Anhängern und der Tod seiner Frau setzten seinem Leben ein vorzeitiges Ende; er starb am 25. August 1556. Dieselben Streitigkeiten, genährt durch wachsende Zweifel seines Schwiegersohnes und eindrucksvollsten Sprechers, Nikolaas Blesdijk, führten nach Davids Tode zur Aufdeckung seiner geheimgehaltenen Vergangenheit als Sektenführer. Nach einem Gerichtsverfahren wurde sein Leichnam 1559 exhumiert und zusammen mit seinem Bild und einer Sammlung seiner Bücher verbrannt. 2. Werk David Joris schrieb, wie seine Einbildungskraft ihn leitete, ohne logische Ordnung

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oder thematische Entwicklung: Für ihn entsprach diese Methode dem Walten des Heiligen Geistes. Wegen ihres großen Umfangs und ihrer gedanklichen Unordnung bieten Davids Schriften beträchtliche Interpretationsprobleme. In Davids Schriften zeigt sich durchweg ein deutlicher mystischer Einschlag; im Vordergrund stehen — charakteristisch für die spätmittelalterliche deutsche Tradition — die innere Reinigung und Abtötung. Höchstwahrscheinlich kannte David die —>Theologia Deutsch. Er las sicherlich Melchioritische Traktate, vor allem die des Münsterer Propagandisten Bernhard Rothmann. Dieser behandelte als erster die Themen der Restitution und des verheißenen David in gemeinverständlicher Weise, und David Joris benutzte sie, entsprechend abgeändert, für seine eigenen Zwecke. David kannte ebenfalls die Geschichtsbibel von Sebastian ->Franck, die überall unter den norddeutschen und holländischen Täufern im Umlauf war. Er nahm Francks Geschichtsphilosophie und spiritualistische Ekklesiologie in besonders tiefgründiger Weise auf, und hier lag, vor allem gegen Ende seiner Laufbahn, eine Wurzel seiner spiritualisierenden Denkweise, die zur Mäßigung seines Bewußtseins prophetischer Einzigartigkeit führte, seinen Endzeitglauben in den Hintergrund treten ließ und den asketischen Zug seines Mystizismus allmählich abschwächte. Davids Denken wandelte sich im Laufe seines Lebens mehrmals grundlegend, wie es etwa die Überarbeitungen in der zweiten Ausgabe des Wonderboeck zeigen. Den Mittelpunkt der Lehre Davids bildet seine Schilderung der Vision, in der er seine Sendung bestätigt fand. Zuerst sah er sich selbst inmitten der Gotteskinder, die wie glückliche kleine Kinder umherhüpften und tanzten. Dann betraten die irdischen Machthaber den Schauplatz, fielen, als sie die glücklichen Kinder erblickten, in Schrecken und Verzweiflung zu Boden, übergaben darauf ihre Insignien den Kindern und baten sie um ihren Schutz. Es folgte eine von David als greifbar beschriebene Vision, die er im Wachzustand empfing. Er war umgeben von nackten Gestalten, vermutlich beiderlei Geschlechts. Dieser Anblick gab ihm ein solches Gefühl der Befreiung, daß er laut ausrief: „Herr, nun darf ich alles sehen!" Offenbar ging es in dieser Vision um die in Christus wiedergeborenen Christen der letzten Tage sowie um die beiden schon in Bocholt diskutierten Fragen des Reiches der Heiligen auf Erden und der Ehe unter den Wiedergeborenen. Was die Unterwerfung der weltlichen Herrscher unter die Heiligen betraf, so erklärte David unter Hinweis auf I Kor 6 , 2 - 3 , die Heiligen würden zweifellos in den letzten Tagen die Welt richten, denn Paulus habe vorausgesagt, daß sie nicht nur die Welt, sondern auch die Engel richten würden. Die Rolle, die David in diesem Reich zufallen sollte, erklärte sich aus messianischen Prophezeiungen. Diesen zufolge durchlaufe die Welt drei Zeitalter, und jedes besitze seinen Helden David. Der David des Alten Testaments sei der Prototyp Christi gewesen. Christus, der verheißene David des zweiten Zeitalters, sei der wahre Gott und Heiland. Der geringste von allen aber sei der dritte David, auch „Christus David" genannt, ein Bote und Diener Christi, der erste unter seinesgleichen in der endzeitlichen Versammlung der Wiedergeborenen. Das genaue Verhältnis seiner Person zu diesem „Christus D a v i d " ließ David Joris absichtlich ungeklärt. Dagegen legte er anfänglich auf seine einzigartige Berufung wesentlich mehr Gewicht als auf die Gleichheit der wiedergeborenen Kinder Gottes. Zudem übertraf das dritte Zeitalter das zweite, neutestamentliche durch höhere Weisheit, genau wie das Evangelium das mosaische Gesetz hinter sich gelassen hatte; und dies wurde nicht durch viele apostolische Menschen, sondern in der Person eines einzigen Mannes offenbart. David Joris nahm die Weissagungen Bernhard Rothmanns über den verheißenen David wieder auf, verzichtete dagegen auf Rothmanns Erwartung eines innerweltlichen Gerichts über die Gottlosen. Die Unterwerfung der weltlichen Regenten unter die Kinder Gottes verstand er „geistlich". In die Zeit seiner Flucht nach Basel fällt die allmähliche Spiritualisierung seiner Lehre und damit auch des apokalyptischen dritten Zeitalters überhaupt. Die letzte Auseinandersetzung zwischen Frommen und Gottlosen wurde nun verinnerlicht als Überwindung des Selbst und Nachahmung Christi durch eine neue Geburt. Die neue Geburt wurde zum gemeinsamen Ziel, so daß die über verschiedene Län-

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der und Religionen verstreuten Glieder der einen geistlichen Kirche in dem M a ß e , wie sie David J o r i s ' geistliche Weisheit erlangten, auch Anteil am geistlichen Wesen des dritten David hatten. Bildet I Kor 6 , 2 - 3 den Schlüssel zu Davids erster Vision, so steht I Kor 7,29 hinter der zweiten. Als Ergebnis des erregten Disputs in B o c h o l t über die Ehepraxis kam David schließlich zu der Folgerung, daß man in den letzten Tagen Frauen haben müsse, als hätte man sie nicht. Wirklich wichtig für Gottes Kinder war die Überwindung des Schamgefühls, denn „wie Adam und Eva zuerst, sind sie zuletzt". Wesentlich für die Überwindung des Schamgefühls war das öffentliche Sündenbekenntnis, das David Joris gegen den W i derstand der Straßburger Melchioriten und der Mennoniten nachdrücklich forderte. Der David der Psalmen hatte die „Sünden seiner J u g e n d " , „all seine Begierden" eingestanden; für David Joris war die menschliche Seele durch fleischliche Begierde verdorben und konnte nur durch die tiefste Selbsterniedrigung der öffentlichen Beichte gereinigt werden. Er erstrebte ein wiedergeborenes Volk, unschuldig wie Adam und Eva nicht nur in der Überwindung des Schamgefühls, sondern auch im Sieg über die triebhafte Leidenschaft. Eine heilige Zeugung, in der beide Partner sich im Dienste Gottes statt im Genuß fleischlicher Lust vereinigten, war eine Lieblingsvorstellung Bernhard R o t h m a n n s gewesen; und sie diente ihm in der T a t als Argument für die Rechtfertigung der Polygamie im täuferischen Münster. Unter Davids Gefolgschaft galt allgemein die Einehe, und insbesondere seine prominentesten Anhänger lebten m o n o g a m . Dennoch spiritualisierte David herausragende T h e m e n aus R o t h m a n n s Ehelehre. Für ihn übertraf die adamitische Unschuld der wiedergeborenen Davididen in der dritten und höchsten, der geistlichen Heilsveranstaltung die übliche, im Neuen Testament erlaubte Ehe ebenso, wie die neutestamentliche Ehe auf einer höheren Stufe stand als die alttestamentliche. 3.

Nachwirkung

David J o r i s muß, zusammen mit M e n n o Simons, als Führer des gemäßigten apokalyptischen Melchioritischen Täufertums nach dem Fall Münsters betrachtet werden. D a vids -»Spiritualismus und seine Bereitwilligkeit, sich den gottesdienstlichen Bräuchen der etablierten Kirchen zu fügen, ließ ihn mit M e n n o aneinandergeraten, der eine separatistische Ekklesiologie und eine nonkonformistische Lebensführung verfocht. M e n n o übern a h m die Führung unter den Gegnern der Kindertaufe in Norddeutschland und den Niederlanden, während David eine nikodemitische Tradition begründete. Anhänger von David J o r i s gab es Ende des 16. J h . in Overijssel und im 17. J h . noch in Holstein. Davids Schriften und sein Gedächtnis gingen in die Geschichte des -»Pietismus ein, nachdem Gottfried - » A r n o l d wichtige Davidsche Quellen veröffentlicht hatte. Erst die Wissenschaft des zwanzigsten J h . hat, die Geschichte der T ä u f e r von der Kirchengeschichte der M e n n o n i t e n unterscheidend, die Gestalt des David J o r i s , sei es als Wortführer der Glaubensfreiheit oder als prominentesten Melchioritischen Täuferführer nach dem Fall M ü n sters, stärker in den Mittelpunkt gerückt. Quellen Nikolaas Blesdikius, Historia vitae, doctrinae ac rerum gestarum Davidis Georgii haeresiarchae, Deventer 1642. - David Joris sonderbare lebens = beschreibung aus einem manuscripto: Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen = und Ketzer = Historie, Frankfurt a . M . 1729, N a c h d r . Hildesheim 1967, II, 7 0 3 - 7 3 7 . - Twistreden tot Straetsburch: Elsaß T.III. Stadt Straßburg 1 5 3 6 - 1 5 4 2 , hg. v. H . G . R o t t / S . N e l s o n / M . Lienhard, 1986 ( Q G T 15).

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Josaphat

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James M . Stayer Josaphat Josaphat, hebr.: phösäpät ( J H W H hat zum Recht verholfen), griech.: Josaphat, Luther: Josafat, Loccumer Richtlinien: Joschafat. Vierter König Judas, 8 7 1 - 8 4 9 v.Chr. (vgl. T R E 12, 7 1 1 f zu den chronologischen Fragen). Die Überlieferung zu Josaphat findet sich in I Reg 15,24; 2 2 , 1 - 4 0 . 4 1 - 5 1 ; II Reg 3 , 1 - 2 7 ; 12,19; I Chr 3,10; II Chr 1 7 , 1 - 2 0 , 3 7 ; 21,1. Die Problematik besteht darin, daß Josaphat, nur noch ->Hiskia und - > J o s i a vergleichbar, von den Deuteronomisten positiv beurteilt, eine bis in späte Zeit reich wachsende Überlieferung aufzuweisen hat, was sich in J o s Ant I X § 44 so widerspiegelt, daß über sein prächtiges Begräbnis in Jerusalem berichtet wird, „denn er war ein Nachahmer (Mimetes) der Werke Davids". Für eine Darstellung des historischen Josaphat ist folglich nach Kern und Ausgangspunkt der Überlieferung zu fragen. In einem zweiten Schritt müssen die Wege der Überlieferung nachgezeichnet und plausibel gemacht werden. 1. Ausgangspunkt ist der Abschnitt I Reg 2 2 , 4 1 - 5 1 , der die deuteronomistische Rahmennotiz in Verbindung mit älterem Gut enthält. Nach dem Synchronismus folgen die üblichen Angaben über das Alter bei der Thronbesteigung (35 Jahre), die Regierungsdauer (25 Jahre), die Mutter (Asuba, Tochter des Schilhi) und die positive Beurteilung entsprechend seinem Vater Asa mit der Einschränkung des Weiterbestehens der Höhen (V. 41—44). Vor der Abschlußnotiz begegnet eine einzige Angabe: die Notiz über eine Versöhnung mit den Königen von Israel (G plur.; vgl. Würthwein z.St.) (V.45). Die Schlußnotiz (V. 46.51) ist nach dem Verweis auf die Quelle durch weitere Angaben aus seiner Regierungszeit unterbrochen. Erst dann folgt die Notiz über Begräbnis und Nachfolger. Diese letztgenannten Angaben dürften Nachträge darstellen, was noch nicht bedeutet, daß sie nicht für das 9. J h . v.Chr. auswertbar sind. Die Angaben abgesehen vom deuteronomistischen Rahmen ergeben folgendes Bild: a) An üblicher Stelle und mit allen Ansprüchen auf eine aus der Quelle stammende Nachricht steht die Versöhnung mit den Königen Israels. Die Turbulenzen im Gefolge der Reichsteilung dürften schon unter Josaphats Vater Asa zu einem Ende gekommen sein (Donner, bes. 246 - 2 5 0 ) . Die Heirat von Josaphats Sohn J o r a m mit Athalja, der Prinzessin aus Samaria (II Reg 8,18), zeigt, wie tiefgreifend diese Versöhnung war. b) Die erste Angabe im Einschub betrifft eine kultpolitische Maßnahme: die Abschaffung des Rests der ,Geweihten' (kollektiv) aus der Zeit Asas, eine Notiz, die ohne die bereits redaktionellen Angaben in I Reg 14,24 (ebenso kollektiv) und 15,12 (pluralisch) nicht verständlich wäre - eine Interpretation im Duktus der deuteronomistischen Beurteilung in I Reg 22,43 f, für das 9. J h . v. Chr. also nicht auswertbar. c) Schließlich findet sich eine mehrteilige Notiz über ein gescheitertes Schiffahrtsunternehmen von Ezion-Geber (wohl GezTret Faracün) aus nach Ofir. V. 48 hält fest, daß Edom damals unter einem judäischen Statthalter stand, also noch nicht selbständiges Königreich war (Weippert, T R E 9, 294). Offensichtlich schon im Hafen selbst scheiterte das Unternehmen (zum Ofir-Handel und zur Problematik der Tarsis-Schiffe vgl. Galling passim). Nachgetragen ist, daß sich Ahasja, der Nordreichskönig, einer solchen Expedition - gemeint ist doch wohl die eben genannte - hätte anschließen wollen, was Josaphat aber ablehnte. Das Unternehmen macht deutlich, daß in der Regierungszeit von Josaphat Edom (bzw. wesentliche Teile davon) noch unter judäischer Oberherrschaft stand. Für Josaphat

Josaphat

243

bedeutete dies ein militärisch-politisches Engagement im Südosten, wobei hier keine weiteren Einzelheiten genannt sind. Festzuhalten ist, daß in diesem Zusammenhang eine Zusammenarbeit mit dem Nordreich jedenfalls zur Debatte stand - ein Hinweis auf veränderte Beziehungen. 2. Zwei längere Texte aus der deuteronomistischen Überlieferung berichten über militärische Unternehmungen im Osten, jeweils mit Beteiligung von Josaphat. In beiden Fällen handelt es sich um literarisch stark verarbeitete Berichte, in denen Josaphat sekundär genannt ist. I Reg 2 2 , 1 - 3 8 gehört in den Zusammenhang der komplexen Überlieferung der Aramäerkriege, anachronistisch der ungeliebten Omridendynastie angelastet (zu Lösungsvorschlägen Lipinski, T R E 3,596 und Donner 250). Analog verhält es sich mit II Reg 3 , 4 - 2 7 , der Erzählung über einen Feldzug des Königs von Israel mit dem König von Juda und dem König von Edom gegen Mescha von M o a b . (Für eine historische Einordnung der ursprünglich anonym überlieferten Erzählung vgl. bes. T i m m 1 7 1 - 1 8 0 [Lit.].) Rolle und Funktion von Josaphat sind in beiden Texten typisch und durchaus in der Konsequenz der überlieferten historischen Züge des Königs: Es handelt sich jeweils um israelitisch-judäische Gemeinschaftsunternehmen im Osten — wer wäre geeigneter als der König, dem die Versöhnung zugeschrieben wird. In beiden Fällen auch ist es der jahwetreue Josaphat, der jeweils nach dem wahren Propheten fragt (I Reg 22,5ff und II Reg 3,11 ff). In konsequenter Fortführung und Interpretation zeigt sich das Bild des Königs in II Chr 17—20. Abgesehen von Kap. 18, das II Reg 22,1—38 entspricht, handelt es sich weitgehend um Sondergut. Darin kennzeichnet der Chronist den positiv beurteilten König durch bestimmte Tätigkeiten, Topoi, die in der Zeit und für die Zeit der Chronik von Bedeutung sind (Welten 2 0 1 - 2 0 6 ) . In einer auch sonst in Chr begegnenden Vorwegnahme werden in 17,1 - 9 die Aspekte aufgeführt: Heerwesen (dazu V. 1 4 - 1 8 ) , Reichtum und Tribute (dazu V. 10f), Kultreform, Volksbelehrung/ Rechtswesen (dazu 1 9 , 4 - 1 1 ) . Hinzu k o m m t in V. 1 2 f eine Baunotiz (zu den Topoi und entsprechenden Parallelen vgl. Welten passim). Eine alte Sonderquelle mit einer N o t i z aus dem 9. J h . v. Chr. wird am ehesten noch im Z u s a m m e n h a n g mit der Neuordnung des Rechtswesens in 1 9 , 4 - 9 postuliert (eingehend M a c h o l z 318—340 mit Lit.). Daß J o s a p h a t seines N a m e n s wegen die Neuordnung des Rechtswesens in nachexilischer Zeit zugeschrieben wird, ist im Blick auf die beauftragten Personen in Jerusalem äußerst wahrscheinlich: u. a. Leviten, Priester, Hohepriester (Wellhausen 186; Ackroyd 453). Der Chronist ersetzt schließlich den Feldzug gegen M o a b von II Reg 3,1—27 durch den wunderhaften Feldzug in die judäische Wüste in 2 0 , 1 - 3 0 . D a ß es sich um eine bewußte Ersetzung handelt, macht das transformierte Motiv der sich angeblich und wirklich unter sich aufreibenden Feinde deutlich (vgl. II Reg 3,21 ff mit II C h r 2 0 , 2 0 f f ; zum Ganzen vgl. Welten, Topos Kriegsbericht 140-153).

So bietet sich also das Bild eines bedeutenden Königs aus dem 9. J h . v. Chr. dar, dem es gelungen ist, geordnete Verhältnisse mit dem Nordreich herzustellen; der militärisch soweit erfolgreich war, daß er Edom (noch) halten konnte, der letzte judäische König also, der den letzten Teil des davidisch-salomonischen Erbes noch bewahrte. D a ß sich die Überlieferung besonders auch dieses Königs angenommen hat, ist nicht Zufall, sondern liegt an seiner historischen Rolle und - an seinem Namen. Literatur Peter R. Ackroyd, Art. Jehoshaphat: Harper's Bible Dictionary, San Francisco 1985, 4 5 2 f. Herbert Donner, Gesch. des Volkes Israel u. seiner Nachbarn in Grundzügen II, 1986 ( A T D - Erg.bd. 4 / 2 ) . - Kurt Galling, Der Weg der Phöniker nach Tarsis in lit. u. archäolog. Sicht: Z D P V 88 (1972) 1 - 1 8 . 1 4 0 - 1 8 1 . - Siegfried H e r r m a n n , Art. Gesch. Israels: T R E 12 (1984) 6 9 8 - 7 4 0 (Lit.). - E d u a r d Lipinski, Art. A r a m ä e r u. Israel: T R E 3 (1978) 5 9 0 - 5 9 9 (Lit.). - H a n o c h Reviv, T h e Traditions Concerning the Inception of the Legal System in Israel. Signification and Dating: Z A W 9 4 (1982) 5 6 6 - 5 7 5 . - Stefan T i m m , Die Dynastie Omri. Quellen u. Unters, zur Gesch. Israels im 9. J h . v. Chr., 1982 ( F R L A N T 124). - Manfred Weippert, Art. E d o m u. Israel: T R E 9 (1982) 2 9 1 - 2 9 9 (Lit.). - Julius Wellhausen, Prolegomena zur Gesch. Israels, Berlin 6 1 9 2 7 . - Peter Welten, Gesch. u. Geschichtsdarst. in den Chronikbüchern, 1973 ( W M A N T 4 2 ) . - Ernst Würthwein, Die Bücher der Könige. l . K ö n . 1 7 - 2 . Kön. 25, 1984 ( A T D 11/2). „ ,

P e t e r Welten

Josef Albo

244 Josef Albo (ca.

1365-1444)

Josef Albo war neben seinem Lehrer —»Chasdaj Crescas (gest. 1412) der bedeutendste spanisch-jüdische Religionsphilosoph an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert. Berühmt wurde er durch sein großes dogmatisches Handbuch zum jüdischen Glauben Sefer ha-'lkkarim, das durch seine popularphilosophische, für gebildete Laien gut verständliche Darstellungsweise innerhalb der jüdischen Minderheiten Spaniens und anderer Länder bis weit in die Neuzeit hinein viel gelesen wurde. Albos Werk nimmt seinen Ausgang in der Kritik an den 13 Glaubensgrundsätzen des ->Mose ben Maimon, die er auf drei Fundamentalwahrheiten ('lkkarim) reduziert: die Existenz Gottes, das Vorhandensein einer göttlichen Offenbarung und Lohn und Strafe. Von diesen drei 'lkkarim leitet Albo acht Wurzeln (Schoraschim) ab, wobei dem ersten 'Ikkar vier Schoraschim zugeordnet werden: Gottes Einheit, seine Unkörperlichkeit, seine Nichtaussagbarkeit in zeitlichen Kategorien und seine absolute Vollkommenheit. Dem zweiten 'Ikkar ordnet Albo drei Schoraschim zu: Gottes Allwissenheit, das Phänomen der Prophetie, und die Legitimierung der Botschaften Adams, Noahs und Moses. Aus dem dritten 'Ikkar deduziert Josef Albo nur eine einzige Wurzel, nämlich die sich auf jedes Individuum erstreckende Vorhersehung Gottes. Die Schoraschim stehen den 'lkkarim an theologischem Gewicht nicht nach und sind ihnen nur aus logischen Gründen subordiniert. Außerdem leitet Josef Albo aus den 'lkkarim sechs 'Anafim (Zweige) ab, deren Gewicht auch sachlich nachgeordneter Natur ist und deren Anzweifelung nicht gleich Ketzerei bedeutet. Diese 'Anafim beinhalten: die Erschaffung der Welt aus dem Nichts und in der Zeit; die Aussage, daß die Prophetie des Mose den höchsten Rang unter allen prophetischen Botschaften einnimmt; die Unabänderlichkeit des mosaischen Gesetzes und seine Gültigkeit für alle Zeiten; die Garantie auf ein ewiges Leben, wenn man nur ein einziges der Gebote einhält; die Auferstehung der Toten; und der Glaube an das Kommen des Messias. Albos Werk ist in vier Traktate untergliedert, deren erster das oben geschilderte System von 'lkkarim, Schoraschim und 'Anafim entfaltet, und deren drei nachfolgende die einzelnen 'lkkarim ausführlich diskutieren. Dabei entwickelt der Autor auch scharfe Polemik gegen die christliche Theologie. So setzt er sich in seinem Werk sehr kritisch mit der Eucharistielehre, mit dem Neuen Testament und mit der kirchlichen Anschauung von der Abrogation des alttestamentlichen Zeremonialgesetzes auseinander. Josef Albo kannte neben der jüdischen Tradition auch das Schrifttum muslimischer und christlicher Theologen, die er durchaus nicht nur polemisch rezipierte. So verrät die Einteilung in drei 'lkkarim den Einfluß des -> Averroes. Von Thomas von Aquin übernahm Josef Albo die dreifache Aufteilung des Gesetzes in natürliches, konventionelles und göttliches Gesetz. Josef Albo verfaßte sein Werk zu einer Zeit, als die sefardische Judenheit eine schwere Krise durchmachte. Die Judenverfolgungen des Jahres 1391 hatten einer sechsstelligen Anzahl seiner Glaubensgenossen den Tod gebracht und darüber hinaus eine Apostasiebewegung von nie gekanntem Ausmaß initiiert. Den bei der angestammten Religion verbliebenen Juden eine geistige Orientierungshilfe zu geben war ein wesentliches Anliegen seiner Schrift. Charakter und Mut bewies er anlässlich der vom Gegenpapst Benedikt XIII. erzwungenen christlich-jüdischen Disputation zu Tortosa, zu der Repräsentanten aller jüdischen Gemeinden auf der iberischen Halbinsel geladen waren, um sich den Angriffen des zum Christentum übergetretenen Juden Geronimo de Santa Fe, vormals Josua Lorki, aussetzen zu müssen. Josef Albo gehörte zu den wenigen jüdischen Repräsentanten, die dem Apostaten während der von massivem Psychoterror begleiteten Sitzungen von Ende 1413 bis Ende 1414 scharf zu widersprechen wagten und dessen Angriffe auf den Talmud furchtlos zu entkräften versuchten. Literatur Sefer Ha-'lkkarim, hg. u. ins Engl, übers, v. I. Husik, 5 Bde., Philadelphia 1946. - C . Sirat, Hagut Philosophit Bimei Habeinaim, Jerusalem 1975, 433 ff.

Hans-Georg von Mutius

Joseph Joseph (Mann

Marias)

1. Joseph als „Davidide" S. 246)

1. Joseph als

245

2. Einzelaussagen über Joseph

3. Nachwirkung

(Literatur

„Davidide"

Der „Mann Marias" (Mt 1,16) erscheint im Neuen Testament lediglich in den Evangelien (Mt, Lk, Joh), und zwar fast ausschließlich in den Vor- bzw. Kindheitsgeschichten. Freilich steht er auch hier gänzlich im Schatten —»Marias (vgl. Lk 1,26f). Theologisches Gewicht besitzt allein die Aussage von Josephs angeblicher Davididen-Abkunft (Mt 1,6-16; 1,20; Lk 1,27; 2,4; 3,23-31; -»David), deren Ziel allerdings nicht darin besteht, ihn, sondern seinen Sohn Jesus als Davididen zu erweisen (vgl. Mt 1,16 f; Lk 3,23; —»Jesus Christus). Das geschieht insbesondere mit Hilfe der Genealogien, die sich M t 1,2-17 und Lk 3,23-38 finden. Es handelt sich hierbei um „lineare" Stammbäume, wie sie auch im Alten Testament sowie in der griechisch-römischen Welt zu Legitimierungszwecken benutzt wurden (Speyer). Ob und inwieweit die Evangelisten diese Listen bereits in der Überlieferung vorgefunden haben, ist ein vieldiskutiertes Problem (vgl. Luz 91 f; Schürmann 202-204; Burger 91-102.116-123); möglicherweise entstammen sie, wenigstens zum Teil, einem griechisch sprechenden -»Judenchristentum. Jedenfalls sind sie von M t bzw. Lk bearbeitet und den jeweiligen theologischen Absichten dienstbar gemacht worden, beispielsweise dadurch, daß man die nur bis auf David reichenden Genealogien noch bis auf —»Abraham (Mt) oder gar Gott selbst (Lk) zurückführte, sowie dadurch, daß man die Überzeugung von Jesu Davidssohnschaft mit der konträren (vgl. Schürmann 42 zu Lk 1,27) Vorstellung von der Jungfrauengeburt ausglich (Mt 1,16; Lk 3,23; demselben Zweck dient auch die matthäische Weihnachtsgeschichte 1,18-25, s. Luz 95; schon deren „vormatthäische Version betonte den Gedanken, daß der von der Jungfrau Geborene durch Josef dem Stamm David eingegliedert wurde": Gnilka 16). Historizität können die Aussagen beider Genealogien nicht beanspruchen, da sie sich weitgehend widersprechen; so herrscht z.B. schon über den Vater Josephs Uneinigkeit: Mt 1,15f zufolge hieß er Jakob, Lk 3,23 zufolge Eli. Historische Aussagen sind von den Genealogien aber auch gar nicht zu erwarten. Ihr Zweck bestand vielmehr darin, „den Richtungssinn der Geschichte auf ein Ziel hin" zu verdeutlichen (Schneider, Lk 93). 2. Einzelaussagen

über Joseph

Als Wohnort Josephs benennen sowohl M t wie Lk den völlig unbedeutenden, weder in alttestamentlichen noch in zeitgenössischen Texten jemals erwähnten galiläischen Ort Nazareth, den beide freilich zu einer nöliq aufwerten (Mt 2,23; Lk 2,4 u. ö.; Joh 1,45 f; vgl. Gnilka 54 f). Während aber Lk Joseph (wie Maria) sowohl vor als auch nach der Reise nach Bethlehem (vgl. Mi 5,1) in Nazareth wohnen läßt (1,26f; 2,4; 2,39; 4,16), wird der Ort bei M t erst nach der Rückkehr aus Ägypten zum ständigen Aufenthaltsort Josephs und seiner Familie (2,22 f). — Zu ihr dürften mit ziemlicher Sicherheit außer Jesus noch weitere Söhne (und Töchter?) Josephs gehört haben (Mk 3 , 3 1 - 3 5 par. Mt 12,46—50/Lk 8,19-21; Mk 6,3 par. Mt 13,55f [dazu Oberlinner]; Joh 2,12; Act 1,14; I Kor 9,5; Gal 1,19), von denen der „Herrenbruder" -»Jakobus in der Urgemeinde eine gewichtige Rolle spielen sollte (vgl. Act 12,17; 15,13; 21,18; Gal 1 , 1 9 ) . - O b Joseph den Berufeines re/crcüv, d. h. eines Zimmermanns oder Bauhandwerkers, ausgeübt hat (so M t 13,55), ist unsicher: In der matthäischen Vorlage Mk 6,3 wird nicht Joseph, sondern Jesus selbst als ZEKXOJV bezeichnet. - M t 1,19 charakterisiert Joseph als gerecht (öiKaioq), sei es, weil dieser seine Verlobte Maria auf möglichst schonende Weise entlassen will (dazu Bill. 150—53) und das Gesetz so „im Sinne des Liebesgebots" erfüllt (Luz 104), sei es, weil sich in Josephs Entschluß „Respekt vor dem göttlichen Eingriff" äußert (Gnilka 18; vgl. Spicq). Jedenfalls stellt M t Joseph als den stets Gehorsamen dar, der sich der göttlichen Führung bedingungslos fügt (1,24f; 2,14.21). - Lk betont die Tempel- und Gesetzesfrömmigkeit der Eltern Jesu (s. 2,22-24.39.41).

Joseph und Aseneth

246 3.

Nachwirkung

Das insgesamt blasse Bild, das das Neue Testament von Joseph zeichnet, wird in den apokryphen Evangelien (bes. im Protev [NTApo I 4 ,277-290], in der Kindheitserzählung des Thomas [ebd. 290-299] und im Ps.-Matthäusev. [ebd. 306-309]) ausgemalt, am ausführlichsten in der um 400 in Ägypten griechisch verfaßten, aber nur koptisch erhaltenen „Geschichte von Joseph dem Zimmermann" (ed. S. Morenz, TU 56; vgl. NTApo I 4 ,320). Die Widersprüche und Probleme des kanonischen Josephbildes (z. B. die doppelte Genealogie oder die Frage nach der Enthaltsamkeit Josephs) beschäftigten bereits die altkirchliche Exegese (Bertrand: DSp 1301-1308). In der Frömmigkeitsgeschichte wurde Joseph erst vom 15. Jh. an bedeutsam (Gauthier: DSp 1309-1316). Dem 20. Jh. blieb die Gründung zweier der Josephologie gewidmeter Zeitschriften vorbehalten, der Estudios josefinos (Valladolid 1947ff) und der Cahiers de joséphologie (Montréal 1953ff). Literatur Walter Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der ntl. Apokryphen, Tübingen 1909, Nachdr. Darmstadt 1967 (bes. 4 - 8 . 2 1 - 2 9 ) . - Christoph Burger, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgesch. Unters., 1970 (FRLANT 98). - Joachim Gnilka, Das Mt-Ev. I, 1986 (HThK 1/1). - Pierre Grelot/Guy M. Bertrand/Roland Gauthier/Aimé Solignac, Art. Joseph (saint): DSp 8 (1974) 1289-1323 (Lit.). Ulrich Luz, Das Ev. nach Mt 1,1985 (EKK 1/1) (Lit.). - Arnold Meyer/Walter Bauer, Jesu Verwandtschaft: NTApo I 4 ,313-321 (bes. 319-321). - Lorenz Oberlinner, Hist. Uberlieferung u. christologische Aussage. Zur Frage der „Brüder Jesu" in der Synopse, 1975 (fzb 19). - Gerhard Schneider, Art. Josef: Exeget. Wb. z. NT 2 (1981) 527-530. -Ders., Das Ev. nach Lk I, 2 1984 (ök. Tb.Komm. 3/1). Heinz Schürmann, Das Lk-Ev. I, 2 1969 (HThK 3/1). - Wolfgang Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145-1268. - Ceslas Spicq, „Joseph, son mari, étant juste . . . " (Mt 1,19): RB 71 (1964) 202-214. Eckhard Pliimacher Joseph und Aseneth 1. Die Erzählung 2. Text 3. Aufbau und Gattung 4. Traditionen 6. Theologischer Gehalt 7. Nachwirkung (Quellen/Literatur S. 248) 1. Die

5. Entstehung

Erzählung

Joseph und Aseneth heißt heute eine jüdische Doppelnovelle, die man zu den -»Pseudepigraphen rechnen kann. Bis 1952 wenig beachtet, steht sie erst neuerdings in den wissenschaftlichen Textsammlungen und Gesamtdarstellungen (die Forschung bei Sänger, Antikes Judentum). Aseneth, achtzehnjährige Tochter des Oberpriesters Pentephres von Heliopolis (Gen 41,45) und selber Priesterin, sogar vom Erstgeborenen Pharaos begehrt, aber männerfeindlich, verfiel dem Vizekönig Joseph, als er kornsammelnd (Gen 4 1 , 4 6 b - 4 9 ) ihren Vater besuchte; er heiratete sie erst, nachdem sie sieben Tage gebüßt und der Fürst der Engel ihr die Annahme bei Gott mitgeteilt hatte; sie gebar dann Ephraim und Manasse (Gen 4 1 , 5 0 - 5 2 ) (Kap. 1—21). Jahre später, als J a k o b und Familie nach Ägypten gekommen waren (Gen 4 1 , 5 3 f ; 45,26—46,7; 47,27), versuchte Pharaos Erstgeborener, Aseneth mit Hilfe von Dan, Gad, Naphthali und Asser zu entführen, was Simeon, Levi, Benjamin und die anderen guten Brüder vereitelten (Kap. 2 2 - 2 9 ) . 2.

Text

Die 16 griechischen Handschriften ( 1 0 . - 1 9 . Jh.) und 7 Übersetzungen ( 6 . - 1 7 . / 1 8 . Jh.) gehen auf einen gemeinsamen Archetyp zurück (anders Schwartz). Zur Rekonstruktion gibt es zwei Ansätze; keiner hat schon zu einer befriedigenden Ausgabe geführt. Nach Philonenko ist eine durch Vatikan, Pal. Gr. 17 (11. Jh.), Oxford, Bodl. Barocc. Gr. 147 (15. Jh.) und die serbisch-kirchenslawische Übersetzung (15. Jh.?) belegte Kurzfassung so gut wie der Archetyp; seine Ausgabe befolgt aber die eigenen Einsichten nicht konsequent. Ich möchte den Archetyp eklektisch aus allen Zeugen auf der Grundlage der syrischen (6. Jh.), armenischen (6./7. Jh.?) und zweiten lateinischen Übersetzung (12. Jh.?) samt vier zugehörigen griechischen Handschriften ( 1 5 . - 1 7 . Jh.) herstellen, bin aber über einen vorläufigen Text ohne Apparat nicht hinaus. Die Textgeschichte (Bilder einge-

Joseph und Aseneth

247

schlössen, s. u. 7) muß erst weiter aufgehellt werden. Der Archetyp (frühestens 4. Jh.) ist im übrigen nicht das Original. Wie es sich unterschied, ist offen (vgl. Holtz). Gegeben wird es eines haben, das Buch ist ein Autorenwerk. Es war griechisch; Übersetzung wird heute nicht mehr vertreten. 3. Aufbau und

Gattung

JosAs 1 - 2 1 verbindet eine Liebes- ( 3 - 9 . 1 9 - 2 1 , Aseneth und Joseph) und eine Bekehrungshandlung (10-18, Engelfürst und Aseneth), die sich in 8f und 19 überlappen. Aseneths Gefährdung und Rettung in 2 2 - 2 9 (Pharaos Erstgeborener und Josephs Brüder, Aseneth nimmt fast nur in 2 6 - 2 8 teil) ist dramaturgisch einheitlich. Beide Teile sind als Exkurse zur biblischen Josephsgeschichte montiert. Sie setzen Bibelkenntnis voraus; mit ihr sind sie einzeln lesbar. Die Handlung ist einfach; viel Dialog (dazu in 6.8.11-13.21 Meditationen und Gebete) lange Beschreibungen von Orten, Personen, Emotionen, wenig Erzählung. Die Sprache ist biblisierend (Delling; neutestamentliche Parallelen bei Smith). Der Gattung nach wird das Buch heute meist unter die antiken Romane im weiteren Sinn gestellt, im engeren gern zu den Liebesromanen einschließlich Apuleius' Metamorphosen (besonders Amor und Psyche IV,28-VI,24; Initiation in den Isiskult XI; Philonenko, West, Kee; lockerer Pervo: Erweiterung der älteren „Sapiental novel" wie Ahiqar, Tob, Dan 1 - 6 durch Elemente des Liebesromans). Ganz gelingt das nicht; die Bekehrung dominiert, Abenteuer sind nur in einer Episode und angehängt vorhanden. Man vermeidet wohl besser ausschließende Gattungsbestimmungen. Der Zweck ist zudem eher in Erzählung eingekleidete Theologie als Unterhaltung mit belehrender Tendenz. Ob das Buch Missionsliteratur ist, ist umstritten. Werbeschrift nach außen war es kaum; auch der jüdische Leser/Hörer sollte wohl eher erfahren, was Judentum gibt und nützt, als Proselyten machen oder schätzen lernen. 4.

Traditionen

Quellen der Erzählung (Texte oder Stoffe) kennt man bisher nur für Details (vgl. z. B. 27,1 - 5 ; 29,2 mit I Sam 17). Die Bekehrungshandlung scheint einem Muster zu folgen (vgl. Dan 4,33a-34 LXX; ApkAbr l f f ; TestHiob 2 - 5 ; Mt 16,16-18; Lk 7,36-50; Act 9,1-19 par., aber auch Apuleius XI). Ob (auch) Riten in Erzählung umgesetzt sind (zuletzt Sänger, Antikes Judentum), bleibt strittig. Im übrigen ist die Formensprache weithin traditionell (jüdisches Material z.B. bei Berger, Romanparallelen bei Philonenko, West). 5.

Entstehung

Das Buch ist jüdisch (anders zuletzt Hofrichter). Es kann dann kaum nach dem BarKochba-Krieg (132-135 n. Chr.) entstanden sein; falls in Ägypten, wofür die Personen sprechen, kaum nach dem Aufstand unter Trajan (114/117 n. Chr.). Da die Septuaginta vorausgesetzt ist, kann man nicht weit vor 100 v. Chr. hinaufgehen. Zu einer genaueren Bestimmung (am gründlichsten Sänger, Erwägungen: Alexandria, um 38 n. Chr.) fehlt noch viel. Das Entstehungsmilieu ist noch unklar: eine Sondergruppe oder jedenfalls eine Sonderrichtung, die ihr Judentum zu einem Mysterienkult (Philonenko) oder einer Erlebnisreligion, die persönliche Offenbarungen pflegte (Kee: vgl. die Merkabamystik), umgeformt hatte? Das Buch selbst vertritt Judentum gegen den Polytheismus, nicht (auch) eine Form von Judentum gegen (eine) andere. Ein (weisheitlich geprägtes?) Milieu wird man suchen dürfen, aber wohl innerhalb der ohnehin pluralistischen Synagoge, nicht konfessionell abgegrenzt. 6. Theologischer

Gehalt

Wo der theologische Gehalt erforscht wurde, da meist zugunsten des Neuen Testaments. Eine Gesamtuntersuchung fehlt. Am wichtigsten ist die Bekehrungstheologie, die an und mit Aseneth in Szene gesetzt wird. Einerseits ist sie die Ur-Proselytin. Sie zerschlägt ihre Götzenbilder und wendet sich im Gebet zu dem einen, wahren Gott der

248

Joseph und Aseneth

Hebräer als ihrem neuen Vater (12,8 — 15). Er bringt sie daraufhin von einem todgeweihten Dasein zum Leben (8,9; 15,5.12; 27,10) wie seinerzeit die übrige Schöpfung aus dem Nichtsein ins Sein (8,9; 12,1 f). Wer dies Leben hat, das Leib und Seele umfaßt, wird auf Erden behütet ( 2 2 - 2 9 ) und kommt nach dem Tod an den Ruheort im Himmel (8,9; 15,7; 22,13). Dazu ist kein Erlöser oder Missionar nötig; Joseph, „der Sohn G o t t e s " (6,3.5; 13,13; 18,11; 21,4; 23,10), erschüttert Aseneth durch seine Erscheinung (5f) und bittet für sie (8,9), mehr tut er nicht. Andererseits ist Aseneth auch Heilsmittlerin. Sie wird zur „Stadt der Zuflucht" für alle künftigen Proselyten (15,7; 16,16; 19,8) eingesetzt und als solche schon zu Lebzeiten in eine übernatürliche Gestalt verwandelt (16,16; 18,9); von ihr geht Leben aus ( 1 6 , 1 7 - 2 3 ) . - Umstritten ist die (wohl zu Unrecht) sog. Mahlformel „Nicht ist es geziemend einem gottverehrenden Manne, der segnet mit seinem Munde Gott den lebenden und ißt gesegnetes Brot des Lebens und trinkt gesegneten Kelch der Unsterblichkeit und salbt sich mit gesegneter Salbe der Unverweslichkeit, zu küssen eine fremde F r a u . . . " (8,5.9; 15,5; 16,16; 19,5; 21,13 £.21; N T S 1987). Bezeugt sie einen bisher unbekannten Ritus? Deutet sie die täglichen Mahlzeiten oder die jüdische Diät und Hygiene oder die jüdische Frömmigkeit als Quelle des Lebens? Ein Sonderproblem ist, daß Aseneth selber als erstes Lebensbrot himmlischen Mannahonig aß (16,15f): Begründung ihrer Verwandlung zu der Gestalt, die Juden und Proselyten sonst erst im Himmel bekommen? Symbol für ihre Begabung mit Geist und Wahrheit (doch vgl. 19,11) ? Auch Ätiologie einer „ H o n i g k o m m u n i o n " (Aufnahmeritus und/oder ständige Begehung)? Narrative Exegese der „ M a h l f o r m e l " (in, mit und unter jüdischem Essen, Trinken, Salben bekommt man himmlisches M a n n a , oder: sie ersetzen M a n n a auf Erden, oder: jüdische Frömmigkeit führt zum ewigen Leben)? - Wenig beachtet ist das Ethos, das sich besonders in 2 2 - 2 9 darstellt; sein Hauptsatz ist „nicht Böses mit Bösem vergelten" (23,9; 28,5.14; 29,3). 7.

Nachwirkung

Jüdische Nachwirkung ist unbekannt; die übrige Asenethhaggada (Aptowitzer, Ginzberg) zeigt keine Spur. Christen, vor allem Kleriker und Mönche, lasen das Buch zu moralischer Erbauung, manchmal auch als Geschichtsquelle, in Ägypten, Syrien, Armenien, Byzanz (seit dem 9. Jh.?, bald in Menologien u.ä.) und von hier aus in Europa nördlich der Alpen (seit dem 12. J h . ) , auf dem Athos und dem Balkan. Wohl im 11. J h . wurde Aseneth in Konstantinopel bebildert (Vikan). In Europa wirkte in vielen Sprachen eine von Helinand von Froidmont 1210/20 gemachte Kurzfassung der ersten lateinischen Übersetzung, die -»Vinzenz von Beauvais (Speculum historíale 1 , 1 1 8 - 1 2 4 , abgeschlossen 1253) weitergab. Noch Philipp von Zesen (Assenat, Amsterdam 1670) und Anna Katharina Emmerick (1774—1824, —>Stigmatisierung)/Clemens Brentano (1778—1842) haben sie benutzt. Quellen/Literatur Erstausgabe: Pierre Batiffol, Le livre de la Prière d'Aseneth: ders., Studia patristica, Paris 1889-90, 1-115. - Übersetzungen: Ernest W. Brooks, Joseph and Asenath, London 1918. - Paul Rießler, Joseph u. Asenath: ders., Altjiid. Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928, 497-538.1303f (Nachdr.). - Kritisch: a) Marc Philonenko, Joseph et Aséneth. Introduction, texte critique, traduction et notes, 1968 (StPB 13) (Lit., Wortregister). - Übersetzungen-. D. Cook, Joseph and Aseneth: The Apocryphal OT. Hg. v. H.F.D. Sparks, Oxford 1984, 465 -503. - M . van Goeij, Jozef en Aseneth. Apokalyps van Baruch, Kampen 1981 (De Pseudepigrafen 2). - Ramon Martínez Fernández/Antonio Piñero, José y Asenet: Apócrifos del Antiguo Testamento. Hg. v. Alejandro Diez Macho, Madrid, III 1982, 191-238. - Andrzej Suski, Józef i Asenet. wst^p przeklad z greckiego, komentarz: STV 16 (1978) 199-240. b) Christoph Burchard, Ein vorläufiger griech. Text von Joseph und Aseneth: DBAT 14 (1979) 2 - 5 3 ; Verbesserungen: ebd. 16 (1982) 37-39. - Übersetzungen: Ders., Joseph u. Aseneth, 1983 (JSHRZ II/4) (Lit.). - Ders., Joseph and Aseneth: The OT Pseudepigrapha. Hg. v. James H. Charlesworth, New York, II 1985, 177-247. - Konkordanz: Albert-Marie Denis/Jean Schumacher: Concordance des Pseudépigraphes grecs d'AT, Louvain-la-Neuve (im Druck).

249

Josephinismus

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Burchard

Josephinismus 1. N a m e und Ansätze der F o r s c h u n g 2. Inhalte Spät- und Post-Josephinismus (Literatur S . 2 5 4 )

3. P r ä - u n d Frühjosephinismus

4. Hoch-,

„Der Josephinismus ist das wohl mit Abstand umstrittenste kirchengeschichtliche P h ä n o m e n in den Territorien der habsburgischen M a c h t s p h ä r e . Er hat d a s , G e s i c h t ' , also die Oberflächenstruktur, der Kirche in diesen Territorien mitgeprägt — und oft ganz entscheidend bestimmt. D a m i t wurde der Josephinismus aber auch zu einem beachtlichen P h ä n o m e n der europäischen Gesamtgeschichte mit Fern Wirkungen sogar auf den O r i e n t " ( B a r t o n , Modellfall 26). 1. Name

und

Ansätze

der

Forschung

Begriff u n d I n h a l t d e s v i e l s c h i c h t i g e n P h ä n o m e n s J o s e p h i n i s m u s w a r e n ( u n d s i n d ) v i e l f a c h k o n t r o v e r s . O f t w u r d e n u n t e r J o s e p h i n i s m u s die R e f o r m m a ß n a h m e n u n d d a s S t a a t s k i r c h e n t u m in d e r Z e i t d e r A l l e i n h e r r s c h a f t d e s „ a u f g e k l ä r t e n D e s p o t e n " J o s e p h II. v e r s t a n d e n ( z u l e t z t u . a . B r a d l e r - R o t t m a n n ) . D a n n a b e r m u ß z u m i n d e s t ein n e u e r t e r m i n u s t e c h n i c u s Theresianismus

f ü r die d e m „ J o s e p h i n i s c h e n J a h r z e h n t " ( 1 7 8 0 - 1 7 9 0 ) v o r -

a u s g e h e n d e Ä r a 1 7 4 0 - 1 7 8 0 (in d e r J o s e p h II. als M i t r e g e n t seit 1 7 6 5 w i r k t e )

geprägt

w e r d e n ( h e u t e z. T . b e r e i t s e t a b l i e r t ) , w o b e i z u b e d e n k e n ist, d a ß ein s o l c h e r T h e r e s i a n i s m u s b e r e i t s e i n e n J o s e p h i n i s m u s in n u c e d a r s t e l l t ( M a a ß , F r ü h j o s e p h i n i s m u s 9 , v e r l i e h M a r i a Theresia den Schuldzuweisungstitel

„ M u t t e r des J o s e p h i n i s m u s " ,

wobei

sein

Schüler E l l e m u n t e r d e m S t a a t s k a n z l e r [ 1 7 5 3 - 1 7 9 3 ] W e n z e l A n t o n F ü r s t v. K a u n i t z - R i e t b e r g in W e i t e r f ü h r u n g des M a a ß - A n s a t z e s d i e H a u p t s c h u l d a m J o s e p h i n i s m u s z u s c h r i e b u n d [ 1 7 9 ] v o r s c h l u g , d e n J o s e p h i n i s m u s in „ K a u n i t z i a n i s m u s " „ u m z u t a u f e n " ) . D i e d e m P h ä n o m e n J o s e p h i n i s m u s e i g e n e s e h r l a n g e „ V o r g e s c h i c h t e " ließ d a r a n d e n k e n ,

den

J o s e p h i n i s m u s m i t d e r K i r c h e n p o l i t i k J o s e p h s I. ( 1 7 0 8 / 0 9 b e w a f f n e t e I n t e r v e n t i o n g e g e n -

250

Josephinismus

über Clemens XI.) in Zusammenhang zu bringen. Der Josephinismus wirkte unter Leopold II. (1790-1792) und Franz I. [II] (1792-1835, mit einer Zäsur 1795) bestimmend, unter Ferdinand I. (1835-1848) in gemilderter Weise, unter Franz Joseph I. (1848-1916) noch schwach nach. Im Revolutionsjahr 1848 und in der Ära des -»Liberalismus in Österreich (Höhepunkt 1868) betonte man die heilsamen Reformen des (überschätzten) „Volkskaisers", war aber durch die Sehnsucht nach einer „Trennung von Kirche und Staat" nicht in der Lage, den reformkatholischen Anliegen im Staatskirchentum des Josephinismus gerecht zu werden. Auch die einschlägigen Artikel in katholischen wie evangelischen Kirchenlexika sahen noch durch viele Jahrzehnte im Josephinismus zuerst ein (spezifisch österreichisches) staatskirchliches Rechtssystem, das primär die Gründung einer eigenständigen Reichskirche und selbständiger Territorialkirchen intendierte. Hilfreiche - aber in der Forschung meist erst Jahrzehnte später wirksam gewordene - Denkanstöße vermittelten der römisch-katholische Kirchenhistoriker Sebastian ->Merkle, mit dem 1909/10 unternommenen Versuch einer wissenschaftlichen positiven Würdigung der weithin verfemten „katholischen Aufklärung", und Franz Xaver Kiefl mit seinem Konzept eines „Reformkatholizismus" 1906. Der 1914 durch Georgine Holzknecht unternommene Versuch, im Josephinismus letztlich eine sekundäre ideologische Überhöhung des Unterbaues einer sehr gewaltsamen Realpolitik zu sehen, war überzogen, vermittelte aber leichte Ansätze zur Überwindung einer dogmatischen Josephinismus-Interpretation. Die dogmatische Wertung des Josephinismus wurde durch den ultramontanen Journalisten Sebastian Brunner geprägt, der in einem grenzenlosen (antiliberalen) H a ß gegen die „Mysterien der Aufklärung in Österreich" in den josephinischen Theologen nur „Die theologische Dienerschaft am Hofe Joseph II." am Werk sah (1869 bzw. 1868). Positiv wirkte die Zusammenschau des Zeitraumes 1770-1800 (und damit die Überwindung des Blickes auf das sog. „Josephinische Jahrzehnt"), negativ aber die Fixierung auf das Problem der Zuordnung der als statische Größen verstandenen, vom 19. Jh. her interpretierten societates perfectae Kirche und Staat weiter. Von einem ähnlich ahistorischen Kirchenbegriff ausgehend, gekonnt die für sein Konzept sprechenden Quellen auswählend und vorbildlich edierend (FRA 11,71-75), versuchte seit 1948 der Innsbrucker Historiker Ferdinand Maaß, bald durch eine Maaß-Schule unterstützt, die Vielfalt des Josephinismus auf ein „Staatskirchentum im eigentlichen Sinne", das „notwendig ein mehr oder weniger geschlossenes System staatlicher Verwaltungsformen sein m u ß " (FRA 11,71 [1951/XVIII]), zu reduzieren. Die Reduktion auf Quellen amtlicher Art, von den rationalistischen bis akirchlichen Überlegungen des Staatskanzlers Kaunitz her interpretiert, diente der Illustration der These, daß die „letzte Absicht" des österreichischen Reformkatholizismus „nicht im Willen zur Kirchenreform, sondern im Willen zur Allmacht des Staates liegt" (FRA II,71,XX). Die Maaß-Schule (Baum, Brandl, Hosp) artikulierte sich besonders deutlich in dem Werk Heribert Riesers Der Geist des ]osephinismus und sein Fortleben (1963), das die Begriffe Katholizismus und Josephinismus als exklusive Gegensätze hinstellte (da dem Josephinismus auch in der theresianischen Frömmigkeit das Sentire cum ecclesia hierarchica [87] fehlte), den Josephinismus als Bündelung fünf katholischer protestantisierender Häresien (-»Konziliarismus, Regalismus, -»Gallikanismus, —• Jansenismus, —>Febronianismus) und „latenten Abstieg von der Offenbarungsreligion zur Naturreligion" (77), als Beginn einer „Verweltlichungsbewegung" wie als „Verfolgung der sichtbaren Kirche als selbständigen Reiches" (108.83) wertete. Diese Sicht mit der Wiederholung stereotyper Vorwürfe (Staatsallmacht, Staatskirchentum, Unterordnung der Kirche, Verbeamtung der Geistlichkeit, Verurteilung des Volkes zur Passivität usw.) setzte sich zwar nicht in der historischen oder kirchenhistorischen Forschung durch, prägte aber auf dem Wege über die Lehrbücher für den katholischen Religionsunterricht (Josef Stadlhuber, Kirchengeschichte II, Klagenfurt 1973,39-48) das landläufige Josephinismus-Bild. Die Position der Maaß-Schule entstand als Kontraposition gegen die Josephinismus-Konzeption des Prager Kirchenhistorikers (und späteren Ostberliner Historikers) Eduard Winter, der wie M a a ß den Josephinismus nicht auf das

Josephinismus

251

Jahrzehnt 1 7 8 0 - 1 7 9 0 einschränkte, sondern auf den Zeitraum 1 7 4 0 - 1 8 4 8 bezog. Winter, der diese Zeit später in einer Reihe interessanter Werke bearbeitete, griff 1943 bei seiner Josephinismus-Interpretation auf den Begriff des Reformkatholizismus zurück: Im Josephinismus liege auch der „Versuch einer grundlegenden R e f o r m der römisch-katholischen Kirche im Sinne der U r k i r c h e " vor, der den Nichtkatholiken „den Katholizismus, wie er wirklich i s t " zeigen könne (Josefinismus ' 1 9 4 3 , VII). Seit 1950 suchte die Wiener Schule (Wandruszka, Benedikt, Zöllner, Wagner, Wangermann, Vocelka, Hersche, Koväcs, Klingenstein) die Anliegen der M a a ß - S c h u l e und Winters in einer großangelegten Synthese zu vereinen und auf das „Ensemble von Reformkatholizismus und Staatskirc h e n t u m " zu verweisen. Der Ausgleich zwischen den Kontrapositionen W i n t e r - M a a ß , der zu einer großen Fülle wichtiger Einzeluntersuchungen führte (vgl. Vocelka, Literaturbericht), war notwendig: „ W a r doch der österreichische .Reformkatholizismus' nur im Rahmen eines - sein Anliegen freilich auch depravierenden - Staatskirchentumes möglich, während andererseits das Staatskirchentum reformkatholische, spätjansenistische und aufgeklärt-katholische Elemente als ideologische Voraussetzung aufwies, die geeignet w a r , alle bloße Nützlichkeitserwägungen und jedes Streben nach Staatsallmacht auf Legitimität wie Legitimierung zu hinterfragen" (Barton, Jesuiten, Jansenisten, Josephiner 186).

Der dritte Ansatz zur Neuinterpretation des Josephinismus (neben Winter und M a a ß ) wurde 1944 durch Fritz Valjavec vorgelegt: Der Josephinismus ist eine geistig-geistlichpolitisch-wirtschaftliche Ganzheit, ein wirtschaftshistorisch und soziologisch ebenso wie kirchenhistorisch-rechtlich einzukalkulierendes Gesamtphänomen, nicht von einer Einzelperson, sondern von den „anonymen K r ä f t e n " der österreichischen Bürokratie ausgehend, denen es um den „Ausgleich" zwischen tradierten Werten und neuen Anliegen ging, ein Gesamtphänomen, das im Josephinischen Jahrzehnt keineswegs am typischsten festzustellen ist (Josephinismus 2 1 9 4 5 , 7). Der Ansatz von Valjavec drückte sicher das Problem Kirche-Staat zu sehr an den Rand (Zöllner, Bemerkungen 203ff), wird aber —auch in der Aussage, der Josephinismus sei „die österreichische Ausdrucksform . . . der deutschen, theistisch orientierten Aufklärung" (34) — stärker als bisher berücksichtigt werden müssen. Die Debatte über das Wesen des Josephinismus ist noch nicht abgeschlossen, doch scheint sich die These Roger Bauers zu bestätigen, daß es nicht nur einen Josephinismus, sondern verschiedene Josephinismen gab (Bauer, Remarques 107ff).

2. Inhalte Der Josephinismus verkörpert den dynamischen Versuch, durch Einbindung vieler Reformbewegungen in ein von bewußt-katholischen Herrschern als Mitrepräsentanten der Kirche gelenktes, staatlich nach dem „Interesse des G e m e i n w o h l s " gegängeltes Kirchentum, auf dem Wege des „Ausgleichs" des Alten mit dem Neuen katholische Aufklärung gegenüber Barockkatholizismus, Protestantismus („tolerante M i s s i o n " ) , Deismus und Säkularismus zu realisieren, wobei die Praxis vor der T h e o r i e den Vorrang hatte. Dabei war die eigenwillig durchgeführte Kirchenreform in ein verspätet einsetzendes, daher überstürztes gesamtstaatliches Erneuerungsprogramm eingebunden. „Angesichts des allgemein erkannten Kultur- und Zivilisationsdefizits gegenüber den m o d e r n e ren' protestantischen Staaten sollte der Nachholbedarf rasch bewältigt werden! Die Verwaltung verlangte nach Zentralisierung und Uniformierung, um effizienter arbeiten zu können, die Staatsfinanzen nach Sanierung und die Wirtschaft nach Förderung, um konkurrenzfähiger zu bleiben. Merkantilistische, physiokratische, populationistische und kameralistische Anliegen kamen hinzu" (Barton, Jesuiten 190 f).

3. Prä- und

Frühjosephinismus

Wie bei der Josephinismus-Datierung generell, werden auch die termini technici Prä-, Früh-, H o c h - , Spät-, Post-Josephinismus von den einzelnen Forschern sehr unterschiedlich gewertet und angesetzt. Im frühen 18. J h . gewinnt die durch die Pietas Austriaca

252

Josephinismus

(Choret) ausgezeichnete Casa d'Austria ein bei aller Einbindung in den Barockkatholizismus doch neuakzentuiertes Selbstverständnis (Papstpolitik Joseph I., „Gnadenkirchen" für Schlesien), wobei zu bedenken ist, daß ein prirtceps in ecclesia (Koller) wie Albrecht V. im 15. J h . in der von ihm de-facto geübten Staatskirchenhoheit bereits „geradezu ,praejosephinisch' anmutet" (Lhotsky). Die nach dem Spanischen Erbfolgekrieg anfallenden Österreichischen Niederlande hatten schon in der Mitte des 17. J h . auf ihr höchst eigenständiges regalistisches Kirchenrecht gepocht (Pierre Stockmans), der Löwener Kanonist Zeger-Bern[h]ard van Espen vermittelte auch deutschen Kirchenrechtlern mit seinem vielgelesenen (11 Auflagen in der Zeit des Prä-Josephinismus) lus ecclesiasticum Universum (2 Bde., Löwen 1700) Motive gallikanischen und burgundischen Staatskirchenrechts (Herrscherrecht als Schutzpflicht für den Klerus seiner Territorien). Der Statthalter der Niederlande Prinz Eugen v. Savoyen (bis 1723) unternahm keine Schritte, der Verbreitung jansenistischen und philojansenistischen (-*Jansen/Jansenismus) Gedankenguts zu wehren, das sich durch die Nouvelles Ecclésiastiques (Utrecht 1 7 2 8 - 1 8 0 3 ) in Elitekreisen des Klerus aller Krön- und Nebenländer durchzusetzen begann. In den Spielarten des Spätjansenismus (Hersche) wird es den Prä- und Hoch-Josephinismus beeinflussen. Ein neues Priesterideal vermittelte J a n Opstraets wiederholt aufgelegter Pastor bonus (1689). D e r „Richerismus" betonte die Eigenverantwortung der Pfarrer, der „Episkopalismus" die der Bischöfe (die freilich nur bei Einbindung in regalistische Konzepte realisierbar waren). Überaus einflußreich waren die Schriften des italienischen Reformkatholiken Lodovico Antonio Muratori (De ingeniorum moderatione in religionis negotio, 1714; Deila

regolata

divozione

dei cristiani und Deila carità cristiana,

1723; Deila pubblica

félicita

oggetto de' buoni principi, 1749). Der österreichische Geheimprotestantismus (Wandruszka), auch durch Transmigrationen nicht zu beseitigen, provozierte Toleranzforderungen: Christian Julius Schierl von Schierendorf (Hofkammersekretär Joseph I. und Karl VI.) forderte in einer Denkschrift um 1720 Realisierung der Rechte der Nichtkatholiken auf freie Religionsausübung, staatliche Eheschließung der Mischehen, vermehrtes Heranziehen geistlicher Güter zur Finanzierung der Schulen und karitativer Einrichtungen und verstärkte Kontrolle der Geistlichen (ähnliche Gedankengänge vermittelte später der Konvertit Christian August Beck seinem Schüler Joseph II.). Der Gedanke clerici sunt cives setzte sich allmählich trotz aller Proteste durch. Franz I. Stephan, in seinem Glaubensleben in der Ehe wohl der bestimmende Teil (Wandruszka, Religiosität), vermittelte Maria Theresia und den Kindern Anliegen katholischer Aufklärung. Gerade in Theologenkreisen wuchs zunehmend die Sehnsucht nach „Riforma e poi Riforma e Riforma grande" (Wandruszka, Aufklärung 62), Maria Theresia ersehnte eine „große R e m e d u r " (Arneth, Denkschriften 295) des kranken Leibes der Kirche; vom Reformkatholizismus, wie er sich im Josephinismus entwickelte, gilt (Rogier 118): „ E r ist nicht außerhalb der Kirche entstanden, sondern in ihrer Mitte, nicht von ihren Gegnern, sondern von Theologen entworfen. Theologen haben für die vielgestaltigen Neuerungen sich eingesetzt und für deren Einführung die Fürsten und deren Berater g e w o n n e n . "

Der Früh-Josephinismus (1740) 1 7 6 2 - 1 7 7 7 (1780) bringt einen Versuch der Realisierung der Kirchenreform durch Bündelung praejosephinischer Forderungen und staatlichem Machtge(miß)brauch (Gründung der Giunta Economale für die Lombardei 1765 als Experiment, Säkularisierung von 80 Klosterkonventen zur Finanzierung der Ausweitung der Pfarreien, Erschwerung der Profeß, Aufhebung der Societas Jesu, Gründung des Consessus in publico-ecclesiasticis 1769 [Umwandlung 1782 in die „Geistliche Hofkommission"], Verbot der Klosterkerker, Anhebung der Anforderungen bei der Klerikerausbildung, Umwandlung von 20 Feiertagen in Arbeitstage, allgemeine Schulpflicht usw.). Der Hoch-Josephinismus wird (abgesehen vom Toleranzsystem) eine nur durch Radikalität und größere Eigeninitiative des Herrschers gekennzeichnete Weiterführung und Ausweitung der Maßnahmen des Früh-Josephinismus bringen.

Josephinismus 4. Hoch-,

Spät- und

253

Post-Josephinismus

Der Josephinismus bleibt nicht auf die Erblande beschränkt, sondern wirkt dank des Prestiges der imperialen Exponenten auch auf deutsche Territorien und sogar den Orient stark ein (Heyer u. a. 185). In der Toscana erlebt der Josephinismus unter Pietro Leopoldo (Wandruszka, Leopold II.) seine vielleicht eindrucksvollste Ausgestaltung (Scipione de' Ricci, Diözesansynode von Pistoja 1786), aber auch seinen definitiven Zusammenbruch nach der Übersiedlung des Großherzogs nach Wien (Leopold II. 1790). In den österreichischen Staaten wurde 1777-1783 die Toleranzfrage zu einer Streitfrage (1770-1780) und zum Testfall des Hoch-Josephinismus: Oktober 1781 Toleranzpatent für Akatholiken (Lutheraner, Reformierte, Orthodoxe): Glaubensfreiheit, beschränkte Kultusfreiheit (Scheunencharakter der Bethäuser), finanzielle Doppelbelastung, strikte staatskirchliche Reglementierung, Regelung der Mischehen (drei Viertel der Kinder sollen katholisch sein), aber bürgerliche Freiheiten (ab dem 1.1.1783 Prohibitivunterricht in katholischer Religion und andere restriktive Maßnahmen), 1782 auch (regional unterschiedliche) Toleranzpatente für Juden. Der Stärkung der katholischen Kirche sollten die eigenmächtig vorgenommene Errichtung neuer Diözesen (vor allem 1785, etwa: Linz) und die Verdichtung des Pfarrnetzes dienen (auf jede entstehende Toleranzgemeinde kamen je 8 katholische Pfarreien oder Lokalkaplaneien als Neugründungen, finanziert wie der Ausbau des Schulwesens aus Mitteln des Religionsfonds). Seit dem 12.1.1782 Aufhebung von (weniger als 800) Klöstern usw., vorallem nicht in Schulwesen, Krankenpflege, Seelsorge engagierter Orden, Gründung des „Religionsfonds" (28.2.1782; bereits 1783 1 1/2 Millionen fL), Beseitigung der Exemtionen. Die Reise Pius VI. 1782 nach Wien bleibt erfolglos. Die z. T. erfolgreiche Neuordnung des gottesdienstlichen Lebens, die Einführung von Generalseminarien, viele die barockkatholische Praxis empfindlich treffende Einzelverfügungen (9.4.1784: Bestattung in Säcken statt in Särgen) stoßen auf teilweise heftigen Widerstand und müssen später zurückgenommen werden. Die Bürokratisierung des kirchlichen Lebens (allein 1780-1790 574 Grund Verordnungen in publico-ecclesiasticis) dient auch der Disziplinierung der Untertanen, die zugleich bessere Bürger und bessere Christen werden sollen. Die „erweiterte Pressefreiheit" ermöglicht ein reiches Angebot muttersprachlicher religiöser (wie nicht-religiöser) Literatur. Viele barockkatholische Elemente verschwinden und können nur teilweise durch Motive katholischer Aufklärung ersetzt werden. Die Auflösung der Bruderschaften und die Überstellung ihres Vermögens in eine Vereinigung zur tätigen Nächstenliebe vermag die karitativen Aufgaben nur partiell zu lösen. Die Reformprogramme des Hoch-Josephinismus sind auf territorialer Ebene (z.T. sogar recht segensreich) vor allem bis 1787 realisiert worden, auf nationaler Ebene haben sie keinen bleibenden Erfolg (Emser Kongreß). Zunehmende Spannungen mit Ungarn und den Österreichischen Niederlanden, der Türkenkrieg und der seit 1786 immer stärker werdende Einfluß des Klerikalismus auf Joseph II. führen zum Erlahmen des josephinischen Reformelans, was auch durch den Tod wichtiger theologischer Exponenten (Franz Stephan Rautenstrauch, Referendar der Hofstudienkommission und Direktor aller theologischen Fakultäten der Monarchie, der u. a. die Pastoraltheologie als eigenständige Disziplin durchgesetzt hatte, gest. 1785; Johann Karl Graf v. Herberstein, Bischof zu Laibach seit 1777, gest. 1787) beeinflußt wurde. Die für 1791 geplante Aufhebung von weiteren 499 Klosterkonventen wurde mit dem Tod des Kaisers (20.2.1790) hinfällig, der viele seiner Reformen (aber nicht das Toleranzsystem) auf dem Totenbett zurückzunehmen bereit war. Während seiner kurzen Regierungszeit 1 7 9 0 - 1 7 9 2 behielt Leopold II. den Josephinismus als politisches Konstitutivum bei, beseitigte aber einzelne besonders strittige Reformen (Aufhebung der „Generalseminarien"). Seit der sog. Jakobiner-Verschwörung 1795 kann man vom Spät-Josephinismus sprechen, der durch abgeschwächte Beibehaltung des Staatskirchentums ohne Reformbegeisterung, zunehmende Kooperation mit dem Heiligen Stuhl, reaktionäre Grundeinstellung und Abschwächung positiver Ansätze des Josephinismus (nun: Wiedereinführung des

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Josephinismus

Reverses bei Mischehen usw.) gekennzeichnet ist. Doch setzten sich einzelne Motive des Hoch-Josephinismus erst jetzt durch (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, 1811). Seit 1811 wurde das monastische Leben wieder stärker gefördert, 1819 wurde die Societas Jesu (zunächst in Galizien) wieder zugelassen, die Redemptoristen (Clemens Maria Hofbauer) übten einen bedeutenden Einfluß aus. Die Reise Franz I. zu Pius VII. 1819 hatte Langzeitfolgen, die zwar nicht zur Aufgabe, aber zur Durchlöcherung der Positionen des Josephinismus führten. Der Nach-Josephinismus prägte Österreich und seine Nebenländer auch noch nach dem Revolutionsjahr 1848 und selbst nach dem Konkordat 1855. Die Mentalität josephinischer Religiosität, die sich für Staat und Kirche gleichermaßen verantwortlich wußte, verkörpert etwa durch den Typus des „josephinischen Hofrats", mit ihrer ebenso fruchtbaren wie (vor allem für Nichtkatholiken) furchtbaren Amalgamierung von Thron und Altar, erlosch auch nicht mit dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie 1918. Während etwa die deutschen Landesregierungen den evangelischen Landeskirchen nach 1918 nicht mehr ein landesfürstliches Summepiskopat aufnötigten, war dies in der Republik Österreich anders, die 1 9 1 8 - 1 9 3 8 gegenüber der „Evangelischen Kirche A. u. H. B. in Österreich" summepiskopale Rechte sehr kräftig geltend machte und den Kirchenverfassungsentwurf 1931 daher nicht bestätigte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlosch sehr allmählich die josephinische Mentalität, die die „dominante" Religion des Katholizismus auch in völlig neuer verfassungsrechtlicher Situation gleichermaßen geschützt wie gegängelt hatte. Das zeigte sich wiederum in dem Verhalten staatlicher Stellen zur „Evangelischen Kirche A. u. H. B. in Österreich", die erstmals 1949 ihre inneren Rechtsverhältnisse in einer neuen „Kirchenverfassung" fast autonom regeln durfte und im „Protestantengesetz" 1961 ihre „äußeren Rechtsverhältnisse" auf der Basis echter Gleichberechtigung mit anderen Konfessionen weithin nach ihren Vorstellungen garantiert, und nicht mehr oktroyiert erhielt. Der Josephinismus prägte die geistliche wie geistige, die rechtliche wie die politische Lage in den Ländern der habsburgischen Monarchie samt ihren Nebengebieten im 18. Jh. entscheidend, im 19. Jh. erheblich mit und wirkte bis weit in das 20. Jh. nach. Literatur A. v. Arneth, Zwei Denkschr. der Kaiserin Maria Theresia: A Ö G (1871) 2 6 7 - 3 3 4 . Peter F. Barton, Jesuiten, Jansenisten, Josephiner. Eine Fallstud. zur frühen Toleranzzeit, 1978 (STKG II/4). - Ders., Erzieher, Erzähler, Evergeten, 1980 (STKG II/5.1). - Ders. (Hg.), Im Zeichen der Toleranz, bzw. Im Lichte der Toleranz. Aufs, zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jh. in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen u. ihren Folgen. Eine FS, 2 Bde., 1981 (STKG II/8.9). - Ders., Umstrittener „Reformkatholizismus" - Modellfall Josephinismus: ders. (Hg.), Brücke zwischen Kirchen u. Kulturen, 1976 (STKG I I / l ) 2 4 - 4 1 . - Roger Bauer, Remarques sur l'histoire „du" ou „ d e s " Josephisme. Utopie et Institutions aux XVIII siecle, Paris 1963, 107ff. - Wilhelm B a i m , Ferdinand M a a ß - Leben u. Werk: Kirche u. Staat in Idee u. Gesch. des Abendlandes. FS Ferdinand M a a ß , Wien 1973, 1 3 - 3 7 . - Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Z u r Prosa der österr. Aufklärung 1781—1795, Frankfurt 1977. - Elisabeth Bradler-Rottmann, Die Reformen Kaiser Josephs II., Göppingen 1973 (Göppinger Akademie Beitr. 67). - Manfred Brandl, M a x Anton Wittola. Seine Bedeutung für den Jansenismus in dt. Landen, Steyr 1974. - Sebastian Brunner, Joseph II., Freiburg 2 1885. - Ders., Die theol. Dienerschaft am Hofe Joseph II. Geheime Correspondenzen u. Enthüllungei . . . 1 7 7 0 - 1 8 0 0 , Wien 1868. - Ders., Die Mysterien der Aufklärung in Österreich 1 7 7 0 - 1 8 0 0 , Mainz 1869. - Anna Gräfin Coreth, Pietas Austriaca. Ursprung u. Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, Wien 1959. - Anton Ellemunter, Antonio Eugenio Visconti u. die Anfänge des Jostphinismus in Österreich, Graz/Köln 1963. - Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich, Vien 1977 ( F K G Ö 7). - F r i e d r i c h Heyer, Die kath. Kirche v. 1 6 4 8 - 1 8 7 0 , 1 9 6 3 (KIG IV/1). - E d u a r d Hosp, Kirche Österreichs im Vormärz 1 8 1 5 - 1 8 5 0 , Wien 1971 (FKGÖ 9). - Grete Klingenstein, Staatsverwaltung u. kirchl. Autorität im 18. Jh. Das Problem der Zensur in der theresianischen Reform, Vien 1970. - Gerda Koller, Princeps in ecclesia. Unters, zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. in ö ; t e r reich, 1964 (AÖG 124). - Elisabeth Koväcs, Art. Giuseppinismo: Dizionario degli Istituti di Perftzione 4 (1977) 1 3 5 7 - 1 3 6 7 . - Dies. (Hg.), Kath. Aufklärung - Josephinismus, Wien 1979. - Dies., Burgundisches u. theresianisch-josephinisches Staatskirchensystem: Ö G L 22 (1978) 7 4 - 8 9 . - Ftrdinand M a a ß (Hg.), Der Josephinismus. Quellen zu seiner Gesch. in Österreich, 5 Bde., 1 9 5 1 - 9 6 1

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Der - » J a h w i s t hat mit seiner Josephsgeschichte eine selbständige literarische Erzählung aufgenommen und sie lediglich durch 39,5 erweitert. So erklärt sich, daß hier im Unterschied zu J Joseph für Israel „Sohn des Alters" ist (37,3), der Vater mehrere T ö c h t e r hat (37,35a) und die Ansiedlung des Vaters mit seiner Familie im Land Gosen betont wird (z.B. 4 5 , 1 0 ; 46,28ff), das J später nicht mehr erwähnt. Außerdem steht als Gottesbezeichnung mit Ausnahme von Gen 39 Elohim (41,51 f; 42,28; 44,16; 45,7.9; 48,11). Da J u d a als Sprecher der Brüder nicht vor David denkbar ist, stammt die Erzählung aus der davidischsalomonischen Zeit. Aus ihr wird auch das Interesse an ägyptischen Verhältnissen (43,32; 4 6 , 3 4 ; 47,13—26; 50,2.3a) und die Aufnahme eines ägyptischen M ä r c h e n s in 3 9 , 7 f f verständlich. Diese — freilich vagen - Kenntnisse, die weisheitlichen Elemente, auf die vor allem v. R a d aufmerksam gemacht hat, und die kunstvolle Gestaltung legen es nahe, daß die Erzählung im Umkreis des königlichen Hofes entstanden ist. Für ihren Stil ist charakteristisch, daß der Ablauf der Handlung mehrfach bewußt zerdehnt wird. So k o m m t z. B. J o s e p h , nachdem er zum Hausverwalter eines Ägypters aufgestiegen war, zunächst in das Gefängnis ( 3 9 , 1 - 2 0 ) , ehe er zum zweiten M a n n Ägyptens wird. Die breit geschilderte Begegnung der Brüder mit dem Hausverwalter und Joseph in 4 3 , 1 5 - 2 3 a . 2 4 - 3 4 bringt die Handlung nicht voran. Sie wird erst durch den Befehl Josephs an seinen Hausverwalter in 4 4 , 1 f* weitergeführt. D a s T h e m a der Erzählung ist „Joseph und der V a t e r " , wie schon aus Exposition und Schluß hervorgeht. Die Liebe des Vaters zu Joseph hat zur Folge, daß ihn die Brüder hassen (37,3 f). Deshalb verkaufen sie ihn an Ismaeliter, die nach Ägypten ziehen. Israel ist über den Verlust dieses Sohnes untröstlich (37,35a). Am Schluß begräbt Joseph mit seinen Verwandten den Vater im Land Kanaan (50,1 —14*). Darauf folgt lediglich eine Notiz über Joseph (50,22). Die besondere Beziehung zwischen dem Vater und Joseph durchzieht die Erzählung als roten Faden. Weil der Vater Joseph nochmals sehen will, zieht er nach Ägypten (45,28). Als er ihn gesehen hat, ist er bereit zu sterben (46,30). Er beauftragt J o s e p h , ihn in Kanaan zu begraben ( 4 7 , 2 9 - 3 1 ) und spricht in 48,11 aus, daß G o t t seinen Kummer über Joseph in Freude verwandelt hat. In dieses T h e m a ist das besondere Verhältnis zwischen Joseph und Benjamin eingebaut, das aber nach Gen 45 keine Rolle mehr spielt. Dabei ist die große Rede Judas von 44,18 ff, die den Wendepunkt in der Beziehung zwischen Joseph und den Brüdern bildet, ganz an dem Geschick des Vaters ausgerichtet. Weil die Brüder bei Benjamin im Unterschied zu Joseph die Liebe des Vaters akzeptieren, geben sie ihn nicht preis. J u d a könnte das Unheil nicht mit ansehen, das den Vater treffen würde, wenn er diesen Sohn verliert (44,34). Auch der Aufstieg Josephs in Ägypten ist mit dem T h e m a der Erzählung fest verbunden, weil er die Voraussetzung ist, daß der Vater ihn wiedersehen kann. D e m Verfasser geht es nicht um politische oder stammesgeschichtliche Beziehungen. E r zeichnet vielmehr den Vater und seine Söhne als Individuen. Dabei ist er besonders an menschlichen Gefühlen und den Handlungen, die aus ihnen entspringen, interessiert. Aus der Liebe des Vaters zu Joseph entsteht der H a ß der Brüder, der zu seinem Verkauf führt. In Ägypten wird Joseph erniedrigt, weil er sich dem Begehren der Frau seines Herrn entzieht (39,7 ff). Joseph weint nur im Blick auf Benjamin und den Vater, mit denen er sich besonders verbunden weiß (43,30; 4 5 , 1 4 ; 4 6 , 2 9 ; 50,1), aber nie über alle Brüder. Die Erzählung stellt verschiedentlich dar, daß das Geschehen für die Betroffenen zunächst unerklärbar ist. D e m Vater und den Brüdern ist rätselhaft, warum die Brüder Joseph nur wiedersehen dürfen, wenn sie Benjamin mitbringen (43,1 ff). Unverständlich ist den Brüdern, wie sie ihr Geld wiederfinden konnten (42,28) und warum Benjamin als Dieb entlarvt wird (44,16). Die verschiedenen Rätsel erfahren von Gott her ihre Lösung. So bekennt Joseph in der Deutung der Namen seiner Söhne, daß ihm Gott nach allem Schweren ein glückliches Leben geschenkt hat (41,51 f). In 4 5 , 5 8 a 1 .ß.6 f interpretiert er den Brüdern seinen Weg: G o t t hat ihn vor ihnen hergesandt, um ihnen trotz der Hungersnot N a c h kommenschaft zu geben und am Leben zu erhalten. In 48,11 sagt der Vater, daß ihn G o t t sogar die N a c h k o m m e n Josephs sehen ließ, obwohl er meinte, Joseph nicht mehr zu

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sehen. Dabei ist das Wirken Gottes eng mit dem menschlichen Tun verflochten. Obwohl die Brüder Joseph an Ismaeliter verkauft haben, hat ihn Gott vor ihnen hergesandt (45,7). Der Pharao macht Joseph zum zweiten M a n n Ägyptens (41,41 f.44), aber Joseph läßt dem Vater mitteilen, daß ihn Gott zum Herrn für ganz Ägypten gemacht hat (45,9). Diese Josephsgeschichte w a r die literarische Vorlage für den ->Elohisten, wie aus den Motiven des von den Brüdern gefundenen Geldes (42,35) und des bürgenden Bruders (42,37) deutlich wird. Während sie beim Jahwisten für den Fortgang der Handlung konstitutiv sind, bilden sie beim Elohisten lediglich Nebenmotive, da er den Becher in dem Sack Benjamins nicht erwähnt, der bei J zu dem Geld eine Steigerung darstellt, und Rüben bei Joseph nicht für Benjamin eintreten muß. Der Elohist hat die retardierenden Elemente weitgehend beseitigt. An ihre Stelle treten bei ihm Doppelungen. So berichtet er z. B. in 37,5ff; 40,6ff; 41,1 ff jeweils von zwei Träumen. Auch 5 0 , 1 5 - 2 1 besteht aus zwei Szenen. Dieser Abschnitt ist als Ganzes zugleich eine Doppelung zu der vorläufigen Deutung des Geschehens durch Joseph in 45,5aa 2 .b.8. Daß der Elohist durch 4 6 , l a / ? - 5 a die Abfolge verzögert, ist dadurch bedingt, daß für ihn J a k o b mit seiner Übersiedlung nach Ägypten die Volksgeschichte einleitet. Deshalb erhält er hier eine Verheißung des göttlichen Beistandes und der Mehrung. Auch im T h e m a hebt sich der Elohist deutlich von J ab. Lediglich in 4 6 , l a / ? - 5 a steht der Vater im Mittelpunkt. Ansonsten geht es um „Joseph und die Brüder". Joseph weint hier nur über alle Brüder (42,24; 45,2.15; 50,17). In der Exposition werden die Brüder auf Joseph eifersüchtig, weil er ihnen von seinen beiden Träumen erzählt, in denen ihm eine Vorrangstellung angekündigt wird (37,5a.6ff). Als die Brüder in Ägypten mit Joseph zusammentreffen, stellt er sie durch die Geiselnahme Simeons auf die Probe, ob sie diesen Bruder ebenso im Stich lassen wie einst ihn (42,15 ff). Der Vater spielt hier keine Rolle. Die Brüder erinnern sich an ihre Schuld gegen Joseph (42,21 f) und kehren mit Benjamin nach Ägypten zurück. Diese Schuld wird in 5 0 , 1 5 - 2 1 nochmals thematisiert: Joseph kann sich an den Brüdern nicht rächen, weil Gott aus ihrem bösen Plan etwas Gutes werden ließ, um sie und ihre Kinder am Leben zu erhalten (vgl. auch 45,5b.8). So stehen hier Joseph und die Brüder am Anfang und am Schluß. Am Beginn und am Ende steht aber auch Gott. Durch die Träume hatte Gott Joseph eine Sonderstellung angekündigt. Sein Konflikt mit den Brüdern entsteht also durch eine Erkenntnis, die Joseph von Gott hat. Auch sein Aufstieg in Ägypten gründet in einem besonderen Wissen, das ihm Gott verliehen hat. Joseph kann hier Träume deuten, nachdem er betont hat, daß Traumdeutung eine Sache Gottes ist (40,8; 41,16). Daran erkennt der Pharao, daß in Joseph der Geist Gottes ist und keiner klüger und weiser ist als er (41,38 f). Der Pharao folgt mit der Einsetzung Josephs zum zweiten M a n n somit nur dem Weg, den ihm Gott vorgezeichnet hat. Für den Leser ist Joseph dadurch besonders geeignet, den Brüdern die Ereignisse zu deuten. Der Elohist wollte offenbar die Gestalt Josephs und den Ablauf der Ereignisse theologisch durchsichtiger machen, als sie für ihn in seiner Vorlage waren. Außerdem hatte für ihn die Frage nach der Schuld der Brüder ein solches Gewicht, daß er sie ausdrücklich beantworten wollte. Die ->Priesterschrift hat die Josephsgeschichte, die ihr aus dem Jehowisten bekannt w a r , wesentlich gekürzt. Sie ist bis 45,19* nur fragmentarisch erhalten. Die Bruchstücke legen es nahe, daß sie nur von einer Reise der Brüder berichtete. In dem ersten Teil bildet die Übersiedlung nach Ägypten den Schwerpunkt. Die Brüder werden als „die Söhne Israels/die Israeliten" bezeichnet (42,5; 46,5b; vgl. Ex 1,1), weil sie von dem Zeitpunkt ihrer Reise nach Ägypten an das Volk Israel repräsentieren. Andererseits schließt bei P die Josephsgeschichte die Väterzeit ab, wie an 4 7 , 7 - 1 0 und den priesterschriftlichen Stellen in Gen 4 8 - 5 0 deutlich wird, in denen J a k o b als letzter Patriarch im Mittelpunkt steht. Hier kommen in 4 8 , 3 - 6 Ephraim und M a n a s s e als Ahnherrn von Stämmen in den Blick. Das sind sie auch in dem exilisch-nachexilischen Zusatz 48,15 f. Entgegen der üblichen Auffassung ist m.E. die stammesgeschichtliche Deutung dieser Söhne und Josephs in 4 8 , 9 b . l 0 a . l 3 f . l 7 - 2 2 erst in nachexilischer Zeit entstanden.

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Ludwig Schmidt

Josephus Flavius (37/38

n. Chr. - nach

100)

1. Leben 2. Werk 3. Überlieferung und Nachgeschichte zungen/Hilfsmittel/Literatur S . 2 6 3 )

1.

(Ausgaben und Überset-

Leben

1.1. Herkunft und Familie. Josephus, Sohn des Matthias (Bell 1,3), geboren im ersten J a h r des Claudius = 37/38 n. Chr. (Vita 5), gestorben nach 100 in R o m , entstammte einer angesehenen zur ersten Priesterklasse (Jehojarib: I Chr 24,7) gehörenden Familie aus Jerusalem, die dort auch begütert war (Bell 5,419; Vita 2.422). Z u r Zeit des jüdischrömischen Krieges wurden seine Eltern von den Aufständischen eingekerkert (Bell 5 , 5 3 3 . 5 4 4 ) ; sein Bruder M a t t h i a s geriet in römische Gefangenschaft (Vita 8.419). Zum Beweis seiner hasmonäischen Abstammung legt Josephus in Vita 2 - 6 einen Stammbaum vor, der aus chronologischen Gründen problematisch ist und darüber hinaus den in Aussicht gestellten Nachweis hasmonäischer Abstammung áno zfjq prjxpÓQ nicht erbringt. Versteht man mit R a j a k (15 f) pr¡ttip als Ahnfrau, so ergibt sich die sinnvolle genealogische Aussage, daß die hasmonäische Abstammung auf die Tochter Jonathans zurückgeht (andere Lösungsvorschläge bei Schürer-Vermes-Millar 1,46 Anm. 3 und C o hen 107 f Anm. 33). Josephus war viermal verheiratet. Die dritte Frau gebar ihm drei Söhne, von denen Hyrkanos, geb. im 4. J a h r Vespasians ( = 7 2 / 7 3 ) , überlebte. Iustus, geb. im 7. J a h r Vespasians ( = 7 5 / 7 6 ) , und Simonides Agrippa, geb. im 9. J a h r Vespasians ( = 7 7 / 7 8 ) , waren Kinder seiner vierten Frau (Vita 5 . 4 2 6 f ) . 1.2. Bildung und Persönlichkeit. Wenn Josephus schreibt, er sei als Vierzehnjähriger allseits für seine Liebe zu den ypáfifiara gelobt worden, und sowohl die Angehörigen des priesterlichen Adels als auch die sonstigen führenden Persönlichkeiten Jerusalems hätten sich bei ihm eingefunden, um Genaueres nepi TCÖV vopipcov zu erfahren (Vita 9), so mag man durchaus an den literarischen T o p o s vom Wunderkind denken, der auch der jüdischen Tradition nicht fremd ist. In der Sache handelt es sich bei den Kenntnissen und Fähigkeiten, mit denen er seine Umgebung verblüfft haben will, um den Gegenstand des jüdischen Elementarunterrichts, wie ihn Josephus selbst definiert: ypáfi/iaxa naiSeúeiv xai rá nepi ZOVQ vófiovq xai TCÖV npoyóvcúv npá&IQ éníozaoSai (Ap 2,204). Für den Priester Josephus dürfte die mündliche Unterweisung auch in der F o r m der Weitergabe spez:eller priesterlicher Überlieferungen vor sich gegangen sein. M i t dem 14. Lebensjahr endet gewöhnlich der Elementarunterricht. Wenn der Autor den seinen Kenntnissen gezcllten Beifall in diese Zeit verlegt, gibt er daher zu erkennen, daß er sie im Elementarunterricht

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erworben hat. Historischer Kern des von Josephus aufgegriffenen Topos vom Wunderkind ist die Tatsache, daß er eine gute hellenistische, doch jüdisch akzentuierte Grundausbildung genossen hat. Wie er sie indes betont, läßt einen seiner Charakterzüge durchschimmern: seine ausgeprägte Eitelkeit. Nach dem Studium bei Pharisäern, Sadduzäern und Essenern und einem Aufenthalt bei einem gewissen Bannus in der Einsamkeit (16.-19. Lebensjahr) erwählte er sich als seine Lebensform den Pharisäismus, den er mit der —>Stoa vergleicht (Vita 10-12). Dieser Vergleich ist nicht nur Lesehilfe für nichtjüdische Leser, sondern auch sachlich berechtigt. Josephus war Stoiker. Seine Muttersprache war aramäisch (vgl. Bell 1,3.6). Dem Unterricht anhand der Bibel und der Unterweisung in priesterlichem Wissen verdankt er seine Hebräischkenntnisse. Griechisch verstand jeder junge Adlige mit weltoffener Erziehung. Hervorstechende Charakterzüge, die offensichtlich sein literarisches Schaffen beeinflußt haben, waren neben seiner Eitelkeit priesterlicher Stolz und prophetisches Selbstbewußtsein. Über die Gabe der Divination verfügend, vermag er, Träume richtig zu deuten und zweideutige Schriftworte, die sich auf die Z u k u n f t beziehen, auszulegen (Bell 3,351-354). Nicht zuletzt durch die Auslegung des Gottesspruches, zu jener Zeit werde der Weltherrscher aus Judäa hervorgehen (vermutlich N u m 24,17ff), auf Vespasian (Bell 6,312) reiht sich Josephus ein in die politische Prophetie des frühen Judentums, die nicht so sehr vom direkten Wortempfang als vielmehr von der göttlich geleiteten Auslegung eines Textes lebte (Hengel 240-251). Allen modernen Mutmaßungen zum Trotz, die hier nur blanken Opportunismus am Werk sehen, sah er sich als Prophet (vgl. Bell 5,391-393). 1.3. Wirken. Josephus schien zunächst eine Karriere beschieden zu sein, wie sie ein junger Mann aus priesterlichem Adel der Lage der Dinge nach erwarten durfte. Im Jahr 64 übernahm er - wohl wegen seiner vermuteten Weltgewandtheit — die delikate Mission, nach Rom zu reisen und von Nero die Freilassung einiger ihm nahestehender Priester zu erwirken, die aller Wahrscheinlichkeit nach antirömischer Umtriebe verdächtig waren. In Italien angekommen, suchte er die Freundschaft des jüdischen Mimen Aliturus, eines Günstlings Neros, der ihn bei Poppäa einführte. Sie fand Gefallen an dem jungen Jerusalemer; denn sie überredete den Kaiser nicht nur zur Freigabe der Gefangenen, sondern bedachte Josephus auch mit großzügigen Geschenken, bevor er die Heimreise antrat (Vita 13-16). Weniger glücklich agierte er, etwa ab 66, als Gouverneur und Militärbefehlshaber in Galiläa, wo er im Auftrag des Synhedrions das Land mit recht bescheidenen Mitteln in den Kriegszustand zu versetzen hatte (Bell 2,562-568). Die Erfüllung seiner Aufgabe erschwerte die Rivalität mit Johannes von Gischala, der seine Anhänger in den Städten hatte, während Josephus sich auf das flache Land stützte. Des Verrats bezichtigt (Bell 2,594.626ff), versuchte das Synhedrion, ihn seines Kommandos zu entsetzen, mußte dieses Vorhaben aber fallen lassen (Vita 216ff). Als Vespasian auf dem Kriegsschauplatz erschien, zwangen ihn die Unzuverlässigkeit seiner Truppen und die mangelnde Kriegsbegeisterung der Galiläer, sich in das zur Festung ausgebaute Iotapata zurückzuziehen. Es fiel nach einer Belagerung von 47 Tagen am Neumond des Panemos ( = 1.7.67). Josephus rettete sich mit anderen in eine Höhle. Während seine Soldaten kollektiv Selbstmord begingen, ergab Josephus sich mit einem Gefährten den Römern aus dem Bewußtsein heraus, sich aus dem göttlichen Auftrag nicht davonstehlen zu dürfen. Seitdem haftete ihm der Ruf des Überläufers an. Aber trotz seiner Verheißung, Vespasian werde Kaiser werden, blieb er solange Gefangener, bis sie sich tatsächlich erfüllt hatte. Da erst befahl Vespasian seine Freilassung, und zwar in einer Form, die zum Ausdruck bringen sollte, d a ß Josephus rechtlich gesehen nie Gefangener gewesen war (Bell 4,622-629). Den weiteren Kriegsverlauf erlebte er dann im römischen Stab, wo er als Führer, Berater in jüdischen Angelegenheiten und Dolmetscher tätig war. Seine Übersiedlung nach Rom, wohin er Titus begleitete, bedeutete eine tiefe Zäsur für Josephus. Obwohl ihm Vespasian das römische Bürgerrecht verliehen hatte, was er ihm durch die Annahme des Gentiliciums Flavius dankte, mußte er das Leben in Rom als sozialen Abstieg empfinden. Z w a r konnte

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er sich immer noch als judäischer Landbesitzer betrachten, zumal Domitian die Ländereien, die Titus ihm als Entschädigung für seinen Jerusalemer Besitz überlassen hatte, noch durch eine Schenkung vermehrt hatte. Dennoch war aus dem priesterlichen Aristokraten praktisch ein Klient der flavischen Dynastie geworden. Er wohnte im Privathaus Vespasians, lebte hauptsächlich von einem ausgesetzten Jahresgehalt und konnte sich seiner zahlreichen Anfeindungen nur durch die Anrufung des Kaisers erwehren (Vita 422-426.428 f). Gegen die Kritik, mit der Iustus von Tiberias ihn selbst und seinen Jüdischen Krieg überzog, griff er zur Feder (Vita 3 3 6 - 3 6 7 ) . Die Einkünfte aus seiner literarischen Tätigkeit waren ihm, wenigstens zeitweise, nicht gleichgültig. Gütesiegel wie die Empfehlungen des Titus und Agrippas II. stellten keine abstrakten Echtheitszertifikate dar, sondern sollten gleichzeitig den Absatz fördern (Vita 3 6 1 - 3 6 7 ) , und aus der Zahl der Normalzeilen (Ant 20,267: 60.000) errechnen sich nicht nur die Herstellungskosten, sondern wird auch der Buchhandelspreis kalkuliert. Seine soziale Stellung symbolisiert wohl zutreffend seine Freundschaft mit Epaphroditos (Ant 1,8; Vita 430; Ap 1,1; 2,1.296), einem aus der östlichen Reichshälfte stammenden Freigelassenen, der, zu Vermögen gekommen, es sich leisten konnte, Schriftsteller zu unterstützen. Wir haben uns Josephus in bescheidenem Wohlstand lebend vorzustellen, der ihm Recherchen und die Anschaffung einer Bibliothek erlaubte, welche die von ihm benutzten Werke ganz oder teilweise enthielt. Mit Sicherheit hat er folgende Werke verfaßt: 1. die für „Parther, Babylonier, die fernsten Araber, unsere Volksgenossen jenseits des Euphrats und die Adiabener" (Bell 1,6) bestimmte aramäische Originalversion des Jüdischen Kriegs, die verloren ist; 2. die mit fremder Hilfe überarbeitete griechische Fassung des Jüdischen Kriegs-, 3. die Jüdischen Altertümer, 4. das Leben des losepos als Anhang zu Nr. 3; 5. Gegen Apion. Von der in Aussicht gestellten Abhandlung ne.pi xai akicöv (Ant 4,198; vgl. 1,25), die offenbar als eine jüdische Theologie in vier Büchern, bestehend aus Metaphysik und Ethik, gedacht war (Ant 20,268), ist nicht bekannt, ob sie je vollendet wurde. Versuche, sie mit Gegen Apion zu identifizieren, sind gescheitert. Der Vorschlag, das Werk auf eine erweiterte zweite Auflage der Altertümer und auf Gegen Apion aufzuteilen, hat das textkritische Argument gegen sich, das alle „Auflagenhypothesen" erst zu entkräften haben: Die Überlieferung von Ant 1 1 - 2 0 und Vita beruht auf einem einzigen Archetypos (Schreckenberg, Untersuchungen 115 ff. 173 f). Eine verlorene Syrische Geschichte wird von manchen aus den nicht zu identifizierenden Verweisen in den Altertümern erschlossen. Während der Glaube an die Bedeutung des römischen Schutzes für das jüdische Volk sich als Konstante durch das Leben und Schaffen des Josephus zieht (Rajak 225), zeigen sich doch auch Spuren eines Reifeprozesses. Sein Bekenntnis zum Judentum tritt immer deutlicher hervor, nicht zuletzt in dem Vorwurf gegenüber Herodes, er habe sich über die näxpia eßrj hinweggesetzt (z.B. Ant 15,267-276), und der Mitschuld am Schicksal des jüdischen Volkes, die er dem Verhalten Agrippas II. (Ant 20,216-218) zuweist (S. J . D . Cohen 236). 2. Das Werk 2.1. Der Jüdische Krieg. Dieser deutsche Titel wie auch der übliche lateinische De hello ludaico, scheinen der Überschrift, die der Verfasser seinem Werk gegeben hat, zu entsprechen, obwohl die Überlieferung im Detail voneinander abweicht. Ihm scheint daran gelegen zu haben, sein Werk der Sache nach eindeutig zu bezeichnen. So kann er schlicht auf das siebte Buch oder das zweite Buch zcöv 'IovöaiKÜ>v verweisen (Ant 13,72.298). Letzteres zitiert er auch als das zweite Buch zfjg 'IooSaiKrjg npayßazeiaq (Ant 13,173). In der „richtig e n " F o r m zitiert Josephus seinen griechischen literarischen Erstling Ant 2 0 , 2 5 8 ; Vita 412: ne.pi zoß 'IoodaiKOÖ noXtfioo.ln anderen Verweisen faßt er sich kürzer: o 'IooöoXKdq nöXeßOZ (Ant 1,203; 18,11). Die, allerdings seltene, handschriftliche Version iazopia 'Iovöaikov nolißov npöq 'Pmpaiovq greift die inhaltliche Charakterisierung zu Anfang des ersten Buches auf (Bell 1,1), während die gänzlich abweichende, aber häufige Überschrift mpi ähbasmc; „Über die Einnahme (Jerusalems)" schon durch ihre Verkürzung auf das Ende von Stadt und Tempel ihre christliche Herkunft anzeigt.

In seinen programmatischen Äußerungen (Bell 1 , 1 - 9 . 1 3 - 1 6 ) verwirft er die bloße

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Nacherzählung des längst Vergangenen zugunsten der Darstellung der eigenen Zeit und insistiert auf Wahrheit und Objektivität, die die persönliche Teilnahme und die Verwendung von Augenzeugenberichten voraussetzten (vgl. auch Vita 357 f; Attridge, Interpretation 4 4 - 5 0 ) . Den die Zeitspanne von Antiochos IV. Epiphanes bis zur Rückkehr des Titus nach Italien und zum Triumph der Flavier umfassenden Stoff (Bell 1,19-30) verteilt Josephus auf sieben Bücher, die im allgemeinen dem zeitlichen Ablauf folgen. Doch wenn es dem besseren Verständnis dienlich ist, unterbricht er ihn und orientiert sich am thematischen Zusammenhang. Josephus war ein Zeuge der Zeit, der seine Person und das, was er erlebt und sich notiert hat (Bell 1,3; Ap 1,56), mit einbringt. Darüber hinaus konnte er Einsicht nehmen in die commentarii Vespasians und des Titus; Unterrichtung durch Agrippa II. lag vor (Vita 3 6 4 - 3 6 6 ) . Für die Beschreibung der Vorgänge in Rom ist mit der Benutzung eines oder mehrerer zeitgenössischer römischer Historiker zu rechnen. Für die Vorgeschichte des Krieges bedient er sich der einschlägigen Bücher der Universalgeschichte ('Iaxopia xaSoÄixrj) des Nikolaos von Damaskos. Der Jüdische Krieg enthält zahlreiche direkte Reden, von ganz kurzen, nur aus einem Satz bestehenden, bis zu umfangreichen, sorgsam komponierten, die in thukydideischer Tradition stehen. Wenn auch die meisten vorliegendes Material verarbeiten, so transportieren doch gerade die großen Reden im Munde der Protagonisten Agrippa II., Josephus und Eleasar auch das Verständnis des Autors. In der Gegenwart läßt Gott durch die Römer das Urteil vollstrecken, das er wegen seiner Verfehlungen in der Vergangenheit über sein Volk gesprochen hat (Lindner 2 1 - 4 2 ) . Mit Sicherheit von manchen als flavische Propaganda mißdeutet, erschien das Werk wohl erst gegen Ende 79, nachdem es Josephus stilistisch noch hatte überarbeiten lassen. S . J . D . Cohen, der das letzte Buch für „domitianisch" hält, datiert den Jüdischen Krieg in die Zeit nach der Thronbesteigung Domitians, also frühestens in das Jahr 81 (Josephus 90). 2.2. Die Jüdischen Altertümer. Der deutsche Titel ist eine Übersetzung der geläufigen lateinischen Bezeichnung Antiquitates ludaicae. Josephus selbst nannte dieses Werk apXaioXoyia „Alte Geschichte" (Ant 20,259.267; Vita 430). Die Überlieferung hat an diesem Titel, ihn als 'lovöaiktj äpxaiokoyia präzisierend, festgehalten. 'Ap/aioXoyia bezeichnet gleichzeitig eine Gattung (Ant 1,5f; vgl. Bell 1,17), die darzustellen hat, wer eine Gruppe von Anfang an war, welche Schicksale sie hatte, in welchen Staatsformen sie sich im Lauf der Zeit organisierte, auf welche Gesetzgeber ihre Gesetze und Sitten zurückgehen (vgl. Ant. 1,6.13 mit Dion. Hai. 1,5,1 und 1,8,2). Diesen Fragen will Josephus über einen Zeitraum von 5000 Jahren nachgehen (Ant 1,13), von der Erschaffung der Welt bis ins zwölfte Jahr Neros = 66 n. Chr. (Ant 20,259). Die leitenden Gesichtspunkte seiner Darstellung sieht er in der Wahrheit (Ant 8,56; 1 4 , 1 - 3 ; 1 6 , 1 8 7 ; 2 0 , 1 5 7 ) , Genauigkeit (Ant 1 4 , 1 - 3 ; 2 0 , 2 6 0 - 2 6 7 ) , Vollständigkeit (Ant 1,13; 2 0 , 1 5 7 ) , Objektivität (Ant 16,187) und Quellentreue, die weder eigene Erweiterungen noch Abstriche zulasse ( 1 , 5 . 1 7 ; 2 , 3 4 7 ; 4 , 1 9 6 ; 10,218). Erlaubt hingegen seien die Herstellung der rechten Ordnung (Ant 1,17; 4 , 1 9 7 ; 8,224) und die Ausschmückung durch das treffende W o r t und den passenden Stil, um den Leser durch den Genuß für die M ü h e der Lektüre zu belohnen (Ant 1 4 , 1 - 3 ) . Demnach versteht Josephus unter Quellentreue nicht die sklavische Unterordnung unter die Quelle, sondern wie jeder antike Historiker die Treue in der Sache (van Unnik, Josephus als historischer Schriftsteller, 3 9 f). Das Publikum war auf das richtige Verständnis solcher Aussagen vorbereitet.

Was die Ziele betrifft, die er mit seinem Werk erreichen möchte, so entwickelt er aufklärerischen Impetus. Natürlich liegt ihm an der Verbreitung der Wahrheit über das Judentum (Ant 1,3.6), insonderheit über seinen Gottesbegriff (->Gott III). Das Judentum ist keine in Mythologemen schwelgende Religion, sondern eine Philosophie (Ant 1,15.25). Vergleicht man den ersten bis 11,303 reichenden Teil der Altertümer, w o Josephus sich auf die Bibel stützt, mit heute existierenden Textformen, so erlaubt der derzeitige Stand der textgeschichtlichen Forschung nicht den Schluß, Josephus habe sowohl die L X X , allerdings mit einigen protolukianischen und anderen Lesarten, als auch eine hebräische Bibel benutzt. Eher ist die Benutzung einer

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LXX-Rezension anzunehmen, die einer hebräischen Überlieferung nahestand, die sich der „ h e r m é neutique transformante" (Jean Koenig, L'herméneutique analogique du judaïsme antique d'après les témoins textuels d'Isaïe, Leiden 1982, 410ff) geöffnet hatte, zumal selbst —»Haggada in die L X X eingedrungen ist.

Neben einer Fülle haggadischen Materials benutzte Josephus -»Philo von Alexandria, den -»Aristeasbrief, Artapanos, Demetrios, Eupolemos, Kleodemos Malchas, den Liber antiquitatum biblicarum, die Oracula Sibyllina, das Testament Josephs und Theodotos. Natürlich war auch Josephus selbst Traditionsträger. Eine Reihe nichtjüdischer Autoren (dazu Schreckenberg, Untersuchungen 174 ff) hat er teils selbst eingesehen, teils Sammelschriften entnommen. Im zweiten Teil treten die jüdischen Quellen zurück. Er fußt in der Hauptsache auf der Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskos und anderen nichtjüdischen Schriften. Ihre Rolle im ersten Teil, die Darstellung als quellen- und wahrheitsgetreu zu bestätigen, ist im zweiten Teil den Urkunden, besonders in Kap. 14 und 16, zugedacht. Den Stoff ordnet er so, daß jedes der 20 Bücher möglichst mit dem Abgang eines Großen von der Weltbühne endet. Auch in den Altertümern ersetzt er im Interesse des Lesers die zeitlich bestimmte Anordnung hin und wieder durch thematische Zusammenfassungen (Ant 4,196-301). Dem Prinzip der gefälligen Darstellung zugeordnet sind der Ersatz obsoleter Begriffe durch aktuelle, die Einführung von Entfernungs- und Zeitangaben zur Orientierung in Raum und Zeit, die Begründung persönlichen Handelns und des Eintritts von Ereignissen, um die Erzählung glaubwürdiger zu gestalten. Besonders gern entnimmt Josephus solche Motive dem psychologischen Bereich. Einige Episoden überzieht ein Hauch von Erotik mit romanhaftem Charme. Ganz allgemein kennzeichnet den Stil der rhetorischen Geschichtsschreibung die Dramatisierung, wo der Schriftsteller auch seinen militärischen Neigungen durch entsprechende Ausschmückung knapper Schlachtund Kriegsberichte frönt. Belehrung heißt für Josephus Vermittlung richtiger und Vermeidung falscher Ansichten, vor allem aber Anleitung zur Tugend, wozu die Vorbilder die als Paradigmensammlung verstandene jüdische Geschichte bereit hält. Im Grunde kommt alle Tugend von Gott. So gewiß sich Josephus zur Erwählung seines Volks bekennt, so gewiß soll das Judentum als die wahre Philosophie auch die nationalen Grenzen überschreiten (Ant 8,116f), um der ganzen Welt zur Glückseligkeit zu verhelfen (Ant 6,343; 17,60; 18,128). Mit dem 93/94 erschienenen Werk glaubte Josephus, für sein Volk geleistet zu haben, was Dionysios von Halikarnassos, an den er sich in bezug auf Titel, Einteilung und Programm anlehnt, mit seiner 'Ap/aioloyid 'Pcofiaïxrj für die Römer geschaffen hatte. 2.3. Leben. Der Titel, 'Icoar¡Ttoo ßioq, gewöhnlich lat. Vita, ist ein Produkt der Überlieferung, der das Buch seine Selbständigkeit verdankt. Ursprünglich bildete es einen Anhang zu den Altertümern, der die Angriffe des Iustus von Tiberias widerlegen sollte. Daß die Vita erst einer zweiten Auflage hinzugefügt worden sei, ist zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich. Als Quellen wurden das Hypomnema des Josephus, die Hypomnemata Vespasians und des Titus und der 'Iouôaikôç nôJx/uoç des Iustus von Tiberias verwendet. Josephus gliedert den Bios nach dem aus der römischen Tradition bekannten Schema Herkunft, Werdegang, Wirken, Schluß (S.J.D. Cohen 102f). 2.4. Gegen Apion (lat. Contra Apionem). Der eigentliche Titel hat vermutlich nspi âpxaiÔTtjroç 'Iovôaicov gelautet. Das Alter des Judentums zu erweisen, hat Josephus sich ausdrücklich vorgenommen (Ap 1,58 f). Gegen Apion richtet sich erst das zweite Buch (2,2). Er ist einer der Autoren, deren verfälschende Böswilligkeit bei der Darstellung des Judentums es zu entlarven gilt. Beide Titel sind den Kirchenvätern —»Hieronymus (Epist. 70,1), ->Origenes (Contra Celsum 116; III 11) und -»Eusebius von Caesarea (Praep. Ev. X 6,15) vertraut. Aber nur zusammengenommen treffen sie den Inhalt, wie der Aufbau zeigt. Beide Themenkreise werden negativ und positiv entfaltet. Erwartungsgemäß zitiert Josephus zahlreiche nichtjüdische Autoren, von denen manche nur auf diese Weise auf uns

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gekommen sind. Mit der Veröffentlichung antwortete er wohl auf Kritik, welche das Erscheinen der Altertümer ausgelöst hatte. 2.5. Sprache. Josephus' Sprache, im Bellum auch die seiner Helfer, gehört der klassizistischen Prosa der Kaiserzeit an, die sich an Isokrates, Sophokles, Herodot, Thukydides schulte. Vermittelt wurden die Vorbilder wohl weniger durch eigene Lektüre als durch die Exempla rhetorischer Handbücher. 3. Überlieferung

und

Nachgeschichte

Die Überlieferung von Josephus' Werken ist ausschließlich dem Interesse zuzuschreiben, das die frühe und mittelalterliche Kirche an ihnen genommen hat. Ein kaum noch übersehbares Heer von Auszügen, Zitaten, Entlehnungen und Anklängen belegt ihre Ausbeutung zugunsten der heilsgeschichtlichen Substitutionstheorie. Josephus wird zur Folie für das Neue Testament. Auf der Grundlage des Jüdischen Kriegs errichtete man das Lehrgebäude von der servitus ludaeorum, das die Lage der Juden während des ganzen Mittelalters bestimmen sollte (Schreckenberg: A N R W II 21/2, 1 1 8 2 - 1 1 9 1 ) . Die Tradierung im christlichen Raum hat auch im Text selbst Spuren hinterlassen. Bekannteste christliche Interpolation ist das sogenannte Testimonium Flavianum Ant 18,63f, das Tod und Auferstehung Christi erwähnt und von einem „ S t a m m " seiner Anhänger berichtet. Von der Beliebtheit der Altertümer zeugt auch eine Epitome. Die zunehmende Verdrängung des Griechischen durch das Lateinische bzw. Syrische verlangte nach Übersetzungen. Die kirchenslawische Übersetzung ist eher eine freie Bearbeitung. In wachsendem M a ß bemächtigte sich auch die volkstümliche Literatur des Josephus. Viele Legenden wären ohne ihn nicht denkbar; bei ihm suchten die Autoren biblischer Dramen Stoff und Motive. Als Nachdichtungen von bleibendem literarischem Wert wird man Lion Feuchtwangers Romantrilogie Der jüdische Krieg (1932), Die Söhne (1935), Der Tag wird kommen (1941) ansehen müssen. Ausgaben und Übersetzungen Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer. Übers, v. Heinrich Clementz, Halle/Saale [1899]. Flavius Josephus, Gesch. des Jüd. Krieges. Übers, v. Heinrich Clementz, Halle/Saale [1900]. - Des Flavius Josephus kleinere Schriften. Übers, v. Heinrich Clementz, Halle/Saale [1900], - Josephus, The Jewish War. Newly transi, with extensive commentary and archaeological background illustrations. By Gaalya Cornfeld/Benjamin Mazar/Paul L. Maier, Givatayim/Tel Aviv 1982. - Flavius Josephus' Jüd. Krieg. Hg. u. übers, v. Philipp Kohout, München 1901. - Flavius Josephus, De bello Judaico. Der Jüd. Krieg. Griech. u. dt. v. Otto Michel/Otto Bauernfeind, Darmstadt, 1 3 1982, II/l 1963, II/2 1969, III 1969. - Flavii Josephi opera omnia post I. Bekkerum recognovit Samuel A. Naber, 6 Bde., Leipzig 1 8 8 8 - 1 8 9 6 . - F l a v i i Josephi opera ed. et apparatu critico instruxitBenedictus Niese, 7 Bde., Berlin 1885-1895. - Flavii Josephi opera recognovit Benedictus Niese, 6 Bde., Berlin 1888-1895. - Flavii Josephi Antiquitatum Judaicarum Epitoma ed. Benedictus Niese, Berlin 1896. Flavius Josèphe. Autobiographie. Texte établi et traduit par André Pelletier, Paris 1959. - Flavius Josèphe, Guerre des Juifs. Texte établi et traduit par André Pelletier, Paris, I 1975, II.III 1980, IV.V 1982. - Oeuvres complètes de Flavius Josèphe. Traduites en français sous la direction de Théodore Reinach, 7 Bde., Paris 1900-1932. - Flavius Josèphe. Contre Apion. Texte établi et annoté par Théodore Reinach et traduit par Léon Blum, Paris 1930. - Flavio Giuseppe tradotto e commentato a cura di Giuseppe Ricciotti, 3 Bde., Turin 1949. - Flavii Josephi Antiquitates Judaicae. In linguam hebraicam vertit, annotationibus amplissimis illustravit et prooemio instruxit Abraham Schalit, 3 Bde., Jerusalem 1944-1963. - Josephus. With an English translation. By Henry St. John Thackeray/Ralph Marcus/Allen Wikgren/Louis H. Feldman, 9 Bde., Cambridge, Mass./London 1926-1965. Hilfsmittel Louis H. Feldman, Scholarship on Philo and Josephus, New York 1962. - Ders., Josephus and modem scholarship (1937-1980), Berlin/New York 1984. - Ders., Josephus. A supplementary bibliography, New York 1986. - A Complete Concordance to Flavius Josephus. Ed. by Karl Heinrich Rengstorf, Leiden 11973, II1975, III 1979, IV 1983. - Abraham Schalit, Namenwörterbuch zu Flavius Josephus, Leiden 1968 (A Complete Concordance to Flavius Josephus. Ed. K . H . Rengstorf, Suppl. 1). - Heinz Schreckenberg, Bibliogr. zu Flavius Josephus, 1968 (ALGHL 1). - Ders., Bibliogr. zu

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2. Zeit

3. Buch, Bund und Reform

4. Josias Tod

(Literatur S. 267)

Josia (Josijjahü, 639/8-609 v.Chr.), König von Juda und nach alttestamentlichem Zeugnis für eine bestimmte Zeit auch König von Nordisrael, letzter bedeutender Vertreter der davidischen Dynastie vor der heraufziehenden Vernichtung des Südreiches durch die Neubabylonier (587). 1.

Quellen

Die Quelle, die die meisten authentischen Nachrichten über Josia und seine Regentschaft enthält, ist der Textkomplex II Reg 22 £. Hat er auch seine jetzige Gestalt durch die Tätigkeit etlicher deuteronomistischer Redaktoren erhalten (—»Deuteronomium/ Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule), liegen ihm wahrscheinlich doch Annalen zugrunde, die einigermaßen verläßlich in großer Nähe zu den berichteten Ereignissen verfaßt und zum Teil wörtlich in den vorliegenden Zusammenhang übernommen worden sind (Spieckermann 41 ff, anders Hoffmann 169ff). Demgegenüber läßt sich der Parallelbericht in II Chr 34 f Punkt für Punkt als nach den theologischen Voraussetzungen des Chronisten konzipierte Darstellung erweisen, für die in Übereinstimmung und Abweichung keine anderen Quellen als II Reg 22 f (zusammen mit wenigen weiteren alttestamentlichen Texten) zur Verfügung gestanden haben (trotz aller Einwände unwiderlegt: de Wette passim, Wellhausen 187. 195ff u.a.). Auch die häufige Erwähnung Josias im Jeremiabuch trägt nur unwesentlich zur genaueren Kenntnis bei. Die meisten Belege sind deuteronomistischer Provenienz und be-

Josia

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nutzen seinen Namen lediglich zu Datierungszwecken (Jer 1,2; 3,6; 25,3; 36,2; vgl. Zeph 1,1; in den Filiationen von Joahas/Sallum, Eljakim/Jojakim und Zedekia: Jer 1,3; 22,11.18; 25,1; 26,1; 27,1; 35,1; 36,1.9; 37,1; 45,1; 46,2; vgl. II Reg 23,30.34). Wider Erwarten hat sich Jeremia mit dem bedeutendsten Regenten seiner Wirkungszeit offensichtlich wenig beschäftigt. Gründe für die Zurückhaltung können nur vermutet werden. Wo Jeremia jedoch auf Josia Bezug nimmt, spricht unüberhörbar Hochachtung aus seinen Worten (Jer 22,15). Die Kenntnis der Josiazeit ist auch nicht dadurch zu vergrößern, daß man eine Reihe alttestamentlicher Texte bzw. politischer und religiöser Entwicklungen mit dürftigen Kriterien in diese Epoche datiert. In jüngerer Zeit erfreut sich das Verfahren in der Forschung einer gewissen Beliebtheit. Doch sind weder die Gründe für eine erste Ausgabe des deuteronomistischen Geschichtswerkes noch diejenigen für die Datierung bestimmter Ortslisten des Josuabuches (Teile aus Jos 15-19, vgl. Alt) in die Josiazeit sonderlich stichhaltig, um nur zwei seit langem vertretene Thesen zu nennen. Eine Ausnahme macht in dieser Hinsicht - obgleich nicht unbestritten - der Kern des Deuteronomiums. Daß er mit dem Buch identisch ist, das zur Zeit Josias im Tempel „gefunden" und wohl auch in großer Nähe zum „Fund" verfaßt worden ist, erhellt aus einer Reihe von Übereinstimmungen, die durch jede andere Theorie nur schlechter erklärt werden können (s.u. 3). 2. Zeit Josia ist Zeitgenosse des rapiden Machtverfalls und des Unterganges des neuassyrischen Weltreiches gewesen. Schon bald nach der größten territorialen Ausdehnung durch die Eroberung Ägyptens unter Asarhaddon (680-669) verschlimmerte sich der Erosionsprozeß unter Assurbanipal (668-627) zusehends (bereits 656 definitiver Verlust Ägyptens), befördert durch ein ganzes Bündel von Ursachen, unter denen die tiefgreifende innere religiös-politische Verunsicherung und die fortschreitende Aramaisierung wohl die wichtigsten sind (Spieckermann 229ff). Indessen blieb die äußere Selbstdarstellung des Weltreiches in politischer Propaganda und militärisch-administrativer Präsenz in den meisten Vasallenstaaten und Provinzen zunächst unverändert. So auch in Juda, einem nach den teuer bezahlten Putschversuchen Hiskias (725/24—697/96) rebellionsmüden Land, dem Josias Großvater Manasse (696/95-642/41), ein treuer Vasall Assurs und deshalb von späteren Deuteronomisten ungerecht hart beurteilt (II Reg 21,1 — 18), in 55jähriger Herrschaft Frieden bei (teilweise stark) eingeschränkter Selbständigkeit beschert hatte. Als jedoch Josias Vater Amon (641/40-640/39) offensichtlich den Weg Manasses fortsetzen wollte, fiel er einer Verschwörung von nicht mehr rebellions-, sondern vasallitätsmüden Höflingen zum Opfer. Indessen führte der Königsmord nicht zum intendierten Machtwechsel. Wie schon häufiger sorgte der 'Am-hä'ärces, der grundbesitzende und dem davidischen Königshaus treu ergebene Stand, dafür, daß der achtjährige Josia seinem ermordeten Vater auf den Thron folgte (II Reg 21,19-26). Welche Gruppe damit Einfluß auf das unmündige Königskind bekam, sollte sich beim mündig gewordenen König erweisen. 3. Buch, Bund und

Reform

Als in Josias achtzehntem Regierungsjahr von dem Priester Hilkia ein Buch im Jerusalemer Tempel „gefunden" und sein Inhalt dem König zur Kenntnis gebracht wird, ist sich dieser sofort der theologischen Brisanz seines Inhaltes bewußt (vgl. zum Folgenden II Reg 22 f). Die angeordnete Befragung Jahwes wegen des Buchfundes bei der Prophetin Hulda bestätigt das Urteil des Königs, „daß der Zorn Jahwes groß ist, der gegen uns entbrannt ist" (22,13). Josia unternimmt jedoch den Versuch, das angekündigte Unheil durch die Promulgation des Gesetzbuches in einem für König und Volk verbindlichen Bundesschlußakt „vor Jahwe" (23,3) abzuwenden. Dem Wort folgt die Tat. Der anschließenden Reform fallen alle fremden Götter und

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Josia

Kulteinrichtungen in Juda, von salomonischer bis in josianische Zeit teils toleriert, teils oktroyiert, zum Opfer. Die legitime Kultausübung wird radikal auf -»Jerusalem beschränkt (23,8 a), um dem Mißbrauch fern von theologisch kompetenter Aufsicht zu wehren. Nur um der Reinheit des Jahwedienstes, nicht um der „Wiederherstellung des Großstaates Davids" willen (Martin Noth, Geschichte Israels, 6 1966, 248) wagt sich der König sogar auf das Territorium der assyrischen Provinz Samaria, des ehemaligen Nordreiches, vor, wo allem voran der Altar in Bethel als Exponent der „Sünde Jerobeams" der Vernichtung anheimfällt (vgl. I Reg 13). Schließlich beendet Josia die Reformmaßnahmen mit einem Passafest, „wie es im Buche dieses Bundes geschrieben steht" (II Reg 23,21), um den Willen zu kompromißloser Jahweverehrung nicht nur durch die Negation jahweferner Kulte, sondern auch durch die Erneuerung jahwegemäßen Gottesdienstes zu dokumentieren. „Wie es im Buche dieses Bundes geschrieben steht": Der ganze Bericht ist erkennbar stilisiert, und zwar nicht erst durch die deuteronomistische Redaktion, zu der die zitierte Ausführungsnotiz gehört. Ihr hat bereits eine Grundfassung ohne erkennbare deuteronomistische Diktion vorgelegen, in der die Zentrierung auf König und (sein Verhalten zum „gefundenen") Buch konsequent ausgestaltet war. Die Verfasser der ersten Textgestalt sind sich über die angemessene Bezeichnung des (vermeintlich wieder) neuen Buches noch nicht einig („[dieses] Buch" [hasjsefar [hazzäh] 22,8.10.13; 23,3; „Buch des Gesetzes" sefcer hattdräh 22,8.11; „Buch des Bundes" sefcer habberTt 23,2), müssen also offensichtlich für etwas Neues einen Namen finden. Da die Bezeichnung „Buch des Gesetzes" (sefcer hattdräh) zudem auch in den hinteren Rahmenteilen des Deuteronomiums häufiger belegt ist (28,61; 29,20; 30,10; 31,26; vgl. 31,24), wird deutlich, daß die hier wie dort tradierenden und redigierenden Deuteronomisten bei dem „Fund" zur Zeit Josias und beim (Kern des) Deuteronomium(s) an ein und dasselbe Buch gedacht haben. Für die Identität sprechen auch inhaltliche Kriterien: Das kämpferische Eintreten für den Jahweglauben gegen alle religiösen Kompromisse der Vergangenheit und Gegenwart, das im Deuteronomium programmatischen Ausdruck gefunden hat, erfährt seine Realisierung in Josias Reformwerk. Besonders deutlich wird der Zusammenhang an der im Deuteronomium an exponierter Stelle (Kap. 12) gebotenen Kultzentralisation (um der Fiktion der Moserede willen ohne Nennung des Ortes), die Josia unter Einschluß des Kultpersonals in die Tat umsetzt (II Reg 23,8 a; zum Zusammenhang von 23,9 mit Dtn 18,6—8 vgl. Spieckermann 96 ff). Es bleibe dahingestellt, ob der Vermerk über das josianische Passafest auf verläßlicher Erinnerung beruht oder doch eher nachgetragene deuteronomistische Erfüllungsnotiz in bezug auf Dtn 16 ist; die Orientierung am Deuteronomium als ideeller Grundlage der josianischen Reform hat alle Wahrscheinlichkeit für sich. Davon ist bereits die Darstellung der Deuteronomisten geprägt, die zwar die josianische Reform zu einer Generalabrechnung mit aller halb- und weitherzigen Jahweverehrung ganz Israels überhöht und außerdem die Reformidee in die Geschichte Israels zurückgetragen haben (mit unterschiedlichen Akzentuierungen Hoffmann 47ff und Spieckermann 160ff), aber als Söhne bzw. Enkel von Zeitgenossen Josias kaum die Freiheit zur fiktiven Darstellung der Zeit ihrer (Groß-)Väter besaßen. Das gilt nicht nur für die Reform, sondern auch für den „Fund" des Buches. Jerusalemer Priester, der deuteronomischen Bewegung zugehörig, haben in der synkretistischen Bedrängnis der Manasse- oder der frühen Josiazeit tatsächlich den Weg zum reinen, intolerant monotheistischen Jahweglauben (wieder)gefunden und ihm durch die Autorität des mosaischen Wortes Geltung verschafft - vielleicht schon vor dem öffentlichen Buchfund bei der Erziehung des jungen Josia, der als erwachsener König sonst wohl nicht so selbstverständlich den ungewöhnlichen Anspruch des Buches zu seiner Sache gemacht hätte. Diesen Fund als „angelegten Handel" (de Wette 179) oder als „Mystifikation der Priester" (Gustav Hölscher, Das Buch der Könige, seine Quellen und seine Redaktion: Eucharisterion. FS Hermann Gunkel, I . T . , 1923 [FRLANT 36/1] 213) zu bezeichnen, hieße, die vordergründigen, notwendigerweise lückenhaften Mitteilungen über die Um-

Josia

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stände des Fundes ernster zu nehmen als den theologischen Fund: die alleinige Verehrung des einen Gottes J a h w e an der einen Kultstätte in Jerusalem. 4. Josias

Tod

Die Reinheit der Jahweverehrung hatte unter den politischen und religiösen Bedingungen im 7. J h . die nationale Unabhängigkeit zur notwendigen Voraussetzung. N u r dadurch war sowohl der erzwungene als auch der tolerierte Einfluß fremder Religionen allen voran der neuassyrischen - wirksam zu verhindern. Deshalb wird die josianische R e f o r m auch den öffentlichen Bruch des Vasallitätsverhältnisses gegenüber Assur impliziert haben - u m 6 2 1 / 2 0 ein angesichts des Zerfalls der neuassyrischen Weltmacht ohnehin unbedenklicher Schritt. Gewagt w a r demgegenüber Josias K o m m a n d o u n t e r n e h m e n bei Megiddo im J a h r e 6 0 9 (II R e g 2 3 , 2 9 ) , w o d u r c h er den ägyptischen P h a r a o N e c h o daran hindern wollte, die Assyrer in ihrem Herrschaftsanspruch über Palästina zu beerben. Die Überlegung w a r im Blick auf die gut zehn J a h r e alte, k a u m konsolidierte R e f o r m richtig, im Blick auf die militärischen Erfolgsaussichten chancenlos. Josia ist in der Schlacht gefallen. Die Trauer des Volkes wird eindrücklich durch Jer 2 2 , 1 0 dokumentiert. Die die R e f o r m leitenden theologischen Ideen - die Einzigkeit J a h w e s und die Einheit der K u l t s t ä t t e - h a b e n sich jedoch in der folgenden judäischen und jüdischen Geschichte trotz mancher Rückschläge (Jer 4 4 , 1 5 f f . ; Ez 8) und ununterbrochener Fremdherrschaft durchgesetzt. In den alttestamentlichen Quellen tritt d a r u m die Person Josias ganz hinter diese Wirkungsgeschichte zurück. Literatur Gösta W. Ahlström, Royal Administration and National Religion in Ancient Palestine, 1982 (SHANE 1). - Albrecht Alt, Bemerkungen zu einigen judäischen Ortslisten des A T (1951): ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, II 1953, 2 8 9 - 3 0 5 . - Ders., Judas Gaue unter Josia (1925): ebd., 2 7 6 - 2 8 8 . - Aage Bentzen, Die josianische Reform u. ihre Voraussetzungen, 1926. - Karl Budde, Das Dtn u. die Reform König Josias: ZAW 44 (1926) 1 7 7 - 2 2 4 . - Morton Cogan, Imperialism and Religion: Assyria, Judah and Israel in the Eighth and Seventh Centuries B . C . E . , 1974 (Society of Biblical Literature, Monograph Series 19). - Matthias Delcor, Les cultes étrangers en Israël au moment de la réforme de Josias d'après 2 R 23. Etude de religions sémitiques comparées: Mélanges bibliques et orientaux en l'honneur de M . Henri Cazelles, 1981 (AOAT 212), 9 1 - 1 2 3 . - Ders., Reflexions sur la Pâque du temps de Josias d'après 2 Rois 2 3 , 2 1 - 2 3 : Henoch 4 (1982) 2 0 5 - 2 1 9 . Walter Dietrich, Josia u. das Gesetzbuch (2 Reg. X X I I ) : V T 27 (1977) 1 3 - 3 5 . - Hugo Gressmann, Josia u. das Dtn: ZAW 42 (1924) 3 1 3 - 3 2 7 . - Hans-Detlef Hoffmann, Reform u. Reformen, 1980 (AThANT 66). - Helmut Hollenstein, Literarkrit. Erwägungen zum Bericht über die Reformmaßnahmen Josias 2 Kön. X X I I I 4ff: V T 27 (1977) 3 2 1 - 3 3 6 . - Alfred Jepsen, Die Reform des Josia (1959): ders., Der Herr ist Gott, Berlin 1 9 7 8 , 1 3 2 - 1 4 1 . - H. Darreil Lance, The Royal Stamps and the Kingdom of Josiah: H T h R 64 (1971) 3 1 5 - 3 3 2 . - Christoph Levin,Joschija im dtr. Geschichtswerk: ZAW 96 (1984) 3 5 1 - 3 7 1 . - J o h a n n e s Lindblom, Erwägungen zur Herkunft der josianischen Tempelurkunde, 1971 (SMHVL 1970-1971: 3). - Norbert Lohfink, Die Bundesurkunde des Königs Josias: Bib. 44 (1963) 2 6 1 - 2 8 8 . 4 6 1 - 4 9 8 . - Ders., Zur neueren Diskussion über 2 Kön 2 2 - 2 3 : Das Dtn, hg. v. N. Lohfink, 1985 (BEThL 68), 2 4 - 4 8 . - Abraham Malamat, Josiah's Bid for Armageddon: JANES 5 (1973) 2 6 7 - 2 7 9 . - John W. McKay, Religion in Judah under the Assyrians 732 - 609 B C, 1973 (SBT SS 26). - Richard Nelson, Realpolitik in Judah ( 6 8 7 - 6 0 9 B. C. E.): Scripture in Context II, hg. v. W.W. Hallo u.a., Winona Lake 1 9 8 3 , 1 7 7 - 1 8 9 . - Lothar Perlitt, Bundestheol. im AT, 1969 ( W M A N T 36) 7 - 5 3 . - Martin Rose, Bemerkungen zum hist. Fundament des Josia-Bildes in II Reg 22 f: Z A W 89 (1977) 5 0 - 6 3 . - J o s e f Scharbert, Jeremia u. die Reform des Joschija: Le Livre de Jérémie, hg. v. P.-M. Bogaert, 1981 (BEThL 54), 4 0 - 5 7 . - Hermann Spieckermann, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, 1982 (FRLANT 129) (Lit.). - Julius Wellhausen, Prolegomena zur Gesch. Israels, Berlin 6 1905. Peter Welten, Die Königs-Stempel. Ein Beitr. zur Militärpolitik Judas unter Hiskia u. Josia, 1969 (ADPV). - Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Beitr. zur Einl. in das A T I, 1806, Nachdr. 1971. Ernst Würthwein, Die Bücher der Könige. 1. Kön. 1 7 - 2 . Kön 25, 1984 (ATD 11/2), 4 4 4 - 4 6 6 . - Vgl. ferner Komm, zu Dtn, I/II Reg und Geschichten Israels. H e r m a n n Spieckermann

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Josippon

Josippon Der Josippon ist eine mittelalterliche jüdische Chronik. Sie beginnt mit einem VölkerVerzeichnis, das aus den alttestamentlichen Quellen (Gen 10,2-5; 11,1-9; I Chr 1,1—7) zusammengestellt, jedoch für das 10. Jh. aktualisiert wurde1. Anschließend werden in dem Werk durchgehend Parallelen zwischen der Geschichte Roms und der Geschichte Israels gezogen. Nach einer summarischen Beschreibung der italischen Altertümer („die Nachkommen der Kittim") erzählt der Autor die Geschichte Roms und interpretiert sie neu vom jüdischen Standpunkt aus. Er behauptet unbedenklich, daß „Romulus große Angst vor David hatte" und daß „die Einwohner Roms sich, solange David lebte, sehr vor ihm fürchteten". Immer unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen den beiden Mächten (Israel und Rom) schildert er sodann das makkabäische Epos und die Folgeereignisse, die ihren Höhepunkt im offenen Aufstand der Juden gegen Rom erreichten. Die militärische Niederlage der Juden ist für den Verfasser zweitrangig; dagegen betont er ihre Tapferkeit im Kriege, preist ihre Liebe zu Jerusalem und zum Tempel, ihren Glauben an die Erlösung und ihren unerschrockenen Mut, mit dem sie - als höchste Tat der Liebe und der Treue zum Gottesbund — das Martyrium auf sich nehmen. Nach jüngstem Urteil (s. Feldman 6 2 - 6 6 ; Flusser: Zion 18,109-126; Loewenthal 4 4 - 4 6 ; Toaff: RSO 40,313-317) ist der Josippon schätzungsweise um die Mitte des 10. Jh. entstanden. Tatsächlich finden sich von dieser Zeit an erste Zitate des Werkes. Der Autor nennt seinen Namen nicht; sein auffallendes Interesse an der Lokalgeschichte und die Art seiner Bildung und Sprache lassen jedoch darauf schließen, daß er in einer der vielen im Hochmittelalter in Süditalien blühenden jüdischen Gemeinden geboren und verwurzelt war. Die Geschichte des Textes ist überaus verwickelt, da der Josippon in drei verschiedenen Rezensionen überliefert ist: der von Mantua (1476-1479), von Konstantinopel (1510) und von Venedig (1544). Flusser verdanken wir die 1978-1980 erschienene kritische Ausgabe des Werkes; doch sind auch die einschlägigen Beiträge von Hominer, Reiner, Sorscher und Toaff (s. die Bibliographie) nicht gering einzuschätzen. Der Verfasser des Josippon ist des Griechischen unkundig und hat auch im klassischen Latein nur spärliche Kenntnisse (er korrigiert Cicero in Cicerus\). Als Quellen benutzte er eine lateinische Fassung der Bücher 16 und 20 der Jüdischen Altertümer und —»Hegesipp. Er gibt der Geschichte Roms eine neue Deutung; er rehabilitiert die Gestalt des „Verräters" Josephus Flavius, indem er ihm den Rang eines glaubwürdigen Historikers zurückgibt, füllt eine geschichtliche Lücke aus (von den Makkabäern bis zum Fall von Masada), die von den Juden stets als Mangel empfunden wurde, und schafft ein wirksames Propagandainstrument zur Widerlegung der christlichen Deutungen und Interpolationen (s. das Testimonium flavianum), die die Werke des jüdischen Historikers erfahren haben. Anmerkung 1

Im einzelnen gibt der Verfasser an, daß „die Ungarn, die Bulgaren, die Petschenegen", Nachkommen des Togarma, „an einem großen Flusse siedelten, der Danubius, also Dunaj, heißt", und daß „die Ismaeliten" ( = die Araber), die Tarsus erobert hatten, von den Griechen vertrieben worden waren. Dazu ist bemerkt worden (s. Feldman, 55), daß die erste Angabe eine geschichtliche Situation nach 900 n. Chr. voraussetzt, während sich die zweite auf die Wiedereroberung von Tarsus durch Byzanz im Jahre 965 n. Chr. bezieht. Ausgaben

Mantua 1 4 7 6 - 1 4 7 9 von Abraham Conat; Konstantinopel 1510 von Tam ibn Yahya ben David; Venedig 1544 von Yehuda ben Ishaq Levi und Yehiel ben Yekutiel. - Neuere Ausgaben: Sepher Yosippon, ed. Hayim Hominer (Introduction by Abraham J. Wertheimer), Jerusalem 1962. - The Josippon (Josephus Gorionides), ed. David Flusser, 2 Bde., Jerusalem 1 9 7 8 - 1 9 8 0 . - Josippon. The Original Version. MS. Jerusalem 8° 4 1 2 8 0 and Supplements, ed. ders., 1978 (TSSKP, 49). - Ariel Toaff, Critical Edition of the Alexandre Romance according to Yosephon (in Vorbereitung); umfassende Bibliographie.

Josua/Josuabuch

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lJteratur Louis Harry F e l d m a n , Josephus and M o d e r n Scholarship ( 1 9 3 7 - 1 9 8 0 ) , B e r l i n / N e w York 1984 (Lit.)- - David Flusser, T h e Author o f the book o f J o s i p p o n . His Personality and His Age (hebr.): Z i o n 18 (1953) 1 0 9 - 1 2 6 . - Ders., Art. J o s i p p o n : E J 10 (1971) 2 9 6 - 2 9 8 . - Elena L o e w e n t h a l , L a storiografia ebraica altomedievale. II Sepher J o s i p p o n , l'ltalia M e r i d i o n a l e e la storia r o m a n a , Diss. Lett. Turin 1983 (Lit.). - J a c o b Reiner, T h e J e w i s h War. Variations in the Historical Narrative o f J o s e p h u s Flavius, Diss. Dropsie University 1972. - Heinz S c h r e c k e n b e r g , Bibliogr. zu Flavius J o s e phus, 1968 ( A L G H J 1). - Ders., Die Flavius-Josephus-Tradition in Antike u. M A , 1972 ( A L G H J 5). Ders., Rezeptionsgesch. u. textkrit. Unters, zu Flavius J o s e p h u s , 1977 ( A L G H J 10). - Ders., Supplementbd. mit Gesamtregister, 1979 ( A L G H J 14). - Esther Sorscher, A C o m p a r i s o n o f three T e x t s . T h e Wars, the Hegesippus and the Yosippon, Diss. M . A . Yeshiva University 1973. - Ariel T o a f f , S o r r e n t o e Pozzuoli nella letteratura ebraica del medioevo: R S O 4 0 (1965) 3 1 3 - 3 1 7 .

Angelo Vivian Josua/Josuabuch 1. J o s u a 1.1. N a m e 1.2. J o s u a - B i l d e r 1.3. Geschichtlicher Ertrag 2. D a s J o s u a - B u c h 2 . 1 . Die Stellung im K a n o n 2.2. Inhalt 2.3. Uneinheitlichkeit 2 . 4 . Forschungsgeschichtlicher Überblick 2 . 5 . Geschichtlicher Wert und theologische Bedeutung (Literatur S . 2 7 7 )

1. Josua Angaben über Josua, seine Person und sein Werk, enthalten außer dem nach ihm benannten Buch noch Ex und Num sowie Dtn und Jdc 1—2. So zahlreich und gehaltvoll diese Nachrichten auch erscheinen mögen, so lassen sie sich doch nicht zu einem einheitlichen Abriß zusammenfügen, weil sich in ihnen verschiedene, noch deutlich voneinander abzuhebende Josua-Bilder widerspiegeln. 1.1. Name. Das ist schon beim N a m e n J o s u a der Fall, o b w o h l hierbei noch am ehesten eine sichere Klärung möglich ist. D e r N a m e J o s u a (jehosu[ü]a') ist ein t h e o p h o r e r , jahwe-haltiger Person e n n a m e mit der Bedeutung „ J a h w e ist H i l f e " , dessen Kurzformen josua' und jesüa' sind ( M . N o t h , Israelit. Personennamen, 1928, 154). D i e Filiation lautet „der Sohn des Nun ( „ F i s c h " ) " . In N u m 1 3 , 1 6 allerdings heißt es, M o s e habe den Kundschafter aus dem S t a m m E p h r a i m namens H o s e a ben N u n (V. 8) in J o s u a ben N u n u m b e n a n n t , J o s u a also zunächst H o s e a „(die Gottheit) hat g e h o l f e n " (Noth 176) geheißen. M ö g l i c h ist das schon. Freilich fällt auf, d a ß kein G r u n d für diese U m n e n n u n g angegeben oder ersichtlich wird. M a n k ö n n t e ihn im Blick auf andere Umnennungen von Personen im Alten T e s t a m e n t darin vermuten, d a ß durch diesen Akt der B e n a n n t e zum Benennenden in ein besonders festes, auch Abhängigkeit und Dienstverpflichtungen einschließendes Verhältnis gesetzt wurde (vgl. G e n 4 1 , 4 5 ; II R e g 2 3 , 3 4 ; 2 4 , 1 7 ; Dan 1,7 u. O . Eißfeldt, K S V, 7 1 ) . D e m n a c h würde sich hierin die enge Gebundenheit J o s u a s an M o s e ausdrücken. In gewisser Weise indes ergibt sich bei dieser Deutung des N a m e n s w e c h s e l s die Schwierigkeit, d a ß die Quellenschicht, die diese Notiz bietet, nämlich P, eine derartige Bindung J o s u a s an M o s e in den folgenden Kapiteln nicht erkennen läßt und erst in N u m 27 die Einsetzung J o s u a s zu M o s e s N a c h f o l g e r berichtet. S o erwägt Eißfeldt (KS V, 7 4 - 7 5 ) die andere M ö g l i c h k e i t , daß diese Ersetzung eines neutralen durch einen jahwe-haltigen Personennamen auf die inzwischen erfolgte „ Ü b e r n a h m e des J a h w e - K u l t e s durch die Israeliten oder durch bestimmte Vorläufer des späteren I s r a e l " zurückgehe und somit historisch sei. D i e Bedenken dagegen, d a ß nur P und auch nur als Z u s a t z n o t i z zur Kundschafterliste diese N a c h r i c h t überliefert habe, vermag Eißfeldt nicht zu zerstreuen. S o wird die E r k l ä r u n g von N o t h der W i r k l i c h k e i t näher k o m m e n , daß die Namensliste (V. 4 - 1 6 ) ein künstliches Gebilde ist und „ a u f der bewußten Überlegung (beruht), d a ß die Zeitgenossen M o s e s solche CJahwe'-haltigen) N a m e n noch nicht tragen k o n n t e n , da sie noch vor der Offenbarung des G o t t e s n a m e n s J a h w e . . . geboren w a r e n " , mithin J o s u a eben zuvor anders geheißen haben m u ß ( A T D 7 , 92). Historisch also ist das nicht.

1.2. Josua-Bilder. Zur Klärung und Differenzierung der verschiedenen Josua-Bilder setzen wir bei Ex 17,8 - 1 3 (J) ein. Dort wird erzählt, daß Josua auf Geheiß Moses Männer zum Kampf gegen die Amalekiter auswählt (V. 9 - 1 0 ) , der dank der erhobenen und dann sogar gestützten Hände Moses für Israel schließlich siegreich endet. Die Schlußnotiz stellt fest: „So warf Josua die Amalekiter und ihr Kriegsvolk mit der Schärfe des Schwertes nieder" (V. 13). Josua gehört hiernach zur engeren Begleitung Moses und fungiert als

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Josua/Josuabuch

Feldherr. Z u diesem Bild paßt, daß Josua auch in J o s 1 - 1 2 als der militärische Führer bei der Eroberung des Westjordanlandes erscheint, der sogar den Priestern befiehlt und der nach J o s 13,1 ff „alt und b e t a g t " das eroberte Land an die 9 1/2 Stämme verteilt, wohl nicht in -»Sichern, vielleicht in -»Gilgal. Zu diesem Bild paßt nicht das andere, das in J o s u a den „Diener M o s e s " (mesäret m" N u m 11,28; mesäreto E x 24,13; 33,11) sieht. Diese Bezeichnung kehrt in J o s 1,1 wieder. W i e der Vergleich mit den Stellen lehrt, die den kleinen Samuel als „Diener J a h w e s " (I Sam 2,11; 3,1: mesäret 'ät-JHWH) oder als „Diener vor J a h w e " (I Sam 2,18: m" 'ät-pene JHWH) bezeichnen, ist wohl das jugendliche Alter des ,,Dieners" damit gemeint. Das wird dadurch bekräftigt, daß Josua in E x 33,11 ausdrücklich na'ar „junger Mann' 1 genannt wird, was auch von Samuel (I Sam 2,11; 3,1) und von der dem greisen David dienenden Abisag von Sunem (I Reg 1,15: m" 'ät-hammäläk) mit dem na'"räh von V. 2 . 4 ausgesagt wird. Dann will wohl auch die Wendung, daß Josua „Diener M o s e s von seiner Jugend a n " (Num 11,28: mibbehuräw) gewesen sei, auf Josuas Jugend bezogen und in gleicher Weise verstanden werden. Daraus folgt, daß diese Stellen J o s u a erheblich jünger als M o s e vorstellen, was zum Bild des Kriegsführers nicht recht passen will. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß der M o s e dienende Josua „nicht aus dem Zelt w i c h " , wenn M o s e im Lager Israels weilte (Ex 33,11). Vom „ Z e l t der Begegnung" handelt auch die Jugendgeschichte Samuels (I Sam 2,22), so daß wir uns die Aufgaben, die Josua als Diener M o s e s zu erfüllen hatte, ähnlich denen Samuels vorstellen dürfen, obwohl Samuel „Diener J a h w e s vor E l i " hieß. Auf solche religiös-kultischen Aufgaben Josuas führt auch die andere Erzählung Num 1 1 , 2 4 - 3 0 . In ihr k o m m t ebenfalls das „ Z e l t " (V. 24) vor, und Josua wird als vermeintlicher Wahrer religiöser Ordnung geschildert, wenn er M o s e auffordert, der Verzückung von Eldad und Medad zu wehren. N o t h beurteilt die hier besprochenen Erzählungen als vordeuteronomistische und nicht-jahwistische Überlieferungen; Eißfeldt ordnet sie seinem E zu (Hexateuchsynopse, 1 5 6 * - 1 5 7 * . 1 6 3 * - 1 6 4 * ) . Ganz ähnlich steht es mit Dtn 3 1 , 1 - 2 3 , das die Einsetzung Josuas zum Nachfolger Moses durch J a h w e erzählt. Denn auch diese Szene spielt im Offenbarungszelt und wird als feierlicher kultischer Vorgang geschildert. In Dtn 1,38 liegt mit „der dir d i e n t " ( h ä ' o m e d l'pätiekä) ein deuteronorr.istischer Nachklang zur Titulatur Josuas als „Diener M o s e s " vor. Schließlich könnte man noch an die Erzählung von der feierlichen Verpflichtung des Volkes auf J a h w e in Sichern (Jos 24) denken (vgl. hierzu Nelson; H. Schmid; Dus). Eine von diesem Bild abweichende Vorstellung begegnet in P-Texten. Im Zusammenhang der Umnennung Josuas wurde schon dessen Beteiligung bei der Auskundschaftung des Landes erwähnt. Z u r alten mit Kaleb ben Jephunne verbundenen Überlieferung kam nun Josua ben Nun hinzu, und zwar in der Weise, daß sein N a m e in der Regel vor Kaleb steht. Erzählt wird, daß beide, entsetzt über den entmutigenden Bericht der andsren Kundschafter, die Kleider zerrissen und Israel zum Einzug ins Land aufgerufen haben (Num 14,6ff). Während die anderen Kundschafter getötet wurden, blieben sie am Leben (Num 14,38; 26,65) und dürfen ins Land k o m m e n (Num 14,30; 32,12). Typische Veränderungen zeigt auch die P-Version der Erzählung von der Einsetzung Josuas zum Nachfolger M o s e s (Num 2 7 , 1 2 - 2 3 ; vgl. hierzu Lohfink; Porter). An Josua wird hervorgehoben,daß „in ihm G e i s t " sei (V. 18). Das will wohl von daher gedeutet werden, daß J a h w e als .,der Herr der Geister alles Fleisches" (V. 16) tituliert, der Geist also ein von J a h w e gesandter und von ihm beherrschter ist. Die Aufgaben J o s u a s werden sowohl im religiös-kultischen als auch im militärisch-politischen Bereich gesehen. Er hat einerseits vor den Priester Eleasar zu treten und die Urim-Orakel-Befragung durchzuführen, andererseits Israel zu befehlen, daß es „aus- und einziehe", was auf Josuas militärische Führung weist (V.21). Zugleich aber wird dieses Israel, wie auch sonst bei P, als „die (ganze) Gemeir.de" (V. 1 6 . 1 9 - 2 2 ) oder „die Gemeinde J a h w e s " (V. 17) religiös definiert. Der eigentliche Einsetzungsakt wird vor dem Priester Eleasar und der Gemeinde vollzogen und besteht ir. der Handauflegung durch M o s e . Durch diesen Akt wird ein Teil der Kraft M o s e s auf Josua

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übertragen (V. 18-20.22-23). Z u diesem Bild gehören weiter die Stellen, die Eleasar und Josua gemeinsam nennen und handeln lassen: Num 32,28; 34,17. Dazu paßt schließlich die Verteilung des Westjordanlandes in Jos 14ff, weil sie durch Eleasar und Josua vollzogen wird. Aber auch Dtn 34,9 wird hinzugehören, weil infolge der Handauflegung durch Mose Josua vom „Geist der Weisheit" erfüllt wird, so daß Israel fortan auf ihn hört. In Dtn 3,28 kommt hierzu noch der Auftrag an Mose, Josua zu ermutigen (hzq) und ihn zu stärken {'ms), damit er vor dem Volk ins Westjordanland hinüberziehen und ihm das Land zu eigen geben könne. Diese Ermutigung Josuas, nun allerdings durch Jahwe, wird in Jos 1,6.9 und schließlich, als Aufforderung des Volkes durch Josua, in Jos 1,18 wiederholt, wie der Hinweis auf das Handeln Jahwes an zwei Königen aus Dtn 3,21 in Jos 9,10 wiederkehrt. 1.3. Geschichtlicher Ertrag. Bei der Frage danach, welches dieser Josua-Bilder oder welche Einzelzüge der jeweiligen Schilderung historisch sind, wird man kaum davon ausgehen dürfen, daß etwa dem Josua-Buch oder aber den pentateuchischen Überlieferungen der Vorzug zu geben sei. Denn jedes Bild - so sahen wir — hat auch in Partien des Josua-Buches seine Entsprechung. Das kann doch nur so verstanden werden, daß das Josua-Buch nicht etwa die pentateuchischen Josua-Erwähnungen hervorgerufen hat, sondern umgekehrt, daß die vorhandenen Josua-Bilder bei der Gestaltung des JosuaBuches Pate standen. Aber in noch anderer Weise wird man sich hüten müssen, ältere literarische Bezeugung mit größerer historischer Glaubwürdigkeit gleichzusetzen. Das läßt sich an Ex 24,13; 32,17 zeigen. Josua begleitet Mose als sein Diener beim Aufbruch und noch ein Stück weit beim Hinaufsteigen auf den Berg (vgl. V. 1 4 - 1 5 a), wie er dann auch beim Abstieg wieder in Moses Begleitung zu finden ist und das von fern vernommene Geschrei im Lager offenbar seiner militärischen Profession gemäß, aber eben fälschlicherweise als „Kriegslärm" deutet. Beide Stellen werden allgemein J zugewiesen, gehören also zur ältesten Josua-Uberlieferung. Geht man von Ex 32,17 aus, wird Josua als Kriegsmann vorgestellt. Dazu aber paßt das Wort „sein Diener" kaum. Eißfeldt hat die Schwierigkeit erkannt und in der Hexateuch-Synopse (1922,152*) dadurch zu lösen versucht, daß er dieses Wort als späteren Zusatz betrachtet. Im Aufsatz von 1966 aber äußert er sich dahingehend, daß das Wort „ursprünglich" sein könne, was ihn allerdings dazu zwingt, es in militärischem Sinne als „sein (Moses) Adjutant" zu deuten (KS IV, 302 Anm. 1). Das aber überzeugt angesichts der anderen Stellen, an denen dieses Wort mit Bezug auf Josua begegnet, nicht. So bleibt nur der Ausweg, das Josua-Bild von Ex 24 und 32 als eine Komposition zu deuten. Als sein Diener muß Josua den Mose bei dem wichtigen religiösen Akt des Empfangs des Gesetzes begleiten, obwohl Josua selbst dabei gar nicht zugegen ist und auch sonst keinerlei Funktion hat. Und als Kriegsführer ist Josua in Ex 32 eingebracht, um diese Erzählung noch feiner auszugestalten. Beide Verse also deuten auf eine Kombination von J- und E-Erzählungselementen hin. Für Eißfeldt war Josua auf Grund vor allem von Ex 17 der militärische Führer Israels während der Zeit Moses und auch noch beim ersten Akt der westjordanischen Landnahme des Hauses Joseph, ehe er in Gilgal starb (KS IV,302-304; ders., The Hebrew Kingdom: CAH II, 1965, 8 - 9 ) . Noth hingegen hält den Josua in Ex 17 sowie in den anderen Pentateuchstellen (Geschichte Israels, Göttingen 6 1966, 90) als einen sekundären Eintrag aus der Überlieferung des Josua-Buches (ATD 5,113-114), weil er „ganz unvermittelt" und „immer sehr überraschend" erscheint. Das ist zweifellos richtig und besagt, daß eine Klärung unserer Frage nach dem historischen Josua nicht von den Pentateuchstellen her angegangen werden kann. Alt wählt den anderen Weg und unterzieht die Josua-Buch-Überlieferungen einer kritischen Prüfung mit dem Resultat, daß die Grabtradition, nach der Josua in Palästina gestorben und im Gebiet seines Erbbesitzes in Timnath-Serah ( = hirbet tibne) auf dem Gebirge Ephraim beigesetzt worden ist (Jos 24,29-30; vgl. Jdc 2 , 8 - 9 ) , unverdächtig sei (Alt 186). Ebenso gehöre Josua von Hause aus der Erzählung von der Schlacht bei -*Gi-

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beon (Jos 1 0 , 1 - 1 5 ) an und habe wohl auch die Klärung der Besitzansprüche des Hauses Joseph (Jos 1 7 , 1 4 - 1 8 ) durchgeführt (Alt 1 8 7 - 1 9 1 ) . Vielleicht gehe schließlich auch ein Grundstock der Überlieferung über den „Landtag von Sichern" (Jos 24) auf ihn zurück (Alt 191 — 192). Abgesehen von dem Tatbestand, daß dieses kritische Minimum zwei „ J o s u a - B i l d e r " enthält, den politisch-militärischen Führer und den religiösen Sachwal.ter, erheben sich im Blick auf J o s 24 erhebliche Bedenken gegen seine Historizität (s.u. 2.5). Das läßt auch die Vorstellung Noths, J o s u a sei historisch lediglich als Oberhaupt der „Amphiktyonie-Versammlung" von Sichern zu greifen (Geschichte Israels 91), unmöglich erscheinen. So kann bei aller Vorsicht festgehalten werden, daß J o s u a auf Grund der Grabtradition ein „ E p h r a i m i t " war und mit seinem Verband schließlich bis ins südliche Gebirge Ephraim gelangte und daß er auf Grund der Gibeon- und der Schlichtungserzählung ein den späteren Richtergestalten vergleichbarer charismatischer Kriegsheld und eine auch territoriale Kontroversen schlichtende Autorität war. Von diesem Grundstock aus lassen sich weitere Überlegungen anstellen. N i m m t man an, daß das „Haus J o s e p h " bei seiner Landnahme noch eine einheitliche Größe war und sich die einzelnen Stämme erst danach formiert haben, also der Stamm Benjamin als Abspaltung vom „Haus J o s e p h " entstanden sei, dann könnten die „benjaminitischen" Überlieferungen in J o s 1—9 als Teile der eigentlichen Überlieferung des „Hauses J o s e p h " angesprochen werden. Dann könnte auch J o s u a von Hause aus mit ihnen verbunden gewesen sein (vgl. S. Herrmann, Geschichte Israels, M ü n c h e n 1973, 1 3 2 - 1 3 3 ; Donner 128). Dagegen spricht die begrenzte Konzentration dieser Überlieferungen auf den südlichen Teil des Territoriums des „Hauses J o s e p h " , eben auf das benjaminitische Gebiet. Das Kerngebiet Josephs wird nicht erfaßt. So wird man doch wohl eher mit der gegenteiligen Entwicklung eines allmählichen Zusammenwachsens verschiedener Stämme zum „ H a u s J o s e p h " rechnen (Zobel, Zusammenschlüsse von Stämmen in der vorstaatlichen Zeit Israels: T h e o l . Versuche 14 [1985] 29—37) und eine ursprüngliche Verbindung Josuas mit den Stoffen von J o s 1 - 9 nicht annehmen dürfen. Wenn Josua aber als militärisch-politischer Führer bei der Landnahme „ E p h r a i m s " und bei der Landzuweisung historisch ist, dann liegt die größere historische Wahrscheinlichkeit bei dem Josua-Bild, das in ihm einen Kriegshelden schon aus der M o s e - Z e i t sieht. Und wenn Josua nicht den Abschluß des Landnahmeprozesses gemäß J o s 24 inszeniert hat, dann ist es wahrscheinlicher, daß der Begleiter M o s e s nicht ein Knabe, sondern bereits ein M a n n war, der nicht allzu lange nach M o s e s starb. So wird man trotz aller kritischen Zurückhaltung doch resümieren dürfen, daß Josua eine historische Gestalt gegen Ende der Wüstenzeit und zu Beginn der Landnahme der M o s e - S c h a r war und demzufolge in die Zeit der Wende vom 13. zum 12. J h . v . C h r . gehört. 2. Das

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2.1. Die Stellung im Kanon. Das Josua-Buch eröffnet die Reihe der „Frühen Propheten", einem Teil des zweiten Kanonkomplexes „ P r o p h e t e n " . Die Unterscheidung zwischen diesen und den „Späteren Propheten" ist erst seit dem 8. J h . n . C h r . bezeugt, obwohl die Herausbildung des zweiten Kanonteils schon um 2 0 0 v . C h r . abgeschlossen w a r (vgl. Sir Vorrede 1 u. Sir 4 6 , 1 - 1 0 ) . Das geht zurück auf und förderte zugleich die Vorstellung, daß entsprechende Propheten die Autoren der jeweiligen Bücher gewesen seien. Daß Josua ein Prophet gewesen sei und außer Dtn 3 4 , 5 - 1 2 vor allem das nach ihm benannte Buch verfaßt habe, äußerte zum ersten Mal der babylonische Talmud (BB 14b) um 2 0 0 n . C h r . (vgl. G. M a r x [ = Dalman], Traditio rabbinorum veterrima, Leipzig 1884, 1 5 f . 2 3 f . 4 3 ) . Diese Meinung, die bis zum Aufkommen der Bibelkritik, obwohl schon zuvor hinsichtlich der josuanischen Verfasserschaft von J o s 4 , 1 4 ff; 2 4 , 2 9 ff hier und da Zweifel geäußert worden waren, herrschte (heute z . B . noch Lieberman), hat insofern einen spärlichen Rückhalt am Buch selbst, als es in seiner Endgestalt die hohe Wertschätzung des „Gesetzbuches" bezeugt (s.u. 2.5), Israels Geschichte an diesem Buche mißt und somit gleichsam „ d a s Wirken des prophetischen Wortes im Leben des Volkes" (Childs, Introduction 2 3 2 - 238) aufzeigt.

2.2. Inhalt. Die Zuweisung zum ersten Abschnitt des zweiten Kanonteils zeigt an, daß

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die Bücher J o s bis II Reg inhaltlich eine gewisse Einheit bilden. Sie erzählen die Geschichte Israels von der Einnahme des Westjordanlandes bis zur Begnadigung des Königs Jojachin im babylonischen Exil. Das den Beginn dieses Zusammenhangs bildende Josua-Buch zerfällt deutlich in drei Teile: Kap. 1 - 1 2 erzählt die Einnahme des Westjordanlandes durch Israel, Kap. 1 3 - 2 2 berichtet die Verteilung des Landes und die Heimkehr der ostjordanischen Stämme, und Kap. 23 - 2 4 enthält zwei Abschiedsreden Josuas und die Nachricht über seinen Tod und seiji Begräbnis. 2.3. Uneinheitlichkeit. So geschlossen und konsequent der Gesamtaufriß des JosuaBuches auch wirkt, so uneinheitlich erscheint es doch bei näherem Zusehen. Abgesehen von einigen anachronistischen Angaben - die Gibeoniten als Holzfäller und Wasserschöpfer für den Tempel (von Jerusalem) (Jos 9,23), die Eroberung und Umnennung der Stadt Dan (Jos 19,47; vgl. Jdc 18,27ff), die Eroberung von Hebron und Debir durch Kaleb und Othniel (Jos 1 5 , 1 3 - 1 9 ; vgl. Jdc 1 , 1 0 - 1 5 ) - finden sich manche Dubletten. Jos 4,3 läßt die zwölf Steine „von hier", also dem Ostufer des Jordans, mitnehmen, Jos 4,3.5 aber aus der „ M i t t e des J o r d a n s " . Nach J o s 4,9 werden sie „in der Mitte des J o r d a n s " , nach J o s 4,20 aber „in Gilgal" bzw. nach Jos 4,8 „am R a s t o r t " aufgestellt. In J o s 7,25 wird die Tötung Akans einmal durch Steinigung, dann durch Verbrennung des Übeltäters erzählt, über dem ein Steinhaufen errichtet wird (V. 26). In J o s 8,29 aber wird der Steinhaufen über dem getöteten König von Ai aufgeschichtet. Die Aufstellung eines Hinterhalts gegen die Stadt wird J o s 8 , 2 - 4 und noch einmal V. 12 erzählt. Die Gibeoniten sollen in Zukunft einerseits Dienste für „das Haus meines G o t t e s " (Jos 9,23), andererseits für „den Altar J a h w e s " (V. 27) leisten. Und, um nur noch dies eine zu erwähnen, die beiden Abschiedsreden in J o s 2 3 - 2 4 sind eindeutig Dubletten. Daneben gibt es auch Widersprüche wie in 1,11 und 3,2, wo der Aufbruch Israels nach drei Tagen erfolgt, in Kap. 2 aber ein wesentlich längerer Aufenthalt der Kundschafter im Lande vorausgesetzt wird (vgl. Jos 2,22: Vor ihrer Rückkehr haben sie sich drei Tage versteckt). Diese wenigen Hinweise müssen zum Erweis der Uneinheitlichkeit des Josua-Buches genügen. 2.4. Forschungsgeschichtlicher Überblick. Die sich an eine solche Analyse anschließende Frage ist die nach der Erläuterung des Entstehens derartiger Dubletten und Widersprüche, also die nach dem Werden des Josua-Buches. Seit J . G . - » E i c h h o r n ist bis zur jüngeren Vergangenheit, vereinzelt sogar bis zur Gegenwart die A n t w o r t d a r a u f mit Hilfe der literarkritischen M e t h o d e gegeben worden. Der Ausgangspunkt hierfür w a r die Beobachtung von inhaltlichen Bezügen zwischen dem Pentateuch und dem Josua-Buch: Die Landverheißung an die Erzväter erfährt in der Eroberung und Verteilung des Landes ihre Erfüllung; die Z u s a g e Jahwes am Sinai, er werde die Kanaanäer vor Israel vertreiben, wird im Josua-Buch eingelöst; J o s u a , von M o s e zu seinem Nachfolger eingesetzt, fungiert dann nach dem Josua-Buch als solcher; die Landnahme im Ostjordanland erfährt in der des Westjordanlandes ihre notwendige Fortsetzung und ihren Abschluß. Aus alledem wird die These hergeleitet, daß das Josua-Buch als direkte Fortsetzung des —>Pentateuchs anzusprechen oder als „ein den Pentateuch auf allen Punkten voraussetzender Anhang zu demselben" (J. Wellhausen, Composition des Hexateuchs, Berlin 4 1 9 6 3 , 116) zu verstehen, mithin von einem H e x a t e u c h auszugehen sei. Das hat bewirkt, daß das J o s u a Buch in alle Phasen der Pentateuchforschung einbezogen wurde. J. -»Wellhausen, der der neueren Urkundenhypothese zu ihrem Durchbruch verhalf, läßt die Quellenschriften J , E und P auch am Josua-Buch beteiligt sein und erklärt darüber hinaus erhebliche Partien wie J o s 1; 8 , 3 0 - 3 5 ; 12; 2 3 als rein deuteronomistisch (Composition 1 1 6 - 1 3 4 ) . O. —»Eißfeldt führt die v o r allem von R. Smend (1912) vorgelegte Analyse weiter und gelangt ebenfalls zu der Überzeugung, daß auch für das Josua-Buch außer J, E und P sowie zwei deuteronomistischen Bearbeitungen noch ein älterer Jahwist (J 1 oder L) angenommen werden müsse, der mit J o s 7 ende und dem d e r Grundbestand von J d c 1 , 1 - 2 , 5 als Fortsetzung der L a n d n a h m e nach J o s u a s Tod zugehöre (zuletzt Einleitung § 3 7 f ) . Auch C . A. Simpson (The Early Traditions o f Israel, O x f o r d 1948; vgl. O . Eißfeldt, Die ältesten Traditionen Israels, 1950 [ B Z A W 71]) steht auf dem Boden der neuesten Urkundenhypothese, rech-

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net mit dem H e x a t e u c h und zwei Jahwisten ( J 1 , J 2 ) , findet aber im Josua-Buch nur J 2 , E (und P), da zu J 1 Verse aus J d c 1 gehören. Schließlich stimmt G. Fohrer (Einleitung § 3 0 ) mit Eißfeldt und Simpson in der Annahme eines zweiten J überein, den er N nennt und dem er J o s 1 1 , 1 3 ; 1 5 , 1 3 - 1 9 . 6 3 ; 17,11 — 18; 19,47 zuweist, während J und E weithin parallel liefen und sich auch wegen der beiden deuteronomistischen Bearbeitungen des Buches nur schwer trennen ließen. P schließlich habe nur Kap. 12 und die Hauptmasse von Kap. 1 3 - 2 2 enthalten (zur Problematik von P in J o s vgl. jüngst Blenkinsopp, Ibáñez Arana u. Ottosson). Die Quellen J 1 , J 2 und E samt der deuteronomistischen Redaktion findet F. Langlamet in der Erzählung von J o s 3 - 4 und wertet das als Bestätigung der neuesten Urkundenhypothese des H e x a teuchs (Langlamet, L a traversée, für J o s 2 auch Josué II). Und jüngst hat E. O t t o erneut den Komplex J o s 1 - 1 2 analysiert und dabei u . a . zwei vor-deuteronomistische Quellen A und B herausgelöst, von denen A i n J o s 1 1 , 1 6 - 1 9 seinen Abschluß hat und mit dem J des Pentateuchs identisch ist, während B mit J o s 8 , 3 0 - 3 5 endet und als deuteronomistische Quelle bezeichnet wird.

Alle diese literarkritischen Analysen rechnen mit der Weiterführung der Pentateuchquellen durch das Josua-Buch und mit deuteronomistischen Überarbeitungen dieser Quellen, die bereits redaktionell verbunden waren, und erläutern somit die Dubletten und Spannungen. Freilich gestehen alle Kritiker ein, daß die Schwierigkeiten hier größer als im Pentateuch sind; denn außer der zweimaligen Abschiedsrede Josuas sind zwei- oder gar dreisträngige Erzählungen kaum noch erkennbar. Von daher verstehen sich die anderen Versuche, die der pentateuchischen Fragmenten- oder Ergänzungshypothese nahestehen. Ehe wir uns diesen Versuchen zuwenden, soll noch auf S. —»Mowinckel (Tetrateuch - Pentateuch - Hexateuch) eingegangen werden, weil er die beiden verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten des Josua-Buches zu verbinden versucht. Denn einerseits vertritt er die Urkundenhypothese und nimmt die Quellenschriften J , J v (Jahwista variatus) und P an, von denen er lediglich P in J o s 1 3 - 1 9 und mit Spuren auch in J o s 1 - 1 2 und J in J d c 1 wiederfindet, und andererseits rechnet er mit dem DtrG, dem J o s 2 - 1 1 zugehört, das der deuteronomistische Autor seiner Vorlage (J v ) verdankt. Das heißt, daß im Josua-Buch zwar Spuren zweier Quellenschriften, J v und P, zu finden sind, daß das Buch aber als solches zum DtrG gehört. Auch das hat kaum überzeugt.

Deshalb suchen heute die meisten Forscher auf diesem Gebiet die Lösung im Gefolge von Alt und Noth auf form- und überlieferungsgeschichtlichem Wege durch Annahme eines DtrG, dem das Josua-Buch zugehört. Mit seinen einschlägigen Aufsätzen von 1925, 1927 und 1936 gab A. Alt den entscheidenden Anstoß zu dieser Hypothese. Seine Untersuchungen führten zu folgenden Resultaten: In Jos 1 - 1 2 liegt die „elohistisch-deuteronomistische" (KS I, 180) Bearbeitung eines ätiologischen Sagenkreises, der am Heiligtum von Gilgal tradiert wurde, und einer ursprünglichen Josua-Überlieferung (Jos 10,1 ff) vor. Auch in Jos 17,14ff und in Jos 24 findet Alt Überreste einer älteren Überlieferung über Josua, während in Kap. 1 3 - 2 1 ein System der Stammesgrenzen aus der frühen Königszeit und Städtelisten aus der Zeit Josias verarbeitet worden sind. M . Noth führte diese Untersuchungen weiter und baute sie aus zur eindrucksvollen Annahme eines von Dtn bis II Reg reichenden Geschichtswerks, das er DtrG nannte (Überlieferungsgesch. Studien). Dabei lag dem Deuteronomisten für das Josua-Buch „eine geschlossene und in die Einzelheiten gehende Überlieferung in literarisch fester Form vor" (40), bestehend aus „ätiologischen Einzelüberlieferungen", „einigen wenigen Heldenerzählungen" (41), die er vorab durch Kap. 1 und 12 zu einem Ganzen zusammenbindet und mit der Abschiedsrede Kap.23 abschließt (45). „ . . . e i n Späterer (hat) das Werk von Dtr durch Mitteilung sehr wertvollen geschichtlichen Materials ergänzt" (45) und Kap. 1 3 - 2 2 hinzugefügt. Schließlich ist noch das deuteronomistisch redigierte Kap. 24 hinzugewachsen (9). Damit ist der geschichtliche Wert der Hauptmasse des Josua-Buches bei Noth noch geringer als bei Alt. Diese Hypothese hat seitdem bei grundsätzlicher Zustimmung doch mancherlei Veränderungen erfahren. Während (Alt und) Noth von einem deuteronomistischen Autor ausgingen (so noch Soggin, Dtr. Geschichtsschreibung, Miller/Tucker, Komm.; ähnlich Peckham für Jos 3 - 4 ) , werden inzwischen bis zu drei Deuteronomisten angenommen,

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von denen dem DtrH, dem Verfasser des DtrG, der deuteronomistische Grundbestand des Josua-Buches und dem DtrN die in nomistischem Geist gehaltenen Ergänzungen dazu in Jos 1 , 7 - 9 ; 1 3 , 2 - 6 ; 23 zugewiesen werden (Smend, Entstehung 1 1 4 - 1 1 5 ; ähnlich jüngst Friedman, Nelson, Rose, Boling, Komm.). Auch die Herleitung von Jos 13—19 von einem deuteronomistischen Ergänzer (so Noth) ist jüngst durch Wüst in Frage gestellt worden; diese Kapitel seien von Num 3 2 - 3 6 abhängig, die als P-Nachträge charakterisiert werden müßten. Aber auch hinsichtlich des geschichtlichen Werts der verarbeiteten Traditionen, vorab -von Jos 1 - 1 2 , ist durch J . Bright (Early Israel in Recent History Writing, London 1956; dt. 1961) eine Diskussion ausgelöst worden, in deren Verfolg heute weithin vorsichtiger geurteilt wird. Und was das von Alt und Noth angenommene Listenmaterial in Kap. 1 3 - 2 1 betrifft, so haben vor allem israelische Wissenschaftler zahlreiche Beiträge geleistet (z.B. Aharoni, Kallai-Kleinmann, Mazar, Talmon; s. auch Bächli, Cross und Wright), die diese Annahme in nicht wenigen Punkten modifiziert haben. Versucht man, diese Hypothesen über das Werden des Josua-Buches abzuwägen, ergeben sich zwei grundlegende Feststellungen (vgl. Wenham). Zunächst lassen sich zwischen beiden Vorstellungen gewisse Übereinstimmungen beobachten. Die gegenwärtige Gestalt des Buches wird einmütig als deuteronomistisch bestimmt, und es spricht einiges dafür, daß wir im Josua-Buch mit zwei Deuteronomisten oder auch deuteronomistischen Bearbeitungen älteren mündlichen oder (und) schriftlichen Gutes werden rechnen müssen. Das hat zur Folge, daß der Hergang der Landnahme, wie er im Josua-Buch gezeichnet wird, eine späte Fiktion ist, also die größere geschichtliche Wahrscheinlichkeit auf Seiten von Jdc 1 , 1 - 2 , 5 liegt, daß aber zugleich der historische Wert vieler alter Einzelüberlieferungen größer ist, als zunächst angenommen. Die andere Feststellung berührt die Frage: Pentateuch - Hexateuch - Tetrateuch. Nimmt man das Josua-Buch als Teil des DtrG an, muß man erläutern, warum der entstehende Pentateuch verschnitten und danach zu dessen Komplettierung wiederum das DtrG um das Dtn verkürzt wurde. Und man muß wohl auch darlegen können, warum die pentateuchischen Landverheißungen ohne ihre erzählte Erfüllung geblieben sind. Diese Schwierigkeit wäre vielleicht zu lösen, wenn man nachweisen könnte, daß es zwei Ausgaben des Dtn gegeben hat, deren eine als Abschluß des Pentateuchs und deren andere als Beginn des DtrG zu stehen kam und die bei der Anbindung des DtrG an den Pentateuch miteinander verschmolzen wurden. Damit soll angedeutet werden, daß letztlich keine der bisher vorgeschlagenen Hypothesen auf alle mit dem Josua-Buch gegebenen Fragen überzeugende Antworten erbracht hat und eine Klärung der Probleme der Weiterarbeit am Josua-Buch (und am Dtn?) vorbehalten bleibt. 2.5. Geschichtlicher Wert und theologische Bedeutung. Was die Person des Josua betrifft, so ist der geschichtliche Ertrag bereits deutlich geworden (s.o.). Für die Rekonstruktion der Landnahme Israels werden die in Kap. 2 - 1 0 verarbeiteten Erzählungen dann ausgewertet werden dürfen, wenn in ihnen das ätiologische Moment nicht bestimmend, sondern lediglich als Motiv hinzugewachsen ist (hierzu vgl. Childs, „Until this Day"; Golka; Loza; Marconcini). Auch dann kann es sich nur um Auskünfte von räumlich, zeitlich und auch ethnisch begrenztem Umfang handeln, müssen die meisten Erzählungen von Kap. 1 - 1 2 doch als ursprüngliche Überlieferungen des Stammes Benjamin verstanden werden (so seit Alt und Noth viele; vgl. noch Wilcoxen; Langlamet, Gilgal; Otto). Wie eine solche alte, nur einen kleinen Personenkreis betreffende Erzählung auf Josua übertragen und dann im gesamtisraelitischen Geist umgeprägt wurde, ist an der Parallelüberlieferung Jdc 4* und Jos 1 1 , 1 - 1 5 überzeugend abzulesen. Aus einem Kampf der Stämme Sebulon und Naftali unter Barak gegen Jabin von Hazor wurde in Jos 11 schließlich die Einnahme Galiläas durch Ganz-Israel unter Josuas Führung (vgl. jüngst Fritz, Das Ende; Yadin). Auch wenn das im zweiten Teil des Buches verarbeitete Material nichts über den Abschluß der Landnahme und die Verteilung des Westjordanlandes hergibt, so ist es doch

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Josua/Josuabuch

für den Besitzstand der Stämme in der ausgehenden Richter- und der frühen Königszeit sowie für die Zeit Josias als Quellenmaterial äußerst wertvoll (grundlegend Alt 1925, 1927; neuerlich Bächli; Wüst, Zur Frage; Ibänez Arana; anders Mowinckel). O b J o s 22 (vgl. speziell Dus 1964, Eißfeldt 1975) oder J o s 24 (vgl. L'Hour; Schmitt; Perlitt; J a r o s ; Rösel) für die Landnahmezeit herangezogen werden dürfen, ist kontrovers. Schließlich ist noch die theologische Bedeutung des Josua-Buches innerhalb des Kanons kurz zu erfassen (vgl. Childs, Introduction 2 4 4 - 2 5 2 ) . M a n wird davon ausgehen müssen, daß Josua und das über sein Handeln Erzählte in eine bewußte Beziehung zu M o s e und dem Dtn gebracht wurden. Das Volk fürchtet Josua so wie M o s e (4,14); was Josua tut, geschieht dem Befehl Moses entsprechend (1,7; 4,10; 8,31.35; 11,12.15); durch Josua erfüllte sich die Zusage Gottes an M o s e (1,3; 11,23), weil Jahwe mit Josua ist, wie er mit M o s e war (1,5.17; 3,7). Dazu gehört auch die Analogie zwischen dem Durchzug durch den Jordan und dem Schilfmeerwunder ( 4 , 2 3 - 2 4 ) sowie die Übernahme der Titulatur Josuas als „Diener M o s e s " (1,1). Mit diesem Mose aber ist aufs engste die Tora verbunden, oder exakter: „das Buch der T o r a " , wie es in 8,31; 23,6 ausdrücklich heißt sephär törat mosäh (vgl. auch 8,32.34), so daß dem Befehl Moses Gehorchen dasselbe meint wie die Bestimmungen des Gesetzbuches Moses Befolgen. Das läßt den „normativen" Charakter dieses Gesetzes erkennen (Childs 245), das eindeutig mit dem Dtn identisch ist (vgl. J o s 8,30 ff mit Dtn 27,1 ff; J o s 20,1 ff mit Dtn 19,1 ff; J o s 11,21 mit Dtn 9,2; Jos 24,12 mit Dtn 7,20). Diese Bezüge, die gewiß auf die deuteronomistische Bearbeitung des Josua-Stoffes zurückgehen, darf man indes nicht überbetonen. Denn trotz aller Verbindungslinien ist der Unterschied zwischen Josua, Mose und dem Dtn stets gewahrt worden. Josua ist nicht M o s e , sondern nur dessen Diener. Josua empfängt nicht das Gesetzbuch, sondern führt es nur aus. Josua wird als einer geschildert, der sich zu Mose und dem Gesetz verhält. Josua ist also eindeutig Repräsentant der nachmosaischen Generation. Und da er nie als ungehorsam geschildert wird, hat er gleichsam Beispielcharakter für das nachmosaische Israel. Daß Gehorsam — Ungehorsam gegenüber dem Gesetzbuch Moses das eigentliche T h e m a des Josua-Buches in seiner Letztgestalt ist, lassen die wiederholten Mahnungen zum Halten des Gesetzes in Jos 2 3 , 6 - 8 . 1 2 - 1 3 . 1 5 - 1 6 erkennen. Von hieraus bekommen die Erzählungen über Akans Diebstahl und dessen negative Folge für das Volk (Jos 7) und über den Altarbau am Jordan (Jos 22) einen klaren Bezug zum Gesamtkonzept und gelten als Beispiele für die Folgen von Ungehorsam. Und man kann erwägen, ob die Erhaltung der Rahab-Sippe und der Gibeoniten nicht auch auf das Gebot zur Ausrottung der Fremdbevölkerung zu beziehen sind, also ebenfalls in dieses Konzept gehören. Schließlich ist auf die Thematik Verheißung und Erfüllung noch einzugehen. Auch sie prägt unser heutiges Josua-Buch. Denn in der das Buch eröffnenden Jahwe-Rede wird Josua beauftragt, nach der Eroberung dem Volk das Land auszuteilen, das Jahwe ihm geben will, „wie ich ihren Vätern geschworen h a b e " (Jos 1,6). Und in der Schlußrede stellt Josua fest, „daß nichts hinfällig geworden ist von all dem Guten, das Jahwe euer Gott euch verheißen hat. Alles ist eingetroffen; nichts ist ausgeblieben" (Jos 23,14). In diesen Rahmen sind die Erzählungen von der Einnahme des Landes und seiner Verteilung letztlich eingebunden. Damit aber werden Landnahme und Landbesitz theologisch gedeutet und an die Bedingung des Gehorsams gebunden, so daß man das Josua-Buch als eine theologische Interpretation des Wohnens Israels im Land bezeichnen kann. Und da in dieses Bild Josua als eine komplexe, militärisch-politische wie geistlich-religiöse Belange in gleicher Weise wahrnehmende Führergestalt hineingehört, könnte die Darstellung des Josua-Buches auch von einer „theology of legitimate leadership" (McCarthy: C B Q 33) getragen sein.

Josua/Josuabuch

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Jowett

278

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Jowett, Benjamin

(1817-1893)

1. Leben und Werk S. 279)

2. Jowett als Bibelwissenschaftler und Theologe

(Quellen/Literatur

1. Leben und Werk Geboren in London am 1 5 . 4 . 1 8 1 7 , besuchte Jowett die St. Paul's School seiner Heimatstadt und das Balliol College in - » O x f o r d , zu dessen Fellow er noch vor seiner Gra-

Jowett

279

duierung gewählt wurde. Die Stelle eines Tutors an seinem College, in die er 1844, ein Jahr vor seiner Ordination zum Priester der -»Kirche von England eingesetzt wurde, hatte er inne, bis er 1870 Master wurde. 1855 wurde er zum Regius Professor (königliche Stiftungsprofessur) für Griechisch ernannt. Seitdem spielte er eine immer wichtigere Rolle im Leben der Universität, zeitweilig (1882—1886) als deren Vizekanzler. Er beteiligte sich aktiv an der Universitätsreform und war selbst weitgehend verantwortlich für die University Test Act von 1871, die die Ablegung eines Glaubensbekenntnisses vor dem Erwerb eines akademischen Grades oder der Übernahme bestimmter Universitätsämter abschaffte. Bei alledem bewahrte er ein tiefes Interesse an seinem eigenen College, auch wenn sein Auftreten und seine Methoden etwas autokratisch waren; Jowett machte es sich zur Aufgabe, zu jedem Studenten eine persönliche Bekanntschaft zu unterhalten. Vielleicht war dies das Geheimnis seines großen Erfolgs und seiner herausragenden Bedeutung als praktischer Erzieher. Jowetts Ruhm freilich beruhte auf seiner Leistung als Altphilologe: Seine Übersetzung der Dialoge Piatos (4 Bde., Oxford 1871 5 1875) wurde so etwas wie ein Klassiker für sich, wenngleich ihre philologische Genauigkeit später angefochten wurde. Er übersetzte außerdem Thukydides (2 Bde., Oxford 1881 2 1900) und die Politik des Aristoteles (2 Bde., Oxford 1885) und veröffentlichte eine kritische Ausgabe von Piatos Staat (3 Bde., Oxford 1894). Jowett starb, noch immer Master von Balliol, am 1. Oktober 1893. 2. Jowett

als Bibelwissenschaftler

und

Theologe

In Jowetts frühen Oxforder Jahren hatte die traktarianische Bewegung (-> Hochkirchliche Bewegung I, Abschn. 4) ihre Hochblüte, zu deren Wortführern u. a. sein Freund und Kollege in Balliol, William George Waid, zählte. Durch dessen Vermittlung näherte sich zunächst auch Jowett, der von seiner Erziehung her ein Evangelikaler war, dem Traktarianismus, ohne sich ihm aber je anzuschließen. Vielmehr näherte er sich vor allem unter dem Einfluß von Arthur Penrhyn Stanley (1815-1881), einem führenden Theologen der Broad Church (s. T R E 9,646,13ff), dem theologischen -»Liberalismus. 1854 begann er, durch Stanley ermutigt, mit der Arbeit an einem Kommentar zu den Paulusbriefen, der nach seiner Veröffentlichung in konservativen Kreisen eine so ablehnende Kritik erfuhr insbesondere wegen seiner Behandlung der Versöhnungslehre —, daß daran beinahe die Berufung auf den Griechisch-Lehrstuhl gescheitert wäre. Jowett wurde auch beim Vizekanzler angezeigt und mußte in dessen Gegenwart eine Zustimmungserklärung zu den 39 Artikeln der Kirche von England (vgl. T R E 2,716,1 ff) unterzeichnen. Wenige Jahre später steuerte er einen Aufsatz über Die Auslegung der Schrift zu dem Sammelband Essays und Reviews bei, der als ganzer heftige Angriffe auslöste und zwei der Autoren ein Verfahren wegen angeblicher Häresie einbrachte. Jowetts eigener Beitrag ist im Ton maßvoll genug - „Wissenschaftliche Hermeneutik", heißt es darin, „ist nur als induktive Hermeneutik möglich... basierend auf der Sprache, dem Denken und den Erzählungen der heiligen Schriftsteller" - , aber die Gegnerschaft, auf die er stieß, bewog ihn, sich nicht mehr zu theologischen Fragen öffentlich zu äußern, obgleich sie ihn bis an sein Lebensende beschäftigten. Sein eigener Glaube gründete auf einem ,wesentlichen Christentum' (essential Christianity), das sich hauptsächlich auf das christliche Leben selbst bezog. Aber er erkannte, daß er als unorthodox galt. Quellen Schriften von J o w e t t außer den im Artikel genannten: St. Paul's Epistles to the Thessalonians, Galatians and R o m a n s , 2 Bde., O x f o r d 1 8 5 5 2 1 8 5 8 . - Essay on ,The Interpretation of Scripture': Essays and Reviews, Oxford 1860. - Drei Bde. mit Predigten von J o w e t t wurden postum veröffentlicht.

Literatur E. A b b o t / L . Campbell, J o w e t t ' s Life and Letters, 2 Bde., London 1897. - Geoffrey Faber, Jowett, L o n d o n 1957. „ . , , ^ n i

Bernard M . G . Reardon

280

Jubeljahr I

Jubeljahr I. Altes Testament II. Kirchengeschichtlich II/l. Mittelalter und Reformationszeit II/2. Neuzeit

282 282 283

I. Altes Testament 1. Begriff

2. Textgrundlage

3. Wirklichkeit

4. Bedeutung

(Literatur S. 281)

1. Begriff Jubel'jahr hat im Alten Testament keinen direkten Anhalt, sondern kommt von artnus jubilaeus, das auf jubilare, jubilum zurückgeht. Schon früh haben sich jubilum — entstanden aus Ju(hu)-Rufen der Bauern und Hirten - und jobel vermischt (Grundmann 131 f). Jobel'jahr (senät häjjöbel) ist Lev 25; 27,16-25 erwähnt. Es ist als jedes 7. Sabbatjahr (V. 1—8.11) ein Brachjahr, das JHWH gehört (V.4) und eine Befreiung (d e rör) für alle Bewohner des Landes bedeutet: Jeder sollte zum angestammten Landbesitz und zu seiner Sippe zurückkehren, der davon in der Zwischenzeit entfernt worden war (V.10). Zur Spanne von 49 Jahren (V.8) paßt das 50. Jahr (V.10), wenn das vorangegangene Jobeljahr mitgezählt ist. — Wahrscheinlicher als die Herleitung vom Verb jbl (Kutsch; North: T h W A T 3,556) ist die Etymologie von akkadisch jäbilu „Hammel" (Hoffner 391) über jobel „Widder" (Jos 6,5), „(Widder-)Horn" (Ex 19,13; vgl. Jos 6). Das Jobeljahr hat seinen Namen wahrscheinlich von diesem Musikinstrument, mit dessen Blasen es am Versöhnungstag begann. 2.

Textgrundlage

Das Jobeljahr ist nur in Gesetzen des ->Pentateuchs genannt. Während Lev 27,16 ff die Gesetzgebung von Lev 25 modifiziert und damit von ihr abhängig ist, erweist sich Num 36,4 als Glosse. Die Schichtung von Lev 25 dürfte so zustande gekommen sein, daß der priesterliche Sammler und Redaktor (Ph 1 ) während des Exils vier Vorlagen in sein Grundgesetz einarbeitete, während ein 2. Redaktor (Ph 2 ) Ergänzungen anfügte, bevor noch Zusätze hinzukamen (Elliger). Das Schwergewicht liegt auf dem Bodenrecht. Nach dem alten Grundsatz V.23a soll der Boden letztlich unverkäuflich sein, weil das Land JHWH gehört. Deshalb dürfen auch nur Ernten veräußert werden (V.13 —19). Die Bestimmungen über die Auslösung (ge'ullä) von auf Zeit „übergebenem" (zu mkr Lipinski 173.175) Boden folgen V.25-34. Zur Befreiung von Menschen aus Schuldknechtschaft (V.39-55) leitet das Zinsverbot (V.35-38) über. 3.

Wirklichkeit

Bereits das -»Bundesbuch hat - noch auseinanderstehend - Bestimmungen zur Brache des Fruchtlandes (Ex 23,10f) und zur Sklavenfreilassung im 7. Jahr (Ex 21,1-6). In Dtn 15,12-18 sind sie verändert, wobei die Bestimmungen zum semittä-(Erlaßoder Verzichtleistungs-)Jahr (Dtn 15,1.9; 31,10) das Wort für Brache (smt) für die Aufhebung von Schuldverhaftungen verwenden. - Die Beispiele einer ge'ullä (Jer 3 2 , 1 - 1 5 ; Ruth 4 , 1 - 9 ; vgl. II Reg 8 , 1 - 6 ) lassen eine Bekanntschaft des Jobel-, Sabbat- oder semittä-Jahres sowenig wie Jes 5 , 8 - 1 0 ; Mi 2 , 1 - 5 erkennen. Ebenso fehlen bei den beiden Ad-hocErlassen Jer 34,8—22; Neh 5,1 — 13 derartige Bezugnahmen. Jer 34 läßt an die königlichen mtsarum-(Gerechtigkeits-) bzw. andurärum-{Freilassungs-)Akte denken, die u.a. aus Alt-(Kraus) und Neubabylonien, Nuzi (Gordon; Müller) sowie Neuassyrien (Lewy) bekannt sind. Dies waren aber keine dem Jobel- oder Sabbatjahr adäquate Institutionen, und auch ihre periodische Wiederkehr ist nicht bewiesen. Sie belegen jedoch für lange Zeiten des Alten Orients den Versuch von Königen, ab und zu den schlimmsten Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung bei Verarmung großer Bevölkerungsteile zu wehren.

Jubeljahr I

281

Die alttestamentlichen Bestimmungen sollen demgegenüber Zukunft gestalten. - derör, ein Lehnwort aus dem Akkadischen über neuassyrisch duräru (Lemche: J N E S 38,22), hat in J e r 34,8 den frühesten alttestamentlichen Beleg. Die Entwicklung führt über die beiden anderen, das Jobeljahr in der Sache andeutenden Vorkommen (Ez 46,17; Jes 61,1) zu Lev 25,10 (North: T h W A T 2,287). - Sinnvoll ist die Regelung einer Befreiung von verschuldeten Menschen mit Rückkehr zum angestammten Besitz und zur Sippe in der Epoche der Gemeinwirtschaft, die in Israel während der Königszeit fortschreitend verfiel (Mi 2,2). Mit Lev 25 hielt man das religiöse Prinzip für die nachexilische privatwirtschaftliche Zeit (Elliger) mit dem Zugeständnis einer großen Zeitspanne von 49 Jahren fest. Vielleicht erklärt sich auch von daher, daß es im Alten Testament keine Notiz über ein durchgeführtes Jobeljahr gibt (vgl. bAr 32bf). Erst das Jubiläenbuch zählt danach. Zur Durchführung des Sabbatjahres (I M a k k 6,49.53f; Josephus, Ant u.a. 14,16,2) s. Lev 26,34ff; Dtn 31,10; Neh 10,32; II Chr 36,21. 4.

Bedeutung

Über die wirtschaftliche Bedeutung des Jobeljahres ist kaum Gesichertes zu sagen. Vielleicht hat sich damit u.a. ein Land- und Bürgerschaftsanspruch für Rückkehrer aus dem Exil geäußert (vgl. Wallis 3 4 2 f ; Cardellini 370). Jes 61,1 und Ez 4 0 - 4 8 lassen darauf schließen, daß das Jobeljahr „Gefäß einer großen Hoffnung" (Zimmerli 229) für die Exilszeit und danach war. Die theologische Bedeutung ist letztlich in der Zugehörigkeit von Lev 25 zum Heiligkeitsgesetz begründet: Damit Israel heilig sein und Gott entsprechen kann, bedarf es der Freiheit der „Sklaven Gottes" (V.42) von anderen Schuldverhältnissen, die wesentlich mit dem Bodenbesitz zusammenhingen. Da aber auch das Land JHWH gehört (V.23a), garantiert und verlangt er die Zusammengehörigkeit von Gott, Volk und Land, wofür die utopischen Jobeljahrgesetze eine theozentrische Konzeption sind (Meinhold 258 f). Literatur H a n s J o c h e n B o e c k e r , R e c h t u. Gesetz im A T u. im Alten O r i e n t , 2 1 9 8 4 ( N S t B 10). - Innocenzo Cardellini, Die bibl. „ S k l a v e n " - G e s e t z e im Lichte des keilschriftl. Sklavenrechts, 1981 ( B B B 5 5 ) . Karl Elliger, Leviticus, 1966 ( H A T 1,4). — Cyrus Herzl G o r d o n , Paralleles nouziens a u x lois et c o u t u m e s de T A T : R B 4 4 (1935) 3 4 - 4 1 . - H e r b e r t G r u n d m a n n , J u b e l : FS J o s t , Trier 1954, 4 7 7 - 5 1 1 = ders., Ausgew. Aufs. III, 1978 ( S M G H 2 5 / 3 ) , 1 3 0 - 1 6 2 . - H a r r y A. Hoffner, Art. jbl: T h W A T 3 (1982) 390—393. — H a n s G . Kippenberg, Religion u. Klassenbildung im antiken J u d ä a , 1978 2 1 9 8 2 ( S t U N T 14). - Fritz R u d o l f Kraus, Ein Edikt des Königs A m m i - s a d u q a v. B a b y l o n , 1958 ( S D I O 5). - D e r s . , Ein Edikt des Königs Samsu-iluna v. Babylon: AS 16 (1965) 2 2 5 - 2 3 1 . - Ernst Kutsch, Art. J o b e l j a h r : R G G 3 3 (1959) 7 9 9 f . - Niels Peter L e m c h e , Andurärum and misarum. C o m m e n t s on the Problem o f Social Edicts and their Application in the Ancient Near East: J N E S 38 (1979) 11—22. — Ders., T h e M a n u m i s s i o n o f Slaves-The Fallow Y e a r - T h e S a b b a t i c a l Y e a r - T h e J o b e l Year: V T 2 6 (1976) 3 8 - 5 9 . - Julius Lewy, T h e Biblical Institution o f Deror in the Light o f Akkadian D o c u m e n t s : Erls 5 (1958) 2 1 * ' - 3 1 " ' . - E d w a r d Lipiriski, Sale, Transfer, and Delivery in Ancient Semitic Terminology: Gesellschaft u. Kultur im alten Vorderasien, hg. v. H o r s t Klengel, 1982 ( S G K A O 15), 1 7 3 - 1 8 5 . - B . M a a r s i n g h , M a a t s c h a p p i j c r i t i e k in het O u d e T e s t a m e n t . H e t J u b e l j a a r , K a m p e n o. J . (Bijbel en G e m e e n t e 13). - Arndt M e i n h o l d , Z u r Beziehung G o t t , Volk, Land im J o b e l Z u s a m m e n h a n g : B Z N F 2 9 (1985) 2 4 5 - 2 6 1 ( L i t . ) . - M a n f r e d M ü l l e r , Sozial- u. wirtschaftspolitische Rechtserlässe im Lande Arrapha: Beitr. zur sozialen Struktur des alten Vorderasien, hg. v. H o r s t Klengel, 1971 ( S G K A O 1), 5 3 - 6 0 . - R o b e r t N o r t h , Art. d'ror. T h W A T 2 (1977) 2 8 3 - 2 8 7 (Lit.). D e r s . , Art. jobel-. T h W A T 3 (1982) 5 5 4 - 5 5 9 (Lit.). - Ders., Sociology o f the Biblical J u b i l e e , 1954 ( A n B i b 4) (Lit.). - Adrianus van Selms, Jubilee, Year of: I D B Suppl. 1976, 4 9 6 - 4 9 8 . - Gerlinde Stadler, Privateigentum in Israel u. im Alten O r i e n t , Diss., M a i n z 1975. — Binjamin Uffenheimer, 'wtwfjh wmsj'wt bmhsbh hmkr'jt: S h n a t o n 4 (1980) 1 0 - 2 6 . - G e r h a r d Wallis, D a s J o b e l j a h r - G e s e t z , eine Novelle zum S a S b a t h j a h r - G e s e t z : M I O F 15 (1969) 3 3 7 - 3 4 5 . - M o s h e Weinfeld, J u s t i c e and R i g h t e o u s n e s s ' in Ancient Israel against the B a c k g r o u n d of „Social R e f o r m s " in the Ancient N e a r E a s t : M e s o p o t a m i e n und seine N a c h b a r n , hg. v. H . - J . N i s s e n / J . R e n g e r , Berlin 1982, 4 9 1 - 5 1 9 . R a y m o n d W e s t b r o o k , Jubilee L a w s : Israel L a w Review 6 (1971) 2 0 9 - 2 2 6 . - Ders., R e d e m p t i o n o f L a n d : ebd. 3 6 7 - 3 7 5 . - Walther Z i m m e r l i , D a s „ G n a d e n j a h r des H e r r n " : FS Kurt Galling, T ü b i n g e n 1 9 7 0 , 3 2 1 - 3 3 2 = ders., Stud, zur atl. T h e o l o g i e u. Prophetie, 1974 ( T B 5 1 ) , 2 2 2 - 2 3 4 .

Arndt Meinhold

282

Jubeljahr II/l

II/l. Mittelalter und Reformationszeit 1. Vorbedingungen 2. Das Jubiläum von 1300 (Quellen/Literatur S. 284)

1.

3. Die Entwicklung bis zur Reformation

Vorbedingungen

Das mittelalterliche Jubeljahr (iubilaeum, annus jubilaeus, sacer annus iubilaei, Goldenes Jahr) setzt die Exegese von Lev 25,10 in der mit den ->Kreuzzügen einhergehenden mystischen Deutung (-»Bernhard v. Clairvaux, Ep. 363, Ep. 458, S. Bernardi op. 8, Romae 1977, 314.435; Honorius III., MGH. ER I Nr. 12), die sich nach dem Fall von Akkon 1291 neue Wege suchende Kreuzzugsmystik, die Lehre von der Jurisdiktion des Papstes (-•Papsttum) über den Kirchenschatz, die damit verbundene Ablaßtheologie (-»Ablaß II) sowie die Petrusverehrung und —»Wallfahrt zum Grab des Apostels voraus. Damit wird die enge Verbindung zur Büß- und Ablaßgeschichte deutlich. Eine erste Zusammenfassung der verschiedenen Linien schuf -»Stephan Langton 1220, indem er anläßlich der Translation der Gebeine Thomas Beckets das alttestamentliche Vorbild des Jubeljahres (50. Jahr des Martyriums von -»Becket) und den Kreuzzugsablaß miteinander verschmolz. 2. Das Jubiläum

von 1300

Diese Linien konnte —»Bonifatius VIII. aufgreifen, als er am 22.2.1300 (Fest Cathedra Petri) rückwirkend ab Weihnachten 1300 (Jahresanfang nach röm. Stil) mit der Bulle Antiquorum habet fida relatio das erste Jubeljahr verkündete. Dabei schloß er sich in einigen Formulierungen an die Kreuzzugsablässe an. Nach den zeitgenössischen Quellen (Stefaneschi) spielte die Erwartungshaltung des Volkes eine entscheidende Rolle, das einen vollkommenen Ablaß zur Jahrhundertwende forderte. Wieweit die römischen festa saecularia nachwirkten, muß offenbleiben; Einwirkungen chiliastischer Ideen (-»Joachim von Fiore; —»Chiliasmus) und zeitgenössischer Bußbewegungen sind nicht auszuschließen. Die Bulle stellte fest, daß es eine Überlieferung der Alten sei, den Besuchern der Peterskirche große Nachlässe (remissiones) und Ablässe (indulgentiae peccatorum) zu gewähren. Um die Verehrung der Apostel Petrus und Paulus zu steigern und den Gläubigen, die als Römer wenigstens an 30 aufeinander folgenden oder unterbrochenen Tagen je einmal am Tag die Basiliken Petrus und Paulus (spätere Päpste vermehrten die Zahl der Basiliken auf vier) besuchten (Nichtrömer 15 Tage), größere geistliche Gaben zu spenden, wird „de fratrum nostrorum consilio et apostolicae plenitudine potestatis" allen Besuchern im Jahre 1300 und allen späteren in je 100 Jahren, die wahrhaftig Buße tun und beichten, nicht nur eine „plenam et largiorem", sondern sogar eine „plenissimam omnium suorum... veniam peccatorum" (Bullarium Anni Sancti 34) gewährt. Der Begriff „annus iubilaeus" wird in der Schlußbulle Ad honorem Dei (25. Dez. 1300) gebraucht. Vermutlich erstmals zeigte man in diesem Zusammenhang das sog. Schweißtuch der Veronika regelmäßig feierlich dem Volke. Während Bonifaz VIII. in der Eröffnungsbulle auf die Verehrung der Apostel abhob, gaben Jacobus Gaietani Stefaneschi (De centesimo seu jubileo anno Uber) und Villani eine christologische Deutung. Die den Ablaß betreffende mißverständliche Formulierung „tarn a culpa quam a poena" findet sich in den offiziellen Dokumenten nicht, wohl aber bei Ventura von Asti (Kraus 262). Begrifflich ist das Jubeljahr der Zeitraum, in dem der Jubelablaß, dessen Bedingungen (bzw. weitergehende Bestimmungen über die Vollmachten der Beichtväter etc.) in der jeweiligen Verkündigungsbulle festgelegt sind, gewonnen werden kann. Sein Ziel ist die Buße und die Erneuerung der Kirche. Die konkrete Ausgestaltung unterliegt dem historischen Wandel und richtet sich nach der jeweiligen theologischen und pastoralen Situation. Die schon ab dem 14. Jh. zu beobachtenden Einflüsse auf die Literatur (-»Dante, -»Petrarca u.a.), die bildende und darstellende Kunst, auf Sozialfürsorge und Bautätigkeit, sowie die seit dem 16. Jh. üblichen Jubiläumsmedaillen und Münzen belegen die über den engeren Raum der religiösen Praxis hinausgehende Wirkung der Jubeljahre.

J u b e l j a h r II/2

3. Die Entwicklung

bis zur

283

Reformation

A u f Bitten der R ö m e r hat C l e m e n s V I . mit der Bulle Unigenitus Dei filius ( 2 7 . 1 . 1 3 4 3 ) für 1 3 5 0 das nächste Heilige J a h r angesetzt und d a m i t den A b s t a n d a u f 5 0 J a h r e reduziert. Folgerichtig w u r d e stärker als bei B o n i f a z in der theologischen B e g r ü n d u n g a u f das J u b e l j a h r des Alten T e s t a m e n t e s zurückgegriffen, a b e r auch christologisch argumentiert. D e r h ö h e r e G r a d theologischer R e f l e x i o n zeigt sich in der B e s c h r e i b u n g des Ablasses, die erstmals die L e h r e v o m Thesaurus ecclesiae offiziell als G r u n d l a g e ü b e r n i m m t . N e u w a r die Ausdehnung 1 3 5 1 über R o m hinaus; ein B r a u c h , der in der Folgezeit bestehen blieb. D i e Heiligen J a h r e 1 3 9 0 und 1 4 0 0 standen unter den Bedingungen des S c h i s m a s . U r b a n V I . setzte 1389 für die Z u k u n f t den A b s t a n d a u f 3 3 J a h r e (Lebensalter Christi) fest. - • N i k o l a u s V. griff 1450 n o c h einmal a u f den R h y t h m u s von 5 0 J a h r e n zurück, w ä h r e n d Paul II. in der Bulle Ineffabilis Providentia ( 1 9 . 4 . 1 4 7 0 ) die für die Z u k u n f t m a ß g e b e n d e Z a h l von 2 5 J a h r e n festlegte. D i e i m m e r weiter sich ausfaltende A b l a ß p r a x i s f a n d ihren N i e d e r s c h l a g in den Bullen, die - » A l e x a n d e r V I . zum J u b i l ä u m von 1 5 0 0 erließ ( I n t e r multiplices; Inter curas multiplices; Pastoris aeterni). D e r A b l a ß k o n n t e jetzt auch für die A r m e n Seelen g e w o n n e n werden, w o m i t eine Geldspende für die R e p a r a t u r v o n St. Peter verbunden w a r . Seit 1 5 0 0 besteht der B r a u c h , am Heiligen A b e n d die Heilige Pforte in St. Peter feierlich mit einem H a m m e r zu öffnen und sie zum A b s c h l u ß des J u b e l j a h r e s zu schließen. D a s Heilige J a h r 1 5 2 5 w u r d e von den R e f o r m a t o r e n s c h a r f kritisiert und die Geldgier der Päpste als M o t i v g e n a n n t (Luther: W A . T R II, 2 4 8 8 . 2 7 5 6 ; 111,3597; V , 5 3 0 4 ) . II/2. Neuzeit 1. Die Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert 2. Das Heilige Jahr 1975 Jubiläen und Jubeljahre (Quellen/Literatur S. 284)

1. Die Entwicklung

bis ins 20.

3. Außerordentliche

Jahrhundert

D i e J u b e l j a h r e des ausgehenden 16. und 17./18. J h . belegen den in k a t h o l i s c h e r R e f o r m und G e g e n r e f o r m a t i o n erstarkenden Katholizismus. S c h o n das J u b i l ä u m 1 5 7 5 spiegelt in den Berichten der Jesuiten die religiöse, wesentlich von der T ä t i g k e i t der Bruderschaften mitgetragene Intensität der Feiern in R o m m i t Ausstrahlung bis nach Übersee. D e r pastoral wegweisende C a r l o - » B o r r o m e o feierte in der Fastenzeit 1 5 7 6 das Heilige J a h r in seiner Diözese M a i l a n d und m a c h t e es d a m i t a u f der E b e n e territorialer Seelsorge und g e g e n r e f o r m a t o r i s c h e n Einsatzes f r u c h t b a r . D i e Eröffnungsbullen C l e m e n s ' V I I I . ( 1 9 . 5 . 1 5 9 9 ) und U r b a n s ' V I I I . ( 2 9 . 4 . 1 6 2 4 ) spiegeln die erstarkte r ö m i s c h - p e t r i n i s c h e E k klesiologie ( - » K i r c h e ) wider, w ä h r e n d - » B e n e d i k t X I V . (Peregrinantes a Domino, 5 . 5 . 1 7 4 9 ) den B u ß g e d a n k e n in den M i t t e l p u n k t stellt und die k i r c h e n r e c h t l i c h e n Bedingungen neu formuliert. Weitere J u b i l ä e n fanden 1 7 7 5 und 1825 statt. M i t dem Heiligen J a h r 1 9 0 0 setzte eine neue Intensität, begünstigt durch die m o d e r n e n T r a n s p o r t m i t t e l , und eine o r g a n i s a t o r i s c h e U m s t r u k t u r i e r u n g (zunehmendes G e w i c h t der lokalen K o m i tees und neuestens der „ s p o n t a n e n " , individuellen Wallfahrt; Kongresse und Ausstellungen neben den schon bisher üblichen K a n o n i s a t i o n e n etc.; Z u r ü c k t r e t e n der 1 9 2 5 und 1 9 5 0 festzustellenden politischen Aspekte) sowie eine engere Verbindung zur neuzeitlichen Papstverehrung und -Verbundenheit ( - » P a p s t t u m ) ein. Gleichzeitig b e o b a c h t e t m a n eine ständige R e d u k t i o n der A b l a ß b e d i n g u n g e n , die den Zeitverhältnissen und einer sich w a n d e l n d e n T h e o l o g i e angepaßt werden. (Weitere J u b e l j a h r e : 1 9 2 5 ; 1 9 5 0 ) .

2. Das Heilige Jahr 1975 D e n engen Z u s a m m e n h a n g mit der n a c h k o n z i l i a r e n Situation der K i r c h e belegt die Bulle - » P a u l s V I . zum J u b e l j a h r 1 9 7 5 (Apostolorum limina, 2 3 . 5 . 1 9 7 4 ) , die den Leitged a n k e n der Heiligen J a h r e im 20. J h . , Friede und Versöhnung, aufgreift und auf die k o n k r e t e Situation a n w e n d e t . Im argumentativ-wissenschaftlich begründenden Stil wer-

284

Jubeljahr I I / 2

den das nachvatikanische Apostolat der Kirche, die notwendige Aufarbeitung des Konzils und die drängenden Weltprobleme ebenso angesprochen wie konkrete soziale Aktionen und die Ökumene. Der Jubiläumsablaß ist kein isoliertes Angebot, sondern steht in einem pastoraltheologischen Bezugsrahmen im Sinne der Konstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (->Vatikanum II). Neu ist, daß 1974 vorgängig als „Jahr der Versöhnung" gefeiert wurde und alle anderen Ablässe während des Jubiläums in Kraft blieben. 3. Außerordentliche

Jubiläen

und

Jubeljahre

Seit dem 16. Jh. (Leo X . , 3 0 . 5 . 1 5 1 4 Ex parte tua) werden auch außerordentliche Jubiläen und Heilige Jahre gefeiert; letztere 1933 und 1983 zur Erinnerung an den Erlösungstod Christi. Quellen AAS 16 (1924) ff. - L ' A n n o S a n t o 1950. C r o n i s t o r i a del G r a n d e G i u b i l e o a cura del c o m i t a t o centrale A . S . , 2 Bde., C i t t à del Vaticano 1 9 5 2 (mit ausführl. Bibliogr.). - ASS 6 ( 1 8 7 0 - 7 1 ) ff. Bullarium A n n i Sancti. E d . H e r m a n u s Schmidt S. J . , R o m 1949 (Pontificia Universitas G r e g o r i a n a , T e x t u s et D o c u m e n t a , Ser. T h e o l o g i c a 28). - Bulletin des Heiligen J a h r e s . H g . v. Z e n t r a l k o m i t e e , Città del V a t i c a n o 1973 - 1 9 7 5 (Heiliges J a h r 1 - 2 0 ) . - C r o n i s t o r i a d e l l ' A n n o S a n t o 1900, a cura della T i p o g r a f i a V a t i c a n a , 3 T . , R o m 1 9 0 0 - 1 9 0 2 . - C r o n i s t o r i a d e l l ' A n n o S a n t o 1 9 2 5 , R o m 1928 (dort: Saggio di Bibliografia degli A n n i Santi: ausführlichste Bibliogr.). - Il libro del giubileo del cardinale Stefaneschi. H g . v. Arsenio F r u g o n i , Brescia 1950. - Pilgerbuch (Libro del pellegrino. E r w . B e a r b . , deutsch), A n n u s J u b . R e d e m p . 1 9 8 3 - 1 9 8 4 . H g . v . Z e n t r a l k o m i t e e des J u b i l ä u m s j a h r e s 1 9 8 3 - 1 9 8 4 , R o m 1983.

Literatur Vgl. allgemein die B i b l i o g r a p h i a : A H P 12 (1974) ff. - Piero Bargellini, L ' A n n o S a n t o nella Storia, nella L e t t e r a t u r a e nell'Arte, Florenz 1974. - G i u l i o B e r n i , Le medaglie degli Anni Santi, B a r c e l o n a 1 9 5 0 . - P a o l o Brezzi, Storia degli Anni Santi, M a i l a n d 2 1 9 7 5 (Storia e d o c u m e n t i 18). - J e a n Chélini/Henry B r a n t h o m m e , Les chemins de D i e u . Histoire des pèlerinages chrétiens des origines à nos jours, Paris 1 9 8 2 . - Piero Chiminelli, Storia in miniatura degli Anni Santi, R o m 1949. - Pierre Claudel/A. Bride, Art. J u b i l é : C a t h . 6 (1967) 1 1 1 4 - 1 1 2 3 . - Paul D e c l e r c k , , H e i l i g J a a r ' . O o r s p r o n g en O n t w i k k e l i n g : C o l i . 2 0 (1974) 2 9 2 - 3 1 0 . - G a b r i e l e D e R o s a , Pellegrini e f o r m e di pietà nell' A n n o S a n t o 1975: R i s u l t a t i di un'inchiesta: R S S R 2 4 (1983) 5 - 1 6 . - Salvatore Di M e g l i o , Breve Storia degli Anni Santi, Siena 1 9 8 3 . - A l p h o n s e D u p r o n t , Année sainte 1975, tradition et modernité: Paul VI et la modernité dans l'église. Actes du c o l l o q u e organisé p a r l ' É c o l e F r a n ç a i s e de R o m e , R o m 1984, 3 3 3 - 3 5 9 ( C o l l e c t i o n de l ' É c o l e F r a n ç a i s e de R o m e 7 2 ) . - R a y m o n d e Foreville, L ' i d é e de J u b i l é chez les théologiens et les c a n o n i s t e s (XII e —XIII e s.) a v a n t l'institution du J u b i l é R o m a i n (1300): R H E 5 6 (1961) 4 0 1 - 4 2 3 . - D i e s . , Art. J u b i l é : D S p 8 (1974) 1 4 7 8 - 1 4 8 7 . - Arsenio F r u g o n i , Il Giubileo di B o n i f a c i o V i l i : BISI 6 2 (1950) 1 - 1 2 1 . - Gli Anni Santi, Turin 1934 (mit einer R e i h e wichtiger Aufsätze). - Eva M a r i a Jung-Inglessis, D a s Heilige J a h r in der G e s c h . 1 3 0 0 - 1 9 7 5 , Bozen 1974. D i e s . , La p o r t a santa: S t R o 2 3 (1975) 4 6 2 - 4 7 2 . - F r a n z X a v e r Kraus, D a s A n n o S a n t o (1900): Essays, Berlin, II 1 9 0 1 , 2 1 7 - 3 3 6 . - R e n é Laurentin, Pèlerinages, sanctuaires, apparitions. Année Sainte 1 9 8 3 - 1 9 8 4 . - R e d é c o u v r i r la religion populaire, Paris 2 1 9 8 3 . - J o s e p h L e d e r , B o n i f a c e VIII et le jubilé de 1 3 0 0 : Études 2 6 4 (1950) 1 4 5 - 1 5 7 . - M i c h e l e M a c c a r r o n e , Il pellegrinaggio a San Pietro e il G i u b i l e o del 1 3 0 0 . I I ' L i m i n a A p o s t o l o r u m ' : R S C I 3 4 (1980) 3 6 3 - 4 2 9 . - D o m e n i c o M a r i a M a n n i , Istoria degli A n n i Santi dal l o r o principio fino al presente del M D C C L , F l o r e n z 1750. - Federigo M e l i s , M o v i m e n t o di popoli e motivi e c o n o m i c i nel giubileo del 1 4 0 0 : M i s c e l l a n e a Gilles Gerard M e e r s s e m a n , P a d u a , I 1 9 7 0 , 3 4 3 - 3 6 7 . - Pio Paschini u . a . , G i u b i l e o : E C 6 (1951) 6 7 8 - 6 8 6 . - N i k o laus Paulus, G e s c h . des Ablasses im M A , P a d e r b o r n 1923 (II, 1 0 1 - 1 2 3 ; III, 1 8 1 - 1 9 4 ) . - Pierre Pierrard u . a . , Une Année Sainte pour n o t r e temps, Lyon 1974. - J a r o s l a v V. Pole, La festa della visitazione e il giubileo del 1 3 9 0 : R S C I 2 9 (1975) 1 4 9 - 1 7 2 . - F r a n z R u d o l f R e i c h e r t , D a s H l . J a h r 1775 u. seine Feier in Trier: Kurtrierisches J b . 15 (1975) 8 9 - 1 0 7 . - C a r d . A n t o n i o S a m o r é , Aspetti caratteristici degli Anni Santi. D a l l a d o c u m e n t a z i o n e dell'Archivio Segreto V a t i c a n o : S t R o 23 (1975) 4 1 9 - 4 4 1 . - D e r s . , Giubilei straordinari: C o l l e c t a n e a Archivi Vaticani 5 (1979) 1 - 2 8 . - Alphons M . Stickler, Il G i u b i l e o di B o n i f a c i o V i l i . Aspetti giuridico-pastorali, R o m 1977 ( Q u a d e r n i della Fondazione C . C a e t a n i 2). - G i o v a n n a n g i o l a T a r u g i , S. C a r l o B o r r o m e o e S. Filippo Neri a R o m a durante il G i u b i l e o del 1 5 7 5 : S t R o 2 3 (1975) 4 6 2 - 4 7 2 . - H e r b e r t T h u r s t o n , T h e H o l y Year o f Jubilee. An A c c o u n t o f the H i s t o r y a n d C é r é m o n i a l o f the R o m a n J u b i l e e , L o n d o n 1900. - D e r s . , T h e H o l y Year

Jubiläenbuch

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of Jubilee. T h e Visits to the Basilicas and the Conditions o f the Jubilee, London 1925. - Johannes Vincke, Z u r Frühgesch. der Jubliäumswallfahrt: Wallfahrt u. Volkstum in Gesch. u. Leben. Hg. v. Georg Schreiber, Düsseldorf 1934, 2 4 3 - 2 5 7 (FVK 1 6 - 1 7 ) . - Josef Wicki, Das Jubliäum v. 1550 in den überseeischen Jesuitenmissionen: A H S J 25 (1956) 1 1 9 - 1 3 3 . - D e r s . , Das Hl. J a h r 1575 in den zeitgenössischen Berichten der Jesuiten: A H P 13 (1975) 2 8 3 - 3 1 0 . - Ders., Das neunzehnte Hl. Jahr, 1775: A H P 18 (1980) 2 9 7 - 3 5 2 .

Heribert Smolinsky Jubiläen -»Feste und Feiertage Jubiläenbuch 1. Uberlieferung und Ausgaben 2. Inhalt und Gehalt 3. Literarkritische Fragen 4. Datierung, Milieu, Trägerkreis 5. Bedeutung und Wirkungsgeschichte (Ausgaben/Literatur 5. 2 8 8 )

1. Überlieferung

und

Ausgaben

1.1. Vollständig ist das Werk nur in äthiopischer Übersetzung mit dem Titel Buch der Einteilung (mashafa kufäle, Verbalnomen von kafäla = teilen) erhalten. Auf Grund von zwei aus dem 17. und 19. Jh. stammenden Handschriften wurde es erstmals von A. Dillmann herausgegeben. Die immer noch grundlegende Ausgabe ist diejenige von R . H . Charles (1895) auf der Grundlage der bis dahin bekannten vier Handschriften. Mittlerweile sind mindestens 18 Handschriften näher bekannt, die ältesten aus dem 15./16. Jh. Neuausgaben sind seit längerem von W. Baars und R. Zuurmond geplant, neuerdings auch von J. C. VanderKam. Ist auch die handschriftliche Bezeugung aus bekannten Gründen (-»Äthiopien) spät, wurde das Werk doch wohl bereits im 3. Jh. ins Äthiopische übersetzt und galt dieser Kirche als kanonisches Buch wie bei den Falashas im Norden des Tana-Sees. 1.2. In griechischer Übersetzung war das Werk unter dem Titel oi 'IcoßrjAaioi und t] Xzmr\ reveaiq bekannt. Die von Hieronymus angegebene Bezeichnung für das apocryphon Geneseos — MiKpoyeveaiq — ist sonst nicht bezeugt. Abgesehen von einigen Zitaten bei griechischen Kirchenschriftstellern, vor allem —»Epiphanius (Schöpfungsgeschichte) sowie Verweisen bei byzantinischen Chronographen des 9 . - 1 3 . Jh. (Syncellus, Cedrenus) ist der griechische Text nicht erhalten. Da Julius Africanus, aus dessen bis um 220 reichender Weltchronik die späteren Chronographen schöpften, das Werk kannte, ergibt sich 220 als terminus ante quem für die griechische Übersetzung. 1.3. Das Werk war auch ins Syrische übersetzt worden, wie die 1861 von Ceriani veröffentlichte Liste der den Angaben des Jubiläenbuches entsprechenden Frauennamen und die von E. Tisserant untersuchten Zitate aus einer anonymen syrischen Chronik des 12. Jh. belegen. Das Fehlen von griechischen Wörtern erweist ihre Unabhängigkeit und frühe Entstehung. 1.4. Es ist auch eine umfangreiche, sehr wörtliche Übersetzung von mehr als einem Viertel des Buches ins Lateinische erhalten, die, ebenfalls von Ceriani 1861 veröffentlicht, H. Rönsch in seiner Standarduntersuchung aufgrund der Sprache in die Mitte des 5. Jh. datierte. 1.5. In ->Qumrän sind schließlich mindestens 14 Fragmente des hebräischen Textes des Jubiläenbuches zum Vorschein gekommen, die Teile von 36 Versen wiedergeben. Die von J. C. VanderKam eingehend untersuchten Fragmente, paläographisch nicht später als 100 v. Chr. zu datieren, sind die weitaus frühesten Textzeugen des Werkes und haben die Frage der Ursprache definitiv zugunsten eines hebräischen Urtextes (statt Aramäisch) entschieden. Der Vergleich mit dem äthiopischen Text läßt diesen als recht zuverlässig erscheinen und bestätigt den hohen Wert der Handschriften (Brit. Mus. Orient 485) aus dem 16. Jh., die Charles als Grundlage seiner textkritischen Ausgabe wählte (B).

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Jubiläenbuch

Den Originaltitel des Werkes dürfte CD 16,3 wiedergeben: Buch der Einteilung der Zeiten nach ihren Jubiläen und ihren Wochen' (spr mhlqwt hctym lywblyhm wbsbufwtyhm). 2. Inhalt und

Gehalt

2.1. Die Bezeichnung als [Xemr]) reveait; entspricht insofern dem Inhalt des Werkes, als es die Geschichte der Genesis nacherzählt; es überschreitet sie bis zur Sinai-Offenbarung, womit das Werk beginnt und als solche präsentiert wird (Ex 24). Aenrrj (klein, dünn) ist die Darstellung gegenüber der biblischen Geschichte jedoch keineswegs; sie ist im Gegenteil vielfach breit ausgestaltet. Das griechische Wort kann auch ,genau' bedeuten, so daß die Bezeichnung in diesem Sinn passen würde, vor allem, was die chronologischen Angaben betrifft, wenn sie nicht den geringeren Rang gegenüber der Schrift selbst andeuten sollte. Die Ausgestaltungen der biblischen Geschichte sind verschiedener Art. So finden sich eine Reihe haggadischer Erweiterungen: Schöpfung der Engel (1,2), Abstieg der Engel (4,15); Henoch-Geschichte (4,10-16); Tod Adams (4,29), Kains (4,31); Engelehen mit Menschentöchtern und ihre Folgen, Strafgericht über Engel und Kinder (5); Arpachsads Zauberlehre (8,1-4); Aufteilung der Erde, Grenzen der zugeteilten Gebiete (8-9); Verführung der Söhne Noahs durch Engel, Mastema (10,1-2); Noahs Tod, seine Bücher (10,15-17); die Söhne Noahs und ihre Gebiete, widerrechtliche Besetzung Palästinas durch Kanaan (10,29f);Niedergang unter den Nachkommen Noahs unter Einfluß der bösen Geister (10); Wahrsagerei Nachors, Belästigung Terachs durch Mastema (11,10-13). Insbesondere ist die Abrahamgeschichte ausgestaltet: seine Jugend, Gotteserkenntnis, Erfindung des Ackerbaus, Bekehrungsversuche an seinem Vater, Verbrennung der Götzen, Gebete, Feier des Festes der Erstlinge, des Laubhüttenfestes, sein Tod, Lob Abrahams (11-23); Isaaks Verfluchung der Philister (24,28f); Rebekka und Jakob (25); Levis Erhebung zum Priestertum (30,18 ff); Jakob in Hebron, seine Visionen (32); Levi als Priester in Bethel (32,9); Kampf der Amoriterkönige gegen Jakob und seine Söhne (37). Hinzu kommen Veränderungen in zahllosen Detailsj z.B. die Namen der Frauen der Väter vor der Flut usw.

Diese erzählerischen Ausgestaltungen lassen schon besondere Schwerpunkte des Werkes erkennen: das Thema der Engel, der bösen Geister mit ihrem Anführer Mastema und ihr Einfluß auf die Geschichte, die besondere Bedeutung Henochs und Noahs, insbesondere der Gestalt Abrahams, ferner Levis und die Opposition gegen Esau. 2.2. Eine zweite Art charakteristischer Ausgestaltung der biblischen Erzählung sind die verschiedenen halachischen Vorschriften, die an die Erzählungen angeschlossen bzw. durch sie begründet und aus ihnen abgeleitet werden: Das Sabbatgesetz aus dem Schöpfungsbericht (2,17-34); die Unreinheit der Frau bei der Geburt eines Knaben bzw. eines Mädchens aus der Erschaffung Adams und Evas und ihrer Versetzung ins Paradies zu verschiedenen Zeiten (3,8.10-16); das Gesetz der Bedeckung der Scham aus den Kleidern bei der Vertreibung aus dem Paradies (3,31); das genaue Talio-Gesetz für den Mörder aus der Kaingeschichte (4,5-6,32); Gesetze in bezug auf den Versöhnungstag (5,18); Blutgenußverbot (6,14); Wochenfest (6,17-28); Jahreseinteilung (6,28 ff); Laubhüttenfest (16,20 f); Verbot von Ehen zwischen Israeliten und Heiden (30,5ff, Dina in Sichern); Levis Priestertum, Gesetz über den zweiten Zehnten (30); Ehebruchverbot (33); Inzestverbot (41); Pascha-Gesetz (49); Jubiläen- und Sabbatgebet als Abschluß (50).

Aus diesen gesetzlichen Bestimmungen sind als weitere Schwerpunkte zu erkennen: Die Einsetzung von Festen, die Jahreseinteilung, der Kalender, der Sabbat, das Priestertum Levis, Reinheitsgesetze, Verbot der Entblößung, des Blutgenusses, der Mischeien. 2.3. Die biblischen Erzählungen vom Tod Noahs, Abrahams, Isaaks und Rebekkas sind durch zum Teil umfangreiche Abschiedsreden erweitert, die Mahnungen, Anweisungen und Ankündigungen enthalten: Noah (7,20-39); Abraham an seine Kinder und Kindeskinder (20) mit Warnungen vor Hurerei, Unreinheit und Götzendienst; an Isaak (21) mit Warnungen dazu vor Blutgenuß, detaillierten Opfervorschriften und Mahnung zur Trennung von Heiden; an Jakob (22) mit Warnung vor Tischgemein-

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Schaft mit Heiden, Verbot von Mischehen; Rebekka an Isaak (25), an J a k o b und Esau mit Mahnung zum Frieden, zu Bruderliebe; ähnlich die letzten Reden Isaaks (26).

Dazu gehören auch Gebete: Noahs (7,28-39); Abrahams Dankgebet (22,7-9); das Fürbittegebet des Mose (1,19-21). Besondere Erwähnung verdient die Geschichtsbetrachtung des Engels (23) mit dem Lob Abrahams, Ankündigung von Niedergang, Heil und Gericht. 2.4. Schließlich ist der Rahmen des Ganzen zu nennen. So präsentiert sich das Werk einmal als Offenbarungsrede Gottes bzw. eines Engels an Mose auf dem Sinai während der 40 Tage und Nächte, eingefügt in Ex 2 4 , 1 2 - 1 8 . Diese erste Offenbarungsrede enthält „die vergangene und zukünftige Geschichte, die Einteilung der Tage des Gesetzes und des Zeugnisses" (1,4). Dieser Rahmen wird bis zum Schluß aufrechterhalten. Mose wird immer wieder an wichtigen Stellen angeredet; gegen Ende wird ihm sogar seine eigene Geschichte erzählt. 2.5. Hinzu kommt das chronologische Gerippe, das dem Werk den Namen gegeben hat, die „Einteilung in Jahrwochen und Jubiläen in allen Jahren der Welt" (Überschrift). Angefangen von der Schöpfung bis zur Sinaioffenbarung, werden sie gezählt und dienen der genauen Datierung: „49 Jubiläen sind es von den Tagen Adams bis auf diesen Tag und eine Jahrwoche und zwei Jahre" (50,4), d.h. bereits im 50. „Jubiläum der Jubiläen" (48,1) des Auszuges und Einzuges, der noch aussteht (anno mundi2402—2451). 3. Literarkritische

Fragen

Zu literarkritischen Hypothesen führten u.a. unvereinbare Datierungen (Wiesenberg), die Spannung zwischen Gottesrede und Engelrede in 1,1-26.27ff. Davenport unterscheidet drei Stufen einer Redaktionsgeschichte des Werkes: a) Engelrede 2 , 1 - 5 , 4 als Grundschrift mit l , l - 4 a . 2 9 * als Einleitung und 5 0 , 3 - 4 a als ursprünglichem Schluß; b) als Zweitausgabe mit neuer Einleitung l , 4 b - 2 6 und neuem Ziel (Hoffnung und Beschämung 1 , 5 - 6 ) , wozu auch 1 3 , 1 4 - 3 1 als eschatologisches Stück gehörte; c) gekennzeichnet durch Ausrichtung auf den Tempel ( 1 , 2 7 - 2 8 ; 4 , 2 6 ; 2 3 , 3 1 ; 31,14).

Diese Vorschläge haben nicht überzeugt (Berger, Nickelsburg). VanderKam löst die Spannung in Kap. 1 textkritisch (sa¿a/7schreibe! = hebr. &&í¿[Hiph'íl]). Formkritik und Formbestimmungen bietet über die genannten Hauptformen besonders der Anmerkungskommentar von Berger. Ebenso finden sich dort ausgiebige traditionsgeschichtliche Hinweise. Sicher gehören Henoch-Traditionen, wie sie das astronomische, das Wächter- und Traumbuch enthalten, ja auch der Henochbrief (VanderKam; -•Henoch/Henochliteratur) zu den Quellen des Werkes. 4. Datierung,

Milieu,

Trägerkreis

Die hebräischen Fragmente aus Qumran bestätigt durch die Zitierung im CD ca. 100 v.Chr. als terminus ante quem. Die Kenntnis des Traumbuches (aethHen 8 3 - 9 0 ) setzt 165/60 als terminus post quem fest, nach 161 n.Chr. (Sieg Judas über Nikanor; 3 4 , 2 - 9 nach VanderKam's Deutung). Während Berger 46,6 auf Ptolemäus' VI. Philometer Tod 145 v. Chr. (Flavius Josephus, Ant XIII/4, 8 § 116-119) deutet und somit das Werk nach diesem Datum, am wahrscheinlichsten zwischen 145/40 ansetzt, VanderKam das Dezennium 160/59-150/49 (zwischen Tod Alkimos' [I Makk 9,54-56]) und Installierung Jonathans als Hoherpriester) als Zeit der in der Qumranliteratur als Lehrer der Gerechtigkeit bezeichneten als Hoherpriester amtierenden oder fungierenden Persönlichkeit und diese selbst als Verfasser vermutet, plädieren Nickelsburg wie auch Schwartz für ein Datum vor der Entweihung des Tempels durch Antiochus IV. (167) bzw. während der Religionsverfolgung (um 165). Die antihellenistische F r o n t läßt eher an die Zeit vor den M a k k a b ä e r n und ihren Siegen denken, während später der Gegensatz Juden/Heiden anachronistisch wirkt. D a r a u f weist die F r o n t gegen hellenistisch-heidnisches Wesen (Nacktheit 6 , 3 1 ) , Epispasmos und Unterlassung der Beschneidung

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(5,25), Entweihung des Sabbats ( 2 , 2 5 - 2 7 ; 50,8.12), der Feste (6,17ff; 6,23ff; 16,20ff; 24,18 f,40), gegen Götzendienst (11; 1 2 , 1 - 1 4 ) , Aufhebung der Speisegesetze (22,16: „Iß nicht mit ihnen"), gegen Mischehen (5,7ff) sowie die Kalenderfrage (Versuch der Ersetzung des alten Solar-Kalenders durch den seleukidischen zivilen, luni-solaren auch für den Kult 6 , 2 3 - 2 8 ; Dan 7,25; II Makk 6,7). Die Entweihung des Tempels scheint im Geschichtsüberblick 23 nicht auf. Entstehungsort des Werkes ist ohne Zweifel Palästina, wahrscheinlich J e r u s a l e m (1,29; 4 , 2 6 ; 8,19). Die Selbstdarstellung in 2 3 , 1 9 . 2 6 , besonders auch das Verbot des Kriegführens a m Sabbat (50,12) weist auf radikalen, hasidäischen, antihellenistischen, priesterlichen Trägerkreis. 5. Bedeutung

und

Wirkungsgeschichte

Das Jubiläenbuch ist ein bedeutsames Zeugnis für die frühjüdische Schriftauslegung, ihre Aktualisierung für eine neue Situation angesichts einer tödlichen Identitätskrise, und z w a r in F o r m einer , N e u a u s g a b e ' der alten Schrift, die nicht weniger Autorität erhebt als ,das erste Gesetz' (1,26; 6 , 2 2 ; 3 0 , 2 1 ; 5 0 , 6 ) , analog etwa zum Deuteronomisten gegenüber J a h w i s t / J e h o v i s t , ähnlich wie die Tempelrolle. Jedenfalls versteht es sich nicht weniger als Offenbarung Gottes v o m Sinai her. Es aktualisiert die Bundes- und E r w ä h l u n g s p r ä r o gativen Israels (2,19ff) zur W a h r u n g seiner Identität durch radikale Absonderung. Sein Einfluß zeigt sich in Q u m r â n : Die Zusammenhänge sind offenkundig: Prädestinationslehre, Determinismus (die himmlischen Tafeln 5,13 f; 23,32 u. passim), zwei Geister - gute und böse Engel; gleicher Solar-Kalender. Andererseits sind auch wichtige Unterschiede festzustellen: keine (Zwei-)Messiaslehre; keine innerjüdische Absonderung, sondern Ganz-Israel als Adressat, das in Jerusalem anbetet und feiert (49,16 ff, Pascha). Vom offiziellen J u d e n t u m verdrängt, m a c h t das Werk seinen Einfluß auf südarabische Judenschaften bei den Falashas und der christlichen Kirche Äthiopiens geltend, w o es als heiliges bzw. kanonisches Buch gilt. Ausgaben/Literatur Allgemeines: Willem Baars/R. Zuurmond, The Project for a New Edition of the Ethiopie Book of Jubilees: JSSt 9 (1964) 6 7 - 7 4 . - James H. Charlesworth, The Pseudepigrapha and Modern Research, with a Supplement, Ann Arbor 1981,143 - 1 4 7 . 2 9 3 - 2 9 5 . - Albert M . Denis, Introduction aux Pseudépigraphes Grecs d'Ancien Testament, 1970 (SVTP 1), 1 5 0 - 1 6 2 . - Robert Eppel, Les tables de la loi et les tables célestes: RHPhR 17 (1937) 4 0 1 - 4 1 2 . - Gustav Hölscher, Drei Erdkarten. Ein Beitr. zur Erdkenntnis des hebr. Altertums, 1949 (SHAW. Phil. 1944/48, 3. Abh.). - George W.E. Nickelsburg, Jewish Literature between the Bible and the Mishna, Philadelphia 1981, 7 3 - 8 0 . - Ders., The Bible Rewritten and Expanded: Michael E. Stone, Jewish Writings of the Second Temple Period, Assen/Philadelphia 1984, 9 7 - 1 0 4 . - R. Pummer, The Book of Jubilees and the Samaritans: EeT 10 (1979) 1 4 7 - 1 7 8 . - E. Rivkin, The Book of Jubilees - An anti-Pharisaic Pseudepigraph?: Erls 16 (1982) 1 9 3 - 1 9 8 . - Leonhard Rost, Einl. in die atl. Apokryphen u. Pseudepigraphen, Heidelberg 1971, 9 8 - 1 0 1 . - Michel Testuz, Les idées religieuses du livre des Jubilés, Paris 1960. - Richard Uhden, Die Erdkreisgliederung der Hebräer nach dem Buch der Jubiläen: ZS 9 (1933) 2 1 0 - 2 3 3 . Zu 1. Textausgaben. Äthiopisch: Robert Henry Charles, Mashafa Kufâlê of the Ethiopie Version of the Book of Jubilees, Anecdota Oxoniensia, Oxford 1985. - August Dillmann, Mashafa kufâlê sive Liber Jubilaeorum, qui idem a Graecis . . . inscribitur, aethiopice ad duorum librorum manuscriptorum fidem primum edidit, Kiel/London 1859. Lateinisch: Albert M. Ceriani, Parva Genesis, 1861 (MsP 1/1), 1 5 - 6 2 . - Hermann Rönsch, Das Buch der Jubiläen oder Die kleine Genesis unter Beifügung des rev. Textes der in der Ambrosiana aufgefundenen lat. Frgm , Leipzig 1874, Amsterdam 1970. Griechisch: Albert M . Denis, Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt graeca, 1970 (PVTG 3), 7 1 - 1 0 3 . Syrisch: Albert M . Ceriani, Nomina uxorum patriarcharum priorum iuxta librum Hebraeum Jobelia nuneupatum, 1861 (MSP 2/1), 9 - 1 0 ; vgl. Charles, s.o., 183. - Eugène Tisserant, Fragments syriques du Livre des Jubilés: R B 30 (1921) 55 - 8 6 . 2 0 6 - 232. Hebräisch: James C. VanderKam, Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees, 1977 (HSM 14), 1 8 - 1 0 1 (14 Fragm.). - Adam S. van der Woude, Frgm. des Buches der Jubiläen aus Qumran Höhle XI (11 QJub.): Tradition u. Glaube. FG K . G . Kuhn, Göttingen 1971, 1 4 0 - 1 4 6 (11 QFrgm. 1 - 5 ) . Übersetzungen. Deutsch: Klaus Berger, Unterweisung in erzählender Form. Das Buch der Jubiläen, 1981 (JSHRZ 2/3). - August Dillmann, Das Buch der Jubiläen oder die kleine Genesis: J B W 2

Jubiläenbuch

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290

Judaistik

Judäa —»Palästina Judaistik 1. Vorläufer versitätsdisziplin

1.

2. Die Wissenschaft des Judentums (Literatur S. 296)

3. Instituta Judaica

4. Judaistik als Uni-

Vorläufer

Die Judaistik als wissenschaftliche Bearbeitung des Judentums in all seinen Erscheinungen und Hervorbringungen ist als akademische Disziplin sehr jung. Einzelne ihrer Vorläufer reichen jedoch weit zurück. Ansätze zu kritischer Beschäftigung mit der eigenen Tradition entwickeln Juden im arabischen Raum z.T. unter dem Einfluß der -»Karäer schon im 10. Jh.: Am Anfang steht das Studium des -»Hebräischen und seiner Grammatik sowie die Bibelexegese im eigentlichen Sinn (im Unterschied zum -»Midrasch): -»Saadja ben Josef (Gaon) ist der Ahnherr beider Disziplinen. Die Befassung mit Wegen und Methoden der eigenen Lehrüberlieferung geht vor allem auf Scherira Gaon zurück. Auf christlicher Seite gibt es Ansätze z. B. bei —» Raimund Martini, einem guten Kenner des Hebräischen und der rabbinischen Literatur, die er in seinem um 1280 verfaßten Pugio Fidei für die Judenmission aufbereitet. Mit der —»Kabbala befassen sich —»Pico della Mirandola (1463-94) und Johannes -»Reuchlin (1455-1522); der Hebraist Arias Montano (1527-98) gibt die Antwerpener Biblia Polyglotta heraus; mit hebräischer Grammatik und Lexikographie befassen sich u.a. Konrad Pellikan (1478-1556), Johannes Buxtorf der Ältere (1569-1629) und der Jüngere (1599-1664); John B. Lightfoot (1602-75) studiert die rabbinischen Parallelen zum Neuen Testament. Die Väter der hebräischen Bibliographie sind Giulio Bartolocci (1613-87) mit seiner Bibliotheca Magna Rabbinica (4 Bände, 1675-93) und Johann Christoph Wolf (1683-1739) mit den vier Bänden seiner Biblioteca Hebraea (1715-33), die vor allem die große Sammlung von David Oppenheimer verwertet; Jacques Basnage verfaßt die erste umfassende Geschichte des nachbiblischen Judentums. Die Renaissance ermöglicht auch jüdischerseits kritische Studien: Azarja dei Rossi (ca. 1511-78) setzt sich in seinem Werk Me'or cEnajjim als erster Jude mit der Tradition des hellenistischen Judentums auseinander, mit Septuaginta, —»Aristeasbrief und -»Philo; er zieht auch die klassische Literatur, Neues Testament und Kirchenväter als Vergleichsmaterial und Kontrollinstanz rabbinischer Aussagen heran; den für das Werk des -»Josephus Flavius gehaltenen -»Josippon erkennt er als mittelalterliche Schrift. Kritische Ansätze gegenüber der jüdischen Tradition vertritt auch Baruch -»Spinoza (1632-77) im Tractatus Theologico-Politicus. Wissenschaftliche Ansätze auf dem Boden des traditionellen Talmudstudiums entwickelt vor allem Elia ben Salomon Zalman, der Gaon von Wilna (1720—97): Zum Verständnis rabbinischer Texte stützt er sich auf Methoden der Textkritik und des Vergleichs mit anderen rabbinischen Schriften ebenso wie er Mathematik, Astronomie, Geographie und Medizin zur Textauslegung verwendet. 2. Die Wissenschaft

des

Judentums

Die beginnende Emanzipation der deutschen Juden in der Zeit M. -»Mendelssohns ermöglichte vielen seiner Schüler den Zugang zur Universität. Die dort gelernten Methoden drängten sich nun auch für die systematische Erforschung des Judentums auf. Leopold (Jom Tob Lippmann) Zunz (1794-1886), der in Berlin Geschichte studiert hatte, verfaßt 1818 die programmatische Schrift Etwas über die rabbinische Literatur: Da die deutschen Juden immer mehr zu deutscher Sprache und Bildung greifen, und wir daher „die neuhebräische Literatur zu Grabe tragen sehen, tritt die Wissenschaft auf und verlangt Rechenschaft" (4), um so das alte Brauchbare, das veraltete Schädliche und das neue Wünschenswerte zu erkennen. „Hier wird die ganze Literatur der Juden, in ihrem größten Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt, ohne uns darum zu küm-

Judaistik

291

mern, o b ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder k a n n " (ebd. 5 Anm. 1). 1819 kam es zur Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, in dessen Auftrag Zunz 1823 den ersten und einzigen Band der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums herausgab. Im einleitenden Aufsatz skizzierte Immanuel Wolf als Aufgabe der neuen Wissenschaft die „gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten" (1). „Sie behandelt ihr O b j e k t an und für sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besonderen Z w e c k oder aus einer bestimmten A b s i c h t " (18). Diese Zweckfreiheit wird jedoch gleich wieder zurückgenommen: „Die wissenschaftliche Kunde des Judenthums muß über den Werth oder Unwerth der Juden, über ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, andern Bürgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden, entscheid e n " (23). Von Beginn an stand die Wissenschaft des Judentums im Dienst der jüdischen Emanzipation, innerjüdisch im Dienst der R e f o r m , deren Anliegen durch historische Präzedenzfälle als gerechtfertigt nachgewiesen werden sollten. Von Anfang an gab es Bemühungen, die neue Wissenschaft auf die Universität zu bringen. Den ersten Vorstoß machte J o h a n n Georg Diefenbach mit der Schrift: Jüdischer

Professor der Theologie

auf christlicher Universität. Eine Aufgabe für christliche

Staaten

(Giessen 1 8 2 1 - 3 ) ; Abraham - » G e i g e r forderte eine jüdische Fakultät an einer deutschen Universität (1836), einen Vorschlag, den der Magdeburger Prediger Ludwig Philippson ab 1837 in seiner Allgemeinen Zeitung des Judentums eifrigst propagierte. Er dachte an eine vom Staat approbierte, aus jüdischen Geldern finanzierte Fakultät in einer Universitätsstadt, aber als von der Universität selbst getrennte Institution. Er wollte mit der dort zu bietenden wissenschaftlichen Rabbinerausbildung der bedrohlichen Assimilation und Taufbewegung unter der jüdischen Jugend entgegenwirken. Leopold Zunz hingegen dachte an einen jüdischen Lehrstuhl innerhalb der philosophischen Fakultät der Universität Berlin; 1847 beantragte er bei der preußischen Regierung ein Ordinariat für jüdische Geschichte und Literatur. D o c h alle diese Bemühungen blieben erfolglos, was sowohl am Widerstand der Universitäten wie auch an verbreitetem Desinteresse, ja M i ß t r a u e n , innerhalb der jüdischen Gemeinden lag. Auch der 1819 gegründete Kulturverein löste sich schon nach wenigen J a h r e n auf, nachdem sich sein Vorsitzender Eduard G a n s und andere Mitglieder hatten taufen lassen. So wirkte die erste Generation der Gelehrten der Wissenschaft des Judentums als Einzelgänger, ohne institutionellen Rückhalt und auch untereinander meist nur brieflich in Verbindung. Bezeichnend für das Streben der Vertreter der neuen Wissenschaft im Gegensatz zu den orthodoxen Lehrern ist die Bevorzugung der Landessprache, meist des Deutschen, anstelle des Hebräischen. M a n wollte ja der allgemeinen wissenschaftlichen Welt angehören, auch außerhalb des traditionellen Judentums verstanden werden. M i t seinem ersten Buch Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (1832 2 1 8 9 2 ) hat Z u n z einen kaum zu überbietenden Standard gesetzt. Das sofort auch von der nichtjüdischen Gelehrtenwelt als wissenschaftliche G r o ß t a t anerkannte Werk, das auch heute noch viel verwendet wird, stellt die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung dar und bietet vor allem eine Einführung in über 100 Midraschim, dabei zahllose Einzelheiten aus direktem Handschriftenstudium zu einem Gesamtbild fügend. Auch seine Forschungen zur jüdischen Geschichte und Literatur im mittelalterlichen Frankreich und Deutschland sowie seine Studien zur synagogalen Poesie sind die Grundlage aller weiteren Arbeiten geworden. In Osteuropa war N a c h m a n K r o c h m a l ( 1 7 8 5 - 1 8 4 0 ) der Pionier der neuen Wissenschaft; in seinem postum von Zunz herausgegebenen More Nebukhe ha-Zeman („Führer der Verwirrten der Z e i t " , 1851) entwirft er eine Religions- und Geschichtsphilosophie in der Linie des nachkantischen Idealismus. Unter Krochmals Einfluß stand Salomo J e h u d a Leib R a p o p o r t ( 1 7 9 0 - 1 8 6 5 ) . Dieser von Zunz einmal als der eigentliche Vater der Wissenschaft des Judentums bezeichnete Gelehrte, ab 1840 Oberrabbiner von Prag, erforsch-

292

Judaistik

te vor allem die gaonäische Periode (in der Zeitschrift Bikkure ha-lttim 1 8 2 8 - 3 1 veröffentlicht) und begann ein talmudisches Lexikon. In Italien vertrat Samuel David Luzzatto (1800-1865) die Wissenschaft des Judentums. Seit 1829 Professor am neugegründeten Collegio Rabbinico in Padua, bemühte er sich besonders um die Erforschung der hebräischen und aramäischen Grammatik, der Bibel und der jüdischen Liturgie, aber auch der hebräischen Dichtung des Mittelalters. Durch zahlreiche Abschriften und Mitteilungen aus Handschriften und frühen Drucken italienischer Bibliotheken, die er selbstlos jüdischen Forschern in Deutschland überließ, ermöglichte er zu einem großen Teil überhaupt erst deren Arbeiten. In Deutschland wirkten neben Zunz vor allem Zacharias Frankel (1801-1875), der sich dem hellenistischen Judentum und der rabbinischen Literatur widmete (seine Einleitungen in die Mischna und in den palästinischen Talmud, 1859 bzw. 1870 hebräisch veröffentlicht, waren Pionierleistungen), und der radikale Reformer Abraham -»Geiger: Noch heute lesenswert ist seine Dissertation von 1833 über die Einflüsse des Judentums auf Mohammed; sein Hauptwerk Urschrift und Übersetzung der Bibel (1857) führt den Nachweis, daß es noch keinen einheitlichen Bibeltext gab, als Septuaginta und —>Targumim entstanden. Letzter großer Einzelgänger der Gründergeneration war Moritz Steinschneider (1816-1907), der Vater der hebräischen Bibliographie, dessen Katalog der hebräischen Druckschriften der Bodleiana in Oxford, 1 8 5 2 - 1 8 6 0 erschienen, eine noch heute unersetzte Fundgrube ist. Als Ergebnis fünfzigjähriger Forschung legte er 1893 sein magnum opus Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher vor. Da der Wissenschaft des Judentums vorderhand der Zugang zu den Universitäten nicht gelingen wollte, bemühte man sich verstärkt um die Gründung jüdischer Lehr- und Forschungsstätten. Padua war hier der Vorläufer, wenn auch lange nicht in gesicherten Umständen. Einen echten Durchbruch bedeutete das Jüdisch-theologische Seminar von Breslau, 1854 aus dem Nachlaß von Jonas Fraenckel gestiftet und von Zacharias Frankel geleitet, der u.a. den Historiker Heinrich -»Graetz, den Verfasser der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart (11 Bände, 1853—1876), als Professor berief. Frankel forderte von Anfang die Universitätsreife als Bedingung für die Zulassung zum Studium; die Errichtung einer großen Bibliothek ermöglichte Forschungen, deren Ergebnisse im Jahresbericht des Seminars und in der Monatsschrift für Geschichte und 'Wissenschaft des Judentums (1851-1939) ein geeignetes Forum fanden. Das gemäßigt konservative Vorbild Breslaus fand Nachahmung in der (noch heute bestehenden) Landesrabbinerschule in Budapest, 1877 gegründet, unter deren Lehrern besonders Wilhelm Bacher (1850-1913) erwähnt sei, sowie in der Israelitisch-theologischen Lehranstalt (Wien 1893), deren Lehrer sich besonders um Midrascheditionen verdient machten. Während alle diese Institutionen primär einer wissenschaftlichen Rabbinerausbildung dienten, setzte die 1869 gegründete, doch erst 1872 eröffnete Hochschule (zeitweise: Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums in Berlin primär auf zweckfreies Forschen, wollte auch Frauen und Nichtjuden zum Studium zulassen und verlangte von den Lehrkräften eine der Habilitation entsprechende Qualifikation. Als konservatives Gegenstück gründete Esriel Hildesheimer 1873 in Berlin das Rabbinerseminar für das orthodoxe Judentum. Nach einer Vorgängerinstitution in Metz entstand 1859 in Paris das Séminaire Israélite, ergänzt durch die Société des Études Juives. Das 1852 in London begründete Jews' College war hingegen für die Wissenschaft lange bedeutungslos. In den USA gründete Isaac Mayer Wise 1875 in Cincinnati das Hebrew Union College primär für die Ausbildung von Rabbinern; wissenschaftliche Bedeutung erlangte es erst nach Jahrzehnten. Anders das 1886 für den konservativeren Flügel gegründete Jewish Theological Seminary in New York, das seit seiner Neugründung durch Salomo Schechter 1902 bis zur Gegenwart ein Zentrum hochwertiger jüdischer Forschung geblieben ist. Schließlich sei noch das 1907 in Philadelphia entstandene Dropsie College for Hebrew and Cognate Learning genannt, das primär der Forschung dient und auch nicht jüdische Studenten

Judaistik

293

aufnimmt. Die Gründung einer Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 1902 erweiterte die Forschungs- und Publikationsmöglichkeiten in Deutschland; die auf eine Anregung Franz Rosenzweigs an Hermann Cohen zurückgehende Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1918) schließlich entrückte diese Disziplin endgültig dem Rahmen einer „Rabbinerwissenschaft". Gegenüber dem traditionellen „Lernen" in den Jeschibot bedeutete die Wissenschaft des Judentums einen mehrfachen Fortschritt: Vor allem löste sie sich in einem gewissen M a ß von der alten Traditionsgläubigkeit, an deren Stelle sie unvoreingenommene kritische Forschung postulierte. Daß dies keine Voraussetzungslosigkeit bedeutete, ergibt sich schon aus den apologetischen bzw. reformatorischen Zielen, die die Vertreter dieser Wissenschaft beseelten. Dazu kam ein in der Romantik wurzelnder ausgeprägter Historismus. Grundvoraussetzung der Wissenschaft des Judentums auch in ihren konservativsten Ausprägungen war die Erkenntnis, daß das isolierte Studium von Talmud und religiösen Codices nicht genüge und im allgemeinen der Universitätsreife entsprechende Kenntnisse Voraussetzung für ein zielführendes Studium der jüdischen Tradition seien. Innerhalb der jüdischen Studien selbst postulierten die verschiedenen von ihren frühen Vertretern geforderten Programme ein alles jüdisches Leben umfassendes Spektrum. Doch die z.B. von Immanuel Wolf geforderte Hauptabteilung „Statistik", d.h. die Behandlung des Gegenwartsjudentums in all seinen Erscheinungsformen und Problemen, wurde fast allgemein gegenüber der historischen und literarischen Judentumskunde vernachlässigt. Eine gewisse Einseitigkeit ergab sich auch durch die Konzentration auf neuentdeckte Quellen, wie z. B. auf das umfangreiche Handschriftenmaterial der Geniza von Kairo. Demgegenüber blieb die Bibel zu einem großen Teil der christlichen Bibelwissenschaft überlassen, der babylonische Talmud ein Reservat der alten Talmudschulen. In den neugegründeten Hochschulen und Seminaren wurde eine systematische Theologie des Judentums weitgehend vernachlässigt, die jüdische Religionsphilosophie fast nur in Form der mittelalterlichen Philosophiegeschichte gepflegt. Aber auch die praktische Seite der Rabbinerausbildung war nicht sehr ausgeprägt und die Bildungsbedürfnisse des jüdischen Laienpublikums beachtete man fast gar nicht, es sei denn Hermann Graetz in seiner Jüdischen Geschichte. Kritische Texteditionen und Quellensammlungen wurden zwar angegangen, doch in wenig systematischer Weise. Dazu fehlte es zu sehr an qualifizierten Forschern, die auch zusammengearbeitet hätten, an institutionellem Rückhalt, geeigneten Publikationsmöglichkeiten und gesicherten Finanzen. Angesichts der gegebenen Umstände wäre es unfair, die vorhandenen Mängel zu sehr zu betonen; vielmehr ist erstaunlich, welche Leistungen trotz allem erbracht wurden. Erwähnt sei vor allem, daß es die Wissenschaft des Judentums innerhalb ihres ersten Jahrhunderts zu zwei systematischen Darstellungen ihres Forschungsgegenstandes gebracht hat: Seit 1906 erschien in Leipzig ein großangelegter Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums, der zwar unvollendet geblieben ist, doch immerhin mehrere bedeutende Publikationen wie etwa die Talmudische Archäologie von Samuel Krauss (1910-12) herausbrachte. Der zweite große Versuch ist die auch heute noch geschätzte Jewish Encyclopedia, in zwölf Bänden ab 1901 in New York erschienen. 3. Instituta

Judaica

Von ihren Pionieren war die Wissenschaft des Judentums nie als exklusiv jüdische Wissenschaft betrachtet worden; de facto jedoch war die christliche Beteiligung vor allem in der Frühzeit minimal. Die große Ausnahme war Franz -»Delitzsch, dessen Frühwerk Zur Geschichte der jüdischen Poesie (1836) auch in jüdischen Kreisen höchste Anerkennung fand. Sein wissenschaftliches Interesse für das Judentum war vom Gedanken der —•Judenmission, aber auch dem Wunsch getragen, für eine gerechtere Beurteilung des Judentums einzutreten. Nach dem Vorbild des von Johann Heinrich Callenberg 1728 in Halle begründeten Institutum Judaicum gründete er 1886 in Leipzig das lnstitutum Judai-

294

Judaistik

cum (nach seinem Tod „Delitzschianum" genannt) zur wissenschaftlichen Schulung von Judenmissionaren. In diesem Zusammenhang entstand auch seine hebräische Übersetzung des Neuen Testaments. Gleichzeitig verteidigte er das Judentum in verschiedenen Schriften gegen den immer stärker werdenden Antisemitismus. Gustav -»-Dalman als Nachfolger Delitzsch's trug ebenfalls zur wissenschaftlichen Anerkennung des Instituts bei, besonders durch seine Grammatik des jüdisch-palästinischen Aramäisch (1894) und das große Werk Arbeit und Sitte in Palästina (7 Bände, 1 9 2 8 - 4 2 ) . Nach der Auflösung des Instituts in der NS-Zeit lebte es noch kurze Zeit in Wien weiter; nach 1945 wurde es vom ehemaligen Mitarbeiter Karl Heinrich Rengstorf in Münster neu gegründet; sein wissenschaftlicher Beitrag besteht vor allem in der Fortführung der Gießener Mischna, in der Edition und Kommentierung mit Übersetzung der —>Tosefta und verschiedener Midraschim sowie in der Konkordanz zu Flavius Josephus. Der Gedanke der Judenmission gehört nicht mehr zum Programm des Instituts. Hermann Leberecht Strack (1848—1922), ein Schüler von Delitzsch, gründete 1883 das Institutum Judaicum an der Universität Berlin; der Missionsgedanke stand hier immer schon im Hintergrund und wurde 1923 mit der offiziellen Eingliederung in die Theologische Fakultät völlig aufgegeben. Die vom Institut seit 1886 herausgegebene Schriftenreihe publizierte u. a. einige der wichtigsten Forschungen Stracks, so seine Einleitung in den Talmud (1887), die erste wissenschaftliche Einführung in die rabbinische Literatur, die in erweiterter Form bis in die Gegenwart verwendet wurde. Unter Stracks Nachfolger Hugo —>Greßmann wurde das Institut ein Seminar für das nachbiblische Judentum, das auch immer wieder jüdische Gelehrte zur Mitarbeit gewinnen konnte. Bedeutend jüngeren Datums ist die Gründung des Institutum Judaicum an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, das sich insbesondere dem hellenistischen Judentum widmet. Während christliche Forscher im englischsprachigen R a u m - so Robert Travers Herford, Herbert Danby oder George Foot M o o r e - dem von ihnen erforschten Judentum ohne negative Vorurteile begegneten, stand die christliche Erforschung des Judentums im deutschen Sprachraum schon früh weitgehend im Zeichen der „ S p ä t j u d e n t u m s f o r schung'die jegliche jüdische Entwicklung nach Abschluß der Bibel als Dekadenz betrachtete und diese Periode nur als den negativen Hintergrund für die Entstehung des Christentums betrachtete. Dergleichen Auffassungen bestimmten schon Julius -»• Wellhausen, später dann die ersten Bände des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament (dazu Karlheinz Müller, Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament, Frankfurt 1983). Diese Einstellung machte dann auch Kenner der rabbinischen Traditionen für die nationalsozialistische Ideologie anfällig und zu willkommenen Mitarbeitern der Forschungen zur Judenfrage (8 Bände, 1 9 3 6 - 4 3 ) .

4. Judaistik

als

Universitätsdisziplin

Eine Judaistik im Vollsinn, weder als innerjüdische Veranstaltung noch als christlichtheologische Hilfsdisziplin, kam erst nach dem zweiten Weltkrieg zustande. Erst ihre Emanzipation von diesen beiden Interessensgruppen ermöglichte ihre volle Verwirklichung als geisteswissenschaftliche Disziplin. Natürlich baut sie auf den Leistungen der Wissenschaft des Judentums auf und anerkennt auch die früheren Studien vieler judaistisch arbeitender Theologen. Doch ist sie durch die Eingliederung in philosophische Fakultäten von sachfremden Zwängen und Rücksichtnahmen nunmehr weithin befreit. Zentren judaistischer Forschung sind heute die USA, wo nicht nur traditionelle jüdische Institutionen wie das Jewish Theological Seminary in New York oder das Hebrew Union College in Cincinnati sich mehr denn je der Forschung widmen, sondern wo auch zahlreiche Universitäten Judaistik oder eine ihrer Teildisziplinen erforschen und lehren (eines der einflußreichsten Zentren ist heute die Brown University, Providence, R . I . ) . In Israel ist es vor allem die Hebräische Universität mit ihrem 1924 gegründeten Institut für Jüdische Studien; dazu kommt die religiös orientierte Bar Ilan-Universität in Ramat Gan bei

Judaistik

295

Tel Aviv; aber auch die anderen Universitäten Israels befassen sich mit judaistischen Fragen. Folge der Entwicklung ist die Tatsache, daß heute ein großer Teil der Fachpublikationen in modernhebräischer Sprache erscheinen, aber auch das Englische längst das einst dominierende Deutsch als Sprache wissenschaftlicher judaistischer Publikationen verdrängt hat. Im deutschen Sprachraum wurden seit 1966 judaistische Institute an den Universitäten Köln, Wien, Frankfurt und Berlin gegründet; im R a h m e n einer theologischen Fakultät gibt es ein Institut für jüdisch-christliche Forschung in Luzern. Traditionelle Zentren der Judaistik sind weiterhin O x f o r d und Cambridge mit ihren wertvollen Bibliotheken und Handschriftenbeständen; judaistische Studien werden aber auch an anderen Universitäten Englands, Frankreichs, Spaniens (vor allem Erforschung der Targumim und der arabisch-jüdischen Tradition), Italiens und anderer Länder betrieben. D a s Forschungsprogramm der Judaistik ist im Prinzip dasselbe, das in der T h e o r i e schon in der frühen Wissenschaft des Judentums aufgestellt, doch aus verschiedenen Gründen nur in Teilen verwirklicht wurde, nämlich die Erforschung der Sprachen und der Literatur, der Geschichte und der Religion des Judentums ebenso wie seiner gegenwärtigen Erscheinungsformen. Erst die Befreiung von früheren Bindungen ließ so manche einst völlig vernachlässigte Gebiete näher erforschen: Das gilt z . B . vom babylonischen Talmud, einst Reservat der Orthodoxie, vom ehedem als dem aufgeklärten Rationalismus zuwiderlaufend völlig abgelehnten Gebiet der —»Kabbala (um die sich besonders Gerschom Scholem verdient gemacht hat) oder auch von der bis vor kurzem als „ J a r g o n " verachteten jiddischen Sprache ( - » L i t e r a t u r und Religion). Die Zeitgeschichte ist naturgemäß vor allem vom Holokaust und der Gründung des Staates - * Israel bestimmt. Die Erforschung des gegenwärtigen Judentums schließlich ist weithin eine D o m ä n e der Soziologie, wird aber auch von Sprachforschern und Vertretern anderer Disziplinen betrieben. Die Hebräische Universität zu Jerusalem betreibt eine eigene Abteilung Contemporary Jewry. Selbstverständlich werden auch heute die einzelnen Forschungsgebiete nicht (überall) mit derselben Vollständigkeit betreut. Besonders die Vorgeschichte einzelner Institute, ihre Verankerung in einer gewissen Abteilung der Universität, aber auch persönliche Schwerpunkte einzelner Lehrer sind zu bedenken. Daneben gibt es heute eine Anzahl von Instituten und Forschungsstätten, die explizit einem kleinen Teilgebiet der Judaistik gewidmet sind (etwa das Leo Baeck Institut für die Erforschung des deutschen Judentums oder das Instituto Ibn Tibbon in Granada für sefardische Studien). Im deutschen R a u m versucht man im allgemeinen in der Lehre einen möglichst umfassenden Überblick zu bieten, wobei der Schwerpunkt auf der rabbinischen Literatur liegt (besonders ausgeprägt in Frankfurt); in den USA hingegen sind die talmudischen Studien in den jüdischen Institutionen konzentriert, während sich die Universitäten eher mit anderen Teilgebieten der Judaistik befassen (Ausnahme: Brown University; ansonsten ist dort Talmud „the subject in least demand at Colleges and universities": so Liebman 243). Die Regionalgeschichte wie auch die Probleme der Akkulturation bzw. Assimilation des Judentums in seinen einzelnen Gastländern werden naturgemäß besonders in diesen Ländern erforscht. D o c h bleibt bei aller Arbeitsteilung innerhalb der Judaistik diese wesentlich auf die Z u sammenarbeit mit anderen Fächern angewiesen und ist durch ihre zahlreichen Querverbindungen und die vielfachen sprachlichen und methodischen Voraussetzungen auf den lebendigen Kontakt mit dem Historiker, dem Sprachwissenschaftler, dem Theologen usw. angewiesen. Von ihrer einstigen theologischen oder innerjüdischen Fremdbestimmung befreit, ist die Judaistik dennoch keine völlig zweck- und wertfreie Wissenschaft; bei allem Streben nach Objektivität ist sie, schon von ihrer Entstehungsgeschichte und der Geschichte ihres Forschungsgegenstandes her, eine grundlegend humanistische Disziplin, die stets bestrebt sein muß, durch die Erfüllung ihrer Aufgabe Verständnis und Toleranz für den Gegenstand ihrer Forschung, damit aber auch ganz allgemein zu bewirken.

Judas I

296 Literatur

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Judas I. Das Judasbild v o m Neuen Testament bis zur G e g e n w a r t II. Eine jüdische Stellungnahme

304

I. Das Judasbild vom Neuen Testament bis zur Gegenwart 1. Die verschiedenen Träger des Namens 2. Judas Iskariot als Thema der Synoptiker 3. Judas Iskariot als Thema des Johannesevangeliums 4. Ausblick auf weitere Traditionen 5. Das Judasverständnis bei Luther und Calvin 6. Das Judasbild der Neuzeit 7. Nichttheologische Aussagen zu Judas 8. Systematisches (Literatur S. 303)

1. Die verschiedenen Träger des Namens Neben J u d a s Iskariot gibt es den N a m e n J u d a s im Bereich biblischer Traditionen in folgenden Z u s a m m e n h ä n g e n (Fascher: R G G 3 3, 9 6 5 ) : Judas Makkabäus w a r Führer der Juden im Freiheitskampf gegen die Syrer 1 6 7 - 1 6 0 v. Chr. (1. M a k k . 2 - 9 ) . Judas, genannt Barsabbas, w a r ein angesehenes Mitglied der Jerusalemer Gemeinde; er w a r Lehrer und Prophet. Judas, Sohn des Jakobus, gehörte zum Zwölferkreis (auch T h a d d ä u s , ev. Lebbäus genannt). Weiter hieß ein Herrenbruder Judas (nach J u d 1 auch Verfasser des Judasbriefes). D a n n g a b es Judas, den Galiläer, der Mitbegründer der Zelotenpartei w a r . Schließlich hat ein Judas Paulus in Damaskus beherbergt.

Judas I 2. Judas Iskariot als Thema der

297

Synoptiker

Eine exegetisch verantwortbare Sicht des Judasproblems ist nur möglich, wenn ein Negativresultat der Formgeschichte (—• Formgeschichte) berücksichtigt wird: Unmittelbar-historische, biographische und psychologische Aussagen zur Persönlichkeit des Judas sind nicht möglich, weil Evangelienzeugnisse nicht Produkt eines Schriftstellers sind, sondern als „Kleinliteratur" ihren „Sitz im L e b e n " in einer Gruppe, in der Gemeinde, im Kult haben; die tradierten kurzen Erzählungen werden sekundär von Redaktoren mit bestimmten theologischen Interessen überarbeitet. So gibt es keine Judasbiographie im traditionellen Sinn, sondern nur kerygmatische Aussagen über Judas, wobei verschiedene Akzentsetzungen möglich sind: formgeschichtlich-kerygmatische (Baumbach), überlieferungsgeschichtliche (Baumbach), redaktionsgeschichtliche (Vogler, Lüthi). Jedenfalls lautet die sachgemäße Frage an die Texte nicht primär, „wie es w a r " , sondern, „was sie bedeuten". Damit wird auch die Auffassung vertreten, daß schon die synoptische Judasüberlieferung eine Vielzahl von Auslegungsprozessen enthält; historische Überlieferungsprobleme fallen weg oder treten stark in den Hintergrund. Vor allem werden zwei Fragestellungen, die die Exegese (vor der Epoche der Formgeschichte) beschäftigten, irrelevant: Was hat Judas verraten? Und: Aus welchen Motiven erfolgte der Verrat? Die erste dieser Fragestellungen beeinflußte noch A. -»Schweitzer (und H. Preisker), die annahmen, Judas habe das geheimgehaltene Messiasgeheimnis an die Gegner Jesu verraten (Schweitzer 441 ff; Preisker 154f). Weiter vertrat M . -»Goguel die Ansicht, der Judasverrat beziehe sich auf das Wort Jesu von der Tempelzerstörung (Goguel 421 f). Für die zweite Fragestellung ergaben sich Antworten wie: Judas sei Anhänger der Zeloten gewesen oder er habe Jesus zum Handeln zwingen wollen, bzw. er sei von Jesu Zögern enttäuscht gewesen. Beide Fragestellungen scheitern an den formgeschichtlichen Einsichten. Man wird wahrscheinlich von einem Konsens der Synoptiker in fünf Punkten ausgehen dürfen. 1) Judas gehörte zum „Zwölferkreis" und war damit einer der Jünger, den Jesus berufen hatte. Als Angehöriger dieses Kreises gehörte Judas zur Tischgemeinschaft Jesu. Sein Handeln bedeutete jedenfalls auch den Bruch der Tischgemeinschaft und das Verlassen des Zwölferkreises. 2) Die Judastat wird grundlegend mit dem napaSiSövai beschrieben. Damit ist nicht ein „Verraten" gemeint, sondern das Wort bedeutet „überliefern", „übergeben", „ausliefern", und zwar an die Feinde Jesu und an den Tod. Mit dieser Vokabel wird auch verdeutlicht, daß Jesus die Passion bewußt auf sich nimmt und zu seiner Aktion macht; im Sinne der „passio-iusti-Tradition" (Pesch 338.351 f) wird das Judasgeschehen in das übergeordnete Heilsgeschehen einbezogen, ohne allerdings daß Judas von der Verantwortung für seine Tat entlastet würde. 3) Auch indem Jesus die Übergabe durch Judas anläßlich der letzten Mahlgemeinschaft voraussagt und mit einem „ W e h e " über Judas verbindet, wird das unter Punkt 2 Gesagte unterstrichen. 4) Judas führt die Verhaftung Jesu herbei, indem er Jesu Gegner anführt; Jesus aber hat sein Geschick trotzdem in seinen Händen, indem er sich ausliefern läßt. 5) Für die Synoptiker bedeutet das Judasgeschehen Erfüllung der Schrift, wobei allerdings das Weissagungs-Erfüllungsschema von den Evangelisten verschieden verstanden wird. Ein Problem ergibt sich durch den Beinamen „Iskariot". Ist Judas der M a n n aus d e m O r t e Kariot, einem O r t in Judäa? O d e r ist J u d a s der Messer- und Dolchmann im Sinne der Zeloten (sicarius, so z . B . Schulthess 255)? Oder ist Judas der Falsche (vgl. saqqar, aramäisch, so Limbeck 46ff). Eine Vielzahl von Exegeten entscheidet sich für die geographische Bezeichnung: M a n n aus Kariot.

Zu den gemeinsamen Aussagen der Synoptiker tritt die spezielle Redaktionsarbeit. Zunächst die Tendenzen des Markusevangeliums: Die Gemeinde wird vor einer falschen, verräterischen Bruderschaft gewarnt: „Selbst in Judas begegnet die christliche Gemeinde noch einer ihrer Möglichkeiten - auch dann, wenn sie dies, wie einst die Jünger, für unmöglich halten sollte" (Limbeck 58). Weiter steht das Judasgeschehen in Bezug zu Ps 4 1 , 1 0 ; in diesem Psalmwort geht es um die falsche Freundschaft und um den Bruch der Freundschaft und - nun von der Kategorie des „Klageliedes des Einzelnen" aus interpre-

298

Judas I

tiert — um den Feind, wobei vielleicht der Feind auch dämonologische Aspekte haben kann (Motiv der Gegenmacht). M t verschärft das Judasproblem in einem moralisierenden Sinn, indem er das Geldmotiv benützt. Ferner geht es ihm um zeugnishafte Kontraste: Judas wird der Hingabe der Frau, die Jesus salbt (Mt 26, 6 - 1 3 ) , gegenübergestellt, Judas steht dem Zwölferkreis gegenüber und schließlich wird die Reue des Judas der Reue des Petrus gegenübergestellt. Weiter geht es um das Motiv der Entlarvung des Untreuen, und zwar auch in einem für die Gemeinde zeugnishaften Sinn: Der Untreue muß vor der Gemeindeöffentlichkeit entlarvt werden! Schließlich führt der Fluch Jesu über Judas zum bitteren Ende. Indem Judas zwar bereut, die Reue aber von der zuständigen Priesterschaft nicht angenommen wird, bleibt er mit seiner Schuld einsam und vollzieht das Selbstgericht. Die Schuld wird wahrscheinlich als unvergebbar betrachtet, und darum wird das Gericht in der Form des Selbstmordes vollzogen (mit Bezug auf den Selbstmord des Ahitophel, II Sam 17, 23). Für den Schriftbeweis zum Todesgeschick des Judas sind verschiedene Stufen anzunehmen, „wo immer wieder andere griechische und hebräische Textformen wirksam wurden" (Schweizer 330). Schließlich beruht das Ganze auf einer bestimmten Lokaltradition über den Blutacker als Fremdenfriedhof in Jerusalem; diese Tradition wurde früh mit der Judastat zusammengebracht (vgl. auch Act 1, 18ff). - Wenn M t durchgehend eine Tendenz vertritt, die Judas immer stärker belastet, geht es ihm zugleich um die zeugnishafte Tendenz, Jesu Unschuld zu betonen; das formale Interesse ist wieder mit der Kontraststruktur gegeben. M i t Lk entsteht die Aussage, nach der die Judastat supranatural zu verstehen wäre: Die Zeit Jesu ist zunächst satansfreie Zeit, aber mit der Passion ist Satan wieder am Werk (Schmithals 205). In Judas gelingt Satan der Einbruch in den Zwölferkreis. Auch mit dem Geldmotiv sind satanologische Aspekte gegeben. Geld (Mammon) bedeutet Gegenmacht! D a ß Judas am letzten Mahl Jesu mit den Seinen teilnahm, enthält wohl auch paränetische Interessen des Lk: Die Gemeinde ist nicht die Gemeinde der Reinen. Für das lukanische Doppelwerk gilt nun ebenfalls: Der Satansknecht hat ein schreckliches Ende (Schmithals 26). Im Gegensatz zu M t weiß Acta nichts von einer Reue des Judas und von dem Versuch, das Geld zurückzugeben und ein Rechtsverfahren einzuleiten. Judas richtet sich nicht selber, sondern stirbt an einem Unfall, der als vorzeitiger und schrecklicher Tod verstanden wird. Zeugnishaft bedeutet die Aussage: So sterben Gottlose! Die Geschichte vom Ende des Judas ist in keiner Weise historisch, sondern ist literarisches Produkt, was die Verbindung d e f Erzählung mit der Petrusrede und der Apostelwahl zeigt. Der Bericht vom Ende des Judas erfuhr dann noch eine phantastische Ausformung bei Papias (Fragment 3, vgl. Haenchen 164; Conzelmann 24): Judas wird durch Wassersucht krankhaft dick, so daß er nicht mehr durch Gassen hindurchgehen kann, durch die sonst die Wagen fahren. Er stirbt mit großem Schmerz und hinterläßt einen penetranten Gestank (vgl. das Motiv vom stinkenden Satan). 3. Judas Iskariot als Thema

des

Johannesevangeliums

Auch durch das -*Johannesevangelium werden die Negativaussagen über Judas gesteigert. Judas erscheint jetzt als Werkzeug im großen kosmischen Kampf zwischen Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wahrheit und Lüge, Reinheit und Unreinheit, Glaube und Unglaube, Leben und Tod. Im M o m e n t , wo Jesus Judas während der Tischgemeinschaft den Bissen gibt, fährt der Satan in Judas (13, 27); Jesus ermöglicht also die Inbesitznahme des Judas durch Satan. Die Kommentierung „Es war aber N a c h t " (13, 30) ist als Symbolaussage zu verstehen. Weiter wird Judas im Johannesevangelium als „Sohn des Verderbens" charakterisiert (17, 12) und damit antichristlichen Phänomenen zugeordnet (vgl. denselben Ausdruck in II Thess 2,3). Weiter betont auch das Johannesevangelium die Überlegenheit Jesu im ganzen Geschehen: „Jesu Souveränität umfaßt auch das Werk des J u d a s " (Becker 431). Nach Bultmann gilt im Blick auf 13, 27 („Was du tun willst, tue

Judas I

299

bald"): „ . . . hier handelt der Satan selbst, der Gegenspieler Gottes und des Offenbarers. Und doch zeigt sich auch hier die abgründige Nichtigkeit dieses Gegenspielers, dessen scheinhaftes Sein nur die Empörung des Nichts ist. Sofern sein Handeln in die Geschichte des Offenbarers eingreift, ist es von diesem selbst angeordnet. Jesus gibt ihm gleichsam das Stichwort..." (Bultmann 368). Im ganzen wird die Tendenz betont: Jesus durchschaut als Wissender das Geschehen und er weiß um die entscheidende Stunde im göttlichen Heilsplan. Und: Es geht nicht um eine Judashistorie, sondern um den Typus des Gegners Jesu, mit dem sich die entstehende christliche Kirche innerhalb und außerhalb der Gemeinde auseinandersetzen muß. Hier setzt vielleicht auch eine fatale Wirkungsgeschichte ein: Indem „die Juden" als Kategorie Gegner Jesu sind, entsteht die Zusammenschau zwischen Judas und dem Juden bzw. Judas und den Juden, die der Botschaft des Evangeliums nicht glauben oder (prädestinatianisch) nicht glauben können (vgl. auch Goldschmidt/Limbeck). 4. Ausblick auf weitere

Traditionen

Wenn — wie oben gesagt — schon das neutestamentliche Judaszeugnis als Traditionsprozeß und als Interpretation zu sehen ist, setzt sich dieser Prozeß in der Urgemeinde, in der jungen Kirche und bei den Kirchenvätern fort. Für die Kirchenväter sei nur auf ein Beispiel, auf -»Origenes, hingewiesen, der sich, teilweise in Auseinandersetzung mit Celsus, intensiv mit der Thematik des Judas befaßt hat (Läuchli 253ff). Für die in dieser Epoche entstehenden Aktualisierungsversuche sind vier Punkte beachtenswert. 1) Judas wird zum Prototyp derer, die als Verräter - als „Judasse" - in der Gemeinde empfunden werden. 2) Aussagen über Judas haben immer eine paränetische Funktion: keiner in der Gemeinde ist sicher vor dem Abfall, jeder könnte allenfalls in den Unglauben zurückfallen. 3) Es entsteht eine Wirkungsgeschichte, in der Judas und die Juden identifiziert werden. Der verabscheuenswürdige Judas wird mit den Juden, die auch wegen ihrer Rolle im Kreuzesgeschehen - verabscheut werden, zusammengesehen. Judas wird zu einer Figur des christlichen Antisemitismus (-»Antisemitismus; —>Judentum und Christentum). 4) Vielleicht hat es früh Ansätze gegeben, die Judastat positiv zu würdigen. Judas hätte Jesus verraten, um das Kreuzesgeschehen zu ermöglichen, oder Judas wäre zur Auffassung gekommen, Jesus sei von der Wahrheit abgewichen und Judas wollte durch seine Tat das Schlimmste verhüten (Linie zu den Kainiten: Kretschmar: RGG 3 3, 1090. Zum Stichwort „Heilvoller Verrat" s.u. Abschn.II; Limbeck). 5. Das Judasverständnis

bei Luther und Calvin

-•Luther ist grundlegend an der Aktualisierung der Judastat interessiert. Für ihn geht Judas heute durch die Welt und richtet Herzeleid an. Mit diesem Interesse entstehen bei Luther fünf Aussagen. 1) In Judas ist jener Typ des Menschen zu sehen, der das Heilshandeln Christi nicht auf sich bezieht. Darum ist er dann auf sich allein angewiesen, und das führt ihn in die Verzweiflung. Auch nachdem er von der Reue über sein Tun gepackt wurde, geht er nicht zum rechten Beichtvater, der ihm helfen könnte. So ist Judas zwar poenitens aber nicht fidelis (z.B. WA. TR 2249). Judas bleibt allein und gleicht darin und das ist jetzt die Aktualisierung — z. B. dem Mönch! 2) In der aktuellen und für Luther zugleich eschatologischen Auseinandersetzung um das Evangelium verschärfen sich die Fronten zunehmend. Darum gibt es jetzt überall falsche Brüder - überall Judasse (WA. TR 69). Judasse sind z.B. die Mammonskinder; ein Judas ist auch -»Erasmus; Judasse sind die Schwärmer; ->Karlstadt ist ein Judas; schließlich wird der Papst als Judas bezeichnet. 3) Judas zeigt an, daß es keine reine Kirche gibt, sondern nur die Kirche aus Reinen und Unreinen. Das ist auch der Grund, warum Jesus auch seinem Verräter das Sakrament gereicht hat. 4) Luther lehnt es ab, im Sinne des Erasmus vom freien Willen des Menschen zu sprechen. Auch mit Judas handelt der Mensch notwendig, aber nicht unter Zwang. Judas folgt unter Gottes Vorherwissen und Zulassung einem fremden Willen und darum muß er zum Verräter werden. 5) Trotz allem ist es nicht möglich,

300

Judas I

Judas - etwa im Sinne der Passionspredigt der Zeit Luthers - nur zu schelten und negativ zu qualifizieren. Weil wir alle Christum kreuzigen, gilt: „Drum wir dich armen Juda, darzu die Judenschar / nicht billig dürfen schelten, die Schuld ist unser gar" (WA. TR 6897). —» Calvin ordnet das Judasgeschehen und Judas selbst in seine Vorsehungs- und Prädestinationslehre (-»Prädestination) ein. Judas ist der Verworfene; ihn trifft Christi Gerichtssatz: „Pereas, quando tibi decretum est perire" (CR 47, 315). Als Apostel ist zwar Judas auch Erwählter, aber man muß die zeitliche Wahl zum Apostel von der ewigen unterscheiden; darum ist Judas nicht entschuldbar. Calvin vertritt weiter als Grundanliegen die Aussage: Judas ist als ein Sünder zu sehen, hinter dem Satan steht, aber auch Satan ist Gottes Werkzeug; was geschieht, geschieht im Rahmen des Planes Gottes zur Rettung der Glaubenden. Calvin lehnt Spekulationen römischer Ausleger ab, ob der Teufel substantialiter in Judas gefahren sei. Die Verantwortung des Judas bleibt bestehen: es ist das menschliche Herz der Herd des Feuers, wo das Böse entsteht. Das Judasproblem hat schließlich ekklesiologische Aspekte: in der Kirche gibt es immer Verräter. Mit diesen inneren Feinden der Gemeinde, die viel schwerer zu tragen sind als die äußeren, will Gott die Geduld der Gläubigen prüfen. 6. Das Judasbild

der

Neuzeit

Das Judasbild der Neuzeit ist zunächst mit den Problemen der „Leben-Jesu-Forschung" verbunden. Der Forscher schafft zu den positiven Idealen, die er in Jesus findet, Kontrastbilder mit Judas. Die Judasfigur wird insofern auch zur Entthronung des Dogmas im Sinne der Aufklärung verwendet, als z. B. Dämonologie durch Psychologie und Prädestinationsaussagen durch anthropologische Aussagen ersetzt werden. Nach Bruno -•Bauer gibt es „keinen Teufel mehr, der . . . sein chimärisches Leben führt, . . . zumal keinen Teufel mehr, der mit einem Bissen Brot in den Mund eines Menschen einfährt" (Bauer 236 f). Mit psychologisierenden Aussagen entstehen oft positive Würdigungen des Judas. Er wird nun nicht mehr verabscheut, sondern bemitleidet. -»Goethe spricht vom „armen Exapostel". Verschiedene Autoren werten die Reue des Judas positiv und manche meinen, er habe eine zeitbedingte Messiasauffassung gehabt, die er mit der Jesusbotschaft nicht vereinen konnte (z.B. Schollmeyer 63). Zum rationalistischen Judasbild: Dieses beurteilt Judas moralisierend. Judas ist geldgierig, geizig, in der Haltung abscheulich, aber zugleich weltklug (Paulus 145), eine finstere Seele (Hess 120 f), verblendet (Goldhorn 164). Idealistische Kategorien gebrauchen -»Goethe, —»Klopstock und —> La vater. Für Lavater ist Judas zwar niederträchtig, aber doch eine große Seele „ . . . die von einer Leidenschaft mächtig ergriffen — zwar ein Satan wird, aber immer noch große Seele bleibt" (Lavater 80). Für -»Schleiermacher ist Judas anzusehen als ein „den Gegensatz repräsentierendes Moment in Christi nächster Umgebung" (Schleiermacher 440). Mit D. F. -»Strauß entsteht ein Bewußtsein für die Textprobleme: Harmonistische and apologetische Aussagen zum Judasproblem zerbrechen an den Textwidersprüchen (z.B. Strauß 431); die Aussagen der ersten drei Evangelien sind von denen des vierten Evangeliums zu unterscheiden; die Beziehung zu alttestamentlichen Stellen wurde von den Evangelisten konstruiert (z.B. Strauß 432); das Ende des Judas ist eine Sage (z.B. Strauß 504). Gegen Ende des 19. Jh. entsteht dann eine Diskussion zur Historizität des Judas. Einwände werden teils historisch-kritisch begründet, weiter löst sich die Judasgestalt gleichsam ins Mythologische, Astrologische, Symbolische, aber auch ins Soziologische auf. Zunehmend wird Judas auch in den religionsgeschichtlichen Vergleich einbezogen; Oldenfcerg nennt indische Parallelen (183 f). Auch der zeitgeschichtliche Vergleich löst Diskussionen aus: Gehörte Judas - auf Grund seiner Messiasauffassung - zur Partei der Zeloten? W. —»Wrede unterscheidet strikte zwischen modernen Fragestellungen (wie kam Judas zu seiner Tat?) und den andersartigen Interessen der Texte (127ff).

Judas I 7. Nichttheologische

Aussagen

zu

301

Judas

Unter den nichttheologischen Kommentaren zum Judasproblem fällt das Interesse der Tiefenpsychologie auf. Dieses Interesse hat eine grundlegendeTendenz: Es nimmt Identifikationsprozesse zwischen Jesus und Judas an; Judas ist gleichsam der Schatten Jesu. Reik analysiert das Gegenüber von Jesus und Judas im Rahmen von —»Freuds Sicht der Ödipusproblematik. Das bedeutet: Es geht hier um Probleme einer Vaterreligion, es geht um die Entthronung des Vaters (Jahwe) durch den Sohn (Jesus Christus). Jesus führt allerdings seine Rolle nicht bewußt durch, sondern es kommt zu einer Übertragung auf Judas: £ r i s t der Verräter. In einer zweiten Übertragung in der christlichen Tradition sind dann die Juden Verräter und Gottesmörder an Christus, nicht Christus am Vater. Die rituelle Entsprechung der Gottestötung ist das Abendmahl, in dem ja auch Judas eine wichtige Rolle spielt; im Abendmahl ist die Gottestötung und das Essen der Gottheit symbolisiert (Reik 100ff). Tarachow deutet das Geschehen im Rahmen von Freuds Sicht der Oralität. Judas ist der Liebling Jesu und darum dazu ausersehen, Jesus zu töten, um die tiefste Verschmelzung zu erreichen (Eros- und Thanatos-Motiv). Der Auftrag zur Tötung erfolgt mit dem Abendmahl, das als rituelle Tötung zu verstehen ist (Tarachow: Y. Spiegel 243 ff). Auch in der Literatur, Kunst und Musik ist die Judasproblematik bearbeitet worden. Für die Literatur ist an Goethe und Klopstock zu erinnern (vgl. Abschn. 6). Als zeitgenössisches, literarisches Beispiel ist auf Jens „Der Fall J u d a s " zu verweisen. Die inhaltliche Aussage des Essays lautet: Im Rahmen eines komplexen Prozeßverfahrens, wie es die römischkatholische Kirche anwendet, stellt ein fiktiver Pater den Antrag, Judas als Märtyrer seligzusprechen. Denn: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans" (Jens 8). Judas spielt die Satansrolle freiwillig, damit Jesus nicht am Kreuz vorbeigehe. Judas wird dann in der Tradition zum Sündenbock gemacht; er wird Chiffre für die Juden, Kommunisten, Neger und Ketzer. Der angestrebte Kirchenprozeß geht allerdings ins Leere; die Institution wagt den Prozeß nicht durchzuführen. Im Nachwort stellt der Schriftsteller fest: „Blutacker und Schädelstätte gehören zusammen. Der Fall Judas, der ein Fall all jener Anderen ist, die, als Gebrandmarkte, auf den Gezeichneten am Kreuz verweisen, steht zur Neuentscheidung an. Die Akten sind offen" (Jens 95). Im Bereich der Musik gibt es einen Judastext von Herman Kuprian zu einem Musikstück von Michael Horwath. Für den Bereich der Kunst ist auf die in der Kunstgeschichte zunehmende Belastung der Gestalt des Judas hinzuweisen, die auf der Gleichsetzung des Judas mit den Juden beruht (Porte, Jursch). 8.

Systematisches

Nach Karl -»Barth gehört das Judasproblem in die Erwählungslehre, die für Barth als „Summe des Evangeliums" zu verstehen ist. Darum ist Judas als „Gegenbild des Erwählt e n " zu sehen und gerade damit steht er in der „denkbar größten Nähe zu Jesus Christus selber" (508). Judas ist erwählter Jünger und Apostel; er muß sein Werk planmäßig tun. Was ist dann aber die Judassünde? Die Salbung Jesu durch Maria entlarvt Judas: Dieser erträgt die schrankenlose Hingabe an Jesus nicht. Für eine eigentliche Freiheitsmanifestation des Judas im Gegenüber zu Jesus ist aber nur wenig Raum. Zwar geht es um die eigene Entscheidung des Judas, und es entsteht ein eigenes Werk des Judas, und - mit seinem Ende - nimmt er (nach Matthäus) auch sein Gericht in seine eigene Hand. Das Neue Testament macht aber aus dem Handeln des Judas gerade nicht ein Zeugnis von der rettungslosen Verworfenheit und Verlorenheit des Judas; dieser ist damit auf keinen Fall Verkörperung der zeitlichen und ewigen Verdammung. Jesus ist durchgehend auch „für J u d a s " und er stirbt auch für Judas. Diese Zuwendung Jesu bedeutet aber keine Apokatastasis. Es bleibt bei der „offenen Situation der Verkündigung" als Situation auch des Verworfenen, und es bleibt damit bei der Ohnmacht menschlicher Bosheit angesichts der Gnade Gottes. Und es bleibt auch Judas eine eschatologische Möglichkeit, eine Möglich-

302

Judas I

keit, die auf der Rücksichtslosigkeit Gottes sich selber gegenüber, also eine M ö g l i c h k e i t , die auf d e m Kreuzesgeschehen beruht. Barth sieht seine Sicht bestätigt durch die Interpretation der grundlegenden Vokabel zum J u d a s g e s c h e h e n (napaöiöövai). Die Vokabel schließt sich scheinbar widersprechende A u s s a g e n z u s a m m e n . Z u n ä c h s t gibt es ein „ Ü b e r g e b e n " mit einer negativen Qualifizierung: Eine freie Person w i r d in die G e w a l t anderer „ ü b e r g e b e n " . Die Welt w i r d a n S a t a n , den Gegenspieler Gottes, „ ü b e r g e b e n " . D a n n die positive Qualifizierung: Gott selbst bzw. Gott in J e s u s Christus w i r d zur R e t t u n g der Welt „ ü b e r g e b e n " . Weiter w i r d die Botschaft von der R e t t u n g durch die Verkündigung an die Heiden „ ü b e r g e b e n " . Die Negativ- und die Positivqualifizierung schließen J u d a s und Paulus z u s a m m e n . Auch nach biblischem Zeugnis tritt an die Stelle des J u d a s z w a r de iure M a t t h i a s , de facto a b e r Paulus. W i e J u d a s ist d a n n Paulus heiliger Apostel und z w a r in der alten N u a n c e des Heiligen: der Gezeichnete, der Gebannte, der Träger des Fluches Gottes und darin in einer m e r k w ü r d i g e n Jesusnähe! Die positive und die negative Qualifizierung der „ Ü b e r g a b e " hat einen grundlegenden Aspekt. Vor und über allen a n d e r n Aussagen und als Urbild beider gibt es das göttliche „ Ü b e r l i e f e r n " . Das heißt im Bezug auf J u d a s : „Bevor J u d a s Jesus überlieferte, hat Gott Jesus und J e s u s sich selbst ü b e r l i e f e r t " (543). D a m i t ist die letzte und tiefste Liebesintention in Gott signalisiert. D a m i t ist es von vorneherein unmöglich, v o m J u d a s g e r i c h t oder von der H ö l l e für J u d a s auszugehen. Solche A u s s a g e n können nur „Vorspiel und N a c h spiel zum Leiden Christi s e i n " (Barth 549). J u d a s ist als Negativfigur doch „executor novi t e s t a m e n t i " . Und: „ J u d a s tut mit d e m , w a s er will und vollbringt, w a s Gott getan haben w i l l " (558). J u d a s ist „Diener des Versöhnungswerkes selber" (559 f). Barths Sicht findet eine Fortsetzung bei Gollwitzer. Für ihn ist J u d a s Beispiel für ein Leben, d a s den von Gott geschenkten Sinn d u r c h eigene Verfehlungen v e r w i r k t . Allerdings: „ J u d a s ist kein Sonderfall. Er ist unser aller F a l l " (274). Das Neue Testament aber ist , , . . . d a s Buch der g r o ß e n Sorge u m J u d a s Ischarioth" (283). Sogar der Tod v e r m a g keine Abgrenzung zwischen Gott und J u d a s zu schaffen; d a r u m ist für J u d a s die Linie über jene Punkte h i n a u s auszuziehen, w o die neutestamentlichen Texte, die ihn betreffen, stehenbleiben. Vergebung, Leben und Seligkeit bleiben dem J u d a s zugesagt und bleiben auch der ganzen M e n s c h h e i t zugesagt, „in der J u d a s d a u e r n d v o r k o m m t " (295). Abschließend sei der Versuch g e m a c h t , d a s J u d a s p r o b l e m in eine Systematik d o g m a t i scher Loci einzuordnen. J u d a s ist 1) als T y p u s einer Anthropologie zu beschreiben, die soteriologisch bestimmt ist. D a m i t ist er der M e n s c h , der in der Begegnung mit J e s u s Christus eine für ihn heilvolle R o l l e und Bestimmung verfehlt. D a r u m ist er der M e n s c h ohne Z u k u n f t , d a r u m ist sein Weg isoliert und ohne Sinn, d a r u m spiegelt seine Existenz d a s Nichts. 2) J u d a s schlägt d a s ihm angebotene neue Sein in Christus a u s - er e m p f ä n g t d a s Evangelium nicht als f r o h e B o t s c h a f t - ; er lehnt es d a m i t ab, Heil als Geschenk zu e m p f a n g e n . Prädestinatianisch a r g u m e n t i e r t bedeutet das: Die ihn suchende Gnade Gottes trifft auf ein verhärtetes Herz. Der Anruf Gottes bleibt ohne A n t w o r t . Er symbolisiert eine Grenze, an der Gottes H e i l s h a n d e l n zunächst zu einem Ende k o m m t . 3) Das sich stellende d ä m o n o l o g i s c h e und satanologische Problem k a n n w o h l nur durch Interpretation (im Sinne eines E n t m y t h o l o g i s i e r u n g s p r o g r a m m s ) k o m m e n t i e r t w e r d e n . J u d a s symbolisiert eine Existenz, die den M ä c h t e n ausgeliefert ist. Solche M ä c h t e sind z w a r vor Gott nichtig und o h n m ä c h t i g , sie führen aber M e n s c h e n in Entfremdungsprozesse, durch die die M e n s c h l i c h k e i t des M e n s c h e n verfehlt w i r d . 4) Indem J u d a s zum Z w ö l f e r k r e i s gehört, ist ein Kirchenbild gegeben, d a s Reine und Unreine, Gerechte und Ungerechte, Glaubende und U n g l ä u b i g e zusammenschließt. Es ist die Kirche der Sünder, die auch mit J u d a s s e n rechnet. D a m i t ist aber auch der Appell festzuhalten, d a ß die Kirche den Sünder trägt und aushält. 5) Gibt es für J u d a s eschatologische M ö g l i c h k e i t e n ? Vielleicht ist mit dem J u d a s p r o b l e m sowohl die S y s t e m a t i k einer doppelten - » P r ä d e s t i n a t i o n (mit dem A u s g a n g einer e w i g e n V e r w e r f u n g ) , w i e die der A p o k a t a s t a s i s in Frage gestellt. Es erscheint sinnvoll, gegen den S y s t e m z w a n g beider M ö g l i c h k e i t e n ein „ I g n o r a m u s " zu stel-

Judas I

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len. 6) Das Judasproblem hat bedeutsame sozialethische Implikationen. In Judas begegnet der Schatten Christi; Judas ist Gegenfigur, Gegenspieler und damit der „Andere". Es geht damit um die Frage, wie man in der N a c h f o l g e Christi mit dem „Anderen" umgeht. Diese Frage hat eine individualethische und eine sozialethische Ebene. Zur Individualethik: Die moralisierende Betrachtung des Judasproblems, die Negativurteile über Judas, entlarven oft die Vertreter solcher Moralismen. Sie bewältigen die Andersheit des Anderen nicht und sind wahrscheinlich den Problemen des eigenen Schattens ausgeliefert, die sie dann nach außen - auf den „Anderen" oder den „Außenseiter" - übertragen. Zur Sozialethik: Das Judasproblem signalisiert die gesellschaftlich so schwer zu bewältigende Thematik des Sündenbocks, des Außenseiters und des gesellschaftlichen Feindbildes; labile Gesellschaften können sich nur mit Hilfe dieser Betrachtung stabilisieren, d. h. sie brauchen den Sündenbock, den Außenseiter und das Feindbild. In diesem Z u s a m m e n hang ergeben sich zahlreiche Probleme des Antisemitismus (—• Antisemitismus; ->Christlich-jüdische Zusammenarbeit). Hier ist nun wieder auf den speziellen Aspekt einer fatalen Wirkungsgeschichte aufmerksam zu machen, in der es zur Gleichsetzung zwischen Judas und den Juden kam (vgl. Goldschmidt/Limbeck 9ff.37ff). Judas wurde in dieser Wirkungsgeschichte immer stärker mit ideologisierten Vorstellungen des Jüdischen belastet, und die Juden wurden zu Christusverrätern und Gottesmördern gestempelt (Goldschmidt 33 f, auch mit Hinweisen auf die Kunst z. B. Porte 7 2 ff, 87 ff). Eine Überwindung solcher Fehlhaltungen ruft zu einer Zusammenarbeit zwischen theologischen Analysen und Ideologiekritik (-»Ideologie/Ideologiekritik). D i e Ideologiekritik stellt die Frage nach den Macht- und Herrschaftsinteressen, die im Hintergrund gesellschaftlicher Diskriminierungen stehen. Die T h e o l o g i e müßte in selbstkritischen Analysen ihre Traditionen aufarbeiten und sich umfassender als bisher d e m T h e m a des Machtgebrauchs stellen (-•Macht). Literatur Zu 1.: Erich Fascher, Art. Judas: RGG 3 3 (1959) 965. Zu 2.: Günther Baumbach, Judas - Jünger u. Verräter Jesu: Z d Z 17 (1983) 91-98. - Pierre Benoit, La mort de Judas: Synoptische Stud., A. Wikenhauser dargebracht, München 1953,1 — 19. — Georg Betram, Die Leidensgesch. Jesu u. der Christuskult, 1922 (FRLANT 32). - Gert Buchheit, Judas Iskarioth (Legende - Geschichte - Deutung), Gütersloh 1954. - Michel Clevenot, So kennen wir die Bibel nicht. Anleitung zu einer materialistischen Lektüre bibl. Texte, München 1978. - Hans Conzelmann, Die Apostelgesch., 1963 (HNT). - Oscar Cullmann, Der zwölfte Apostel: Vorträge u. Aufs. 1925 bis 1962. Hg. v. K. Fröhlich, Tübingen/Zürich 1966, 214-222. - Martin Dibelius, Judas u. der Judaskuss: ders., Botschaft u. Geschichte I, Tübingen 1953, 272-277. - Klaus Dorn, Judas Iskariot, einer der Zwölf: Judas Iskariot. Menschliches oder heilsgesch. Drama, hg. v. Harald Wagner, Frankfurt a . M . 1985, 39-89. - Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, 1978/79 (EKK II/l; II/2). - Maurice Goguel, Das Leben Jesu, Zürich 1934. - Ders., Jesus, Paris 2 1950. - Hermann Levin Goldschmidt/Meinrad Limbeck, Heilvoller Verrat? Judas im NT, Stuttgart 1976. - Ernst Haenchen, Die Apostelgesch.: 7 1933 (KEK). - D. Haugg, Judas Iskarioth in den ntl. Berichten, Freiburg i.Br. 1930. - Erich Klostermann, Das Markusev., 4 1950 ( H N T 3). - Ders., Das Matthäusev., 3 1938 ( H N T 4). - Ders., Das Lukasev., 2 1929 ( H N T 5). - Meinrad Limbeck s. Goldschmidt. Eta Linnemann, Stud. zur Passionsgesch., 1970 (FRLANT 102). - Ernst Lohmeyer, Das Ev. nach Markus, 17 1967 (KEK). - Ders., Das Evangelium nach Matthäus. Hg. v. Werner Schmauch 3 1962 (KEK Sonderbd.). - Kurt Lüthi, Das Problem des Judas Iskariot - neu untersucht: EvTh 2/3 (1956) 98-114. - Rudolf Pesch, Das Markusev., 1976ff (HThK). - M. Plath, Warum hat die urchristl. Gemeinde auf die Überlieferung der Judaserzählung Wert gelegt?: Z N W 17 (1916) 178-188. Herbert Preisker, Der Verrat des Judas u. das Abendmahl: Z N W 41 (1942) 151-155.-Karl Hermann Schelkle, Die Passion Jesu in der Verkündigung des NT, Heidelberg 1949. - Adolf Schlatter, Der Evangelist Matthäus, Stuttgart 1929. - Ders., Das Ev. des Lukas, 2 1960. - Walter Schmithals, Das Evangelium nach Lukas, 1980 (ZBK). - Ders., Die Apostelgesch. des Lukas, 1982 (ZBK). - Gerhard Schneider, Die Apostelgesch. I.T., 1980 (HThK). - Julius Schniewind, Das Ev. nach Markus, 7 1956 (NTD 1). - Ders., Das Ev. nach Matthäus, 7 1954 (NTD 2). - Friedrich Schulthess, Zur Sprache der Evangelien: Z N W 21 (1922) 216-258. - Albert Schweitzer, Gesch. der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984. - Eduard Schweizer, Das Ev. nach Matthäus, 1973 (NTD 2). - Wolfgang Trilling, Das Ev. nach Matthäus, Düsseldorf 1962. - Werner Vogler, Judas Iskarioth. Unters, zu Tradition u. Redaktion, 1983 (ThA 42).

J u d a s II

304

Zu 3.: Walter Bauer, Das Johannesev., 1933 (HNT 6). - Jürgen Becker, Das Ev. nach Johannes, Gütersloh 1970. - Rudolf Bultmann, Das Ev. des Johannes, 2 0 1978 (KEK). - Klaus Dom, s.o. 2. Georg Richter, Die Gefangennahme Jesu nach dem Johannesev. (18, 1 - 1 2 ) : BuL 10 (1969) 2 6 - 3 9 . Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes, Stuttgart 1948. - Rudolf Schnackenburg, Das Johannesev., 1965ff (HThK). - Siegfried Schulz, Das Ev. nach Johannes, 1972 (NTD 4). - Hermann Strathmann, Das Ev. nach Johannes, 1955 (NTD 4). - Theodor Zahn, Das Ev. des Johannes, 4 1912 (KNT 4). — Ferner: Die schon zu 1 zit. Lit.: Baumbach, Cullmann, Goldschmidt/Limbeck, Haugg, Lüthi, Schelkle, Vogler. Zu 4.: Georg Kretschmar, Art. Kainiten: R G G 3 3 (1959) 1090. - Samuel Läuchli, Origen's Interpretation of Judas Iscariot: ChH 22 (1953) 2 5 3 - 2 6 8 . - Ferner Goldschmidt/Limbeck (zu 1). Zu 5.: Johannes Calvin, Opera, Braunschweig 1891 f, CR 4 5 - 4 8 . - Ders., Institutio: Opera selecta, hg.v. Peter Barth, München 1928. - Kurt Lüthi, Judas Iskarioth in der Geschichte der Auslegung von der Reformation bis zur Gegenwart, Zürich 1955. - Martin Luther, WA Weimar 1883ff Bände 2. 15. 17. 18. 20. 27. 28. 34/1. 41. 45. 48. 49. WA T R Band 1 bis 6. Zu 6.: Bruno Bauer, Kritik der ev. Gesch. der Synoptiker, Leipzig 1841 f. - Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben - Dichtung u. Wahrheit, München, I X 9 1981, X 7 1981 (Hamburger Ausg.). - J . D . Goldhorn, Über zweckmäßige Anwendung der hist. psychologischen Interpretation auf der Kanzel, namentlich bey Vorträgen über die Verrätherey des Judas Ischarioth: Tzschirners Memorabilien, Leipzig 1810. - Johann Jakob Hess, Die Gesch. der drei letzten Lebensjahre Jesu, Leipzig/Zürich 1768 ff. - Ders., Über die Lehren, Thaten u. Schicksale unseres Herrn, Zürich 1782. Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke, I . T . : Der Messias. Hg. v. R. Hamel, Berlin/Stuttgart 1863. Friedrich Adolf Lampe, Die großen Vorrechte des unglücklichen Apostels Judas; Begründung der Ablehnung des Separatismus, o . O . 1713. - Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig/Winterthur 1775 ff. - Ders., Jesus Messias, Zürich 1783 ff. - Hermann Oldenberg, Buddha, Berlin 5 1906. - Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Das Leben Jesu, Heidelberg 1828. - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Das Leben Jesu, Berlin 1864. - Samuel Schollmeyer, Jesus u. Judas, Lüneburg 1836. - David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, Tübingen 1835 f. - William Wrede, Judas Ischarioth in der urchristl. Überlieferung: ders., Vorträge u. Studien, Tübingen 1907. - Ferner: Lüthi s.o. 5. Zu 7.: Peter Dinzelbacher, Judastraditionen: Raabser Märchen - Reihe 2, hg. v. Leopold Schmidt, Wien 1977. - Josef Imbach, Judas hat tausend Gesichter. Zum Judasbild der Gegenwartslit.: Judas Iskariot, s.o. 2 Dorn. - Walter Jens, Der Fall Judas, Stuttgart 1975. - Hanna Jursch, Das Bild des Judas Ischarioth im Wandel der Zeiten: Akten des VII. Internationalen Kongresses für christl. Archäologie, Berlin 1970. - Herman Kuprian, Lamasabathani. Melodramatische Legende von Michael Horwath, o . O . u. J . - Wilhelm Porte, Judas Ischarioth in der bildenden Kunst, Berlin 1883. - Theodor Reik, Die psychoanalytische Deutung des Judasproblems: Der eigene u. der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung, Leipzig/Wien/Zürich 1 9 2 3 , 1 0 0 - 1 3 3 . - Sidney Tarachow, Judas, der geliebte Henker: Psychoanalytic Quarterly 29 (1960). Übers.: Psychoanalytische Interpretationen bibl. Texte. Hg. v. Yorick Spiegel, München 1972, 2 4 3 - 2 5 7 . Zu 8.: Karl Barth, KD II/2, Zollikon-Zürich 1942 6 1981. - Helmut Gollwitzer, Krummes Holz aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 8 1979. — Ferner: Lüthi, s.o. 5. — Goldschmidt/Limbeck, s.o. 1. - Jursch u. Porte, s.o. 7. Kurt Lüthi

II. Eine jüdische Stellungnahme Die Heilsgeschichte des Neuen Testaments könnte es a u c h ohne J u d a s geben, wie Paulus, ihr zeitlich frühester Darsteller, es bezeugt. T r o t z d e m gibt es diese Heilsgeschichte mit J u d a s dem Verräter. W o das W o r t der Schrift ernst g e n o m m e n wird, sucht m a n deshalb nach Erklärungen, die sinnvolle Gründe für den Verrat des J u d a s hinzufügen oder ihm selber wenigstens gute Absichten zuschreiben, um zu entgiften, was von dem hier buchstäblich „verteufelten" Bösen - J u d a s einerseits, die Juden anderseits: J o h 6 , 7 0 ; 8 , 4 4 ; 1 3 , 2 . 2 7 - an weiterem Bösen ausgeht. Denn das Böse des Verrats ist mit der guten N a c h richt des Evangeliums untrennbar verbunden; seine bösen Folgen sind daher ernst zu nehmen. In den Jubel der Osterfreude mischte und mischt sich die Angst und das Elend derjenigen, denen die Christenheit ihre Befreiung von der Angst verdankt. „Wenn in mittelalterlichen Zeiten, die immer noch keine vergangenen Zeiten sind, Ostern begann, wurden die Häuser der Juden geschlossen und v e r r a m m e l t . Denn nicht nur Jesus, auch J u d a s w a r Jude. Und plötzlich fiel — und fällt - nur das Letzte ohne das Erste ins Gewicht.

Judas II

305

Plötzlich schlug - und schlägt - die Freude an Jesus in Zorn auf Judas um als dazu noch Zorn auf die Juden und buchstäblich mörderischer Z o r n " (Goldschmidt, Heilvoller Verrat [1974] 3). Was ist es, das diesen Zorn erregt, der außerdem nicht bloß die unheilvolle Folge heilvollen Geschehens darstellt, das sich segensreich gerade so ereignen mußte, wie es sich ereignet hat - denn die Schrift will „erfüllt" werden - , sondern nun auch Judas als den Mann bösester Schuld anklagt, obgleich, mit Karl Barth gesprochen, Gott wie Judas, und Jesus selber ebenfalls wie Judas handeln. „Bevor Judas Jesus überliefert, hat Gott Jesus, und Jesus sich selber überliefert" (KD II/2, Zürich 1942,509-511). Und nicht einmal von „Verrat" ist an den meisten der Stellen die Rede, die Judas des Verrats beschuldigen. Vom Überliefern und Ausliefern wird gesprochen, das griechische napaöiöövai verwendend, Erinnerung und Abwandlung der „ D a h i n g a b e " , die seit dem Gottesknecht des Jesaja, „der sein Leben für die Vielen dahingab" (53,12), biblische Heilsvoraussetzung ist, vom Neuen Testament deshalb auch Gott selber und Jesus - wie Judas - zugeschrieben. Trotzdem erregt J u d a s — Judas ganz allein — Zorn, diesen buchstäblich mörderischen. Weshalb? Wie konnte es — dem Wortlaut des verwendeten napaöiöövai zuwider — zu der Anklage einer Schuld des Judas kommen als von Grund aus bösem „Verrat"? Weil in der neutestamentlichen Geschichtsstunde tatsächlich verraten worden ist. Aber: Wer verriet wen? Derjenige und sein Volk waren es nicht, die als „ J u d a s " zum Sündenbock des Christentums wurden. Als der am Gründonnerstag des Jahres 1974 vom Schweizer Radio ausgestrahlte Vortrag Heilvoller Verrat, Neue Besinnung auf Judas gedruckt vorlag, schrieb Edzard Schaper dem Verfasser: „ W i e eng das Christentum sich sein eigenes G e w a n d in der Geschichte der Menschheit geschneidert hat, wie gering es bis heute von ,seinem' Gott denkt, und wie hilflos es den Paradoxien seines eigenen Glaubens gegenübersteht, wird dem Hörer oder Leser bei Ihrem Vortrag bewußt - oder besser: müßte es werden. D o c h es entsprach wohl dem Übereifer, überzeugen und bekehren zu wollen, wie es noch heute dem antisemitischen Terrorismus weiter entspricht, aus der geheimnisvollsten Gestalt der vier Evangelien und der Apostelgeschichte eine Art,Dolchstoßlegende' zu spinnen, hinter der sich jeder eigene Verrat verbergen k a n n . "

Diese „Dolchstoßlegende" entzieht sich so aber auch dem im Grunde „heilvollen Verrat", „der Verrat der Juden durch diejenigen ist, die damals und seitdem immer wieder aus dem Judentum hervorgegangen sind, innerhalb wie außerhalb des Christentums. Die Juden und der Bund und das Volk des Judentums sollten durch sie aufgehoben sein, die jetzt in dem bösen und bösesten Sinn dieser ,Aufhebung' zahllose unschuldige Juden in den Tod dahingegeben haben, seit ihrem ersten Passahmahl. So kam es - und vor unseren eigenen Augen - zu Auschwitz, trotz und wegen Golgatha. Wie einer, der von seiner Schuld zwar durchdrungen, aber außerstande ist, sie sich selber zuzuschreiben, so daß er eher noch sein Opfer dieser seiner eigenen Untat beschuldigt - und hiervon nicht loskommt, solange er nicht auf den Grund seiner Verstrickung zurückgeht - , beschuldigen die Ankläger die Juden des Verrats, den sie - sie selber! - begangen haben, als sie vom Judentum her etwas grundlegend Neues sein wollten: an der Stelle des J u d e n t u m s " (Goldschmidt, Heilvoller Verrat? [1976] 26). Aber ist nun wirklich mit Judas die Brücke zu den Juden und dem Judentum geschlagen? Bezieht sich nicht die Christenheit, wenn sie Judas als den Verräter anklagt, auf sich selbst? Was zunächst diesen häufigsten Einwand betrifft, erhellt er einen durchaus nicht bloß beiläufigen Grund der Verratsanklage - Verrates eines von Euch: M t 26,21; M k 14,18; Lk 22,21; Joh 13,21 - , der beim Ringen um die wahre Vertretung der Heilsbotschaft den Evangelien diese kerygmatisch-paränetische Mahnung und Warnung beigesellt hat. Gleichzeitig jedoch sind es trotzdem nicht die Christen selber, die sich im Neuen Testament des Verrats bezichtigen, sondern die Juden werden mit J u d a s zusammen angeklagt; so schon zu Emmaus (Lk 24,20), wie dann wieder und wieder in der Apostelgeschichte: „Verräter, Mörder Ihr!" (7,52, sowie 2,23; 3,13; 4,10; 5,30 usw.). In diesem Zusammen-

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Judas II

hang vertreten auch der N a m e „ J u d a s " und — noch „verräterischer" — sein Beiname „ I s k a r i o t " eben diese Anklage. Sie richtet sich nicht gegen einen einzelnen Juden, der zufällig Judas hieß, sondern gegen ihn als den Vertreter der jüdischen Gesamtheit. Auf aramäisch, in dieser Sprache Jesu und dann seiner ersten Christen: jehuda schekaria — verräterischer Jude! Charles C. Torrey und Bertil Gärtner ist diese Entdeckung zu verdanken. „ I s k a r i o t " gilt weder einem M a n n aus Keriot noch einem Sikarier, um es an diesen beiden häufigsten Fehldeutungen genug sein zu lassen, sondern dem Verrat, dessen die Juden angeklagt wurden, bis das Griechische den aramäischen Wortlaut personifizierend mißverstand: als 'Iooöaioq 'IoKapianriQ - Judas Iskariot. Z u den sprachlichen traten psychologische und mythologische Gründe (vgl. R e i k ; T a r a c h o w ) , die dem „ G o t t h e l f " Jesus den „ G o t t d a n k " Judas als zunehmend dunkleren Schatten beigesellten. Sinnvoller ist es jedoch, von der Frage „Wer verriet w e n ? " zur Frage „Was erregt Freude?" überzugehen. „ A m Bösen des Verrats ist nicht zu rütteln. A b e r . . vieles sollte, wenn es schon Verrat genannt wird, wenigstens ,heilvoller Verrat' genannt werden. Schuld mag auch dann vorliegen: soviel Schuld, daß es beispielsweise dem Christentum unsagbar schwer fällt, dem von ihm verratenen Judentum gegenüber zu dieser seiner Schuld zu stehen. D a braucht es erst die Juden und dann einen Judas, um den Verrat zu verkörpern, den man sich selber nicht zugibt, als o b dieser V e r r a t . . . nicht außerdem heilvoll gewesen wäre, als er zum Judentum hinzu das Christentum s c h u f " (Goldschmidt, Heilvoller Verrat [1974] 18). Zu erinnern ist hier auch an die Wendung — Umkehr im so wahrhaft biblischen Sinn —, die zu Ostern und christlicherseits Adam von seiner Verdammung befreit: O certe necessarium Adae peccatum, o felix culpa! Vor allem aber ist daran zu erinnern, wie die Bibel selber - jüdische Bibel! - die Tatsache des Verrats, dessen böse Schuld weder rückgängig zu machen ist noch beschönigt werden darf, ins dennoch Heilvolle wendet: „Esau aber eilte i h m " - dem J a k o b , der ihn verraten hatte - „entgegen und umarmte ihn und küßte ihn, und sie w e i n t e n " (Gen 33,4). Oder Josef! Unvergleichlich rührend und sowohl demütig, als auch stolz, tröstet J o s e f seine Brüder, die ihn verraten hatten, „redete zu ihrem H e r z e n " und sprach: „Fürchtet euch nimmer! Bin ich denn an Gottes Statt? H a b t ihr Böses wider mich geplant, G o t t hats umgeplant zum G u t e n " (Gen 50,19—21). Auch wenn böse Schuld weder rückgängig zu machen noch zu beschönigen ist, muß von der Christenheit aufgearbeitet werden, was neben dem eigenen bösen Wort das eigene böse Bild verschuldet hat und verschuldet: die Judas-Passion. Vierundzwanzig oder noch mehr „ S t a t i o n e n " dieser Leidensgeschichte sind buchstäblich „ a u s g e m a l t " oder in Stein gehauen worden, bei der Zwölfer-Berufung, Fußsalbung Jesu und VerratsAbrede angefangen bis zur Hängung und - zu Vezelay entdeckten - Abnahme des J u d a s . Anlaß waren sie, Anlaß sind diese Bilder zum Umschlag ins endgültig Böse der Aufreizung zum Pogrom und fortdauernder Verewigung antisemitischer Vorurteile seit den PassionsSpielen des Mittelalters. Was für eine fast unwiderstehliche Versuchung immer wieder, den Juden - Volk des Judas - dasselbe Leiden zuzufügen, das die Bilder als die Passion Jesu vergegenwärtigen! O h n e das Judentum jedoch gäbe es nicht dieses Christentum, das sich nur noch fruchtbarer und auch christlicher erwiese, wenn es zugestünde, was sich ohnehin nicht leugnen läßt: wie schöpferisch — und fortdauernd geschichtsmächtig — das Zeugnis des Judentums neben dem eigenen christlichen seine anderen Früchte trägt. Wobei diese „im Hinblick auf Judas - und die Juden — notwendige Umbesinnung nicht von außen zur Bibel hinzutritt. Hier wird der Bibel auch nichts aufgedrängt, um bei irgendwelchen Regungen des Tages oder Strömungen der M o d e mitzuhalten. Sondern wird die Bibel nur noch gründlicher gelesen und vollständiger ernst genommen, als dies bisher geschehen ist" (Goldschmidt, 1976, 34): zum Guten! Literatur Bertil Gärtner, Die rätselhaften Termini N a z o r ä e r und Iskariot, Uppsala 1957. - Hermann Levin

Judasbrief

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Goldschmidt, Heilvoller Verrat. Neue Besinnung auf Judas, Zürich 1974. - Ders., Judas u. das Unrecht an den Juden (Walter Jens): Isr. Wochenblatt (Zürich) 9 . 5 . 1 9 7 5 . - Ders., Heilvoller Verrat? Judas im NT, Stuttgart 1976. - Ders., Der abgenommene Judas. Bemerkungen zu einer vernachlässigten Ikonographie: Orientierung (Zürich) 15.3.1976. - Ders., Die Dichtung des MA. Jüd. Klang u. judenfeindlicher Ton: Allgemeine (Düsseldorf) 2 4 . 9 . 1 9 7 6 . - Ders., Jüd. Mitbesinnung zur Passion u. Auferstehung. Lätare-Predigt, Christuskirche Korntal: Der Aufbau (Zürich) 18.3.1978. - Ders., Brauchen wir einen Sündenbock? (Raymund Schwager): Isr. Wochenblatt (Zürich) 27.7.1979. Ders., Judas - auch eine Leidensgesch. Karfreitagsbesinnung: Der Aufbau (Zürich) 4./18.4.1981. Ders., Judas - die christl. Dolchstoßlegende. Zum Gedenken an Edzard Schaper: Israel-Nachrichten (Tel Aviv) 28.2.1984. - Ders., Judas in Zillis. Eine nachträgliche Besinnung (Peter Heman: Zillis. Die romanische Bilderdecke der Kirche St. Martin, Basel 1988). - Theodor Reik, Der eigene u. der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der rel. Entwicklung (1923), Frankfurt/a.M. 1972. - Sidney Tarachow, Judas, der geliebte Henker (1960). Psychoanalytische Interpretationen bibl. Texte, hg. v. Yorick Spiegel, München 1972. - Charles C. Torrey, The Name „Iscariot": H T h R 36/1 (1943) 51-62.

Hermann Levin Goldschmidt Judasbrief 1. Aufbau, Sprache und Gattung 2. Traditionsgeschichte und Theologie 3. Gegner und Gemeinde 4. Verfasser, Abfassungszeit und -ort 5. Text-, Wirkungs- und Auslegungsgeschichte (Literatur S. 309)

1. Aufbau,

Sprache

und

Gattung

Der Aufbau des Judasbriefes erscheint als einsichtig: Durch Präskript (V. 1 f) und Schlußdoxologie (V. 24f; auch zeitlich vergleichbar mit Rom 16,25-27) gerahmt, schließt an einen kurzen Appell die Auseinandersetzung mit Gegnern an (V. 4—16), der zugleich das Bemühen um die Bestärkung der Gemeinde entspricht (V. 17—23). Die Sprache kennzeichnet eine für den Umfang hohe Zahl von Hapaxlegomena, der Stil erscheint als elaboriert (Verwendung von Reihen und Klauseln; von Dobschütz). Der Verfasser schreibt einen Brief, wobei allerdings die gemeindliche Konkretion verlassen und die situative Erfahrung insgesamt vermittelt wird. 2. Traditionsgeschichte

und

Theologie

Der Judasbrief übernimmt differenziertes Überlieferungsgut, dessen frühjüdischer Zusammenhang eindeutig ist (vgl. die Nachweise in den Kommentaren): V. 9 bezieht sich auf eine apokryphe Tradition (Berger), die vom Streit zwischen Michael und dem Teufel über die Leiche des Mose weiß (zur Parallele in 4 Q c Amram b vgl. zuletzt Kobelski; zur Beziehung auf AssMos Bauckham 65ff; Laperoussaz). V. 9 . 1 3 - 1 5 verweisen auf äthHen (Milik, Books; Uhlig). Der Judasbrief, dereinen eigenen Texttyp vertritt (Dehandschutter), verfährt selektiv, ohne daß die Vorgabe des äthHen verlorenginge.

Der Text erinnert zudem grundsätzlich an bestimmte Ereignisse der biblischen Geschichte: V. 5 verweist gegenüber den Gegnern auf die Erfahrung des Exodus (textkritisch umstritten; die Lesart 'Irjaoög besitzt gegenüber einem KVplOQ größere Wahrscheinlichkeit, vgl. zuletzt Fossum). Mit solcher Rezeption kann der Verfasser an jüdische Auslegung anknüpfen: So war bereits in der jüdischen Exegese der moralische Mangel der Sodomiter herausgestellt worden (V. 7). Auch die Gestalten —>Bileam (vgl. Baskin), —>Kain (Aptowitzer) und Korach (->Korach/Korachiten) werden im Licht jüdischer Interpretation vom Autor gedeutet. Jedoch geschieht dies - im Kontext urchristlicher Theologie - nicht ohne Veränderungen: Bileam wird jetzt negativer Archetyp (vgl. auch II Petr 2,15; zum abweichenden jüdischen Verständnis zuletzt Baskin). Die Theologie des Briefes geht jedoch nicht in solcher Traditionsbindung auf; der Verfasser hat ein dezidiertes eigenes Interesse (Hahn). Bereits die Verbindung zwischen der Bekämpfung der Gegner und gemeindlicher Paränese ist inhaltlich konsequent. Vor

Judasbrief

308

allem wird die Entfernung von der Zeit des KüpiOQ und der Apostel (V. 17 f) - analog zu anderen urchristlichen Texten (vor allem II Petr) - durch ,Erinnerung' überwunden (V. 17, vgl. V. 5) und im Hinweis auf das gemeinsame Heil und den Glauben vermittelt (V. 3; Hahn). Beides wird zur festen Größe (vgl. auch V. 20), die Sicherstellung des Erbes und seine Kanonisierung erscheinen als notwendige Folge. 3. Gegner und

Gemeinde

Die historische Bestimmung der Gegner, mit denen sich der Verfasser auseinandersetzt, ist mit den auch sonst aus der Geschichte des Urchristentums bekannten Schwierigkeiten belastet (-»Häresie; so bereits A. Ritsehl). Zunächst stellen die Gegner per se für den Judasbrief eine Provokation dar: Ihre Nähe zur Gemeinde (V. 4) und ihre Absonderung (V. 19) fordern ihn heraus. Zur Konfliktstrukturierung bedient sich der Autor traditioneller Polemik: Vor allem die Heranziehung der biblischen Typoi läßt sich so erklären; zudem diente die Gestalt des Kain bereits der jüdischen Theologie zur Klassifizierung der Gegner. Inhaltliche Beschreibung ihrer Position erscheint demgegenüber eher nebensächlich (allerdings findet sich in der Auslegung von Gen 4,8 oft Polemik gegen epikureische Skepsis; vgl. II Petr 3).

Sicher geht es in solcher Auseinandersetzung auch um Projektionen des Autors (Wisse), die angegriffene Aussage entbirgt zugleich das Neue eigener Theologie (Festlegung des Glaubensbegriffs!). Dennoch werden die topologischen Aussagen in V. 22 f zugespitzt: Die Verse (zu ihrer schwierigen Textgestalt vgl. Kubo; B a u c k h a m z.St.) zielen auf eine Handlungsanweisung für die Gemeinde. In einer zwei- (so mit p 7 2 zuletzt Bauckham) bzw. dreigliedrigen (wohl wahrscheinlicher; vgl. Kubo, Jude 2 2 - 3 ) Reihe wird ihr Verhalten gegenüber den Gegnern normiert, deren Nähe zur Gemeinde noch erkennbar ist; steigernd vor allem die dritte (bzw. zweite) Klausel, die im Motiv des .Hasses' am stärksten abgrenzt.

Allerdings lassen sich auch angesichts dieser Pointierung des Konfliktes die Gegner historisch nicht subsumieren (zur Kritik vgl. Sellin). Denkbar erscheint die Spannung zwischen charismatischer Praxis der Gegner und eigener gemeindlicher Erfahrung. Darauf deuten Spuren des Briefes hin: so ließe sich von der Metaphorik in V. 12f (vgl. dazu jetzt NHC IX/3 p. 34,8 f) her das Unstete gegnerischer Existenz profilieren. Auch die Spannungen bei der Agape (V. 12; ->Agapen) und die Hervorhebung des ,befleckten Gewandes' (V. 22; Sellin) könnten so verstanden werden. Die Differenz zwischen den y/vxiKOi und den nveofiatiKoi (V. 19; Pearson) und das Motiv der Absonderung fügen sich zu solcher Hypothese. Dennoch bleiben theologische Zielsetzung und geschichtlicher Ort der Gegner unklar. Die Zuschreibung des Briefes an Judas als den Bruder des Jakobus (Lührmann) könnte sie aber als dem Heidenchristentum zugehörig erscheinen lassen (ob sie darüber hinaus der paulinischen Theologie verpflichtet waren [so Sellin], wird trotz V. 4 skeptisch zu beurteilen sein). Gegenüber solchem Konflikt tritt die Gememdeparänese und die Pragmatik des Textes zurück; das Profil der Gemeinde wird nur noch in Ansätzen sichtbar (-»Agapen). Der Judasbrief zielt allerdings auf die Bestärkung in der vorhandenen Überlieferung (V. 20), und die Verpflichtung gegenüber jüdischem Erbe wirkt als Signum dieser Gemeinde (ohne daß dies notwendig zur Hypothese judenchristlicher Gruppen führt). 4. Verfasser,

Abfassungszeit

und -ort

Der Judasbrief benennt als Verfasser Judas, den Bruder des Jakobus (vgl. Jak 1,1). Gemeint ist der Herrenbruder (Mk 6,3), ohne daß solche Zuschreibung durch den Text sich begründen ließe. Die Parallelen zum theologiegeschichtlichen Ort des -» Jakobusbriefs fallen auf, und der Inhalt des Briefes weist auf die faktische Entfernung von der Zeit apostolischer Anfänge hin, wie sich auch die Polemik gegen die Gegner in solcher sekundären Zuschreibung absichert. Der Verfasser rückt so den Text bewußt in den Horizont der Apostolizität (zu anderen pseudepigraphischen Erwähnungen des Judas vgl. Hahn

Judasbrief

309

217). Die Abfassungszeit des Judasbriefes läßt sich aus der Zuordnung zum Jakobusbrief einerseits und aus der Rezeption im II Petrysbrief (->Petrusbriefe) andererseits annähernd bestimmen. Eine Entstehung um 100 - zu der auch die theologische Zielsetzung des Briefes stimmt - ist wahrscheinlich. Demgegenüber sind im Blick auf den Entstehungsort allein Spekulationen möglich (von Alexandrien über Syrien und Kleinasien bis nach Rom ist alles in der Forschung vertreten worden), beweisen läßt sich nichts. 5. Text-, Wirkungs-

und

Auslegungsgeschichte

Die Wirkungsgeschichte des Judasbriefes setzt bereits mit der bewußten Aufnahme durch den II Petrusbrief ein; sein Verfasser benutzt den Judasbrief, korrigiert und interpretiert ihn so für die eigene Gemeinde und ihre Konflikte (vgl. vor allem II Petr 3). Wenn auch die Bezeugung durch die Textgeschichte schmal erscheint (zu p 7 2 vgl. Mees, Massaux, Kubo; insgesamt zur Textkritik Albin) und manche Passagen sich nicht mehr einsichtig machen lassen (V. 5.22f), so war die Autorität zunächst unangefochten (-»Bibel III): Kanon Muratori; -»Tertullian, -»Clemens Alexandrinus und (mit Zögern) -»Origenes bezeugen die unumstrittene Stellung des Briefes. Schwierigkeiten entstehen auf dem Hintergrund der altkirchlichen Wirkungs- und Auslegungsgeschichte (Maier; Schelkle, Judasbrief bei den Kirchenvätern): Diese orientiert sich neben der Frage nach der Identität der Gegner und der Erörterung schwieriger Verse vor allem an der intensiven Verwendung der jüdischen Überlieferung. Sie wirkt anstößig (vgl. -»Eusebius von Caesarea und -»Hieronymus) und führt in Verbindung mit dem jetzt höheren Rang des II Petrusbriefes zur geringen Resonanz. Dies trifft auch für die mittelalterliche Exegese zu (Maier), während die moderne Rezeptionsgeschichte bei Luther einsetzt: Er begegnet dem Judasbrief mit vorsichtiger Skepsis und kritisiert ihn vom II Petrusbrief her. J . D . -»Michaelis bestreitet als erster mit Gründen die Apostolizität des Briefes und rückt ihn an den Rand des Kanons. So führt der Text eine Existenz im Abseits, die in der Auslegung auch auf inhaltlichen Vorbehalten gründet. Zunehmend allerdings wird die historische Situation und textliche Pragmatik des Briefes wahrgenommen, dessen wissenschaftliche Schwierigkeiten (Jülicher 529 f) sein sachliches Gewicht übersteigen. Literatur Kommentare: Richard J. Bauckham, W a c o 1983. - Charles Bigg, 2 1 9 1 0 (ICC). - Charles E . B . Cranfield, 1960 ( T B C ) . - Eric Fuchs/Pierre R e y m o n d , 1980 ( C N T [ N ] 13 b). - Walter Grundmann, 1974 2 1 9 7 9 ( T h H K 15). - John N . D . Kelly, 1969 ( B N T C ) . - Rudolf Knopf, 7 1 9 1 2 (KEK). - Bo Reicke, 1964 (AncB). - Karl H e r m a n n Schelkle, 1961 ( H T h K 13,2). - Wolfgang Schräge: H o r s t Balz/Wolfgang Schräge, Die Kath. Briefe, 1 3 1 9 8 5 ( N T D 10). - Friedrich Spitta, Der zweite Brief des Petrus u. der Brief des Judas, Halle 1885. - H a n s Windisch, Die kath. Briefe, 3 1 9 5 1 ( H N T 15). Untersuchungen: Carl A. Albin, Judasbrevet, Stockholm 1962. - Victor Aptowitzer, Kain u. Abel in der Agada, den Apokryphen, der hellenistischen, christl. u. muhammedanischen Lit., Wien/Leipzig 1922. - T h o m a s Barns, T h e Epistle o f St. Jude. A Study in the Marcosian Heresy : J T h S 6 ( 1 9 0 4 / 5 ) 3 9 1 - 4 1 1 . - J u d i t h R . Baskin, Pharaoh's Counsellors. J o b , J e t h r o , and Balaam in Rabbinic and Patristic Traditions, Chico 1983. - Jouette M . Bassler, Cain and Abel in the Palestinian Targums: JSJ 17 (1986) 56—64. — Klaus Berger, Der Streit des guten u. des bösen Engels um die Seele. Beobachtungen zu 4 Q A m r b u. Judas 9: J S J 4 (1973) 1 - 1 8 . - Werner Bieder, Judas 2 2 f: T h Z 6 (1950) 7 5 - 7 7 . M a t t h e w Black, T h e M a r a n a t h a Invocation and Jude 14.15 (I E n o c h 1:9): Christ and Spirit in the NT. FS C . F . D . M o u l e , Cambridge 1973, 1 8 9 - 1 9 7 . - Ders., Criticai and Exegetical Notes on T h r e e N T Texts: Hebrews X I , 1 1 , Jude 5, James 1,27: Apophoreta. FS E. Haenchen, Berlin 1964, 4 4 - 4 5 . George H . Boobyer, T h e Verbs in Jude 11: N T S 5 ( 1 9 5 8 / 5 9 ) 4 5 - 4 7 . - Constantin Daniel, L a mention des Esséniens dans le texte grec de l'épître de St. Jude: Muséon 80 (1967) 5 0 3 - 5 2 1 . - Boudewijn Dehandschutter, Pseudo-Cyprian, Jude and E n o c h . Some Notes on 1 E n o c h 1 : 9 : Tradition and ReInterpretation in Jewish and Early-Christian Literature. FS J . C . H . Lebram, 1986 (StPB 36), 1 1 4 - 1 2 0 . - Matthias Delcor, Le mythe de la chute des anges et de l'origine des géants c o m m e explication du mal dans le monde dans l'apocalyptique juive. Histoire et tradition: R H R 190 (1976) 3 - 5 4 . - Ernst von Dobschütz, Zwei- u. dreigliedrige Formeln: J B L 5 0 (1931) 1 1 7 - 1 4 7 . - AndréM a r i e Dubarle, Le péché des anges dans l'épître de Jude: Mémorial J . Chaine, 1950 ( B F C T L 5), 1 4 5 - 1 4 8 . - E. Earle Ellis, Prophecy and Hermeneutic in Early Christianity, 1978 ( W U N T 18). - Ian

Judenchristentum

310

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Henning Paulsen

Judenchristentum 1. Terminologie 2. Die Urgemeinde zu Jerusalem 3. Paulus 4. Die Schule des Paulus 5. Übriges Neues Testament 6. Judenchristentum im 2. Jh. 7. Judenchristentum seit dem Beginn des 3. J h . 8. Ausblick (Literatur S. 323)

1.

Terminologie

1.1. Der Begriff „Judenchristentum". Der Begriff Judenchristentum wird in der Forschung mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt. Am verbreitetsten ist die genetische Defini-

Judenchristentum

311

tion. Z u m Judenchristentum zählen danach die Christen, die als Juden geboren wurden. Im Einklang mit diesem Begriffsverständnis läßt sich die Jerusalemer Urgemeinde als judenchristlich bezeichnen, da sie im wesentlichen aus geborenen Juden bestand. Die christlich gewordenen Juden haben der werdenden Kirche jüdische Sprache und Vorstellungswelt vermittelt. Als aramäisch- und griechischsprechende Christen lebten sie im palästinischen und hellenistischen Kulturbereich und haben die Theologie des Christentums grundlegend, mit bis heute erkennbaren Einwirkungen geprägt. D a die Christen jüdischer Herkunft die Gesamtheit der urchristlichen theologischen Vorstellungswelt beeinflußten, ist es ausgeschlossen, die von ihnen ausgehende Wirkungsgeschichte auf die Theologie des Judenchristentums zu beschränken. Vielmehr kann schon die theologische Differenz zwischen -»Paulus und - » J a k o b u s (s. u. 2.2) verdeutlichen, daß die Theologie der aus dem Judentum hervorgegangenen Christen genauso variabel ist wie das -»Urchristentum selbst. Eine weitere begriffliche Fassung ist vor allem in der französischsprechenden Forschung anerkannt. Sie besagt, daß jede christliche Vorstellung und jeder christliche Inhalt, soweit dieser aus dem Judentum abgeleitet werden kann, als judenchristlich zu bezeichnen ist. Dieses Begriffsverständnis ermöglicht es, die wesentlichen Strukturen und Ausdrucksformen der Kirche des 1. und 2. J h . als judenchristlich zu interpretieren (so Danielou). D a eine so weit gefaßte Begrifflichkeit kaum geeignet ist, Judenchristentum als historisches Phänomen zu erhellen, soll im folgenden ein engerer B e g n / f zugrundegelegt werden. In einer in das 2. J h . zu datierenden Quellenschrift der Pseudoklementinen ( - » C l e m e n s von R o m ) stellen die Juden an die von dem „Bischof J a k o b u s " angeführten „ z w ö l f A p o s t e l " die Bitte, mit ihnen über Jesus zu diskutieren, „ o b er der Prophet sei, den M o s e vorausgesagt hat, welcher der ,ewige Christus' ist; denn darin allein scheint zwischen uns, die wir an Jesus glauben, und den nichtglaubenden Juden ein Unterschied zu bestehen" (Ree. 1,43 f; vgl. 5 0 , 1 ff; 59,3; 68,2). Demnach ist für das Judenchristentum 1. das Bekenntnis zu Jesus Christus von konstitutiver Bedeutung. Dieses Bekenntnis hat sich im Verlauf der Geschichte des Judenchristentums in verschiedenen christologischen Titeln und Vorstellungen ausgesprochen. 2. Andererseits hält das Judenchristentum an der überkommenen jüdischen Struktur von Theologie und Lebenshaltung fest; insbesondere praktiziert es die Forderungen des Gesetzes M o s e s mit seinen wesentlichen, auch ritualgesetzlichen Weisungen bis hin zur Beschneidung. Zweifellos formiert es sein Selbstverständnis auch im Z u s a m m e n h a n g mit und gegen Paulus, ohne daß eine Einzelheit der jüdischen Ausrichtung begriffsbestimmend sein kann. Das Judenchristentum ist von größerer geographischer Ausdehnung und von einer weiterreichenden theologischen Vielfalt gewesen, als dies die polemischen Berichte der altchristlichen Häresiologen erkennen lassen. Im 2. und 3. J h . ist es nicht auf Palästina und das Ostjordanland beschränkt gewesen, sondern hat sich über die damals bekannte Welt von Südarabien bis nach R o m mit Schwerpunkt in Palästina und den angrenzenden Landschaften ausgebreitet. In einigen Gebieten bildete es gegenüber den Heidenchristen zeitweilig die christliche Mehrheit. Seine Stellung zur werdenden Großkirche ist daher nicht auf einen Nenner zu bringen. Theologische Vorstellungen und Gemeindeordnungen des „offiziellen Christentums" wurden von nicht wenigen judenchristlichen Gruppen übernommen, nachgeahmt oder mit genuin-judenchristlichen Traditionen verbunden. Solche Anpassung führte bis zur Anerkennung der kirchlichen neutestamentlichen Schriften und zu deren kritischer Zitierung, auch zur Imitation kirchlicher Literatur. Die Eigenständigkeit des Judenchristentums k o m m t nicht nur in der Abfassung von Evangelien, Apostelgeschichten, Lehr- und Offenbarungsbüchern zum Ausdruck, sondern auch in der Kombination von kirchlichen und judenchristlichen Ordnungen; so sind judenchristliche Gemeinden nicht einfach auf das Sabbatgebot festgelegt gewesen (syr. Didask. 136,3 ff; Didask. VI,18,11; Epiphanius, pan. 29,7,5 u . ö . ) , sondern konnten - » S a b b a t und - » S o n n tag nebeneinander begehen (Eusebius, h . e . 111,27,5; Apost. Konst. 11,59,3). D a ß das Ver-

312

Judenchristentum

hältnis zu den heidenchristlichen Mitchristen verschiedenartig sein konnte, legt -> Justin an der judenchristlichen Stellung zum jüdischen Gesetz dar: Er kennt Judenchristen und großkirchliche Christen, die einander die Gemeinschaft versagen, aber auch andere, die trotz verschiedener theologischer Auffassungen und Lebensordnungen sich gegenseitig respektieren. Er selbst steht auf dem Standpunkt, daß derjenige Judenchrist nicht als Mitchrist anerkannt werden darf, der durch die Verabsolutierung des Gesetzes als eines Heilsweges sich aus der christlichen Gemeinde selbst ausschließt (dial. 4 7 , 1 - 5 ) . 1.2. Namen. Die theologische Komplexität des Judenchristentums wird an den verschiedenen Namen sichtbar, unter denen in den Schriften der Kirchenväter von ihm gehandelt wird. Verbreitet ist die Bezeichnung „Ebioniten" ('Eßicüvaioi), die zuerst durch Irenäus (haer. 1,26,2) belegt ist und sodann in den Häresiologien des 3. und 4. Jh. als feststehender Topos für das Judenchristentum gebraucht wurde. Sie ist von dem hebräischen 'tsbjonim („Arme") abzuleiten. Von Origenes (princ. IV,3,8; c. Cels. 11,1) ironisch auf die ,,-> Armut ihres Verständnisses" gedeutet (vgl. auch Eusebius, h.e. 111,27,1.6; Epiphanius, pan. 30,17,1), ist sie ursprünglich die Selbstbezeichnung einer judenchristlichen Gruppe gewesen, die sich selbst als vor Gott Arme, d. h. als Fromme verstand. Daß schon die Urgemeinde zu -»Jerusalem sich diesen Titel beigelegt habe (Bammel 911), ist nicht wahrscheinlich, da die in diesem Zusammenhang herangezogenen Stellen Gal 2,10 und Rom 15,26 (vgl. Lk 6,20) sich auf sozial Niedriggestellte in der Jerusalemer Gemeinde und nicht auf einen eschatologischen Würdenamen beziehen (vgl. Keck 54ff; Horn 155 ff. 177ff). Seit Tertullian (praescr. X,8; virg. vel. 6,1 u.ö.) und Hippolyt (ref. VII,35,1) erscheint in den häresiologischen Systemen der Name eines „Ebion" als des Heros eponymos der Ebioniten. Diese Angabe mag auf Hippolyts verlorengegangenes Syntagma „Gegen alle Häresien" zurückführen und dort durch Angleichung an die Namen anderer Sektengründer entstanden sein. Das Wort „Nazoräer" {Na^copaioi) geht auf die hebräisch-aramäische Bezeichnung zurück, welche die Juden für Christen gebrauchten (so Tertullian, adv. Marc. IV,8; Eusebius, onom. 138,24f). Nach Epiphanius ist sie von Nazareth als dem Herkunftsort Jesu abgeleitet (pan. 29,6,5); er wendet sie erstmals auf Judenchristen an (pan. 29,56,6: Beziehung auf den Beinamen Jesu No.((opaioBeschneidung (Gal 2,3) und Sabbatobservanz (Act 16,13; -»Sabbat), ist für sie in Geltung. Die - » M i s sion beschränkt sich in der Anfangszeit auf die jüdischen Landsleute (Mt 10,5 f); mit der Bekehrung der Städte Israels wird sie - nach alter palästinisch-christlicher Anschauung bis zur Parusie des Menschensohnes nicht zu Ende kommen (Mt 10,23). Im einzelnen stellt der Versuch, das Selbstbewußtsein der Urgemeinde zu rekonstruieren, vor schwierige Probleme. Diese beziehen sich nicht zuletzt auf das Verhältnis zu Jesus. So läßt sich fragen, ob Jesus selbst ein Geistträger war oder ob es sich bei der Geistbegabung um ein neues, erstmals in der Urgemeinde wieder auftretendes Phänomen handelt. Durch seine Kritik am mosaischen Gesetz und an der pharisäischen Tora-Auslegung steht Jesus im Gegensatz zu seiner jüdischen Umwelt. Inwieweit stimmt die Urgemeinde mit Jesus in dieser Distanzierung überein? Geht das Logion von der unverbrüchlichen Geltung des Gesetzes (Mt 5,18) auf den historischen Jesus zurück oder belegt es erst für die Urgemeinde eine grundsätzliche Gesetzesbejahung? Und ist die Beschränkung der Mission auf -»Israel schon durch Jesu eigene Stellungnahme veranlaßt oder reflektiert sie sekundär die veränderte Gemeindesituation? 2.2. Stationen in der Geschichte der Urgemeinde. So wenig diese und andere Fragen mit Gewißheit beantwortet werden können, sicher ist, daß Jesu Verhältnis zum Judentum durch Diskontinuität und Kontinuität gekennzeichnet ist, und auch, daß eben dies für das frühe Christentum angenommen werden muß und eine in sich geschlossene, einheitliche theologische Position in ihm nicht vorhanden war. Schon in der Jerusalemer Gemeinde lagen unterschiedliche Kräfte miteinander in Streit. Die Komplexität des urgemeindlichen Glaubens und Lebens können die wichtigsten Stationen, welche die Entwicklung der Urgemeinde kennzeichnen, bestätigen. An erster Stelle ist der Apostel -»Petrus zu nennen (vgl. Cullmann 18ff.30ff; Brown 138ff). Er war einer der ersten von Jesus berufenen Jünger und stand an der Spitze des Zwölferkreises (vgl. M k 1,16—20; 3,16). Vor allem war er einer der ersten Auferstehungszeugen. Sein Osterzeugnis ist die entscheidende Grundlage des urchristlichen Bekenntnisses geworden (I Kor 15,5a; Lk 24,34). Seine Ostererfahrung läßt ihn zum hervorragenden Mitglied der Urgemeinde werden (vgl. Gal 1,18). Auch der Beiname Kephas (Fels) deutet auf eine leitende Funktion des Petrus, wie durch das vermutlich nachösterliche Felsenwort M t 16,18 f bestätigt wird. Später wird er zum wichtigsten Apostel „an der Beschneidung" (Gal 2,8) und nimmt die Aufgaben wahr, die entsprechend der Übereinkunft zwischen Paulus und Barnabas einerseits und den Jerusalemern andererseits den Judenchristen zugefallen waren (Gal 2,9; anders Act 15; s. u. 2.2): Er überschreitet die Grenzen Palästinas und missioniert unter den Juden in der Diaspora. Vielleicht ist er auf seinen Missionsreisen auch nach Korinth und schließlich bis nach - » R o m gekommen (I Kor

Judenchristentum

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1,12; 9,5; I Petr 5,13; I Clem 5,1 ff; IgnRöm 4,3), wo er unter Nero den Kreuzestod erlitten haben soll (Eusebius, h.e. 11,25; ActPetr 38.41). Sein psychischer wie auch sein theologischer Habitus wird in der Überlieferung als wechselhaft beschrieben. Aufschlußreich ist der Zusammenstoß mit Paulus im syrischen -»Antiochien. Hier wird dargestellt, daß Petrus zunächst mit den Heidenchristen Tischgemeinschaft hält und sodann, nach dem Eintreffen der Jakobusleute, zur gesetzlichen judenchristlichen Richtung übergeht (Gal 2,11 ff). Ist auch umstritten, ob Petrus seiner theologischen Überzeugung nach in einer größeren Nähe zu Paulus oder zum Herrenbruder ->Jakobus sich befunden hat (vgl. Schmithals 51 ff), so war er jedenfalls der Repräsentant eines milden Judenchristentums. Er betrieb keine gesetzesfreie Mission, sondern behauptete die Geltung der mosaischen Tora auch für die Juden, die auf den Namen Jesu getauft waren. Insofern stimmt seine theologische Position mit Judaisten und konservativen Judenchristen überein. Andererseits hat er das Recht einer gesetzesfreien Heidenmission zugestanden und hierdurch im Sinn des Paulus den jüdischen Standpunkt von der Heilsnotwendigkeit des -»Gesetzes verlassen (Gal 2,9). Die Gemeinde zu —»Jerusalem hat sich von dieser relativ freiheitlichen Position zunehmend abgewandt. Erscheint Petrus in der Anfangszeit als der ausschlaggebende Repräsentant, so tritt auf dem Apostelkonvent ein Drei-Männer-Kollegium als Leitungsorgan auf: Jakobus, Kephas und Johannes, die auch OTÖXOI („Säulen") genannt werden (Gal 2,9). Hier scheint der Herrenbruder —» Jakobus schon zu der maßgebenden Persönlichkeit in der Gemeindeorganisation heranzuwachsen, als die er in der Folgezeit sich darstellt (vgl. Bauer 11—41; Kemler 29ff). In der Überlieferung gilt er als Auferstehungszeuge (I Kor 15,7; EvHebr 7; Hieronymus, vir. ill. 2). Er wird als „der Gerechte" bezeichnet, der diesen Beinamen wegen seiner herausragenden Frömmigkeit erhielt (vgl. Hegesipp bei Eusebius, h. e. 11,23,6). Zählt Jakobus auch nicht zu den rigorosen Judaisten, die Paulus in Galatien entgegentreten, so doch zu den gesetzesstrengen Judenchristen. Dies macht nicht nur die Darstellung des Paulus von seinem Zusammenstoß mit Kephas in Antiochien wahrscheinlich, da es „Leute, die von Jakobus kamen", waren, welche Petrus veranlaßten, seine gesetzesfreie Haltung zurückzunehmen (Gal 2,12). Auch das Aposteldekret, das nach dem historisch unzuverlässigen Bericht des Lukas auf dem Apostelkonvent beschlossen wurde (Act 15,20.29), dürfte nicht vor der Ära des Jakobus, sondern vermutlich unter dessen Einfluß in der Urgemeinde entstanden sein, wenn es bei allem Entgegenkommen gegenüber dem gesetzesfreien Heidenchristentum die Durchsetzung eines Minimalgesetzes für geborene Heiden intendiert. Die Kollekte, die auf dem Apostelkonvent Paulus und Barnabas zur Auflage gemacht worden war und in den paulinischen Gemeinden für die Armen in der Urgemeinde gesammelt wurde (Gal 2,10; I Kor 16,1 ff; II Kor 8 - 9 ; vgl. Act 11,29f; Schneemelcher 1 5 5 - 1 6 5 ) , mag in Jersualem als Zeugnis für den dortigen Vorrang und insofern als Garantie für die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden interpretiert worden sein. Ein offenes Problem ist, ob die Kollekte von den Jerusalemern angenommen (vgl. auch Act 24,1 f) oder zurückgewiesen wurde (dies befürchtet anscheinend Paulus zur Zeit der Abfassung des Rom: 15,31; dazu Lüdemann 11,58-105). Daß Jakobus als gesetzesstrenger Judenchrist gegenüber dem Apostel Paulus in Erscheinung tritt, bezeugt auch Act 21,18ff, wonach Paulus von ihm veranlaßt wird, sich in Jerusalem der kultischen Ordnung zu fügen und im Tempel ein Opfer darzubringen. Danach ist der Herrenbruder Jakobus die zentrale Figur der Jerusalemer Urchristenheit, die sich für die Symbiose des Judenchristentums mit dem jüdischen Volk und der jüdischen Religion konsequent eingesetzt hat. Diese Situation verändert sich nicht grundsätzlich durch das Auftreten des Stephanuskreises in Jerusalem (Act 6,1 ff). Nach der Apostelgeschichte hätte Stephanus allerdings als Repräsentant der Hellenisten (-»Hellenismus) eine gesetzeskritische, vielleicht sogar eine gesetzesfreie Haltung eingenommen, und eben dies wäre der Anlaß zu seiner Steinigung geworden. Demgegenüber läßt sich einwenden, daß diese Darstellung durch das heilsgeschichtlich-paulinisierende Denken des Lukas verursacht ist (Schnelle 99) und Hei-

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lenisten und Aramäer in der Urgemeinde nicht theologisch, sondern sprachlich geschieden waren (Hengel 160ff; vgl. aber Baumbach 22ff). Der theologische Zusammenhang der ältesten Christenheit mit dem Judentum lockerte sich erst in dem M a ß e , in dem die christliche Mission sich ausbreitete und die heidenchristliche Kirche zu einer eigenständigen Größe wurde. Hierzu hat auch die Synagoge beigetragen; denn sie initiierte einen Abstoßungsprozeß, wie die Beispiele von -» Christenverfolgungen und synagogalen Strafmaßnahmen zeigen (vgl. I Thess 2,14; Lk 6,22; J o h 9,22 u . ö . ) . Die Gemeinde in Jerusalem hat auch in der zweiten Hälfte des 1. J h . sowie am Anfang des 2. J h . existiert und den Anspruch, der Vorort der Christenheit zu sein, aufrecht erhalten. Nachdem der Herrenbruder Jakobus im Jahr 62 auf Anstiften des Hohenpriesters Ananias (Hannas II.) gesteinigt worden war (Josephus, Ant 20,200), wurde der Herrenverwandte Simeon, der Sohn des Klopas, als sein Nachfolger der Leiter der Gemeinde (Eusebius, h. e. 111,11). Einer bei Eusebius (h.e. 111,5,3) überlieferten Nachricht zufolge floh die Gemeinde vor dem Beginn des jüdischen Krieges im Jahre 66 nach Pella im Ostjordanland. Doch handelt es sich hierbei wahrscheinlich um eine ätiologische Legende von Pellenser Judenchristen (gegen Simon, Migration; vgl. Strecker, Judenchristentum 2 8 3 - 2 8 6 ) . Vermutlich hat die Jerusalemer Gemeinde das Schicksal der jüdischen Einwohner geteilt, wie auch aus der bei Euseb tradierten Bischofsliste hervorgeht, wonach seit Jakobus bis zum J a h r 135 fünfzehn judenchristliche Bischöfe in Jerusalem amtierten (Eusebius, h.e. IV,5,3). Von dem späteren Ergehen der Judenchristen zu Jerusalem ist wenig bekannt. Hegesipp berichtet von den Enkeln des Herrenbruders Judas, die als Konfessoren und Herrenverwandte bis in die Zeit des Trajan leitende Stellungen in der Kirche eingenommen haben (Eusebius, h.e. 111,20,1-6). M i t der Niederschlagung des Aufstandes des Bar-Kochba ist im J a h r 135 die Geschichte der Jerusalemer Gemeinde beendet. Ihre Angehörigen wurden zusammen mit den jüdischen Einwohnern unter Hadrian aus Jerusalem vertrieben, als auf den Trümmern die neue Stadt Aelia Capitolina errichtet wurde. Dennoch bedeutet diese Vertreibung nicht das Ende des Judenchristentums. Im Gegenteil, seit der Judenmission des Petrus waren in vielen Teilen des römischen Reiches judenchristliche Gemeinden entstanden. Diese bemühten sich, das jüdische Erbe zu bewahren und neben der Beobachtung des jüdischen Gesetzes den Glauben an Jesus als den Christus auch gegenüber Nichtjuden zu verkündigen. 3. Paulus An synagogalen Verfolgungen gegen christliche Gemeinden (s.o. 2.2) hat sich aufgrund seines „Eifers um das Judentum" auch Paulus vor seiner Bekehrung beteiligt (Gal 1,13; Phil 3,6). Sein durch eine „Offenbarung Jesu Christi" begründeter Heidenapostolat (Gal 1,12) brachte ihn in Konflikt zu anderen Missionaren, wie die Gruppenbildungen der korinthischen Gemeinde erkennen lassen (I Kor 1,12; 3,4.22; —•Korintherbriefe). Es sind nicht zuletzt die Vertreter des palästinischen Judenchristentums gewesen, mit denen sich Paulus in seinen Briefen auseinandersetzte. Wenngleich er sich bemühte, mit den Jerusalemern zu einem Ausgleich zu gelangen, um sein Programm einer weltumspannenden Heidenmission nicht zu gefährden, war eine Konfliktsituation schon allein durch die Tatsache gegeben, daß sich die im Apostelkonvent zu Jerusalem abgesprochenen Missionsgebiete überschnitten. Dabei traten die in paulinischen Gemeinden lehrenden judenchristlichen Apostel nicht von vornherein als Gegner des Paulus auf, sondern sie suchten ihren eigenen, am jüdischen Gesetz orientierten Missionsauftrag zu erfüllen (Martyn 235). Wenn freilich die Prediger eines „anderen Evangeliums" auch Heiden auf die Observanz des Gesetzes verpflichteten, wie dies in Galatien der Fall war, so verstießen sie nach Auffassung des Paulus gegen die Abmachungen des Apostelkonvents (Gal 2,9). Als „Judaisten" zählen sie zu den ersten Vertretern eines Antipaulinismus, der zum Kennzeichen von späteren judenchristlichen Gruppen geworden ist (vgl. Gal 2 , 1 - 5 ; Act 15,1).

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Ist I Kor 1 , 1 2 eine Kephaspartei als eine nichtpaulinische, vermutlich judenchristliche G r u p p e in der k o r i n t h i s c h e n G e m e i n d e bezeugt, so sind im 2. Korintherbrief die I n f o r m a tionen zahlreicher: D a n a c h bezeichnen sich die G e g n e r des Paulus als „ H e b r ä e r , Israeliten, N a c h k o m m e n A b r a h a m s " (11,22) und als „ A p o s t e l C h r i s t i " ( 1 1 , 1 3 ) . Sie stehen also in jüdischer T r a d i t i o n und anscheinend in Verbindung mit der U r g e m e i n d e zu J e r u s a l e m , w o r a u f auch P a u l u s ' ironische T i t u l a t u r „ Ü b e r - A p o s t e l " (11,5) hinweisen m a g (Käsem a n n , Legitimität 36—52; s c h o n B a u r 2 7 8 . 2 9 3 f f ) . Umstritten ist, o b sie mit den L e h r e r n identifiziert werden k ö n n e n , die im I K o r G e g e n s t a n d der P o l e m i k des Paulus sind und wie diese als „ P n e u m a t i k e r " ( C o n z e l m a n n 5 1 ff) o d e r als „ j u d e n c h r i s t l i c h e G n o s t i k e r " (Schmithals; V i e l h a u e r , G e s c h i c h t e 150) zu verstehen sind. Auffallend ist, d a ß in den Korintherbriefen eine Verbindung der G e g n e r des Paulus mit d e m jüdischen Gesetz nicht ausgesagt ist. Eindeutiger ist das Bild im —> Galaterbrief. H i e r befindet sich Paulus in Auseinandersetzung mit judenchristlichen L e h r e r n , die in G a l a t i e n das E v a n g e l i u m Christi in e n g e m Z u s a m m e n h a n g mit der jüdischen Tradition interpretieren, i n s b e s o n d e r e die Beschneidung von Heidenchristen fordern (5,2 f; 6 , 1 2 f). D a r ü b e r hinaus p r o p a g i e r e n sie die Einhaltung des jüdischen Festkalenders (4,10), also von jüdischen G e w o h n h e i t e n , die Paulus im grundsätzlichen Sinn als B e o b a c h t u n g des jüdischen Gesetzes versteht (3,2.5; 4 , 2 1 ; 5,3 f). D a sie den paulinischen A p o s t o l a t b e k ä m p f e n und andererseits Paulus im G a l a t e r brief sein gutes E i n v e r n e h m e n mit den J e r u s a l e m e r Aposteln besonders h e r v o r h e b t (2,1 ff), ist w a h r s c h e i n l i c h , d a ß sie sich auf die A u t o r i t ä t der J e r u s a l e m e r beriefen. O b sie auch eine azoix£ia-Verehrung lehrten und hierdurch einer gnostischen E l e m e n t e n s p e k u lation nahe standen, bleibt fraglich (vgl. V i e l h a u e r , Gesetzesdienst). Werden im Gal und möglicherweise auch im II Kor die Jerusalemer Autoritäten als Hintergrund von judenchristlicher Einflußnahme im paulinischen Missionsgebiet erkennbar, so läßt sich für die übrigen, in diesem Zusammenhang herangezogenen Belegstellen aus den Paulusbriefen eine ähnliche Sicherheit nicht gewinnen. Die Kontroverse zwischen Starken und Schwachen in der römischen Gemeinde, auf die Paulus Köm 14,1-23 eingeht, setzt auf Seiten der Schwachen den Standpunkt eines grundsätzlichen Vegetarismus voraus (14,2.21). Sie trinken keinen Wein (14,21) und unterscheiden zwischen (guten und bösen) Tagen (14,5). Der Vergleich mit I Kor 8 - 1 0 ergibt trotz vorhandener Parallelen keine wirkliche Erklärung der römischen Situation, eher die der Beurteilung durch den Apostel. Die Position der Schwachen (Rom 14) macht umfassendere Vorstellungen sichtbar und ist nicht auf die Frage der Teilhabe von Christen an heidnischen Götzenopfermahlzeiten einzugrenzen. Zwar erinnert das Begriffspaar xoivög-xa9apög, das in den Paulusbriefen nur Rom 14,14.20 erscheint, an das alttestamentlich-jüdische Heiligkeitsgesetz und bezieht es sich auch an anderer Stelle auf die jüdische Observanz (Mk 7,15.19f par.), jedoch sind Vorformen für den profanen hellenistischen Bereich belegt (Lietzmann 117). Selbst wenn Paulus jüdisch-ritualgesetzliche Terminologie bewußt aufnimmt, ist daraus das Vorhandensein einer judenchristlich geprägten Kontroverse in der römischen Gemeinde nicht zu erschließen; denn die genannten asketischen Forderungen gehen über das Heiligkeitsgesetz weit hinaus. Entscheidend ist die Beurteilung von 15,8. Bezieht sich Paulus hier auf die in Kap. 14 dargestellten Meinungsverschiedenheiten, so ist allerdings die Vermutung naheliegend, daß Schwache und Starke sich wie Juden- und Heidenchristen zueinander verhalten. Aber die Paränese des Kontextes wendet sich von der vorausgegangenen Problemstellung ab und spricht die allgemeine Mahnung zur Nächsten- und Bruderliebe und zur Einheit in der Gemeinde aus (15,2.5f). Daß Christus ein „Diener der Beschnittenen" geworden ist, denen die „Verheißungen für die Väter" gelten (V.8), bezieht sich auf Kap. 9 - 1 1 , ja bis auf Kap. 2 zurück. Der Gegensatz Schwache und Starke ist ein Spezialbeispiel für die Forderung, in der christlichen Gemeinde Liebe und Einmütigkeit zu verwirklichen. Auch übrige mögliche Bezugspunkte im Rom auf jüdisch-judenchristliche Konflikte (z.B. 2,17ff; 3,1 ff) belegen eine judenchristliche Gruppe in der römischen Gemeinde nicht. Hier ist der Einfluß der paulinischen Rhetorik wie auch das jüdisch geprägte Selbstbewußtsein des Apostels nicht zu hoch zu veranschlagen. Eher handelt es sich bei den im -*Philipperbrief bekämpften falschen Lehrern um Judenchristen (3,2 ff; so Köster 317 ff). Dieses Urteil setzt freilich voraus, daß die xaxoiepyäzai, die offenbar von den Heiden fordern, sich beschneiden zu lassen (V.2f), nicht jüdische Missionare sind (vgl. V.5f), und auch, daß Paulus in V . 2 - 6 und V.7 ff gegen ein und dieselbe Gruppe polemisiert. Die hierbei benutzte Sprache und Vorstellungswelt wäre dann auf die Gegner zurückzuführen, und diese wären durch den Besitz von Gnosis, Auferstehungs- und Vollkommenheitsbewußtsein gekennzeichnet, so daß sich das

Judenchristentum

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Urteil nahelegt, sie seien „judaisierende Gnostiker jüdischer H e r k u n f t " gewesen (Vielhauer, Geschichte 165). Sind die Aussagen in V . 1 8 f nicht auf eine libertinistische Lebensführung, sondern auf die Beobachtung von jüdischen Speisegesetzen zu beziehen (Gnilka 185f), so verstärkt sich der jüdische Einschlag. Jedoch bleiben die genannten Prämissen unbeweisbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß in V.7ff dem Paulus eigentümliches Vokabular erscheint.

4. Die Schule des Paulus Die Schule des Paulus hat nicht nur in den paulinischen Briefen einen Niederschlag gefunden, sondern auch in den Schriften, die dem Apostel sekundär zugeschrieben wurden. Für den - > K o l o s s e r b r i e f , bei dem die paulinische Abfassung umstritten ist, läßt sich fragen, ob die in ihm bekämpfte gegnerische Lehre dem Judenchristentum zuzurechnen ist und inwieweit in diesem Zusammenhang gnostische Strömungen wirksam wurden. Zweifellos sind die Gegner des Verfassers Vertreter einer jüdischen Lebensführung: Sie beobachten die Beschneidung (vgl. die indirekte Aussage in 2,11), außerdem bestimmte Speisen, Feste, Neumonde, Sabbate (2,16.21). Ihre Philosophie (2,8) hat neben solchem jüdischen auch einen gnostischen Akzent. Sie hängen einem Stoicheia-Kult an (2,8.20). Indem sie Naturmächte oder himmlische Geistwesen verehren (2,10.15), erwarten sie offenbar, auf diese Weise zum göttlichen Pleroma Zugang zu erhalten (2,9; mit Schenke 396). Dabei rühmen sie sich ihrer xanzi\o(ppoamr] (2,18). Scheint sich von hier aus nahezulegen, sie als „judenchristliche Gnostiker", die in Kleinasien beheimatet sind, zu bezeichnen, so bleibt dennoch offen, ob sie ihr Selbstverständnis christologisch begründeten. Indem der Verfasser den aroi/eia tov xöofioo seine Christuslehre gegenüberstellt, können die christologischen Aussagen des Kol auf ihn selbst oder auf die ihm eigene kirchliche Tradition zurückgehen, so daß die Gegner des Kol nicht dem Judenchristentum, sondern einem synkretistisch-gnostischen Judentum zugehören würden. Die -fPastoralbriefe scheinen als weitere Zeugen der Schule des Paulus zu den im Kol bekämpften Lehrern eine Parallele aufzuweisen, wenn es sich auch hier um „Vertreter einer frühen Form der Gnosis mit stark jüdischem Einschlag" handelt (Haufe 3 3 2 f ) . Für diese These spricht, daß die gegnerischen Lehrer als Repräsentanten der „fälschlich sogenannten G n o s i s " bezeichnet werden (I T i m 6,20). Jedoch ist die Darstellung ohne klare Konturen und in sich widersprüchlich. Den Gegnern wird vorgeworfen, daß sie jüdische Mythen und Menschengebote lehren (I T i m 4,7; II T i m 4,4; T i t 1,14), über endlose Genealogien streiten (I T i m 1,4; T i t 3,9) und vojioöiöaaxaXoi „Gesetzeslehrer" sind (I T i m 1,7; vgl. T i t 3,9). Ergibt sich hieraus ihr jüdischer Charakter, so stimmt damit schwerlich überein, daß sie behaupten, die Auferstehung sei schon geschehen (II Tim 2,18), und Heiraten verbieten (I T i m 4,3). Sie treten als rigorose Asketen auf, indem sie den Genuß von Speisen untersagen und sich in acoßaTi)crj yüßvaaia „Übung des Leibes" hervortun (I T i m 4,3.8). Andererseits führen sie unter dem Schein der Frömmigkeit einen unsittlichen Lebenswandel (I T i m 6,3ff; II T i m 3 , 1 - 9 ) und mißbrauchen die evaeßeia als Erwerbsquelle (I T i m 6,5). Darüber hinaus gelten sie als Enthusiasten (I T i m 6,4; II Tim 3,4), als falsche Geister und Anhänger von Dämonenlehren, wie diese für die letzten Tage erwartet werden (I T i m 4,1; II T i m 3,1; 4,3 f). Da Topoi der allgemeinen Ketzerbestreitung diese Darstellung mitbestimmen, will der Verfasser schwerlich eine spezifisch einzugrenzende Gruppe beschreiben. Zielpunkt seiner Polemik ist die Gegenüberstellung von Häresie und unethischem Verhalten einerseits und von rechter Lehre und ethischer Lebensführung andererseits.

5. Übriges Neues

Testament

Wenn das Neue Testament auch nicht ein Buch des Judenchristentums ist, sondern in seiner Gesamtheit im heidenchristlichen R a u m und für die heidenchristliche Kirche geschrieben worden ist, so lassen nicht wenige neutestamentliche Schriften und die darin verarbeiteten Traditionen doch Rückschlüsse auf einen judenchristlichen Hintergrjnd zu. Dies gilt nicht nur für Apostelgeschichte und die paulinischen Briefe, sondern auch für

Judenchristentum

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die Logiensammlung (Q) als eine der Grundquellen der synoptischen -»Evangelien. Dieses ursprünglich in griechischer Sprache abgefaßte Werk enthält wesentliche Bausteine der Verkündigung des historischen Jesus und hat auf dem Weg über Urgemeinde und hellenistisches Christentum bis zu der Fassung, die als M t und Lk gemeinsame Vorlage vermutet wird, zahlreiche Veränderungen erfahren. Judenchristliche Überlieferungen sind besonders dort erkennbar, w o sich das Logienbuch zur Einhaltung von jüdischen Gewohnheiten und der T o r a äußert. In M t 5,18 par. Lk 16,17 ist die unbedingte Geltung des jüdischen Gesetzes auch in seinen Einzelaussagen gefordert. Hier wird eine vorsynoptische judenchristliche Position erkennbar, die sich darum bemüht, den Zusammenhang mit der Synagoge zu wahren. Sie findet sich auch im matthäischen Sondergut, das teilweise der Q-Quelle zugehört; so in der Gemeinderegel M t 5,23 f mit der M a h n u n g : „Versöhnung geht vor Kultdienst!" Diese setzt das Bestehen des Zweiten Tempels und ein ungebrochenes Verhältnis zum Jerusalemer Opferkult voraus. Eine positive Einstellung zur Synagoge folgt auch aus der Bejahung der Lehre der Schriftgelehrten und Pharisäer, obwohl hiermit zugleich die Distanzierung gegenüber ihren Taten ausgesprochen ist (Mt 23,2 f.23). Selbständiges judenchristliches Bewußtsein wird in der legendarischen Erzählung vom Stater im Fischmaul erkennbar, in der mit einer grundsätzlichen Distanz zum Judentum die Verpflichtung, Tempelsteuer zu entrichten, akzeptiert wird (Mt 1 7 , 2 4 - 2 7 ) . Eine fortgeschrittene Reflexion zeigt der kasuistische Rechtssatz M t 5,19. Hier äußert sich ein liberales Judenchristentum, das selbst den Heidenchristen, welche die zeremonialgesetzlichen Weisungen als die „sehr kleinen G e b o t e " nicht beachten, einen - freilich geringeren - Platz im Himmelreich zugesteht. Auch das lukanische Sondergut mag in seinen ebionitischen Aussagen (1,46—55; 1 6 , 1 9 - 2 2 ; vgl. 6 , 2 0 f ; dazu H o r n 186) sich an judenchristliche Überlieferung anschließen. Dagegen sind die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien selbst dem Judenchristentum nicht einzuordnen. Markus behauptet im Anschluß an alttestamentliche Tradition die Gegenüberstellung von jüdischem Zeremonial- und Sittengesetz (7,11 ff). Gleiches gilt für Matthäus (15,20 u . ö . ) . Der Ansicht, die matthäische Gesetzeskritik wolle die pharisäische Tradition und das jüdische Zeremonialgesetz nicht grundsätzlich aufheben (Hummel 46—49) oder die matthäische Gemeinde habe intra muros der Synagoge gelebt (Bornk a m m 36), widerspricht die universalistische Ausrichtung des ersten Evangeliums. H a t M a t t h ä u s auch judenchristliche Traditionen verarbeitet, so sind in der Redaktion des Evangeliums eindeutige judenchristliche Vorschriften nicht belegt. Das Johannesevangelium spiegelt mit der Feststellung, daß Christen aus der Synagoge ausgeschlossen wurden (dnotjuvdycoyog: 9,22; 12,42; 16,2; vgl. Lk 6,22), zurückliegende Erfahrungen des johanneischen Kreises wider. Diese lassen keinen Schluß auf ein johanneisches Judenchristentum zu (vgl. Haenchen zu 9,22); das bestätigt die typisierende Verwendung des Begriffs oi 'Iovöaiot (1,19; 2,18; 5,10 u . ö . ) und die Abwertung des jüdischen Gesetzes (8,17; 10,34 u . ö . ) . - Auch die —> Apokalypse des Johannes ist trotz der Aufnahme von apokalyptisch-jüdischer Vorstellungswelt keine judenchristliche Schrift. D a ß die Irrlehrer, die in den Sendschreiben als Nikolaiten oder unter dem N a m e n Bileam (2,14) und Isebel (2,20ff) bekämpft werden, judenchristliche Gnostiker gewesen seien, bleibt eine Vermutung. Der Vorwurf der Teilhabe am Götzenopferfleisch und der Unzucht (2,14) verwendet alttestamentliche Terminologie (Num 25,1 f; II Reg 9,22), ohne auf das judenchristliche Aposteldekret Bezug zu nehmen.

6. Judenchristentum

im 2.

Jahrhundert

Wie aus den im Neuen Testament bezeugten judenchristlichen Überlieferungen hervorgeht, ist gegen Ende des 1. J h . das Judenchristentum über die Grenzen Palästinas hinausgewachsen. Gibt Eusebius' Nachricht von der Auswanderung der Jerusalemer Judenchristen vor dem jüdischen Krieg vermutlich eine Legende wieder (s.o. 2.2), so belegt sie doch für Pella eine judenchristliche Gemeinde, der Aristo von Pella angehört haben mag (vgl. h . e . IV,6,3). Auch andere Orte des Ostjordanlandes sind von Judenchri-

320

Judenchristentum

sten besiedelt worden, wie aus den Nachrichten der Kirchenväter hervorgeht (Eusebius, onom. 172,1—3; Epiphanius, pan. 30,2,8: Kokaba in der Basanitis und Aschtarot; 30,18,1: Moabitis). Um das Jahr 200 lebt der Elkesait Alkibiades in Apameia (Hippolyt, ref. IX, 13,1). Daß in Syrien Judenchristen wohnten, bezeugt auch Hieronymus für Beröa (vir. ill. 3) und ist durch die in der Didaskalia angesprochenen judenchristlichen Brüder belegt (s. u. 7). Dagegen betreffen die Warnungen des -»Ignatius von Antiochien wohl nur judaisierende Strömungen in den christlichen Gemeinden (Magn 8,1 — 10,3; Phld 5,2-6,3). Wie aus der johanneischen Überlieferung hervorgeht, fanden um die Jahrhundertwende in Kleinasien Auseinandersetzungen zwischen Synagoge und Judenchristentum statt; auch die Streitfrage um den Ostertermin, die mit der römischen Kirche ausgefochten wurde, legt den Schluß auf ältere judenchristliche Tradition nahe (vgl. Lohse 89ff.l38ff). Um die Mitte des 2. Jh. reflektiert -»Justin die Verhältnisse in Kleinasien, Palästina und/oder Rom (s.o. 1.1). Bezeugt Justin eine große Mannigfaltigkeit für das Judenchristentum, so stellt die Sekte des Elkesai, die zur Zeit des Trajan am Oberlauf des Euphrats auftrat, das Beispiel eines synkretistischen täuferischen Judenchristentums dar (zum Ursprung vgl. Strecker, Elkesai 330ff; Lüdemann II,182ff; anders Klijn/Reinink 61.71). Im Zentrum der elkesaitischen Lehre steht ein bei Hippolyt und Epiphanius fragmentarisch überliefertes Offenbarungsbuch, das eine Christusvision sowie die Proklamation einer zweiten Buße enthielt, welche durch ein Taufbad auf den Namen des „großen und höchsten Gottes" und „seines Sohnes, des großen Königs" und durch Anrufung von sieben Zeugen Sündenvergebung bewirken soll (Hippolyt, ref. IX,13.15). Bei Krankheiten werden heilungskräftige Waschungen empfohlen (Hippolyt, ref. IX,15,4-16,1; Epiphanius, pan. 30,17,4). Darüber hinaus sind jüdische Gebräuche, Sabbat, Gebetsrichtung nach Jerusalem und Beschneidung einzuhalten (Hippolyt, ref. IX,14,1; Epiphanius. pan. 19,3,5f). Zum judenchristlichen Habitus trägt der durch Origenes den Elkesaiten zugeschriebene Antipaulinismus bei (Eusebius, h.e. VI,38). Auf apokalyptischen Hintergrund deutet die Ankündigung eines nahe bevorstehenden Krieges zwischen den Engeln des Nordens, der alle Reiche der Gottlosigkeit erschüttern wird (Hippolyt, ref. IX,16,4). Sprachliche Beobachtungen, auch das Motiv vom Gestaltwandel des Christus, Schriftkritik, Geheimhaltungsgebot und eine magische Formel weisen auf gnostische Zusammenhänge. Zum synkretistischen Gepräge tragen astrologische und volkstümliche Überlieferungen bei. Das Judenchristentum des Elkesai ist noch im Schrifttum der Mitte des 10. Jh. nachweisbar; es hat sich bis in das Gebiet des unteren Euphrat und Tigris und bis nach Rom ausgedehnt. Daß das Judenchristentum des 2. Jh. ein komplexes Gebilde ist, dokumentieren die seit dem Ende des 2. Jh. bis in das 14. Jh. überlieferten Fragmente von zwei (so A. Schmidtke) oder wahrscheinlicher drei judenchristlichen Evangelien, die um die Mitte des 2. Jh. entstanden sind (s. TRE 3,327-330). Die frühchristliche Häresiologie hat das Judenchristentum als Gegenstand der Ketzerbekämpfung verhältnismäßig spät entdeckt. -»Justin wendet sich in seinem Syntagma gegen alle Häresien gegen Gnostiker und Markioniten, jedoch stimmt mit seiner grundsätzlichen Offenheit (s.o. 1.1) überein, daß in diesem Werk Judenchristen nicht bekämpft wurden. Gleiches gilt für die um 180 verfaßten 5 Bücher Hypomnemata des —>Hegesipp, eines aus dem Osten stammenden Christen jüdischer Herkunft, der sich unter dem Papst Anicetus (154-166) in Rom aufhielt. 7. Judenchristentum

seit dem Beginn des 3.

Jahrhunderts

Erst Irenaus, Bischof von Lyon, eröffnet gegen Ende des 2. Jh. die häresiologische Schematisierung des Judenchristentums, das er in Adversus haereses im Kontext der Häretiker Kerinth, Kerdon, Markion und der Nikolaiten bekämpft. Danach haben die „Ebionäer" eine natürliche Christologie, die in der von ihnen vertretenen Lesart vsäviQ zu Jes 7,14 (gegen L X X : napMvOQ) zum Ausdruck kommt. Sie verwenden nur das Evangelium nach Matthäus, besitzen eine eigentümliche Prophetenauslegung und Eucharistiefei-

Judenchristentum

321

er, lassen sich beschneiden, b e o b a c h t e n a u c h im übrigen das jüdische Gesetz und halten den Apostel Paulus für einen Gesetzesabtrünnigen (1,26,2; 111,21,1; V , l , 3 ) . Diese Darstellung setzt —»Hippolyt von Rom in seiner Refutatio omnium haeresium voraus ( V I I , 3 4 ) . Das im Westen geschaffene häresiologische S c h e m a hat sich gegenüber dem O s t e n nur allmählich durchsetzen k ö n n e n , da hier die Ketzerbestreiter das J u d e n c h r i s t e n t u m aus eigener A n s c h a u u n g kennengelernt hatten. So bezeugt ->Origenes für die erste H ä l f t e des 3. J h . die K o m p l e x i t ä t des J u d e n c h r i s t e n t u m s , da er sowohl J u d e n c h r i s t e n k e n n t , die die natürliche G e b u r t J e s u , als a u c h andere, welche die J u n g f r a u e n g e b u r t a n e r k a n n t e n (c. Cels. V,61); er zeigt sich auch über ihre w ö r t l i c h e , d . h . gesetzliche Bibelauslegung und ihre Passafeier unterrichtet (In M t . 11,12; In M t . ser. 79) und weiß, d a ß die judenchristliche Ablehnung des Paulus „bis h e u t e " Gültigkeit hat (hom. in J e r . 19,12). Auch - > E u s e bius von Caesarea verfügt über eigene Anschauungen (vgl. h . e . 111,27,5 [ s . o . 1.1] und o n o m . 1 7 2 , 1 - 3 [ s . o . 6]). D u r c h einen langjährigen Palästinaaufenthalt hatte -*Hieronymus Gelegenheit, N a c h r i c h t e n über J u d e n c h r i s t e n zu s a m m e l n . E r ist nicht nur über judenchristliche Evangelien i n f o r m i e r t , sondern kennt auch die P r o b l e m a t i k eines J u d e n christentums zwischen Synagoge und K i r c h e : „ D a sie J u d e n und Christen sein w o l l e n , sind sie weder J u d e n n o c h C h r i s t e n " , und er berichtet, d a ß die E b i o n i t e n unter dem N a m e n „ M i n a e i " bzw. „ N a z a r a e i " „bis heute in allen Synagogen des O s t e n s unter den J u d e n " verflucht werden (ep. 1 1 2 , 1 3 ; In J e s . 5 , 1 8 f und 5 2 , 4 - 6 ) . Es ist freilich fraglich, ob mit den minim ursprünglich Judenchristen oder nicht vielmehr Juden bezeichnet wurden. In jüdischen Texten werden sie als Ketzer gebrandmarkt, weil sie Elohim im Sinn von mehreren Göttern verstanden (BerR 1,4.7), die Tora und den Tempel ablehnten und nicht an die Auferstehung des Leibes glaubten. Da sie nicht im Zusammenhang mit Jesus genannt werden, spricht „alles für die vorchristliche und nichts für eine christliche Provenienz der Minäer" (Friedländer 104; auch Hoennicke 398; anders Herford 381; Schoeps 318). Eine eindeutige Definition der Minäer (Rudolph, Stand 527: „vorchristliche gnostische Richtung im sektiererischen Judentum"; Maier 141: „Synkretistisch-assimilatorisch orientierte Juden") stößt auf Schwierigkeiten, da sich der Begriff im Laufe der Geschichte mit unterschiedlichem Inhalt füllte. Bezog er sich in der Birkat ha minim vermutlich noch ausschließlich auf Juden (-»Bann II.3), so hat ihn Hieronymus jedenfalls auf Judenchristen bezogen. -»Epiphanius bringt in seinem in den J a h r e n 3 7 4 - 3 7 7 verfaßten Panarion (auch haereses genannt) in mehreren Kapiteln N a c h r i c h t e n über J u d e n c h r i s t e n (c. 18: N a s a r ä e r , c. 19: O s s ä e r und E l k e s a i t e n , c. 2 9 : N a z o r ä e r , c . 3 0 : E b i o n ä e r , c. 5 3 : Sampsäer). H i e r b e i schöpft er aus eigener A n s c h a u u n g und aus zum Teil u n b e k a n n t e n Schriften. Allerdings werden die benutzten Q u e l l e n ( A n a b a t h m o i Jakobou, Periodoi Petrou [ = pseudoklementinische G r u n d s c h r i f t ] , Buch des Elkesai) höchst willkürlich ausgewertet, teilweise sind sie wie die pseudoklementinischen B r i e f e De virginitate nicht judenchristlicher H e r kunft. Z u R e c h t bezeichnete S c h w a r t z die Schriftstellerei des Epiphanius als eine „ L e s e f r u c h t " (154; vgl. K o c h 2 6 0 f f . 3 0 9 f f ) . D i e in der ersten H ä l f t e des 3 . J h . in Syrien geschriebene Didaskalia der Apostel will zwar die „ k a t h o l i s c h e , heilige v o l l k o m m e n e K i r c h e " repräsentieren (Achelis/Fleming 4 4 , 3 1 ) , aber zugleich besteht ein offenes Verhältnis zum J u d e n t u m . V o r allem befindet sich der Verfasser in Auseinandersetzung mit den „lieben B r ü d e r n " , die „ a u s dem (jüdischen) Volk gläubig geworden s i n d " ( 1 3 5 , 3 6 - 1 3 6 , 2 ; anders van U n n i k ) . B e o b a c h t e n diese die jüdischen R e i n h e i t s v o r s c h r i f t e n , Reinigungswaschungen, S a b b a t und Beschneidung ( 1 2 1 f . l 3 6 f f ) , so wird ihnen gegenüber die L e h r e von der „ W i e d e r h o l u n g des G e s e t z e s " entfaltet, w o n a c h die Z e r e m o n i a l g e b o t e , veranlaßt durch den A b f a l l der W ü s t e n g e n e r a tion, dem D e k a l o g später hinzugefügt worden seien ( 1 2 8 , 2 0 f f ) . Insbesondere wird die B e o b a c h t u n g der Fasten- und Passazeit a u f die judenchristlichen Brüder zurückgeführt ( 1 1 0 , 2 0 f f ) . Diese gehören nicht der G e m e i n d e des Verfassers an, a b e r sind in dessen U m g e b u n g von g r o ß e m Einfluß, so d a ß sich nahelegt, d a ß sie in diesem Teil Syriens eine beherrschende Position e i n g e n o m m e n h a b e n (vgl. Strecker, P r o b l e m 2 6 0 ) . J u d e n c h r i s t l i c h e T r a d i t i o n e n sind aus dem unter dem N a m e n des - » C l e m e n s von

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Rom geschriebenen christlichen Wiedererkennungsroman (Fseudoklementinen) zu erheben. Dieser liegt in einer griechischen (H = Homilien) und einer lateinischen (R = Rekognitionen) Fassung vor, die beide auf eine gemeinsame Grundschrift (G) zurückgehen. Zu den Quellen, die dem Grundschriftverfasser als einem „Kompilator großen Stils" vorgelegen haben, gehören zwei judenchristliche Schriften: Die Anabathmoi Jakobou (AJ II) in R 1,33-71 enthalten einen heilsgeschichtlichen Abriß von Abraham bis zur Gemeinde in Jerusalem und Diskussionen zwischen jüdischen Parteien und den 12 Aposteln unter Leitung des Bischofs Jakobus (anders Lüdemann 11,240, wonach die Sektendiskussion in 5 5 - 6 5 nicht der Quelle angehörte; dazu jedoch Stötzel 28). Sie endet mit dem Auftreten eines „feindlichen Menschen" (Paulus), der das Volk aufhetzt und Jakobus von den Stufen des Tempels herabstürzt. Aus dem Vergleich mit den von Epiphanius bezeugten Anabathmoi des Jakobus (AJ I) ist eine gemeinsame Grundlage (AJ) zu erschließen (pan. 30,16,6-9). Der Verfasser benutzte einige Schriften des neutestamentlichen Kanons (neben M t und Lk besonders Act) und legte das Alte Testament christologisch aus. Universalistische und kultkritische Elemente verbinden sich mit der positiven Bewertung von Beschneidung und Reinheitsgesetzgebung (R 1,33,5) und der Verehrung des Jerusalemer Bischofs Jakobus. Auch wegen ihres Antipaulinismus handelt es sich um eine judenchristliche Schrift. Als ältestes Zeugnis für die Pellatradition (R 1,37,2; 39,3) ist sie nicht vor der zweiten Hälfte des 2. Jh., aber vor der Abfassung der pseudoklementinischen Grundschrift spätestens im 3. Jh. in oder bei Pella entstanden. Eine andere Quellenschrift der pseudoklementinischen Grundschrift sind die Kerygmata Petrou {KIT), die durch die Einleitungsschreiben Epistula Petri (Ep.P.) und Contestatio (Cont.) ursprünglich eingeführt wurden. Hier trägt „Petrus" über den Gestaltwandel des wahren Propheten vor, der am Anfang der Welt auftrat, bis er sich in Jesus als der Künder der „gesetzlichen Gnosis" offenbarte. Seine Gegenspielerin ist die weibliche Prophetie, die seit Eva ihre Anhänger in Irrtum und Tod führt. Weiter wird von gefälschten Perikopen berichtet, die bei der Abfassung des Pentateuch eingearbeitet wurden und anthropomorphe und polytheistische Gottesaussagen, die Empfehlung von Opfer- und Tempelkult und des Königtums zum Gegenstand haben. Von zentraler Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit Paulus, der in der Grundschrift mit Simon Magus identifiziert wird, ferner die Lehre von der Taufe, die durch lebendiges Wasser Gottebenbildlichkeit verleiht und gute Werke verlangt. Auch die Forderungen des jüdischen Reinheitsgesetzes kennzeichnen dieses Judenchristentum, das zu Anfang des 3. Jh. im griechischsprachigen Syrien ansässig und gegenüber den Entwicklungen der Großkirche wie auch gegenüber Judentum und Gnosis aufgeschlossen war. Die einer verzweigten -»Gnosis zugehörenden ->Nag Hammadi Codices sind insgesamt nicht als judenchristlich zu bezeichnen. Dennoch legt sich zu nicht wenigen Schriften die Vermutung nahe, daß sie judenchristliche Überlieferungen voraussetzen. So zu den unter dem Namen des Herrenbruders Jakobus überlieferten Schriften, in denen die Erscheinung des Auferstandenen vor Jakobus (NHC V/3,31,2ff; 42,19) erzählt und Jakobus als „der Gerechte" bezeichnet wird (NHC V/4,44,13 f; V/3,32,2 f). Dabei zeigt die II Apk. Jac. eine besondere Nähe zum Jakobusmartyrium (auch zu den AJ; s.o.), ohne daß hiermit eine spezifisch judenchristliche Theologie verbunden ist, während zu der I Apk. Jac. Parallelen zur pseudoklementinischen Vorstellung vom wahren Propheten vermutet werden konnten (Böhlig, Hintergrund 103 f). Schwerlich lassen sich für die Epjac, als deren ursprünglicher Adressat der Gnostiker Kerinth angesehen wurde (Kirchner 109-115), judenchristliche Elemente nachweisen. Judenchristliche „Substrate" werden auch für die unter dem Namen des Petrus tradierten Schriften behauptet. Zwar sind aus den ActPetr (NHC VI/1), in denen gnostische und neutestamentliche Inhalte miteinander verbunden sind, genuin-judenchristliche Elemente nicht zu erheben, wohl aber wird zu ApkPetr (NHC VII/3), die durch eine doketische Christologie geprägt ist, aufgrund der an Petrus gebundenen apostolischen Tradition

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und einer m ö g l i c h e n antipaulinischen Aussage ( N H C V I I , 7 4 , 1 8 ) v e r m u t e t , d a ß es sich u m das P r o d u k t eines „gnostifizierenden J u d e n c h r i s t e n t u m s " handelt (Schenke 2 7 7 ) . Selbstverständlich läßt die Vereinigung von sethianischer G n o s i s und J u d e n t u m (Apk. Ad.: N H C V / 5 ; 2 L o g . Seth.: N H C V I I / 2 ) einen S c h l u ß a u f judenchristlichen H i n t e r g r u n d nicht zu. A b e r auch die T h e s e n , das T h o m a s e v a n g e l i u m ( N H C II/2) setze eine u n k a n o n i sche, judenchristliche Evangelienüberlieferung v o r a u s (G. Quispel; J . van A m e r s f o o r t ) oder die Schrift ohne Titel ( N H C II/5) h a b e neben i h r e m m a n i c h ä i s c h e n C h a r a k t e r eine an den Anspielungen auf das N e u e T e s t a m e n t e r k e n n b a r e judenchristliche G r u n d l a g e (Böhlig, Schrift 1 2 5 ) , bedürfen n o c h einer genaueren Verifizierung. D a ß das J u d e n c h r i s t e n t u m a u c h in der Z e i t einer etablierten G r o ß k i r c h e eine nicht geringe Bedeutung g e h a b t h a t , l ä ß t sich aus der weitverzweigten literarischen Bezeugung belegen. Auch w e n n für den —fMandäismus direkte Verbindungslinien zu judenchristlichen T a u f s e k t e n nicht sicher nachzuweisen sind, so ist doch eine „ W u r z e l v e r w a n d t s c h a f t " zu k o n s t a t i e r e n ( R u d o l p h , M a n d ä e r I , 8 0 f f . l l 8 . 2 3 3 f f ) . D a ß der — > M a n i c h ä i s m u s in A n l e h n u n g und Auseinandersetzung mit dem E l k e s a i t i s m u s entstanden ist, ergibt sich aus einer N o t i z des arabischen B i b l i o g r a p h e n I b n a n - N a d i m ( 9 8 7 / 9 8 8 n. C h r . ) und durch den neu erschlossenen Kölner M a n i c o d e x ( P a p . C o l o n . 4 7 8 0 ; vgl. H e n r i c h s / K o e n e n ; anders Luttikhuizen). N i c h t b e s t r e i t b a r ist endlich, d a ß der ->Islam n i c h t nur jüdischen und christlichen, sondern auch judenchristlichen E i n w i r k u n g e n gegenüber offen stand, a u c h wenn es sich hierbei um ein weitgehend n o c h unbearbeitetes F o r s c h u n g s g e b i e t handelt. 8.

Ausblick

In der Universalität seines Erscheinungsbildes, das nicht nur in der frühchristlichen Z e i t , sondern bis in die G e g e n w a r t sich vielfältig k o n k r e t i s i e r t h a t , zeigt sich das J u d e n christentum als Bindeglied zwischen S y n a g o g e und K i r c h e . G e g e n ü b e r der S y n a g o g e bezeugt es, d a ß durch das Christusgeschehen die Väterverheißungen erschlossen werden und der im Alten T e s t a m e n t g e o f f e n b a r t e G o t t e s w i l l e sich verwirklicht. G e g e n ü b e r der K i r c h e bringt es das jüdische E r b e zur G e l t u n g und repräsentiert den bleibenden Anspruch Israels. S o wenig J u d e n c h r i s t e n t u m mit einer . n a t ü r l i c h e n ' ebionitischen C h r i s t o logie identifiziert werden d a r f , so sehr k a n n es durch die R ü c k w e n d u n g zu den historischen G r u n d l a g e n des christlichen G l a u b e n s die g r o ß k i r c h l i c h e o d e r a u ß e r k i r c h l i c h e N e i gung zu D o k e t i s m u s und Spiritualisierung begrenzen helfen. Literatur Zu 1.: Bellarmino Bagatti, L'Église de la circoncision, 1965 (PSBF.Mi 2). - Jean Daniélou, Théologie du Judéo-Christianisme, Tournai 1958 (BT.HD 1). - Albertus F.J. Klijn/Gerrit J . Reinink, Patristic Evidence for Jewish-Christian Sects, 1973 (NT.S 36). - Robert A. Kraft, In Search of Jewish Christianity' and its ,Theology': R S R 60 (1972) 8 1 - 9 2 . - Bruce J . Malina, Jewish Christianity or Christian Judaism. Toward a Hypothetical Definition: J S J 7 (1976) 4 6 - 5 7 . - Ignazio Mancini, L'archéologie judéochrétienne, 1977 (SBF.CMi 10). - Frédéric Manns, Bibliographie du Judéo-Christianisme, 1979 (SBFA 13). - Ulrich B. Müller, Zur frühchristl. Theologiegesch., Gütersloh 1976. Joseph Moingt u. a. (Hg.), Judéo-christianisme. FS J . Daniélou, 1972 (RSR 60). - Antonio Orbe, Une théologie du judéo-christianisme: RSR 47 (1959) 5 4 4 - 5 4 9 . - Stanley K. Riegel, Jewish Christianity. Définitions and Terminology: N T S 24 (1977/78) 4 1 0 - 4 1 5 . - Georg Strecker, Art. Ebioniten: R A C 4 (1959) 4 8 7 - 5 0 0 . - Ders., Judenchristentum u. Gnosis: K.W. Tröger (Hg.), AT-Frühjudentum-Gnosis, Gütersloh 1980,261 - 2 8 2 . - Emanuele Testa, II simbolismo dei Giudeo-Cristiani, 1963 (PSBF.Ma 14). - Ders., La grande Chiesa e le minotanze Giudeocristiane nell'ultimo scorcio del IV sec., 1978 (SBFLA 28), 2 4 - 5 4 . Zu 2.: Ernst Bammel, Art. nim/ÔQ: T h W N T 6 (1959) 8 8 5 - 9 1 5 . - Günther Baumbach, Die Anfänge der Kirchwerdung im Urchristentum: Kairos 24 (1982) 1 7 - 3 0 . - Walter Bauer, Das Apostelbild in der altchristlichen Uberlieferung: E. Hennecke/W. Schneemelcher, N T A p o 4 2 , 1 9 7 1 , 1 1 - 4 1 . — Herbert Braun, Qumran u. das N T II, Tübingen 1966. - Raymond E. Brown/Karl P. Donfried/John Reumann (Hg.), Der Petrus der Bibel, Stuttgart 1976. - Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich/Stuttgart 3 1963. - Hans Conzelmann, Gesch. des Urchristentums, 4 1978 (GNT 5). - Oscar Cullmann, Petrus, Jünger-Apostel-Märtyrer, Zürich 1952. - Paul Gaechter, Petrus u. seine Zeit, Innsbruck 1958. - Leonhard Goppelt, Christentum u. Judentum im 1.

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Judenmission

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1. Die Stellung der Reformatoren

zu den

Juden

1.1. M. ->Luther begegnete den Juden als dem Volk der Bibel in einer für seine Zeit neuen Offenheit. E r lud sie ein, die im Evangelium gegebene Freiheit anzunehmen. Gerade ihnen als den Vettern, den Brüdern Jesu gelte sie (Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei, 1523, W A 11, 3 1 4 - 3 3 6 ) . Von der Grunderfahrung seiner Theologie aus sah Luther

Judenmission

326

den Juden die Gefangenen des -»Gesetzes, von dem sie befreit werden müßten - auch um der Christenheit willen; wie die „Papisten" seien auch sie eine Versuchung und Warnung für die Christenheit. Es sei höchste Zeit, daß sich die Juden der Kirche als dem wahren Israel anschlössen, denn „der Tag ist nahe", das Kommen des Gottesreiches darf durch die halsstarrigen Juden nicht aufgehalten werden! Immer mehr verstärkte sich bei Luther der Eindruck, daß die Juden diesen Schritt der Bekehrung zu Christus nicht tun wollten (Von den Juden und ihren Lügen, 1543, WA 53, 417-552). Er zog daraus den Schluß, daß sie Christus haßten. Sie seien verstockte Lügner und Christusmörder, weil sie durch ihr abweisendes Verhalten den Gottessohn täglich kreuzigten. Trotzdem blieb Luther dabei, daß nicht das ganze Israel verworfen sei. Einem Rest sei das Heil gewiß, sofern er Christus als Herrn annehmen würde. Solange die Juden dazu nicht bereit seien, treffe sie das Unheil, unter dem sie zu leiden hätten, aus eigener Schuld. Wollten sie sich nicht bekehren, seien sie „mit scharfer Barmherzigkeit" zu behandeln (WA 53, 522,35). 1.2. ]. -*Calvin zog zwischen dem biblischen Volk Israel und dem zeitgenössischen Judentum einen scharfen Trennungsstrich. Gottes Bund mit seinem Volk sei - so Calvin ungekündigt; das Judentum habe sich aber aus diesem Bunde selber ausgeschlossen, weil es den bereits im alten Bund präsenten Christus nicht anerkenne. Das Alte Testament weise über sich hinaus in die Zukunft. Auch im Alten Testament gelte die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Israel seien die gleichen Bundeszeichen („Sakramente") gegeben wie der christlichen Kirche. Die Väter hatten das Wort Gottes; damit hatten sie auch das ewige Leben. Denn Gott gab ihnen die Gemeinschaft mit ihm. Das aber gelte nicht mehr für die Juden der Gegenwart, die — da sie Christus nicht als ihren Herrn annähmen und sich nach wie vor gegenüber den Heiden (den Nichtjuden) abgrenzten — an dem sie treffenden Gerichtshandeln Gottes selber schuld seien. Allerdings dürfe man sie deshalb nicht verachten. Um „der Verheißung willen [bleibt] Gottes Segen immer noch unter ihnen" (J. Calvin, Institutio IV, 16,14). 1.3. Andere Reformatoren. Unter dem Aspekt einer „Theologie des Geistes" bei M. -»Bucer oder einer „Theologie des Bundes" bei J. -»Coccejus blieben die Juden - sofern man sich überhaupt mit ihnen befaßte - für die Kirchen der Reformation von Bedeutung, sei es auch nur als „Stachel im Gewissen". Literarisch wurde um sie geworben. Zu nennen wären hier Konrad Pellicanus (-»Zürich), Sebastian -»Münster, Johann Buxtorf (--»Basel), Urbanus -»Rhegius, Johannes Draconites (-»Rostock), Emmanuel Tremellius, Caspar Güttel in Eisleben u . a . m . Das Interesse an den Juden war geweckt. Es führte in vielen Einzelfällen zu persönlichen Beziehungen zwischen Christen und Juden und zu einer neuen, allerdings eindeutig „missionarisch" bestimmten Bereitschaft von Christen, das Judentum in seinem Glauben und Denken näher kennenzulernen. Die allgemeine Lage der Juden veränderte sich dadurch nicht. Sie blieben auch unter dem Einfluß der Reformation die geduldeten, oft genug bedrängten Außenseiter, denen als Weg zur Veränderung ihrer Situation immer nur die Bekehrung zu Christus, ihre Integrierung in die Kirche und der Verzicht auf ihr Jude-Sein zugemutet wurden. Trotzdem kam es zum Übertritt und zur Taufe von Juden, nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen, sondern oft auch aus wirklicher Glaubensüberzeugung. In gleicher Weise ist es immer wieder zu Ubertritten von Christen zum Judentum gekommen. 2. Das 17.

Jahrhundert

Als sich in Weiterführung reformatorischer Theologie die theologische Gelehrsamkeit des 17. Jh. wissenschaftlich-literarisch mit dem Judentum zu beschäftigen begann, geschah dies unter ganz bestimmten Denkvoraussetzungen: Ausgehend von der als unumstößlich geltenden Heilslehre der reformatorischen Christenheit, wurde in gründlicher wissenschaftlicher Arbeit nach Wegen gesucht, die Juden zur Anerkennung dieser Heilslehre zu bringen. Das führte zu einer umfangreichen apologetischen Kontrovers-Literatur (-»Judentum und Christentum). Universitäten wie -»Leipzig, -»Wittenberg, -»Straßburg, -»Basel, -»Altdorf, später besonders auch -»Halle und -»Helmstedt beschäftigten

Judenmission

327

sich jahrzehntelang mit rabbinischer Theologie, mit Talmud- und hebräischen Sprachstudien und arbeiteten darin häufig mit jüdischen Gelehrten zusammen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Esdras Edzard (Hamburg) und Johann Christoph Wagenseil (Altdorf). Esdras Edzard ( 1 6 2 9 - 1 7 0 8 ) , entscheidend durch J o h a n n B u x t o r f und durch den H a m b u r g e r Rabbiner David Cohen de L a r a geprägt, gründete in H a m b u r g ein Proselytenhilfswerk. Sein H a u s stand Juden offen, die, bewegt durch die messianischen Wirren um Sabbatai Zwi (—»Sabbatianismus), zu ihm kamen und nach Wegweisung verlangten. Edzard nahm im Verlauf seiner Wirksamkeit als Prediger und Lehrer einige hundert von ihnen in die christliche Kirche auf und unterstützte sie. Philipp J a k o b —»Spener schickte Schüler zu ihm nach H a m b u r g ; unter ihnen w a r auch August H e r m a n n - » F r a n c k e . Die Edzardsche Hilfskasse, die über beachtliche Einnahmen aus Schenkungen reicher H a m b u r g e r Bürger verfügen konnte, ging später in die Verwaltung des H a m b u r g e r Senats über. Sie unterstützte im 19. Jh. neu entstehende Judenmissionsgesellschaften, unter ihnen besonders den 1843 in Köln entstandenen Kheinisch-Westphälischen Verein für Israel in einer schwierigen Notlage.

3.Beginn der protestantischen

Judenmission

im 18.

Jahrhundert

3.1. Mit Johann Christoph Wagenseil (1633-1705) beginnt die eigentliche protestantische Judenmission. Die Bedeutung, die dem Freiherrn Justinian von Welz (1621-1668) für den Bereich der Heidenmission zukommt (—»Mission), ist auch Wagenseil zuzumessen. Wagenseil, Professor an der Universität -> Altdorf, setzte sich in seinen Veröffentlichungen dafür ein, daß die Christen alle Hinderungen aus dem Wege räumen sollten, die den Juden die Hinwendung zu Christus erschwerten, vor allem das den Juden anstößigunchristliche Leben der Christenheit. Nur wenn die Juden an den Christen die Glaubwürdigkeit ihres Redens und Lebens erkennen könnten, würden sie den Weg zu Christus finden. Daher sollte jedermann, vor allem die Obrigkeiten, alles tun, um die Juden durch das Vorbild eines gottgefälligen Lebens zum Glauben an Christus zu reizen. Dazu solle man versuchen, die Juden wirklich kennenzulernen, ihre Sprache zu sprechen, ihre Bücher zu studieren und vor allem junge Männer auszubilden, die den Juden in Liebe und Geduld den Weg zu Christus zeigen könnten. Wagenseil mühte sich um freundschaftliche Verbindung zu jüdischen Gelehrten. Bedeutsam wurde seine Korrespondenz mit dem Amsterdamer Gelehrten Menasse Ben Israel (1604-1657), dessen Kontakt zu Oliver —>-Cromwell den Juden die erneute Niederlassung in England ermöglichte, von wo sie um 1300 vertrieben worden waren. 3.2. Hallesche Mission. Von Wagenseils Büchern angeregt und durch Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke (-»Pietismus) geistlich geprägt, begann Johann Heinrich Callenberg (1694-1760) in Halle mit seinen Freunden Johannes Müller und Immanuel Frommann mit der Verkündigung („Mission") und Hilfe (Proselytenpflege, „Diakonie") für die Juden. 1728 entstand aus ihrer Zusammenarbeit in Halle das lnstitutum Judaicum mit der Zielsetzung, die jüdische Religion zu erforschen, Literatur über sie und über Jesus, den Messias der Juden, zu veröffentlichen - dazu gründete man eine eigene Druckerei - und den Juden durch Sendboten („reisende studiosi") das Evangelium zu bezeugen. Bis zur Aufhebung 1792 durch die preußische Regierung schickte das Institut mehr als 20 Missionare zu den Juden aus. Sie reisten durch viele Länder Europas und auch im Vorderen Orient. Besonders zu nennen sind die Missionare Manitius, Widmann, Schultz, Woltersdorf, Tychsen und Burgmann. Ein großer Freundeskreis bis nach Italien, England, Polen, Lettland, Estland, Skandinavien, Ungarn, Moskau und sogar Sibirien wurde regelmäßig mit Schrifttum versorgt. Die Zahl der Taufen blieb gering. Statistisch gesehen hatte diese Judenmission nicht viel Erfolg. Bei manchen Gelegenheiten entstand indessen eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens, die zwischen Christen und Juden so nicht üblich gewesen war. Die geleistete diakonische Hilfe für notleidende Juden konnte zwar nicht mehr als eine Almosenhilfe sein, aber sie wirkte oft als ein respektiertes Zeichen für die Redlichkeit und Glaubwürdigkeit dieses Dienstes. Kernpunkt der Gespräche mit Juden war immer wieder die Frage nach der Messianität Jesu. Ihr war durchweg

328

Judenmission

auch das Schrifttum des Instituts gewidmet. Vielfach weckte die Tätigkeit des Halleschen Institutum Judaicum auch bei Pfarrern ein neues Interesse an Israel. Der große Freundeskreis — die Korrespondenzen mit ihm sind erhalten geblieben — läßt erkennen, wie unter dem Dialog mit dem Judentum konfessionelle Trennungen der Christenheit durchlässig werden; Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Methodisten, Pietisten wie Orthodoxe, in Einzelfällen selbst Katholiken waren mit dem Institut eng verbunden. 3.3. Neben der Halleschen Missionsarbeit gab es im 18. Jh. auch anderswo ähnliche Aktivitäten, so die Proselytenanstalt des Johann Philipp Fresenius in Darmstadt (1738-1742), in der in wenigen Jahren mehr als 100 Juden auf die Taufe vorbereitet worden sind. Zu erwähnen ist der Versuch einer Judenmission durch die Herrnhuter Brüdergemeine (—»Brüderunität/Brüdergemeine). Graf -»Zinzendorf, in Halle bei A.H. Francke erzogen, war durch Callenbergs Institutum Judaicum für die Aufgabe des Dienstes an den Juden gewonnen worden. Er sandte Leonhard Dober (1706-1766) und Samuel Lieberkühn (1710-1777) nach Holland und Böhmen zu den dortigen Juden. Salomo Dober wirkte bis 1777 in Amsterdam; danach schlief die Arbeit wieder ein, während die Hamburger Edzard-Stiftung die Zeit des Rationalismus mit seinem Erlahmen des Missionsinteresses überdauerte. 4. Judenmission

in der

Neuzeit

4.1. —» Aufklärung, -»Rationalismus, -»Französische Revolution und die nachfolgenden Zeiten politischer Neuordnungen wirkten als dynamische Energie auf die neuen Selbstfindungs- und Emanzipierungsbestrebungen im europäischen -»Judentum (s. T R E 9, 537,1 ff). Trotz beginnender bürgerlicher Gleichberechtigung und religiöser Tolerierung (-»Toleranz) durch die Christenheit war allerdings die Zeit der Unterdrückungen und auch Pogrome (etwa in Rußland und Rumänien) für die Juden nicht vorüber; aber das Judentum suchte und fand wieder den Weg zu sich selbst (-»Zionismus), nicht ohne auf diesem Wege auch Zeiten eines inneren Zerfalls, von Spaltungen und den damit verbundenen Unsicherheiten durchzumachen. In den neuen evangelischen -»Erwekkungsbewegungen des 19. Jh. wurde diese innerjüdische Situation als eine zusätzliche Aufforderung zum missionarischen Dienst an den Juden angesehen. Damit beginnt die eigentliche Geschichte protestantischer Judenmission im 19. Jh., im „Missions-Jahrhundert". 4.2. Angeregt durch das Vorbild der Gemeinschaften erweckter Christen im 18. Jh. (Sozietäten, Konventikel, Vereine, englische Societies, Allianzen, Konferenzen), bildeten sich allenthalben Gesellschaften für den missionarischen Dienst an den Juden. Ihre und die Zahl ihrer „Hülfsvereine" ist so groß, daß nur die wichtigsten genannt werden können. Gemeinsam war ihnen jene Grundüberzeugung, die in der Theologie des Jonathan -»Edwards in seiner Schrift Humble Attempt von 1749 zum Ausdruck gekommen war: „Bis 1800 könnte in dem protestantischen Teile der Welt die wahre Religion die Oberhand gewonnen haben; im nächsten halben Jahrhundert müßte dann das papistische Reich des Antichristen überwältigt und in den darauf folgenden 5 0 Jahren die muhammedanische Welt unterworfen und die jüdische Nation bekehrt werden. Dann stünde noch ein ganzes Jahrhundert zur Verfügung, um die gesamte Heidenwelt in Afrika, Asien, Amerika und Australien zu erleuchten, zu Christus zu bekehren, ihr christlichen Gottesdienst und Kirchenverfassung zu geben und zugleich alle Reste der römischen Kirche und des Islams sowie alle Häresien, Schismen, Schwärmereien, Laster und I m m o ralitäten auf der ganzen Welt auszurotten; hernach werde die Welt die heilige R u h e des Sabbats genießen" (zit. nach Peter Kawerau, Amerika u. die orientalischen Kirchen, 1958 [AKG 31], 7 4 ) .

Vorreiter dieser Judenmissionsbewegung war das erweckte England. Schon im 18. Jh. hatten die Halleschen Sendboten Manitius und Widmann nach Zusammenarbeit mit der Londoner Society for Promoting Christian Knowledge gesucht (-»Methodismus; vgl. T R E 10,206,32ff). Daraus wurde nichts. Auch die methodistische Erweckungsbewegung konnte in den Erschütterungen am Ende des 18. Jh. nicht verhindern, daß in England das religiöse Leben mit seinem missionarischen Interesse erlahmte, zusätzlich belastet durch

Judenmission

329

die Entfremdung zwischen der englischen Staatskirche und den Dissenters (—»Kirche v o n England). Da kam 1801 der Proselyt Joseph Samuel Christian Frey nach London. Er war im Missionsseminar des Pastors Jänicke in Berlin ausgebildet worden (—•Brüderunität/ Brüdergemeine). 1808 gründete er als eine Abteilung der in L o n d o n entstandenen Heidenmissionsgesellschaft (—»Mission) die London Society for Promoting Christianity among the Jews, die sich ein Jahr später von der Muttergesellschaft löste und selbständig machte. In den Spannungen zwischen Episkopalen und Dissenters drohte die junge Missionsarbeit wieder zu erlahmen. D a wurde Lewis Way ( 1 7 7 2 - 1 8 4 0 ) ihr Retter. Er konnte großzügig finanziell helfen, den begonnenen Streit schlichten und auf Reisen durch den Kontinent Interesse für Israel und den missionarischen Dienst an den Juden wecken. Auf Grund seiner Initiativen entstand 1822 in Berlin die Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden. Die Pfingsten 1799 gegründete Elberfelder Missionsgesellschaft wurde durch ihre Verbindung mit Londoner Freunden zur Judenmission b e w o g e n . Lewis Way begründete auch die englische Palästinamission, stiftete in Malta eine Hilfsgesellschaft für die M i s s i o n im Orient und begann in L o n d o n mit der Ausbildung von Judenmissionaren. Diese Londoner Judenmission wurde der A n s t o ß für die große Judenmissionsbewegung in Europa während des 19. Jh., deren Aufgabe 1911 so beschrieben wurde: „ D i e Juden mit dem wahren Christentum vertraut zu machen, so daß sie aus Überzeugung der Religion Jesu Christi folgen" (K. Kunert, Kann ein Jude aus Überzeugung Christ werden?, Königsberg 1911, 22). 4.3. Missionsgesellschaften im 20. Jahrhundert. Im Jahre 1905 waren folgende Gesellschaften, jeweils verbunden mit Hilfsgesellschaften und -vereinen, für die Judenmission tätig (Gründungsjahre jeweils in Klammern): 4.3.1. In Großbritannien: The London Society for Promoting Christianity among(st) the Jews; The Jewish Mission of the Church of Scotland (gegründet 1840); The Jewish Mission of the Presbyterian Church in Ireland (1841); The British Society for the Propagation of the Gospel among the Jews (1842); The Jewish Mission of the Free Church of Scotland (1843); The Jewish Mission of the Presbyterian Church of England (1871); The Mildmay Mission to the Jews (1876); The East London Mission to the Jews (1878); The Barbican Mission to the Jews (1879); Hebrew Christian Testimony (1894); The Industrial Mission (1903). 1905 hatten diese Gesellschaften insgesamt 470 Missionskräfte an 146 Orten im Einsatz; in Deutschland bestanden zu der Zeit englische Stationen in Berlin, Leipzig, Wandsbeck, Hamburg, Königsberg und Tilsit. Zuvor hatte es diese englische Missionsarbeit auch in anderen Städten Deutschlands gegeben (Dresden, Hörstgen/Mörs, Posen, Detmold, Straßburg, Breslau, Neuwied, Köln, Krefeld, Danzig, Lippstadt, Dessau, Magdeburg, Halberstadt, Metz, Kreuznach, Frankfurt/Main, Frankfurt/Oder, Fürth, Nürnberg, Colmar, Mühlhausen/Elsaß, Heidelberg, Durlach, Karlsruhe, Memel; ferner in Warschau, Lublin, Lemberg, Krakau, Prag, Wien, Paris, Rotterdam). Schwerpunkte des Dienstes im Orient waren - außer Jerusalem und anderen Orten Palästinas - Marokko, Algerien, Tunis, die Türkei und Äthiopien (die Falaschamission). 4.3.2. In Deutschland: Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden (1822 in Berlin); Westdeutscher (früher Rheinisch-Westphälischer) Verein für Israel (1843 in Köln); Verein der Freunde Israels (1830 in Basel); Evangelisch-Lutherischer Zentralverein für die Mission unter Israel (1871 in Leipzig). Im Berichtsjahr 1905 hatten diese Gesellschaften 16 Missionskräfte auf 12 Arbeitsfeldern im Einsatz. 4.3.3. Übriges Europa und Amerika: Nederlandsche Vereeniging voor Israel (1861); Den Norske Israelmisjon (1844); Svenska Israelmissionen (1875); Danska Israelmissionen (1885); Finska Missionssällskapet; The Chicago Hebrew Mission (1887); New Covenant Mission to Jews and Gentiles (1898 in Pittsburg); Newark Christian Mission to the Jews (1904). Diese Missionen arbeiteten vor allem im Orient, im östlichen Europa (bis zum 2. Weltkrieg) und in den USA; die Zahl ihrer Missionskräfte lag bei rund 100. 5.

Ausblick

Z u einer nennenswerten Zusammenarbeit dieser Missionsgesellschaften ist es nicht g e k o m m e n , o b w o h l es unter dem Eindruck des wachsenden -*Antisemitismus gegen Ende des 19. Jh. Versuche dazu gab, z. B. auf den wiederholt stattgefundenen Konferenzen für die Judenmission; der Bestand des v o n Franz -»Delitzsch begründeten und geprägten Leipziger Institutum Judaicum konnte durch konkrete Vereinbarungen einiger Gesell-

330

Judenmission

Schäften gewahrt bleiben. Insgesamt aber blieb die protestantische Judenmission eine Sache von einzelnen und ihren jeweiligen Freundeskreisen, die um ihren Rückhalt in den Kirchen immer neu zu kämpfen hatten. Das gilt für alle hier genannten Länder, wurde allerdings in Deutschland besonders spürbar, als die Juden im 20. J h . immer mehr auf die ihnen durch den deutschen Nationalsozialismus bereitete Katastrophe zugedrängt wurden, ohne daß die Christenheit in Deutschland dies verhinderte. Um der historischen Wahrheit und der bleibenden Verantwortung der christlichen Kirchen willen muß deutlich gesagt werden: Jene Katastrophe wurde nur darum möglich, weil sie auch geistlichtheologisch durch den christlichen Antijudaismus auf Kanzeln und Kathedern und im Gefolge davon im Denken der deutschen Bevölkerung längst vorbereitet war. Was in der Zeit der Judenverfolgung die Mitarbeiter der deutschen und ausländischen (vor allem der schwedischen) Judenmission helfend taten und erduldeten, verdient bleibende Bewunderung. Nur zaghaft begann nach 1945 erneut der Dienst der Judenmission, allerdings unter neuen theologischen Perspektiven. Vor allem im deutschen Protestantismus kam es zu einer deutlichen, wenn auch keineswegs schon umfassenden Neuorientierung. Nach jahrelanger Vorbereitung in verschiedenen Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland erklärte als erste Landeskirche die Synode der Evangelischen Kirche im -»Rheinland im Januar 1980: „Wir glauben, daß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen k a n n " (Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Handreichung für Mitglieder der Landessynode, Düsseldorf 2 1 9 8 5 , 10). Jede Form der Judenmission hat „nach Auschwitz" zutiefst um die Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses von Jesus Christus zu ringen. Sie ist nicht mehr möglich, ohne sich dem Lernprozeß des christlichjüdischen Dialogs (-»Judentum und Christentum) zu stellen und den überkommenen christlich-theologischen Antijudaismus radikal zu korrigieren. Wo aber die biblische Erfahrung gilt, daß „der Geist weht, wo er will" (Joh 3,8), da kann solcher Dienst ein Beitrag zum Neuanfang für Christen und Juden werden. Literatur Arbeitsbuch Christen u. Juden. Zur Stud. des Rates der EKD. Mit einem Vorwort des Vorsitzenden des Rates der EKD, im Auftrag der Studienkommission Kirche u. Judentum hg. v. Rolf Rendtorff, Gütersloh 2 1980. - Paul Gerhard Aring, Christi. Judenmission. Ihre Gesch. u. Problematik darg. u. unters, am Beispiel des ev. Rheinlandes. Eine Unters, im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Gesch. u. Religion des Judentums" an der Universität Duisburg - Gesamthochschule - . Mit einem Vorwort v. Eberhard Bethge, Neukirchen-Vluyn 1980 (Forsch, zum jüd.-christl. Dialog 4) (Lit.).-Ders., Christen u. Juden h e u t e - u . die „Judenmission"? Gesch. u.Theol. prot. Judenmission in Deutschland, darg. u. unters, am Beispiel des Protestantismus im mittleren Deutschland, Frankfurt 1987. - Arnulf H. Baumann (Hg.), Was jeder vom Judentum wissen muß, Gütersloh 1983. Ders./Käte Mahn/Magne Saebe (Hg.), Luthers Erben u. die Juden. Das Verhältnis luth. Kirchen Europas zu den Juden, Hannover 1984. - Christi. Zeugnis gegenüber den Juden, aus dem Engl, übers, v. Otto Dilger, Hamburg 1981 (EMW-Informationen 26 [1981]); Titel der Originalausgabe: Christian Witness to the Jewish People, Lausanne Occasional Papers Nr. 7, Report of the Consultation on World Evangelization, Pattaya/Thailand 1980. - Reinhard Dobert (Hg.), Zeugnis für Zion. FS zur 100-Jahrfeier des Ev.-Luth. Zentralvereins für Mission unter Israel e. V., Erlangen 1971. - Hb. Rel. Gemeinschaften. Freikirchen, Sondergemeinschaften, Sekten, Weltanschauungen, missionierende Religionen des Osten, Neureligionen, für den VELKD-Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften i.A. des Luth. Kirchenamtes hg. v. Horst Reiler/Manfred Kießig, Gütersloh 3 1985. - Kai KjaerHansen/Ole Chr. M . Kvarme, Messianische Juden. Judenchristen in Israel, Erlangen 1983 (Lit.). Heinz Kremers, Judenmission heute? Von der Judenmission zur brüderlichen Solidarität u. zum ökum. Dialog, Neukirchen-Vluyn 1979. - Ders./Erich Lubahn (Hg.), Mission an Israel in heilsgesch. Sicht, Neukirchen-Vluyn 1985. - Karl Heinrich Rengstorf/Siegfried v. Kortzfleisch (Hg.), Kirche u. Synagoge. Hb. zur Gesch. v. Christen u. Juden. Darst. mit Quellen, 2 Bde., Stuttgart, 11968, II 1970. Johann F.A. de le Roi, Die ev. Christenheit u. die Juden unter dem Gesichtspunkte der Mission gesch. betrachtet, 3 Bde., I Karlsruhe/Leipzig 1884, II Berlin 1891, III 1892 (Nachdr. Leipzig 1974). Ders., Die Mission der ev. Kirche an Israel, Gotha 1893. Paul G e r h a r d Aring

Judentum Judenrecht

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Judentum

Judentum 1. Aufgabe 2. Von Kyros zu den M a k k a b ä e r n ( 5 3 8 - 6 3 v. Chr.) 2.1. Die geschichtlichen Vorgänge bis zur Makkabäerzeit 2.2. Das literarische Schaffen in der vorhellenistischen Zeit 2.3. Die Makkabäerzeit im Uberblick 2.4. Die religiösen Institutionen 2.5. Die hellenistische Kultur Palästinas und der Diaspora 3. Die römische Periode (63 V . - 7 0 n . C h r . ) 3.1. Die geschichtlichen Vorgänge 3.2. Religiöse Gruppierungen in Palästina 3.3. Literatur zwischen Bibel und Mischna 4. Das rabbinische Judentum ( 7 0 - 1 0 3 8 n. Chr.) 4.1. Von J a v n e bis Bet Schearim 4.2. Die Zeit der A m o r ä e r in Palästina ( 2 2 0 - 4 2 8 n . C h r . ) 4.3. Die Zeit der A m o r ä e r in Babylonien ( 2 2 0 - 6 5 1 n.Chr.) 4.4. Das Zeitalter der Geonim ( 6 5 1 - 1 0 3 8 n.Chr.) 4.5. Auseinandersetzungen um die rabbinische Tradition 5. Das jüdische Mittelalter ( 1 1 . - 1 7 . Jh.) 5.1. Vorbemerkungen 5.2. Das sefardische Judentum ( 1 0 . - 1 3 . Jh.) 5.3. Das aschkenasische Judentum ( 1 0 . - 1 3 . Jh.) 5.4. Konflikte und Synthesen zwischen 13. und 16. Jh. 5.5. Krisen und Neuansätze der Tradition ( 1 6 . - 1 8 . Jh.) 5.6. Der Chasidismus in Osteuropa 6. Das moderne Judentum ( 1 7 . - 2 0 . Jh.) 6.1. Die neue Situation 6.2. Wege zur Erreichung der Emanzipation 6.3. Die Haskala in Zentraleuropa 6.4. Die „Wissenschaft des Judentums" als Beitrag zur Emanzipation 6.5. Religiöse Reformbewegungen 6.6. Moderner Antisemitismus 6.7. Der Zionismus 6.8. Die Haskala in Osteuropa 6.9. Entwicklungen in der Orthodoxie 6.10. Entwicklungen im Bereich der Religionsphilosophie 7. Das Judentum in der Welt von heute 7.1. Geschichtlicher Überblick 7.2. Das amerikanische Judentum 7 . 3 . Das Judentum in Israel 7.4. Das Judentum in der UdSSR 7.5. Das Judentum in der übrigen Welt (Literatur S. 370)

1.

Aufgabe

Eine historische Darstellung des Judentums hat wesentlich vom Selbstverständnis des Judentums als Volk in Relation zu Religion und Land auszugehen, die in je verschiedener Weise als die prägende und einigende Kraft gelten müssen. Dadurch wird es überhaupt erst möglich, die jüdische Geschichte aller Perioden als eine Einheit zu begreifen. Diese idealtypische Einheit hatte nur in gewissen frühen Phasen der Geschichte Israels direkten Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es ist wichtig zu beachten, daß schon auf dieser Stufe die Religion, mehr als andere Elemente (Sprache, ethnische Zugehörigkeit), die Volkszugehörigkeit bestimmte. Indem durch die Übernahme der Religion auch die Volkszugehörigkeit begründet werden konnte (vgl. Ruth), war der Eintritt ins Judentum als Proselyt unabhängig von ethnischen Gegebenheiten möglich. Als Jude gilt demnach auch im traditionell religiösen Verständnis nicht nur der von einer jüdischen Mutter Geborene (mKid 3,12; bKid 68 b), sondern auch der rechtmäßig ins Judentum Aufgenommene (bYev 47 a; bYev 25 b). Im Hinblick auf eine weniger durch die religiöse Komponente bestimmte jüdische Identität ist es hier angezeigt, den Begriff „Volk" allgemein und funktional zu beschreiben. Man kann darunter eine Summe von Individuen verstehen, die durch sozio-kulturelle Gemeinsamkeiten so verbunden sind, daß sie einander näher stehen als den Individuen einer andern ähnlichen Gruppe. Diese Nähe ist nicht automatisch durch bestehende Gemeinsamkeiten begründet, sondern wird erst dadurch geschichtsmächtig, daß sie von den Individuen, für die sie gilt, auch bejaht und gewollt wird. Dieser Volksbegriff steht dem der Kulturnation sehr nahe. Für die zionistische Bewegung liegt hier die Bedingung der Möglichkeit zur Gründung eines jüdischen Staates. Der Umstand freilich, daß es wesentlich der Faktor Religion ist, der es überhaupt ermöglicht, von einem jüdischen Volk bzw. einer jüdischen Kulturnation zu sprechen, erzeugt einen inneren spannungsgeladenen Widerspruch, dem sich ein moderner jüdischer Staat gegenübersieht, wenn er sich ohne Rückbezug auf die Religion säkularistisch definieren will. Sieht man von den sich damit für ein modernes Staatswesen ergebenden Problemen ab, so läßt sich jüdische Identität sehr wohl als soziokulturelles Phänomen beschreiben. Die überaus großen kulturellen Verschiedenheiten, die zwischen jenen Menschen bestehen, die sich zu sehr verschiedenen Zeiten und in geographisch weit auseinanderliegenden Gebieten als Juden verstanden und verstehen, wurden und werden nicht etwa durch gemeinsame rassische Merkmale, sondern vielmehr durch verschiedene konstante Elemente eines ge-

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meinsamen religio-kulturellen Erbes überbrückt, das als gesellschaftsgestaltende Kraft auch den eigentlichen Gegenstand einer Darstellung des Judentums bildet. Im Rahmen eines primär religiös bestimmten jüdischen Selbstverständnisses kann man sagen, daß sich religiöse Juden stets als eine Gruppe von Menschen verstanden, die sich durch die gemeinsame Abstammung von Abraham, durch das verheißene und von Gott geschenkte Land Israel, sowie durch den gemeinsamen Glauben an die Tora, in der alle gemeinsamen Traditionen wurzeln, miteinander verbunden weiß. Von Zugehörigkeit zum Volk Israel in einem weiteren säkularisierten Sinn kann man jedoch auch sprechen, wenn ein Individuum kulturell oder religiös von der religiös-kulturellen Wirklichkeit der Geschichte Israels in wesentlichen Bereichen seiner Persönlichkeit als geschichtliches Wesen faktisch geprägt ist und das auch positiv akzeptiert. Eine solche Begriffsbestimmung erlaubt es, Menschen, die sich nicht als religiös im Sinn jüdischer Religion verstehen, in eine Darstellung des Judentums miteinzubeziehen und so die universalen Kulturleistungen des Judentums zu begreifen. Im Horizont einer Darstellung des Judentums muß ja alles liegen, was als Wirkungsgeschichte dieses religio-kulturellen Erbes verstanden werden kann. Die Beschreibung eines so verstandenen Judentums ist eigentlich erst im methodischen Rahmen der —• Judaistik möglich. Diese geisteswissenschaftliche und nicht theologische Disziplin ist selbst ein Teil der sozio-kulturellen Entwicklung des Judentums. Die sowohl im Hinblick auf Methode, Umfang und auch den Wissenschaftszweck ausgewogenste Definition der Judaistik stammt von L. Wallach und ist seiner im Jahre 1937 von der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin preisgekrönten Arbeit entnommen: „Wissenschaft des Judentums ist in ihrem Kern eine Geisteswissenschaft, deren Methodologie durch ihren Zusammenhang mit den allgemeinen Wissenschaften gegeben ist. Ihre Objekte sind durch den Begriff Judentum' bestimmt. Sie hat ihr eigenes Problem das jüdische schlechthin - als Stoff und ein letztes Prinzip, nach dem dieser zu betreiben ist - d i e religiöse jüdische Idee" (27). Als Spezifikum im Sinne einer Wissenschaft des Judentums fügt er hinzu: „ . . . als Geisteswissenschaft hat die Wissenschaft des Judentums ein Zweifaches zu erfüllen. Sie muß einmal den ganzen jüdischen Lebens- und historischen Erfahrungskomplex nach seinem eigenen, gewesenen Sinngehalt messen und werten, dem alsdann die Bezugnahme dieser Erkenntnis und Wertung auf das im Augenblick jeweils zu formende Kulturideal zu folgen hat" (28 f). Im letzten Teil der Definition ist die typische, man möchte sagen, religiöse Komponente der,Wissenschaft des Judentums' und auch der Judaistik' enthalten. Die Polarität der Judaistik zur ,Wissenschaft des Judentums', die angesichts dieser Definition sichtbar wird, hat eine starke Ähnlichkeit mit der Polarität von Religionswissenschaft und Theologie. Im Rahmen christlichen Interesses am Judentum ist wohl noch auf einen spezifischen Umstand zu verweisen. Es gibt für das Christentum keinen Religionsbereich, mit dem es enger zusammenhängt als mit dem Judentum. Wegen der historischen Wurzeln des Christentums ist dieser Zusammenhang unauflöslich und erfährt durch die in der weiteren Geschichte sich stets erneuernden Kontakte eine zeitgeschichtlich je verschiedene Konkretisierung. Man wird daher aus judaistischer Sicht das Christentum als einen Teil der Wirkungsgeschichte des Judentums zu verstehen haben. Diese geistes- und religionswissenschaftliche Sicht des Judentums ist nicht die einzig mögliche. Es ist vielmehr so, daß vom marxistischen Denkansatz her die genannten Faktoren sekundär sind und der eigentliche Grund für den Bestand des Judentums in seiner spezifischen sozioökonomischen Funktion die Jahrhunderte über zu suchen ist. In diesem Sinn wird etwa auch der Begriff der „Volksklasse" zur Beschreibung der jüdischen Wirklichkeit verwendet. Die Lösung des jüdischen Problems könne daher nicht durch die Realisierung des kleinbürgerlichen Modells einer Staatsgründung erfolgen, sondern nur im Rahmen der Emanzipation der Menschheit in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. An sich müßte jede Darstellung des Judentums mit der biblischen Periode beginnen. Die Geschichte Israels wurde aber schon anderwärts (TRE 12, 698—740) behandelt. Deshalb soll hier das Judentum ab jenem Zeitraum dargestellt werden, ab dem jene inneren Kräfte wirksam wurden, die jüdische Existenz unabhängig vom Bestand eines

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Judentum

zentralen Heiligtums und dem Leben in einem eigenen Land ermöglichten. Das ist wohl seit dem babylonischen Exil und der persischen Zeit der Fall. Dieser Prozeß begann aber schon, als halbnomadische Proto-Israeliten anfingen, sich gegen etablierte Städter und Bauern durchzusetzen, die nicht ahnen konnten, daß die Anstöße, die sie der Bewährungskraft jener Nomaden gaben, zum Samen für eine Entwicklung werden sollten, die ein immer intensiver werdendes Selbstbewußtsein des Menschen in seiner Würde und seinem Personsein ermöglichte. Es ist daher vertretbar, mit der Geschichte Esras (-»Esra/ Esraschriften) einzusetzen. 2. Von Kyros zu den Makkabäern 2.1. Die geschichtlichen

(538 v.Chr.-63

Vorgänge bis zur

v.Chr.)

Makkabäerzeit

Die Herrschaft Neubabyloniens fand 539 v. Chr. mit dem Einzug des Kyros in Babylon ihr Ende und ging damit auf die Achämeniden über. Im Rahmen seiner Religionspolitik ordnete Kyros in bezug auf das Heiligtum in -»Jerusalem zunächst die Rückgabe der geraubten Tempelgeräte und den Wiederaufbau des Tempels an. Dadurch konnte er sich als offizieller ,Stifter' dieses Heiligtums betrachten. Diese das Gefüge der verschiedenen Völkerschaften des Großreiches stabilisierende Religionspolitik wurde auch von den Nachfolgern des Kyros beibehalten. Aus den im ersten Jahr des Kyros (538 v.Chr.) erlassenen und in Esr 5 , 1 4 - 1 6 und 6 , 3 - 5 erhaltenen Verfügungen geht hervor, daß Scheschbassar nur mit dem Rücktransport der 587 v. Chr. geraubten Tempelgeräte nach Jerusalem und der Initiierung des Wiederaufbaus des dortigen Tempels beauftragt war. An dem steuerpolitisch bedingten Desinteresse der Provinzregierung in Samaria scheiterte fürs erste auch der Tempelbau. Die Ideologie des Chronisten (Esr 1) vermochte die historisch wahrscheinliche Trennung zwischen Kultrestauration in Jerusalem und Heimkehr der Gola, der wahren Gottesgemeinde, nicht zu akzeptieren, für ihn fielen daher das Tempeledikt und die Erlaubnis zur Rückkehr zusammen (Esr 1,2-4). Die Hoffnung der 587 v. Chr. aus Judäa Deportierten auf Rückkehr erfüllte sich dann erst unter Darius I. (etwa 521 v.Chr.). Unter seiner Regierung führt Serubbabel eine erste Rückwanderergruppe, der nur ein Teil der in Babylonien lebenden Judäer angehörte, nach Jerusalem zurück. Ihre Anwesenheit in Jerusalem im Herbst des Jahres 520 ( = 6. Monat des zweiten Jahres des Darius) ist durch Esr 5,1 f; Hag 1,1 und Sach 1,1 als sicheres Datum belegt. Diese unter der Leitung des Davididen Serubbabel und des Hohenpriesters Josua stehende Rückkehrergemeinde begann nun erst im Jahre 520 mit dem Bau des Tempels, der 515 v. Chr. zum Abschluß gebracht und mit einem großen Fest eingeweiht wurde. Die inneren Erschütterungen im Perserreich ließen sogar die Hoffnung auf eine eschatologische Wende aufkommen. Diese Erwartungen konkretisierten sich in der Person des „Kommissars" Serubbabel und des Hohenpriesters Josua und wurden von den Propheten Haggai und Sacharja wesentlich gefördert. Die Propheten ->Haggai und -+Sacharja verkündeten den baldigen Zusammenbruch des persischen Reiches. Freilich erfüllten sich die in Serubbabel gesetzten Hoffnungen nicht, und seine Gestalt verschwindet aus der Geschichte. Die Religion der Rückkehrer aus Babylonien war durch Strenge sowie eine ausgeprägte nationale Gesinnung verbunden mit messianischen Hoffnungen geprägt. Diese Richtung setzte sich auch im Hinblick auf die Zulassung anderer Gruppen zum Tempelbau durch. Am Tempelbau wollten sich auch die Nachkommen der bei den Deportationen in Palästina zurückgelassenen Judäer und die Anhänger der Jahwereligion in Samaria beteiligen. Sie entsprachen freilich nicht den streng religiösen Maßstäben der Rückkehrer. Diese Linie wird auch von Haggai vertreten (Hag 2 , 1 0 - 1 4 ) . Damit setzte sich eine Tendenz zur Exklusivität durch, die schon durch die deuteronomische Theologie grundgelegt war. In der Zeit bis zum Auftreten Nehemias (445/44) bestand nun die Gemeinde in und um Jerusalem aus den Rückwanderern und den Nachkommen der nicht deportierten Judäer. Die staatlichen Steuern waren an das auch für Jerusalem zuständige Verwaltungszentrum Samaria zu entrichten. Der neue Tempel in Jerusalem mußte nach dem Wegfall des judä-

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ischen Königtums vom Volk selbst finanziert werden, so d a ß man nicht mehr von einem Staatstempel, sondern besser von einem Volkstempel sprechen kann. Unabhängigkeit von Samaria bestand nur in Belangen des Kultes. Dabei stand freilich für die Jahweverehrer im N o r d e n , die Protosamaritaner, der Garizim als kultischer Mittelpunkt (neben Jerusalem!) im Vordergrund. Das politische und religiöse Spannungsverhältnis zwischen J u d a und Samarien war wesentlich durch das Selbstverständnis der Gemeinde des zweiten Tempels bestimmt. Daraus resultiert schließlich die politische Verselbständigung Judas, die mit d e m Wirken von Nehemia und Esra a b der zweiten Hälfte des 5. Jh. verbunden ist. M i t ihnen ist die Durchsetzung des Religionsgesetzes als verbindlicher Ordnung der Gemeinde unzertrennlich verknüpft. Leider ist wegen der ungünstigen Quellenlage eine Reihe von Problemen, vor allem chronologische, nicht eindeutig zu lösen, was die Bildung verschiedener Theorien in der wissenschaftlichen Literatur förderte. Die innere Lage der Jerusalemer Gemeinde um etwa 450 v. Chr. wird aus der Kritik des Propheten Maleachi an der mangelnden kultischen Pflichterfüllung der Priester (Mal 1,6-2,9) und der Unehrlichkeit der Gemeinde bei der Ablieferung des Zehnten an den Tempel (3,6-12) deutlich. Etwa 445 v. Chr. wird Nehemia Statthalter in Juda, das von da ab eine von Samaria unabhängige Provinz ist. Unter Nehemia wurden Jerusalem und Juda aus der Provinz Samarien herausgelöst und in eine unabhängige Provinz umgewandelt. Das im Exil gewachsene Selbstverständnis der Rückkehrer war von der Auseinandersetzung mit einer bedrohlichen Umwelt geprägt worden und bedingte in der nachexilischen Zeit deren starke Tendenz zur Abgrenzung nicht nur gegenüber anderen ethnischreligiösen Gruppen, wie etwa den nichtjüdischen Siedlern, sondern auch gegenüber verschiedenen inner jüdischen Gruppierungen, wie etwa den Protosamaritanern. Im Vergleich mit der in Juda zurückgebliebenen jüdischen Bevölkerung ist die religiöse Praxis der Rückkehrer als Radikalisierung zu sehen. Die Tendenz zur Absonderung k a m freilich nicht nur in theoretischen Positionen zum Ausdruck, sondern führte zu den bekannten M a ß n a h m e n gegen die -»Mischehen, wie sie unter Esra praktiziert wurden. Etwa um 398 v. Chr. wurde der „Staatssekretär" f ü r Angelegenheiten der jüdischen Religion am persischen Hof nach Jerusalem geschickt, u m d o r t das in der Tora niedergelegte Religionsgesetz als verbindliche gesellschaftliche N o r m zu promulgieren und durchzusetzen. Daher verlas er zunächst öffentlich das mitgebrachte Gesetz (mit diesem Gesetz ist zumindest die ->Priesterschrift, wenn nicht sogar der —>Pentateuch gemeint). Esra bleibt damit auch in der weiteren Tradition u n t r e n n b a r mit der Promulgation der Tora verbunden. Die R e f o r m Esras war entscheidend f ü r die zukünftige Gestalt der Jahwereligion. Wenn es auch nicht angezeigt ist, von einer neuen Religion zu sprechen, die das prophetische Element aufgab, so erfolgte hier jedenfalls eine entscheidende Weichenstellung, deren Berechtigung sich in der hellenistischen Zeit zeigen sollte. Auf Seiten der Rückkehrer machte sich aber auch starke Enttäuschung über die tatsächlichen Verhältnisse in dem Land ihrer Sehnsucht bemerkbar. So ist es nicht verwunderlich, d a ß sich die H o f f n u n g auf einen Heilskönig weiterhin wie ein roter Faden durch die folgende Geschichte zieht. Die spätere Messiaserwartung hat ihren N ä h r b o d e n aber nicht nur in einer eschatologischen und davidisch-königstreuen Orientierung, sondern mindestens genauso sehr in einem Bewußtwerden sozialer Probleme. W ä h r e n d solche Erwartungen in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet waren, ging es der religiösen Führungsschicht um die Etablierung von Institutionen, die den Bestand von Volk und Religion sichern sollten. Die genaue Entwicklung in der persischen Zeit ist wegen des Mangels an Quellen noch nicht deutlich genug. N a c h 333 v. Chr., bald nach dem Z u s a m m e n b r u c h des Perserreiches, dürfte in Juda ein Synedrium die Leitung ü b e r n o m m e n haben, dessen Sprecher der Hohepriester war, wie sich dem Bericht des Josephus über den legendären Besuch Alexanders d . G r . in Jerusalem (Ant 11,329-345) entnehmen läßt. Um 180 v. Chr. k o n n t e Jesus Sirach (-> Sirach/Sirachbuch) vom Hohenpriester sagen: „Er trug Sorge f ü r das Volk gegen den Untergang und befestigte die Stadt gegen Belagerung" (Sir 50,4). A m Vorabend der hellenistischen Periode ist trotz der ii Esr

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7,25-26 erhobenen rigorosen Forderungen die Oberschicht weitgehend assimiliert und im Grunde bereit, das Vätererbe zugunsten des Hellenismus aufzugeben. 2.2. Das literarische Schaffen in der vorhellenistischen Zeit Das literarische Schaffen aller Perioden der jüdischen Geschichte interessiert im Rahmen einer Darstellung des Judentums einerseits als Geschichtsquelle, andererseits aber als Zeugnis der sich je wandelnden Geistigkeit. In der persischen und hellenistischen Periode entstand in Palästina hebräische, aramäische und griechische jüdische Literatur, die einen wichtigen Bestandteil der hebräischen bzw. griechischen Bibel bildet. Oft blieben auch ursprünglich hebräisch abgefaßte Werke nur in griechischer Übersetzung erhalten. Diese Literatur versteht sich teilweise als Fortsetzung der damals bereits vorliegenden biblischen Schriften und greift deren Form als biblische Bücher auf. Das gilt insbesondere für die apokalyptische Literatur, aber auch für Geschichtswerke wie das sogenannte Chronistische Geschichtswerk (-»Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk), das die Bücherl, II Chronik sowie -»Esra und -»Nehemia umfaßt. In der vorhellenistischen Zeit entstanden sind wohl auch die prophetischen Bücher -»Haggai, -»Sacharja und -»Maleachi, sowie das Buch -» Jona, das man, so wie das etwa gleichzeitig entstandene Buch -»Ruth als universalistisch orientierte Gegenstimme zu den exklusiven Tendenzen unter Esra und Nehemia verstanden hat. Die theologischen Probleme der frühen nachexilischen Zeit reflektieren das Buch -»Hiob und das -»Koheletbuch. Der Prediger enthält Gedanken, die man am ehesten jenen Kreisen zuschreiben kann, die später voll für den -»Hellenismus empfänglich waren. Wohl in Antiochien verfaßt, hat das nur in der Septuaginta erhaltene Buch -»Tobit das Ziel, die Juden der Diaspora zum Festhalten an der Religion der Väter zu motivieren. Diese Erzählung ist vom Geist frommer Gesetzesergebenheit erfüllt und insofern der weisheitlichen Schrift des Jesus Sirach sehr ähnlich, wo die Weisheit überhaupt mit der Befolgung der Tora identifiziert wird. Mit der Kanonisierung des biblischen Textes trat an die Stelle der Interpretation durch Glossen die vom eigentlichen Text getrennte Auslegung. So entstanden bibelähnliche, midraschische Schriften, wie etwa das um 100 v.Chr. entstandene -»Jubiläenbuch. In der Makkabäerzeit entsteht eine neue Literatur-Gattung, die -»Apokalyptik, die auf dem Hintergrund der schweren Probleme dieser Zeit zu verstehen ist. Im Prinzip geht es um das Theodizeeproblem, wobei der nahenden Endzeit und dem Gericht die wesentliche Rolle zukommt. Das außerbiblische -»Henochbuch sowie das biblische Buch -»Daniel sind die beiden ältesten apokalyptischen Bücher und fest mit den Schlüsselereignissen des Makkabäeraufstandes verbunden. Das Buch Daniel ist gleichzeitig die älteste, sogar zeitgenössische Behandlung des Makkabäeraufstandes. 2.3. Die Makkabäerzeit im Überblick Im Zuge der Eroberungen Alexanders d.Gr. wird Palästina Teil seines Großreiches. Die damit beginnende neue Epoche in der Geschichte des Alten Orients wird kulturell durch den sogenannten -»Hellenismus geprägt, der zu einer gewaltigen Herausforderung für das jüdische Selbstverständnis werden sollte. In den Diadochenkämpfen fiel Palästina im Jahre 301 v.Chr. zunächst an Ptolemäus I. von Ägypten und blieb bis 198 unter ptolemäischer Herrschaft, unter der sich die Juden religiöser und kultureller Freiheit erfreuten. Bis zum Aufstand der Makkabäer war Judäa ein eigenständiges Gemeinwesen als einer der vielen Verwaltungsbezirke des ptolemäischen bzw. später des seleukidischen Reiches. In diesem kulturellen Großraum entwickelte sich auch eine starke jüdische Diasporagemeinde (s. TRE 8,711-717), die sehr stark hellenistisch geprägt war. Vor allem ist in dieser Zeit eine beachtliche jüdische Wanderung von Palästina nach Ägypten zu verzeichnen, die einerseits wirtschaftliche Gründe hatte, andererseits aber auch aus Zwangsmaßnahmen resultierte, durch die die judäischen Bauern versklavt wurden. In Palästina selbst richteten die Ptolemäer ihr Hauptaugenmerk auf die Einbringung der Steuern und Abgaben und die Erhaltung der inneren Stabilität. In diesen Strukturen liegt auch bereits

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der Keim zur Hellenisierung des Judentums, wie das konkrete Beispiel der Familie der Tobijaden zeigt. M a n kann den sogenannten Zenon-Papyri nicht nur wichtige Informationen über die blühende wirtschaftliche Lage vieler hellenistischer Städte in ptolemäischer Zeit entnehmen, sondern erfährt aus den Berichten dieses Wirtschaftsexperten namens Zenon, eines hohen ptolemäischen Beamten, von dem hellenistischen Juden Tobija, der einen beachtenswerten hellenistischen Lebensstil entwickelt hatte. Die seleukidischen Syrer traten erst auf den Plan, als Antiochos III. d. Gr. (223 - 1 8 7 v. Chr.) den Thron bestieg. Im Jahre 198 v.Chr. eroberte er in der Schlacht von Paneas Palästina. Dabei änderte sich die Verwaltung in dieser Region nur wenig. Antiochos III. regelte aber die Beziehungen zu Jerusalem (Ant 1 2 , 1 3 8 - 1 4 4 ) . Dieses spezielle Gesetz sicherte die Selbstverwaltung auf der Grundlage der Tora. Die jüdischen Siedlungen im hellenistischen Palästina waren von denen anderer Bevölkerungsgruppen umgeben. Das spannungsgeladene Verhältnis zu diesen anderen Gruppen spiegelt sich etwa in Sir 5 0 , 2 5 - 2 6 . Trotz der soziologisch verständlichen Abwehrstellung hatte sich schon seit der ptolemäischen Zeit ein immer stärker werdender hellenistischer Einfluß sowohl auf die in Palästina lebenden Juden als auch auf diejenigen in der Diaspora bemerkbar gemacht, so daß es in weiten Kreisen zu einer Entfremdung vom Judentum kam. Für das religiös bestimmte jüdische Selbstverständnis war das nicht bloß ein wichtiges kulturelles, sondern vor allem ein religiöses Problem erster Ordnung, wobei gerade die religiöse Führungsschicht oft weiter ging als die einfachere Bevölkerung. Es ist signifikant, daß der Hohepriester Onias IL, der zur Zeit Antiochos III. und dessen Sohn Seleukos IV. amtierte, mit der seit der Ptolemäerzeit hellenisierten Familie der Tobijaden verschwägert war. Jesus Sirach klagt in seinem Buch um etwa 180 v.Chr. diese hellenisierenden Tendenzen an. Ab dem 2. J h . v.Chr. hatte sich der Hellenismus so verbreitet, daß selbst die Hohenpriester, ja diese besonders, davon beeinflußt waren. Unter dem Hohenpriester Jason (175—172 v.Chr.) erreichte die Hellenisierung Jerusalems insofern einen Höhepunkt, als durch die Schaffung des Bürgerrechts der „Antiochener von Jerusalem" auch der heidnische Herrscherkult Einzug in die Heilige Stadt hielt. Dazu kamen noch typisch hellenistische Bildungseinrichtungen wie das ,Gymnasium', das der Verbreitung des neuen Geistes diente und wie in allen griechischen Städten der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens war. Indem die neue Weltanschauung gleichsam den griechischen Agon dem jüdischen Gottesdienst vorzog, wurde sie zur radikalen Herausforderung für das Judentum. Damit ergab sich die in der gesamten jüdischen Geschichte immer wiederkehrende Entscheidungssituation zwischen Assimilation und Selbsterhaltung. Jason wurde abgelöst durch den noch radikaleren Hellenisten Menelaos (hingerichtet 162 v.Chr.). In einem Bürgerkrieg zwischen beiden unterstützte das wohlhabende Bürgertum Menelaos, während die breiten Massen auf der Seite des Jason standen. Unter Antiochos IV. Epiphanes ( 1 7 5 - 1 6 4 v.Chr.) war die seleukidische Herrschaft so stark, daß nur das Eingreifen der R ö m e r Ägypten vor der Einverleibung durch die Seleukiden rettete (vgl. Dan 1 1 , 2 9 - 3 0 ) . Antiochos IV. griff dann auch zugunsten des Menelaos ein, übersah dabei aber offenkundig, daß die Masse des jüdischen Volkes nicht hinter ihm stand. M a n wird die Maßnahmen des Herrschers seit 168 v. Chr. entweder als Reaktion auf eine offene Rebellion seitens der judäischen Bevölkerung oder als seine Reaktion auf die latenten Widerstände in Judäa zu sehen haben, für die der König letztlich die jüdische Religion mit ihrem militanten Monotheismus verantwortlich machte, die sich dem hellenistischen Gesamtrahmen entzog und so die Sicherheit an der Südgrenze seines Reiches gefährdete. Im M a i oder Juni 167 v. Chr. erläßt Antiochos IV. ein Dekret (vgl. I M a k k 1,41 f), dessen Wortlaut nicht mehr vorliegt. Ab dem 25. Kislew 167 v. Chr. wurde dann das Opfer zu Ehren der Geburt des Herrschers dargebracht und der Kult insgesamt dem hellenistischen Verständnis angepaßt, d.h. der Tempel wurde im Dezember 167 dem Olympischen Zeus geweiht. Das erschwerte die traditionelle Religionsausübung und stieß demgemäß auf heftige Opposition traditioneller Kreise. Die Initiative zu diesem innerjüdischen Konflikt ging von der priesterlichen Familie der Hasmonäer unter Führung des Mattatias aus. Nach seinem Tod ging die Führung auf

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seine Söhne über. Der Makkabäeraufstand ist am besten als ein judäischer Bürgerkrieg zu sehen. Die Gegner dieser Rebellen waren in erster Linie die aufgeklärten Städter und die wohlhabenden Juden, die auf der Seite der nicht jüdischen Hellenisten standen. Die ländliche Bevölkerung aber stand auf der Seite der Hasmonäer. In dieser Konfliktsituation kam es in ganz Palästina zu Spannungen zwischen den heidnischen Bevölkerungsteilen und den Juden. Der Ausgang des Konflikts war wesentlich davon bestimmt, daß die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ihrer Religion und ihren Traditionen treu blieb. So konnte Ende 164 v. Chr. die väterliche Verfassung in Judäa wiederhergestellt und der Tempel wieder eingeweiht werden. Judas, der Makkabäer, behält die militärische Führung, allerdings bleibt Menelaos Hoherpriester. Daran wird sichtbar, daß der Erfolg keineswegs ein umfassender war und genug weiterer Konfliktstoff erhalten blieb. Erst durch den Sieg über Nikanor (13. Adar 161 ,Nikanortag') gewannen die Hasmonäer die Herrschaft über Judäa zurück. Durch den im selben Jahr mit Rom abgeschlossenen Vertrag suchte Judas zwischen den Großmächten geschickt zu lavieren. Der weitere politische Machtgewinn der Makkabäer hatte seine Ursache vornehmlich in den inneren Rivalitäten der Seleukiden, die seit dem Tod Antiochos' IV. auf der Tagesordnung standen und auch Rom nicht ungelegen kamen. So erhob etwa Alexander Balas, der Gegenspieler Demetrius' I., Jonatan zum Hohenpriester. Damit wurde die Hohepriesterwürde in der Familie der Hasmonäer erblich. Simon, der Nachfolger Jonatans, setzte dessen Politik fort und erreichte 142 v. Chr. die offizielle Anerkennung der Unabhängigkeit Judäas (vgl. I Makk 13,42) durch die Seleukiden. Für die Religionsstruktur des damaligen Judentums sind die Beschlüsse der „großen Ratsversammlung" im Jahre 139 v. Chr. (I Makk 14,27 ff) von entscheidender Bedeutung. Es werden die höchsten sakralen, zivilen und militärischen Befugnisse in einer Hand, nämlich der der hasmonäischen Fürsten vereinigt. Einen entscheidenden Machtzuwachs erreichten die Hasmonäer zur Zeit Johannes Hyrkanos I. (134-104 v. Chr.), als Antiochos VII. Sidetes im Jahre 129 gegen die Parther unterlag und starb. Aus religionshistorischer Sicht interessant ist die Religionspolitik unter diesen neuen Machtverhältnissen. Zu den ersten Maßnahmen gehörte die Zwangsbekehrung der Idumäer. Insgesamt verfolgte Hyrkanos eine Politik der Judaisierung des gesamten Palästina. Die politischen Entwicklungen blieben auch nicht ohne Auswirkungen auf das Bild der Juden in der hellenistischen Welt. Seit dem 4. Jh. v. Chr. finden sich in den Schriften griechischer Historiker Erwähnungen der Juden mit durchaus positivem Akzent. Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Griechen und Juden in den hellenistischen Zentren, wie etwa dem ägyptischen -»Alexandrien, bedingte jedoch seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert aggressiv negative Stellungnahmen (vgl. Strabo, Geographica XVI). Jüdischerseits war die Ablehnung des Hellenismus auf jene Gebiete beschränkt, die im Widerspruch zum Kern des religiösen Erbes standen. Der hellenistische Lebensstil hingegen wurde nicht nur in der Diaspora, sondern durchaus auch in Judäa übernommen. So nannte sich Aristobulos (104—103 v. Chr.) „Philhellenos" ( = Freund des Griechentums), und Alexander Jannai (103 - 7 6 v.Chr.) prägte Münzen mit einer griechischen neben der hebräischen Aufschrift. 2.4. Die religiösen Institutionen Der Tempel wurde zwischen 538 und 515 v. Chr. wieder errichtet, nachdem er 587 v. Chr. von den Babyloniern zerstört worden war. Unter Antiochus IV. war er 167-164 v.Chr. durch heidnische Kulte geschändet. 63 v.Chr. wurde er durch Pompejus entweiht. Den Höhepunkt erreichte der hellenistische Einfluß unter Herodes dem Großen (—>Herodes/ Herodeshaus), der durch seine Bautätigkeit Jerusalem das Gepräge einer hellenistischen Stadt gab. Bis zum Jahre 70 n. Chr. war der Tempel in Jerusalem die bedeutendste religiöse Institution und gleichzeitig das Zentrum des öffentlichen Lebens. Dieser Tempel hatte, wie im antiken Orient üblich, auch die Funktion einer Bank. Neben den Gütern des Tempels selbst waren dort nicht zuletzt die Ersparnisse der kleinen Leute deponiert. So konnte der griechische Historiker Polybios im 2. Jh. v. Chr. die Juden als ein Volk be-

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schreiben, das rings um den Tempel von Jerusalem wohnt (vgl. auch Ant 12,136), und mit Recht nennt Josephus Flavius die damalige Regierungsform eine -»Theokratie. Diese Beschreibung ist insofern zutreffend, als von der persischen bis in die hellenistische Zeit die Regierung durch den Hohenpriester und den Rat der Ältesten, die Gerusia, besorgt wurde. Diese Funktion des Hohenpriesters wird sehr klar bei Hekataios beschrieben: „Die Juden haben keinen König. Die Leitung der Nation wird regelmäßig einem Priester anvertraut, der seinen Kollegen an Weisheit und Tugend überlegen ist und den sie als Hohenpriester bezeichnen" (bei Diodoros Sikulos, Histórica XL,3.5). Der Hohepriester war zugleich geistliches und weltliches Oberhaupt und als letzteres auch zuständig für die Eintreibung der Steuern. In der ptolemäischen Zeit hatte die Familie der Oniaden diese ökonomischen und politischen Aspekte des Hohenpriestertums wahrzunehmen. Wie schon erwähnt, bedeutete der Aufstieg der nichtpriesterlichen Tobijaden eine gewisse Zurückdrängung des Hohenpriesters aus Bereichen des öffentlichen Lebens. Das Hohepriestertum war dann besonders unter Jason und Menelaos einer extremen Hellenisierung verfallen. Die Krise bestand vor allem darin, daß die Seleukiden dieses Amt dem jeweils Meistbietenden übertrugen. Die verschiedenen Abgaben, die in Jerusalem zusammenflössen, gelangten in die Hände der Hohenpriester, die damit auch die Abhängigkeit der niederen Priester und Leviten begründeten. Dabei waren erhebliche Spannungen zur niedrigen Priesterschaft unvermeidlich. Neben dem Tempel als religiösem Zentrum gab es wohl schon seit dem babylonischen Exil die Einrichtung der Synagoge. Wenn auch für die frühe Zeit keine Funde als Belege anzuführen sind, so läßt etwa die Schilderung, wie Esra die Tora von einem Pult aus vorliest, auf das Vorhandensein gewisser Strukturen eines synagogalen Gottesdienstes schließen. Es wird sogar angenommen, daß im Tempelareal selbst eine Synagoge bestand. Wie auch durch das Neue Testament belegt ist, gab es zur Zeit Jesu in Galiläa Synagogen. Das Bestehen dieser Institution noch vor der Zerstörung des Zweiten Tempels ist von besonderer Wichtigkeit für die Struktur der jüdischen Religion. Dadurch war nämlich die Zerstörung des Tempels religionssoziologisch gesehen keine Katastrophe, die die jüdische Religion unvorbereitet getroffen hätte. Der Ältestenrat, die Gerusia, wandelte sich in der hellenistischen Zeit in ihrer Funktion zum politisch religiösen Führungsgremium und wurde von da ab mit der auch sonst für die hellenistischen Kronräte üblichen Bezeichnung Synedrion oder Sanhedrin belegt. Der Sanhedrin war eine gemischt zusammengesetzte Körperschaft mit 71 Mitgliedern, in der auch die —>Sadduzäer vertreten waren. Die verschiedenen Interessengegensätze kamen nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen um die Führung zum Ausdruck. Der politische Einfluß dieses Gremiums unter den Hasmonäern ging seit Herodes durch die Beschränkung auf den religiösen Bereich weitgehend verloren. Überdies schuf sich in dieser späteren Zeit der Hohepriester einen anderen Sanhedrin als politisch-religiöses Beratungsorgan. Für die hasmonäische Zeit gilt es zu beachten, daß sich die hasmonäischen Herrscher nie als absolute Monarchen verstanden. Als Beleg dafür sind etwa Münzen anzusehen, deren Aufschrift lautet „Jonatan der Hohepriester und das Volk der Juden". 2.5. Die hellenistische Kultur Palästinas und der Diaspora Die bedeutendste jüdische Diaspora (s. T R E 8,711-717) war jedoch in Ägypten mit dem Zentrum -»-Alexandrien. Die ägyptische Diaspora ist sehr alt und reicht in die persische Zeit zurück, wie die Papyri bezeugen, die die Existenz der jüdischen Kolonie von Elephantine (Jeb) in Oberägypten für das 6. Jh. v. Chr. belegen und dort auch einen wohl heterodoxen — Tempel erwähnen. Die Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde war Alexandrien, die ihren Ursprung auf Alexander d. Gr. zurückführt. Hier kam es seit dem 3. Jh. v. Chr. zu einer einmaligen Synthese der jüdischen und hellenistischen Kultur. Die Voraussetzung dafür war der Zugang ägyptischer Juden zur griechischen Bildung. Dabei spielte das Gymnasium eine entscheidende kulturelle Vermittlungsrolle. Die Juden blieben ihren Traditionen in einem M a ß e treu, daß die heidnische Umwelt das sogar zum Anlaß von Polemiken nahm. Das wichtigste Zeugnis dieser hellenistisch-jüdischen Kultur

Judentum

339

ist die Übersetzung der Bibel ins Griechische, die Septuaginta (s. T R E 6,163-168). Der -•Aristeasbrief und mehr noch das Zeugnis -»Philos von Alexandrien machen deutlich, daß diese Übersetzung als unter göttlicher Eingebung entstanden angesehen wurde. Jedenfalls verdrängte diese Übersetzung in der Diaspora weitgehend das hebräische Original. Die Entfernung vom Jerusalemer Heiligtum begünstigte das Entstehen von „Kultgebäuden" wie des Tempels von Leontopolis einerseits und die Einrichtung der Synagoge andererseits. Der heterodoxe Tempel in Leontopolis wurde durch den Hohenpriester Onias (IV.) 145 oder schon 163 v. Chr. gegründet (II Makk 4,33; 14,3.7; Bell 1,33; Ant 12,387), nachdem Alkimos zum Hohenpriester ernannt worden war. Es handelte sich um ein Garnisonsheiligtum der Militärkolonie von Leontopolis. Das weist auch auf die jüdischen Söldner als einen wichtigen Entstehungsfaktor der ägyptischen Diaspora hin. Die eher geringe Bedeutung dieses Heiligtums für die Judenschaft Ägyptens ergibt sich daraus, daß Philo zwar oft Jerusalem, aber nie dieses Heiligtum erwähnt. Die wichtigste religiöse Institution der Juden Ägyptens war die Synagoge. In Inschriften aus dem 3. Jh. v. Chr. werden zwei solche proseuchat erwähnt. Diese ersten, griechisch geschriebenen Synagogeninschriften stammen aus der Zeit Ptolemaios' III. Euergetes (246-221 v. Chr.) (CIJ 2,366f Nr. 1440 und CPJ 3,164 Nr. 1532 A). In Alexandrien selbst gab es zahlreiche Synagogen. Von der größten unter ihnen sagen rabbinische Quellen, daß der, der sie nicht gesehen hat, auch nicht die Herrlichkeit Israels gesehen habe. Schon in dieser Zeit ist, wie in späteren Jahrhunderten, die Synagoge ein wichtiges Kommunikationszentrum vor allem in der Diaspora. Solche „landsmannschaftlichen" Zusammenschlüsse waren nicht auf die Juden beschränkt, sondern dienten in ähnlichen Verhältnissen auch verstreut lebenden Griechen zur gegenseitigen Kontaktnahme (vgl. die Synagogeninschrift von Schedia bei Alexandrien zur Zeit Ptolemaios III.: CIJ 2,366f Nr. 1440). Die hellenistischen Juden Palästinas und Ägyptens entwickelten ein reiches, leider weitgehend verlorenes literarisches Schaffen. Ein wesentlicher Zweck dieser Literatur war die Stärkung des jüdischen Selbstbewußtseins angesichts des starken hellenistischen Kulturdrucks. Der spezifische Charakter des hellenistisch jüdischen Denkens wird für uns in den erhaltenen literarischen Zeugnissen dieser Zeit greifbar. Der früheste bekannte Autor war Demetrios, der unter Ptolemaios IV. Philopator ( 2 2 2 - 2 0 4 v. Chr.) eine Chronik über die Könige der Juden' schrieb (FGrHist 722; Freudenthal 57ff). Ähnlich wie für Manetho oder Berossos bestand auch sein Ziel im Nachweis des überaus hohen Alters der nationalen Überlieferung. Um 150 v. Chr. verfaßte Eupolemos ähnlich wie Demetrios seine Schrift Über die Könige in Judäa. Der apologetische Charakter des Werkes wird aus einem davon erhaltenen Fragment deutlich, wo berichtet wird, daß Mose das Alphabet nicht nur den Juden, sondern auch den Phönikern und Griechen beigebracht habe (Eusebius, Praep. Ev. 9,25,4). Einer anderen literarischen Richtung ist Jason von Kyrene (noch im 2. Jh. v. Chr.) zuzurechnen. Er schuf ein national-religiöses Geschichtswerk in fünf Bänden (vgl II Makk 2,19ff), aus dem das 2. Makkabäerbuch schöpfte. Der bedeutendste Autor dieser Epoche ist ->Philo von Alexandrien (ca. 10 v . C h r . - 4 0 n.Chr.), in dessen Werk die jüdischhellenistische Literatur ihre Krönung und ihren Abschluß findet. Philo verstand sich als Grieche und Jude zugleich. Seine Synthese zwischen griechischer Philosophie, besonders der des -»Plato, und der Tora, wird besonders wirksam in der Sicht des -»Logos als einer Vermittlungsinstanz zwischen Gott und der Welt. 3. Die römische

Periode

(63 v.Chr.-70

n.Chr.)

3.1. Die geschichtlichen Vorgänge Auch nach dem Tod Alexander Jannais' konnte seine Witwe Salome Alexandra ( 7 6 - 6 7 v.Chr.) als Nachfolgerin die hasmonäischen Machtpositionen nach innen und außen, etwa auch den Nabatäern gegenüber, halten. Sie versuchte sogar, unter dem Befehl ihres jüngeren Sohnes Aristobul Damaskus zu erobern, was freilich nicht gelang. Nach dem Tod Alexandras verdrängte der jüngere Aristobul seinen Bruder Hyrkan.

340

Judentum

Dieser benutzte seine Kontakte zu dem Idumäer Antipater, um die Königswürde und das Amt des Hohenpriesters wiederzuerlangen. So konnte nun Pompejus sozusagen als Schiedsrichter im Kampf der Brüder um die Herrschaft eingreifen. Es blieb seiner Entscheidung überlassen, wer die hasmonäische Thronfolge antreten sollte. Nach einigem Zögern neigte er doch dazu, die Königswürde Hyrkan IL zuzusprechen. Zögernd unterwarf sich schließlich Aristobul der Entscheidung des Pompejus. Damit war der Weg nach Jerusalem frei. Die Anhänger des Hyrkan öffneten den Truppen des Pompejus die Stadttore. Nur noch auf dem Tempelberg stießen die Römer auf den hartnäckigen Widerstand der Getreuen des Aristobul. Im Jahre 63 v. Chr. betrat schließlich Pompejus den Tempel und machte Judäa zu einem römischen Satellitenstaat. In der nun folgenden territorialen Neuordnung wurde Syrien römische Provinz. Judäa aber erhielt ein Autonomiestatut. Hyrkan II. durfte sich nicht König nennen, sondern behielt nur den Rang des Ethnarchen und Hohenpriesters. Die jüdische Bevölkerung nahm all das nicht widerspruchslos hin, so daß es immer wieder (besonders häufig unter dem Konsul Gabinius von Syrien) zu Aufständen kam. Im Bürgerkrieg zwischen Pompejus und Caesar hatte der Idumäer Antipater sich durch seine UnterstützungCaesar zu Dank verpflichtet, der den Juden hierauf spezielle Privilegien gewährte. Nach Caesars Ermordung (44 v. Chr.) trat in Palästina erst im Jahre 40 v. Chr. durch den Parthereinfall eine Wende ein. Im Jahre 37 v. Chr. machten die Römer den Sohn des ihnen immer schon treu ergebenen Antipater, Herodes den Großen, zum König über Judäa und verwirklichten damit geradlinig ihre Politik im Nahen Osten. Den Römern ging es primär um Macht und nicht um Religionspolitik. Da es in Palästina auch eine große Zahl von Nichtjuden vor allem in den hellenistischen Städten gab, erschien es nicht zuletzt auch aus römischer Sicht taktisch richtiger, die Funktionen des Königs und des Hohenpriesters, im Unterschied zur hasmonäischen Zeit, nun zu trennen. Daher schuf sich Herodes ein eigenes Synedrion. Das Amt des Hohenpriesters verlor sehr an Bedeutung. Obwohl die Idumäer seit Hyrkanos Juden waren, wurde Herodes von vielen als Ausländer und Fremder angesehen. Die zahlreichen gewalttätigen Maßnahmen des Königs verdunkelten stark den äußeren Erfolg des herodianischen Regimes. In seiner Außenpolitik war Herodes völlig von Rom abhängig. Wegen seines Eintretens für die Interessen verschiedener Diasporagemeinden stand er bei diesen in höherem Ansehen als im Mutterland. Der Historiker und Geograph Strabo (vgl. Ant 14,114) schreibt, daß es zur Zeit des Augustus in der ganzen Ökumene keinen Ort gab, wo nicht auch Juden lebten. Hier gilt es vor allem auch die jüdische Kolonie von Rom zu nennen, die seit dem 2. Jh. v.Chr. bestand. Unter Augustus und den nachfolgenden Kaisern hatten die Juden Roms schon in mehreren Stadtteilen Synagogen. Die etwa 50000 Menschen zählende Gemeinde war, wie Inschriften aus den Katakomben zeigen, griechisch sprechend und des Hebräischen weitgehend unkundig. Außerhalb des hellenistisch-römischen Einflußbereichs blieb nur die babylonische Diaspora, die weitgehend ihre eigenen Lebensformen entwickelte. In der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. haben in Babylonien Asinaeus und Anilaeus einen kleinen unabhängigen Staat geschaffen. Die östliche Diaspora verzeichnete im 1. Jh. n. Chr. eine singulare Erscheinung, nämlich die Bekehrung des Königshauses von Adiabene (im nördlichen Mesopotamien am oberen Tigris gelegen: Provinz Assyrien) zum Judentum. Am Krieg gegen Rom 66 n. Chr. nahmen dann auch Juden aus Adiabene teil (vgl. Ant 2 0 , 1 7 - 9 6 ; GenR 46,10; Bell 2,388.520; 6,356). Nach dem Tod des Herodes (4 v. Chr.) zerfiel sein Reich, wobei nach dem Tode des Archelaos (6 n. Chr.) Judäa römische Prokuratur wurde, deren bekanntester Prokurator Pontius Pilatus ( 2 6 - 3 6 n.Chr.) war. Er verletzte mehrfach durch seine ungeschickte und harte Politik das jüdische Nationalgefühl. So häuften sich auch die Unruhen, was schließlich zu seiner Abberufung führte. Die Herrschaft römischer Statthalter in der Periode vor der Zerstörung des Tempels war nur während der kurzen Regierungszeit Königs Agrippa I. ( 4 1 - 4 4 n. Chr.) unterbrochen, zu dessen Reich nach der Vertreibung des Herodes Antipas auch Galiläa und Peräa gehörten. Nach Agrippas Tod setzten die Römer in Judäa wieder Prokuratoren ein, mit denen es zu ständigen Auseinandersetzungen kam. Es ging dabei nicht zuletzt um die immer drücken-

Judentum

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der werdenden Abgaben. Damit verbunden war die nicht unbegründete Befürchtung, daß sich die Statthalter am Tempelschatz vergreifen könnten, was Florus, der letzte Statthalter vor dem Aufstand, dann auch tatsächlich tat. Diese Situation führte zu einer immer stärkeren Polarisierung zwischen den Prokuratoren und der jüdischen Bevölkerung. Unmittelbarer Anlaß für den Ausbruch des Ersten Jüdischen Krieges waren Unruhen in Caesarea, die aus Spannungen zwischen der jüdischen und heidnischen Bevölkerung resultierten. Im Unterschied zur makkabäischen Revolte und dem späteren Bar-KochbaAufstand fehlte eine starke führende Persönlichkeit. Im Gegenteil: Es gab tödliche Rivalitäten, die ihren Ursprung nicht zuletzt in der je verschiedenen Ideologie der diversen, sich am Aufstand beteiligenden Gruppen hatten. So endete der Aufstand 70 n. Chr. mit der Zerstörung des Tempels, obwohl Titus ihn hatte schonen wollen. Mit der Eroberung der durch die Sikarier noch bis 73 n.Chr. gehaltenen Masada-Festung war das Ende des jüdischen Widerstandes besiegelt. 3.2. Religiöse

Gruppierungen

in

Palästina

Die Erhebung gegen die Römerherrschaft hatte verschiedene Ursachen: Steuerdruck, Fremdherrschaft und innerjüdische soziale Spannungen. Diese Zustände nährten Zukunftserwartungen, die in religiösen Kategorien, nicht zuletzt in der Messiaserwartung ausgedrückt wurden (vgl. auch Tacitus, Hist. 5,13). Der Messianismus dieser Zeit war nicht die Ursache für die Auseinandersetzung, sondern er gab jenes Maß an Begeisterung, das wohl überhaupt erst einen so ungleichen Kampf ermöglichte. Die Wünsche und Erwartungen dieser Zeit fanden ihren Ausdruck einerseits in religiös-literarischer Form und andererseits in der Bildung religiös motivierter Gruppierungen. In jedem Fall galt es, die Erwartungen vor dem Jahre 70 an der Realität nachher zu messen. Schon während der römischen Periode, aber noch in der Zeit vor der Zerstörung des Tempels, wurden die Psalmen Salomos (—•Salomo/Salomoschriften) verfaßt. Sie bringen die hochgesteckten religiös-politischen, antirömischen Hoffnungen nach dem Auftreten des Pompejus klassisch zum Ausdruck und stehen der pharisäischen Richtung nahe: »Laß ihnen ihren König wiederum erstehen, den Davidsohn, . . . vernichte mit seines Mundes Wort die frevelhaften Heiden" (17,23.27). Die wichtigste Quelle für die ganze Periode sind die Werke des Josephus Flavius. Joseph ben Mattatias war nach seinem eigenen Zeugnis Anhänger der Pharisäer (Vita 12), hatte aber auch enge Kontakte mit führenden Sadduzäern (Vita 304). Josephus gibt auch eine Beschreibung der verschiedenen innerjüdischen Gruppen dieser Zeit (Bell 2,119-166; Ant 18,11—25). Zunächst sind die -^Sadduzäer zu nennen, Angehörige der Priester- und Laienaristokratie, für die der Tempel das Zentrum war. Sie waren im Gegensatz zu den Pharisäern nicht bereit, eine zur Offenbarung gehörige mündliche Überlieferung zu akzeptieren und lehnten von daher auch alle Vorstellungen ab, die sich erst in der spät- und nachalttestamentlichen Zeit entwickelt hatten: den Glauben an die Inspiriertheit der prophetischen Bücher, den Glauben an Engel, an Lohn und Strafe in der zukünftigen Welt, an die göttliche Vorsehung sowie an die Auferstehung der Toten. Eine Gruppe innerhalb der Sadduzäer waren in herodianischer Zeit die Boethusianer, die wohl auch Herodianer genannt wurden. Der Name könnte daher kommen, daß zur Zeit des Herodes und kurz nachher fünf Hohepriester aus der Familie des Boethos stammten. Später verloren die Sadduzäer immer mehr an Terrain. Die Zerstörung des Tempels und das Verschwinden des Hohenpriestertums bedeuteten auch für die Sadduzäer den Untergang. Zwischen der theologischen Position der Sadduzäer und der der —>Samaritaner bestehen gewisse Ähnlichkeiten, die ihre Ursache in einer ähnlichen Struktur der Entstehungsgeschichte haben. Die Samaritaner rekrutieren sich aus jenen Juden, die um den Garizim in Samaria lebten und die man vor der Makkabäerzeit Proto-Samaritaner nennen könnte. Sie sind, historisch gesehen, keineswegs die Nachkommen der Kuthäer aus II Reg 1 7 , 2 4 - 4 1 , wie es die bei Josephus erstmals belegte Interpretation (Ant 9 , 2 7 7 - 2 9 1 ) dieses Textes will. Sie bewahrten im Prinzip den Entwicklungsstand der jüdischen Religion des 2. Jh. v. Chr. Die zentralistische Religionspolitik der Hasmonäer trug den Proto-

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Judentum

Samaritanern gegenüber keine Früchte: Sie wurden nicht an Jerusalem gebunden, sondern hielten um so mehr am Status quo fest. Aus einer jüdischen Sondergruppe entwickelte sich eine eigene Religion. Abgesehen von der Wirkungsgeschichte des Pharisäismus sind die Samaritaner die einzige jüdische Gruppe aus der Zeit vor der Zerstörung des Tempels, die bis heute bestehen blieb. Historisch wichtig ist das Auftauchen der Gruppe der Asidäer ( = Chasidim), der ,Frommen', in der Zeit vor der Erhebung der Makkabäer (I Makk 2 , 2 9 - 3 9 ) , der ersten innerjüdischen Sondergruppe, von der die Quellen sprechen. Diese eschatologisch-apokalyptischen Gruppen zogen sich aus dem Kampf zurück und bewahrten gleichzeitig eine starke Naherwartung (vgl. I Makk 7 , 1 2 - 1 5 ; II Makk 14,6), wie sie bei den QumranEssenern (—>Qumran; —»Essener und Therapeuten) belegt ist. Sie suchten nicht mit Gewaltmethoden, sondern durch ihr von asketischen Prinzipien bestimmtes Gemeindeleben, das unmittelbare Eingreifen Gottes zur grundlegenden Änderung der Verhältnisse herbeizuführen. Im Ersten Jüdischen Krieg, der auch das Ende von Qumran bedeutete, gab es Verbindungen der Essener mit den Zeloten von Masada. Diese in äußerster Not entstandene Verbindung hebt die grundlegenden Unterschiede beider Gruppen nicht auf. Auf dem Hintergrund der essenischen Bewegung, die ja nicht auf Qumran beschränkt war, sondern dort nur ihr Zentrum hatte, lassen sich die Charakteristika des Pharisäismus gut verdeutlichen. Beide Bewegungen haben einen asidäischen Mutterboden. Die -»Pharisäer wollten unter Berücksichtigung der mündlichen Tradition eine Interpretation der Tora ermöglichen, die auch in Zukunft ihre Relevanz für das jüdische Leben sicherstellte. Man kann trotz der Bedeutung der Pharisäer in dieser Zeit nicht von einem pharisäisch geprägten normativen Judentum sprechen, weil das Judentum gerade in diesem Abschnitt der Geschichte noch tastend seinen Weg in die Zukunft suchte. Zu den wichtigen theologischen Positionen, die den Pharisäern auch eine beachtliche Anhängerschaft sicherten, gehörte ihre lebensnahe Interpretation des Religionsgesetzes (nach bBB 21 a schufen sie auch Schulen dafür). Für sie gehörte nicht nur die schriftliche Tora vom Sinai, sondern auch das durch Mose mündlich überlieferte Gesetz zum Offenbarungsgut. Dennoch suchten die Pharisäer, ebenso wie die Sadduzäer, einen modus vivendi mit dem Hellenismus. Im Sanhedrin waren sie gemeinsam mit den Sadduzäern vertreten, wobei doch dieses Gremium nach hellenistischem Vorbild organisiert war. So unterstützten sie später auch den Kampf gegen Rom nicht, was ja zum Bruch mit der Splittergruppe der -*Zeloten führte, die aus den Pharisäern hervorgingen. Zusammen mit ihrer strukturbedingten Distanz zum Tempel und der Konzentration auf das Studium der Überlieferungen leisteten sie die entscheidende Vorbereitungsarbeit für ein Judentum ohne Tempelkult. Die Gründung des Lehrhauses in Javne war die logische Konsequenz aus der vorherigen Entwicklung: An die Stelle des Tempelkultes traten Torastudium und Gebetsgottesdienst. Diese veränderte Struktur ermöglichte dem Judentum die Bewältigung der Zukunft. Ein Aspekt der Entfremdung des Pharisäismus von den Ausgangspositionen war die zunehmende Entfremdung vom einfachen Volk, das zwischen den verschiedenen Religionsparteien stand, aus Unwissenheit die Gesetze nur ungenau befolgte und Am Haaretz genannt wurde. Eine lebenswichtige Frage wurde immer drängender, nämlich die nach dem Verhältnis zur römischen Besatzungsmacht. Die Pharisäer nahmen diesbezüglich eine realpolitische Haltung ein. Unter der Last der römischen Herrschaft entwickelten sich in Palästina aber neue politisch-religiöse Gruppen, denen es vor allem um die Unabhängigkeit ging. Die ganze Zeit von der Eroberung Jerusalems durch Pompejus 63 v. Chr. bis zum Aufstand des Bar Kochba (135 n. Chr.) ist geprägt durch den Kampf um dieses Ziel. Etwa 6 n. Chr. wurde von Judas aus Galiläa die Partei der -*Zeloten gegründet, die aus dem radikalen Flügel der Pharisäer hervorging. Josephus gibt zwei unterschiedliche Beschreibungen der Zeloten. Im Bellum wird die neue Sekte des Judas aus Galiläa als eine von drei als ,Philosophenschulen' der Juden bezeichneten Gruppen klar abgesetzt, während sie in den Antiquitates als ,4. Schule' gewissermaßen gleichberechtigt neben den Pharisäern, Saddu-

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zäern und Essenern (vgl. Bell 2,118 und Ant 18,23) erscheint. Insgesamt ist methodisch zu bedenken, daß Josephus von einer tiefen Feindschaft gegenüber der zelotischen Freiheitsbewegung erfüllt ist und sein Quellenmaterial daher fragmentarisch und verzerrt wiedergibt. Mit sichtlichem Wohlwollen legt er andererseits dem Eleazar bei dessen letzter Ansprache in Masada die Prinzipien dieser Befreiungsbewegung in den Mund: „Schon vor langer Zeit, tapfere Kameraden, haben wir den festen Vorsatz gefaßt, weder den Römern noch irgend einem andern Untertan zu sein, sondern allein Gott, denn er allein ist der wahre und rechtmäßige Herr der Menschen" (Bell 7,323). Ihr Ziel, das römische Joch abzuschütteln, fand in der Bevölkerung starken Widerhall. Es ging aber nicht minder um die kultische Reinhaltung des Tempels verbunden mit strikter Toraobservanz. Z u diesem Zweck ging ein extremer Zweig der Zeloten, die Sikarier, zu Guerilla-Methoden über. Sie töteten jene Juden, die sie für Kollaboranten mit den Römern hielten. Schließlich gelang es dieser Bewegung, das jüdische Volk in seiner überwiegenden Mehrheit in den offenen Krieg gegen Rom zu treiben. Sie waren auch die letzten Verteidiger von Masada, die den Selbstmord der Ergebung und damit der formellen Aufgabe der Souveränität eines jüdischen Staatswesens vorzogen (73 n.Chr.). Da der Zeitgeist das Bedürfnis nach einer monotheistischen Religion förderte, gab es unter der heidnischen Bevölkerung des gesamten Reiches viele sogenannte Gottesfürchtige' (vgl. Ant 14,110-118), d . h . Sympathisanten, die nicht formell zum Judentum übertraten, aber manche Vorschriften desselben eklektisch einhielten. Daneben gab es aber eine große Zahl von Heiden, die das Judentum voll annahmen und so zu Proselyten wurden. In dieser Zeit entwickelten sich daher auch die rabbinischen Vorschriften für die formelle Aufnahme ins Judentum (bYev 46b—47a; Traktat Gerim 1). In den je verschiedenen rigorosen Anforderungen werden auch die Unterschiede der rabbinischen Schulen des Hillel und des Schammai (-»Hillel/Hillelschule) sichtbar (bShab 31a). Da die Zahl der Proselyten ständig stieg, für sie aber innerhalb des Judentums gewisse rechtliche Beschränkungen (Ehe mit einem Priester: bYev 60 b; öffentliche Ämter: bYev 45 b) galten, können sie als eigene innerjüdische Gruppe angesehen werden. Die Zahlen, die für die jüdische Bevölkerung Palästinas in dieser Zeit genannt werden, sind sehr schwankend und reichen von 700000 bis 2,5 Millionen. Für die Diaspora denkt man an 2 bis 7 Millionen. In jedem Fall kommen diese wegen des nahezu völligen Mangels an brauchbaren Quellen höchst unsicheren Zahlen, durch die Hinzurechnung der Proselyten zustande. Die pharisäischen Missions-Aktivitäten werden im Neuen Testament (Mt 23,15) erwähnt und in dem Wort des Matthäus vielleicht etwas übertrieben, wenn es von den Pharisäern heißt, daß sie „über Länder und Meere reisen eines einzigen Proselyten wegen". Als eine der inner jüdischen Gruppen ist in seiner Entstehungsphase zunächst auch das Christentum zu verstehen. Es war jedoch die jüdische „Sekte" mit der wichtigsten Nachgeschichte überhaupt, obwohl seine Anfänge weder von zeitgenössischer jüdischer (Ant. 18,63-64 ist in seiner Echtheit umstritten) noch heidnischer Seite (Tacitus, Ann. 15,44; Plinius, epist. 10,96,7; Sueton, Claud. 25,4) viel Beachtung fanden. So ist die wichtigste Quelle für die Entstehung des Christentums das Neue Testament. Da dieses bereits von einem „nachösterlichen" Verstehenshorizont her geschrieben ist, bleiben viele wichtige Einzelheiten der Entstehungssituation ungeklärt und wird der Zugang zum historischen Jesus sehr erschwert. Wie die Forschungsgeschichte zeigt, wird immer mehr versucht, das zeitgeschichtliche jüdische Material zu nutzen. Jesus selbst kann am besten als der pharisäischen Richtung nahestehend und von starken apokalyptischen Tendenzen geprägt verstanden werden. Der vermutete Zusammenhang mit den Qumran-Essenern ist sicher kein direkter. Waren diese esoterisch, so waren Jesus und das junge Christentum durchaus nach außen hin offen. Jesus von Nazareth wurde den Römern als angeblich zelotischer Messiasprätendent ausgeliefert und auf Grund dieser Fehleinschätzung zur Vermeidung größerer Unruhen prophylaktisch hingerichtet. Seine Feststellung, die Tora nicht aufheben, sondern erfüllen zu wollen (Mt 5,17), zeigt ihn als voll in der jüdischen Tradi-

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tion stehend. So haben auch die aus dem jüdischen Milieu kommenden Christen weiterhin die Tora beobachtet und werden demgemäß als Judenchristen bezeichnet. Für dieses —•Judenchristentum konnte die Kontinuität mit dem Judentum am besten dadurch erreicht werden, daß Jesus als Messias verstanden wurde, obwohl der historische Jesus diesen Anspruch nicht erhoben haben dürfte. Wie die verschiedenen Hoheitstitel Jesu zeigen, wurde seine Autorität dem Verstehenshorizont verschiedener Gruppen entsprechend ausgedrückt. Eine wichtige Rolle bei der christlichen Darstellung des Jesus-Christusbildes spielten gewisse innerjüdisch-hellenistische Tendenzen. Die bei Philo belegte Logoslehre etwa bereitete späteren christlichen theologischen Entwicklungen den Weg, die keineswegs nur als Anleihe im heidnisch-hellenistischen Raum verstanden werden dürfen. Man wird vielmehr sagen können, daß das Christentum bis zu einem gewissen Grad die hellenistisch-jüdische Tradition fortgesetzt hat, die im pharisäisch-rabbinischen Judentum keine Weiterentwicklung erfuhr. Daß Paulus als hellenisierter Jude die vorhandenen Tendenzen verstärkte, ist offenkundig. Der Antinomismus des Paulus schuf dem Christentum günstigere Ausbreitungsbedingungen, als sie das Judentum im Hinblick auf die Gesetzesobservanz hatte. Freilich war die Zahl der - auch hellenisierten - Juden, die Christen wurden, nicht sehr groß. Am stärksten war noch der jüdische Zustrom zum Christentum in Alexandrien. So vermochte das junge Christentum auch in den Kreisen des palästinischen Am Haaretz keine großen Missionserfolge zu erzielen. Diese distanzierte Haltung schlägt sich nicht zuletzt in der christlichen Kritik an der jüdischen „Starrköpfigkeit" nieder. Geht man davon aus, daß die judenchristliche Gruppe sich erst allmählich aus dem Judentum heraus zu einer eigenen Religion entwickelte, so lassen sich verschiedene Fixpunkte des jüdisch-christlichen Auseinanderlebens registrieren. Eusebius (h. e. 3,5,3) berichtet über die Flucht der Judenchristen von Jerusalem nach Pella. Das geschah wohl weniger aus Furcht vor den Kampfhandlungen, als wegen der Unvereinbarkeit ihrer theologischen Positionen mit denen der Aufständischen. Wie weit die Einrichtung eines eigenen Gebetes gegen die Minim (Häretiker) durch den Patriarchen Gamaliel II. um 100 n. Chr. im sogenannten 18-Gebet sich jedoch ausdrücklich gegen die Christen richtete, bleibt trotz gegenteiliger Annahme fraglich. Schließlich war jedoch die Weigerung der Christen, sich am Bar-Kochba-Aufstand unter Hadrian (132-135 n.Chr.) zu beteiligen, das eindeutige Zeichen für eine bereits erfolgte Trennung. 3.3. Literatur zwischen Bibel und Mischna In der nach der Tempelzerstörung entstandenen Literatur werden wichtige Tendenzen sichtbar, mit denen sich das Judentum auseinanderzusetzen hatte, und indem es das tat, sich auch seine Gestalt für die kommenden Jahrhunderte gab. Durch die Zerstörung des Zweiten Tempels waren vor allem die Hoffnungen der jüdischen Apokalyptik schwer getroffen, da die Endzeit nicht wie erwartet angebrochen war. Die nun drängenden Fragen der Theodizee beschäftigen das 4. Esra-Buch (-> Esra/Esraschriften). Diese noch zu Lebzeiten Domitians (81-96 n.Chr.) entstandene jüdische Schrift erfreute sich besonderer christlicher Beliebtheit. Der Hinweis auf Vergeltung in einem kommenden Äon (5[7],10—14) macht im Vergleich mit dem Buch Hiob die Richtung der theologischen Entwicklung deutlich. Literarisch davon abhängig ist die etwa um 130 n. Chr. entstandene Syrische Baruchapokalypse (-»Baruch/Baruchschriften). Die Betonung der leiblichen Auferstehung (50,1-4) und des Gesetzes (84,8) rückt den hebräisch schreibenden Autor in die Nähe der pharisäischen Bewegung. Die Himmelfahrt des Mose (->Mose/Moselied) ist in lateinischer Sprache, allerdings wohl unvollständig, erhalten. Die lateinische Fassung geht aber über eine griechische Übersetzung auf ein hebräisches Original zurück, das wohl erst nach dem Jahre 70 endredigiert wurde. Im -»Judasbrief (9) des Neuen Testaments wird möglicherweise auf diese Schrift angespielt. Beachtenswert ist die Kritik, die an den Hasmonäern und besonders an Herodes (6,1-9) geübt wird. Der nur lateinisch erhaltene, ursprünglich aber wohl hebräisch verfaßte Liber Antiquitatum Biblicarum (1.Jh. n.Chr. mit älterem Material) wurde im 16. Jh. irrtümlich Philo zugeschrieben,

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stammt jedoch von einem anonymen jüdischen Autor. Die Art der Darstellung der biblischen Erzählungen (von Gen 5,1 - I Sam 31,4) zeigt viele Gemeinsamkeiten mit dem späteren rabbinischen Midrasch, wobei manche dort enthaltenen Motive hier erstmals belegt sind. Gegen den Hellenismus gerichtet, zeigt der Autor des aus jüdischem Milieu Alexandriens stammenden 4. Makkabäerbuches (->Makkabäer/Makkabäerbücher) (1. Jh. n.Chr.) Vertrautheit mit der stoischen Philosophie, bleibt aber voll seiner jüdischen Tradition verbunden. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele (18,23) zeigt freilich das Ausmaß des Einflusses griechischer Anthropologie. Unter dem Pseudonym des Phokylides, eines griechischen Dichters des 6. Jh. v. Chr., verbirgt sich offenbar ein jüdischer Autor, der sehr genau der Bibel folgt und gleichzeitig ein wichtiger Zeuge für die frühjüdische Weisheitstradition ist. Für dieses Werk des Pseudo-Phokylides, das der Mitte des 2. Jh. n. Chr. angehört, ist der Versuch einer Verbindung von Auferstehungserwartung und Unsterblichkeit der Seele (103-108) charakteristisch. Es stellt sich hier auch die Frage nach einem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der jüdischen Apokalyptik und der Entstehung der ->Gnosis des 1. und 2. Jh. n. Chr. Das Frühjudentum hat die Gnosis nicht als solche hervorgebracht, aber wichtige Lehrinhalte beigesteuert, die besonders auch für die Qumranschriften typisch sind: Geringschätzung der Materie, Besitz esoterischen Wissens und ein starkes angelologisches Interesse. Während dieses Gedankengut im Bereich des rabbinischen Judentums wirksam bleibt und in der späteren -»Kabbala zum Vorschein kommt, ist allerdings nur von einem, nämlich Elischa ben Abuja (1. Jh. n. Chr.), bekannt, daß er einen gnostischen Dualismus lehrte und Häretiker wurde (bHag 15a). Ein gutes Beispiel für die Verbindung jüdischer, gnostischer und christlicher Elemente in einer Schrift ist die Griechische Baruchapokalypse (—>Baruch/Baruchschriften), die etwa am Ende des 2. Jh. n.Chr. entstanden ist. Nicht selten wurden in dieser Zeit entstandene jüdische Schriften einer christlichen Bearbeitung unterzogen und auch so überliefert. Die Bilderreden des Henochbuches (äthHen 3 7 - 7 1 ; —>Henochgestalt/Henochliteratur) sind ein nachträglicher christlicher Einschub in dieses ansonsten jüdische Werk. Auch das Neue Testament, als christliche heilige Schrift und wichtige religionsgeschichtliche Quelle für das Judentum im 1. Jh. n. Chr., zitiert durchaus auch außerbiblische, jüdische Schriften. 4. Das rabbinische

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von 70—1038

4.1. Von ]avne bis Bet Schearitn (70—220

n.Chr. n.Chr.)

Die Niederlage gegen Rom hatte verheerende materielle Folgen für die Juden in Eretz Israel und kann auch in ihrer Bedeutung für die weitere Geschichte des Judentums nicht überschätzt werden. Der Statthalter der nun selbständigen Provinz Judäa residierte nicht in dem völlig zerstörten Jerusalem, sondern in Cäsarea. Durch die weitgehende Konfiskation von Grund und Boden (Bell 7,216f) wurden die jüdischen Bauern nun zu Pächtern ihres eigenen Landes. Für die Struktur der jüdischen Religion einschneidender war jedoch der Umstand, daß man jetzt ohne den Tempelkult auskommen mußte. Die äußeren Umstände ließen den Gedanken an einen Wiederaufbau des Heiligtums nicht zu. Spätere Berichte über tempelbezogene Kulthandlungen sind wohl rückprojizierte Wunschvorstellungen (mPes 7,2; mEd 8,6). Die Situation wurde noch dadurch erschwert, daß auch der Sanhedrin zu bestehen aufgehört hatte. Das Judentum wurde jedoch nicht unvorbereitet getroffen, da sich bereits im letzten Jahrhundert vor der Zerstörung des Tempels, nicht zuletzt als Frucht der pharisäischen Bewegung, die neue synagogal-rabbinische Struktur des Judentums herausgebildet hatte. An die Stelle des Tempels tritt die Synagoge, an die des Priesters der Rabbi, wobei die grundlegende inhaltliche Verschiedenheit beider Institutionen nicht übersehen werden darf. Das entscheidende Problem bestand zunächst nur darin, die neue Autorität zu legitimieren. Das geschah durch den Kontinuitätsnachweis, wie er etwa mAv 1,1 erbracht wird. Durch die offizielle Beauftragung, Ordination {Semich a), der Rabbinenschüler nach vollendeter Ausbildung wurde dieses Kontinuitäts-

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Schema aktualisiert. Dazu kommt noch die legendenhafte Darstellung (ARN A Kap 4; ARN B Kap 6; bGit 56 b) der grundlegenden Initiative des Rabbi -»• Johanan ben Zakkai bei der Gründung des Lehrhauses in Javne ( = Jamnia). Er und sein Kreis hatten das Prinzip formuliert, daß Studium der Schrift, Gebet und das Vollbringen guter Werke den Tempelkult und die Darbringung von Opfern ersetzen. So gesehen war nun die jüdische Religion auch in Palästina selbst strukturell eine Diaspora-Religion. Der dadurch unvermeidbare Bruch mit der Vergangenheit wurde dadurch gemildert, daß in Hinblick auf das Religionsgesetz durchaus die Kontinuität gewahrt wurde. So wurden auch die halachischen Bestimmungen bezüglich des Tempelkultes weiter tradiert, obwohl sie ja augenscheinlich funktionslos geworden waren. In der Reihe der führenden rabbinischen Autoritäten dieser Zeit sind R. -»Gamaliel II., Rabbi —• Akiva und R. Jischmael zu nennen, die auch bereits erste Sammlungen religionsgesetzlicher Entscheide anlegten, woraus sich •nach 135 n.Chr. die Mischna entwickelte. Der Bar-Kochba-Aufstand (132-135 n.Chr.), der Zweite Jüdische Krieg, liegt weit mehr im Dunkel der Geschichte als der Erste. Die Ereignisse können nur aus fragmentarischen literarischen Quellen und nicht aus einer umfassenden Darstellung, wie sie Josephus für den Ersten Jüdischen Krieg bot, rekonstruiert werden, wobei jedoch die Funde aus der Wüste Juda auch eine wesentliche Quelle darstellen. So läßt sich auch der Anlaß für den Ausbruch nur vermuten: Es war der Plan Hadrians (117-138 n.Chr.), Jerusalem in eine hellenistische Stadt mit einem heidnischen Zentralheiligtum umzugestalten. Der Führer des Aufstandes war der „Fürst" (Nasi) ->Simon ben Kosiba (nach Num 24,17) mit messianischer Konnotation „Sternensohn" = Bar Kochba oder pejorativ „Lügensohn" = Bar Kosiba genannt. Wie die Ausdrücke „Erlösung" (ge'ulah) und „Freiheit" (cherut) auf den Münzen aus diesen Jahren zeigen, war das Ziel des Aufstandes die politische Unabhängigkeit Israels und damit verbunden die Verfügung über Grund und Boden. Obwohl Bar Kochba die Unterstützung des Rabbi Akiva, des bedeutendsten Rabbinen der Zeit (yTaan 4,8 68 d) hatte, der in ihm einen messianischen Prätendenten sah, hat er wohl kaum der pharisäischen Richtung angehört, sondern ist eher mit den Zeloten zu vergleichen. Dem Aufstand blieb ein entscheidender Erfolg versagt; es ist eher unwahrscheinlich, daß Jerusalem überhaupt in die Hände der Aufständischen gelangte. Mit der Niederlage von Bethar (yTaan 4,8 69 a) war der Aufstand niedergeschlagen. Dem Scheitern folgten die hadrianischen Dekrete (bTaan 18 a), die die Beschneidung und die öffentliche Unterweisung in der Tora verbaten und die Juden überhaupt am Betreten Jerusalems hinderten, das jetzt endgültig Colonia Aelia Capitolina genannt wurde. Die römischen Oberherren erkannten bald, daß der Wille zu weiteren gewaltsamen Erhebungen gebrochen war. So wurden unter Antoninus Pius (138-161 n. Chr.) diese Dekrete wieder aufgehoben oder nicht mehr urgiert. Den Juden erschien dieser Zustand als wenigstens minimaler Freiheitsraum, in dem jüdische Selbstverwirklichung möglich war. So förderten die Römer die Rückkehr geflohener Rabbinen und gestatteten die Errichtung eines Bildungszentrums in Uscha in Galiläa. Damit verlagerte sich das jüdische Leben praktisch vollständig von Judäa in den Norden des Landes. Die Wiederherstellung der wesentlichen Einrichtungen wurde vom zukünftigen Messias erhofft: die davidische Monarchie, der Tempelkult, die Zusammenführung der Diasporagemeinden. Einer der wichtigsten organisatorischen Wünsche der Rabbinen war der nach der Reorganisation eines Gremiums, das die früheren Funktionen des Sanhedrin übernehmen würde. Hier sollten vor allem wichtige religionsgesetzliche Entscheidungen getroffen werden. Unter Simeon ben Gamaliel II. (145-175 n. Chr.) konnte schließlich ein oberster Gerichtshof gegründet werden. Simeon selbst war Patriarch, wie die griechische Bezeichnung für den Nasi (Fürst) lautete, und R. Natan war als Av-Bet-Din (Gerichtsvorsitzender) sein Stellvertreter. In der Hand des Patriarchen lagen alle für das religiöse aber auch politische Gemeindeleben relevanten Maßnahmen (bHor 13 b). Den Höhepunkt erreichte dieses Amt bereits unter seinem Sohn und Nachfolger Jehuda ha-Nasi (Jehuda der Fürst, 1 7 5 - 2 1 7 n . Chr.), der von Uscha nach Bet Schearim übersiedelte. Die zahlreichen in der dortigen Nekropole

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gefundenen griechischen Grabinschriften zeigen, welche Bedeutung die griechische Kultur in dieser Zeit sowohl für das Judentum in Eretz Israel als auch in der Diaspora hatte. Mit persönlichem Vermögen ausgestattet (yAZ 2,10 42 a; bBer 43 a), vom Volk anerkannt und von den Römern unterstützt, ging es Jehuda ha-Nasi darum, eine Kodifikation der religionsgesetzlichen Bestimmungen, —>Halacha (hlk = gehen), vorzunehmen. Die ->Mischna (hebr.: schana = wiederholen, lernen sc. der mündlichen Tradition), wie dieses Sammelwerk heißt, hatte Vorläufer. Es bleibt allerdings unklar, welchen genauen „Sitz im Leben" eine solche Sammlung hatte, ob sie primär Kodifikation oder eher Lehrbehelf sein sollte. Die Promulgation eines offiziellen rabbinischen Korpus anstelle privater Sammlungen bedeutete einen gewissen Traditionsbruch, so daß es naturgemäß Opposition dagegen gab, weil manche Rabbinen ihren eigenen Sammlungen treu bleiben wollten. Die Autorität des Amtes verlieh aber auch dem Werk Autorität, das nicht zuletzt wegen des praktischen Vorteils, den ein allgemeinverbindliches Korpus bot, bald allgemeine Akzeptanz erfuhr. Es wurde die Mischna schlechthin. Mit der Mischna war ein Werk geschaffen, das auch in Zukunft der Kern weiterer rabbinischer Reflexionen blieb. Um die Mischna als Kern entstand in der folgenden Periode der ->Talmud. In ihren sechs Ordnungen (s'darim), die der Landwirtschaft (Zeratm = Samen), den Festen (Moed = Festzeit), dem Familienleben (Naschim = Frauen), dem bürgerlichen Recht (N"ziqin = Schadensfälle), den Opfern (Qodaschim = Heiliges) und den Speisevorschriften (Toharot = Reines) gewidmet sind, nimmt die Mischna zu praktisch allen Lebensbereichen Stellung. Der Mischna-Traktat (Traktat = massechet, d.h. Unterabschnitt einer Ordnung der Mischna) Pirqe Avot, der auch vorchristliches Material enthält, akzentuiert das spirituelle Anliegen, das hinter diesem Rechtskorpus der Mischna steht: Das Studium des Gesetzes soll die Grundlage der ganzen Lebensordnung sein. In diesem Geist sind auch die in dieser Periode entstandenen sogenannten tannaitischen oder halachischen —»Midraschim (von: darasch = forschen, auslegen) verfaßt. Man nennt sie halachische, weil sie den Bibeltext im Hinblick auf seine religionsgesetzlichen Inhalte auslegen. Mit dem Buch Exodus (ab Kap. 12) beschäftigt sich die Mechilta de Rabbi Jischmael, dem Buch Leviticus ist Sifra (= Torat Kohanim) gewidmet, Sifre zu Numeri ist ein Kommentar zu den halachischen Partien des Buches Numeri, das Buch Deuteronomium schließlich erfaßt der uneinheitliche Midrasch Sifre zu Deuteronomium. Manche von der Mischna übergangenen Traditionen wurden in einem ihr ähnlichen Werk, das den Namen -*Tosefta (Hinzufügung) trägt, festgehalten. Die Entstehungsgeschichte dieses Werkes ist zwar wissenschaftlich kontrovers, man wird aber doch an einer Entstehung in der tannaitischen Zeit festzuhalten haben. 4.2. Die Zeit der Amoräer in Palästina (220-428 n.Chr.) Mit dem Abschluß der Mischna schließt auch die Periode der Tannaiten, und es beginnt die der Amoräer {amar = sprechen sc. „Interpreten"), jener Gelehrten, die die Mischna zur Grur-'läge weiterer Interpretationen machten. Die weitere Geschichte der Patriarchen in d< Periode der Amoräer ist im einzelnen nur wenig bekannt. Jedenfalls entwickelt sie sicn im Rahmen der allgemeinen Geschichte des Römischen Reiches. Das Patriarchat bildete das einigende Band der Juden in der ganzen Diaspora. Die Patriarchen konnten sich als die geistigen Führer der gesamten Judenheit durchsetzen (etwa in der Kalenderfrage Babylonien gegenüber: bBer 63 a) und fanden auch seitens der Römer offizielle Anerkennung. Die Patriarchen führten ihre Abstammung sogar auf David zurück. In ihrer Funktion als Oberhaupt der Juden und im Hinblick auf ihre angenommene davidisch'.; Abstammung knüpften sich an ihre Person auch messianische Hoffnungen. Die seit dem 3. Jh. n.Chr. im ganzen römischen Reich und natürlich auch in Palästina bestehenden schweren wirtschaftlichen Probleme, die in der rabbinischen Literatur ihren Niederschlag (bTaan 5 a; bSanh 98 b) fanden, trugen jedoch zum Niedergang des Patriarchenamtes sowie dem des palästinischen Judentums insgesamt bei. Dazu kam, daß das zahlenmäßig immer mehr an Bedeutung gewinnende Christentum nun auch zu einem

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entscheidenden politischen Faktor wurde, nachdem es 313 unter -»Konstantin d. Gr. zur anerkannten Religion geworden war. Das bedeutete insofern eine Gleichstellung mit dem Judentum, als nun auch die Christen vom Kaiseropfer befreit waren. Während die Zahl der jüdischen Gemeinden in Palästina zurückging, entstanden immer mehr christliche Siedlungen, und parallel dazu entwickelte sich ein reges Pilgerwesen (vgl. den Bericht des Pilgers von Bordeaux 333). Durch eine judenfeindliche Gesetzgebung der christlichen Kaiser verschärfte sich die Lage der Juden. So kam es zur Einschränkung der jüdischen Selbstverwaltung, Einmischung in die Steuererhebung und zur Einschränkung des Rechtes, Synagogen zu bauen. So traten nach langem wieder messianische Strömungen zu Tage (vgl. mSot 9,15). Die Erlaubnis von Kaiser Julian Apostata (361 -363) zum Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem stieß im palästinischen Judentum freilich nur auf geteilt Zustimmung. In der Diaspora dürfte der Versuch, den Tempel wieder aufzubauen, jedoch in weiten Kreisen hochgestellte Erwartungen geweckt haben. Die Vermittlung der rabbinischen Gelehrsamkeit an breitere Kreise erfolgte in den Schulen, die von der elementaren bis zur höheren Bildung auch organisatorisch gestaffelt waren. So gehörte auch der Bildungsauftrag für die männliche Jugend zu den religiösen Pflichten. Mit fünf oder sechs Jahren begann für den jüdischen Knaben die biblische Unterweisung, ab dem 10. Lebensjahr folgte das Studium der Mischna, woran das Studium des Talmuds und die damit verbundenen Argumentationstechniken anschlössen. Im 4. Jh. gab es in L;/dda, Caesarea, Sepphoris und Tiberias Akademien für das Studium der Mischna und des dazu immer umfangreicher werdenden Kommentars, der Gemara. Caesarea, der Sitz der römischen Verwaltung, war auch das Zentrum heidnischer, christlicher und samaritanischer Gelehrsamkeit. Die dortige jüdische Bildungseinrichtung stand unter der Leitung des bedeutenden Gelehrten Abbahu (279-320). Abbahu war persönlich wohlhabend und bei den römischen Behörden angesehen. Er konnte also eine relativ unabhängige Lehrtätigkeit entfalten und auch die begabtesten Studenten seiner Zeit anziehen. Die dort entstandenen Kommentare zu den bürgerlichen Rechtsabschnitten wurden zusammen mit den ein halbes Jahrhundert später in Tiberias entstandenen übrigen Mischna-Kommentaren zum palästinischen oder Jerusalemer Talmud zusammengefaßt. Die Macht der christlichen Kaiser erlaubte nach dem Tod Gamaliels VI. (425 bzw. 428 n. Chr.) unter dem Druck der oströmischen Regierung die Abschaffung des Patriarchats und die Übernahme des Patriarchalschatzes in die Staatskasse. Der Abschluß des sogenannten Jerusalemei Talmuds wird wohl nicht viel später, bis etwa 450 erfolgt sein. Die Bibellesung in den Synagogen am Montag, Donnerstag, Sabbat und an den Feiertagen verbunden mii Predigten sorgte dafür, daß es ein Leben lang nicht an Unterweisung mangelte. Die spirituellen und rituellen Anliegen und Schwerpunkte der Amoräer kann man aus den meist homiletischen Midraschim der amoräischen Zeit unschwer erkennen. Diese Midraschim sind Sammlungen von Predigtkommentaren zu biblischen Leseabschnitten im Syaagogengottesdienst. Die bekanntesten sind P'siqta de Rav Kahana (5. Jh.) und die um e:n bis zwei Jahrhunderte später endredigierte Pesiqta Kabbati. Die Zahl der Midraschim, cie im Laufe der folgenden Jahrhunderte bis ins Mittelalter hinein entstanden sind, ist sehr groß. Der Vormarsch der Perser weckte in der bedrückten Situation messianische Hoffnungen. Tatsächlich kam es nach der Eroberung durch die Perser zwischen 614-617n.Cfcr. zu einer kurzen Periode selbständiger jüdischer Herrschaft in Jerusalem. Diese Vorgänge fanden in zwei Schriften ihren Niederschlag, nämlich der Serubbabel-Apokalypse und dem Midrasch des Elija. Das blieb aber nur eine Episode vor der Wende, die die Ausbreitung des Islam und die Eroberung Jerusalems im Jahre 638 n. Chr. bedeutete. 4.3. Die Zeit der Amoräer in Babylonien (220-651 n. Chr.) In Babylonien, das außerhalb des christlichen Herrschaftsbereiches lag, bestanden auch alle Einrichtungen der autonomen jüdischen Selbstverwaltung. Die Lebensbedingungen zogen immer mehr Menschen von Palästina nach dort, wo sie sowohl ökonomisch wie religiös die größeren Entfaltungsmöglichkeiten hatten. Die babylonische.! Ar-

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sakiden-Herrscher (247 v. C h r . - 2 2 4 n. Chr.) hatten als Verantwortliche für die innerjüdische Selbstverwaltung einen sogenannten Exilarchen bestimmt (ca. 100 n. Chr.), der als das „Haupt der Juden im Exil" (resch galuta) - mit der Behauptung davidischer Herkunft die Juden wie ein Fürst regierte. Mit der Gründung der Akademien, die ja die Experten in religionsgesetzlichen Fragen heranbildeten, verlagerte sich das Schwergewicht der zivilrechtlichen Verwaltung dorthin. Die Funktion des Exilarchen, der auch meist kein führender Gelehrter mehr war, wurde immer mehr eine repräsentative. Naturgemäß gab es zwischen der geistlichen Führung und den Interessen des auf die weltlichen Geschäfte ausgerichteten Exilarchen Spannungen, ohne daß die Symbiose beider vor dem 11. Jh. ernstlich gefährdet gewesen wäre. Als die Sassaniden (224-651 n. Chr.) die Macht übernahmen, kam es im Zuge der Restauration der zarathustrischen Religion anfänglich zur Intoleranz gegenüber den Juden. Aber bereits unter König Schapur I. (241-271) sind gute Beziehungen zu den bekannten jüdischen Gelehrten Samuel und R. Juda belegt, und die Herrscher schützten fortan die Juden gegen die Übergriffe lokaler Priesterschaften. Das schuf jene Situation, in der sich das babylonische Judentum zu einem Paradefall jüdischer Diasporaexistenz entwickeln und modellhaft dafür werden konnte. Ein für die Diasporasituation wesentliches Prinzip wurde in Babylonien von Samuel (gest. 254), dem Schulhaupt von Nehardea, formuliert: „Das Gesetz der weltlichen Herrschaft ist bindend" (bGit 10 b). Durch die extensive Interpretation dieses zunächst nur im Hinblick auf die Steuerpflicht formulierten Prinzips wurde eine prinzipielle Haltung der Juden gegenüber der jeweiligen Autorität in der Diaspora begründet. Naturgemäß wirkte sich die rabbinische Autorität zunächst im öffentlich-rechtlichen Bereich aus und nicht so sehr im inneren spirituellen. Die internen jüdischen Rechtsstreitigkeiten wurden vor jüdischen Gerichten ausgefochten, um die Gültigkeit des Religionsgesetzes im jüdischen Leben voll zu bewahren. Die Juden Babyloniens lebten hauptsächlich von der Landwirtschaft, wie die vielen aus diesem Lebensbereich stammenden Rechtsbeispiele im Babylonischen Talmud zeigen. Die rabbinische Bildung wurde in sogenannten Akademien vermittelt. Um etwa 220 brachte ein Schüler von Jehuda ha-Nasi, Abba Aricha, die Mischna nach Babylonien und gründete in Sura eine Akademie, die sich bewußt an palästinische Traditionen und Lehrmethoden anschloß. Dadurch fand die Mischna in Babylonien Verbreitung und Anerkennung. Gleichzeitig entfaltete in einem schon länger bestehenden Zentrum der Gelehrsamkeit, in Nehardea, der schon genannte Samuel eine reiche Lehrtätigkeit, die sich aber weniger an das palästinische Vorbild hielt. Durch diese Institutionen gelang es, in Babylonien ein bodenständiges Rabbinat heranzubilden. In Analogie zum palästinischen Talmud, der den babylonischen Gelehrten in irgendeiner Form sicher bekannt war, gingen die Akademien in Babylonien daran, auch ihr eigenes Material zu sammeln. Da sich in Babylonien die Gattung des Midrasch nicht entwickelte, wurde auch das haggadische — d. h. das erzählende im Unterschied zum religionsgesetzlichen — und nicht nur das halachische Material in den Talmud aufgenommen. Der Tradition zufolge soll der Babylonische Talmud unter Rav Aschi (gest. 424 n. Chr.) abgeschlossen gewesen sein. Die Periode der Amoräer wird der Überlieferung nach mit dem Gelehrten Rabina (gest. um 500) als beendet erklärt (vgl. bBM 86a). Die darauf folgende Zeit zwischen 500 und 651 (arabische Eroberung des Sassaniden-Reiches) wird die saboräische Zeit genannt, in der noch ein gewisses Maß an ergänzender redaktioneller Arbeit am babylonischen Talmud geleistet wurde. Diese letzten Redaktoren und Tradenten, die sogenannten Saboräer ( = Erklärer) bilden bereits die Überleitung zu der nach den Geonim benannten nächsten Periode jüdischer Geschichte, nämlich der sogenannten geonäischen. Der babylonische Talmud wurde nun immer mehr zur verbindlichen Grundlage religionsgesetzlicher Entscheidungen der babylonischen Rabbinen und der von ihnen beeinflußten Gemeinden. Die jüdische Religion hatte sich in diesen Jahrhunderten weiter verbreitet. So lebten in der Nähe von Yathrib (später Medina) jüdische Stämme, die auf ihren Monotheismus und ihre Eschatologie stolz waren. Der letzte Himyaritische Herrscher des Jemen, Dhu Nuwas, erklärte sich als Jude, unterlag aber 525 den Abessinischen Armeen, die unter christli-

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Judentum

chem Einfluß standen. Insgesamt kam es in diesem geographischen Bereich zu Mischformen jüdisch-christlicher Religion, die ihrerseits dann die Keimzelle für den islamischen -•Monotheismus werden sollte. 4.4. Das Zeitalter der Geonim von 651 — 1038

n.Chr.

Die Ausbreitung des -*lslam zwischen dem 7. und 8. Jh. machte die Juden Babyloniens nun zu Untertanen in einem islamisch regierten Land. Es wurde ihnen eine ähnliche Autonomie eingeräumt wie früher unter der sassanidischen Herrschaft. Für sie galten nun die Regeln, die der Islam den „Schutzbefohlenen Völkern" (ahl al-dhimma) gegenüber zur Geltung brachte. Ein wesentliches Recht war das der Gemeinschaftsbildung. Die Exilarchen galten daher auch den Kalifen als die oberste jüdische Instanz, deren Entscheidungen im religionsgesetzlichen Bereich auch staatlich anerkannt wurden. Ihre Autorität galt für alle jüdischen Gemeinden, die unter islamische Herrschaft kamen. Die Juden Babyloniens hielten so mit allen Diasporagemeinden und auch denen in Palästina engen Kontakt. Unter dem tatkräftigen Jehudai Gaon von Sura (760-763) wurde der palästinische Einfluß überall zugunsten des babylonischen zurückgedrängt. So trat selbst in Palästina das Studium des Jerusalemer Talmud zurück und wurde zur Domäne nur weniger Spezialisten unter den Juristen. Dadurch wurde der babylonische Talmud zur konkurrenzlosen N o r m für alle jüdischen Gemeinden. Zwischen der Autorität der Exilarchen und der der Vorsteher der Akademien, der Geonim, mußte es aus strukturellen Gründen zu Spannungen kommen. Das um so mehr, als die Vorsteher der Akademien seit der islamischen Zeit zu sehr selbstbewußten Führerpersönlichkeiten geworden waren, so daß sie die Profilierung anderer Gelehrter kaum zuließen. Dazu kam, daß die Geonim allmählich nur mehr aus bestimmten Familien genommen werden konnten und dadurch gleichsam eine Dynastie entstand. Andererseits hatte jedoch auch der Exilarch ein gewisses Einspruchsrecht bei der an sich durch Wahl erfolgenden Bestellung eines Gaon. Das zentrale Anliegen bestand in dem Bemühen, den religiös-kulturellen Fortbestand des jüdischen Volkes in der Diaspora zu sichern. Um das zu erreichen, griffen die rabbinischen Autoritäten auch zu der Sanktion des Cherem (->Bann), d . h . des Auschlusses aus der Gemeinde. Diese gleichermaßen über den religiösen Gewissensbereich und die Sozialkontrolle wirksame M a ß n a h m e macht die prinzipielle Einheit von Religion und Volk in dieser Phase der jüdischen Geschichte deutlich. Die chaotischen Zustände, die um 900 im Geonat herrschten, hatten aber nicht nur organisatorische Ursachen, sondern sind auf dem Hintergrund neuer religionsphilosophischer Strömungen innerhalb und außerhalb des Judentums zu sehen. In einem waghalsigen Kraftakt versuchte der Exilarch David ben Zakkai (916/17—940) die Autorität des Geonats wieder herzustellen. Um das zu erreichen, mußte er die angestammten Familien, aus denen die Geonim genommen wurden, übergehen. So bestellte er ->Sa'adja ben Joseph (882-942), einen angesehenen Gelehrten aus Fajjum in Ägypten, der sich in der Auseinandersetzung mit den Karäern bereits Verdienste erworben hatte, zum Gaon (928). Politisch gesehen war das ein völliger Mißgriff, da die Verhältnisse durch bürgerkriegsähnliche Zustände noch schlimmer wurden. Es kam zur Aufstellung eines Gegen-Exilarchen und eines Gegen-Gaon. Andererseits erhielt das wissenschaftliche Werk des Sa'adja durch die Position, die er bis 937 innehatte, einen offiziellen Charakter. Der Niedergang des Geonats war nicht mehr aufzuhalten. Obwohl Geonim wie Scherira und Hai (968-1038) mit ihren Responsen aus Pumbedita noch nachhaltigen Einfluß auf die verschiedenen jüdischen Gemeinden ausübten, bildeten sich verschiedene bedeutende Zentren jüdischen Lebens in der Diaspora heraus, deren Eigenständigkeit von den Geonim nicht mehr eingeschränkt werden konnte. Es waren das vor allem Ägypten, Kaiman (im heutigen Tunesien gelegen) und besonders Spanien. Das entscheidende Vermächtnis der Geonim für das Judentum war der babylonische Talmud.

Judentum 4.5. Auseinandersetzungen

um die rabbinische

351 Tradition

Das doch eher massive Vorgehen der Exilarchen und Geonim stieß naturgemäß in von Babylonien entfernteren Gebieten auf Widerstand, der sich in Form sektiererischer und messianischer Bewegungen äußerte. Die meisten dieser Bewegungen wurden rasch unterdrückt. Erst durch Anan ben David, einen benachteiligten Angehörigen der Exilarchenfamilie, entstand Ende des 8. Jh. eine Bewegung, die zu einer echten Herausforderung für die Rabbaniten (Bezeichnung der Gegner für die talmudtreuen Juden) werden sollte. Die als —»Karäer (Bibeltreue) bezeichnete recht uneinheitliche Gruppe hatte ein dreifaches Programm: a) Ablehnung des rabbinischen Religionsgesetzes als menschlicher Erfindung, das eine unautorisierte Hinzufügung zur Bibel darstellt, b) Rückkehr nach Palästina, um die Ankunft des Messias zu beschleunigen, c) ein erneutes Studium der Bibel, um zum authentischen Religionsgesetz und zur gültigen Lehre zu gelangen. Angesichts der sektiererischen Herausforderungen im Bereich der Halacha schufen die Geonim Handbücher, die einzelne religionsgesetzliche Bereiche in übersichtlicher und praktischer Weise ordneten. Zu größerem Ansehen gelangten dabei die Sche'eltot (Anfragen) des R. Acha von Schabcha (680-752) sowie die Halachot G'dolot („große Gesetze"; erster Beleg für die Zusammenstellung der „613 Gebote und Verbote" vgl. bMak 23 b) und die damit zusammenhängenden und um 740 entstandenen Halachot P'sukot, als deren möglicher Autor Jehudai Gaon genannt wird. Diese Werke ermöglichten es lokalen Gemeinden, halachisch kontroverse Fragen auch ohne spezielle Anfrage selbst zu klären. Gottesdienstlichen Fragen gewidmet war der Siddur des Rav Amram Gaon (gest. 875). Dieses Werk ist die älteste vollständig erhaltene Ordnung des jüdischen Gottesdienstes überhaupt. Unter dem aus Persien stammenden Daniel al-Qumisi (ca. 850) entstand im Heiligen Land eine karäische Niederlassung, von der aus die Karäer sich bis Nordwestafrika und Spanien verbreiteten. Eine große Zahl von karäischen Schriften enthielt neue Aspekte der Bibelauslegung. Die unmittelbarste Konsequenz war das Bemühen um einen eindeutigen Bibeltext. Das führte im 9. und 10. Jh. in Babylonien und in Tiberias zur Schaffung verschiedener Systeme zur Vokalisation des Bibeltextes. Diese Arbeit der tiberiensischen Masoreten Ben Naftali und Ben Ascher fixierte den masoretischen bis heute gültigen Standardtext der Bibel, aber auch der hebräischen Grammatik. Eher machtlos standen die Geonim den philosophischen Bewegungen der Zeit, die man als Säkularisierungsphänomen bezeichnen könnte, gegenüber. Es handelte sich um eine Renaissance der griechischen Philosophie, verbunden mit dem Entstehen einer neuen Schicht von Gebildeten in den verschiedenen politischen und kommerziellen städtischen Zentren. Die Konsequenz war wachsende Laxheit gegenüber dem Religionsgesetz und seiner Beachtung. In dieser Zeit gewinnt auch das noch vor der arabischen Eroberung entstandene Werk Sefer -* Jesira neuerlich an Bedeutung. Zu diesem schwer verständlichen Buch, das sich in neuplatonischer Weise mit der Weltschöpfung befaßt, entstanden nun zahlreiche Kommentare. War es Sa'adja Gaon auch nicht möglich, durch äußere organisatorische Maßnahmen wirksam zu werden, so geschah dies um so nachhaltiger durch seine wissenschaftlichen Werke, denen auch durch sein Amt als Gaon von Sura von vornherein die Aufmerksamkeit sicher war. Sein großes Anliegen war der Erweis der Übereinstimmung von Vernunft und Tora. Diesem Thema ist sein ursprünglich arabisch verfaßtes und zweimal ins Hebräische übertragene religionsphilosophische Werk Sefer ha- Emunot we ha-Deot („Glaubensüberzeugungen und Vernunfterkenntnisse") gewidmet. Mit seiner arabischen Bibelübersetzung und seinen arabischen Bibelkommentaren legte er die Grundlage für die Weiterentwicklung des jüdischen Traditionsgutes in einer immer stärker durch die arabische Kultur geprägten Umwelt. Saadja begegnete mit seinen Werken modellhaft für das spätere jüdische Denken und parallel zur arabischen Religionsphilosophie sowie der späteren christlichen Scholastik den religionskritischen Argumenten der Zeit. Erstmals seit Philo von Alexandrien gab es wieder ein spezifisch religionsphilosophisches Bemühen im Judentum. Obwohl die

352

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arabische Eroberung Jerusalems 638 n. Chr. und die Ausbreitung des Islam im 7. Jh. eine weltgeschichtliche Wende bedeutete, blieb die geistige und organisatorische Struktur des Judentums die gleiche. Das jüdische Mittelalter meldet sich geistesgeschichtlich gesehen im 10. Jh. mit den religionsphilosophischen Zeitströmungen an und setzt strukturell gesehen mit dem Niedergang der Autorität des Geonats und dem Entstehen einer Mehrzahl von Zentren jüdischen Lebens voll ein. 5. Das jüdische Mittelalter (11.-17.

Jh.)

5.1. Vorbemerkungen Die Trennung in eine arabisch-muslimische und eine lateinisch-christliche Zivilisation im Mittelmeerraum und Europa bedingte auch eine je verschiedene sozio-kulturelle Prägung der in diesen Bereichen lebenden Juden. Die beiden durch ihre jeweilige Umwelt je verschieden geprägten Zweige des Judentums werden nach ihren geographischen Zentren „sefardisch" (biblischer Ausdruck, der für „Spanien" gebraucht wird; vgl. Ob 1,20) und „aschkenasisch" (biblischer Ausdruck, seit dem Mittelalter für „Deutschland" gebraucht; vgl. Gen 10,3; bYom 10 a) genannt. Streng genommen sollten als sefardische Juden nur jene bezeichnet werden, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden und sich an verschiedenen Orten niederließen. Im aschkenasischen Bereich entstanden jüdische Niederlassungen auf dem Boden des Römischen Reiches, so daß etwa in Köln und Trier um 320 nachweislich eine jüdische Gemeinde existierte. Ebenso bestanden im Rheinland und Nordfrankreich im 6. Jh. jüdische Niederlassungen, die sich im Zuge der allgemeinen Kolonialisierung von dort aus nach Osten ausbreiteten, so daß es ab dem 10. Jh. etwa auch in Prag eine jüdische Gemeinde gab. Sie waren zunächst zahlenmäßig sehr klein, so daß es auch einige Zeit dauerte, bis sie eine eigenständige geistige Verarbeitung des jüdischen Traditionsgutes leisten konnten. Während die Juden der arabischen Welt ihr literarisches Schaffen in arabischer Sprache vollzogen, verwendeten die Aschkenasim für ihre vornehmlich religiös orientierte Literatur das Hebräische. Für beide Richtungen war das gleiche rabbinische Religionsgesetz verbindlich, seine Anwendung vor allem im Hinblick auf die Einschätzung der sie umgebenden Kultur war jedoch sehr verschieden. Augenfällige Unterschiede entwickelten sich bei der Aussprache des Hebräischen, in Einzelheiten des Gottesdienstes und der künstlerischen Gestaltung. 5.2. Das sefardische

Judentum

(10.-13.

Jh.)

Seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten lebten Juden in dem zum Römischen Reich gehörenden Spanien. Der Unterdrückung durch die Westgoten (589-711) in Spanien entgingen viele Juden durch die Flucht ins Reich der Franken und Karolinger, wo sie ein Leben in relativer Autonomie führen konnten. Die erste historisch bekannte Persönlichkeit, die die gesellschaftliche Stellung der Juden, aber auch ihre kulturelle Entwicklung im muslimischen Spanien mitbegründete, ist Chasdai ibn-Schaprut (ca. 915-970). Er fungierte zunächst als Arzt und Ratgeber des Kalifen Abd er-Rahman III. und wurde von diesem mit verantwortungsvollen administrativen und diplomatischen Aufgaben betraut. Nicht selten kam es in dieser Periode zu einer Verbindung von literarisch-geistiger Tätigkeit und politischer Wirksamkeit. Das bedeutendste Beispiel einer solchen Laufbahn ist Samuel ibn-Nagrela ha-Nagid (993-1055), Vezier von Granada, bedeutender Feldherr, Halachist und Dichter. Da er ein begabter Dichter war, fand durch ihn das weltliche Gedicht, das auch Wein und Sieg besingt, Eingang in die hebräische Poesie (Pijjut). Er hatte auch eine ausgezeichnete halachische Bildung. In seinem halachischen Werk Hilchot ha-Nagid setzt er sich mit den Entscheidungen der babylonischen Geonim auseinander. Die für die Juden günstigen Lebensbedingungen ermöglichten es »ihnen, einen regen geistigen Austausch mit ihrer muslimischen Umwelt zu pflegen. Diese überaus fruchtbare Zeit zwischen 1000 und 1148 wird daher mit Recht als das „Goldene Zeitalter" der jüdischen Literatur angesehen. Neben den religiösen Schriften entstanden

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in dieser Periode auch solche mathematischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Man kann diese Periode als eine Art Renaissance sehen, in der Bibel und klassische jüdische Tradition durch einen Prozeß schöpferischer Aneignung beachtliche Kulturleistungen stimulierten. So verlangte die Beschäftigung mit der Bibel nach einer Weiterentwicklung der hebräischen Grammatik über das von den Masoreten Geleistete hinaus. Diese Leistungen sind mit den Namen Juda ibn-Chajjug (ca. 945-1000) und Jonah ibn- Ganah (ca. 1025) verbunden. Zu gleicher Zeit gibt es Ansätze zur Ausbildung einer kritisch orientierten Schriftauslegung auf philologischer Basis, wie sie von Mose ibn-Gikatilla (11. Jh.) begründet wurde und der Abraham ibn-Esra eine Generation später zu weiter Verbreitung verhalf. Obwohl Juda ibn-Bal'am (ca. 1075) ebenso eine auf der hebräischen Sprachwissenschaft seiner Zeit beruhende Schriftauslegung betrieb, war er stärker an der religionsgesetzlichen Relevanz der Texte interessiert und trug heftige Kontroversen mit seinem Zeitgenossen ibn-Gikatilla aus. Abraham ibn-Esra betätigte sich als Übersetzer der Werke von ibn-Chajjug, war aber in erster Linie an der Auslegung der Bibel interessiert. Wie er selbst in der Einleitung zum Pentateuchkommentar sagt, geht es ihm um die Ermittlung der Wortbedeutung. Neben seiner für die Geschichte der Bibelauslegung nachhaltigen Bedeutung liegt sein Verdienst in der von ihm selbst durch seine Reisen geförderten Verbreitung seiner Methode. Die biblische -»Poesie regte zu eigenem Schaffen an, so daß es auch zu einem Wiederaufleben weltlicher und spiritueller hebräischer Poesie kam. Abraham ibn-Esra war auch auf diesem Gebiet literarisch tätig. Den Schwerpunkt des poetischen Schaffens der Zeit stellt das Werk des Mose ibn-Esra (ca. 1055-1135) dar, von dem zahlreiche profane und religiöse Lieder überliefert sind. Der bedeutendste hebräische Dichter in dieser Periode ist - » J e h u d a ha-Levi. Neben profaner Poesie schuf er Gedichte zu biblischen Motiven, die als Pijjutim auch im Gottesdienst Verwendung fanden. Eine besondere nationale Note tragen seine Zionslieder, die die Hoffnung auf das Ende des „Exils" und auf die Heimführung in das Land der Väter zum Inhalt haben. Sein religionsphilosophisches, ursprünglich arabisch verfaßtes und von ibnTibbon ins Hebräische übertragene Hauptwerk ist der Sefer ha-Kusari. Darin zeigt er, daß die jüdische Religion die wahre ist. Für ihn ist die religiöse Erkenntnis aber nicht rational vermittelbar, sondern ist Produkt der religiösen Erfahrung. Der aus Fez (daher sein Name) stammende Isaac Alfasi (1013-1103), auf den auch hunderte Responsa zurückgehen, schuf die bedeutendste systematische Darstellung des Religionsgesetzes vor Mose ben Mainion, ohne die für den Talmud charakteristischen, oft weitschweifigen Diskussionen. Im Sefer ha-Halachot benützt er frühere Sammelwerke wie Sche'eltot, Halachot G'dolot, Halachot P'sukot und die Hilchot ha-Nagid. Damit kann man seine Arbeit als einen Abschluß der halachischen Entwicklung sehen, wie sie in der Periode der Geonim vor sich ging und bis heute ihre Bedeutung nicht verloren hat. Gelegentlich erhält Alfasi auch den Ehrentitel „Gaon", der ihm ja formal nicht zukam. Ähnlich wie in anderen Bereichen zeichnete sich auch in der Philosophie die Tendenz zu Gesamtdarstellungen ab. Ohne Zitate aus Bibel und Talmud hat - » S a l o m o ibn-Gabirol (1020-1057/58) in seinem Werk M'kor Chajjim (Lebensquelle, lat.: Fons Vitae) in Dialogform eine Darstellung der religiösen Weltanschauung aus neuplatonischer Sicht gegeben. Interessanterweise wurde dieses Buch im Mittelalter für das Werk eines Moslem oder sogar eines Christen gehalten. Als neuplatonische Schrift wurde das Werk freilich von -»Thomas von Aquino, der ja auf dem Aristotelismus aufbaute, kritisiert. Wie sehr das neuplatonische Denken den Bedürfnissen der persönlichen Frömmigkeit entgegenkommt, zeigt die arabisch verfaßte und an islamische Mystik anknüpfende Schrift des Neuplatonikers —>Bachja ibn-Paquda mit dem Titel Sefer Chovot ha-Levavot (Buch von den Herzenspflichten). In der hebräischen Übersetzung durch ibn-Tibbon behielt das Werk bis heute seine Bedeutung als Anleitung zu einem Leben in frommer Gesinnung. Die verschiedenen philosophischen Strömungen der Zeit haben auch im Judentum dieser Periode Vertreter gefunden. So hat sich -> Abraham ibn-Daud im Unterschied zu ibn-Gabirol und Bachja als erster jüdischer Denker der aristotelischen Richtung, wie sie im arabischen Bereich

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von ibn-Sina ( = Avicenna) vertreten wurde, angeschlossen. Ihm erschien der Aristotelismus als das philosophische System, das der jüdischen Religion voll entsprach. Im einzelnen ergaben sich freilich Probleme, um deren Lösung sich der bedeutendste jüdische Philosoph des Mittelalters bemühte. -»Mose ben Maimon (1135-1204) schuf eine epochale Synthese zwischen Religion und Aristotelismus und erhob damit die religionsphilosophische Frage insgesamt zu dem Thema mittelalterlicher rabbinischer Auseinandersetzung schlechthin (vgl. T R E 3,779-782). Darüber hinaus war sein philosophisches Hauptwerk More ha-Newuchim (Führer der Unschlüssigen) in der lateinischen Übersetzung des 13. Jh. (dux neutrorum) von nachhaltiger Wirkung auf —»Albertus Magnus und —»Thomas von Aquin. Keiner der früheren Ansätze jüdisch-philosophischen Denkens, das religiöse Glaubensgut im Lichte der griechisch-arabischen Philosophie neu zu reflektieren und zu systematisieren, reicht an das bahnbrechende Bemühen des Maimonides heran. Es wäre einseitig, Maimonides nur als Philosophen zu sehen. Er schuf nämlich mit seinem Werk Mischne Torah eine bis zum heutigen Tag unübertroffene Systematik der religionsgesetzlichen Bestimmungen, wie sie sich aus der Traditionsliteratur ergeben. Mit Maimonides findet diese Periode aber auch schon ihren Abschluß. Die Invasion in Südspanien durch die Almohaden im Jahre 1148 veranlaßte viele Juden zur Flucht nach Nordspanien oder, wie die Familie des Maimonides, nach Nordafrika bzw. Ägypten. Dadurch werden die geistigen Errungenschaften dieser Epoche in Beziehung zu unabhängig davon gewachsenen, bodenständigen jüdischen Traditionen gebracht. Das gilt vor allem auch für den aschkenasischen Raum. Die Zeit des 13./14. Jh. ist weitgehend durch die tiefe Kontroverse bestimmt, die das Werk des Maimonides auslöste. 5.3. Das aschkenasische Judentum vom 10.—13. Jh. Die jüdische Führungsschicht im aschkenasischen Raum sah sich ausschließlich im Rahmen der rabbinischen Traditionen der Zeit der Geonim. Das ganze Leben war für sie von Talmud und Midrasch bestimmt, von daher bezogen sie auch alle Grundlagen für zivilrechtliche Entscheidungen. Durch das Christentum in diesen Ländern fühlten sie sich geistig kaum herausgefordert und schätzten es auch nicht sehr hoch ein. Die Juden hatten so wie in Spanien auch in Westeuropa anfänglich ihren Erwerb in Landwirtschaft und Gewerbe. Auf Grund des Feudalsystems freilich und der Einrichtung christlicher Zünfte für die Handwerker fielen diese Erwerbszweige für sie alsbald aus. Der Handel wurde ihre besondere Domäne, als die begehrten Waren aus dem Orient über islamisches Territorium transportiert werden mußten. Da die Juden von beiden Seiten als ungefährlich akzeptiert wurden, waren sie die einzigen, die diese wirtschaftliche Funktion ausüben konnten. Soweit die Juden im Handel tätig waren, gehörten sie zur städtischen Bevölkerung. In West- und Nordeuropa übernahmen die Juden auch den wirtschaftlich notwendig gewordenen Geldverleih. Es entwickelte sich eine lokale jüdische Führung zu einer Zeit, als in Spanien schon das „Goldene Zeitalter" angebrochen war. Die Juden konnten unter dem Schutz der weltlichen Obrigkeit nach ihren eigenen Gesetzen leben, waren aber durch kirchliche Gesetze praktisch von ihrer christlichen Umwelt abgesondert, mit der es zu keinerlei geistigem Austausch kam. So hat nach anfänglichem Widerstreben —»Innozenz' III. das IV. Laterankonzil (1215 [-»Lateransynoden]) das Tragen des Judensternes angeordnet. Zu Kontakten kam es hingegen mit den Juden Italiens. Bis etwa zum Jahr 1150 hatten die aschkenasischen Juden ihre eigene bodenständige Kulturform gefunden. Ihre Literatur reichte vom Roman über die Homilie bis zum mystischen Traktat. So entstanden Schriften weltlichen Inhalts, wie etwa die des jüdischen Minnesängers Süßkind von Trimberg (ca. 1200-1250) oder das im Anschluß an -»Josephus Flavius zusammengestellte Buch - » J o s i p p o n . Für die Spiritualität waren vor allem Gedanken im Anschluß an die liturgischen Texte wichtig, die ihren Ausdruck auch in zahlreichen Pijjutim (religiöse Poesie) fanden. Einen starken Rückschlag bedeutete der erste Kreuzzug (1096-1099; -»Kreuzzüge), in dessen Gefolge es zu blutigen Ausschreitungen (Worms, Speyer, Mainz) gegen die Juden kam. Nach dem zweiten Kreuzzug (1147-1149) kommt

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es zu Ausschreitungen in Frankreich. Nach dem dritten Kreuzzug ( 1 1 8 9 - 1 1 9 2 ) griffen die Ausschreitungen dann auf England (London 1189, York 1190) über. Zu Gewalttaten gegen die Juden führte auch die erstmals 1141 (1144?) in Norwich auftauchende (1180 Paris, 1199 Erfurt, 1235 Fulda) Ritualmordlegende (Juden schlachten zu Pesach ein Christenkind) . Parallel zur Betonung der Transsubstantiationslehre auf dem IV. Laterankonzil (1215) durch die christliche Theologie und liturgische Praxis (1. Fronleichnamsfest 1246 in Lüttich) werden die Juden immer wieder der Hostienschändung bezichtigt (1290 Paris). Durch solche Beschuldigungen wurde eine starke emotionale Judenfeindschaft in weite Kreise der christlichen Bevölkerung getragen (vgl. T R E 3 , 1 4 0 - 1 4 2 ) . Die Sicherheit der Juden hing weitgehend vom Grad des wirtschaftlichen Interesses ab, das die Kaiser und Fürsten an ihnen hatten. Am Ende des 13. J h . kam es dann zur Vertreibung der Juden aus England (1290) und Frankreich (1306), wodurch neue jüdische Gemeinden in Osteuropa und auch die Legende vom ewig wandernden Juden „Ahasver" entstanden. Es fehlte in dieser Zeit auch nicht an mehr oder minder freiwilligen Übertritten zum Christentum. Angesichts dieser Zustände raten die jüdischen Mystiker ( = Chasidim) zu asketischer Lebensführung und lebenslanger Buße und betonen den hohen Wert des Martyriums. Damit übertrugen diese Chaside Aschkenas („Fromme Deutschlands") bis zu einem gewissen Grad die religiöse Wertskala ihrer christlichen Umwelt in das Judentum. Für die Masse der jüdischen Bevölkerung waren die Bibel und die religiöse Unterweisung die regelmäßige geistige Nahrung. Wichtig waren dabei erbauliche Werke, wie der klassisch gewordene um 1200 entstandene und im Grundbestand auf Juda den Frommen (Juda häChasid) von Regensburg (gest. 1217) zurückgehende Sefer Chasidim (Buch der Frommen). Das nicht einheitliche Werk, an dem wohl auch Eleazar von Worms (gest. 1234) mitgewirkt hat, ist das wichtigste literarische Zeugnis der Chaside Aschkenas. Der populärste, stark von den Targumim und vom Midrasch beeinflußte, aber dennoch am Wortlaut ausgerichtete Bibelkommentar ist der des R a b b i —>Salomo ben lsaac aus Troyes, bekannt unter dem Akronym seines Namens, Raschi ( 1 0 4 0 - 1 1 0 5 ) . Dieser den sogenannten Rabbinerbibeln auch heute noch beigedruckte Kommentar fand weite Verbreitung und beeinflußte -*•Nikolaus von Lyra (13./14. Jh.) und über diesen Martin -»Luther. Für die Gebildeten schuf Raschi einen sehr klar gegliederten und kompakten Kommentar zum Talmud, der oft beliebter war als der Text selbst. Die einzelnen Gemeinden waren voneinander unabhängig. Selten kam es zu Zusammenschlüssen wie bei den Gemeinden von Mainz, Speyer und Worms mit einem sie nach außen vertretenden „Judenbischof". Anschließend an die in südfranzösischen Gemeinden übliche Funktion des „ N a s i " , der mit der Vertretung nach außen betraut war, und wegen der Notwendigkeit eines in religionsgesetzlichen Fragen Sachkundigen kam es zur Errichtung eines besoldeten hauptamtlichen Rabbinates. Über ihre Gemeindegrenzen hinaus bekannte Persönlichkeiten wurden um halachische Auskünfte ersucht, ihre Antworten, die sogenannten Responsen, wurden vielfach gesammelt. Die bedeutendsten sind die des Rabbi Met'r von Rothenburg (ca. 1 2 1 5 - 1 2 9 3 ) , dessen Gesamteinfluß auf die Gestaltung des jüdischen Gemeindelebens in dieser Zeit nicht überschätzt werden kann. Für Rechtsentscheide in ihrem Bereich stützten sich die Rabbinen auf Bibel und Talmud. Um anstehende Rechtsfragen einer allgemein akzeptierten Lösung zuzuführen, traf man sich ähnlich wie der christliche Klerus in regionalen Synoden, um sogenannte Takkanot zu beschließen. Die wesentlichsten Entscheidungen, die seit damals im gesamten Judentum wirksam blieben, waren das Verbot der (biblisch nicht verbotenen) Bigamie, das Verbot der willkürlichen Scheidung und die Einführung schwerer finanzieller Sanktionen beim Verlassen der Ehefrau, die dem ersten bedeutenden aschkenasischen Talmudgelehrten Gerschom ben Jehuda ( 9 6 0 - 1 0 2 8 ) zugeschrieben werden. Er trägt den Ehrentitel „Me'or ha-Golah" (Licht der Diaspora). Was der aristotelischen Philosophie nicht gelang, nämlich das biblisch-rabbinische Traditionsgut in philosophischer Form weiterzuvermitteln, gelang in indirekter Weise dem Neuplatonismus. Am Ende des 12. Jh. begann in der Provence eine neue geistige Strömung um sich zu

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greifen, die in esoterischer Sprache die Bibel und das rabbinische Recht allegorisch interpretierte und den Namen - » K a b b a l a („Tradition") erhielt. Diese Bewegung ist als eine geistesgeschichtliche und religionsphänomenologische Parallelentwicklung zu den christlichen Sekten der -»Katharer und Albigenser zu sehen. Das früheste Werk dieser Richtung ist der Sefer ha-Bahir, in dem bereits die für die Kabbala typische Sefirot-Lehre ausgeführt wird. Das Werk wurde um etwa 1180 aus verschiedenen Materialien kompiliert, wobei sich die Frage stellt, ob dieses Buch in einem geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der ->Gnosis steht oder einen spontanen Neuansatz darstellt. Die bedeutendsten Vertreter dieser südfranzösischen Kabbala waren Abraham b. David von Posquiere (gest. 1198) und sein Sohn Isaak der Blinde (gest. 1235). Diese Richtung verbreitete sich auch bald in Nordspanien, wo das bekannteste Werk dieser Richtung, der —>Zohar (Buch des Glanzes), ein mystischer Kommentar zum Pentateuch entstand, dessen älteste Schicht auf Moses de Leon (ca. 1275) zurückgeht. Durch bewußt eingefügte Zitate wird der Anschein erweckt, es handle sich um ein Werk des im 2. J h . n. Chr. lebenden Tannaiten Simon ben Jochai. Dieser Umstand hat dem Werk in kabbalistischen Kreisen höchstes Ansehen verliehen, und so wurde es immer wieder kommentiert. Im Unterschied zur aristotelischen Philosophie hat die Kabbala ihren Platz im religiösen Denken des Judentums aller Jahrhunderte gefunden.

5.4. Konflikte

und Synthesen

zwischen

13. und 16. ]h.

Seit 1212 war nur mehr das Königreich von Granada islamisch, der übrige Teil Spaniens stand nun unter christlicher Herrschaft. Im jüdischen Bereich trat nun insofern eine Änderung ein, als die Repräsentanten nach außen nicht gleichzeitig die geistigen Führer waren, d. h. die rabbinischen Autoritäten wirkten nach innen, ohne sich auf äußere politische M a c h t stützen zu können. Von den beiden herrschenden Geistesrichtungen ist zu sagen, daß die Kabbala nicht weniger einem Zeitbedürfnis entsprach als die religionsphilosophische Richtung, die sich auf Maimonides stützen konnte. Für beide Bewegungen war jedoch die Beobachtung des Religionsgesetzes selbstverständlich. Was das philosophische Studium, vor allem das der Werke des Maimonides anging, so befürchteten Traditionalisten, daß es dadurch zur Laxheit im Hinblick auf die religionsgesetzliche Praxis kommen könnte. Eine wichtige Entscheidung fiel, als der durch viele Responsen bekannte Salomo ibn Adret (1233—1310) von Barcelona alle jene mit dem Bann bedrohte, die ihren Kindern das Studium der Philosophie gestatteten. Dennoch wagte Levi ben Gerschom ( 1 2 8 8 - 1 3 4 0 ) in seinem Werk Milchamot Adonai (Kriege Gottes) neuerlich den Versuch einer vom jüdischen Aristotelismus getragenen Darstellung der jüdischen Religion. Dagegen vertrat Isaak Albalag (1292) den averroistischen Standpunkt bei der Bibelinterpretation, für die er das Prinzip der doppelten Wahrheit gelten ließ. Diese inner jüdischen Konflikte wurden jedoch durch die äußeren Gefahren, die den Juden zwischen dem 13. und 15. J h . drohten, in den Hintergrund gedrängt. So kam es nach einer Denunziation durch den zum Christentum konvertierten Juden Nikolaus Donin bei Papst -»Gregor I X . (1236) zur Talmudverbrennung von Paris (1242) und 1263 zur aufgezwungenen Disputation von Barcelona zwischen Pablo Christiani und - > M o s e ben Nachman. Bei den von kirchlicher Seite veranlaßten Zwangsdisputationen wollten die Christen aus der Position politischer Stärke heraus die seit der Entstehungszeit des Christentums von den Juden negativ beantwortete Legitimierungsfrage nun endlich positiv entschieden sehen. In diesen inneren und äußeren Konflikten gab es einen relativ unbestrittenen Bereich, nämlich den der religionsgesetzlichen Praxis. Daher ging es den rabbinischen Autoritäten dieser Zeit auch darum, unbeschadet großer dogmatischer Weitherzigkeit eine möglichst uniforme Praxis der religionsgesetzlichen Observanz zu erreichen. Das Werk des Jakob ben Ascher ( 1 2 8 3 - 1 3 4 0 ) von Toledo, Arba Turirn („Vier R e i h e n " ) , versuchte sefardische und aschkenasische Praxis zu nivellieren und kam damit zeitgenössischen Tendenzen sehr entgegen. Diese Uniformierung verhinderte aber nicht, daß sich individuelle Geistesströ-

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mungen entfalteten. Weithin anerkannte Autorität genoß Me'tr ben Baruch von Wien (gest. 1408). Die antiintellektualistischen Strömungen erfuhren neuen Auftrieb durch die antijüdischen Ausschreitungen und Massaker im 14. Jh., die ihre Ursache auch darin hatten, daß man den Juden die Schuld am häufigen Ausbruch der Pest gab, aber ebenso an sozialen Mißständen. Schließlich kam es 1394 zur Vertreibung der Juden aus Frankreich. Im J a h r e 1420 erfolgte im Zusammenhang mit den Hussitenkriegen (—>Hus/Hussiten) die Vertreibung der Juden aus Wien, denen man Kollaboration mit den Hussiten vorwarf. Die Fluchtbewegungen der Juden gingen nach Osten, wo in Polen viele neue Gemeinden entstanden. Die Spannungen zwischen Juden und Christen hatten ihre Ursache sowohl in religiösen Vorurteilen als auch in realen ökonomischen Spannungen. Der Haupterwerb der Juden in dieser Periode lag im Geldverleih und später im Binnenhandel mit Agrarprodukten. Das damit naturgemäß verbundene Konfliktpotential, das aus Konkurrenzdenken und Mißgunst resultierte, konnte im Falle der Juden leicht unter dem Deckmantel religiöser Ideologie zur Entladung kommen. Trotz aller äußeren Anfeindungen hatte das Judentum durchaus innere geistige Probleme, die zu lösen die verschiedenen Denker dieser Zeit versuchten. Gegen den Aristotelismus (-> Aristoteles/Aristotelismus) wandte sich in der innerjüdischen Kontroverse vor allem —>Chasdai Crescas. Der zu den Famiiiaren des christlichen Königs von Aragon zählende Crescas analysierte in seinem Werk Or Adonai (Licht Gottes) jüdische Existenz und jüdisches Schicksal und wollte damit eine Art neuen „Moreh ha-Newuchim" schaffen. Dennoch kam es im Gefolge der Disputationen von Tortosa ( 1 4 1 1 - 1 4 1 4 ) zu einer Woge des Abfalls. Es entstand eine Gruppe von Christen, die halb opportunistisch, halb gezwungen ihr Judentum aufgegeben hatten und schließlich von keiner Seite akzeptiert wurden, wie sich in der Bezeichnung -*Marranen (wahrscheinlichste Bedeutung: Schweine) ausdrückt. Oft übten sie im geheimen jüdische Bräuche und erweckten zusätzliches Mißtrauen. Eine Zusammenstellung der sozusagen dogmatischen Grundlagen des Judentums besorgte — * J o s e p h Albo, der selbst an den Disputationen teilgenommen hatte, in dem „Sefer ha-Ikkarim" (Buch der Prinzipien) genannten Kompendium. Alle diese Bemühungen vermochten jedoch die ideologischen Gegensätze im spanischen Judentum nicht zu überwinden. Die folgenden politischen Ereignisse stellten das Judentum Spaniens vor völlig andere Probleme. Die Vereinigung der Königreiche Kastilien und Aragon im J a h r e 1479 bedingte eine immer stärkere Tendenz zur Erreichung der religiösen Einheit des Reiches. Diese wieder ist im Rahmen des Strebens nach einer Stärkung der königlichen Zentralgewalt zu sehen, dem sowohl christliche Ritterorden wie die katholische Kirche selbst unterworfen wurden. Daher ließ man ab 1480 die -»Inquisition nun auch in Spanien zu, um auch gegen nur zum Schein Christen gewordene Juden (—»Marranen) vorzugehen. Juden selbst wurden, wie etwa auch Abravanel, zunächst unbehelligt gelassen. M i t der Vertreibung der Mauren aus Spanien nach der im Jahre 1492 erfolgten Eroberung des Königreichs Granada setzte sich jene Richtung durch, die eine völlige religiöse Einheit Spaniens betrieb. Es wurde daher am 31. M ä r z 1492 die Vertreibung der Juden aus Spanien dekretiert und anschließend durchgeführt. Diese Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) und aus Portugal (1497 und 1506) beendete auch abrupt die geistige Aufarbeitung der fundamentalen Probleme, die das spanische Judentum artikuliert hatte. Es war dies im letzten die Frage, ob die Philosophie zum integrierenden Bestandteil der Religion werden und das Judentum, ähnlich wie das Christentum, durch die scholastische Philosophie geprägt werden sollte. Eine Kompromißlösung stellte die - » M y s t i k in ihren verschiedenen Formen dar, durch die mehr oder minder unbewußt philosophische Elemente in traditionellem Gewand integriert werden konnten. Eine Persönlichkeit, die sowohl vor wie nach der Vertreibung aus Spanien nachhaltig wirkte, war Isaak Abravanel. Vom -»Humanismus der Zeit früh geprägt, stand er im Dienst des Königs Alfons V. von Portugal. Sein wechselvolles Lebensschicksal veranlaßte ihn, sich von den weltlichen Geschäften abzuwenden und sich Geistigem zu

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widmen. So verfaßte er Kommentare zu den prophetischen Büchern und eigene Schriften über den Messianismus. Er setzte sich auch kritisch mit dem Begriff der Prophetie bei Maimonides auseinander. Der Umstand, daß er kein eigentlich philosophisches Werk schuf, mag auch als Indiz dafür gewertet werden, daß die Philosophie aus den beschriebenen Auseinandersetzungen um ihre Rolle in der jüdischen Religion keineswegs als Siegerin hervorgegangen war.

5.5. Krisen und Neuansätze

der Tradition (16.-18.

Jh.)

Wie es bei politischen Katastrophen meist zu geschehen pflegt, flüchteten weite Kreise in die Mystik, wobei jedoch in der genauen Beobachtung des Gesetzes die Voraussetzung für jede mystische Praxis gesehen wurde. Nicht zuletzt unter den Marranen wurden messianische Hoffnungen genährt. Eine für die Zeit charakteristische Episode ist das Auftreten von David Reuveni und Solomo Molcho in Italien. Im Jahre 1524 trat Reuveni erstmals in Venedig auf. Seine Behauptung, von einem der zehn verschollenen Stämme Israels abzustammen, untermauerte er durch farbige Reiseschilderungen. Da er sogar von Papst -»Clemens VII. empfangen und mit Empfehlungsschreiben ausgestattet wurde, stieg sein Ansehen bei den jüdischen Gemeinden. Das Unternehmen endete mit der Verbrennung Molchos in Mantua und einem vielleicht ähnlichen, aber historisch ungeklärten Schicksal Reuvenis. Diese messianische Erwartungshaltung verbreitete sich durch die Flüchtlinge aus Spanien auch auf dem Gebiet des Ottomanischen Reiches, wo sich neue Zentren jüdischen Lebens bildeten. Besonders zu nennen ist hier Safed, wo einige rabbinische Persönlichkeiten eine Gemeinschaft gründeten, die auf den Prinzipien der Heiligkeit und mystischen Kontemplation beruhte. Unter der Führung des noch in Spanien geborenen Jakob Berab (ca. 1474—1546) wurde 1538 die alte Praxis der rabbinischen Ordination (S'michah) im Hinblick auf die Einrichtung eines erneuerten Sanhedrin wieder aufgenommen. Einen wichtigen Schritt zur Systematisierung der Halacha stellt die Arbeit des berühmten Schülers von Berab dar, nämlich von Joseph Karo ( 1 4 8 8 - 1 5 7 5 ) . Er verfaßte auf der Grundlage von Alfasi, Maimonides und ben Ascher seinen Schulchan Aruch (gedeckter Tisch) genannte Zusammenstellung der religionsgesetzlichen Bestimmungen, die weiteste Anerkennung gefunden hat. Die Mystik selbst entwickelte sich in Safed unter dem gestaltenden Einfluß von - » I s a a k Luria, nach dem Akrostichon seines Namen ha'Arigenannt, und dessen Schüler Chajjim Vital ( 1 5 4 3 - 1 6 2 0 ) in sehr eigentümlicher Weise weiter. Die Entstehung der Welt wurde auf den Rückzug (zimzum) Gottes zurückgeführt. Allerdings blieben göttliche Funken (k'lippot) gleichsam im Exil zurück. Eine neue Theologie und mystisch-liturgische Praxis verstanden sich als ein Beitrag zur Befreiung (Tikkun) dieser in die Verbannung geratenen göttlichen Funken. Diese Form der Kabbala verbreitete sich in der gesamten jüdischen Diaspora und bereitete den Erfolg des sabbatianischen Messianismus vor, der durch sein Scheitern diese Geistesrichtung zu einem Randphänomen des Judentums werden ließ. Neben diesen letztlich irrationalen Versuchen, die Zeitprobleme zu bewältigen, machten sich nun auch im Judentum Tendenzen bemerkbar, die auf der Linie der Renaissance und des -»Humanismus als der bestimmenden geistigen Zeitströmungen lagen. Das machte sich im Bereich der Geschichtsschreibung bemerkbar, die es seit Josephus Flavius und, abgesehen von Chroniken der Kreuzzugszeit, in der jüdischen Traditionsliteratur eigentlich nicht gegeben hat. So findet der Gedanke, daß Gott in bezug auf die Geschicke seines Volkes nicht allmächtig sei, vorsichtigen Ausdruck in dem historischen Werk Scheuet Jehuda (Stab/Stamm Juda[s]) von Solomo ibn Verga (gest. ca. 1530). Von der spanischen Katastrophe ausgehend, wird das jüdische Problem als ein sozio-politisches gesehen, wobei auch mit Kritik am eigenen Volk nicht gespart wird. Diese neue Form der Geschichtsschreibung war vom Geist der Renaissance und des Humanismus geprägt, der im Italien des 16. J h . besonders in Venedig (trotz des Gettos!) herrschte und auch unter Juden das starke Bedürfnis nach historischer Kritik weckte. Dieses ebenso im christlichen Bereich erwachte Bedürfnis führte dazu, daß katholische Gelehrte wie Johannes

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-yReuchlin ( 1 4 5 5 - 1 5 2 2 ) bei R a b b i n e n Unterricht im Hebräischen nahmen und sich auch in die Geheimnisse der Kabbala einführen ließen, die vielen Christen als auch ihren spirituellen Bedürfnissen entsprechend erschien. Von diesem Hintergrund her erfolgte dann auch die Stellungnahme von J o h a n n e s Reuchlin gegen die von Johannes Pfefferkorn (ca. 1 4 6 9 - 1 5 2 3 ) in viel beachteten Schriften verlangte Beschlagnahmung und Vernichtung außerbiblischer hebräischer Schriften. Die Ansicht Reuchlins setzte sich zwar in diesem Fall durch, seine humanistische Einstellung bestimmte aber noch lange nicht das Verhältnis der Christen zu den Juden. Auch die Reformatoren machten in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auf jüdischer intellektueller Seite entstand das Interesse an textkritischen Studien zur rabbinischen Literatur. Hier ist zunächst das Bemühen des in Nürnberg gebürtigen Elia Levita ( 1 4 6 8 - 1 5 4 9 ) zu nennen. Er schrieb zuerst weltliche R o m a n e (sc. das Bove-Buch) in jiddischer Sprache und wirkte damit bahnbrechend. Als Hebräischlehrer von Kardinal -•Egidio da Viterbo, in dessen Haus in R o m er von 1 5 1 4 - 1 5 2 7 lebte, pflegte er viele Kontakte mit christlichen Humanisten. Hierauf arbeitete er mit Daniel Bomberg in Venedig bei den ersten Drucken der masoretischen Bibel zusammen, wobei die grundlegende Schrift Massoret ha-Massoret (Die Uberlieferung der Massorah) entstand. In dieser kritischen Tradition steht auch der Sefer Meor Enajjim (Buch vom Licht der Augen) des Asariah dei Rossi (ca. 1 5 1 0 - 1 5 7 7 ) . Dieses Werk inaugurierte das literar- und textkritische Studium der rabbinischen Schriften und stieß auf starken innerjüdischen Protest, der darin gipfelte, daß man den Bann über jene verhängte, die das Buch benutzten. Seine Kenntnis des Griechischen eröffnete dei Rossi auch den Zugang zu den für die Juden praktisch verlorenen Werken des Philo und des Josephus Flavius. W i e die zahlreichen negativen Reaktionen und die praktische Bedeutungslosigkeit des Werkes bis zum 18. J h . zeigen, handelte es sich um eine Randerscheinung, die mit dem allgemeinen Trend nicht konform ging. Die Geschichtsschreibung fand auch im aschkenasischen R a u m Eingang. M i t seinem Werk Zemach David (Sproß Davids) schuf David Gans ( 1 5 4 1 - 1 6 1 3 ) eine Weltgeschichte, die verschiedene Quellen heranzog und auch die Geschichte des aschkenasischen Judentums berücksichtigte. Gans wirkte in Prag, das ein Mittelpunkt jüdischer Renaissance im Norden war. M o d e r n e naturwissenschaftliche Erkenntnisse und traditionelle Gelehrsamkeit verband der als „ W u n d e r - R a b b i " (Legende vom Golem) bekannte Juda Loew ben Bezalel (ca. 1 5 2 5 - 1 6 0 9 ) . Neuen pädagogischen Methoden aufgeschlossen, zählte er jedoch auch zu denen, die das Werk Asariah dei Rossi ablehnten. Wie nicht zuletzt die Legenden zeigen, die sich um den Wunder-Rabbi rankten, waren die breiten Massen der Juden in der Diaspora und in Eretz Israel in den Bann des Irrationalen, der Kabbala, geschlagen, die schließlich in die verheerende pseudomessianische Bewegung des Schabetai Zwi ( 1 6 1 6 - 1 6 7 6 ) mündete. Der Umstand, daß genau zur gleichen Zeit Baruch -»Spinoza ( 1 6 3 2 - 1 6 7 7 ) lebte und sein Werk schuf, macht die zweite Hälfte des 17. J h . zu einer geistesgeschichtlichen Nahtstelle, an der eine Epoche endet und eine neue beginnt. Die weitaus größte Zahl von Juden war freilich von messianischen Hoffnungen erfüllt und bereit, an das von Schabb c tai Zwi behauptete messianische Berufungserlebnis im Jahre 1648 zu glauben. Schon früher von der Kabbala geprägt, beschäftigte er sich nun auch mit dem lurianischen Gedankengut. Die hier beheimatete Idee des Tikkun erklärt auch, wieso zum Judentum in krassem Widerspruch stehende Handlungen überhaupt auf Verständnis stoßen konnten. So fand sogar der Übertritt (1666) des Schabb e tai Z w i zum Islam, um sein Leben zu retten, die Rechtfertigung seiner begeisterten Anhänger als einer sozusagen freiwilligen Kreuzigung zum Heil der Juden. Die Begeisterung in fast allen Gemeinden war sehr groß gewesen, erlebte nun aber eine deutliche Abschwächung. Gleichzeitig gingen die Rabbinen, die nie bereit gewesen waren, die religionsgesetzlichen Eingriffe des Pseudomessias als „messianische T o r a " zu akzeptieren, zum Gegenangriff über. D a m i t entstand für die jüdischen Gemeinden aber ein noch schwierigeres Problem. D a der -»Sabbatianismus nun in krypto-sabbatiani-

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sehen Gruppen gepflegt wurde, setzte seitens der Traditionalisten eine Art Hexenjagd zur Aufdeckung solcher Gruppen ein. Dementsprechend war das nun folgende Jahrhundert wohl das dunkelste der jüdischen Geistesgeschichte. Mit dem Tod des Pseudomessias fand die Bewegung nämlich keineswegs ein Ende. Vielmehr beschäftigte das Auftreten des Jakob -*Frank (1726-1791) in gleicher Weise jüdische wie nicht-jüdische weltliche Autorität. Als Konsequenz seines extremen Sabbatianimus predigte Frank einen radikalen Antinomismus. 5.6. Der Chasidismus in Osteuropa Um die Mitte des 18. Jh., nach den schweren Verfolgungen von 1648 im Gefolge einer enttäuschten messianischen Hoffnung und den Wirren des Sabbatianismus, erreichte die orthodoxe Religiosität neue Ausdrucksformen durch die Entwicklung des Chasidismus, wie sie unter Israel Baal Shem Tov (ca. 1700-1760) vor sich ging. Stark von der Kabbala Isaak Lurias beeinflußt, stehen das Schicksal des Individuums und seine existentiellen Nöte im Vordergrund, ohne daß deshalb das Studium der Tora oder die Beobachtung des Gesetzes verdrängt werden sollten. Im Prinzip war es eine nicht-messianische Bewegung, die von persönlicher Religiosität (dvekut = Hingabe) geprägt war. Sie enthielt auch Elemente des sozialen Protests der armen jüdischen Massen gegen ein wohlhabendes Establishment. Es ist auch an eine Wechselbeziehung zwischen den chasidischen und ostkirchlichen Frömmigkeitsformen zu denken. Der Vorbildcharakter des Zaddik (Gerechter) prägte und prägt diese Bewegung. Führende Gestalten des Chasidismus wie Dov Baer Maggid von Meseritscb (gest. 1772), der Organisator der sich ausbreitenden Bewegung, und Levi lsaac von Berdichev waren auch im talmudischen Wissen führend. Die wesentliche Neuerung, die der Chasidismus im Judentum brachte, war die charismatische Führergestalt, der Rebbe, der sozusagen im Auftrag Gottes nach dem Rechten sah. Obwohl anfänglich gewählt, bildeten diese Rabbis später spirituelle Dynastien, da man annahm, daß das Charisma vom Vater auf den Sohn übergegangen sei. Der Konflikt zwischen den Chasidim und und ihren Gegnern, den Mitnagdim, beruhte auf der Sorge letzterer, die neue Bewegung könnte zu einer Aufweichung der halachischen Observanz führen und eine Aufsplitterung des Judentums bedingen. Nur in Litauen blieb der Chasidismus vor allem durch die Maßnahmen des Gaon von Vilna (1720-1797), eines Zeitgenossen Mendelssohns, erfolglos (s.u. S.379, 9—19). 6. Das moderne Judentum

(17.—20. Jh.)

6.1. Die neue Situation Trotz der Fragwürdigkeit jeder Abgrenzung historischer Epochen durch konkrete Ereignisse muß das Wirken des Baruch -*Spinoza (1632-1677), der sich mit seiner philosophischen Reflexion vom Judentum gelöst hat und doch Jude blieb und bleiben wollte, als der Beginn der Moderne für das Judentum angesehen werden. Als die Marranen aus Spanien nach Amsterdam kamen und sich dort, frei von äußerem Zwang, als Juden erklären konnten, war das eine prinzipiell neue Situation für das Judentum. Spinoza hat die Grundfrage der bisherigen jüdischen Religionsphilosophie, nämlich die nach dem Verhältnis von Religion und Vernunft, weiter verfolgt und zugunsten eines Primats der Vernunft beantwortet. Damit erscheinen aber die Inhalte des Sinaibundes als Teil eines historisch überholten Sozialvertrages. Im Unterschied zu Maimonides ist für Spinoza die Prophetie kein spezifischer Erkenntnisvorgang. In seinem Tractatus theologico-politicus legt er die Grundlagen für die historisch-kritische Bibelwissenschaft. Es ist begreiflich, daß die jüdische Gemeinde von Amsterdam hier keine Möglichkeit mehr zu einer Vereinbarung mit dem Judentum sah und daher auch 1656 die Exkommunikation aussprach. Weil Spinozas Gedanken zu seiner Zeit eine Episode blieben, ist ein anderer vertretbarer Ansatz für den Beginn der Neuzeit in der jüdischen Geschichte das 18. Jh., das im Gefolge der Gründung der Vereinigten Staaten und der -»Französischen Revolution auch die gesellschaftliche Emanzipation der Juden brachte. Seit damals erschien die gesellschaftli-

Judentum

361

che Diskriminierung der Juden rational ebenso unhaltbar wie die anderer Minderheiten. Sieht man das 18. J h . als den Beginn der jüdischen Neuzeit an, so ist er vor allem mit der Haskala genannten jüdischen Aufklärung als geistige Bewegung des aschkenasischen Judentums in Mitteleuropa verbunden. Politisch und geistesgeschichtlich gesehen hat dieser Prozeß aber schon im 17. J h . begonnen. Das aschkenasische Europa war dafür aber erst im 18. J h . reif, als neue ökonomische Entwicklungen auch neue gesellschaftliche Möglichkeiten eröffneten. 6.2. Wege zur Erreichung

der

Emanzipation

Z u n ä c h s t wirkte die Haskala im Streben nach Emanzipation in Richtung einer innerjüdischen R e f o r m , durch die das Judentum sozusagen „ E u r o p a r e i f e " gewinnen sollte. Für viele jüdische Gemeinden in allen Teilen der Welt, ausgenommen die USA und Osteuropa, waren diese Entwicklungen wegen der gesellschaftlichen Lage in diesen Ländern nicht relevant. So fand die M o d e r n e in die sehr traditionellen jüdischen Gemeinden der arabisch sprechenden Länder noch viel später Eingang als etwa in Südamerika. Wichtige Bildungsarbeit mit starken französisch-kulturellen Akzenten leistete im Nahen Osten die Alliance Israélite Universelle (gegr. 1860). So bedingte die H a s k a l a zunächst Bestrebungen zur R e f o r m der jüdischen Religion, verbunden mit dem Entstehen entsprechender inner jüdischer Gruppen. Parallel dazu entwickelt sich aber auch der - » Z i o n i s m u s . Er ist nicht nur als politische Bewegung zu verstehen, sondern vielmehr als ein Versuch zu begreifen, das seit Mendelssohn virulente Anliegen der Emanzipation mit politischen M i t t e l n , ohne Schwerpunkt im Bereich des religiösen Selbstverständnisses zu bewältigen.

6.3. Die Haskala

in

Zentraleuropa

Die innerjüdischen Überlegungen gingen dahin, wie sich die Juden selbst ändern müssen, um vollwertige Glieder der bürgerlichen Gesellschaft werden zu können. In diesem K o n t e x t ist das Werk der bedeutendsten Gestalt der jüdischen Aufklärung des 18. J h . , —• Moses Mendelssohn ( 1 7 2 9 - 1 7 8 6 ) , zu sehen. Obwohl zeitlebens ein frommer Anhänger jüdischer O r t h o d o x i e , wandte er sich vom bloßen Talmudstudium ab und der europäischen -»Aufklärung und ihrer Literatur zu. Mendelssohn ging es zunächst nicht darum, eine philosophische Rechtfertigung des Judentums zu schreiben. Er tat dies erst, als er von Christen dazu gedrängt wurde, die ihn fragten, wieso er Anhänger einer in ihrer Sicht unaufgeklärten Religion sein könne. Die Antwort gab er in dem Werk Jerusalem, das 1783 veröffentlicht wurde. Seine Botschaft an die jüdische Gemeinde war es, westlich im Sinne der Aufklärung zu werden. Zu diesem Z w e c k verband er sich mit dem Dichter Naphtali Herz Wessely ( 1 7 2 5 - 1 8 0 5 ) , um die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Dabei wurden hebräische Schriftzeichen für einen hochdeutschen (nicht jiddischen) T e x t verwendet, um das geringgeschätzte Jiddische durch Hochdeutsch zu ersetzen. Mendelssohns Werk wurde von einem Kreis von Menschen weitergeführt, die sich schon zu Lebzeiten um ihn geschart hatten und den N a m e n Berliner Haskala erhielten. In den zwanzig J a h r e n nach seinem Tode brachten sie die hebräische Zeitung ha-Me'assef (Der Sammler) heraus, in der sie in hebräischer Sprache für die Übernahme der westlichen Kulturwerte warben. Im Unterschied zu M o s e Mendelssohn waren die Mitglieder seines Kreises in der Folge nicht im Stande, das Gleichgewicht zwischen jüdisch-traditioneller und moderner weltlicher Bildung zu bewahren. Ihre westlich kulturelle Einstellung untergrub ihr religiöses jüdisches Selbstverständnis, so daß sie sich mehr als Europäer denn als J u d e n verstanden. Ganz an der Grenze bewegte sich einer der Schüler von M o s e s M e n delssohn, David Friedländer ( 1 7 5 0 - 1 8 3 4 ) . Er war bereit, das Christentum ohne dessen D o g m e n und dessen Kult anzunehmen. Im Unterschied zu Friedländer verließen viele deutsche Juden tatsächlich ihre Religion, weil sie meinten, nur so vollwertige Mitglieder der europäischen Gemeinschaft werden zu können. Diese Übertrittsbewegung zum Christentum aus letztlich aufklärerischen M o t i v e n stellte auch für die christlichen Kirchen ein Problem dar.

362

Judentum

6.4. Die „Wissenschaft

des Judentums"

als Beitrag zur

Emanzipation

Hatte die Berliner Haskala die Emanzipation der Juden durch die Aneignung der christlich-abendländischen Kultur zu erreichen gesucht, ging die „Wissenschaft des Judentums" einen fast umgekehrten Weg. Es ging ihr darum zu zeigen, daß das Judentum zu den Mitbegründern der westlichen Zivilisation zählt und daß die Juden immer zu großen kulturellen Leistungen im allgemeinen Interesse befähigt sind, wenn man sie sozial und politisch gleichberechtigt sein läßt. Durch das historisch-kritische Studium der Geschichte des Judentums sollten die Werte und die Lebendigkeit der eigenen Tradition zu Tage gefördert werden. M a n bediente sich dabei der zeitgemäßen Methoden der historischen Wissenschaften. Als Plattform zur Realisierung solcher Ziele gründeten im Jahre 1819

Leopold

Zunz (1794-1886) und Moses Moser den Verein für Cultur und

Wissenschaft

der Juden. Diese Vereinigung, der auch Heinrich Heine angehört hatte, löste sich bald auf, nachdem führende Mitglieder wie Eduard Gans sich hatten taufen lassen. Nun wurde Zunz im Interesse seines Anliegens der intellektuelle Führer der genannten „Wissenschaft

des Judentums".

Es kam 1851 zur Gründung der Monatsschrift

für Geschichte

und Wis-

senschaft des Judentums. Mit der Förderung der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums verfolgte diese Richtung das Ziel, gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Das fand seinen Niederschlag in der Gründung wissenschaftlich orientierter rabbinischer Ausbildungsstätten (Breslau 1854, Berlin 1872: „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums"). Versuche, eine jüdisch-theologische Fakultät im Rahmen einer Universität zu errichten, scheiterten. Das wissenschaftliche Bemühen diente immer mehr auch dem Ziel einer Reform des Judentums. In diesem Sinn verfaßte Isaak M. Jost eine allgemeine Geschichte der Juden (1829), um die Reform zu fördern. Zunz selbst wollte mit seinem Werk Gottesdienstliche Vorträge der Juden die Predigt in der Volkssprache legitimieren. Abraham -»Geiger, seit 1872 Vorstand der Hochschule in Berlin, hat von seinem religionswissenschaftlichen Interesse her mit seinem Hauptwerk Urschrift und Übersetzung den dynamischen Prozeß der Entstehung des Bibeltextes methodisch richtig erfaßt: Die Pharisäer sieht er zu ihrer Zeit als die Vorläufer der Reformer seiner eigenen Zeit. Die umfassendste Bestandsaufnahme jüdischer Handschriften erarbeitete an der Bodleiana in Oxford der noch der Gründergeneration angehörende Moritz Steinschneider ( 1 8 1 6 - 1 9 0 7 ) . Es ging ihm um den Aufweis jener Bereiche der jüdischen (Übersetzungs-) Literatur, die einen kulturvermittelnden Beitrag zwischen den Völkern darstellen. Zwischen 1853—1876 entstand die klassisch gewordene Geschichte der Juden von Heinrich -•Graetz mit einer national-romantischen Tendenz. Die Darstellung der jüdischen Geschichte wurde bis in die Gegenwart fortgesetzt. In seiner „Weltgeschichte des jüdischen Volkes" geht Simon Dubnow ( 1 8 6 0 - 1 9 4 1 ) davon aus, daß es zu je verschiedenen Zeiten verschiedene Zentren des jüdischen Lebens gab, die unabhängig von geistesgeschichtlichen Perioden die Abschnitte der jüdischen Geschichte bestimmen. Die „Wissenschaft des Judentums" konnte ihr Ziel nicht mehr erreichen. Durch die Vernichtung des deutschen und des osteuropäischen Judentums kam dieser geistige Aufbruch zu einem jähen Stillstand. Die furchtbaren Ereignisse stellten aber auch außerhalb Europas diese Ansätze in Frage.

6.5. Religiöse

Reformbewegungen

Ein Anliegen der Haskala war die religiöse Reform gewesen. In diesem Zusammenhang ist die Einberufung eines „Sanhedrin" durch Napoleon (1806) interessant, der sich um die Neudefinition des Judentums bemühen und gleichzeitig eine Absage an die jüdische Nationalität vornehmen sollte. Es ging darum, die rabbinische Autorität auf den spirituellen Bereich einzuschränken und die weltliche Autorität auch in Fragen der -•Mischehen anzuerkennen. Dieses Unternehmen kann freilich nicht als inner jüdisches Anliegen verstanden werden. Der Reform ging es wenigstens anfänglich hauptsächlich um ästhetische und nicht so sehr doktrinelle Veränderungen. M a n wollte sowohl in Europa wie auch in den USA der christlichen Umgebung ebenbürtig werden. In dem nur

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363

kurz existierenden Tempel in Seesen, den Israel Jacobson ( 1 7 6 8 - 1 8 2 8 ) , ein Bewunderer Napoleons, im J a h r e 1810 gründete, wurde der Gottesdienst in protestantischem Stil unter Verwendung einer Orgel, mit Predigt und Gebeten in deutscher Sprache gehalten Der noch radikalere „ T e m p e l " (bewußt vorgenommener Ersatz der Bezeichnung „Synagoge") in Hamburg (1818) übernahm alle Reformen von J a c o b s o n und brachte ein eigenes Gebetbuch heraus, das alle Anspielungen auf eine Rückkehr nach Z i o n ausmerzte. In ähnlicher Weise gingen (1824) die Reformer in Charleston (South Carolina) vor. Ein Zeichen für den Wirkungsradius der Reformbewegung. M a n wollte den Kult in einer dem Zeitalter der Vernunft entsprechenden Weise gestalten. Im J a h r e 1840 wurde die deutsche R e f o r m dann auch institutionalisiert. In einer Reihe von Synoden, Braunschweig (1844), Frankfurt (1845), Breslau (1846), wurden die ersten theologischen Grundlagen und Begründungen für die R e f o r m vorgelegt. Der dabei führende Samuel Holdheim ( 1 8 0 6 - 1 8 6 0 ) identifizierte das Judentum mit dem absolut Guten und der ethischen Vernunft. Die jüdische Religion wurde als immer schon in Entwicklung befindlich beschrieben. Da nun die Juden keine N a t i o n mehr seien, bestünde auch keine Notwendigkeit, das gesamte Korpus der religiös politischen Gesetzgebung (Halacha) weiterhin anzuwenden. Gültigkeit sollten nur mehr die Moralgesetze haben. Erst durch ihren Weg in die Vereinigten Staaten erlebte die Reformbewegung ihren größten Erfolg. Starke deutschjüdische Einwanderungswellen in den USA verbanden sich mit dort herrschenden R e formtrends. Im J a h r e 1880 waren fast alle der 2 0 0 Synagogen der USA Reformsynagogen. Diese Ideen fanden unter dem maßgeblichen Einfluß von Isaac M. Wise ( 1 8 1 9 - 1 9 0 0 ) in der sogenannten Pittsburgh Platform (1885) ihren Niederschlag. In diesem Manifest, das eine Plattform aller Reformgemeinden bilden sollte, wurde erklärt, daß das Judentum eine evolutionäre Religion und nicht länger national gebunden sei und somit auch entorientalisiert werden müsse. Der Talmud sollte fortan nur mehr als religiöse Literatur und nicht als verbindliches Gesetz angesehen werden. Die Vorgänge in Europa, der dort wachsende -»Antisemitismus und nicht zuletzt der Umstand, daß die O r t h o d o x i e auch in den USA weitaus stärker wurde, als ursprünglich angenommen worden war, führten 1937 zur sogenannten Columbus Platform. Hier wurde nun wieder der Begriff „ V o l k " für die Juden aufgenommen und Hebräisch als Kultsprache wie auch traditionelle Formen des Gottesdienstes betont. Die R e f o r m als ein Kind der Aufklärung wurde im 20. J h . von der geschichtlichen Realität eingeholt und wieder stärker zur Besinnung auf die eigenen Wurzeln veranlaßt, die sich nicht zuletzt in ihrer gewandelten Einstellung zum Zionismus äußert. Gegen die radikalen Reformvorstellungen Samuel Holdheims und Abraham Geigers hatte sich schon auf der Rabbiner-Synode von Frankfurt (1845) Widerstand geregt. Zacharias Frankel ( 1 8 0 1 - 1 8 7 5 ) , der damalige R e k t o r des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau, verließ die zweite Reform-Synode, weil er mit der Zurückdrängung des Hebräischen auf einen geringen Teil der Gebete nicht einverstanden war. Für Frankel war das Hebräische Repräsentant des jüdischen Geistes und des jüdischen Volkes. Damit begann die Bewegung des Konservativen Judentums, das man ein Kind der R o m a n t i k nennen könnte. O b w o h l auch das konservative Judentum die jüdische Religion als in einem stetigen Entwicklungsprozeß befindlich verstand, sollten R e f o r m e n nur im Anschluß an ein gründliches Studium der Quellen erfolgen, wodurch insgesamt ein traditionelleres Bild des Judentums gewahrt blieb.

6.6. Moderner

—> Antisemitismus

Die innerjüdischen Versuche, durch R e f o r m ihrer nicht-jüdischen Umwelt entgegenzukommen, zeitigten nicht die erhofften Früchte. Die entscheidende Schwierigkeit liegt darin, daß weder die Aufklärung noch der Marxismus (vgl. M a r x ' Zur Judenfrage 1843) von ihren rationalistischen Prinzipien her eine Möglichkeit sahen und sehen, das rationalistisch nicht begründbare Spezifikum jüdischer Existenz zu akzeptieren. So fehlte es in dieser ganzen Periode nicht an Judenfeindschaft und Antisemitismus (der Begriff entstand 1879). Die dabei vorgebrachten Anschuldigungen gegen die Juden stammten teils aus

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Judentum

ideologischen Positionen vor dem Auftreten des -»Liberalismus (vgl. die DamaskusAffäre von 1840 mit religiösem Hintergrund), teilweise resultierten sie aus den mit dem Erstarken des Liberalismus neu entstandenen Antagonismen (vgl. die Hep-Hep-Krawalle 1819, die Pogrome in Rußland von 1881 und die Dreyfus-Affäre 1894-1901). Sowohl in West- wie auch in Osteuropa wurden moderne gesellschaftliche Bewegungen aus kirchlicher Perspektive kritisch betrachtet (vgl. den Positionswandel von -»Pius IX. zwischen 1848 und 1850). Da nun gerade die Juden durch die liberalen Tendenzen zu ihrer Emanzipation gelangen konnten, wurden sie nicht selten als Urheber subversiver Tendenzen verleumdet. Der zweifellos bestehende Interessenkonflikt zwischen den Verfechtern der alten Ordnung und den Prinzipien der -»Französischen Revolution wirkte in nicht unbedeutender Weise auch auf das Verhältnis von Christen und Juden, aber auch der nichtreligiösen konservativen Kräfte zurück. Literarischen Niederschlag fand der Antisemitismus in dem 1899 erschienenen zweibändigen Werk des Schwiegersohnes von Richard Wagner, Houston S. Chamberlain (1855—1927): Die Grundlagen des 19. Jh. In jedem Fall ist das Entscheidende am Antisemitismus die krankhaft übersteigerte Eskalation tatsächlicher, vermeintlicher oder überhaupt nur imaginärer Interessenkonflikte mit Juden zu einem irrationalen, das unterbewußte Feindbildbedürfnis erfüllenden Haß, der sich nur zu oft in verbrecherischen Gewalttaten gegen die Juden entlädt, die als jeweilige Minderheit keine effizienten Mittel zur Gegenwehr haben. Wegen seiner psychologischen Dimension eignet er sich in jeder Gesellschaftsordnung vorzüglich als Mittel der demagogisch-politischen Agitation. 6.7. Der

Zionismus

Es ist keineswegs verwunderlich, daß der Antisemitismus des 19. Jh. eine auslösende Wirkung bei der Entstehung des -»Zionismus hatte und daß mit der furchtbarsten Folge des Antisemitismus, dem Holocaust, auch die Gründung des Staates Israel zusammenfällt. Der Zionismus stellt heute wohl das lebendigste Phänomen des jüdischen Lebens dar. Durch ihn wird die Emanzipationsbewegung zur Vollendung gebracht, insofern die Juden in eine Nation umgewandelt werden wie alle anderen Nationen eben auch. Hier liegen aber naturgemäß die fundamentalen Probleme für die weitere Entwicklung des Judentums. Insofern es um die Rückkehr nach Zion geht, folgt die Bewegung älteren religiösen Vorstellungsmustern, die in den Schriften von Moses Hess (1812-1875): Rom und Jerusalem, Leon Pinsker (1821 — 1891): Autoemanzipation und Theodor Herzl (1860-1904): Der Judenstaat mehr oder minder stark mitschwingen. Wenn die Idee des Zionismus wesentlich als ein Lösungsmodell im Rahmen des Nationalismus des 19. Jh. zu sehen ist, so kann man aus religionsgeschichtlichem Blickwinkel sie auch als eine Säkularisation der messianischen Idee, ja des jüdischen Lebens überhaupt begreifen. So ist der Zionismus tatsächlich für viele Juden zu einer Form der säkularisierten Religion geworden und bildet über die verschiedenen religiösen Strömungen hinweg heute einen wichtigen Integrationsfaktor des Judentums. 6.8. Die Haskala

in

Osteuropa

Nach der raschen Verbreitung der Haskala in Mitteleuropa gelangte sie mit einer gewissen Verzögerung auch nach Osteuropa. Zu nennen ist hier vor allem Nachman Krochmal (1785-1840). Schon sein Vater stand der Haskala in Deutschland nahe, während er selbst eine führende Persönlichkeit der osteuropäischen Haskala und der dortigen Form der „Wissenschaft des Judentums" wurde. In seinem im Titel bewußt an Maimonides anschließenden Werk Moreh Newuchim ha-Seman (Führer der Unschlüssigen der Zeit, 1851 postum publiziert), das von der deutschen idealistischen Philosophie beeinflußt ist, macht er den Versuch, das Judentum religions- und geschichtsphilosophisch zu deuten. Aus einer zyklischen Sicht der jüdischen Geschichte heraus versucht er zu zeigen, daß das Judentum aus jeder Periode des Verfalls gestärkt hervorgeht und dabei stets zu einer neuen und höheren Stufe der Selbstverwirklichung gelangt. Eine Reihe von Autoren,

Judentum

365

unter denen Jehudah Leib Gordon ( 1 8 3 0 - 1 8 9 2 ) und Abraham Mapu ( 1 8 0 8 - 1 8 6 7 ) mit seinem R o m a n Ahawat Zion (Liebe zu Zion) besonders hervorzuheben sind, schufen eine modernhebräische Literatur, in der sie indirekt Aberglauben und kulturelle Rückständigkeit in den traditionellen jüdischen Siedlungsgebieten Osteuropas kritisierten und auch die Hoffnung auf ein idealeres Leben im Land Israel nährten. So hat besonders M a p u den Idealen des Zionismus in breiten Kreisen den Weg bereitet. Eine wichtige und kritische Mittlerfunktion zwischen Haskala und Zionismus nimmt Ascher Ginzberg (1856-1927) ein, der unter seinem Schriftstellernamen Achad ha-Am bekannt ist. Er gab in Odessa zwischen 1896 und 1903 die Zeitschrift ha-Schiloach heraus, die sowohl für die Entwicklung des Modernhebräischen wie auch als Diskussionsorgan für jüdische Probleme und die Fragen der zionistischen Bewegung von wesentlicher Bedeutung war. Er selbst war gegen eine überhastete Realisierung der Siedlung in Palästina. Ein anderer Weg zur E m a n zipation der Juden in Rußland wurde mit der Tendenz zur Russifizierung beschritten. So gaben Joachim Tarnopol ( 1 8 1 0 - 1 9 0 0 ) und Osip A. Rabinovich ( 1 8 1 7 - 1 8 6 9 ) seit 1860 die russischsprachige jüdische Zeitschrift Rasvet (Morgengrauen) heraus, die dem russischen Patriotismus der Juden, der Emanzipation und der Modernisierung dienen sollte. Die Herausgeber hegten im Z u s a m m e n h a n g mit den Reformen des Zaren Alexander II. ( 1 8 5 5 - 1 8 8 1 ) die Hoffnung, daß durch eine soziale und bürgerliche Gleichstellung der Juden auch eine innere Strukturverbesserung möglich sein werde. Lev Levanda (1835—1888), in der Zeit Alexander II. mit staatlichen Aufgaben betraut und Mitarbeiter bei Kasvet, wurde seit 1881, als mit der Ermordung des Zaren wieder eine restriktive Politik den Juden gegenüber betrieben wurde, zunehmend ein Vertreter der Linie von Leon Pinsker und ein Anhänger der Bilu-Bewegung. D a s Ziel aller Bewegungen in den Jahren zwischen 1860 und 1870 war es, die Juden zu guten Russen und ihr Judentum zur Privatsache zu machen. O h n e große Breitenwirkung erzielt zu haben, erwiesen sich diese Bemühungen seit den 1881 einsetzenden Pogromen überhaupt als Illusion, und es ging der Glaube verloren, die Russen könnten bereit sein, „aufgeklärte" Juden zu akzeptieren. Es ist daher kein Zufall, daß im J a h r e 1882 erstmals eine sich nach den Anfangsbuchstaben von Jes 2,5 „Bilu" nennende Gruppe russischer Studenten nach Palästina ging und damit die Intentionen des Zionismus vorwegnahm, dessen erster Kongreß erst 1897 tagte. Die jüdische Auswanderung in die USA betrug zwischen 1881 und 1890 etwa 5 0 0 0 0 0 Personen. Dort begegneten einander nun die westeuropäische Haskala in der Gestalt der ersten deutschen Einwanderergeneration und das traditionelle osteuropäische Judentum, für das auch das Jiddische als Alltagssprache seine Bedeutung behielt.

6.9. Entwicklungen

in der

Orthodoxie

Die Mehrheit der Juden in West- und Osteuropa blieb von den religiösen Reformideen unberührt und, wie es die R e f o r m e r nannten, „ o r t h o d o x " . In Osteuropa hatte schon 100 J a h r e früher der G a o n von Vilna die o r t h o d o x e Linie festgelegt. Nun kamen aber die traditionell eingestellten Kreise im Westen nicht umhin, sich mit den geistig-kulturellen Zeitströmungen auseinanderzusetzen. Unter der Führung von Samson Rafael —> Hirsch, der 1851 in Frankfurt am M a i n eine eigene o r t h o d o x e Gemeinde gründete und mit allen Reformgemeinden brach, entstand die kämpferische F o r m der Neo-Orthodoxie. D e r Einfluß dieser Gruppe war sehr groß, da es ihr gelang, sowohl traditionell religiös zu sein und gleichzeitig den Status voll anerkannter Bürger zu erreichen. D a s gelang vor allem dadurch, daß man zwischen Religion und Kultur unterschied. M a n konnte religiös bleiben und gleichzeitig der westlichen Kultur angehören, wie der Titel einer Schrift von Hirsch signalisiert: Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt. Diese F o r m der jüdischen Religion dürfte heute zum Standard schlechthin geworden sein. D . h . , daß auch der religiösen Praxis fernstehende Juden darin die jüdische Religion sehen, die sie nicht zu verändern wünschen, solange ihnen die pluralistische Gesellschaft die Freiheit von jedem religiösen Z w a n g gewährleistet. Dahinter steht gerade heute das Bewußtsein, daß die traditionelle Religion sozusagen das historisch kontinuierliche R ü c k g r a t des Judentums ist. Diese

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Judentum

Form der Othodoxie lebt in den USA vor allem in einer Reihe von akademischen Bildungsinstitutionen, wie etwa der Yeshiva-Universität oder der Bar-Ilan Universität in Israel. Überhaupt hat die Orthodoxie in Israel eine Sonderstellung, da sie die einzige offiziell anerkannte Form der jüdischen Religion darstellt und ausschließlich für Personenstandsfragen zuständig ist. Im Gefolge der chasidischen Bewegung sind innerhalb der Orthodoxie Strömungen zu registrieren, die die westliche Zivilisation und auch den Zionismus grundsätzlich ablehnen, wie etwa die kleine Minderheit der Neture Karta in Meah Schearim (Jerusalem). Neben diesen rein religiösen Entwicklungstendenzen gibt es auch solche, die einen philosophischen Schwerpunkt haben und auch nicht an konkrete religiöse Gruppen gebunden sind. Diese Denkanstöße weisen neue Wege, ohne allerdings innerjüdisch schon geschichtsmächtig geworden zu sein. 6.10. Entwicklungen

im Bereich der

Religionsphilosophie

Moderne jüdische Denker sahen sich gedrängt, jüdische Identität und Kontinuität in einer Zeit darzustellen, in der die Halacha als einigendes Band in weiten Kreisen immer schwächer wurde. Sie mußten sich um Begründungen für das Spezifische des Judentums bemühen, wie es schon Nachman Krochmal versuchte. Dazu kam die Herausforderung, die das allgemeine philosophische Denken bedeutete. Salomo Formstecher (1808-1889) sieht in seinem Werk Die Religion des Geistes die im Judentum durch die Propheten gegebene Offenbarung als die Quelle des „ethischen Monotheismus", den das Judentum darstellt. Im Anschluß an Schelling und Hegel geht es ihm um eine philosophische Durchdringung des Judentums im Dienste der Emanzipation und der Reform, wobei die Emanzipation im Sinne hegelscher Philosophie als das Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen ist. An die Philosophie -»Kants schließt Hermann Cohen (1842-1918) an. Für ihn als Neukantianer sind Ethik und Religion identisch, und das Judentum ist die Inkarnation der ethischen Religion. Andererseits versucht er, die konkrete geschichtliche jüdische Religion zu integrieren, die er innerlich auch nie verlassen hatte. Charakteristisch ist der Titel seines postum veröffentlichten Werkes Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Die Religion Israels ist nicht identisch mit der Vernunftreligior, aber sie ist in der Geschichte des religiösen Bewußtseins ihre vornehmste Manifestation. Leo -tBaeck erhielt seine Ausbildung am Seminar in Breslau und wirkte bis 1912 als Rabbiner in Düsseldorf. Nach dem Kriegsdienst im 1. Weltkrieg lehrte er an der Hochschule in Berlin. Ab 1933 gehörte er der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland" an und sah seine Aufgabe in der Verteidigung der den Juden verbliebenen Rechte. Er lehnte jede Auswanderung ab und kam 1943 nach Theresienstadt. Im KZ entstand sein Werk Dieses Volk, das er erst drei Tage vor seinem Tod 1956 in den USA vollendete. Baeck war kein Philosoph im strengen Sinn, sondern ein philosophisch-theologischer Denker, dsr vor allem durch sein Leben eine große Ausstrahlung hatte und hat. Das Hauptwerk Eaecks Das Wesen des Judentums ist in Auseinandersetzung mit dem Werk A. von -»Hamacks Das Wesen des Christentums entstanden und der Philosophie Cohens verpflichret. In Auseinandersetzung mit dem Christentum, zu dem er fast übergetreten wäre, schuf Franz Rosenzweig (1886-1929) seinen Beitrag zur jüdischen Philosophie. Wichtig war für ihn die Begegnung mit dem osteuropäischen Judentum während seines Kriegsdienstes im 1. Weltkrieg. Sein Hauptwerk Stern der Erlösung schrieb er seit August 1918 auf Feldpostkarten. 1920 gründete er das „Freie Jüdische Lehrhaus" in Frankfurt. Rosenzweig ist als neo-orthodoxer Existentialist anzusprechen, der die Beziehung des Individuums zu Gott im Dialog betonte und das Judentum als eine wirkliche Offenbarung sah, wobei Offenbarung für ihn der Einbruch Gottes in die Geschichte ist. Dennoch wollte er nicht einfach die Überlegenheit des Judentums über das Christentum behaupten. Für ihn sind die beiden Religionen nur verschieden, aber komplementär in der Erreichung derselben Wahrheit. In den Jahren seiner Krankheit widmete er sich der Übersetzung der Bibel zusammen mit Martin -*Buber, für den das Judentum eine, ja die Form der persönlichen Begegnung mit Gott ist. Durch seine Darstellung des Chasidismus hat Buber ein Juden-

Judentum

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tum seiner Vorstellung gezeichnet, dessen existenzielle Anziehungskraft bis in die Gegenwart wirksam ist. Eine theoretische Analyse dieses Judentums hat Buber in der Schrift Ich und Du gegeben, in der er sein dialogisches Prinzip darlegt. So ist für ihn Offenbarung nicht nur in der Vergangenheit erfolgt, sondern geschieht in verschiedenem Grad bei der Bewältigung des täglichen Lebens. In den USA herrscht die Tendenz, das Judentum in den Kategorien aktueller philosophischer Systeme darzustellen. Der bedeutendste Versuch dieser Art ist wohl das auf dem Pragmatismus John Deweys basierende Werk von Mordecai Menahem Kaplan (1881-1983). Kaplan sieht das Judentum von einem pragmatischen Standpunkt aus und betont seinen humanistischen Kern. In seinem Hauptwerk Judaism as a Civilization wird das Judentum als eine „sich entwickelnde religiöse Zivilisation" gesehen, die das jüdische Volk hervorgebracht hat. Die konkrete jüdische Existenz wird als Quelle persönlicher Authentizität und Kreativität verstanden, eben als der spezifisch jüdische Weg zur Realisierung allgemeiner moralischer Inhalte. Kaplan gilt als der Begründer des Rekonstruktionismus, der Reformer und Konservative umfaßt. 7. Das Judentum

in der Welt von

heute

7.1. Geschichtlicher Überblick Ein wesentlicher Aspekt der jüdischen Geschichte seit dem 19. Jh. ist die politische Aktivität des Zionismus. In den Staaten Westeuropas kam es zur Einführung und teilweisen Wiederabschaffung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden und in Osteuropa zu wachsender Verfolgung. Die seit dem 18. Jh. sich verbreitende weltliche Bildung unter den Juden ließ nun ein reges kulturelles Schaffen jüdischer Autoren, Künstler und Wissenschaftler auf allen Gebieten zu. Für eine Darstellung des Judentums sind im eigentlichen Sinn aber nur jene Schöpfungen und Aktivitäten relevant, die direkt oder indirekt aus jüdischem Selbstverständnis hervorgegangen sind oder demselben dienen sollten. Der Umstand, daß seit dem 19. Jh. auf allen Gebieten des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Juden bedeutende Leistungen erbracht haben, hat eine doppelte Ursache. Einerseits hat die jüdische Aufklärung die innerjüdischen Voraussetzungen dafür geschaffen, andererseits eröffnete die bürgerliche Gleichstellung den Juden den Zugang zu diesen Bereichen. Es wird im Einzelfall nicht immer leicht sein festzustellen, wie weit eine bestimmte Leistung aus jüdischem Selbstverständnis kommt oder diesem dient. Das macht ein Vergleich folgender, auf völlig verschiedenen Gebieten wirkenden Persönlichkeiten deutlich: Heinrich Heine (1797-1856), Karl Marx (1818-1883), Sigmund Freud (1856-1939), Max Reinhardt (1873-1943), Albert Einstein (1879-1955), Marc Chagall (1887-1985), Otto Preminger (1906-1986), Henry Kissinger (geb. 1923), Leonard Bernstein (geb. 1918). Es ist jedenfalls darauf zu achten, daß eine solche Darstellung von rassistischen Tendenzen frei bleibt, denen es nur um die polemische Registrierung von jüdischem Einfluß geht. Vor und nach dem 1. Weltkrieg, bei dem Juden als loyale Staatsbürger in allen Armeen dienten, waren die USA und Deutschland Zentren jüdischen Kulturschaffens. Nachdem durch die Balfour-Deklaration von 1917 der Weg zu einem „Jewish Homeland" geöffnet war, konnte im Jahre 1925 in Jerusalem die Hebräische Universität eröffnet werden. Der nationalsozialistische Antisemitismus betrieb seit 1933 und speziell durch die Nürnberger Gesetze (1935) eine systematische Diskriminierung und seit 1942 durch die Einrichtung von Vernichtungslagern die Ausrottung der Juden in ganz Europa. Diese Maßnahmen ließen sich um so leichter durchführen, als durch die vorausgegangene antisemitische Agitation in der breiten nicht-jüdischen Öffentlichkeit ein entsprechendes Klima geschaffen worden war. Das einschneidende Ereignis, dessen volle Auswirkungen für das Judentum in historischer Sicht noch nicht abgeschätzt werden kann, ist der Holocaust. Dadurch hörte das Judentum auf, eine europäische Religion zu sein. Die systematische Vernichtung von 6 Millionen Juden, die sich im Bereich unserer deutschen Kultur ereignete, ist ein bisher singuläres Geschehen in der Geschichte der Menschheit und

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Judentum

insofern auch ein Wendepunkt für diese selbst. Unabhängig von persönlicher Schuld ist angesichts dieser Katastrophe vor allem in Deutschland und Österreich ein fundamentaler Reflexionsprozeß gefordert. Der Vorgang der Totalvernichtung steht ja - und insofern wird jüdische Geschichte, wie so oft, modellhaft für die Geschichte überhaupt — am Beginn einer Periode der „Zivilisation", in der gewaltsame Konfliktaustragung angesichts des technischen Potentials immer auch schon den Horizont einer Totalvernichtung der Menschheit eröffnet. Ob ein solcher Reflexionsprozeß überhaupt in Gang kommen und zu positiv geschichtsmächtigen Resultaten führen wird, läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 bedeutete für hunderttausende jüdischer Flüchtlinge eine neue Heimat und die Realisierung eines Ziels der zionistischen Bewegung. Gleichzeitig kam es zu einer Massenflucht von Juden aus den arabischen Staaten nach Israel. Dadurch wurden die jüdischen Gemeinden in den moslemischen Ländern des Nahen Ostens zu verschwindenden Minderheiten. Seit 1979 führte die politische Entwicklung im Iran auch in diesem Land zu einem jüdischen Exodus. Andererseits stellt das Problem der palästinensischen Flüchtlinge den jungen jüdischen Staat vor ein Dilemma, für dessen politische und humanitäre Lösung es trotz des Friedensabkommens mit Ägypten in Camp-David von 1979 noch kein realisierbares Konzept gibt. Der Nahostkonflikt läßt sich freilich nicht auf die jüdisch-arabische Frage reduzieren, sondern ist als ein Teil des weltpolitischen Kräftespiels zu verstehen. Während ein arabisch-jüdischer Dialog, von kleinsten Ansätzen abgesehen, nicht existiert, zeichnet sich im christlichjüdischen Dialog immer stärker die Tendenz zu gegenseitigem Verständnis ab. Von den politischen Dimensionen dieses Dialogs her sind freilich für das jüdisch-christliche Verhältnis durchaus Probleme zu orten. Die drei Hauptzentren jüdischen Lebens sind heute Israel, die USA und die Sowjetunion. 7.2. Das amerikanische

Judentum

Die Geschichte der Juden in den USA ist durch mehrere Einwanderungswellen charakterisiert. Zunächst gab es die kleine Gruppe der orthodoxen sefardischen Einwanderer des 17. Jh. Um 1730 ist die erste feste Synagoge in New York nachweisbar. Um die Mitte des 19. Jh. folgte eine erste größere Einwanderungswelle von kleinen Kaufleuten und Handwerkern, die sich nach Westen bewegten. Es handelte sich fast ausschließlich um Laien, die auch der Reform gegenüber sehr aufgeschlossen waren. Der Führer dieser Gruppierung war Isaac M. Wise in Cincinnaty/Ohio. Die orthodoxen Kreise sammelten sich zunächst um Isaac Leeser(l806-1868). Nach einer Übergangsphase, die durch Zerfallserscheinungen gekennzeichnet war, wurde 1866 durch Sabato Morais (1823-1897) das Jewish Theological Seminary gegründet. Die dritte und größte Welle von Einwanderern kam in der Zeit zwischen 1881 und 1914. Sie unterschieden sich sehr stark von den früheren Immigranten und prägen das Bild des Judentums in den USA bis heute. Dabei waren auch viele osteuropäische Rabbinen, die in der Neuen Welt ihre Synagogen einrichten konnten. So kehrte sich die Situation um. Standen etwa 1880 die meisten der 200 existierenden Synagogen unter dem deutschen Reform-Einfluß, so waren von den bis 1890 bereits bestehenden 533 Synagogen die meisten Neugründungen orthodox. Diese orthodoxen Elemente empfanden das bestehende Jewish Theological Seminary als zu progressiv. Unter der Leitung von Salomon Schechter übernahm es auch immer mehr die Positionen des konservativen Judentums. Von orthodoxer Seite wurde nun ein neues Bildungssystem im Stil der traditionellen Jeschiwah gegründet. Daraus entstand im Jahre 1945 die Yeshiva-University als akademische Institution zur Ausbildung von Rabbinern. Die Rolle des Rabbiners hat sich geändert. Er ist nicht mehr nur Experte talmudischer Rechtsgelehrsamkeit, sondern Prediger und aktiver Gemeindevorsteher. Die individuelle Identifikation mit jüdischem Leben in den USA erfolgt über die Teilnahme am Leben der Synagogengemeinschaften. Obwohl relativ gering an Zahl, gilt das Judentum in den USA neben dem Katholizismus und dem Protestantismus als die drittbedeutendste Denomina-

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tion. Den üblichen Formen der Organisation in den USA folgend, gibt es eine Reihe von jüdischen Organisationen mit gesellschaftlichen und sozialen, vor allem auch zionistischen Zielsetzungen. Zu nennen sind hier die Bnai Brith, das Jewish Joint Distribution Committee und der American Jewish Congress. Keine dieser Vereinigungen spricht für alle Juden in den USA. Vielmehr ist das jüdische Leben in den USA durch eine große Variationsbreite von konservativsten bis zu ganz reformerischen Positionen gekennzeichnet. Alle Gruppierungen sind mit dem Prozeß der Säkularisation und der Frage nach dem Inhalt jüdischer Identität konfrontiert. Andererseits gibt es viele Zeichen religiösen und nationalen Wiedererwachens unter der jüdischen Jugend. Die Zahl der Mischehen ist insgesamt sehr hoch und der Synagogenbesuch in den USA unter den Prozentsätzen des Kirchenbesuchs gelegen. In den USA sind von etwa 5,8 Millionen Juden ca. 6 0 % in einer Synagoge organisiert. 7.3. Das Judentum

in Israel

Die jüdische Bevölkerung in -•Israel beträgt gegenwärtig etwa 3,5 Millionen. Die verschiedenen Einwanderungsschübe spiegeln sich in folgender jüdischer Bevölkerungsentwicklung wider: 1920: 80000; 1930: 170000; 1946: 600000. Aus der Sowjetunion wanderten seit 1948 etwa 300000 Personen nach Israel ein. Dazu kommen seit 1948 die Flüchtlinge aus den arabischen Staaten, wo viele dieser Gemeinden zu bestehen aufhörten, als ihre Mitglieder gezwungen waren, nach Israel auszuwandern. Die Existenz des Staates Israel stellt das Judentum vor eine seit der Antike nicht mehr gegebene Situation. Juden leben in einem souveränen Staat und bestimmen gleichzeitig über das Geschick einer starken arabischen (meist moslemischen) Minderheit. In der gegenwärtigen politischen Landschaft des am 15. Mai 1948 proklamierten Staates sind die geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen des Judentums deutlich abzulesen. Wenn auch eine Minderheit von etwa 10%, kommt den religiösen Parteien seit der Staatsgründung die Funktion des Züngleins an der Waage zu. Gleichzeitig genießen die im 19. Jh. neben der Orthodoxie entstandenen Gruppen des konservativen und des Reformjudentums keine offizielle Anerkennung. Die Kinder religiöser Familien besuchen zu 4 0 % Schulen orthodoxer Orientierung. Die zahlenmäßige Stärke religiöser politischer Parteien ist jedoch viel kleiner, d. h., daß etwa 10% der Parlamentssitze an religiöse Parteien gehen, die meist selbst noch vor der Gründung des Staates Israel in der Diaspora entstanden sind. Das Personenstandsrecht ist nach den Prinzipien der Halacha und für Nichtjuden nach ihrem jeweiligen religiösen Recht geordnet. Die Rolle der Orthodoxie ist nicht etwa in einer Verfassung niedergeschrieben, sondern wohl auch Ausdruck des Bewußtseins, daß es das Judentum der Religion im engeren Sinn zu danken hat, daß es die Jahrhunderte ohne einen eigenen Staat überdauerte. Alle sozialistischen Regierungen bildeten Koalitionen mit der Nationalreligiösen Partei. Diese geschichtlich gewordenen sozio-kulturellen Spannungen wurden, nicht zuletzt durch die Wiederbelebung des Hebräischen, erstaunlich gut bewältigt. Dennoch entwickelte sich ein politisch überaus wirksamer Antagonismus zwischen Sefardim und Aschkenasim. Ähnlich wie alle anderen Religionen hat das Judentum auch in Israel mit der modernen Säkularisierung zu kämpfen und ist damit in ganz spezifischer Weise vor das Identitätsproblem gestellt. 7.4. Das Judentum

in der UdSSR

In der UdSSR gibt es laut Volkszählung von 1980 etwa 1,8 Millionen Juden. Allerdings besteht das Problem, wer als Jude gilt bzw. die Angabe macht, Jude zu sein. Es gibt daher Schätzungen, daß in der UdSSR doch ca. 2,5 Millionen Juden leben. Die Revolution 1917 wurde von den Juden in der Aussicht auf die Erlangung der Freiheit enthusiastisch begrüßt. Schon vor der Revolution waren viele Juden aus assimiliertem Milieu Mitglieder der Kommunistischen Partei, wie etwa Maxim Litwinow (1876-1951) und vor allem Leo D. Trotzki (1879-1940). Stalins antisemitische Einstellung und die schon von den marxistischen Prinzipien her ambivalente Einstellung (vgl. Stalins Aufsatz Marxismus und die

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nationale Frage) zu den verschiedenen Nationalitäten im allgemeinen und den Juden im besondern, fand ihren Ausdruck auch in der gesellschaftlichen Realität, die auf die völlige Assimilation abzielt. Vor allem ist die Religionsausübung den auch sonst üblichen Beschränkungen unterworfen. Man schätzt daher, daß etwa nur 100000 eine jüdische Bildung erhalten haben, während immerhin 1 Million Jiddisch als Muttersprache angibt. Aus dieser Situation ergeben sich im Hinblick auf das in Israel geltende Personenstandsrecht für Einwanderer unter Umständen Probleme der Anerkennung als Juden. Durch das Verbot zionistischer Aktivität wurde ein neues Spannungselement eingeführt. Die sehr beschränkte Zahl von offenen Synagogen bildet den Kern eines gewissen jüdischen Gemeindelebens. Seit dem Sechstagekrieg von 1967 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel abgebrochen, und es machte sich eine verstärkte antizionistische und antisemitische Agitation bemerkbar. Gewisse Annäherungsversuche im politischen Bereich zu Beginn der Ära Gorbatschow zeigen die Ambivalenz des Verhältnisses. 7.5. Judentum

in der übrigen

Welt

Die gesamte jüdische Weltbevölkerung beträgt gegenwärtig etwa 13 Millionen, wobei bis zum Jahre 2000 mit einer Abnahme um 1 Million gerechnet wird. Dazu tragen Mischehen, Säkularisierung und gegenwärtige Altersstruktur bei. Die etwa 400000 Juden Südamerikas artikulieren ihre jüdische Identität vor allem in kulturell und ethnisch sich voneinander absetzenden Gruppen, die einer Gesamtorganisation distanziert gegenüberstehen. Die Tendenz zur Assimilation ist sehr stark. Die größte Zahl der Juden Südamerikas lebt in Argentinien (228000). In Europa sind vor allem die jüdischen Gemeinden in Großbritannien (330000) und Frankreich (530000) zu nennen. Vor allem in Frankreich erfolgte durch die Zuwanderung von Juden aus Nordafrika eine zahlenmäßige Stärkung. Zahlenmäßig wenig bedeutsam, aber in ihren religionssoziologischen Strukturen beachtenswert sind kleinste Gemeinden in Afrika und Asien, die zum Teil überhaupt als jüdische Randgruppen anzusprechen sind, wie etwa die Falaschas in Äthiopien, die 1985 in großer Zahl nach Israel ausgewandert sind. In Indien sind die B'ne Israel in Bombay und die Cochin Juden zu nennen. Gerade an diesen Beispielen wird die mögliche Variationsbreite des Judentums sichtbar. Literatur Zu Abschnitt 1: Aaron Z. Aescoli, Jewish Messianic Movements, Jerusalem 1956 (hebr.). Jacob B. Agus, Dialogue and Tradition, New York 2 1971. - Ders., The Evolution of Jewish Thought, London 1959 (Nachdr. 1973). - Ders., The Meaning of Jewish History, 2Bde., New York 1963. - Marcus Arkin, Aspects of Jewish Economic History, Philadelphia 1975. - Emmanuele Artom, Principi di Storia e Cultura ebraica, Rom 5 1978. - Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Köln 6 1960. - Kurt Bätz, Judentum. Wege u. Stationen seiner Gesch., Stuttgart 1984. - Bernard J. Bamberger, The Story of Judaism, New York 3 1970. - Salo W. Baron, A Social and Religious History of the Jews, bisher 18 Bde., New York 2 1952 ff. - Franz J. Bautz (Hg.), Gesch. der Juden. Von der bibl. Zeit bis zur Gegenwart, München 1983.-Schalom Ben-Chorin, Jüd. Glaube, Tübingen 2 1979. - H a i m H. Ben-Sasson (Hg.), Gesch. des jüd. Volkes, 3 Bde., München 1978ff. - Beer Borochov (M. Cohen Hg.), Nationalism and the Class Struggle. A Marxian Approach to the Jewish Problem, New York 1937. - Martin Buber, Vom Geist des Judentums, Leipzig 1916. - Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage, Berlin 1976 f. - Ferdinand Dexinger, Der Glaube der Juden: F. König (Hg.), Der Glaube der Menschen, Wien 1 9 8 5 , 2 7 4 - 3 1 8 . - B e n z i o n Dinur, A Documentary History of the Jewish People, 6 Bde., Jerusalem 1961 ff (hebr.). - Simon Dubnow, Weltgesch. des jüd. Volkes, 10 Bde., Berlin 1925-1929. - Ders., Die jüd. Gesch. Ein geschichtsphil. Versuch, Berlin 1898. - Menachem Elon, Jewish Law. History, Sources, Principles, 2 Bde., Jerusalem 2 1978. - Isidore Epstein, Judaism. A Historical Presentation, London 1973. - Ders., The Faith of Judaism, New York 6 1980. - Louis Finkelstein (Hg.), The Jews. Their History, Culture and Religion, 2 Bde., Philadelphia 1949, 5 1974. Georg Fohrer, Gesch. Israels v. den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 1977. - Ders., Glaube u. Leben im Judentum, Heidelberg 1985 (Nachdr. der Ausg. 1979). - Josef Fraenkel (Hg.), The Jews of Austria, London 2 1970.-Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüd. Gesch. (1846), Berlin 1 9 3 6 . Ders., Gesch. der Juden, 11 Bde., Leipzig 1 8 9 4 - 1 9 0 8 . - Solomon Grayzel, A History of the Jews,

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Chasidismus,

osteuropäischer

( Z u m westlichen Chasidismus vgl. - » C h a s i d i s m u s , aschkenasischer: T R E 7, 7 0 5 - 7 1 0 . D a damals das M a n u s k r i p t nicht eintraf, mußte der osteuropäische Chasidismus neu vergeben und nun als Appendix hinter „ J u d e n t u m " gesetzt werden.) 1.1. Anfänge und Ü b e r b l i c k 1.2. Die Sicht der Gegner 2. Literatur und T h e o l o g i e 2.1. Überblick 2 . 2 . 1 Die Erzählungen 2 . 2 . 2 . Erzählung und H o m i l i e - die Messiasfrage 2.3. Die Homilienliteratur 2 . 3 . 1 . Überblick 2 . 3 . 2 . Die Grundpositionen chasidischer T h e o l o gie 2 . 3 . 3 . Verborgene Einheit in Allem - T h e o l o g i e des Best 2.3.4. Die Einheit im mystischen Nichts - T h e o l o g i e des M a g g i d 2 . 3 . 5 . Einheit als Verbindung der Gegensätze - Gemeindetheologie J a ' a q o v Josefs und 'Elimelekh aus Polonnoje 2.3.6. T o r a - und Nichtungsmystik in H a B a D 2 . 3 . 7 G l a u b e im Widerspruch - R . N a h m a n aus Brazlaw (Literatur S. 385) 1.1.

Anfänge

E i n Hasid

und

Überblick

ist ein Frommer,

G o t t g e t r e u e r , und das heißt n a c h d e m Verstand der t a l m u -

d i s c h e n L i t e r a t u r , e i n e r , d e s s e n T r e u e g e g e n d e n G o t t e s w i l l e n e r h e b l i c h g r ö ß e r ist als d i e e i n e s G e r e c h t e n ( Z a d d i k ) , d e s s e n V e r d i e n s t g e r a d e seine S c h u l d ü b e r w i e g e n m u ß , u m v o r G o t t bestehen zu k ö n n e n . S o l c h e H a s i d i m im t a l m u d i s c h e n Sinne, als a u s der Gesellschaft h e r a u s r a g e n d e H e i l i g e , d e n e n m a n a u c h W u n d e r z u t r a u t , h a t es in d e r j ü d i s c h e n R e l i g i o n s g e s c h i c h t e i m m e r g e g e b e n , wenigstens drei M a l als soziologisch u m r i s s e n e G r u p p e ( A s i d ä e r , H a s i d e ' A s k e n a z u n d u n s e r e ) , m e i s t a b e r als e i n z e l n e o d e r k l e i n e r e G r u p p e n i n n e r h a l b der O r t s g e m e i n d e . So a u c h im O s t e u r o p a des 17. u. 1 8 . J h . , v o r und neben unserem Chasidismus. Die sich im L a u f e der Zeiten wandelnden T h e o l o g i e n und ethischen Vorstellungen h a b e n d e m t a l m u d i s c h e n Bild des H a s i d e n t s p r e c h e n d e V e r ä n d e r u n g e n z u g e f ü g t . W e n i g s t e n s seit d e r Z e i t d e s a s c h k e n a s i s c h e n - » C h a s i d i s m u s g e h ö r t z u m E r s c h e i n u n g s b i l d des H a s i d eine m y s t i s c h e T h e o l o g i e , für die o s t e u r o p ä i s c h e n

from-

m e n ' w a r dies d i e K a b b a l a , b e v o r z u g t in i h r e r l u r i a n i s c h e n F o r m . D i e l u r i a n i s c h e T h e o l o g i e , i n s b e s o n d e r e in i h r e r d u r c h d i e M o r a l l i t e r a t u r p o p u l a r i s i e r t e n G e s t a l t , h a t d e m l u r i a n i s c h e n ' C h a s i d i s m u s ein a u c h ä u ß e r l i c h u n v e r k e n n b a r e s Bild a u f g e p r ä g t . D a ist d i e auffällige A b s o n d e r u n g v o n kleinen und kleinsten Beter- und Studienzirkeln innerhalb d e r O r t s g e m e i n d e , die sich z u r Pflicht m a c h t e n , die L i t e r a t u r der K a b b a l a zu studieren,

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auch dann, wenn die intellektuellen Fähigkeiten dafür nicht ausreichten. Kabbalastudium in der Gemeinschaft galt als förderlich oder unabdingbar, ebenso das Lernen mit einem in der Kabbala versierten Gruppen- oder Privatlehrer. Aber auch die traditionelle Literatur, voran die Mischna, wurde in eigens eingerichteten Mischna-Bruderschaften mit neuer mystischer Intention gelesen - als Thronbereitung für den im Exil leidenden Aspekt der Gottheit (Sekhina), zur Wiedergutmachung der Adamssünde und zum Näherbringen der Erlösung, aber auch zum Heile der verstorbenen Konventikelbrüder. Das von der Tradition abweichende Studiencurriculum erforderte neue Lehrautoritäten, nicht den im Talmud und den Rechtscodices ausgewiesenen Gemeinderabbiner; hier konnten sich stellenlose ,Intellektuelle' als Privatlehrer und Moralprediger (Maggid, Mokhiah) etablieren und von dieser Basis aus zugleich ihre Kritik an der oligarchisch, plutokratisch rabbinischen Gemeindeverwaltung vortragen. Die Bruderschaft achtete auf strengste Einhaltung der Gebote, die durch ihre kabbalistische Deutung neue, kosmische und theosophische Bezugsfelder und damit weitreichende Konsequenzen für die Wiederherstellung (Tiqqun) der durch Ur-Bruch und Adamssünde gefallenen Welten hatten. Hierzu diente gleichfalls der Rückzug in die Einsamkeit sowie strenge Askese, die oft bis zur Selbstvernichtung führte. Auch der chasidische Gottesdienst hatte eigene Züge: Man betete nicht nach dem gebräuchlichen aschkenasischen, sondern, wie - * Isaak Luria, nach dem sefardischen Ritus, betete mit großer Hingabe und auffälliger Gestik, mit lauten Schreien und Gesang, insbesondere zur Mitternacht in der Trauerklage über das Exil der Sekhina. Auch die von Tora umrahmte Tischgemeinschaft wurde gepflegt, das Tragen weißer Gewänder, Zeichen der Gotteshuld am Sabbat und Feiertag, und man verwendete zuweilen schon gegossene und geschliffene Schächtmesser statt der geschmiedeten, um mit einer noch makelloseren Schlachtung den in Tierleibern wandernden Seelen Erlösung zu schaffen. Nicht wenige dieser Kreise standen unter dem direkten oder indirekten Einfluß der sabbatianischen Theologie und Messiaserwartung und deren sündenaufdeckendem und weissagendem Prophetentum — etwa die im Jahre 1700 unter einem gewissen Jehuda he-Hasid nach Palästina ausgewanderte Gruppe. Dieses chasidische Konventikelwesen einzelner auserlesener Kabbalisten war der direkte Mutterboden für den Chasidismus des Israel ben Elieser Ba'al Sem Tov (abgekürzt Best, 1700-1760); er hat, außer den asketischen Zügen (die aber auch von manchen bestschen Chasidim vertreten wurden), weitgehend das Erscheinungsbild des Chasidismus vorgeprägt. Der Best selbst hat nachweislich zu solchen vorchasidischen Chasidimzirkeln gehört und deren Anerkennung gesucht und zunächst nicht ungeteilt gefunden - nach Meinung mancher Quellen wegen des von ihm ausgeübten Berufes eines Ba'al Sem, d.h. eines mit volksmedizinischen Kuren, mit Amuletten und Wundertaten heilenden und helfenden Mannes. In Miedzyborz, seinem späteren Hauptwohnsitz scheint ihm der volle Anschluß und die Anerkennung schließlich gelungen zu sein.Neben wenigen Hinweisen auf diesen seinen Berufsstand ist wohl vor allem das zwischen den Zeilen der ersten chasidischen Legendensammlung (Sivhe- haBest) erkennbare Ringen des Best um die Vorrangstellung unter seinen Konventikelgenossen zu den ersten verläßlichen historischen Daten aus den 3 0 - 4 0 e r Jahren zu rechnen alles was früher hinaufgreift ist als reine Legende zu betrachten. Der Beginn des bestschen Chasidismus ist demnach keine totale Neuschöpfung, sondern eine antiasketisch-panentheistische Neuorientierung in einer der verstreuten kleinen chasidischen Zellen, die sich nach dem Zeugnis der Sivhe-ha-Best bevorzugt aus dem zweiten religiösen Stand der Schächter, Schreiber, Lehrer, Wanderprediger und gelegentlich auch aus der höheren rabbinischen Intelligenz rekrutierten. Erst mit dem Tod des Best begann unter dessen Nachfolger, dem Prediger (Maggid) Dov Ber aus Mesritsch die eigentliche Geschichte und systematische Ausbreitung des ,neuen' Chasidismus, die, wie sich nach dem Ableben des Maggid 1772 herausstellte, ihrem Wesen nach vor allem eine vorübergehende Bündelung früherer Vorformen um den Best und durch den Maggid war, die sich sogleich hernach in einen ganzen Strauß chasidischer Möglichkeiten auseinanderfaltete, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß aus einer Bewegung weniger

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Erlesener nunmehr eine Volksbewegung wurde. Nach dem Maggid gab es trotz mancher Ansprüche keinen allseits anerkannten Führer der gesamten Bewegung mehr, vielmehr machten sich Differenz und Rivalität breit, dennoch (oder deshalb) zählt der Chasidismus etwa ein halbes Jahrhundert später ca. 5 Millionen Anhänger, die alsbald mit den in die Minderheit geratenden Gegnern (Mitnaggdim) zum Hauptfaktor im Kampf gegen die aus Berlin herüberdrängende Aufklärung (Haskala) wurden und in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen die polnischen Traditionalisten unter der Gurer Dynastie in die neugegründete Repräsentanz der Orthodoxie, die Agudat Jisrael führte. Zuvor, in den Jahren 1772-1800/1804, tobte jedoch, ausgehend vom litauischen Wilna, unter Führung des hochangesehenen Ga'on Elia von Wilna, ein auf Vernichtung der neuen Bewegung gerichteter Kampf von seiten der etablierten Orthodoxie in drei/vier Schüben: 1772.1781.1785.1796-1800. Mit Bannsprüchen ging man gegen die ,neuen' Chasidim vor, verbrannte deren Schriften und betrieb die Auflösung von deren Sondergemeinschaften, ging jedoch 1781 auch gegen einzelne Individuen vor mit Aufhebung von Wohn- und Handelsrechten sowie Ehe- und Bestattungsverboten, bis schließlich 1804 in den von Rußland annektierten Teilen Großpolens das Judenstatut Alexanders I. dem Chasidismus volle Religionsfreiheit zusprach, während im dann österreichischen Galizien sich die verfeindeten Gruppen schon ab 1787 im Kampf gegen die von Herz Homberg mit staatlicher Hilfe betriebene Aufklärung zusammenzuschließen gezwungen sahen. Nach dem Tode des Maggid (1772) zerstreuten sich die Genossen und Schüler des Best und des Maggid in weiten Teilen des nun alsbald durch die Teilungen (1772-1795) zerstückelten Großpolens sowie nach Ungarn und das spätere Rumänien. Die weitere Entwicklung verlief insgesamt uneinheitlich. Neben einer Reihe von einzelgängerischen Zaddikim (Gemeindeführer, Rebbe genannt) sproßten zahlreiche sich weit auffächernde Dynastien auf, die z.T. bis in die Gegenwart dauern, sofern sie als geringe Reste durch Auswanderung oder rechtzeitige Flucht vor den deutschen Truppen oder durch Überleben der deutschen Todeslager in Israel, USA, Kanada, Belgien, Frankreich und England eine neue Heimat finden konnten, etwa die Dynastien von Beiz, Gur, Sadagora, Satmar und Lubavitsch oder die Brazlawer u.a. Ihr Verhältnis zum neugegründeten Staat Israel ist unterschiedlich, die Satmarer etwa glauben, er habe das Kommen des Messias verzögert, während andere unter dem Eindruck der Ereignisse ihre antizionistische Haltung revidierten, zumal es seit den Anfängen der Bewegung Wanderbewegungen ins Heilige Land gegeben hat. 1.2. Die Sicht der Gegner Gerade weil in Brauch und Theologie vieles nicht gänzlich neu erscheint, sollen die Hauptvorwürfe seitens der orthodoxen Gegner des Chasidismus kurz genannt werden: Vernachlässigung des Torastudiums, Verachtung der mündlichen Lehre (Talmud etc.), Geringschätzung der rabbinischen Gelehrten, Absonderung zu eigenen Gemeinden, Änderung des Gebetsritus, Schreien, ausgelassenes Tanzen beim Gebet, Festefeiern und Vernachlässigung der festen Gebetszeiten, Destabilisierung der Familien durch lange Reisen zum Rebben, Pfeifenrauchen und der Gebrauch der geschliffenen Schächtmesser, Tragen weißer Gewänder an Sabbat und Feiertagen, Studium der Kabbala statt der traditionellen Literatur und zuweilen der Vorwurf der sabbatianischen Häresie oder des Götzendienstes wegen der Verehrung der Zaddikim. Die meisten dieser Vorwürfe erscheinen durch die chasidische Literatur selbst sachlich bestätigt, manche davon auch innerchasidisch als extremes Benehmen kritisiert und nach und nach zurückgedrängt, etwa das Verhältnis zum Torastudium, Purzelbaumschlagen beim Tanz usw. Insbesondere mußte die Frage der Liturgie (sefardischer statt aschkenasischem Ritus) und der geschliffenen Schächtmesser, jetzt, wo man mit einer Massenbewegung zu tun hatte, schismatisch erscheinen. Die Frage der Messer beinhaltete gar den Vorwurf gegen die Orthodoxie, unkoscheres Fleich zu genießen, und hatte außerdem wirtschaftliche Folgen bezüglich der Fleischsteuer für die Gemeinde und der Ernennung der Schächter. Andererseits war die

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A b s o n d e r u n g oft sozialkritischer S o n d e r g e m e i n s c h a f t e n mit deren neuen A u t o r i t ä t e n eine d r o h e n d e G e f a h r für die ohnehin im Niedergang befindliche G e m e i n d e v e r w a l t u n g und - s t r u k t u r . Entscheidend für die o r t h o d o x e R e a k t i o n dürfte w o h l v o r allem die K u m u lation all dieser einzelnen Veränderungen gewesen sein, die i n s g e s a m t einen neuen jüdischen T y p u s schufen. D e r bis heute übliche kennzeichnende B e k l e i d u n g s b r a u c h s a m t der H a a r t r a c h t ist eine F o l g e der 1845 in Kongresspolen ergangenen staatlichen Kleiderordnung, die v o n chasidischer Seite z u m status confessionis e r h o b e n und 1848 zugunsten des russischen H a b i t u s entschieden wurde.

2. Literatur und 2.1.

Theologie

Überblick

D i e F r a g e nach dem geistig denkerischen Wesen des C h a s i d i s m u s ist aufs engste mit der F r a g e n a c h seiner L i t e r a t u r verbunden. D e r C h a s i d i s m u s h a t zwei grundsätzlich verschiedene L i t e r a t u r f o r m e n h e r v o r g e b r a c h t , die hinsichtlich ihrer Aussagen und ihrer T r a d i t i o n getrennt zu b e t r a c h t e n sind. D a ist auf der einen Seite die d e m deutschen Leser durch M . —»Bubers freie B e a r b e i t u n g nur s c h e i n b a r b e k a n n t e E r z ä h l l i t e r a t u r , die ihrem Wesen n a c h der Volksliteratur mit ihren einfachen F o r m e n zuzurechnen ist, und a u f der anderen Seite die spekulativ auslegende H o m i l i e n l i t e r a t u r , die ihre Vorbilder in der altr a b b i n i s c h e n M i d r a s c h l i t e r a t u r h a t , aber wegen der inzwischen u m J a h r h u n d e r t e angew a c h s e n e n und stets zitierten T r a d i t i o n s l i t e r a t u r bei w e i t e m k o m p l i z i e r t e r ist und f o r m a l wie inhaltlich viele G e m e i n s a m k e i t e n mit der vorchasidischen M o r a l l i t e r a t u r ( M u s a r l i t e ratur) a u f w e i s t . A u ß e r d e m k a n n die bei weitem nicht so u m f a n g r e i c h e a p h o r i s t i s c h e S p r u c h l i t e r a t u r , die sogenannten Sihot, angeführt werden. A u c h w e n n m a n geneigt sein m a g , die beiden L i t e r a t u r f o r m e n soziologisch als Volks- und G e l e h r t e n l i t e r a t u r aufzuteilen - und es gibt auch innerchasidisch solche S t i m m e n - , ist dies angesichts der H o c h schätzung der E r z ä h l u n g als geradezu esoterischer Disziplin in dieser Weise nicht a n g e b r a c h t , so d a ß beide g l e i c h e r m a ß e n zur Beurteilung des C h a s i d i s m u s heranzuziehen sind. B u b e r h a t sich überaus willkürlich vorwiegend auf eine sehr einseitige A u s w a h l aus den E r z ä h l u n g e n gestützt und sie, wie a u c h das homiletische M a t e r i a l , in e i n e m solchen M a ß e im S i n n e seiner eigenen Philosophie interpretiert, d a ß seine C h a s i d i s m u s a r b e i t e n fast ausschließlich nur als Quellen für das D e n k e n B u b e r s , weniger für das des C h a s i d i s m u s zu gelten h a b e n . 2.2.1. Die Erzählungen. Die chasidische Erzählung ist in M o t i v i k , T h e m a t i k und M o r p h o l o g i e in h o h e m M a ß e von der älteren jüdischen E r z ä h l u n g geprägt — ein Z e u g n i s dafür, d a ß im C h a s i d i s m u s , wenn auch in einer zuvor nicht g e k a n n t e n Fülle, uralte T h e m e n jüdischer F r ö m m i g k e i t neu belebt und mit inzwischen neu h i n z u g e w a c h s e n e n verbunden und interpretiert w u r d e n . Vorläufig lassen sich e t w a folgende h a u p t s ä c h l i c h e Themenkreise benennen: a) Erzählungen von der Daseinssicherung. Ihr Held ist ein mit magischen Kräften ausgestatteter Ba'al Sem (Meister des Namens), d.h. ein Wundermann, der vorzüglich mit Gottesnamen in Fällen der Daseinsbedrohung (Krankheit, Not, Verlust von Gütern, Kinderlosigkeit, böser Zauber) das Unheil abzuwenden versteht. Er hat Beistandsfunktion für das Individuum oder die Volksgemeinde, aber keine Gemeinde- oder gemeindebildende Funktion. b) Erzählungen von der Jenseits- und Heilssicherung. Ihr Held ist ein geistbegabter Charismatiker, der die Sünde der Welt aufdeckt, Bußübungen verordnet und so den in der Seelenwanderung irrenden Seelen den Weg in den Garten Eden bahnt, der die Sünder in den Bereich der Heiligkeit hebt, den Gebeten Israels den Aufstieg vor den Gottesthron frei macht. Er ist ein Mensch, der messianisch qualifizierte Heilsfunktionen besitzt, ist gemeindebildend und steht in deren Mitte als Mittler und Helfer. c) Erzählungen zur Tugendsicherung. Ihr Held ist der einfache Hasid, der in einer Tugend bis zur Selbstaufgabe verharrt (z.B. Gottvertrauen, Almosengeben etc.) und dafür vom Himmel wunderbar belohnt wird. d) Erzählungen zur Sicherung heiliger Bräuche und Orte in dieser Welt, d. h. ätiologische Erzäh-

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lungen z. B. für das Grab, das Lehrhaus oder eine Wohnhöhle des Zaddik, heilige Orte an denen die Wunderkraft des Eponymen weiterwirkt. e) Erzählungen zur Sicherung menschlicher Gemeinschaft, d . h . Schüler-Lehrererzählungen sowie Gemeinschaftserzählungen, in denen die M a c h t , die Heiligkeit und die Gottesgegenwart in der Hasidimgemeinde bei Wallfahrt, Tanz und Tischfeier gerühmt wird. f) b i o g r a p h i s c h e Erzählungen', in denen mehr oder weniger historische Ereignisse geschildert werden. g) Eine Sonderstellung nehmen die 13 Erzählungen R. N a h m a n s aus Brazlaw ein, die eine Art autobiographisch mythologische Metaphern für den Menschen im Urwiderspruch darstellen, d . h . Theologie formulierende Lehrmetaphern sind.

2.2.2. Erzählung und Homilie - die Messiasfrage. Das Verhältnis der spekulativen zur erzählenden chasidischen Literatur ist noch kaum ernsthaft untersucht. Nur so viel ist gewiß, daß die Thematik des helfenden Wundermannes und des zwischen Gott und Mensch vermittelnden Charismatikers sowie das Verhältnis von Charismatiker und Gemeinde auch in der Homilienliteratur ihre theologisch-kabbalistische Begründung erfahren (s. u.). Gerade die bedeutende Rolle dieser,heiligen Männer* für die Gemeinde, die im Chasidismus von allem Anfang an eine Rolle spielte, kam offenbar einem tief empfundenen uralten Bedürfnis nach heilenden, rettenden, prophezeienden und messianischen Helfern entgegen, das im Sabbatianismus und von Jakob Frank so bitter enttäuscht und hier auf eine sozial tragbare und funktionierende Basis gestellt wurde - unter Zurückdrängung weltlich-gesamtisraelitischer messianischer Aspirationen und der Betonung des individuellen Heiles als Seelenrettung oder mystischer Gottverbundenheit (wiewohl es auch hier nicht an Messiasaspirationen [R. Nahman von Brazlaw] oder an Messiaszwang [in Lublin] gefehlt hat, zum anderen hat schon der Best geglaubt, daß die Ankunft des Messias von der Verbreitung seiner Lehre abhinge). 2.3. Die

Homilienliteratur

2.3.1. Überblick. In der Homilienliteratur werden die eigentliche Anschauungswelt, Theologie, Philosophie, Kabbala und Moralvorstellungen des Chasidismus als bewußte Lehre entwickelt. All die genannten Elemente charakterisieren den Inhalt dieser Homilien, die eine Art Sammelbecken der theologisch-philosophischen Entwicklungen der jüdischen Geistesgeschichte seit der Antike darstellen, wobei die Kabbala, insbesondere die lurianische, den Hauptausschlag gibt. Es war nicht zuletzt diese schillernde Traditionsvorgabe, welche bei unterschiedlichem Charakter der einzelnen Meister eine Vielfalt von Ausformungen chasidischer Theologien hervorbrachte, die je für sich dargestellt zu werden verdienten. Hier können nur einige wenige typische Möglichkeiten chasidischer Denkformen aus der Anfangszeit der Bewegung charakterisiert werden. 2.3.2. Die Grundpositionen chasidischer Theologie. Die verschiedenen chasidischen Theologien entfalten sich — und das ist ihre Gemeinsamkeit - in einem Spannungsfeld zwischen einem neoplatonisch geprägten Monismus und einem aus verschiedenen Schichten der Kabbala gespeisten gnostischen Dualismus. Dem neoplatonischen Denken eignen die klassischen Elemente dieser Weltsicht: Eine sich voranschreitend abschwächende Emanation der Gottheit in die Welt hinaus, ein daraus resultierender Panen- oder Enpantheismus. Die in allem anwesende und alles belebende göttliche Lebenskraft ist Teil der göttlichen Lichtwelt, von der die Welt der Dinge lediglich ein abgeschatteter und verhüllender Ausfluß ist, und zwar bis herab auf die niedrigste Stufe, so daß letztlich kein Raum für ein ontologisch unabhängiges absolut Böses bleibt. Folglich ist die Welt und das Verhältnis des Menschen zu ihr ambivalent - wo in ihr die Gottheit gesehen wird, ist sie gut oder nur Schein, wo nicht, böse. Ziel des Menschen, dessen Seele ein Funke aus der Gotteswelt ist, muß - wie das der gesamten Schöpfung - die Verbindung und die Rückkehr zum ursprünglichen Quell in der Gottheit sein. Verbunden damit ist eine Abkehr von der Dinglichkeit dieser Welt. Das dualistische Denken ist bevorzugt jenes der lurianischen Kabbala, nach der die Gottheit zunächst durch eine Selbstkontraktion innerhalb ihrer Fülle einen Raum für die

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Schöpfung schuf ( Z i m z u m ) und danach bei der Emanation des Gotteslichtes in diesen Hohlraum ein gewollter oder ungewollter katastrophaler Bruch der die Lichtfülle begrenzenden Gefäße geschah. In diesem Bruch liegt der Ursprung des Bösen, das als Reich der Schalen mittels der dort gefangenen Lichtfunken alle Welten umgibt oder durchschlingt. Erst nach Auslösung der dort gefangenen Lichtfunken wird die ursprünglich gewollte Welt wiederhergestellt (Tiqqun) und das Böse ausgeschieden. Die Aufgabe des Menschen in dieser Welt ist es, über die Stufen der Seelenwanderung durch Läuterung, Askese, Gebotserfüllung und heiligmäßiges Essen die Rückführung der Funken, zu der auch eigene Seelenfunken gehören, zu bewirken. Außerdem setzt die chasidische Literatur die theosophische Grundanschauung der Kabbala voraus, nach der die verborgene und unerfaßliche Gottheit sich in einer Zehneinheit von göttlichen Potenzen (Sefirot) offenbarte, von der die, die Dekade wiederholende und sich vielfältig nach innen verspiegelnde, Emanation ausgeht. Bezeichnend für das chasidische Denken ist nun allerdings, daß dieses theosophische Weltbild zwar vorausgesetzt, aber nicht mehr das Zentrum des Interesses bildet, daß die kabbalistische Theosophie vielmehr weitgehend hermeneutisches Mittel und Sprechweise wird, mit der die mögliche Beziehung des Menschen zur Gottheit formuliert und gedacht wird — ein Vorgang, den M . Buber nicht unzutreffend als „Ethos gewordene K a b b a l a " benannte.

2.3.3. Verborgene Einheit in Allem — Der Stifter, Israel ben Elieser Best (1700—1760).

Das nur in Zitatfragmenten überkommene Denken des Best entwickelte den Gedanken der Emanation mit der überkommenen Vorstellung von der Sprachlichkeit aller Welten, die in den Buchstaben des hebräischen Alphabetes ihre Urbausteine hat. Danach hat sich die göttliche Lichtfülle in den Buchstaben 'Alef ergossen, und von hier ausgehend auf dem Wege der Verhüllung - Bet ( = zweimal 'Alef), Gimel ( = dreimal 'Alef) usw. - bzw. über Buchstabenverbindungen und Vertauschungen zur Welt geformt, mit dem Ergebnis, daß das Wesen aller Geschöpfe in deren hebräischem Namen (beim Menschen im Eigennamen) umschlossen ist, als sprachlich-göttliche Lebenskraft. Die Sprachlichkeit der Welten ist somit deren Urgrund und Mittel der Anwesenheit des Göttlichen in jedem Detail, auch im Geschehen von Alltag und Geschichte, hier als lückenlose Vorsehung. Nach dem überwiegend monistischen Denken des Best ist auch das Böse, meist am Thema der fremden Gedanken, die Gebet und Studium stören, erörtert, nur verhüllte Gotteskraft, um so mehr auch der gewöhnlich religiös neutrale Bereich der dinglichen Alltäglichkeit. Die wesentliche Aufgabe des Menschen - besonders des Juden - in dieser Welt muß demnach darin bestehen, diese Immanenz der Gottheit in allem unter der verhüllenden Vielfalt als die alles belebende Einheit zu erkennen. Tut er dies, fallen gleichsam alle Schalen dahin, und er steht allerorten und immerdar vor der Gottheit. So auch angesichts des Bösen, das seine Existenz recht eigentlich nur der menschlichen Unkenntnis der Gottesimmanenz verdankt. Neben der Aufhebung des Bösen durch diese Erkenntnis, kann es auch mittels seiner Teilhabe an der Sprachlichkeit beseitigt werden: durch kontemplative Transformation der zerrissenen ,Gottessprache' in heile ,Wörter' - eine Möglichke;t, die dem Best in seinem Beruf als Ba'al Sem besonders gedient haben wird. Das Wissen um die alles erfüllende Gottheit weist nun auch den Weg zur Erfüllung des nach Dtn 13,5 zentralen religiösen Gebotes des Hangens am Herrn, das beim Best mit dem Glauben schlechthin gleichgesetzt wird. Dieses Anhaften an der Gottheit kann gemäß dem sprachlichen Weltbild des Best immer und überall geübt werden, bevorzugt bei Gebet und Torastudium (die fast ausschließlich kontemplative Funktion haben), wo die heiligen Buchs:aben der Schöpferworte, die Buchstaben der Tora, ganz rein und unverstellt vor Augen stehen. An das in ihnen funkelnde Gotteslicht soll man sich heften, aber auch bei jeder Werktagsarbeit und beim Schwatz auf dem M a r k t e , nicht aber - und da liegt die Fehlinterpretation Bubers — in einer Hinwendung zum innerweltlichen Zweck der Dinge, sondern zu der auch da verborgenen Ewigkeit, der das Ding belebenden Gotteskraft. Die weltliche Verrichtung mag dann nebenher geschehen, während das Denken vom Weltlichen abgespal-

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ten auf das Gotteslicht gerichtet ist. Als Gerechter (Zaddik) gilt hier einer, der diesem höchsten religiösen Ziel, dem steten Haften am Gotteslicht (Devekut), weitmöglichst entspricht, weniger einer, der Toragelehrsamkeit oder Gebotsgehorsam besitzt. Diese dauernde Devekut an der Gottheit ist der Grund der viel besprochenen chasidischen Freude und der Verzückung in Tanz und Gesang. Die dualistisch bestimmte lurianische Funkentradition, d. h. das Heben der Funken aus den Schalen, dient hier alleine noch der Realisierung und Konkretisierung der Vorstellung von der persönlichen Vorsehung Gottes - in allem, was dem Menschen widerfährt, in all seinem Besitz, auf jedem Weg und jeder Reise, die er unternimmt, wartet das Gotteslicht in Form von seiner Seele zugehörigen Funken auf ihn, auf daß er es erkenne und sich mit ihm in Devekut verbinde. 2.3.4. Die Einheit im mystischen Nichts — Dov Ber, der Maggid aus Mesritsch (1703/4-1772). Der Maggid, Nachfolger des Best und herausragender Lehrer der wichtigsten Meister der dritten Generation, stellte in die Mitte seiner Theologie nicht die ihm wohlbekannte Alphabetmystik des Best, sondern den Begriff der aus Liebe zu Israel sich einschränkenden Gottheit (Zimzum). Der auch lurianisch zuweilen als Verminderung des Gotteslichtes belegte Begriff steht ihm an der Stelle, an der beim Best das 'Alef stand. 'Alef dort, Zimzum hier, sind die Weisheit Gottes, mit der Er nach einer alten Targumübersetzung die Welt geschaffen hat und vermittels der Er in der Schöpfung anwesend ist. Der Zimzum der Gottesfülle ist das Medium der Gottesliebe, mit der sich der Unbegrenzte dem Begrenzten empfangbar macht. Diese Weisheit Gottes identifiziert der Maggid, unter Verschiebung der älteren kabbalistischen Tradition mit der göttlichen Potenz (Sefira) des Nichts, der schlechthinnigen Schöpfermacht Gottes und dem Anfang von Tora und Schöpfung. Hier im Zimzum des Nichts ist die gesamte Schöpfung in Potenz, noch undifferenziert als coincidentia oppositorum vorhanden. Alles Geschaffene, Neuerschaffene und übernatürliche Wunder müssen durch dieses Nichts hindurch wie das Weizenkorn im Boden oder das Ei, bevor es zum Küken wird. Da aber im kreativen göttlichen Nichts absolute Einheit herrscht, bedurfte es zur Individuation der Vielheit eines Zerbrechens der nichtenden Einheit in die Vielheit der Seienden. Diese felix culpa, welche die Vielheit der Ich bin hervorbringt, ist somit nötig für die Schöpfung aber zugleich Ursache der Sünde: Sünde ist Entfernung aus der Einheit des Nichts und der selbstherrliche Anspruch, selbst etwas zu sein. Aber auch die Vielheit nach dem Bruch wird durch die Gegenwart des Nichts zusammengehalten, die sonst an ihrer Gegensätzlichkeit zerbersten müßte. Aber hier entspricht das vom Menschen geforderte Verhalten der mystischen Kosmologie. Der Gerechte zeichnet sich dadurch aus, daß er die Vielheit der Welt als von der Einheit des Nichts getragen erkennt und daraus die Konsequenz zieht, die Vielheit der Welt kontemplativ (und praktisch) hinter sich zu lassen und so zu nichten, um sich dem alleinigen Leben, dem göttlichen Nichts zuzuwenden, in dem auch sein eigenes Ich wie alles andere in der Einheit genichtet wird. Erst da beginnt der wahre Mensch, wo er unter Ablegung der körperlichen Dinglichkeit das eigene Ich im göttlichen Nichts auflöst. Dort aber wird zugleich die neue Kreativität des Nichts geweckt, weshalb der ins Nichts schreitende Zaddik zugleich Mittler neuer Schöpferkraft für die Welt wird. Gebet und Studium sind in erster Linie Medium für den kontemplativen Aufstieg des Mystikers hin zur Nichtung, äußerlich erkennbar am schließlich wortlosen Gebet und vorübergehender Apathie. Das Heben der Funken, das bei Luria in einen restituierten Weltenbau münden sollte, führt hier zur Umkehrung der Schöpfung aus dem Sein in das Nicht-Sein. Der mystische Weg des Maggid führt also gleichsam hinaus aus der Vielheit hier unten hinauf in die Einheit des Nichts, während dem Best die Einheit der Gottheit auch hier unten allerorts greifbar erscheint. 2.3.5. Einheit als Verbindung der Gegensätze - die Gemeindetheologie des Ja'aqov Josef aus Polonno je (bis 1783/1784). Ja'aqov Josef ist der Verfasser des ersten gedruckten chasidischen Buches Toledot Ja'aqov Josef. Als es im Jahre 1780 nach einer Phase der Bedrückung der Bewegung aus der Presse ging, löste es wegen seiner Kritik an den Zu-

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ständen der ostjüdischen Gemeinde, nämlich an der maßgeblich von den Gelehrten mitverschuldeten Trennung von Volk und rabbinischem Gelehrtenstand, der sein Hirtenamt sträflich vernachlässige, einen Sturm und neuerliche Bannsprüche gegen die neuen Chasidim aus - samt der Verbrennung dieses Buches. Ja'aqov Josef darf wegen seines eigenwilligen Denkansatzes, der in der Tradition der schon genannten Moralprediger steht und ein dominierendes soziologisches Element einbezieht, als der grundlegende Gemeindetheologe des Chasidismus gelten. Auch Ja'aqov Josefs Denken zielt auf Einheit, allerdings eine Einheit, deren Ausgangspunkt weniger die Kosmologie als vielmehr die Anthropologie und Gemeindesoziologie ist - doch zieht er die dort gezeichneten Konturen gelegentlich auch zu einer soziomorphen Kosmologie aus. Ja'aqov Josefs Einheit ist nicht wie die bestsche nur durch falsche Erkenntnis gestört, oder durch das Individuationsprinzip gebrochen, für ihn ist Einheit stets die Einheit zweier gegensätzlicher komplementärer Pole, die sich ihm durch alle Bereiche des Seins ziehen: theologisch als Gottesgerechtigkeit/Gottesliebe, kosmologisch als Himmel/Erde oder S o n n e / M o n d , zoologisch z . B . als Löwe/Löwenschwanz, anthropologisch als geistlich/dinglich, F o r m / M a t e r i e , Seele/ Leib, soziologisch als Formleute/Materieleute, Gelehrte/Volk, völkersoziologisch als Israel/Völker und geschehens- und handlungsmodal als „über der N a t u r " / , , g e m ä ß der N a t u r " . Der ursprüngliche Stand der Dinge und ihr erwünschter Zustand ist stets die Verbindung der beiden Pole bzw. die Unterordnung des dinglichen Aspektes unter sein geistliches Pendant. Die Sünde und das Böse kamen in die Welt durch die Trennung des dinglichen Aspektes von seinem geistlichen Pendant. Die Bipolarität charakterisiert auch die Devekut als Verbindung des menschlichen Denkens mit der Gottheit droben, wodurch auch die entsprechenden innergöttlichen Paare verbunden werden. Diese Fähigkeit ist die des Zaddik: des Führers der Gemeinde. Ist der geistliche Gottesmann in der Devekut neben der Gottheit gleichsam der dingliche Aspekt, so ist er im Verhältnis zu seiner Gemeinde als deren Seele der geistliche Aspekt. Verbinden sich nun die Materiemenschen als Gemeindeleib mit dem Geistmenschen in Devekut, so ist eine weitere Einheit geschaffen und der Lebensstrom fließt aus der ersten Verbindung auf die zweite über. Um die Verbindung zur Gemeinde zu erreichen, muß der Zaddik zuweilen seine hohe Stufe verlassen und in den sündigen Bereich der Materieleute hinabsteigen oder fallen. Aber auch im Einzelmenschen besteht dasselbe Verhältnis: Wenn sich der Körper, die Materie, dem Geist, der Seele, unterwirft, hat er an dem ausgelösten Lebensstrom teil. W i e nun aber der geistliche Aspekt in der Verbindung dem materiellen Lebenskraft zufließen läßt, kann und soll die materielle Seite in den Dienst der geistlichen treten und der Seele - anthropologisch wie soziologisch - Freiraum zur Devekut schaffen, will sagen, die Gemeinde als Leib erquickt ihre Seele, den Zaddik, mit materiellen Gütern und sie kann durch fröhliches Feiern, durch Gemeinschaft und Tanz den Zaddik zur Devekut beflügeln, wie auch der menschliche Körper mit Speise, T r a n k oder T a b a k seine Seele beflügeln mag. Aus der Verbindung strömt Leben, aus der Trennung das Böse, so auch, wenn man das Unheil in der Welt mit der Gottesliebe zu verbinden mag. - Die aus dieser Theologie resultierende Lehre vom heilvermittelnden Zaddik hat schließlich der Schüler des Maggid, Elitnelekh aus Linsensk (bis 1786) mit Hilfe der theosophisch kabbalistischen Terminologie zur Vollendung geführt.

2.3.6. Tora- und Nichtungsmystik

in HaBaD (Schneur Salman aus Liadi [bis 1813]

und seine Schüler). Im HaBaD oder Lubavitscher Chasidismus ist der bestsche Panentheismus zu einem konsequenten Akosmismus entwickelt, die sichtbare Welt ist reine Erscheinung aus der Sicht des M e n s c h e n , aus Gottes Sicht gibt es nur die eine Gotteseinheit. Der mit dem Wesen Gottes identische Gotteswille wollte indessen zum Erweis seiner Vollkommenheit die Unendlichkeit im Endlichen offenbaren - wiederum nur aus der Sicht des Menschen - wofür die so dingliche und begrenzte Tora der höchste Ausdruck ist. Die gottesdienstlichen Möglichkeiten entsprechen diesem Widerspruch: Nichtung {bittul) durch intellektualistische Erkenntnis der Gott-Allheit und -Einheit (vermittels der

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theosophisch-anthropologischen Fähigkeiten der Seele: Hokhma, blitzartig aufleuchtender Weisheitsgedanke, Bina, differenzierendes Betrachten, Da'at, emotionale Applikation des Gedachten; HaBaD) und folgend bittul in der Ekstase und, bevorzugt, im Entsprechen und Befolgen des in der Tora in höchster Form sichtbaren Willens der Offenbarung des Unendlichen im Endlichen. Alle drei Formen gelten (kontrovers) als Weisen der Devekut, wodurch der intellektualistisch und zugleich tora-traditionalistische Charakter dieser Richtung geprägt wurde. 2.3.7. Glaube im Ur-Widerspruch (R. Nahman aus Brazlaw [1772—1810]). Eine vereinsamte Sonderstellung nehmen die Brazlawer Chasidim, die sogenannten ,Toten Chasidim' ein, die nach dem Tode des ,einzig wahren Zaddik', R. Nahman, keinen Nachfolger mehr bestimmten, denn er ist, nach eigener Verheißung, auch im Tode noch bei ihnen, nur in einem anderen Zimmer. Der viel gescholtene Antirationalismus Nahmans ist keineswegs ein bornierter Antiintellektualismus, sondern der Versuch, mit den Denkkategorien der lurianischen Kabbala auf die Problematik einer Welt ohne Gott und die Möglichkeit des Glaubens im auswegslosen Widerspruch der Welt eine Antwort zu geben. Wiederum ist hier der Schöpfungsprozeß zugleich die Ursache des Bösen, denn er beruht selbst auf einem grundsätzlichen Ur-Widerspruch: Damit Schöpfung, etwas neben Gott, sein konnte, mußte nach der lurianischen Lehre vom Zimzum ein von Gott leerer Raum geschaffen werden, ein Gott-loser Raum, in den andererseits die Emanation der Gottheit als Gottesgegenwart erfolgte. Dieser Urwiderspruch von Gotteslehre und Immanenz ist das Gesetz der Welt, in der Gottesnähe und Gottesferne gleichermaßen Realität sind. Diese Antinomie vermag kein Rationalismus hinwegzuerklären. Vielmehr sind die Antworten der ratio, die nur immer neue, noch schwierigere Fragen und Widersprüche aufdecken, selbst ein Zeugnis für den ontologischen Widerspruch. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist ein existentieller Glaube, der diesen Urwiderspruch, gerade und besonders in der Gottesleere auszuhalten vermag, in dem Wissen, daß auch der gottesleere Raum (lurianisch gesprochen) von der unendlichen Gottesfülle umschlossen ist. Ein Zaddik ist der Glaubende vor der Gottesleere, Sünder, wer den Urwiderspruch durch die ratio zu verdecken oder zu leugnen sucht. Dieser Glaube im Skandalon bestimmt auch das Verhältnis von Gemeinde und Zaddik, sie kann ihn nur im Widerspruch annehmen, wie er - gleichsam stellvertretend für sie — in die absolute Gottesleere zu blicken vermag. — Dennoch ist Nahman im Ernstnehmen der gleichzeitigen Immanenz auch chasidischer Mystiker geblieben. Literatur Esther Alexander-Ihme, A Yid shmadt sikh nit. Apostasie, Judenmissionsnot u. Taufe in jüd. Volkserzählungen: F J B 15 (1987) 4 7 - 9 0 . - Dan B e n - A m o s / J e r o m e R . Mintz, In Praise of the Baal Shem Tov, B l o o m i n g t o n / L o n d o n 1970. - Michael Brocke, Die Erzählungen des Rabbi N a c h m a n v. Bratzlaw, M ü n c h e n / W i e n 1985. - Martin Buber, Werke, München/Heidelberg, III 1963. - Samuel H . Dresner, T h e Zaddik, L o n d o n / N e w York 1960. - Simon Dubnow, Gesch. des Chassidismus, aus dem Hebr. übers, v. A. Steinberg, Jerusalem 1969. - Rahel Elior, T h e Contemplative Ascent t o God: Jewish Spirituality, hg. v. A. Green, N e w York, II 1987. - Samuel Ettinger, T h e Hasidic M o v e m e n t - R e a l i t y and Ideals: C H M 1 1 / 1 - 2 (1968) 2 5 1 - 2 6 6 . - Arthur Green, T h e Zaddik as Axis Mundi: J A A R 4 5 (1977) 3 2 7 - 3 4 7 . - Ders., Tormented M a s t e r . . . N a h m a n of Bratslav, N e w York 1979. - Ders., Teachings of the Hasidic Masters: Back to the Sources, hg. v. B. W. Holtz, N e w York 1984, 3 6 1 - 4 0 1 . - Zeev Gries, Hasidism. T h e Present State of Research and Some Desirable Priorities: Numen 3 4 (1987) 9 7 - 1 0 8 . - Karl Erich Grözinger, Neoplatonisches Denken in Hasidismus u. Kabbala: F J B 11 (1983) 5 7 - 8 9 . - Ders., Die Hasidim u. der Hasidismus: Beter u. Rebellen, hg. v. Michael Brocke, F r a n k f u r t / M . 1 9 8 3 , 1 3 1 - 1 5 3 . - D e r s . , Martin Bubers Chasidismusdeutung. Dialog mit M . Buber, F r a n k f u r t / M . 1982, 2 3 1 - 2 5 6 . - Ders., Die hasidischen Erzählungen: F J B 10 (1981) 9 1 - 1 1 4 . - Ders., Himmlische Gerichte. Wiedergänger u. Zwischenweltliche in der ostjüd. Erzählung: Franz Kafka u. das Judentum, hg.v. K . E . Grözinger u . a . , Frankfurt a . M . 1987, 9 3 - 1 1 2 . Ders., Sündenpropheten. Halachaprophetie im Judentum Osteuropas: F J B 15 (1987) 1 7 - 4 6 . - Ders., Ursachen u. M o t i v e v. R e l i g i o n . . . am Beispiel der Chasidischen Erzählungen: Jahresbericht 1 9 8 6 / 8 7 der Fritz Thyssen Stiftung, Köln 1 9 8 7 , 1 5 - 1 7 . - Ders., Die Erzählungen v o m Ba'al Schern Tov. Eine

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Judentum und Christentum

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Judentum und Christentum 1. G l a u b e n s f r a g e und geschichtliche Erfahrung 2. D a s mittelalterliche sefardische J u d e n t u m alsBeispiel 2.1. Philosophisch-theologischer Eigenweg im Konflikt 2.2. Erkundigungen zur eigenen Vergewisserung 2 . 3 . Kontroversliteratur 2 . 4 . Esoterik 3 . Jüdisch-christliches D e n k e n nach dem Zweiten Weltkrieg 3.1. Situation nach dem H o l o c a u s t 3 . 2 . D o k u m e n t e und Gesten christlicher U m k e h r 3 . 3 . Mysterientheologie 3 . 4 . Ein Bund oder zwei Bünde? 3 . 5 . Ein-BundTheologien 3.6. Zwei-Bünde-Theologien 3.7. Zwischenpositionen 3.8. Viele-Bünde-Theologien 3 . 9 . Ausblick (Literatur S . 4 0 2 ) 1. Glaubensfrage

und

geschichtliche

Erfahrung

B e i d e r F r a g e , w a s sie z u e r s t u n d z u t i e f s t v o m C h r i s t e n t u m t r e n n e , w e i s e n h e u t i g e J u d e n nicht auf unterschiedliches G l a u b e n s g u t hin, s o n d e r n a u f den christlichen - > Antisemitismus. A u c h die spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen J u d e n sahen i m C h r i s t e n t u m v o r a l l e m e i n e j u d e n f e i n d l i c h e M a c h t ; sie e r k u n d i g t e n s i c h n u r s e l t e n n a c h k i r c h l i c h e n D o g m e n u n d G o t t e s d i e n s t e n . E r s t in n e u e r u n d n e u e s t e r Z e i t w u r d e n j ü d i scherseits u m f a s s e n d e Versuche einer H e r m e n e u t i k des C h r i s t e n t u m s u n t e r n o m m e n : v o n Moses

Mendelssohn ( 1 7 2 9 - 1 7 8 6 ) , Hermann Cohen ( 1 8 4 2 - 1 9 1 8 ) , Martin

->Buber

( 1 8 7 8 - 1 9 6 5 ) , F r a n z - > R o s e n z w e i g ( 1 8 8 6 - 1 9 2 9 ) und L e o - > B a e c k ( 1 8 7 3 - 1 9 5 6 ) ; vgl. T R E 17,

68-71. Z u allen Z e i t e n w a r d e m n a c h nicht n u r die G l a u b e n s f r a g e z w i s c h e n J u d e n und C h r i -

s t e n v o n I n t e r e s s e ( g e g e n C o n z e l m a n n 3 3 2 ) . In g r ö ß e r e m M a ß e w a r e n Erfahrungen, d.h. Feindschaften, Mißtrauen, Beschuldigungen

geschichtliche

verhältnisbestimmend.

Diese G e s t i m m t h e i t e n erhielten teilweise n o c h d a d u r c h eine Bestätigung, d a ß m a n c h e c h r i s t l i c h e n A u f b r u c h s - u n d E r n e u e r u n g s b e w e g u n g e n bis in d i e N e u z e i t h i n e i n die a n t i j ü dische K o m p o n e n t e des Christentums n o c h schärfer zum Vorschein brachten, daß also J u d e n zu L e i d t r a g e n d e n christlicher R e f o r m e n w u r d e n Oberman,

Kremers).

(bezüglich der

Reformation:

Judentum und Christentum

387

Das durch den Antisemitismus zuinnerst zerbogene und zerbrochene jüdisch-christliche Verhältnis hatte die Konsequenz, daß man nicht mehr wußte und teilweise auch nicht mehr wissen wollte, worin die Differenzpunkte zwischen Christentum und Judentum liegen und wie schwerwiegend sie sind. Statt dessen betrieb man auf christlich-antijüdischer Seite die meiste Zeit ein „Lehren der Verachtung" (Jules Isaac) und schuf und kolportierte Stereotypen (die Juden als verworfene Gottesmörder, als Feinde Christi, der Kirche und der abendländischen Zivilisation; Übersicht z.B. bei Rengstorf/Kortzfleisch, Yerushalmi). Andererseits kann man das historische Verhältnis zwischen Juden und Christen nicht nur unter das Zeichen des christlichen Antijudaismus stellen. Auf beiden Seiten gab und gibt es die schwer auszubalancierenden Probleme der Anknüpfung und des Widerspruchs, des Miteinander-Leben-Müssens und der religiösen Absonderungen, der Verkündigung und der Verweigerung. Diese Probleme wirkten sich im Verlaufe der jüdischchristlichen Entzweiungsgeschichte verwirrend aus, so daß man auf beiden Seiten Akzidentelles mit Wesentlichem verwechselte. Es ist daher notwendig, zunächst wenigstens kurz auf die entscheidenden Unterschiede einzugehen. Das Christentum unterscheidet sich vom Judentum in fundamentaler Weise durch das Christusbekenntnis und durch die Geschichtserfahrung. Nach dem Neuen Testament ist der gekreuzigte Jude Jesus von Nazareth „der Herr" (z.B. I Kor 12,3), in dem „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" wohnt (Kol 2,9) und der durch seinen Opfertod „die Weltvölker" ins Volk Gottes hineingeführt (Rom 9 - 1 1 ) und so die Trennungswand zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben hat (Eph 2 , 1 1 - 2 2 ) , nachdem er selbst das Judentum mit all seinen Verpflichtungen und in seinen tiefsten Dimensionen durchlebt hat (Mt 5 , 1 7 - 2 0 ; Gal 4,4f). Durch die Person Christi werden also nach neutestamentlichem Verständnis ( - * Jesus Christus I) auch das Gottesverständnis und das Heil der nichtjüdischen Menschen und Völker tangiert, was für Judentum und Christentum schwerwiegende Folgen für das theologische Selbstverständnis und für das Agieren in der Welt hat (Thoma, Beziehungen). Seit der Trennung von christusgläubigen und nichtchristusgläubigen Juden an der Wende vom 1. zum 2. Jh. (vgl. Jos. Ant 20,197-203; bBer 2 8 b - 2 9 a ; Ketzersegen) ergaben sich für beide Gruppen je neue, eigenständige Geschichtserfahrungen. Die sich der heidenchristlichen Mehrheit anschließenden Judenchristen verstanden sich nun mit diesen als von Gott erwählte Gemeinschaft aus allen Völkern bzw. als Gemeinden Christi mit dem Auftrag, alle Völker zu einem Volk Christi zu machen. Dementsprechend machten sie andere Exils- und Hoffnungserfahrungen als ihre jüdischen, nicht zum Christentum gestoßenen Volksgenossen. Die nicht christusgläubigen Juden hielten sich an die auf eine partikuläre Religions- und Volksgemeinschaft zugeschnittene —»Halacha. Nach der Tempelzerstörung (70 n.Chr.) und der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes (132-135 n.Chr.) bzw. in der späten Redaktionszeit neutestamentlicher Schriften und zur Zeit der frühen Kirchenväter formierte sich das rabbinische Judentum, das für das spätere Judentum normativ wurde und auch in der jüdisch-christlichen Kontroverse der Hauptpunkt blieb. Von diesen unterschiedlichen Grundtendenzen her war die Trennung von Judentum und Christentum, die in der Form des Ausschlusses der Judenchristen aus der synagogalen Gebetsgemeinschaft erfolgte (vgl. Joh 1 6 , 1 - 4 ) , kein bloßes bedauernswertes Schisma, sondern eine innere Notwendigkeit, die beiden Bewegungen neue Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Da sich das Christentum als Erweiterung des Judentums versteht, ist eine Beziehungslosigkeit den Juden gegenüber nicht möglich. Aber auch das Judentum kann nicht beziehungslos in einem abgeschlossenen geistig-religiösen Getto leben. Nach ShirR 4,8 ist die Gemeinschaft der Juden auf die Mithilfe der „Familien der Völker" angewiesen, um zu ihrer eigenen Sammlung aus allen Völkern zu gelangen. Ferner obliegt ihnen von den heiligen Schriften her die Aufgabe, eine vom Götzendienst freie Menschheit zu fördern (Jes 49,6 in der rabbinischen Deutung; Dan 3 , 2 8 - 3 0 ;

388

Judentum und Christentum

6,26 - 2 8 ) . In der Tat lebten Judentum und Christentum nie in strikter gegenseitiger Beziehungslosigkeit. Die unterste Stufe dieser Beziehungen — Martin Buber hat sie „Vergegnung" genannt - bildeten die Feindschaften und die religionsstrategischen Vorkehrungen gegeneinander. Auf etwas höherer Stufe spielten sich Reibereien und Ängste im Zusammenhang mit -»Mischehen und Apostaten bzw. Konvertiten (-»Konversion) sowie wegen der —• Judenmission ab. Auf noch etwas höherer Stufe zeigten sich in beiden Bewegungen - meist uneingestandene - Interessen an gemeindeorganisatorischen Anknüpfungen und religiöser Eigenprofilierung (Jüdische -»Gemeinde). Die Gestaltung des Pesachfestes ging z. B. in der Spätantike und im Mittelalter so vor sich, daß Konfusionen mit dem christlichen Osterfest bei Juden nicht aufkommen konnten. Im jüdischen Brauchtum rund um Pesach wurden besonders die dem Christentum gegenüber unterscheidenden Elemente gepflegt. Die höchste Stufe der Beziehung ergab sich aus dem Umstand, daß im jüdischen Volk immer wieder die Neigung sich Geltung verschaffte, die geistigen, religiösen und materiellen Errungenschaften der umliegenden Völker und Religionen wahrzunehmen, sie in den Dienst der jüdischen Identität und Lebensweise zu stellen (interpretatio iudaica) und so eine Koexistenz aufzubauen (vgl. schon die LXX-Übersetzung und die entsprechende Motivierung im -»Aristeasbrief und in Philo, Mos 11,25 - 4 4 ) . Dem entsprachen auf christlicher Seite philosemitische Strömungen und Bewegungen. Die jüdisch-christliche und die jüdisch-islamische Geschichte ist durchzogen von abtastenden Versuchen zu Verschmelzungen und Anpassungen und - als Reaktion - von heftigen innerjüdischen Konfrontationen wegen zu weit getriebener und gescheiterter Beziehungsversuche. Im Blick auf die ganze bisherige jüdisch-christliche Zeit kann daher die Frage sinnvoll erörtert werden, ob das Judentum nicht doch seinen weltgeschichtlichen Rang teilweise der stets prononcierten Auseinandersetzung mit dem Christentum verdankt. Allerdings kann aus der Bejahung dieser Frage nicht geschlossen werden, das Judentum sei nur im Gegenüber zum Christentum verstehbar oder erschöpfe sich darin. Auch das Christentum kann nicht ausschließlich vom Judentum her verstanden werden. Auf die Eigenständigkeit beider Gruppen und Religionen ist zu insistieren. 2. Das mittelalterliche

sefardische Judentum

als Beispiel

Das im Mittelalter auf der iberischen Halbinsel ( = Sefarad; daher sefardisches Judentum) lebende Judentum ist für die christlich-jüdische Geschichte und Theologie insgesamt von kennzeichnender Bedeutung, weil es — zwischen Islam und Christentum befindlich und unter starkem antijüdischem Druck leidend - bis heute noch nicht übertroffene Leistungen in politischer, geistesgeschichtlicher und religiöser Hinsicht hervorbrachte. 2.1. Philosophisch-theologischer Eigenweg im Konflikt. Der stark von den islamischen Mutaziliten, einer neuplatonischen Schule, beeinflußte, im Iraq lebende -»Saadja Gaon (882-942) suchte zu beweisen, daß das Judentum ein mindestens ebenso guter -•Monotheismus sei wie der Islam und ein weit besserer als das Christentum mit seiner Trinitätslehre, in der körperliche Vorstellungen mit Metaphysischem unphilosophisch verbunden seien. Dabei ging es ihm auch darum, innerjüdischen anthropomorphen Anschauungen eine Absage zu erteilen (-»Gott III; ->Gottesbeweise I). Die Faszination für das plotinische ev Kainäv übertrug sich von Saadja Gaon auch auf (süd-)spanische Juden, besonders auf Salomo ibn Gabirol (1020-1058) und -»Bachja ibn Paquda (11. Jh.). Diese beiden verfochten die Möglichkeit einer Adaptierung fremder Religionsauffassungen. In seiner „Lebensquelle" (meqör hayyim) postulierte ibn Gabirol die Einheit aller Religionen in Fragen der Ethik. Wegen dieser universalistischen Tendenz stieß sein Werk bei den spanischen Juden vorwiegend auf Ablehnung, während es in der lateinischen Übersetzung ( f o n s vitae) einen starken Einfluß auf die christliche Scholastik ausübte. Anderen sefardischen religiösen Denkern gelang die Judaisierung des islamischen Geistesgutes weit besser, und sie wirkten daher prägender auf das Judentum, ohne daß ihr Einfluß auf das Christentum geschmälert wurde. Dies gilt vor allem für -»Mose ben Maimon aus

Judentum und Christentum

389

Cordoba (1135-1204). Das von der dezidierten Zurückweisung der positiven Attribute Gottes (More 1,59) und von der „Ablehnung des religiösen und theologischen Universalismus" (Bleich 15) geprägte Werk des Maimonides wurde zur tragenden Säule der sich unmißverständlich vom Islam und Christentum abhebenden und sich in besserer Position wissenden jüdischen Religions- und Volksgemeinschaft (Thoma/Wyschogrod 34-36.72 f). Das christliche Mittelalter kam nicht darum herum, sich mit den maimonidischen Ansätzen auseinanderzusetzen (z. B. —»Thomas von Aquino und die Reformatoren des 16. Jh.). 2.2. Erkundigungen zur eigenen Vergewisserung. Bedeutende sefardische Juden unternahmen Reisen in jüdische heilige Stätten (besonders -» Jerusalem) und in christliche und islamische Hauptstädte (besonders Rom, Konstantinopel, Bagdad, Kairo). Diese Reisen dienten der Kenntnisnahme fremder Religionen, der Solidarisierung mit den Juden in verschiedenen Ländern (so Benjamin von Tudela: 2. Hälfte des 12. Jh.), der Förderung der jüdischen Zionssehnsucht (-»Jehuda Hallevi) und der Propagierung des historischen jüdischen Messianismus bei Juden und Christen (Abraham Abulafia [1240-1291]). Der in Huesca (Aragonien) geborene Arzt Moshe ha-Sefardi, der unter seinem christlichen Namen Petrus Alfonsi (1062-1125) bekannt geworden ist, gibt die hinter diesen Erkundigungen steckende jüdische Absicht mit Hilfe einer arabischen Lebensregel wieder: „Folge den Hauptstraßen, auch wenn sie länger sind als die Fußwege" (Disciplina clericalis, ed. Hermes 180). Die führenden sefardischen Juden waren überzeugt, daß die Juden von den mächtigen Völkern und Religionen nicht überrollt werden können, wenn sie auf den „Hauptstraßen" der Geschichte bleiben, d.h. auf die Ausnützung fremder Werte für die eigene Tradition erpicht bleiben. 2.3. Kontroversliteratur. Ein weiteres markantes Zeichen des stark entwickelten jüdischen Selbstbewußtseins den Christen gegenüber ist die sefardisch-jüdische Kontroversliteratur (sifrüt haw-wikkuah ha-'anti-nosrit). Sie orientierte sich inhaltlich besonders an Saadja Gaon und Maimonides. Darüber hinaus war sie ein Echo auf die christlich-antijüdische Polemik, deren Hauptvertreter Pablo Christiani (anläßlich der Disputation von Barcelona: 1263), Raymund Martini (1220-1285) mit seinem Pugio fidei und Abner von Burgos (1270—1340) waren. Die spanische und überhaupt mittelalterliche jüdisch-christliche Kontroverse betraf weniger alt/neutestamentliche, sondern hauptsächlich talmudische Fragen (Lasker). In den Augen der Christen lag das scandalum gerade darin, daß die Juden keine stratifizierten biblischen Juden mehr waren, an die man nach damaliger Meinung leichter hätte anknüpfen können bzw. die leichter zum Christentum bekehrbar gewesen wären. M a n sah in der von den Juden heilig und unverzichtbar gehaltenen talmudischen Tradition den Hauptgrund für die jüdische Verstockung und die theologische Rechtfertigung für Zwangsmaßnahmen (—»Inquisition). Die wichtigsten jüdischen Kontroverstheologen der spanischen Zeit waren -» Jehuda Hallevi mit seinem Al-Chazari, Abraham ibn Daud (1100-1180), -»Mose ben Nachman (1185-1270) und, nach der Vertreibung aus Spanien (1492) und Portugal (1497), Abraham Zacuto (1452-1515), Gedalya ibn Yahaya (geb. 1526) und Jacob Culi (1689-1732). Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal war freilich nur teilweise das Ergebnis harter theologischer Auseinandersetzungen, sondern mehr die Konsequenz einer imperialistisch-puristischen Reichsideologie der „Katholischen Obrigkeit" (-»Judentum). 2.4. Esoterik. Der heutigen Forschung wird zunehmend klar, daß das in Spanien um 1280 verfaßte mystische Werk ->Zohar viele Ideen dem Christentum entlehnt hat. Der Verfasser des Hauptteiles des Zohar, Moses de Leon (1240-1305), wollte gegen den jüdischen religiösen Rationalismus wirken. Vor allem wollte er einen Neuansatz gegen den inzwischen degenerierten jüdischen —»Neuplatonismus und die rationalistische Interpretation der Philosophie des Moses Maimonides schaffen. Gewiß ist der Zohar ein geniales und eminent antichristliches Werk, das aus jahrhundertealten Traditionen der jüdischen -»Esoterik schöpft. Aber der Autor lebte in einem christlichen Milieu und

390

Judentum und Christentum

machte sich christliche Spekulationen über die Dreifaltigkeit zunutze (Liebes 43 f). Aus dem esoterisch-kabbalistischen Neuansatz des Zohar (-»Kabbala) ergibt sich, daß es beim inneren Ringen zwischen Judentum und Christentum um die Frage nach dem einen und dem dreifaltigen Gott geht. Das sefardisch-kabbalistische Judentum ging vom Mysterium des einen Gottes und seiner Ausfaltung in die Menschen und in die Welt aus und wagte sich dabei bis zu einer achristologischen Trinitas modalistica vor. Die mittelalterlich-christliche Spekulation ging dagegen vom dreifaltigen Gott aus und suchte den Weg zum einen Gott (-»Trinität). Dieses christlich-jüdische Ringen ist für die christliche Theologie unentbehrlich. Es ist bezeichnend, daß der Zohar in der christlichen Kabbala eine bedeutsame Wirkungsgeschichte hatte. In der -»Renaissance diente vor allem Italien (besonders der Hof des Lorenzo Medici) als ein „historical Observation point" (Abraham David 61), in dem die Ansätze der sefardischen Kabbala für das Christentum in Dienst genommen wurden. Die Tragik aller esoterischen Bemühungen in Spanien/Portugal liegt wohl weniger darin, daß es kaum einen geistigen Austausch zwischen Juden und Christen gab, sondern weit mehr in dem Umstand, daß die Christen (wie übrigens die Juden auch) Gott als Gott des Leidens (sympathisch und empathisch) verstanden und doch kaum Verständnis für die Leiden der Juden hatten. 3. Jüdisch-christliches

Denken

nach dem Zweiten

Weltkrieg

3.1. Situation nach dem Holocaust. Nach „Auschwitz", dieser versuchten und millionenfach auch durchgeführten „Endlösung" (Holocaust, Schoca), d. h. bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges, breitete sich bei vielen Christen Entsetzen aus: wegen des Schweigens der Kirchen und Christen über die Judenmorde, wegen der Kommunikationslosigkeit zwischen den Kirchen und zwischen Juden und Christen und wegen der antijüdischen Vergangenheit der Kirchen seit den Anfängen des Christentums bis zum Aufkommen des Rassenantisemitismus des 19./20. Jh. „Es bleibt nach Auschwitz für immer unerträglich, daß Auschwitz eine christliche Vorgeschichte hat. Wir können nicht anders als bei Auschwitz mitbedenken, daß Juden nicht nur an Giftgasen in Gaskammern gestorben sind, sondern auch an der jahrhundertealten antisemitischen Giftwolke" (H.J. Barkenings: Kremers VI). In der Nazizeit selbst (1933-1945) erkannten nur wenige christliche Wachsame die antijüdische nationalsozialistische Ideologie mit ihren ganzen Auswirkungen und die damit verbundene Aushöhlung des Christentums. Zu den wenigen gehörten Karl Ludwig -»Schmidt („Eine Kirche, die nichts weiß, nichts wissen will von Israel, ist eine leere Hülse"), Dietrich -»Bonhoeffer (nach der Kristallnacht 1938: „Wenn heute die Synagogen brennen, dann werden morgen die Kirchen angezündet werden"), Bernhard Lichtenberg, Konrad Graf v. Preysing u. a. Die Kommunikation zwischen den Vertretern des geistigen Widerstandes und zwischen Christen und Juden wurde aber zusehends unmöglich. Die Einsicht in die emotionsgeladene und tragische jüdisch-christliche Entzweiungsgeschichte, in die doktrinären und heilsgeschichtlichen jüdisch-christlichen Differenzen und Gemeinsamkeiten, in den Holocaust, in die Entstehung und Gefährdung des Staates -»Israel und in die moderne jüdische Identität bewirkte in Europa und Amerika eine intensive theologisch bestimmte christliche Neubesinnung. Diese kam aber nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst nur zögernd auf. Die in den 50er Jahren zunehmend ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangenden Informationen über die nationalsozialistischen Nazi-Verbrechen an den Juden, der Eichmann-Prozeß (1960/61), die sich verschärfenden Angriffe gegen die moralische Autorität der Kirchen und der damit Hand in Hand gehende Massenaustritt aus den Kirchen (Litteil) machten aber ein neues Denken über das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum von christlicher Seite aus unumgänglich. Unterstützt wurde es auch durch jüdische Denker (Leo -»Baeck, Hugo Bergmann, David Flusser, Schalom Ben-Chorin, Ernst L. Ehrlich, Emil Fackenheim, Emmanuel Levinas, Jakob Petuchowski, Michael Wyschogrod, Pinchas Lapide u.a.).

Judentum und Christentum

391

3.2. Dokumente und Gesten christlicher Umkehr. Am 28. Oktober 1965 verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum II) das historische Dokument Nostra aetate über die Beziehungen der Römisch-Katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, das unter Nr. 4 die Erklärung über die christliche Haltung den Juden gegenüber enthält. Nostra aetate Nr. 4 übte in der Folgezeit einen starken Einfluß auf katholisches und protestantisches Denken aus. Es entstanden über 60 offizielle Erklärungen von Kirchenleitungen, Landessynoden, Komitees etc. aus allen größeren christlichen Denominationen (Texte bei Croner, Hoch/Dupuy, Richter, Rendtorff/Henrix). Die wichtigste und auch umstrittenste protestantische Erklärung ist die Handreichung 39 mit dem Synodalbeschluß 37 der Evangelischen Kirche im -»Rheinland aus dem Jahre 1980, die 1982 vom Ökumenischen Weltrat der Kirchen seinen Mitgliedskirchen vorgelegt und in der Folgezeit auch von mehreren evangelischen Mitgliedskirchen angenommen wurde. Der Vatikan gab 1974/75 - also 10 Jahre nach der Konzilserklärung — die Vatikanische(n) Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung ,,Nostra aetate Nr. 4" heraus (Richter 8 0 - 8 7 ) . Nach weiteren 10 Jahren (1985) folgten die vatikanischen Hinweise für eine richtige Darstellung von ]uden und Judentum in der Katechese der Katholischen Kirche. Im April 1986 besuchte Johannes Paul II. die römische Synagoge und setzte damit ein Zeichen christlicher Umkehr den von der Kirche in den vergangenen Jahrhunderten gedemütigten und verfolgten Juden gegenüber. Der Durchbruch zum Verständnis der theologischen jüdisch-christlichen Beziehungen, der sich vor allem seit dem zweiten Vatikanischen Konzil Geltung verschaffte, hatte eine vielfältige Vorgeschichte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begannen europäische Theologen Möglichkeiten einer theologischen Bejahung des jüdischen Bundes im Licht des Christusereignisses zu erkunden: Charles Journet, Jean Danielou, Karl -»Barth, Hans U. von Balthasar, Augustin Kardinal Bea u. a. John Oesterreicher begann mit anderen in den USA mit dieser Pionierarbeit (besonders mit seinem Reihenwerk The Bridge). In der ersten Zeit erzeugten viele jüdisch-christliche Bemühungen in den USA und in Europa zwar eine Atmosphäre des Umdenkens; sie führten aber noch nicht zum systematisch-theologischen Durchdenken des Verhältnisses der Kirche zur Synagoge. Besonders die amerikanische Erfahrung eines konstruktiven religiösen Pluralismus erwies sich als entscheidend für die dann in Nostra aetate Nr. 4 erreichten Formulierungen über die zeitund situationsgemäße christliche Haltung den Juden und dem Judentum gegenüber. 3.3. Mysterientheologie. Bei den ersten Versuchen einer konstruktiven Theologie des Judentums machte man keinen wirklichen Versuch, den Widerspruch zwischen der in Christus geschehenen Erfüllung und dem jüdischen Bundesglauben zu relativieren. Man berief sich auf das „Mysterium Israel", das man in Rom 9 - 1 1 beschrieben fand. Dort lehrt Paulus, daß sowohl der ungebrochene Bund (Rom 11,29) als auch die zentrale Bedeutung des Christusereignisses als Basis des christlichen Glaubens verkündet werden müssen. Die endgültige Versöhnung zwischen den nicht christusgläubigen Juden und den Heidenchristen liege aber jenseits menschlicher Fassungskraft. Der Riß zwischen Kirche und Juden bleibe also ein dauerndes Mysterium, das Gott, der der Herr der Juden und Christen sei, vorbehalten bleibe (Journet). 3.4. Ein Bund oder zwei Bünde? Seit der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils ging eine wachsende Zahl von Theologen (was auch in kirchlichen Dokumenten zur Judenfrage seinen Ausdruck fand) in Distanz zur Mysterientheologie. Man suchte nach einem Modell der christlich-jüdischen Beziehungen, in dem die Vorstellungen einer ausschließlichen Zentralität Christi und der vollständigen Erfüllung der messianischen Prophezeiungen verschiedengradig modifiziert wurden. Es ist üblich geworden, die Theologen, die im Zusammenhang des christlich-jüdischen Dialogs arbeiten, danach zu klassifizieren, ob sie eine Ein-Bund- oder eine Zwei-Bünde-Theologie vertreten (—»Bund). Die erste Sichtweise versteht Juden und Christen grundsätzlich als Teile einer sich durchhaltenden Bundestradition, die von beiden in jeweils unterschiedlicher Weise angeeignet wird. Das Christuser-

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Judentum und Christentum

eignis hat die Einbeziehung von Nicht-Juden in das besondere Verhältnis mit dem Schöpfergott möglich gemacht, das von den Juden weiterhin aufrechterhalten wird. Die ZweiBünde-Position betont demgegenüber die Eigenart beider Bundestraditionen, besteht aber darauf, daß beide für das volle Hervortreten der Herrschaft Gottes letztlich von entscheidender Bedeutung sind. Man ist sich zunehmend der Tatsache bewußt, daß diese beiden Kategorien die Komplexität des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum nicht voll zum Ausdruck bringen. Aber es herrscht keine Übereinstimmung im Blick auf angemessenere Kategorien. Das Dilemma reicht bis in die höchsten Ebenen der christlichen Kirchen hinein. Nachdem der Vatikan seine Stellungnahme zu den Juden in die Konzilserklärung über nicht-christliche Religionen aufgenommen hatte, ordnete er die Kommission zur Durchführung dieses Dokuments dem Sekretariat für die Einheit der Christen zu. Der Weltkirchenrat hingegen lokalisiert den christlich-jüdischen Dialog im allgemeinen Dialog zwischen den Christen und anderen Glaubensrichtungen und Ideologien. Hinter diesen institutionellen Unklarheiten steht ein bisher ungelöstes theologisches Grundproblem. Verstärken wir die theologische Stellung des Judentums aus christlicher Perspektive, indem wir seine engen Beziehungen mit der Kirche betonen oder indem wir seine Eigenart hervorheben? Das ist offensichtlich kein einfaches Entweder-Oder, sondern eine Frage der besonderen Akzentuierung. Offenbar wollen beide Interpretationsperspektiven eine enge kontinuierliche Verbindung zwischen den beiden Bundestraditionen beibehalten. Das Dilemma besteht darin, daß die Ein-Bund-Tradition das Risiko einer neuen Art der Absorbierung des Judentums hervorruft, die zwar wohlwollender ist als alle vorhergehenden Versuche dieser Art, aber dennoch absorbierenden Charakter besitzt, während die Hypothese von zwei Bünden der Versuchung zum Opfer fallen kann, die jüdischen Wurzeln des Christentums herunterzuspielen. Weder einzelne Theologen noch die verschiedenen christlichen Denominationen sind bisher einem Konsens darüber nahegekommen, wie das Dilemma zu lösen sei. Auch jüdische Gelehrte sind in diesem Dialog keinesfalls darüber einig, welcher dieser beiden Ansätze die Stellung des Judentums für Christen am besten verstärkt, ohne die grundlegende Integrität des Sinai-Bundes zu gefährden. Einige sind der Auffassung, daß die Verbindungstheologie Fragen in bezug auf das Verständnis der heilstiftenden Rolle des Christentums aus jüdischer Perspektive aufwirft, die sie in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation aus verschiedenen Gründen nicht aufgreifen wollen. Nostra aetate Nr. 4 betont die tiefgehende Dankesschuld des Christentums gegenüber seiner jüdischen Herkunft. In Aufnahme der paulinischen Bildersprache in Rom 9—11 beschreibt das Dokument die Kirche als dem Baum des Volkes Gottes eingepfropft, dessen Stamm das vorchristliche Judentum war. Solche Bilder implizieren aus christlicher Perspektive das fortgesetzte Leben des Judentums, denn wenn der Stamm abgestorben ist, können die Zweige kaum lebensfähig bleiben. Indem das Konzil die weit zurückgehende Anklage des Gottesmordes gegen das jüdische Volk verwarf, zerstörte es die Glaubwürdigkeit einer Theologie der „fortwährenden Wanderschaft", die die Juden als verfluchtes Volk betrachtete, das wegen des Mordes am Messias dazu verurteilt sei, in einem degradierten Zustand auf der Erde herumzuirren. Diese Theologie trug einen Großteil der Verantwortung für die Verfolgung der Juden im Lauf der Geschichte und für die kirchliche Opposition gegen zionistische Aufrufe zur Wiederaufrichtung eines jüdischen Staates in Palästina (-»Zionismus). Das Zweite Vatikanum bot keine ausgearbeitete theologische Perspektive im Blick auf das Judentum. Aber eine Erklärung der Vollversammlung der nordamerikanischen Bischöfe von 1969 deutete frühzeitig die Richtung an, in der die katholische Kirche sich nach dem Willen des Konzils im Licht seiner Äußerung zum jüdisch-christlichen Verhältnis bewegen sollte (Croner, Stepping 2 0 - 2 8 ) . Dieses Dokument betonte, daß das Verständnis des Judentums ein zentrales Anliegen jeder authentischen Ekklesiologie sein muß: „Das Problem der Beziehungen zwischen Juden und Christen betrifft die Kirche als

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solche, da sie dem Mysterium Israels gegenübersteht." Die Stellungnahme bestätigt auch den bleibenden Wert der hebräischen Bibel für das Zeugnis des christlichen Glaubens und beruft sich darauf, daß diese Richtung schon im Neuen Testament eingeschlagen wurde. In der Konsequenz müssen Katholiken damit beginnen, sich auf die jüdische Tradition zur Interpretation dieser Bücher zu beziehen. Ein anderer wichtiger Aspekt dieses Dokuments betrifft das Jude-Sein Jesu. Er beinhaltet die Umkehrung einer exegetischen Tendenz, die dazu neigte, Jesu Einbezogensein in die jüdische Glaubensgemeinschaft seiner Zeit herunterzuspielen und den hellenistischen Hintergrund des Neuen Testaments auf Kosten des jüdischen zu betonen. Im Rahmen dieser Interpretationsrichtung wurde Jesus vielfach als universale Person umgedeutet, wobei seine jüdischen Wurzeln ignoriert wurden. Die unmittelbare persönliche Reaktion auf die Person Jesu und seine Lehre wurde zum primären Kriterium des christlichen Glaubens. Das 1969er Dokument der amerikanischen Bischöfe richtete die Aufmerksamkeit auch auf ein anderes vorkonziliares theologisches Modell, das überholt sei. Dieses Modell spielte eine besondere Rolle im Protestantismus, fand aber auch Anklang in der katholischen Theologie. In seinen prägnantesten Ausprägungen stellte dieser theologische Ansatz Judentum und Christentum als Religion des Gesetzes und als Religion des Evangeliums einander gegenüber (-»Gesetz und Evangelium). Die prägende Einstellung dieser Beschreibung des jüdisch-christlichen Verhältnisses war die Überzeugung von der absoluten Überlegenheit des Christentums, das dem Glaubenden durch die Gnade eine Einheit mit Gott ohne die Vermittlung des Gesetzes ermöglicht und das den Tora-Ansatz zur Religion vollständig außer Geltung setzt. Demgegenüber sagten die Bischöfe: „Das Alte Testament und die jüdische Tradition sollten dem Neuen Testament nicht so gegenübergestellt werden, daß sie ausschließlich als Religion der Gerechtigkeit erscheinen, als Religion der Furcht und der Gesetzlichkeit und daß allein das Christentum das Gesetz der Liebe und Freiheit besitzt." Diese bischöfliche Warnung zur Vorsicht behält ihre Gültigkeit auch in der heutigen Situation, in der einige Ausprägungen der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie diesen klassischen Ansatz in neuen Formen wiederbeleben. Eine Theologie christlicher -»Freiheit darf nicht zu Lasten des Judentums errichtet werden. Im Gegenteil, ein angemessenes Verständnis der Exodustradition und der Entwicklungen innerhalb des Judentums des zweiten Tempels macht deutlich, daß das Judentum eine Quelle der Inspiration für eine konstruktive Theologie der Befreiung sein kann und nicht ein Hindernis. In den siebziger Jahren geschah die erste deutliche Distanzierung von der paulinischen Theologie des „Mysteriums" als dem endgültigen Ausdruck des Verhältnisses von Synagoge und Kirche. Eine wachsende Zahl von protestantischen und katholischen Theologen begann nach besseren und eindeutigeren Möglichkeiten zu suchen, um die Beziehung zwischen Kirche und Synagoge theologisch darzustellen. Ihre theologischen Perspektiven lassen sich generell den oben erwähnten Ein-Bund- oder Zwei-Bünde-Theorien zuordnen. Einige sind sogar über diese Begrifflichkeit hinausgegangen, indem sie das Geschehen am Sinai und das Christusereignis nur als zwei Ereignisse in einer unbestimmten Zahl von Offenbarungserfahrungen betrachteten. 3.5. Ein-Bund-Theologien. Ein Beispiel für die Ein-Bund-Perspektive innerhalb des Katholizismus bieten die Schriften von Monika Hellwig, obwohl dieser Ansatz in ihren Arbeiten nur rudimentär entwickelt ist. Für sie weisen Judentum und Christentum beide auf dieselbe eschatologische Realität hin, die noch vor uns liegt. Die beiden Glaubensgemeinschaften teilen einen gemeinsamen messianischen Auftrag im Blick auf diese Realität, obwohl jede auf je unterschiedliche Weise seine Ausführung in Angriff nimmt. Es bleibt eine höchst bedeutsame, noch unerfüllte Dimension des Christusereignisses. Die eschatologische Spannung ist noch nicht vollständig aufgelöst. Darum muß das messianische Ereignis als unvollendet und geheimnisvoll, als langandauernd und komplex verstanden werden. Der Sinaibund wurde durch das Kommen Jesu nicht aufgehoben, son-

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dern ist immer noch in Kraft. Das Geschehen des Christusereignisses war nicht die Erfüllung der messianischen Prophetien, sondern begründete die Möglichkeit, daß alle Heiden dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs begegnen können. Der Jude Jesus öffnete die Türen für die Heiden, damit sie an der Erwählung und an der Vertrautheit mit Gott teilhaben können, die zuerst dem Volk Israel gewährt wurden. Darum müssen Christen auf Gottes fortgesetzte Offenbarung in der gegenwärtigen jüdischen Erfahrung schauen, um Gottes Selbstoffenbarung heute zu verstehen. Hellwig scheint anzudeuten, daß die Offenbarung im Christusereignis auch den Maßstab für das jüdische Glaubenszeugnis konstituiert. Nach ihr kommt es nicht wirklich darauf an, ob wir von einem oder mehreren Bundesschlüssen reden. Sie zieht es vor, das Vokabular und die Bildersprache eines einzigen Bundes beizubehalten, da sie eine solide biblische Grundlage haben und einen ökumenischen Kern besitzen, der weiter entfaltet werden kann. Zudem erinnert uns die Vorstellung eines einzigen Bundes daran, daß es nur einen einzigen Gott gibt und eine einheitliche sinnvolle Schöpfung, die eine gemeinschaftliche Bestimmung der Menschen und deren Erfüllung möglich machen. In diesem Zusammenhang ist Marcel Dubois zu nennen, der einen starken Akzent auf das Kreuz als den einheitsschaffenden Bezugspunkt für Juden und Christen legt. Er verbindet Christi Leiden mit denen, die das jüdische Volk während der Scho'a erfahren hat. Für Dubois vollendet Jesus Israel in seiner Rolle als leidender Gottesknecht,und Israel symbolisiert, wenn auch unbewußt, das Mysterium der Passion und des Kreuzes. Dubois ist einer der wenigen Theologen, der der Erfahrung des Kreuzes eine so zentrale Stellung für die Verbindung zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk einräumt. Die meisten anderen neigen dazu, die Kreuzigung in ihren Versuchen zur konstruktiven Darstellung dieses Verhältnisses zu umgehen, da sie immer noch mit der historischen Anklage des Gottesmordes belastet erscheint, die für die Juden in der Vergangenheit zu so viel Leid und Tod führte. Ein anderer prominenter Vertreter dieses Ansatzes ist Jürgen Moltmann, der in seinem Buch Der gekreuzigte Gott ( 4 1981) versucht, eine Christologie in den Erfahrungen von Kreuz und Scho'a zu begründen. Gleichwohl setzt er sich nicht direkt mit der Theologie des jüdisch-christlichen Verhältnisses auseinander. Eine weitere Version der Ein-Bund-Theorie ist von Kardinal Carlo Martini von Mailand vorgelegt worden. Martini hat die Vorstellung des „Schismas" zur Beschreibung des ursprünglichen Bruches zwischen Kirche und Synagoge eingeführt. Ein solcher Ansatz hat zumindest zwei wichtige Implikationen. Die erste ist, daß der Bruch nicht hätte geschehen sollen. Im Idealfall hätten Judentum und Christentum verbunden bleiben können. Im Prozeß der Trennung hat das Christentum eine gewisse Verarmung erlitten. Das Resultat war ein Mangel an Balance im lebendigen Gleichgewicht des Christentums. Zweitens folgt aus diesem Ansatz die Verpflichtung zur Überwindung des bestehenden Bruches. Michael Remaud hat bisher nur eine kurze Skizze für ein theologisches Modell vorgelegt. Er weist jede Theologie der Substitution zurück, in der die Kirche sich selbst die Identität des jüdischen Volkes zuspricht. Die spezifische Dimension in Remauds Schriften besteht in der Anwendung einer reinterpretierten Form der früheren „Mysterium"Theologie auf das Dilemma der Koexistenz von Kirche und Synagoge. Für Remaud bedeutet „Mysterium" ganz wesentlich „spirituelle Realität" (147). Sowohl Israel als auch die Kirche partizipieren an derselben spirituellen Realität, die verschiedene Dimensionen hat. Israels besondere Rolle ist es, die messianische Hoffnung in dieser spirituellen Realität hervorzuheben. Dieser Beitrag von Remaud repräsentiert einen neuen Weg, auf Rom 9 - 1 1 aufzubauen. Er ist ein gewichtiger Diskussionsbeitrag, weil er den Vorteil hat, auf einen weitergehenden besonderen Auftrag für Israel nach dem Osterereignis hinzuweisen. In den Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bemerken wir eine wachsende Betonung der einzigartigen verwandtschaftlichen Verbindung zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk. Diese Akzentuierung wurde zuerst in einer Ansprache vor einer im Vati-

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kan zusammengekommenen internationalen ökumenischen Gruppe von Bildungsfachleuten aus dem Jahr 1982 deutlich. Diese Darlegungen wurden in die „Hinweise" des Vatikans von 1985 aufgenommen. In seinen Ausführungen vor der offiziellen jüdischkatholischen Delegation, die in Rom zur Feier des 20. Jahrestages von Nostra aetate im Oktober 1985 versammelt war, betonte der Papst die Tiefendimension dieser Verbindung noch stärker und machte deutlich, daß sie ausschließlich zum Judentum als einziger unter den Weltreligionen besteht. Die Hinweise von 1985 sprechen auch von einer echten Partnerschaft zwischen Christen und Juden im Prozeß der Erlösung der Menschen. In offiziellen katholischen Kreisen scheint es eine echte Bewegung zur Aufnahme des Modells eines einzigen Bundes zur Darstellung des jüdisch-christlichen Verhältnisses zu geben, obwohl viele Verlautbarungen des Vatikans, einschließlich bestimmter Abschnitte in den „Hinweisen" selbst, das Modell der „absoluten Überlegenheit" des Christentums fortzuführen scheinen. Im protestantischen Christentum scheint das Modell eines einzigen Bundes eine zentrale Rolle in den Schriften Bertold Klapperts zu spielen. Sein Ziel ist es, ein christologisches Bekenntnis zu entwerfen, das von Antijudaismus frei ist und israelitische Konturen hat. Eine solche Christologie beinhaltet in ihrem Zentrum die Behauptung einer fortbestehenden Verbindung mit der jüdischen biblischen Tradition und mit dem gegenwärtigen Judentum. Peter von der Osten-Sacken spricht von der Notwendigkeit, eine Israel bejahende Christologie zu entwickeln, die die Substitutions-Christologie ersetzen soll, die so lange das christliche Denken bestimmt hat. Solch eine erneuerte Christologie muß die Kontinuität des Christusereignisses sowohl mit der hebräischen Bibel als auch mit dem gegenwärtigen Judentum betonen. Das umfassendste theologische Modell für das jüdisch-christliche Verhältnis wird protestantischerseits von Paul van Buren entwickelt. The Bürden of Freedom war seine erste, noch vorläufige Stellungnahme zu diesem Problem, in der er die Defizienzen in früheren Modellen betonte. Diesem Werk folgten Discerning the Way und A Christian Theology of the People of Israel. Van Buren argumentiert, daß das Christentum mehr oder weniger alle jüdischen Elemente zugunsten einer heidenchristlichen Tradition aufgegeben hat. Der Holocaust repräsentiert den Höhepunkt dieses Verarmungsprozesses der Tradition. Die Kirche muß sich jetzt wieder mit dem Judentum verbinden, was angesichts der von van Buren dargestellten systematischen Verschleierungen im 1. Jh. christlicher Geschichte keine leichte Aufgabe ist. Als die damaligen christlichen Führungsschichten feststellten, daß die verheißenen Zeichen der messianischen Ära nirgendwo zu sehen waren, war ihre Reaktion nicht eine Korrektur der ursprünglichen theologischen Behauptungen, sondern die Verschiebung der Verwirklichung des messianischen Zeitalters auf eine ungeschichtliche „höhere" Ebene. Nachdem diese Akzentverschiebung abgeschlossen war, war der Weg frei für die Verkündigung des Osterereignisses als eines uneingeschränkten Erfolges. In solch einem triumphalistischen Milieu hatte nach van Burens Meinung das jüdische Volk wenig oder gar keinen Platz. In seinen neuesten Schriften insistiert van Buren zunehmend darauf, daß wir anerkennen müssen, daß Israel aus zwei miteinander verbundenen, aber unterschiedenen Zweigen besteht. Beide sind wesentlich. Die Kirche repräsentiert die Gemeinde der Heiden, die von dem Gott der Juden angezogen worden sind, um ihn zu verehren und seine Liebe unter den Völkern bekannt zu machen. Van Buren fordert keineswegs, daß das Christentum seine Verkündigung Jesu als des Christus und als des Sohnes Gottes aufgeben sollte. Aber er ist nicht der Christus im Sinne des lange erwarteten jüdischen Messias. Van Buren interpretiert jetzt die neue Offenbarung in Jesus im Grunde als die Manifestation des Willens Gottes, daß auch die Heiden eingeladen sind, auf Gottes Weg zu gehen. Durch Jesus werden die Heiden zum erstenmal in den fortgehenden Heilsplan einbezogen. Die Aneignung dieses Planes durch die Heiden führte sie über den Kreis von Gottes ewigem Bund mit den Juden hinaus. Aber das hat diesen ursprünglichen Bund in keiner Weise

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aufgehoben. Kürzlich hat van Buren zur Darstellung der Zukunft der Beziehung von Kirche und jüdischem Volk für die Vorstellung einer „ K o - f o r m a t i o n " plädiert. Damit meint er, daß beide Zweige Israels nebeneinander wachsen und sich entwickeln müssen, aber nicht isoliert voneinander. Obwohl ein gewisser G r a d von unterscheidender Eigenart bestehen bleiben wird, werden beide eine zunehmende Gegenseitigkeit erleben, die von Verständnis und Liebe charakterisiert ist. Dieses gemeinsame Wachsen in Liebe wird die Freiheit jedes Zweiges erhöhen, seine jeweils eigene Identität zu entwickeln und sich gleichzeitig der Notwendigkeit von gegenseitiger Kooperation bewußt zu bleiben. Unter den Autoren, die sich mit dem jüdisch-christlichen Verhältnis auseinandersetzen, nimmt A. Roy Eckardt in den letzten Jahren einen bedeutenden Platz ein. Es ist schwierig, ihn präzise dem Ein-Bund- oder dem Zwei-Bünde-Ansatz zuzuordnen, da er seinen Standpunkt in letzter Zeit beträchtlich verändert und sich zu einem der radikalsten Theologen auf diesem Gebiet entwickelt hat. Der Ausgangspunkt seiner Entwicklung ist eine Ein-Bund-Position. Nach Eckardt ist es im göttlichen Plan von Anfang an angelegt, daß eine Mehrheit des Volkes Israel das Christusereignis ablehnen würde. Das war notwendig, um die weitergehende Integrität des Judentums zu bewahren. Eckardts seit langem vertretene These ist, daß Israel (anders als van Buren setzt er Israel und das jüdische Volk gleich) und die Kirche in dialektischer Spannung miteinander innerhalb desselben Bundes stehen. Beide nehmen eine unterschiedliche Funktion in der Heilsgeschichte ein, und beide unterliegen korrespondierenden Versuchungen. Israels primäre Rolle bleibt es, sich nach innen dem jüdischen Volk zuzuwenden, während das Christentum nach außen auf die Heiden ausgerichtet ist. Die korrespondierenden Versuchungen bestehen darin, daß Israel im Widerstand gegen eine übertriebene Dichotomie zwischen Heiligem und Säkularem möglicherweise die Königsherrschaft Gottes unabsichtlich zu stark säkularisiert und daß das Christentum die Königsherrschaft Gottes zu stark spiritualisiert und die grundlegende Verbindung zwischen dem Heiligen und dem Säkularen leugnet. Jesus von Nazareth trennt und vereint Juden und Christen. Israels Erwählung findet in gewissem Sinne ihre Fortsetzung und Erfüllung in der Inkarnation. Insofern erkennt Eckardt die Einzigartigkeit der Offenbarung in Jesus Christus an. Aber im Prinzip ist diese Offenbarung nicht bedeutungsvoller als die Offenbarung, die dem jüdischen Volk in der hebräischen Bibel zuteil geworden ist. Es gibt nur einen Sinn, in dem die Christen von einer Erfüllung durch das Osterereignis sprechen können: J e s u Lebenszeugnis zerbrach für immer die M a u e r , die Christen und Juden trennte. Der bleibende Bund mit Israel wurde für den Eintritt der Heiden in einem Maße geöffnet, wie man es im Judentum nicht für möglich gehalten hatte. In den späteren Schriften Eckardts finden sich Akzentverschiebungen, die ihn zunächst von der Ein-Bund-Theorie wegführen, um ihn später - wenn auch in weitgehend neuformulierter Weise — dorthin zurückzuführen. Er gesteht zunächst zu, daß seine Aufnahme eines Ein-Bund-Standpunktes in der Vergangenheit weitgehend von seinem Bemühen beeinflußt war, die traditionellen christlichen Denkmuster einer Substitution des Judentums zu unterlaufen. Wenn die Kirche endlich die Versuchung überwindet, sich als Ablösung Israels zu verstehen, dann könnte es möglich sein, daß Israel seinen Weg allein geht und daß die beiden Glaubensgemeinschaften auf eigenen Bahnen fortschreiten, während sie weiterhin ein Verhältnis der gegenseitigen Liebe und des Respekts pflegen. Kürzlich hat Eckardt vorgeschlagen, daß sowohl die traditionelle Vorstellung des Bundes als auch die Lehre von der Auferstehung im Christentum überholt sind. N a c h der Scho'a kann nur noch ein Bundestyp auf das jüdische Volk angewandt werden. Das ist nach Eckardts Bezeichnung der „ B u n d des göttlichen Schmerzes", der die Juden in einen Zustand uneingeschränkter Säkularität versetzt. Eckardt macht nicht wirklich deutlich, ob die Kirche an einem solchen Bund teilhaben kann, obwohl er zu glauben scheint, daß die Säkularität ebenso der grundlegende Zustand ist, in dem sich Christen nach dem Holocaust vorfinden. Über eine Sache ist er sich ganz sicher: Auschwitz hat deutlich den Irrtum jeder abgeschlossenen Vorstellung der Auferstehung demonstriert. Auferstehung bleibt im Blick auf Jesus eine ganz und gar zukünftige Kategorie.

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Diese zukünftige Auferstehung Jesu wird für die Christen eine ganz besondere Bedeutung haben, weil durch seine Geschichte die Heiden in den Bund mit Israel aufgenommen wurden. Ganz parallel wird die zukünftige Auferstehung von A b r a h a m und M o s e für die eschatologische Gemeinschaft der Juden eine ganz besondere Bedeutung haben. J. Coos Schoneveld ist mit van Buren und Eckardt darin einig, d a ß die grundlegende Bedeutung des Christusereignisses darin zu suchen ist, daß es den Heiden Einblick in den Plan für die Erlösung der Menschen eröffnet, der dem jüdischen Volk durch A b r a h a m und Mose gegeben ist. Aber während bei van Buren und Eckardt an diesem Punkt eine Zweideutigkeit bleibt, verwirft Schoneveld jede grundlegend neue Offenbarung. Das Neue Testament fügt dem, was schon in der Tora gefunden werden kann, nichts radikal Andersartiges hinzu. Akzentuierungen und Betonungen mögen variieren, aber die Glaubenssubstanz ist die gleiche. Christen teilen die Verheißungen, die ursprünglich an Israel ergingen, nur zeigen sie ihre Treue zu diesen Verheißungen in anderen Weisen als denen, die von der jüdischen Gemeinschaft entwickelt wurden. In einigen Hinsichten gestattet die christliche H a l t u n g größere Flexibilität. Aber sie ist in keiner Weise überlegen oder auf substantiell neuen Einblicken in den göttlichen Heilsplan begründet. Für Schoneveld ist es f ü r Christen illegitim, sich auf Jesus als auf den Messias zu beziehen. Sein Kommen brachte nicht die verheißene Wirklichkeit der messianischen Königsherrschaft, und es ist unfair, wenn Christen diese Wirklichkeit umformulieren, um zu beweisen, d a ß durch das Kommen Jesu die messianische Wirklichkeit dennoch angebrochen sei. Durch Jesus sind die Heiden zur Teilhabe an den göttlichen Verheißungen zugelassen worden und die Reichweite der Lehre der Tora hat sich erweitert. Jesus war, in Schonevelds Worten, „Tora im Fleisch". Er verkörperte die Tora und machte ihre letztgültige Bedeutung für die Heiden transparent: eine Art von menschlicher Existenz hervorzurufen, in der das Bild Gottes klar sichtbar wird. Israel und die Kirche stehen gemeinsam in der E r w a r t u n g der Erfüllung der Tora, d e m Tag, an dem das Bild Gottes in der ganzen Menschheit gesehen werden wird. Die J u d e n erwarten diese Zeit als Teile des Volkes Israel, die Christen als Teile des Leibes Christi. Derselbe Gott richtet die Glaubenstreue beider. Die J u d e n geben ihrer Treue d a d u r c h Ausdruck, d a ß sie die Kirche ablehnen, die versuchte, ihnen die Tora wegzunehmen. Christen bezeugen dagegen ihre Treue durch ein Ja zu Jesus, der die Tora verkörperte und deshalb durch ein Ja zum jüdischen Volk, mit dem er u n t r e n n b a r verbunden war. Im Z u s a m m e n h a n g mit den Ein-Bund-Theologien sind auch zwei protestantische D o k u m e n t e zu erwähnen: Hinter dem D o k u m e n t des Weltrats der Kirchen von 1982 lag eine lange Entwicklung. In seinen Entwürfen tendierte es entschieden in die Richtung einer Ein-Bund-Theologie. In seiner endgültigen Fassung enthält es sich einer Diskussion der theologischen Dimensionen des jüdisch-christlichen Verhältnisses und deutet nur an, d a ß man sich der Kontroverse unter den Theologen über diese Frage bewußt ist. Im Gegensatz zu diesem D o k u m e n t des Weltrates der Kirchen hat der Synodalbeschluß 37 der Evangelischen Kirche im Rheinland vom Januar 1980 progressiven C h a r a k ter. Drei der sechs Bekenntnissätze sind in dieser relativ kurzen Erklärung von besonderer Bedeutung: (1) „ W i r bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet." (2) „Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, d a ß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist." (3) „ W i r glauben, d a ß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; d a r u m sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt w a h r n e h m e n k a n n " (Handreichung 10). Diese Erklärung w u r d e von jüdischen Dialogpartnern und von weiten Kreisen innerhalb der protestantischen Christenheit (besonders in den USA) sehr begrüßt. Sie provozierte aber auch scharfe innerprotestantische Kritik (z. B. Brief der „Bonner Professoren"). In der Diskussion w u r d e eingewandt, d a ß Jesus als Messias Israels nach jüdischem

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Verständnis nicht der Völkerversöhner sei, daß (1) also nicht als Konkordanzformel in Frage komme (van Buren) und daß die Gegenüberstellung „Zeugnis dem jüdischen Volke gegenüber" und „Mission an die Völkerwelt" letztere abwerte (Thoma, Beschluß). Die Ein-Bund-Position weist also viele innere Differenzierungen auf. Ihre Vertreter haben aber einige Charakteristika gemeinsam. Dazu gehört die feste Überzeugung, daß die Heiden letztlich nur durch die Verbindung mit dem jüdischen Bund erlöst werden, die durch das Christusereignis möglich gemacht worden ist, daß die „Einzigartigkeit" des Christentums mehr in den Ausdrucksweisen als im Inhalt gefunden werden kann und daß Juden und Christen in gleicher integraler Weise an dem noch weitergehenden Prozeß der Erlösung der Menschheit teilnehmen. 3.6. Zwei-Bünde-Theologien. Zur Gruppe von Theologen, die eine Zwei-BündeKonzeption vertreten, gehören James Parkes und J . Coert Rylaarsdam auf protestantischer und Gregory Baum, Clemens Thoma, John T. Pawlikowksi und Franz Mussner auf katholischer Seite. Der anglikanische Historiker James Parkes baute seine Version der Theorie vom zweifachen Bund auf der Grundlage der seiner Auffassung nach unterschiedenen, aber komplementären Offenbarung auf, die mit dem Sinai und mit Golgatha in Verbindung gebracht werden. Die Sinai-Erfahrung hatte einen fundamental gemeinschaftsorientierten Charakter, während Golgatha sehr viel mehr um das Verständnis der Beziehung des Individuums zu Gott kreist. Im Gegensatz zu Parkes wird in der heutigen Dialog-Szene betont, das Golgatha-Geschehen sei in die Sinai-Offenbarung eingebaut worden und habe sie weder spiritualisiert noch individualisiert. Beide Offenbarungen koexistieren in schöpferischer Spannung. Diese schöpferische Spannung erstreckt sich über das Ganze des Lebens und wird bis zum Endt der Tage andauern. Parkes wird in diesem Zusammenhang auch vorgeworfen, er habe zuwenig biblische Belege beigebracht. Weit bessere biblische Ansätze für die Zwei-Bünde-Theorie bringt J . Coert Rylaarsdam vor. Er argumentiert, daß jeder angemessene theologische Ansatz zur Bearbeitung des jüdisch-christlichen Verhältnisses das Vorhandensein von zwei unterschiedlichen Bünden in der jüdischen biblischen Tradition anerkennen muß. Der erste dieser Bundesschlüsse, der Bund mit Israel, war auf Gottes Gemeinschaft mit seinem Volk in der Geschichte konzentriert. In seinem Zentrum war dieser Bund ein wechselseitiger Pakt der Treue und Verantwortung zwischen Gott und dem jüdischen Volk. Dieser Bund war zukunftsorientiert. Das göttliche Eingreifen in die Geschichte für das erwählte Volk war ein fortdauernder offener Prozeß. Da seine grundsätzliche Zielrichtung sich mit der Interpretation der Endgültigkeit des Christusereignisses nur schwer vertrug, tendiert das Neue Testament dazu, diesen Bund herunterzuspielen. Der zweite Bundesschluß konzentrierte sich auf die Person Davids. Er hatte eine weit größere eschatologische Ausrichtung. Im Rahmen dieser Bundestradition konnte religiöser Sinn durch die Erfahrung der Heiligkeit, die mit dem Zion verbunden war, gefunden werden, und die Offenbarung der Gegenwart Gottes wurde in der davidischen Dynastie erfahren. Eine überzeitliche Sinnordnung stand im Mittelpunkt der Lebensorientierung und der kultischen Feier dieser Bundestradition. Gott wird als König der Schöpfung und der Nation dargestellt. Die frühere Betonung der Tora und der Geschichte ist weitgehend aufgegeben. Die Spannung zwischen diesen beiden Bundestraditionen im späten biblischen Judentum führte nach Rylaarsdams Auffassung zur Ausprägung von verschiedenen sektiererischen religiösen Gruppierungen. Eine von diesen war die eschatologisch orientierte christliche Kirche. Diese neue Glaubensgemeinschaft sah sich sehr bald mit denselben Spannungen konfrontiert wie das Judentum. Aber im frühen Christentum erlangte die davidische Bundestradition sehr schnell den Vorrang. Auf diese Weise behauptet Rylaarsdam die Existenz zweier biblischer Bundestraditionen. Sie sind nicht als zwei aufeinanderfolgende Bundesschlüsse zu betrachten, wie Christen sie traditionell dargestellt haben (-+Bund). Vielmehr durchziehen diese beiden verschwisterten Bundestraditionen sowohl die hebräische Bibel als

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auch das Neue Testament. Die Wahrnehmung dieses Umstandes zwingt die Kirche zu einer radikalen Neugestaltung ihres theologischen Ansatzes zur Bearbeitung des jüdischchristlichen Verhältnisses. Denn wenn beide, Judentum und Christentum, sich weiterhin auf dieselben beiden Bundestraditionen berufen, die in paradoxer Weise aufeinander bezogen sind, dann muß die Beziehung zwischen Kirche und Synagoge, ganz abgesehen von ihren spezifischen Spannungen zu einer gegebenen Zeit, als ein Verhältnis wechselseitiger Interdependenz verstanden werden. 3.7. Zwischenpositionen. In der katholischen Theologie der Gegenwart gibt es eine ganze Reihe von fortgesetzten Bemühungen, die klassische Theorie der Substitution des Judentums anhand der Leitlinien der Zwei-Bünde-Theologie neu zu überdenken. Gregory Baum versteht diese Bemühungen vor allem im Zusammenhang von zwei Kardinalprinzipien: (1) Das Judentum ist nicht dazu bestimmt, nach dem Kommen Christi zu verschwinden, sondern spielt weiterhin eine zentrale Rolle in der Vollendung des göttlichen Heilsplanes. Gottes Gegenwart bleibt auch nach der Auferstehung Christi im jüdischen Volk lebendig. (2) Für jede Neufassung der Christologie, die die weiterbestehende theologische Bedeutung des Judentums geltend macht, ist von zentraler Wichtigkeit, daß die Behauptung, Jesus sei der einzige Mittler, ohne den niemand des Heils teilhaftig werden kann, aufgegeben wird. Dennoch scheint Baum eine zentrale Bedeutung für das Christusereignis zu fordern, die definitiv über die bloße Aneignung des weiterhin wirksamen Bundes mit Israel hinausgeht, wie sie von van Buren und anderen Theologen der Ein-Bund-Theorie vertreten wird. Baum erkennt eine universale Bedeutung des Christusereignisses an, obwohl er eine andere als die klassische Interpretation dieses Universalismus vorlegt. Im Christusereignis wurde die Erkenntnis ermöglicht, daß Gottes vollständiger Sieg garantiert ist, obwohl er gegenwärtig noch nicht vollständig realisiert ist. Darum müssen alle messianischen Ansprüche auf die Zukunft bezogen werden. Jesus wird erst mit dem Anbruch der messianischen Zeit der Christus im vollen Sinn des Wortes werden. Weil aber Baum dem Judentum und den anderen Religionen keine besondere Rolle zuspricht, kann man ihm vorwerfen, daß er, anstatt ein neues Modell für das jüdisch-christliche Verständnis zu schaffen, das alte Substitutions-Modell nur an den Beginn der eschatologischen Ära verschoben hat. Eine stärker auf den biblischen Traditionen aufbauende Fassung der Zwei-BündeTheologie, die ebenso die einzigartigen Aspekte des Christusereignisses betont, legt Clemens T h o m a vor. Er weist Versuche zurück, die grundlegende Spannung zwischen der Kirche und Israel in der Annahme oder Ablehnung Jesu verankert zu sehen. Zur Zeit Jesu gab es im jüdischen Denken kein einheitliches und konsistentes Messiasverständnis. Verschiedene Juden des Zeitalters Jesu hielten die Vorstellung eines Messias für verzichtbar. Darum gibt es keine einheitliche jüdische Erwartung, der Jesus gegenübergestellt und mit der er verglichen werden könnte. Folglich gibt es auch keinen Grund, eine Ablehnung der Erfüllung dieser Erwartung in Jesus durch die Juden zu postulieren. Die Einzigartigkeit Jesu liegt für T h o m a in der Art und Weise, in der Jesus die Königsherrschaft Gottes mit seinem Handeln und mit seiner Person verknüpfte. Darin folgte er einer in den apokalyptischen Deutungen des Judentums schon vorhandenen Tendenz. Aber sein Bewußtsein der Vertrautheit mit Gott dem Vater ging über das hinaus, was das Judentum in allen seinen Formen anzuerkennen bereit war. Franz Mussner teilt dieselbe Überzeugung über Jesu tiefe und positive Verbindungen mit der jüdischen Tradition. Und er weist ebenfalls jede dem Judentum kontrastierte Interpretation des Christusereignisses als Erfüllung der biblischen Messiasverheißungen in Jesus zurück. Vielmehr ist die Einzigartigkeit des Christusereignisses in der vollständigen Identität des Werkes Jesu, einschließlich seiner Verkündigung und seines Handelns, mit dem Werk Gottes begründet. Als Resultat des Erschließungsgeschehens in Christus ist das Neue Testament in der Lage, von Gott mit einer anthropomorphen Kühnheit zu

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sprechen, die in der hebräischen Bibel nicht in demselben Ausmaß vorzufinden ist. Mussner spricht von einer Einheit des Handelns, die sich bis zum Punkt der Übereinstimmung Jesu mit Gott ausdehnt, eine bisher ungeahnte existentielle Nachahmung Gottes durch Jesus. Aber diese Nachahmung steht nach Mussner in Übereinstimmung mit dem jüdischen Denken. Die Einzigartigkeit muß in der Tiefe dieser Nachahmung von Seiten Jesu gesucht werden. Darum wird das besondere Merkmal des Christentums im Unterschied zum Judentum in der Inkarnation lokalisiert und nicht in der Erfüllung von Verheißungen. Und selbst diese christliche Besonderheit ist aus einer im Kern grundlegend jüdischen Vorstellung erwachsen. Auch die neutestamentliche „Sohnes-Christologie" hat nach Mussner Wurzeln in der jüdischen Tradition. Die in der Vergangenheit vertretene Auffassung, daß diese „ h o h e " Christologie eine im wesentlichen nicht-jüdische Grundlage habe, ist unbegründet. Viele Aspekte der Sprache und Vorstellungswelt der „Sohnes-Christologie" gehen auf die Weisheitsliteratur zurück. Mussner macht sich keine illusionären Hoffnungen darüber, daß die Betonung der Verbindung zwischen der „Sohnes-Christologie" und der jüdischen Tradition jegliche Opposition von Seiten der Juden gegen diesen Typ der Christologie beseitigen wird. Aber solch ein Verständnis könnte einen Zugang zur Erörterung dieser Frage im christlich-jüdischen Dialog schaffen. Auch J o h n T. Pawlikowski geht von einer Zwei-Bünde-Theologie aus. Einige Grundüberzeugungen prägen seine theologische Perspektive: (1) Das Christusereignis hat die jüdische Glaubensperspektive nicht ungültig gemacht; (2) das Christentum ist dem Judentum weder überlegen, noch ist es die Erfüllung des Judentums in der Weise, wie es von der Kirche früher dargestellt wurde; (3) der Sinaibund ist im Prinzip so entscheidend für das christliche Glaubenszeugnis wie der Bund in Christus; (4) das Christentum muß bestimmte Dimensionen aus seinem ursprünglichen jüdischen Umfeld wieder einholen. Hinter diesen Überzeugungen steht die Erkenntnis, daß eine Christologie entwickelt werden muß, die die zentralen und einzigartigen Charakteristika der mit dem Christusereignis verbundenen Offenbarung, speziell der Inkarnationslehre, anerkennt, ohne zu behaupten, daß darin die ganze Offenbarung enthalten sei. Solch eine Christologie muß sowohl für die weiterbestehende Gültigkeit der jüdischen Offenbarung Raum schaffen als auch für die Anerkennung ihrer einzigartigen und zentralen Einsichten, die gegenwärtig in der christlichen Theologie fehlen oder kaum spürbar sind. Nach Pawlikowski sind die christologischen Lehren der Kirche aus Tendenzen im Judentum des zweiten Tempels hervorgegangen. Im Gegensatz zu Mussner identifiziert er diese Verbindung eher mit den Lehren der pharisäischen Bewegung als mit der Weisheitsliteratur. Die Pharisäer vertraten ja die Lehre, die Menschlichkeit sei ein Teil der Selbstbestimmung Gottes. Dies wiederum impliziert, daß der Mensch am göttlichen Wirken und damit an Gott selbst teilhat. Christus ist nun das theologische Symbol, das die Kirche gebraucht, um dieser dauernden Realität Ausdruck zu geben. An den späteren Schichten der neutestamentlichen Literatur sehen wir, daß diese Menschlichkeit von Anfang an in der Gottheit existierte. Das Christuszeugnis war als Manifestation dieser Realität für die Welt entscheidend. Das wachsende Bewußtsein individueller Einzigartigkeit und Würde, das seinen ersten Ausdruck in der Theologie der Genesis und ihrer Darstellung der menschlichen Person als Gottes Mitschöpfer fand und das in der pharisäischen Betonung der Würde und der besonderen Stellung jedes einzelnen Menschen weiterentwickelt wurde, erreichte seinen Zenit in der Inkarnation. Damit wurde die Erkenntnis ermöglicht, daß Menschen sogar an der Existenz und am Leben Gottes teilhaben. Die menschliche Person bleibt immer noch Geschöpf; die Kluft zwischen der Menschlichkeit im Menschen und der Menschlichkeit in Gott bleibt bestehen. Aber ebenso wird durch die Inkarnation deutlich, daß eine Verbindung zwischen beiden besteht. Dieser Ansatz zur Christologie führt unausweichlich zur Frage: Welche Bedeutung behält der jüdische Bund? Das Judentum übt weiterhin eine einzigartige und besondere Rolle im Prozeß menschlicher Erlösung aus. Judentum und Christentum betonen unterschiedliche, aber komplementäre Aspekte menschlicher Religiosität und teilen ein ge-

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meinsames biblisches Erbe. Zu den einzigartigen Charakteristika des Judentums gehören das Bewußtsein, ein Volk zu sein, die Vorstellung der durch Gnade gewährten Teilhabe der menschlichen Person an Gottes schöpferischem Handeln, der Glaube an Gott als in der Geschichte handelnde Person und die tiefe Überzeugung von der Güte der Schöpfung. Bei aller Verschiedenheit der Ansätze der Zwei-Bünde-Theologien scheint es eine Konvergenz in der Auffassung zu geben, daß die Einzigartigkeit der Offenbarung im Christusereignis grundlegend in einem neuen Bewußtsein der Vertrautheit zwischen Gott und der Menschheit besteht. Indem die verschiedenen Autoren dieses Bewußtsein der Einzigartigkeit des Christentums beibehalten, scheinen sie dem Neuen Testament eher treu zu bleiben. Die grundlegende Schwierigkeit, mit der diese Theologen konfrontiert sind, besteht darin, wie sie nach der Behauptung der Einzigartigkeit des Christentums die Verbindung mit dem Judentum in einer solchen Form bewahren können, daß eine weitergehende spezielle Rolle für das Judentum im Heilsprozeß vorgesehen ist. Sonst wäre die Theorie des zweifachen Bundes nur eine Verschiebung von christlichen Vorstellungen über die Erfüllung der messianischen Erwartungen in Jesus oder die Substitution des Judentums in die Endzeit und nicht eine echte Neuinterpretation der Theologie des jüdisch-christlichen Verhältnisses. 3.8. Viele-Bünde-Theologien. Die dritte und neueste Position für die Entwicklung eines theologischen Modells zur Darstellung des jüdisch-christlichen Verhältnisses argumentiert, daß der Sinai und das Christusereignis zwei Höhepunkte in einer unbestimmten Zahl von Offenbarungserfahrungen der Menschheit darstellen. Rosemary Ruether und Paul Knitter haben diese Interpretationsperspektive vorgestellt. Ruether ist der Auffassung, daß ohne tiefgreifende Korrekturen an der traditionellen Christologie im Christentum keine neue positive Theologie des Judentums möglich ist. Besonders die antijüdischen Theologien der Kirchenväter müssen aufgegeben werden. Ebenso muß die Kirche den Anspruch fallen lassen, daß Christus in irgendeiner Form die messianische Ära eingeleitet habe. Ruether sieht Jesus nicht als den jüdischen Messias, sondern als einen Juden, der auf die Königsherrschaft Gottes hoffte und der starb, ohne diese Hoffnung erfüllt zu sehen. Jesu Lebenszeugnis gewährte eine zukünftige Vision von messianischer Herrlichkeit. Der Mensch Jesus steht als Beispiel für die Hoffnung, daß dieses eschatologische Ideal tatsächlich in der Zukunft realisierbar ist. Jesus als der Christus repräsentiert die Vereinigung der Menschheitsgemeinschaft in ihrer letztgültigen Bestimmung, die noch aussteht. In Jesu Leben und Tod wurde die Welt zur Zeugin eines Kampfes für die Verwirklichung dieser Einheit. Das Christusereignis konstituiert ein authentisches eschatologisches Paradigma, aber nur für die Menschen, die es bewußt als solches angenommen haben. Andere, die sich alternativen Paradigmen zugewandt haben, die zwingend aus zentralen Erfahrungen ihrer jeweils eigenen Geschichten erwachsen sind, sollten aus christlicher Perspektive nicht als vom Heil ausgeschlossen betrachtet werden. Der Exodus etwa spielt für die jüdische Identität dieselbe Rolle wie das Christusereignis für das Christentum. Er ist die Grundlage der Hoffnung und beinhaltet die Behauptung, daß das Böse schließlich überwunden werden kann. Das Christusereignis bestreitet die Gültigkeit der Exodus-Erfahrung als Paradigma ebensowenig wie diese das Christusereignis. Jedes Ereignis spricht eine andere Gruppe von Menschen an. Paul Knitter schlägt ein theozentrisches christologisches Modell vor, das sich um die Vorstellung der „relationalen Einzigartigkeit" Jesu dreht. Die Einzigartigkeit Jesu besteht in seiner Fähigkeit, andere religiöse Gestalten aufzunehmen und von ihnen aufgenommen zu werden. Jesus ist weder exklusiv noch normativ für alle. Aber durch ihn geschah eine universell relevante Manifestation von Offenbarung und Heil Gottes. Knitter besteht jedoch darauf, daß solche Behauptungen der Einzigartigkeit im Falle Jesu nicht von vornherein als gesichert vorausgesetzt werden können, sondern im konkreten Dialog mit den Weltreligionen geprüft werden müssen. Auf diese Weise steht Knitter gleichsam auf einer Brücke zwischen Ruether und den

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Theologen, die das Zwei-Bünde-Modell vertreten. Er scheint das Christusereignis nicht in demselben Ausmaß zu relativieren wie Ruether. Aber wie sie macht er dieses Ereignis nicht automatisch zentral oder erklärt es als einzigartig bedeutungsvoll in der Religionsgeschichte. Als christlicher Theologe scheint er bereit zu sein, die fundamentalen Orientierungserfahrungen des Judentums und der anderen Weltreligionen im Prinzip auf eine Ebene mit dem Christusereignis zu stellen. Da es sein grundlegendes Ziel ist, Prinzipien für eine Theologie der Pluralität der Religionen zu entwickeln, bedenkt er die Frage nicht ausdrücklich, welche einzigartigen Charakteristika das Judentum oder eine der anderen Weltreligionen zum Selbstverständnis des Christentums beitragen könnten. 3.9. Ausblick. Es ist notwendig, zwei andere Problembereiche, die von entscheidender Bedeutung sind, kurz zu erwähnen. Der erste besteht in der Frage, wie sich die gegenwärtigen Diskussionen um das Gottesverständnis, wie sie vor allem im Licht der Scho'a entwickelt wurden, auf das Verständnis der Verbindung von Judentum und Christentum auswirken. David Tracy, Johannes Metz, Jürgen Moltmann, A. Roy Eckardt, Marcel Dubois und Elisabeth Schuessler-Fiorenza gehören zu den Theologen, die sich mit diesem Problem in den letzten Jahren auseinandergesetzt haben. Der andere Problembereich ist die uralte Frage nach der Legitimität einer christlichen -»Judenmission. Die Antwort auf diese Frage hängt einerseits vom Missionsverständnis ab, andererseits davon, wie man das Verhältnis von Judentum und Christentum theologisch beurteilt. Gregory Baum hat darauf hingewiesen, daß heute nur noch eine Mission, die als Dienst definiert wird, vertretbar ist. Tomaso Federici schlägt die Ersetzung des Terminus „ M i s s i o n " durch „Zeugnis" vor, worunter er ein Zeugnis versteht, das ganz wesentlich durch dialogische Praxis bestimmt ist. In den letzten zwanzig Jahren hat im Christentum eine beträchtliche Neureflexion in bezug auf das theologische Verständnis seines Verhältnisses zum Judentum stattgefunden. Diese Neuorientierung, die bis jetzt weitgehend auf die im jüdisch-christlichen Dialog arbeitenden Fachleute beschränkt war, beginnt in das Denken bedeutender systematischer Theologen und in die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen Einzug zu halten. Obwohl es auch gegenläufige Tendenzen in einigen Ausschnitten des Christentums gibt, werden die kommenden Jahrzehnte ohne Frage eine weitere Entwicklung und ein Zusammenschmelzen der oben dargestellten Konzeptionen erleben. Diese Entwicklung ist auch deshalb erforderlich, weil eine antisemitismusfreie Katechese und Verkündigung auf die Konvergenz aller theologischer Disziplinen angewiesen ist. Die kirchlichen Zentralbehörden tun gut daran, sich davor zu hüten, den Dialog mit den Juden als religionspolitisches Instrument zur Stärkung ihrer Autorität gegenüber der lokalen Kirche zu gebrauchen. Sie müssen sich der jüdischen Dialogszene anpassen, die stark von einzelnen geprägt wird. Literatur A b r a h a m David, Gedalya ibn Yahia's Chain o f Tradition: Imm. 12 (1981) 6 0 - 7 6 . - Al-Chazari, Aus dem Arab. des Abu L - H a s a n Jehuda Hallevi, übers, v. Hartwig Hirschfeld, Breslau 1885. Gregory Baum, T h e Jews. Faith and Ideology: T h e Ecumenist 10 ( 1 9 7 1 / 7 2 ) 7 1 - 7 6 . — Ders., T h e Doctrinal Basis for Jewish-Christian Dialogue: T h e M o n t h 2 2 4 (1967) 2 3 2 - 2 4 5 . - Günter Biemer, Freiburger Richtlinien zum Lernprozeß Christen Juden, Düsseldorf 1981. - J . David Bleich, With Perfect Faith. T h e Foundation of Jewish Belief, N e w York 1983. - H a n s Conzelmann, Heiden Juden - Christen, Tübingen 1981. - Helga C r o n e r (Hg.), Stepping Stones to Further Jewish-Christian Relations. An Unabridged Collection o f Christian Documents, N e w York 1977. — Dies. (Hg.), M o r e Stepping Stones to Jewish-Christian Relations. An Unabridged Collection of Christian Documents 1 9 7 5 - 1 9 8 3 , N e w York 1985. - Bernhard Doering, Jacques Maritain and the French Catholic Intellectuals, N o t r e D a m e / I n d i a n a 1983. - M a r c e l J. Dubois, Rencontres avec le Judaism en Israel, Jerusalem 1983. - A. R o y Eckardt, Eider und Younger Brothers, New York 1973. - Ders., Jews and Christians, the C o n t e m p o r a r y Meeting, Bloomington/Indiana 1986. - T o m m a s o Federici, Mission u. Zeugenschaft der Kirche: F r R u 2 9 (1977) 3 - 1 3 . - Eugene F i s h e r / A . James R u d i n / M a r k Tannenbaum, Twenty Years o f Jewish-Catholic Relations, M a h w a h / N . J . 1986. - Handreichung N r . 3 9 (Beschluß 37) für Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden u. der Presbyterien der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1 9 8 0 2 1 9 8 5 . - Daniel J. Harrington, God's People in Christ.

Judentum und Christentum

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John T. Pawlikowski, OSM

Judith/Judithbuch

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Judith/Judithbuch 1. Inhalt 2. Die literarische Technik Programm (Literatur S.407)

3. Datierung und Kanonisierung

4. Das theologische

1. Inhalt Das in drei T e x t f o r m e n (1. griechisch: wohl Original; andere Hypothese: Übersetzung eines verlorengegangenen hebräischen Originals; 2. lateinisch: n a c h eigenen Angaben des H i e r o n y m u s Übersetzung eines uns nicht bekannten aramäischen Textes; 3. hebräisch: mehrere freie, kurze Nacherzählungen jüngeren D a t u m s ; anders Dubarle: Bib 50) überlieferte Buch erzählt die Rettung Israels vor N e b u k a d n e z a r , dem „ K ö n i g der A s s y r e r " . Weil die Völker „der ganzen Erde" diesen nicht bei seinem unmotivierten Feldzug gegen Arphaxad, den „König der Meder", unterstützt hatten, beschließt er nach seinem Sieg über Arphaxad, an den Völkern ein Strafgericht zu vollziehen. So rückt Holofernes, den er damit beauftragt, mit einem riesigen Heer von Ninive aus nach Westen vor: Volk um Volk, Stadt um Stadt ergeben sich freiwillig oder werden erobert; vor allem werden die Heiligtümer zerstört, denn Holofernes hatte den Auftrag, „alle Götter der Erde zu vernichten, damit alle Völker der Erde Nebukadnezar allein dienen und alle Zungen und Stämme ihn allein als ihren Gott anrufen sollten" (3,8). Als Holofernes, nachdem alle Küstenstädte kapituliert hatten, sich dem mittelpalästinischen Bergland, auf dem Israel lebt, zuwenden will, gerät sein Siegeszug ins Stocken. Die Leute von Samaria und Judäa schicken ihm nicht nur keine Kapitulationsangebote, sondern sie blockieren die Straßen, besetzen die Pässe und verschanzen sich in ihren Städten. Als dem darüber erbosten und erstaunten Holofernes der Anführer der ammonitischen Truppen, Achior, die Eigenart Israels mit dem Hinweis erläutert, die Geschichte Israels belege, daß dieses Volk nur mit Erlaubnis des von Israel verehrten Gottes besiegt werden könne, läßt Holofernes den Achior fesseln und an den Abhang werfen, auf dem oben die Stadt Betulia liegt; als die Leute von Betulia dies sehen, holen sie ihn in die Stadt hinauf. Da Nebukadnezar Betulia mit einem militärischen Ring umgibt und die Wasserzufuhr abschneidet, wird die Lage in der Stadt kritisch. Nach 34 Tagen Belagerung, als die Wasservorräte zu Ende sind, fordert deshalb die Bevölkerung die Stadtältesten auf, Holofernes die Stadt zu übergeben. „Wir werden zwar zu Sklaven werden, aber wir werden am Leben bleiben" (7,27). Die Stadtvorsteher stimmen zu, falls der Gott Israels nicht binnen 5 Tagen eine Wende herbeiführe. Als Judith, eine junge tora-observante Witwe, von diesem Gott gestellten 5-Tage-Ultimatum erfährt, ergreift sie die Initiative. Sie verurteilt den Kleinglauben der Leute von Betulia und kündigt an, sie selbst werde ganz Israel mit Gottes Hilfe retten. Festlich gekleidet steigt sie, zusammen mit ihrer Leibmagd, in das Heerlager des Holofernes hinab, wo sie staunend empfangen und zu Holofernes geführt wird, dem sie verheißt, sie werde ihm die rechte Stunde mitteilen, an dem der Gott des Himmels an ihm und durch ihn jenes große Werk vollführen werde, „über das die ganze Erde . . . außer sich geraten wird" (11,16). Am 4. Tag, da Judith im Lager ist, also nach 39 Tagen Belagerung Betulias, lädt Holofernes Judith zu einem intimen Festmahl ein mit der Absicht, sie zu einer Liebesnacht zu verführen. Da er sich dabei, nicht zuletzt in der Vorfreude auf das sexuelle Zusammensein mit Judith, sinnlos betrunken hat und, nachdem er die wenigen Gäste weggeschickt hatte, schließlich auf seinem Diwan einschläft, kann Judith, die ihr eigenes Essen - nach den Gesetzen der Reinheit zubereitet — mitgebracht hatte, dem Holofernes mit dessen eigenem Schwert den Kopf abschlagen. In einem Sack versteckt trägt sie mit ihrer Magd den Kopf noch in der Nacht aus dem Lager hinauf nach Betulia, wo Achior ihn als Haupt des Holofernes identifiziert. Ob dieses Machterweises des Gottes Israels läßt Achior sich beschneiden und wird „in das Haus Israel aufgenommen" (14,10). Als dann, auf Weisung Judiths hin, bewaffnete Gruppen von Betulia aus zum Lager des Holofernes hinabstürmen, will man dort Holofernes wecken - und findet nur seinen kopflosen Körper vor dem Bett. Da bricht im Lager Panik aus, und alle Truppen rennen in wilder Flucht davon, verfolgt und ausgeplündert von ganz Israel, wohin sich die Kunde von dem Geschehen wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Alle Frauen Israels und der Hohepriester von Jerusalem persönlich kommen nach Betulia, um Judith zu ehren. In Prozession ziehen alle hinauf nach Jerusalem, wo ein dreimonatiges Fest am Tempel gefeiert wird. Danach kehrt Judith wieder nach Betulia zurück, wo sie schließlich, 105 Jahre alt, stirbt. „Und es gab niemand mehr, der die Söhne Israels in Furcht versetzte, solange Judith am Leben war, und noch viele Tage über den Tod hinaus" (16,25).

2. Die literarische

Technik

Entgegen der Meinung, das Buch sei erzählerisch disproportioniert, weil die H a u p t heldin Judith erst im 8. Kapitel eingeführt werde (u. a. Alonso-Schökel, D a n c y , Oester-

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ley), ist eine planvolle Struktur zu erkennen, vor allem wenn das Hauptthema beachtet wird, das mit Jes 43,11 so formuliert werden kann: „Ich bin Jahwe und außer mir gibt es (für dich) keinen Retter." Z w a r wird die Rettung durch Judith vermittelt, aber sie ist „ n u r " Instrument der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen dem Gott Israels und dem „ G o t t " Nebukadnezar, dessen universaler Machtanspruch in Kap. 1 - 7 entfaltet wird; ohne diese Kapitel verliert die Erzählung ihre Tiefendimension. Das Buch ist weniger zweiteilig (Haag: Kap. 1 - 8 ; 9 - 1 6 ; u.a. T. Craven: Kap. 1 - 7 ; 9 - 1 6 ) , als vielmehr dreiteilig (Weimar, Winter, Zenger: Kap. 1 - 3 ; 4 - 7 ; 8 - 1 6 ) angelegt, wobei jeder Teil doppelt so umfangreich ist wie der vorangehende. Der 1. Teil entwickelt den göttlichen Anspruch Nebukadnezars (besonders 2 , 1 - 3 ; 3,8), woraus sich die dem Holofernes in den Mund gelegte Frage „Wer ist Gott außer Nebukadnezar?" (6,2) ergibt, die für Israel eine Schicksalsfrage über Leben und Freiheit ist, wie der 2. Teil schildert. Auf die Frage antwortet der 3. Teil: Durch die Tat Judiths demaskiert Jahwe nicht nur die trügerische (Ohn-)Macht Nebukadnezars, sondern erweist sich zugleich als der wahre Gott, der die Unterdrückten, die sich von ihm wie Judith führen lassen, rettet. Weil es dem Erzähler nicht nur um ein einmaliges Rettungsgeschehen geht, sondern um die zentralen Fragen: „Wie erweist sich die Göttlichkeit Jahwes für Israel? Wie kann Israel überleben angesichts der scheinbaren Übermacht seiner Feinde? Worin findet Israel Kraft, vor den politischen Systemen, die Unterwerfung und Anbetung fordern, nicht zu kapitulieren?", verwendet er eine vielschichtige Collagentechnik, um die „Bühne" seiner Erzählung und die auf dieser handelnden personae dramatis zu kennzeichnen. Entgegen den in der Auslegungsgeschichte von Jdt oft unternommenen Versuchen, die historischen und geographischen Einzelangaben zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen, das auf ein historisches Einzelereignis passen würde, sind Rahmen, Szenerie und Personen dieses Buchs als literarische Fiktion zu bestimmen, die aus der Geschichtserfahrung Israels „Einzelmateriale" aufgreift, sie typisiert und zu einem Geschichtskonstrukt zusammenbindet, um so eine Gesamtdeutung von Geschichte überhaupt zu geben. Die immer wieder festgestellten Ungereimtheiten bei der Etikettierung der handelnden Personen (Nebukadnezar, Arphaxad, Holofernes usw.) und bei der Topographie der Feldzüge Nebukadnezars bzw. Holofernes' sind weder durch Unkenntnis noch durch Versehen des Erzählers, sondern durch seine literarische Technik zu erklären, den Machterweis Jahwes durch Judith auf einem imposanten theatrum mundi spielen zu lassen. Die handelnden Gestalten tragen als Typen deshalb die Züge von Gestalten, wie sie Israel im Laufe seiner Geschichte immer wieder erlebt hat. So ist die Gestalt des „Assyrers Nebukadnezar" zunächst angeregt durch den historischen Nebukadnezar, der die bis zur Entstehungszeit von Jdt nachhaltigste und tiefste Krise des alttestamentlichen Jahwevolkes bewirkt hat; aber er trägt zugleich Züge, die auf die Erfahrungen Israels mit Antiochus IV. Epiphanes und viel früher mit Sanherib von Assur zurückgehen. Ähnlich ist Holofernes Typ jener macht- und kriegsbesessenen Feldherren, die Israels Tradition von Sisera (Jdc 4) bis hinab zu Nikanor (I Makk 7; II Makk 15) kennengelernt hat. Aber auch die Gestalt Achiors, die innerbiblische Vorbilder in Bileam und in Rahab sowie ein außerbiblisches Vorbild in Achikar hat und dessen N a m e „Bruder des Lichts" ähnlich wie der Judiths ( = „die Jüdin") zugleich ein theologisches Programm anzeigt, ist Typos des weisen Heidentums, das die Macht Jahwes erkennt und sich voll zum Jahweglauben bekehrt. Auch die kontroverse Frage nach der Identität Betulias ist von der programmatischen Fiktionalität her zu klären. Die Lage Betulias an der Paßstraße von der Jesreelebene hinauf ins Bergland von Samaria/Judäa ist wohl angeregt durch die Jaelgeschichte (Jdc 4 - 5 ) und die Nikanorerzählung (II Makk 15), aber es ist müßig, eine historische Lokalisierung (z.B. Torrey: Sichern; Zeitlin: Bethel) zu versuchen. Betulia ist ein „Programmort", dessen Bedeutung immer noch am besten als gräzisierte Form des hebräischen bet ve löa = „ H a u s Gottes" („Gotthausen") verstanden wird (andere Deutung: H a u s des Aufstiegs; Jungfrau): Wo der Gott Israels wohnt, findet die widergöttliche Macht ihr

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Ende! Dabei mag ein kritischer Ton mit Blick auf Jerusalem mitschwingen: Durch die Tat einer Frau aus der Provinz wurde Jerusalem und sein Tempel gerettet. Auch die chronologischen Angaben haben theologische Funktion. Daß der Befehl des Nebukadnezar zum Strafgericht in dessen 18. Regierungsjahr ergeht (2,1), spielt auf das Jahr 587 der Zerstörung Jerusalems (vgl. Jer31,l; 52,29) an. Diesmal freilich wird Jerusalem gerettet —durch die gottesfürchtige, tora-observante und mutige „Jüdin"! Von daher ist das Buch Jdt eine kontrafaktische Utopie. Die Siegergeschichte der Mächtigen kann durchbrochen werden durch die Glaubenstreue der Schwachen und Armen (zur Bedeutung weiterer chronologischer Angaben vgl. Zenger, Judit 435). Literarisch ist das Buch nicht als Novelle, (Volks-)Märchen, Midrasch, apokalyptisierende Haggada, sondern als romanhafte Erzählung mit didaktischer Absicht („weisheitlicher Roman") zu bestimmen, insofern: (1) die erzählte Rettung Israels in die komplexe Weltgeschichte verflochten ist, (2) in die Rettungserzählung die Bekehrung des Achior hineinverwoben wird, (3) die Erotisierung der Erzählung und das Motiv der sich in der Bedrängnis behauptenden Keuschheit für den in hellenistischer Zeit aufkommenden antiken Roman typisch sind: Judith, die ihren Gott und ihr Volk liebt, wird zu einer rettenden Heldin, weil sie dem sexuellen Liebeswillen des tragikomischen Helden Holofernes widersteht. 3. Datierung und

Kanonisierung

Von 4,3; 5,18 her ist für die Erzählung, die möglicherweise nachträglich eine apokalyptisierende, Jerusalem noch stärker herausstellende Bearbeitung erfahren hat, auf jeden Fall nachexilische Entstehung anzunehmen. Wegen des teilweise persischen Kolorits (z. B. die Eigennamen Holofernes, Bagoas; Wendung „Erde und Wasser bereithalten": 2,7; „Gott des Himmels": 5,8; „Satrap": 5,2; „erst vor kurzem waren sie aus der Gefangenschaft heimgekommen": 4,3) und unter Identifizierung von „Nebukadnezar" mit Artaxerxes III. Ochus (358-338 v.Chr.) wird häufig spätpersische oder frühhellenistische (vgl. „Kränze" als Kopf- und Haarschmuck: 3,7; „Palmzweige" bei der Prozession: 15,12f) Datierung vorgeschlagen. Für die (wahrscheinlichste) Ansetzung um 150 v.Chr. sprechen: 1. die anthologische Traditionsverarbeitung unter Verwendung teilweise sehr junger Texte wie Gen 14; Dan 2 - 3 ; I Makk 7; II Makk 15; 2. 4,3 b dürfte auf die 164 v. Chr. vollzogene „Heiligung" von Tempel und Kultgeräten anspielen; 3. die Erwähnung der yepcmaia und der Rolle des Hohenpriesters; 4. die Bekehrung des Achior ist mit Motiven jüdisch-hellenistischer Bekehrungsgeschichten gestaltet (-»Joseph und Aseneth); 5. die „Armentheologie" von Jdt; 6. die Nennung sonst alttestamentlich unwichtiger Städte ist am ehesten wegen ihrer Bedeutung in I—II Makk verständlich. Noch spätere Datierungen sind problematisch. Da 4 , 4 - 8 das Gebiet von Samaria zu Israel rechnet und da Betulia ein Ort in Samaria ist, für den gleichwohl der Hohepriester von Jerusalem zuständig ist (4,6 u.ö.), setzt Moore Jdt unter Johann Hyrkan an (um 100 v. Chr.), da dieser Samaria seinem Herrschaftsbereich integriert habe: Judith wäre so „die gute Samariterin des Alten Testaments" (vgl. Lk 10,29-37). Zeitlin deutet die 105 Lebensjahre der Judith (16,23) als Anspielung auf die von 168-63 v. Chr. ( = 105 Jahre!) dauernde Epoche der Makkabäer und sieht darin ein Argument für die These, Judith sei eine literarische Nachgestaltung der historischen Königin Salome Alexandra, die 7 8 - 6 9 v. Chr. in Jerusalem regierte. Gaster und Volkmar datieren sogar in die christliche Zeit, weil sie „Nebukadnezar" mit Pompeius bzw. Trajan identifizieren. Zwar ist „die Jüdin" als Paradigma des tora-observanten Judentums gezeichnet (darin nicht nur eine Kontrastfigur zu Esther, sondern auch zu den „Autoritäten" von Betulia und von Jerusalem!), doch dürfte sich eine Herleitung der Erzählung aus pharisäisch-rabbinischer Theologie (so neuerdings wieder Moore) nicht empfehlen, eher ist an asidäische Kreise zu denken, die den jüngsten Entwicklungen der „Makkabäerbewegung" schon wieder kritisch gegenüberstehen. Mantel schlägt Herleitung aus Sadduzäerkreisen vor (u. a. wegen der Betonung der Jerusalemer Priesterschaft).

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W a r u m das Buch z w a r in den griechischen, nicht j e d o c h in den hebräischen K a n o n A u f n a h m e fand (also a p o k r y p h bzw. d e u t e r o k a n o n i s c h ist), läßt sich nur vermuten. Es erklärt sich leicht, wenn J d t ursprünglich auf G r i e c h i s c h verfaßt w a r . Vielleicht e m p f a n d man die A u f n a h m e A c h i o r s „in das H a u s I s r a e l " als im W i d e r s p r u c h zur T o r a (Dtn 2 3 , 3 ) stehend. Weniger wahrscheinlich sind die T h e s e n , J d t sei nicht k a n o n i s c h g e w o r d e n , weil nach der H a l a c h a A c h i o r auch n o c h hätte getauft werden müssen (Orlinsky) oder weil die unkonventionelle J u d i t h nicht in das Welt- b z w . F r a u e n b i l d der R a b b i n e n p a ß t e ( C r a ven). D i e N i c h t - K a n o n i s i e r u n g ist auch um so e r s t a u n l i c h e r , als J d t schon sehr früh mit dem C h a n u k k a f e s t (vgl. J d t 1 6 , 2 5 b) in Verbindung g e b r a c h t wurde. 4. Das theologische

Programm

J d t bietet eine ironische D e m a s k i e r u n g der militärischen G e w a l t und eine erzählende E x p o s i t i o n der Lehre, d a ß J a h w e auf der Seite der B e d r ä n g t e n steht und sie durch die T o r a - O b s e r v a n z befähigt, wie J u d i t h die rechte T a t zur rechten Z e i t zu tun, um inmitten gottfeindlicher M ä c h t e durch ihn (!) gerettet zu werden: „ W e n n keine Gesetzesübertretung (dvoßia) a m Volk haftet, ist ihr G o t t wie ein Schutzschild über i h n e n . . . " (5,21; vgl. ähnlich die S u s a n n a - E r z ä h l u n g in der G - F a s s u n g , nach der „die J ü d i n " vor der ävofiia ihrer eigenen Autoritäten gerettet wird). J d t ist nur s c h e i n b a r ein kriegslüsternes B u c h . D e r G o t t Israels ist im Gegenteil nach e i n e m gleich z w e i m a l angeführten Z i t a t aus E x 15,3 L X X „der G o t t , der den Kriegen ein E n d e s e t z t " (9,7; 16,2). M a n k ö n n t e das B u c h geradezu als eine erzählerische T r a n s p o s i t i o n jenes breiten S t r o m e s alttestamentlicher T h e o l o g i e bezeichnen, wie sie e t w a Ps 1 4 7 , 1 0 f bezeugt: „ N i c h t an der S t ä r k e der R o s s e hat J a h w e L u s t , noch an den Schenkeln des M a n n e s . G e f a l l e n hat J a h w e an d e n e n , die ihn fürchten, die auf seine T r e u e und H u l d v e r t r a u e n " (vgl. a u c h D t n 3 3 , 2 6 - 2 9 ; J e s 3 1 , 5 . 8 ; Ps 4 4 , 2 3 - 2 7 ) . D a ß dies eine s c h ö p f u n g s m ä ß i g gesetzte S t r u k t u r (vgl. besonders 1 6 , 1 3 - 1 6 ) mit universalgeschichtlich-eschatologischer Gültigkeit (vgl. besonders 16,17) ist, bringt J d t in die theologische N ä h e einmal von Ps 2 2 ; H a b 3 und zum anderen von J e s 1 4 , 2 4 - 2 7 ; Ez 3 8 - 3 9 . D a b e i ist b e d e u t s a m , d a ß diese t h e o l o g i s c h e P r o g r a m m a t i k gerade nicht durch ein wunderbares E i n w i r k e n G o t t e s in die G e s c h i c h t e , sondern durch mutiges und kluges E n g a g e m e n t im Stile J u d i t h s W i r k l i c h k e i t wird. Dies arbeitet der E r z ä h l e r d a d u r c h heraus, d a ß er a u f eine ganze R e i h e ü b e r k o m m e n e r und seinen Lesern b e k a n n t e r alttestamentlicher G e s c h i c h t e n anspielt, in denen menschliches H a n d e l n einen M a c h t e r w e i s J a h wes offenbart (vgl. die heldenhafte J a e l und die F r a u von T h e b e z : J d c 4; 9 , 5 3 ; den T r i u m p h des kleinen D a v i d über G o l i a t h : 1 S a m 17; die List des E h u d über E g l o n von M o a b : J d c 3 , 1 2 - 3 1 ; den Sieg A b r a h a m s über die K ö n i g e M e s o p o t a m i e n s : G e n 14; die T r a d i t i o n von der w u n d e r b a r e n Errettung J e r u s a l e m s v o r den Assyrern: II C h r 3 2 , 1 - 2 3 ; die R e t t u n g J e r u s a l e m s vor N i k a n o r : I M a k k 7; II M a k k 15; den w u n d e r b a r e n Sieg J o s a p h a t s über die M o a b i t e r , A m m o n i t e r und M e u n i t e r : II C h r 2 0 , 1 - 3 0 ; Z e n g e r , J u d i t 440-445). Von den vielfältigen Bezügen zum E x o d u s b u c h (vgl. dazu Z e n g e r , J u d i t 4 4 5 f) her ist J d t als „ E x o d u s r o m a n " zu begreifen, in d e m J u d i t h die R o l l e des M o s e ü b e r n i m m t , u m durch die E n t m a c h t u n g des P h a r a o „ N e b u k a d n e z a r " ihrem Volk eine H o f f n u n g zu stiften, „die in Ewigkeit nicht schwinden soll aus den H e r z e n der M e n s c h e n , die der (in J u d i t h offenbar g e w o r d e n e n ) K r a f t G o t t e s g e d e n k e n " ( 1 3 , 1 9 ) . Literatur Kommentare: Luis Alonso-Schökel, Ruth, Tobias, Judith, Ester, Madrid 1973 (Los Libros Sagrados 8). - Charles-James Ball, Judith: The Holy Bible, Apocrypha I, hg. v. Henry Wace, London 1888, 2 4 1 - 3 6 0 . - André Barucq, 2 1959 (SB J XIV). - Edwin Cone Bisseil, The Book of Judith. The Apocrypha of the OT, New York 1986. - Hermann Bückers, 1954 (HBK IV). - Arthur E. Cowley, 1913 (APOT 1), 2 4 2 - 2 6 2 . - John F. Craghan, Wilmington 1982. - J . C . Dancy, 1972 (CNEB 24). Emil Dimmler, München 1922. - Morton S. Enslin/Solomon Zeitlin, 1972 (JAL 7). - Otto F. Fritzsche, Leipzig 1853. - Jehoshua M. Grintz, Jerusalem 1957. - Heinrich Groß, 1987 (Neue E B ) . - J o s e f Keulers, Het Boek Judith, Brügge 1927. - Helmut Lamparter, 1972 (BAT X X V / 2 ) , 1 3 5 - 1 8 2 . - Max

408

Judith/Judithbuch

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Erich Zenger Jülicher, Adolf —> Formgeschichte/Formenkritik Jünger Jesu -> Apostel/Apostolat/Apostolizität Jüngstes Gericht -> Gericht Gottes

409

Jugend Jugend 1. Jugend als soziales und gesellschaftliches Phänomen 3. Evangelische Jugendarbeit (Literatur S.421)

1. Jugend als soziales

und gesellschaftliches

2. Jugend, Religion und Kirche

Phänomen

1.1. Jugend als Idol, Hoffnungsträger und Problemgruppe. Die über Jugend existierenden Bilder sind sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite verbinden sich mit Jugendlichkeit die Ideale eines erstrebenswerten Lebens („jung", „ a k t i v " , „sportlich", „unverbraucht" u. a.). Durch die Medien verstärkt, nutzen Wirtschaft und Marketing dieses Bild als Werbeträger für Kauf- und Konsumanreize. Relativ unverbunden finden sich daneben die Klagen, Befürchtungen und Ängste von Eltern, Politikern und Öffentlichkeit über Konflikte und abweichendes Verhalten. Die Klage über die Schlechtigkeit der jeweiligen Jugend zieht sich durch die europäische Geschichte und zeigt an, daß oftmals gesellschaftliche Probleme und ungelöste und unbewältigte Fehlentwicklungen auf die Jugend projiziert oder an ihr diskutiert wurden. Die Pädagogen stellen dem ihre Entwürfe eines durch -»Bildung und Identitätsvergewisserung zur Selbständigkeit und Mündigkeit befähigten Menschen gegenüber. In verschiedenen geschichtlichen Epochen verband sich mit der Erziehung Jugendlicher oder mit von ihnen selbst inszenierten Bewegungen, Aufbrüchen und Visionen das Bild eines besseren Lebens und einer humaneren Gesellschaft.

1.2. Jugend als historisch

und gesellschaftlich

bedingte

Verhaltensform.

„Jugend" ist

keine natürliche Phase individueller menschlicher Entwicklung, sondern eine historisch und gesellschaftlich bedingte Verhaltensform, die vor allem als ein Ergebnis der abendländischen Kulturgeschichte und in deren Folge der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft anzusehen ist. Jugend kann deshalb auch epochale, schichten- und bildungsspezifische Erscheinungsformen haben. Die frühere Annahme, daß die Merkmale der Jugendphase aus der biologisch-psychischen Entwicklung (Pubertät) erklärt werden können, wurde durch die Untersuchungen von M . Mead in den 20er Jahren in Frage gestellt. Sie wies durch kulturanthropologische Studien in primitiven Gesellschaften nach, daß es Kulturen ohne eine spezifische Jugendphase und die unserem Verständnis nach damit verbundenen Konflikte gebe. Es ist deshalb heute allgemein anerkannt, daß Jugend als ein gesellschaftliches und kulturgeschichtliches Phänomen zu verstehen ist, das durch folgende Merkmale der europäisch-abendländischen Tradition eine spezifische Gestalt erhalten hat, die in anderen Kulturkreisen so nicht zu finden sind: (1) Die Ausbildung einer eigenständigen Jugendphase steht in Zusammenhang mit der Veränderung der Gesellschaft von einem durch traditionale Ordnungen geprägten Gemeinwesen mit relativer Kontinuität zu einem offenen, starken Veränderungen unterworfenen und deshalb notwendigerweise lernfähigen Sozialsystem. Der Ubergang vom 18. zum 19. J h . markiert mit geistesgeschichtlichem Aufbruch ( - • „ S t u r m und D r a n g " ) , beginnender -»Industrialisierung und Ansätzen zur Demokratisierung eine Ausweitung von „ J u g e n d " (über Studenten und Handwerksburschen) in die gesamte Bevölkerung, wobei den Mädchen und ihrer größeren Abhängigkeit und sozial benachteiligenden Rolle sehr lange zu wenig Beachtung geschenkt wurde. (2) Der Gedanke des freien, personalen Menschseins (Subjektivität) schuf die Voraussetzungen dafür, daß Jugendliche sich in persönlicher Freiheit und innerer Unabhängigkeit überlieferte Werte und Lebensformen aneignen bzw. kritisch befragen konnten. Die subjektiv zu leistende Sinnvergewisserung lastet somit der Jugend die Spannung von geschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität auf, die in der Distanzierung vom Überlieferten und der Erprobung alternativer Ausdrucksformen zu bewältigen versucht wird. (3) Jugend entsteht dort als eigenständige soziale Gruppe, w o die Familie nicht mehr in der Lage ist, die zur Erreichung des vollen Erwachsenenstatus notwendigen Qualifikationen zu vermitteln und Entfaltungsmöglichkeiten zu garantieren. Die Gruppe erschließt über den primären familialen Kontext hinaus neue Interaktionsbereiche und schafft gleichzeitig neue Identifikationsmöglichkeiten zum Lebensstil und Verhaltensnormen dieses Bezugsfeldes.

1.3. Ergebnisse der Jugendforschung. Nicht nur die Lebenswelt der Jugend, sondern auch derjenigen, die sie beschreiben und zu deuten versuchen, sind bestimmt durch das

410

Jugend

jeweilige Zeitbewußtsein. Die Zugangsweisen und wissenschaftlichen Ansätze unterliegen auch Interesse und Trends, hinken oftmals den zeitgeschichtlichen Veränderungen hinterher. Die meisten neueren Studien zur Jugendforschung versuchen nicht nur, Jugend in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang heraus zu verstehen, sondern geben damit oft auch eine Diagnose zur geistigen Situation der Gegenwart insgesamt. Über die Einzelbeobachtungen zur Jugendfrage hinaus lassen sie erkennen, welche Rolle die Gesellschaft der Jugend jeweils zumißt. Unter den psychologischen Zugangsweisen ist die Einsicht von E. Spranger epochal geworden, daß die Jugendphase vor allem durch die „Entwicklung des ICH" gekennzeichnet ist als einem notwendigen Durchgangsstadium zwischen dem geistig unentfalteten Kind und der gefestigten Persönlichkeit des Erwachsenen. Diese Krisenzeit lasse über das verstehende Begleiten hinaus wenig pädagogische Einwirkungsmöglichkeiten. Dieser Einschätzung entspricht auch Sprangers Bewertung der Jugendbewegung als einem „gesellschaftlichen Pubertätsphänomen". Einen psychologischen Zugang, der aber endogen-biologische und soziale Faktoren zu einer Persönlichkeitstheorie zusammenfügen möchte, versucht D. Ausubel. Fünf Entwicklungsaufgaben sind für die Jugendphase charakteristisch, nämlich den eigenen Körper kennenzulernen und zu akzeptieren, eine angemessene Geschlechtsrolle zu erlernen, sich von der Beherrschung durch Erwachsene (besonders durch die Eltern) unabhängig zu machen, den wirtschaftlichen Status Erwachsener zu erreichen und ein Wertsystem zu entwickeln. Zu einem den gesamten menschlichen Lebenslauf umspannenden Modell von Stadien kommt E.H. Erikson. In jedem der acht Stadien vom Säugling bis zum hohen Alter kommt es darauf an, eine Balance zwischen Identitätsgewinnung und Identitätsdiffusion zu finden. Für jede Stufe, der eine charakteristische Problemlage entspricht, ist die jeweils vorausgehende Entwicklung im Hinblick auf die Gewinnung einer gesunden und ausgeglichenen Persönlichkeitsstruktur mitentscheidend. In der Adoleszenzphase geht es um die Gewinnung von Ich-Identität in der Gemeinschaft, um die Entwicklung eines Selbstbildes in Identifikation und Ablehnung und um die Orientierung in den Rollen und Wertmustern, die die Gesellschaft anbietet. Erikson will mit dem Begriff Ich-Identität sowohl psychoanalytische Erkenntnisse (besonders von S. Freud) als auch soziale und sozialpsychologische Aspekte einbeziehen. Er hat damit sehr anregend auf sozialwissenschaftliche (Döbert/Nunner-Winkler, Krappmann), pädagogische und auch theologische (Deresch, Hanusch, Kliemann) Überlegungen zur Jugendfrage allgemein und zur Jugendarbeit speziell gewirkt. Döbert/Nunner-Winkler entwickeln aufgrund ihrer Untersuchungen von Kriegsdienstverweigerern, Offiziersanwärtern und Drogenabhängigen eine Typologie möglicher Identitätsformationen. Der Begriff Identität wird zum Teil ungeachtet der psychoanalytischen Herkunft zur Beschreibung pädagogischer Zielvorstellungen oder bestimmter Wertvorgaben benutzt. Eine sozialwissenschaftliche Analyse der Jugend in der Bundesrepublik versuchte in den 50er Jahren H. Schelsky, der Jugend vor allem als soziale Rolle verstand, die zu erlernen ist, um durch eine „zweite soziale Menschwerdung" in die Gesellschaft hineinzuwachsen. Die Suche nach Orientierungs- und Verhaltenssicherheit sei die anthropologische und soziale Grundaufgabe der Jugendphase in der modernen Gesellschaft. Er sieht ebenso wie die amerikanischen Soziologen T. Parsons und S. N. Eisenstadt einen strukturellen Konflikt zwischen familiärem und gesellschaftlich-öffentlichem Bereich, der aber durch eine eigenständige Jugendwelt, wie sie die Jugendbewegung angestrebt hatte, nicht gelöst werden könne. Während Schelsky im Interesse eines möglichst schnellen Erwerbs der Erwachsenenrollen für eine tendenzielle Aufhebung einer eigenständigen Jugendphase plädiert, betont Eisenstadt gerade die Bedeutung spontaner Jugendgruppen und ihre Funktion für die Identitätsfindung und Solidarisierung in Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt. Diese „peergroups" übernehmen ihre „Sozialisation in eigener Regie" (F. Tenbruck) und entwickeln zum Teil eine eigene Jugendkultur, die wiederum auf die

Jugend

411

Gesellschaft zurückwirkt, zum Teil auch durch Vermarktung von Musikkulturen, Moden und Stilen wieder gesellschaftlich vereinnahmt wird. Obwohl es einige kritische Versuche gab, die Bedeutung der Schule für die soziale Chancenverteilung zu beschreiben, auf die besondere Benachteiligung von Mädchen aufmerksam zu machen und schichtenspezifische Sozialisationsformen und Verhaltensweisen darzustellen (Neidhardt, Die junge Generation), wurde das Konfliktpotential unter Jugendlichen gering eingeschätzt und die gesellschaftliche Integration als prinzipiell gelingend vorausgesetzt. Die Schüler- und Studentenbewegung (Ende der 60er Jahre) offenbarte jedoch eine tiefergehende Auseinandersetzung zwischen der „alten Kultur" restaurativer, bürgerlicher Werte der Nachkriegszeit und einer Offenlegung von gesellschaftlichen Konflikten sowie einer Infragestellung überkommener Autoritätsstrukturen. Teile der Jugend verblieben nicht länger in der zugestandenen „pädagogischen Provinz", sondern begriffen sich als Subjekte politisch notwendig erachteter Veränderungen. Die Jugendforschung hatte einen solchen Generationenkonflikt weder als Möglichkeit in Anschlag gebracht noch vorausgesehen. So wurde zu Recht kritisiert (Kreutz), daß die alltagsweltlichen Lebensbedingungen nicht oder nur unzureichend Berücksichtigung gefunden hatten und die psychologischen Merkmale gegenüber den sozialen und politischen Dimensionen überbewertet wurden. Von marxistischen und gesellschaftskritischen Forschern wurden die ökonomische Situation der Jugendlichen und die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Reichtum als grundlegend angesehen. In letzter Konsequenz bedeutete dies jedoch eine Aufhebung einer altersspezifischen Sicht von Jugend. Die Jugendforschung hat aus dieser Situation erst nach und nach Konsequenzen gezogen. Der erkannte Zusammenhang zwischen sozialer Situation Jugendlicher und ihren Denk- und Verhaltensweisen führte dazu, daß man sich verstärkt der Lebenswelt Jugendlicher zuwandte. Der sogenannte „social-problem" - Ansatz beschrieb vielfältige jugendliche Lebensformen, wie z. B. soziale „Aussteiger", Rückzugs- und Fluchtverhalten. Untersuchungen über soziale Problem- und Minderheitengruppen versuchten über wirklichkeitsnahe Beschreibungen und Deutungen ein möglichst realitätsnahes Bild zu entwerfen. Dabei ging es auch darum, anstelle der Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen Jugendliche in ihren Selbstdeutungen zu Wort kommen zu lassen. Teilweise bediente man sich dazu Methoden aus der Ethnologie und Kulturanthropologie, griff auf reportageähnliche Verfahren zurück oder verzichtete auf eine Deutung des erhobenen Materials aus grundsätzlichen Erwägungen. Der von D. Baacke vertretene „sozialökologische Ansatz" gliedert das Lebensumfeld Jugendlicher in verschiedene Zonen, um aus der Perspektive der Jugendlichen selbst das Netz sozialer Beziehungen, Kommunikationsstrukturen und ökonomischer Abhängigkeiten zu beschreiben. Solche Lebensweltanalysen legen die vielschichtige Beziehung von Mensch und Umwelt offen und ermöglichen unmittelbare Zusammenarbeit von Forschung mit Jugend- und Sozialarbeit sowie politischen Planungsund Mitentscheidungsprozessen vor Ort. Studien im Zusammenhang mit den Jugendbewegungen zu Beginn der 80er Jahre (besonders in Zürich, Berlin, Freiburg, Nürnberg) versuchten, Gruppen Jugendlicher und junger Erwachsener als Faktoren sozialen Wandels und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Demokratisierungs- und Erneuerungsprozesse zu beschreiben (Hollstein; Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat"). Jugendliche Subkulturen und Gruppenstile wurden nicht nur in ihrer abweichenden, sondern auch in ihrer sozialen und kreativ-innovativen Bedeutung erkannt. Einen Überblick über die Gruppenstile und jugendlichen Ausdrucksformen (seit der Jahrhundertwende) vermittelt der Band Schock und Schöpfung (1986). Die Arbeiten der Birminghamer Subkultur-Forschungsgruppe (Clark u. a.) lassen erkennen, daß viele Stilbildungen an das Großstadtmilieu gebunden sind. Die von Habermas vorgenommene Einteilung der Gruppen in Emanzipations- (Frauen-, Bürgerrechtsgruppen, Jugendzentrumsbewegungen u.a.), Widerstands- (Friedensbewegung, Hausbesetzer, alternative Projekte u.a.) und Rückzugspotentiale (Psychogruppen, Jugendreligionen, Punks, Fangruppen, neofaschistische Gruppen, Rocker u. a.) bewertet diese im Hinblick auf ihre soziale und politische Funktion.

412

Jugend

Die Shell-Studie '81 nahm den alltagsorientierten Forschungsansatz auf und stellte ein sehr vielschichtiges Selbstbild Jugendlicher dar. Gleichzeitig wurde in dieser Untersuchung versucht, den Bewußtseinswandel unter Jugendlichen aufgrund möglichst verläßlicher Datenlage zu beschreiben. Vor allem drei Beobachtungen haben zu weiterführenden Diskussionen angeregt: M a n glaubt erstens, einschneidende Veränderungen in der Altersgliederung feststellen zu können, und zwar dergestalt, daß insbesondere durch verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten und durch unfreiwillige Arbeitslosigkeit sich die Jugendphase zeitlich ausdehnt. Einer altersmäßigen Vorverlagerung der Mündigkeit steht eine längere ökonomische Unselbständigkeit gegenüber. Diese These wurde in weiteren Untersuchungen (Shell 85) präzisiert und differenziert. Zweitens ist bei einem hohen Prozentsatz von Jugendlichen ein Bedrohungsgefühl durch Umweltzerstörung, Militarisierung und Zukunftsunsicherheit vorhanden. Diejenigen, die dies als beängstigend empfinden, sind jedoch zu persönlichen und politischen Schritten bereit, wogegen die, die ein positives Grundempfinden zeigen oder Probleme zu verdrängen neigen, politisch abstinent bleiben. Die hiermit angedeutete Polarität von zwei unterschiedlichen, wenn nicht gegensätzlichen, Orientierungsmustern bestimmt in der Tat das politische Meinungsklima in der Bundesrepublik gegenwärtig, wobei jedoch angemerkt werden muß, daß diese Einschätzungen nicht auf Jugendliche beschränkt sind, sondern, wenn auch in anderen Gewichtungen, die Gesamtbevölkerung durchziehen. Drittens ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Wertehierarchie zu beobachten. Jugendliche scheinen die vornehmlichen Träger der sogenannten „postmateriellen" Orientierungen zu sein (R. Inglehard), also einer H o c h s c h ä t zung von Werten wie Selbstverwirklichung, partizipatorischen Lebensformen, sanfter Technologie gegenüber Fortschrittsglauben, Leistungswillen und Durchsetzungsvermögen.

Auch andere Studien (SINUS-Studie) beschreiben diesen Wandel, der sich auch in einem veränderten Arbeits-, Freizeit- und Politikverständnis niederschlägt, oder vertiefen diese Beobachtungen durch Zeitvergleiche; so bietet die Shell-Studie '85 einen umfangreichen Vergleich der gegenwärtigen Generation mit der der 50er Jahre und dokumentiert den Einstellungswandel in zahlreichen Bereichen (verändertes Sexualverhalten, politisches Beteiligungsverhalten, Bedeutung der Konfessionsbindung usw.) 1.4. Perspektiven. Die Erweiterung des Bildungswesens (mehr als Verdoppelung bis Verdreifachung der Schüleranteile in den weiterführenden Schulen seit 1960) hat allgemein zu höheren Bildungsabschlüssen geführt, die jedoch angesichts der Arbeitsmarktsituation für viele Jugendliche keine besseren beruflichen Perspektiven versprechen. Dadurch verstärken sich nicht nur Leistungsdruck und Verdrängungswettbewerb, sondern mangelnde Lebensperspektiven haben nachhaltige Folgen auf Selbstwertgefühl und Sinnfindung. Die sozialintegrative Funktion von Bildung und Erwerbsarbeit schwindet, wodurch sich vermehrt Wünsche und kompensierende Erwartungen auf den Freizeitbereich richten. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zwingen nicht nur zu Neuorientierungen, sondern stellen die Jugendphase in ihrer bisherigen Funktion infrage (Nunner-Winkler, Münchmeier). Viele Jugendprobleme können nicht mehr jugendbegrenzt beantwortet werden, sondern machen eine Antwort der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf die Frage nach ihrer Zukunftsperspektive und ihrem Hoffnungspotential unabweisbar. Angesichts des Scheiterns des fortschrittgläubigen und bildungsoptimistischen Lebensentwurfs findet die Gesellschaft in den Problemen der nachwachsenden Generation ihre eigenen ungelösten Perspektiven vor und neigt dazu, diese der nachwachsenden Generation aufzulasten und zu vererben. 2. Jugend,

Religion

und

Kirche

2.1. Verhältnis Jugendlicher zu Religion und Kirche. Die Ausweitung des Orientierungshorizontes in der Jugendphase bedingt neben Schritten zur eigenständigen personalen Identität und Selbstdefinition auch eine Beschäftigung mit Moralvorstellungen und Sinnfragen. Die noch in Untersuchungen zur seelischen und religiösen Entwicklung in den 50er Jahren unterstellte besondere Beziehung der Jugendphase zu religiösen Ausdrucksformen und Gedankenwelt wird heute nicht mehr so vertreten. Der Zusammenhang mit

Jugend

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der gesamten lebensgeschichtlichen Entwicklung und die Wechselprozesse des Austausches von Individuum und Gesellschaft werden gesehen. Angesichts der beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen ist die Suche nach Orientierung und Selbstvergewisserung eine Aufgabe, die heute von fast jeder Altersstufe jeweils neu zu leisten ist. Die weitgehende Deckungsgleichheit von Religiosität, christlichem Glauben und Kirchenzugehörigkeit ist derzeit kaum noch gegeben. Eine Ende der 50er Jahre durchgeführte Studie (Wölber) über das Verhältnis von Mitgliedern evangelischer Jugendgruppen zur Gesamtheit evangelischer Jugendlicher ergab, daß sich zwischen beiden Gruppen keine gegensätzlichen Einstellungen feststellen lassen, sondern daß die an der Jugendarbeit Teilnehmenden nur eine höhere Zustimmungsbereitschaft in Glaubensfragen erkennen lassen als die Gesamtheit. Wölber leitete daraus seine These von der „Religion ohne Entscheidung" ab. Angesichts des Traditionsabbruchs vor allem in den 60er Jahren wird man heute nicht mehr in diesem Maße von einem gemeinsamen christlichen Grundwissen und christlichen Überzeugungen ausgehen können. Vielmehr hat sich ein plurales Feld ausgebildet, in dem die Kirchen und ihr Verständnis christlichen Glaubens nicht mehr ohne weiteres die gesellschaftliche Monopolstellung im Hinblick auf Wertbildung, -»Religion und Sinndeutung beanspruchen können. Das über Jahrhunderte selbstverständliche Zusammenspiel von christlicher -»Sozialisation durch Familie, Schule und Kirche hat sich in vielen Bereichen gelöst, wobei die Kirche nur in begrenztem M a ß e eine verblassende christliche Sozialisation im Elternhaus ersetzen kann. Ebenso zeigt sich auch eine nachlassende Bedeutung der konfessionellen Unterschiede. Diese werden weniger als noch vor einigen Jahrzehnten als Hindernisse bei Freundschaften, Gruppenzugehörigkeit oder Partnerwahl angesehen. Die Beschreibung der Religiosität Jugendlicher versucht, die zentralen Lebensthemen zu erfassen, die den Jugendlichen in seiner gesamten Persönlichkeit betreffen. Die Grenzlinie wird dabei weniger zwischen Religiosität und Frömmigkeit einerseits und Säkularisierung und Rationalismus auf der anderen Seite gesehen, sondern vielmehr in der Fähigkeit, die persönlichen und gesellschaftlichen Probleme in ihrer Tiefe wahrzunehmen und zu durchdringen, gegenüber einem technokratischen Lebensverhältnis, das die Alltagsprobleme in einer unkritischen und pragmatischen Weise zu bewältigen versucht. Spiritualität und meditative Formen finden derzeit unter vielen Jugendlichen großen Zuspruch, sei es in christlich-religiöser Gestalt (Taize, spirituelle Zentren), durch Einflüsse asiatischer Religionen (Buddhismus, Lektüre von H. Hesse) sei es durch säkulare Formen (Yoga, Psychotraining). Aufgrund der Analyse schriftlicher Texte von Berufsschülern sieht K. E. Nipkow vier Bereiche, in denen Jugendliche religiöse Fragen artikulieren, im wesentlichen als erlebte Verunsicherungen und Spannungen. (1) Sie erleben persönliches Leid und sind enttäuscht, daß Gott nicht als Helfer und Garant des Guten eingreift. (2) Ob Gott als Schlüssel der Welterklärung und des Sinns von Leben und Tod gelten kann, bleibt eine offene Frage; (3) ebenso, ob Gott real existiert oder nur als eine Fiktion. (4) In den zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Kirche sollte der christliche Glaube glaubwürdiger gelebt werden. Während im Gegensatz zu Berufsschülern Jugendliche der weiterführenden Schulen bereiter sind, in abstrakten und begrifflichen Zusammenhängen zu denken, ist beiden gemeinsam, daß ihnen eine Beschäftigung mit religiösen Fragen als eine Alternative zu einem nur auf Materielles ausgerichteten Lebensstil erscheint. Für das Verhältnis zum christlichen Glauben ist charakteristisch, daß er sich über individuelle Erfahrungen erschließt. Allgemeine christliche Werte (Nächstenliebe, Frieden, Mitmenschlichkeit u.a.) werden zwar geteilt, aber bedingen noch nicht ein explizit christliches Selbstverständnis. Ein Zugang findet deshalb weniger durch die Übernahme und Auseinandersetzung mit der Gesamtheit der christlichen Lehre statt, sondern über Bereiche persönlicher Betroffenheit. Das Verhältnis Jugendlicher zum christlichen Glauben gestaltet sich nicht spannungsfrei. Die „fragende Grundbefindlichkeit" ist keines-

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wegs eine Attitüde der Distanzierten, sondern auch eine Haltung überzeugter und in der Kirche engagierter junger Christen. Das Eingeständnis des eigenen Suchens und Zweifeins wird nicht als glaubensfremde, sondern als ehrliche, authentische und dem Glaubensverständnis adäquate Grundhaltung empfunden. Gleichzeitig hat sich der christliche Glaube teilweise von privatisierenden Moralvorstellungen gelöst. Die Zustimmung zu sozialethischen und gesellschaftlichen Fragen (z. B. Friedenspolitik, Verhältnis zur Dritten Welt, Rolle der Frauen) als legitime und notwendige Felder christlicher Urteilsbildung und kirchlichen Handelns ist gestiegen (Jugend auf dem Kirchentag 1984). Die Erfahrungen, die Jugendliche mit Kirche machen, werden am nachhaltigsten durch den kirchlichen Unterricht und die Person des Pfarrers geprägt (Feige). Gegenüber traditionellen Angeboten der Kirche (besonders dem sonntäglichen Gottesdienst) finden sich nach wie vor starke Zurückhaltung bis offene Ablehnung Jugendlicher, die auch die traditionelle kirchliche Sprache und die biblisch-theologische Denkwelt betreffen. Auf der anderen Seite machen Jugendliche positive Erfahrungen bei der Teilnahme an Jugendgruppen, Freizeiten, Kirchentagen und anderen Veranstaltungen, bei denen die sonst greifenden Vorbehalte keine Schwelle zu bilden scheinen. Jugendliche erwarten sich von der Kirche Freiheit in der Entscheidung für oder gegen den christlichen Glauben ohne Zwang oder versteckte Drohung, den Erweis ihrer Glaubwürdigkeit ohne den Verweis auf Autoritäten, orientierende Hilfe ohne Herrschaftsanspruch und Alltagswahrhaftigkeit ohne die Forderung nach blinder Zustimmung (Feige). Das Verhältnis von Jugend, Religion und Kirche in anderen Ländern k o m m t gegenwärtig mehr in den Blick (Affolderbach; N e m b a c h , s.Lit. zu 3). In fast allen europäischen Staaten läßt sich ein Nachlassen der christlich-kirchlichen Prägung Jugendlicher feststellen, anders in einer Reihe von afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. In Großbritannien hat L . J . Francis eine Studie über Glaubenseinstellungen jugendlicher Kirchgänger vorgelegt, die ebenfalls eine eigenständige Auseinandersetzung Jugendlicher mit der kirchlichen Lehre beschreibt. In den USA hat M . P. Strammen in Replikationsstudien 1 9 7 0 , 1 9 7 4 , 1 9 7 9 über religiöse Einstellungen Jugendlicher einen Wandel im Bewußtsein von stärker gesellschaftsorientierten zu mehr privatisierten Denk- und Glaubensmustern nachgewiesen.

2.2. Kirchliche Arbeitsfelder mit (Kindern und) Jugendlichen. Die kirchlichen Arbeitsfelder mit (-»Kindern und) Jugendlichen sind sehr vielfältig. Im Rahmen der örtlichen Kirchengemeinden existieren neben den Kindergärten und den sonntäglichen -> Kindergottesdiensten in der Regel Kindergruppen für die Altersstufe von 8 bis 13 Jahren, in denen neben Spiel und Geselligkeit religiöse Erziehung, Bildungsangebote und anderes angeboten werden. Teilweise finden diese als Teil der von freien Verbänden organisierten Jugendarbeit (s.u. 3.1) in der Gemeinde statt (z.B. Jungschar des C V J M , Kindergruppe der christlichen Pfadfinder) oder in Selbstinitiative engagierter Personen. Der (je nach Landeskirchen) ein- bis zweijährige kirchliche Unterricht (—>Konfirmation; ->Katechetik) wird von fast allen evangelischen Jugendlichen wahrgenommen und hat neben der herkömmlichen Unterrichtsform neue Elemente übernommen (z.B. Kurssystem, Freizeiten). Statistisch finden sich in jeder Kirchengemeinde vier (Kinder- und) Jugendgruppen. Diese sind in den meisten Fällen koedukativ und werden von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet. Neben festen Gruppen finden sich Jugendzentren, Teestuben, Jugendwerkstätten, Bildungs- und jugendtouristische Angebote. Der Religionsunterricht ist an den öffentlichen Schulen (-»Religionspädagogik) ordentliches Lehrfach. Abmeldung (ab Religionsmündigkeitsalter) oder Wechsel in das Fach Ethik spiegeln die Einschätzung des Faches durch die Schüler wider. Zahlreiche Einrichtungen der Jugendsozialarbeit und der Jugendhilfe (—»-Diakonie) sind in kirchlicher Trägerschaft. Die evangelische -> Militärseelsorge betreut die eingezogenen Wehrpflichtigen, von den Zivildienstleistenden (-»Krieg/Kriegsdienst) sind ca. 2 0 % in evangelischen Einrichtungen tätig. Im Hochschulbereich existieren 115 evangelische -*• Studentengemeinden.

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2.3. Theologische und pädagogische Aspekte. M i t dem Stichwort Jugend ist die Frage nach der Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation gestellt. Die Weitergabe ist jedoch keine einfache Übereignung, sondern eingespannt in das Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität geschichtlicher Prozesse. Überlieferungen bieten für die nachwachsende Generation ein Netz von Denk- und Lebensformen, die stets neu unter die Anforderung ihrer Verstehbarkeit (-»Hermeneutik) und ihrer lebenspraktischen Bedeutung gestellt wird. Die alttestamentliche Frage des Sohnes an den Vater mit der Bitte um Erläuterung der überlieferten Rechte und Gebote (Dtn 6,20 ff) ist das biblische Grundmodell eines dialogischen Gespräches zwischen verschiedenen Generationen. Erst im Verstehensprozeß können Erfahrungen der „ V ä t e r " zu Erfahrungen der „ S ö h n e " werden und Traditionen zu neuen Lebensentwürfen und Zukunftsperspektiven. Dieses Grundproblem hat in der jüngsten Vergangenheit unterschiedliche Antworten erfahren. Vor allem in den 50er Jahren wurde die Einübung in den christlichen Glauben im Sinne einer Unterweisung der jungen Generation als Konzept verstanden, das verkündigendes, unterrichtendes und seelsorgerliches Handeln der Kirche umfaßt. In dem folgenden Jahrzehnt wurde der als selbstverständlich unterstellte Wissens- und Erfahrungsvorsprung der erwachsenen Generation infrage gestellt und diese Konzeption mit der selbstbewußten und kritischen Emanzipation der Jüngeren in sich erschüttert. Der Anspruch der überlieferten Institutionen wurde hinterfragt und das Recht der kritischen und eigenständigen Position der Jugend unterstrichen. Dem Modell der lehrenden Vermittlung wurde das Modell der konfliktorientierten Auseinandersetzung um Anspruch und Gestalt der überlieferten Lebensformen entgegengestellt (Konflikte im Erziehungsfeld). In dieser Konfliktsituation wird deutlich, daß sich mit dem Stichwort Jugend gleichzeitig verschiedene Probleme überschneiden. Einerseits spiegelt sich im Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen der Gegensatz von Institution und Wandel, von überkommenen Kirchenstrukturen und der Notwendigkeit steter Erneuerung und Reform. Der Generationskonflikt stellt sich als Autoritätskonflikt dar. Zweitens kann das Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen als Spannung zwischen christlicher Tradition und den Folgen der Säkularisierung erscheinen. Der Traditionsabbruch markiert die Trennlinie, die sich zwischen die Generationen legt und sie in Denken und Lebensstil trennt. Die Diskussionen der letzten Jahre haben jedoch die Einsicht gefördert, daß die Konflikte zwischen den Generationen die Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit unausweichlich machen. Wo dies ansatzweise eingelöst wird, erweisen sich viele Konflikte als nicht jugend- und erwachsenenspezifisch (Miteinander leben lernen). Aufgrund der nachlassenden Traditionslenkung und der christlich-religiösen Sozialisation ist seit Mitte der 70er Jahre verstärkt über die Notwendigkeit elementarer Glaubensinformationen nachgedacht worden. Der Zusammenhang von Glauben, Leben und Lernen wird intensiv durchdacht (Zusammenhang von Leben; diverse Projekte des Comenius-Instituts). Alltagserfahrung, religiöse Grunderfahrung und Gotteserfahrungen sollen in einem Prozeß miteinander verbunden werden und durch Sinnerschließung und Traditionsverstehen Wege zu einem persönlichen und mündigen Glauben ermöglichen. Verbunden wird dieser Ansatz mit (aus den USA stammenden) Überlegungen zu spezifischen Problemkonstellationen in der biographischen Entwicklung des einzelnen (Lebenslaufforschung). Mit Aufnahme von entwicklungspsychologischen Erkenntnissen beschreibt K . E . Nipkow (Grundfragen II) Identitätssuche, Autoritätskonflikt, Wahrheitssuche u.a. als Grundelemente der Jugendphase. Das Konzept der „Gemeindepädagogik" versucht die unterschiedlichen Formen und nach Altersstufen aufgefächerten kirchlichen Angebote zusammenzudenken und die Gemeinde als Ort und Raum eines generationsübergreifenden und verschiedene Lebensbereiche umfassenden Lernprozesses zu verstehen. Ein etwas anders akzentuierter, aber mit dem vorgenannten zu verbindender Gedanke ist die Bestimmung der Rolle der Jugend im Zusammenhang von evangelischer Freiheit und kritischer Bildung. -»Bildung wird verstanden als ein umfassender Prozeß „der

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Wiederentdeckung des verborgenen Bildes Gottes im Menschengeschlecht" (A. Comenius). Dieser Ansatz geht nicht vom Biographischen oder vom Gemeindeverständnis aus, sondern von einem geschichtlichen bzw. heilsgeschichtlichen Verständnis, in dem der Jugendliche in der Freiheit des Evangeliums und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Vorfindlichen an der Suche nach einer menschlichen und dem Reich Gottes entsprechenden Lebenswelt teilhat (C. Bäumler: Evangelische Schülerarbeit [s. Lit. zu 3]). Während man im europäischen Denken dazu neigt, den Jugendlichen als noch nicht fertige, noch zu entwickelnde und damit defizitäre Person zu verstehen oder als jemandem, dem man sich angesichts seiner Probleme helfend und unterstützend zuwenden müsse, findet sich in der ökumenischen Diskussion eine sehr positive Bewertung der Jugend. So wird beispielsweise im pastoralen Entwurf des Lateinamerikanischen Bischofsrates 1984 die Jugend als Hoffnung für die Kirche bezeichnet. Eine prophetische Kirche verstehe die Jugend angesichts der brennenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme als Vorkämpfer für den Aufbau einer Zivilisation der Liebe, die wirksame Veränderungen in Richtung auf das Reich Gottes hin bewirken könne. 3. Evangelische

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3.1. Angebotsformen, Strukturen und Trägerschaft. Mit Jugendarbeit werden Angebote von Jugendverbänden, -vereinen, Initiativen, freien Gruppen und anderen Trägern beschrieben, die von Jugendlichen prinzipiell freiwillig wahrgenommen werden. In Abgrenzung davon gehören zu dem Bereich der Jugendsozialarbeit Hilfen zur Integration in Beruf und Gesellschaft. Bund und Länder stellen für diese Bereiche Personal-, Sach- und Programmförderung zur Verfügung. Evangelische Jugendarbeit wird derzeit in sehr vielfältigen Formen und verschiedenen Trägerschaften angeboten. Sie kann als kirchengemeindliche Arbeit durch den Pfarrer/ Pfarrerinnen oder von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern/innen durchgeführt werden. Mitarbeiter mit biblisch-theologischen, pädagogischen, sozialpädagogischen oder psychologischen Qualifikationen können sowohl von der Ortsgemeinde, dem Kirchenkreis/Dekanat oder einem anderen Träger (z. B. CVJM) angestellt sein. Die Zusammenarbeit von Kirchengemeinden, sowohl mit freien evangelischen Jugendverbänden als auch mit anderen Gruppen (z. B. Friedensdienste, Dritte-Welt-Gruppen, missionarische Initiativen), ist regional sehr unterschiedlich. Auf überregionaler Ebene gibt es Stadt- und Landesjugendpfarrämter, Verbandszentralen auf Landes- und Bundesebene, Jugendbildungsstätten, Jugendakademien und andere. In den Landeskirchen sind in der Regel Landesjugendkammern oberste Repräsentations- und Entscheidungsgremien. In einer Reihe von Landeskirchen gibt es Vertretungsstrukturen ehrenamtlicher Mitarbeiter. Über institutionelle Zusammenarbeit gemeinsamer Arbeitsvorhaben oder personelle Kontakte existieren vielfältige Verbindungen zu anderen Jugendverbänden, zu Jugendringen, Initiativen, Projektgruppen und Netzwerken als auch zu staatlichen, kirchlichen und ökumenischen Partnern national und international. Auf Bundesebene wird die evangelische Jugendarbeit durch die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) vertreten, die offiziell eine Zahl von 950.000 durch sie vertretene Jugendliche angibt (1963: 1,4 Millionen). Die Statistik der EKD (1986) weist 41.657 Kinder- und Jugendkreise mit 554.000 Teilnehmern in den Gliedkirchen der EKD aus. Man kann davon ausgehen, daß ca. 20% der konfirmierten Jugendlichen durch Angebote der evangelischen Jugendarbeit erreicht werden. Der Sprachgebrauch ist nicht einheitlich. „Kirchliche Jugendarbeit" betont die Trägerschaft der Kirche, wogegen „evangelische Jugendarbeit" auch die freien (evangelischen) Verbände und Vereinigungen einschließt. Trotz wachsender ökumenischer Zusammenarbeit ist der Begriff „christliche Jugendarbeit" wenig gebräuchlich. Oftmals dienen Adjektive dazu, ein bestimmtes Konzept oder inhaltliches Profil hervorzuheben (z.B. missionarische, ökumenische, offene Jugendarbeit).

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3.2. Geschichte. Die Anfänge evangelischer Jugendarbeit gehen auf die Initiativen einzelner Personen in der ersten Hälfte des 19. J h . zurück. In den 20er Jahren sammelt Ludwig Hofacker als Student in Tübingen einen Studentenbibelkreis um sich, später in Stuttgart einen Bibelkreis für Schüler, der Nachahmer findet: z . B . Emil Wilhelm Krummacher in Barmen. Neben diesen durch die - > E r w e k kungsbewegung geprägten Anstößen, aus denen weitere Kreise mit jungen Handwerkern und der erste Missionsjünglingsverein 1829 in Barmen ins Leben gerufen werden, entsteht eine Arbeit, die sich um in Not geratene Jugendliche kümmert. D e m 1832 in Basel gegründeten Verein für Sonntagssäle für Arbeiter, Lehrlinge und Knaben folgen weitere Hilfsvereine in anderen Städten (1834 Bremen, 1834 H a m b u r g , 1835 Frankfurt). Gemeinhin sieht man diese Gründungen (einerseits missionarisch, andererseits diakonisch) als zwei miteinander verwandte, jedoch aus unterschiedlichen Traditionsquellen entstandene Formen an, deren Polarität sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Andere Akzente setzen in den 20er und 30er J a h r e n Mädchenvereine (für Krankenund Soldatenpflegerinnen u.a.). M i t t e des letzten Jahrhunderts sammeln T h e o d o r Fliedner, Sophie Lösche u . a . Dienstbotinnen und andere Arbeiterinnen in „ M ä g d e s c h u l e n " , Herbergen und Bildungseinrichtungen. Die in Hamburg von J o h a n n Hinrich —»Wiehern seit 1844 herausgegebenen Fliegenden Blätter informieren über die Tätigkeiten der Vereine. In Abgrenzung gegen die bewußt kirchenbezogene und soziale Arbeit Wicherns entsteht unter dem Eindruck der 48er Revolution der Rheinisch-Westfälische Jünglingsbund, dem es bei Betonung einer eigenen Vereinsstruktur stärker um Gemeinschaftspflege und geistliche Auferbauung geht. Weitere Zusammenschlüsse der Vereine zu Bünden entstehen auch in den Freikirchen. Verstärkt werden die Einigungstendenzen durch Anregungen aus dem Ausland. 1855 wird auf einer Weltkonferenz in Paris die sogenannte Pariser Basis des C V J M als einer gemeinde- und konfessionsübergreifenden Laienbewegung beschlossen. „Die Christlichen Vereine Junger M ä n n e r haben den Z w e c k , solche jungen Männer miteinander zu verbinden, welche Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, in ihrem Glauben und Leben seine Jünger sein und gemeinsam danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter jungen Männern auszubreiten."

Dieser Satz, der bei den Jünglingsvereinen in Deutschland nur zögernde Zustimmung findet, wurde zu einem Anstoß der ökumenischen Bewegung. Auf Anregungen aus den USA geht das erste Nationalfest im September 1882 am Hermanns-Denkmal/Teutoburger Wald zurück, unter dessen Eindruck das Bibelkränzchen in Elberfeld, der Vorgänger der späteren Bibelkreise, gegründet wurde. Der aggressiv erwecklichen und auf Bekehrung zielenden Arbeit in den USA begegneten im Gefolge des Nationalfestes in der Gründung des ersten deutschen C V J M durch Friedrich von Schlümbach 1883 in Berlin zunächst deutliche Vorbehalte, dennoch fand sie alsbald schnelle Verbreitung, so auch durch die ebenfalls aus den Vereinigten Staaten angeregten Jugendbünde für Entschiedenes Christentum (EC, Bad Salzuflen 1894). Die weibliche Jugendarbeit folgt nicht der geistlichen Enge dieser Gruppen, sondern versteht sich offener, auch für soziale Probleme. Die Gründung eines Vorstände-Verbandes der Evangelischen Frauenvereine Deutschlands 1893 auf Anregung von J o h a n n e s Burckhardt soll jedoch die Gemeindebindung der Mädchenarbeit nicht in Frage stellen. Vor allem die Jugendarbeit im östlichen Deutschland steht den brennenden sozialen Fragen offener gegenüber. Der Versuch einer Umwandlung der Vereine dort in evangelische Arbeitervereine zeigt eine größere N ä h e zum christlichen Sozialismus und zu den Gewerkschaften. Nach der Jahrhundertwende erkennt nicht nur der Staat (Jugendpflegeerlaß 1901 ff), sondern auch die Kirche allmählich ihre Verantwortung für die Jugend. Nachdem das erste Stadtjugendpfarramt 1863 in Stuttgart eingerichtet worden war, wird die Jugendpflege als „Gesamtpflicht der K i r c h e " (Denkschrift des Preußischen Evangelischen O b e r -

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kirchenrates, 1917) definiert, die Anstellung von Jugendpfarrern empfohlen und die Arbeit der Vereine offiziell gutgeheißen. Das Verhältnis der Jugendpfarrer zu den Werken bleibt bis Ende der 20er Jahre nicht ohne Spannung. Durch den Geist der —»Jugendbewegung (Hoher-Meißner-Treffen 1913), den Zusammenbruch des Kaiserreiches und den neuen theologischen Bewegungen (-»Dialektische Theologie, Luther-Renaissance) wird ein neuer Lebensstil in den Vereinen spürbar, jedoch auch Auseinandersetzungen und Spaltungen. Das Jungmännerwerk, seit 1921 unter der Leitung von Erich Stange, will sich als evangelistische Jugendbewegung verstehen. Diese Ausrichtung hatte sich durchgesetzt gegen die Kritik, daß die sozialen Nöte der Jugendlichen aus dem Blick gerieten und die Vereine zu sehr neben den Gemeinden arbeiteten. Darauf hatten die Kritiker 1909 den Bund Deutscher Jugendvereine (BDJ) gebildet, der sich besonders mit den Grenzen und Möglichkeiten der Weimarer Republik auseinandersetzt. Auch die Pfadfinderarbeit, zunächst eng mit dem Jungmännerwerk verbunden, verselbständigt sich (1933). Gruppen lösen sich aus dem Reichsverband der Schülerbibelkreise, um den Lebensformen der Jugendbewegung mehr zu entsprechen. Umgekehrt wurden die Mädchenbibelkreise gegründet (1919), um eine biblisch-missionarische Ausrichtung zu verwirklichen, die man im Mädchenwerk vernachlässigt fühlte. Der Christdeutschen Jugend, der es um eine geistliche und geistige Erneuerung Deutschlands ging, gehörte Leopold Cordier leitend an, der die bislang umfassendste Geschichte evangelischer Jugendarbeit schrieb (1925-1929). War im 19. Jh. der Verein die beherrschende Grundlage der Jugendarbeit, so war es in diesen Jahrzehnten der Lebensbund unter Gleichgesinnten, der über das Jugendalter hinaus tragen sollte. Kämpferische Sprache und militärnahe Lebensformen waren weitgehend selbstverständlich. Nach der Machtergreifung Hitlers unter dem Eindruck der Eingliederung fast aller Jugendverbände in die Hitler-Jugend (HJ) wird im Juli 1933 der Zusammenschluß Evangelisches Jugendwerk Deutschland gebildet, der jedoch eine erzwungene Eingliederung der Evangelischen Jugend in die H J (Abkommen vom 19.12.1933) nicht verhindern kann. Als Reaktion darauf lösen sich die Vereine teils auf oder entlassen ihre Mitglieder, um sie - beschränkt auf „ledigliche Wortverkündigung" im Rahmen der Kirchengemeinden wieder zu sammeln. Die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (Augsburg 1935) übernimmt die Verantwortung für die Jugendarbeit, beruft eine Jugendkammer der Bekennenden Kirche (Vorsitzender Otto Riethmüller) und strebt ein einheitliches Jugendwerk an, das die Trennung von Gemeinde- und Verbandsjugend überwinden soll. Trotz massiver Behinderungen staatlicherseits wird die Arbeit in Gruppen und bei Großtreffen weitergeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird 1946 die Evangelische Jugend Deutschlands gegründet (seit 1949 um die Jugendarbeit der Freikirchen zur Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschland erweitert), um die erzielte Gemeinsamkeit fortzuführen. Innerhalb dieser Zusammenarbeit werden jedoch die geschichtlich bedingten Unterschiede wieder offenkundig; so betonen z. B. Mädchenwerk und Bibelkreise ihre Gemeindebezogenheit, wogegen das Jungmännerwerk stärker auf seiner Eigenständigkeit besteht. Die anfängliche Intention, eine eigene Arbeitsstruktur der „Gemeindejugend" zu etablieren, kann sich nicht durchsetzen. Soziale Not und politische Mitverantwortung schaffen in den Nachkriegsjahren neue Arbeitsbereiche in Verbänden und kirchlicher Jugendarbeit (z.B. Häuser der offenen Tür, Christliches Jugenddorfwerk, jugendpolitische Vertretungen). Die in den Gruppen noch wirksamen Lebensformen der Jugendbewegung verblassen und führen zu einer Mitgliederkrise Ende der 50er Jahre. Die einsetzende Etablierung der Jugendarbeit als eigenständiges Erziehungsfeld neben Elternhaus und Schule bewirkt eine pädagogische Qualifizierung und Professionalisierung der Arbeit. Die von Hans-Otto Wölber in den 50er Jahren im Auftrage der Evangelischen Jugend Deutschlands durchgeführten Studienkurse für evangelische Jugendführung werden zu Vorgängern einer wissenschaftlich fundierten Standortbestimmung von evangelischer Jugendarbeit in Kirche und Gesellschaft. In der sogenannten Polarisierungsdiskussion (1971-1975), in der Ver-

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treter der bibelorientiert-missionarischen Position einem emanzipatorisch orientierten Verständnis evangelischer Jugendarbeit gegenüberstehen, werden unterschiedliche theologische und kirchenpolitische Grundpositionen erkennbar, deren Spannungen nur bedingt ausgeräumt werden können. Seit den 60er Jahren engagieren sich Jugendgruppen für Probleme der Dritten Welt und verstärken ökumenische Arbeit und internationale Kontakte. Seit Ende der 70er Jahre (Nachrüstungsbeschluß) gewinnt die Friedensfrage zunehmend Bedeutung und schafft „Netzwerke" quer zu den vorfindlichen Strukturen der Jugendarbeit. Evangelische und katholische Jugend rufen seit 1981 zusammen mit Friedensgruppen zu jährlichen Friedenswochen auf. Nach dem Entwicklungspolitischen (1978) und dem Jugendpolitischen Positionspapier (1979) werden 1984 Friedensleitlinien der Evangelischen Jugend beschlossen (vgl. T R E 11, 641 f). Der Kirchentag wird von einer wachsenden Zahl Jugendlicher besucht. Der „konziliare Prozeß" für Frieden, Gerechtigkeit und Integrität der Schöpfung (seit 1985) konzentriert zahlreiche Aktivitäten auch in der Jugendarbeit. 3.3. Konzeptionen und Theoriebildung. Wie der historische Überblick andeutungsweise zeigen konnte, gab es unterschiedliche Aufgabenbestimmungen, theologische Richtungen und Konzeptionen. Der missionarisch biblische und der sozialdiakonische Ansatz aus der Frühzeit der Jugendarbeit erfuhren vielfache Veränderungen, die die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Theologie, der Pädagogik, der Situation der Jugend sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen lassen. Die Theoriebildung evangelischer Jugendarbeit erfolgte erst Mitte der 60er Jahre im Gefolge des verstärkten Dialoges von Praktischer Theologie mit den Human-, besonders den Sozialwissenschaften. Ausgangspunkt der theologischen Ortsbestimmung war die Rolle der Jugendarbeit im Kontext der christlichen Gemeinde, wozu auf Vorüberlegungen von D. Bonhoeffer und O. Riethmüller (1936) zurückgegriffen werden konnte. In Abgrenzung gegen eine Aufgabenbestimmung der Jugendarbeit als Einführung und Integration in die Gemeinde wurde Jugendarbeit als „eine befreiende und verbindliche Begleitung der jungen Generation durch die im Glauben Erwachsenen" bestimmt, mit der Absicht der „Anleitung und Ermutigung zu einem selbständigen Zeugnis und Dienst in der Nachfolge Christi" (VELKD 1963; vgl. auch Bäumler). Die Mündigkeit, zu der angeleitet werden soll, bedeutet theologisch ein kritisches und weltoffenes Glaubensverständnis, pädagogisch einen partnerschaftlichen und kooperativen Leitungs- und Kommunikationsstil und politisch ein Eintreten für demokratische und liberale Beteiligungsformen. Die evangelische Jugendarbeit stand dabei in engem Austausch mit der sich ab Mitte der 60er Jahre entwickelnden Theorie der allgemeinen Jugendarbeit. Die Jugendarbeit etablierte sich in den 60er Jahren als eigenständiges pädagogisches Feld (neben Elternhaus und Schule) und erhielt durch die Konzeptionen von W. C . Müller u . a . (1964) ein neues pädagogisches Selbstverständnis. Gegenüber den Interessen von Erwachsenenorganisationen, Traditionen und gesellschaftlichen Interessen wurde eine Orientierung an den Bedürfnissen Jugendlicher gefordert, was insbesondere eine Verstärkung „offener" Angebote bedeutete. M a n erkannte jedoch ebenso, daß Jugendarbeit neben ihrer Gesellungs-, Bildungs- und Rekreationsfunktion auch eine Kompensationsfunktion wahrnehme, indem sie Defizite anderer Lebensbereiche auffange. H . Giesecke forderte deshalb eine emanzipatorische Jugendarbeit, die sich als Teil eines politischen Befreiungsprozesses versteht, dem pädagogische Lernschritte entsprechen. Jugendarbeit habe deshalb an Konfliktpunkten anzusetzen, unterstütze eigenständige Initiativen Jugendlicher und fördere politische Bildungsarbeit. Während in den 70er Jahren Impulse der Gruppendynamik die Verflochtenheit des -»Individuums in gesellschaftliche Bewußtseinsstrukturen aufdecken und Veränderungsprozesse fördern wollten, entstanden gleichzeitig neue Arbeitsformen (Eigeninitiativen, Jugendzentrumsbewegung, street work, Stadtteilarbeit u . a . ) . Jugendproteste und Jugendbewegungen (1981) entstanden außerhalb und unabhängig von den Jugendverbänden, so daß Giesecke die Frage stellte, o b Jugendarbeit in der vorfindbaren F o r m überhaupt noch sinnvoll sei. „ W o z u noch Jugendarbeit?" (1984).

Das Konzept emanzipatorischer Jugendarbeit fand auch im kirchlichen Bereich Beachtung. Zu den intendierten Prozessen befreienden Handelns in der emanzipatorischen

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Jugendarbeit wurde eine Entsprechung in der Theologie der Hoffnung und der neutestamentlichen Ankündigung des Reiches Gottes gesehen. Jugendarbeit ist Vorbote des Reiches Gottes und hat teil an der Sendung der Kirche, wenn sie in der Nachfolge Jesu an Brennpunkten der Gesellschaft selbstlos für andere da ist (Bonhoeffer) und zeichenhaft eintritt für Gerechtigkeit und Frieden, für Benachteiligte, für Freiheit und Liebe. In der Orientierung am Reich Gottes ist evangelische Jugendarbeit kritisch gegenüber einer dem status quo verhafteten Kirche und einer Gesellschaft, die Unfrieden und Unrecht duldet. Von Seiten der missionarisch-evangelistischen Jugendarbeit wurde diesem Ansatz vorgeworfen, er betreibe eine Politisierung der Jugendarbeit und verkenne den Kern des Unfriedens. Der Jugendliche müsse als Sünder angesprochen und dem Zuspruch von Rechtfertigung und Vergebung übereignet werden. In der persönlichen Bekehrung und Nachfolge werde der M e n s c h neu und fähig, sich dem anderen zuzuwenden (Teschner). Die sogenannte Polarisierungsdiskussion zeigte die grundlegenden Differenzen dieser beiden Ansätze auf. Die Bedeutung des einzelnen (im Zusammenspiel der Gruppe) wurde in den 70er Jahren durch die Impulse der Gruppendynamik neu bewußt. Die Bewußtmachung von Gruppenkonflikten und individuellen Interessen zeige konkrete Veränderungsmöglichkeiten und leite zum sozialen Lernen an, das nach der Bewährung in der Gruppe modellhaft auf andere Lebensbereiche wirken könne. Die „reflektierte G r u p p e " biete mit qualifizierten und erfahrenen Mitarbeitern ein „personales A n g e b o t " , durch das sich christlicher Glaube neu erschließen könne durch persönlich gedeutete Erfahrung („situative Verkündigung") (H. Steinkamp). Die Impulse durch die Arbeit von Dritte-Welt-Gruppen, der Friedensbewegung und der ökologischen Bewegung ( Ö k o l o g i e ) haben zu intensivem Nachdenken über Grundlinien einer neuen christlichen Ethik, aber nur indirekt zu einer Fortschreibung der T h e o rieansätze geführt. Die Wahrnehmung von persönlichen und gesellschaftlichen Bedrohungen, individuelle Grenzerfahrungen und Widerstandsformen Jugendlicher gegen gesellschaftliche Entfremdung verschafft der Jugendarbeit die Aufgabe, Jugendlichen Erfahrungen christlicher Freiheit in der Alltagswelt erlebbar zu machen („grenzüberschreitende J u g e n d a r b e i t " , R . Hanusch). Es deutet sich an, daß hierzu zahlreiche Anregungen aus dem ökumenischen Bereich aufgenommen werden, die eine Verbindung von Spiritualität, politischem Handeln und persönlichem Lebensstil anstreben. In ähnlicher Weise wird auch von einigen Vertretern missionarischer Jugendarbeit (H. Bärend) eine Verbindung von persönlicher Frömmigkeit und Lebensform mit glaubwürdigem öffentlichen Handeln angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen für notwendig gehalten. 3.4. Untersuchungen und Befragungen. Als eine der frühesten Untersuchungen kann die 1919 publizierte Studie von G . Dehn gelten, in der die psychologische und soziale Situation der großstädtischen Arbeiterjugend, die Ursachen für die sogenannte Religionslosigkeit des Arbeiters und praktische Anregungen für die Arbeit in christlichen Jugendvereinen beschrieben werden. Neben der Auswertung der repräsentativen Befragung der Evangelischen Jugend Deutschlands durch H. O . W ö l b e r Ende der 50er J a h r e (s. o. 2.1) ist die Arbeit von G . Wurzbacher u . a . über die Rolle der Pfadfindergruppen als Bindeglied zwischen Familie und Gesellschaft zu nennen. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Evangelischen Jugendarbeit in Deutschland beabsichtigte das von K. Mollenhauer und anderen durchgeführte Projekt, das vor allem eine Differenz zwischen pädagogischem und theologischem Anspruch und der vorfindbaren Praxis aufdeckte. Die Mittelschichtsorientierung und die mangelnde Distanz evangelischer Jugendarbeit zum vorgegebenen Erziehungsmilieu wurde kritisiert und die Unterscheidung verschiedener Partizipationsstile (strategische, taktische, passive Beteiligung, Beteiligung als Gleichstimmung) in die Diskussion eingeführt. In den 70er J a h r e n finden regional begrenzte Untersuchungen über Programm, Teilnehmerzahlen und Teilnehmerinteressen statt (z.B. für Bayern H. Lindner). Fortbil-

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d u n g s a n g e b o t e und Identitätsentwicklung von M i t a r b e i t e r n (U. R ü p p e l , P. K l i e m a n n ) , b i o g r a p h i s c h e E n t w i c k l u n g e n von weiblichen M i t a r b e i t e r i n n e n (E. Nikiaus) werden nachgezeichnet, offizielle K o n z e p t i o n s t e x t e analysiert (G. Czell), die E n t w i c k l u n g der Arbeit mit der Bibel (J. H e n k y s , M . Affolderbach) dargestellt s o w i e die R o l l e von D r i t t e Welt-Initiativen ( E . A . Schmied). D a die sogenannten E K D - M i t g l i e d s c h a f t s s t u d i e n den Bereich der J u g e n d a r b e i t fast gänzlich auslassen, k o m m t der K i r c h e n t a g s b e f r a g u n g der Arbeitsgemeinschaft der E v a n gelischen J u g e n d (aej) (Jugend a u f dem K i r c h e n t a g 1984) eine besondere Bedeutung im N a c h w e i s einer engen Beziehung zwischen evangelischer J u g e n d a r b e i t und d e m Kirchentagsinteresse J u g e n d l i c h e r zu. Ein vielschichtiges Bild gegenwärtiger evangelischer J u g e n d a r b e i t vermitteln die ebenfalls von der aej d u r c h g e f ü h r t e n Fallstudien zur evangelischen Jugendarbeit, die Intentionen des s o z i a l - ö k o l o g i s c h e n Ansatzes a u f n e h m e n und unter E i n b e z i e h u n g von M e t h o d e n der R e p o r t a g e und der teilnehmenden B e o b a c h t u n g die P r a x i s evangelischer J u g e n d a r b e i t aus dem ö r t l i c h e n , sozialen und kulturellen Umfeld heraus zu verstehen versuchen. 3.5. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. D i e evangelische J u g e n d a r b e i t hat wie J u g e n d v e r b ä n d e insgesamt - in den letzten J a h r e n einen Teil ihres Einflusses eingeb ü ß t . A u ß e r h a l b der J u g e n d a r b e i t s - S t r u k t u r e n bilden sich N e t z w e r k e mit s t ä r k e r basisd e m o k r a t i s c h e m Selbstverständnis, die aktuelle gesellschaftliche H e r a u s f o r d e r u n g e n aufgreifen und wiederum zum Teil mit J u g e n d v e r b ä n d e n z u s a m m e n a r b e i t e n , teils sich als b e w u ß t e Alternative verstehen. A u f der anderen Seite führt eine w a c h s e n d e Spezialisierung und Professionalisierung der h a u p t a m t l i c h e n M i t a r b e i t e r in der J u g e n d a r b e i t z w a r zu einer stetigen Qualifizierung der A n g e b o t e , j e d o c h a u c h zu e i n e m wachsenden Erfolgsund E r w a r t u n g s d r u c k an diese M i t a r b e i t e r angesichts der aufgrund der G e b u r t e n e n t wicklung nachlassenden T e i i n e n m e r z a h i e n . K o m m e r z i e l l e A n b i e t e r (Reise- und T o u r i s t i k b r a n c h e , S p o r t g e s c h ä f t e , Freizeitindustrie) bilden n o c h dazu eine steigende K o n k u r renz, die m i t Vergnügen, U n t e r h a l t u n g und A b e n t e u e r erfolgreich w i r b t , j e d o c h in der R e g e l auf eine (kritische) Pädagogik verzichtet. Evangelische J u g e n d a r b e i t wird in einem sich verändernden Umfeld von Bildungswesen, Freizeit und Arbeitswelt vielfältige F o r m e n anbieten müssen. D i e grundlegende F r a ge nach d e m Sinn und Ziel des Lebens angesichts der s i c h t b a r g e w o r d e n e n M ö g l i c h k e i ten, G r e n z e n und G e f a h r e n menschlicher S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g m u ß a u f g e n o m m e n werden und mit J u g e n d l i c h e n z u s a m m e n der befreiende Z u s p r u c h und die zur U m k e h r rufende H e r a u s f o r d e r u n g der christlichen B o t s c h a f t stets neu zur S p r a c h e g e b r a c h t werden.

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422

Jugend

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Jugendbewegung

423

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Martin Affolderbach

Jugendbewegung 1. Z u m Begriff 2. Sozialhistorische Voraussetzungen 3. Die „klassische" deutsche Jugendbewegung 4. Jugendbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich 5. Die Zeit nach 1945 (Literatur S. 4 2 6 )

1. Zum

Begriff

Seit den Zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war es in geistesgeschichtlichen Darstellungen im deutschsprachigen Raum üblich, den Begriff Jugendbewegung auf jene jugendlichen Gruppierungen und Lebensformen einzugrenzen, die sich, beginnend mit dem „Wandervogel" und der „Freideutschen Jugend", im wilhelminischen Deutschland entwickelt und in der Folgezeit im Deutschen Reich, aber auch in Österreich und in deutschen Bevölkerungsgruppen anderer europäischer Länder ausgebreitet hatten, wobei die Grundelemente dieser spezifischen Jugendkultur als historisch einmalig und als Hervorbringungen einer besonderen deutschen Gesellschafts- und Geistesgeschichte gedeutet wurden. Neuere sozialgeschichtliche und soziologische Forschungen und Sichtweisen lassen demgegenüber erkennen, daß es sinnvoll ist, den Begriff „Jugendbewegung" nicht auf die „klassische" deutsche Variante zu beschränken; im Hinblick auf den Stellenwert von Jugendbewegungen für die Lebenswelt und Mentalität der jeweiligen Jugendgenerationen und für die politische Kultur der Gesamtgesellschaft verdient freilich die „klassische" deutsche Jugendbewegung besondere Aufmerksamkeit. 2. Sozialhistorische

Voraussetzungen

Zu den sozialhistorischen Voraussetzungen von Jugendkulturen, die Eigenschaften iner Generationsbewegung entwickeln, läßt sich generell sagen: Die moderne -»Gesellschaft und in ihr zunächst vor allem die bildungsbürgerliche Schicht (-»-Bildung VI.4) gibt den Raum frei für „Kulturpubertät", also für sich absondernde jugendliche Gesellungen mit Verhaltensweisen und Normen, die im Kontrast sowohl zur Kindheit als auch zur Erwachsenenwelt stehen. Ob sich damit jugendliche Bewegungen verbinden, die sich selbst vielfach als Formen eines Generationskonfliktes definieren, hängt von den jeweiligen sozialkulturellen Konstellationen ab; Jugendbewegungen sind nicht als Folge eines „natürlichen", überhistorischen Gegensatzes von Altersgruppen (—»Jugend), sondern als Ausdrucksmöglichkeiten gesellschaftlich situationsbedingter Probleme zu verstehen, vor allem als Symptome der Verunsicherung oder Erschütterung bisher vorherrschender Werte und des Auftretens oder Geltungsanspruchs neuer normativer Orientierungen, mitunter auch als Vorboten oder Vehikel der Reformulierung oder Radikalisierung tradierter Gesellschaftsbilder (vgl. T R E 11,7,44ff). Die Hoffnung, daß sich über Jugendbewegungen eine gesamtgesellschaftliche Innovation oder Umgestaltung vollziehen könne, tritt in diesem Zusammenhang oft als Erwartung von Erwachsenen auf, die „kulturreformerisch" oder „kulturrevolutionär" denken; die Beweglichkeit einer jungen Generation, die noch nicht so sehr wie die Majorität der Erwachsenengesellschaft in die herrschenden gesellschaftlichen Verhaltens- und Denkmuster einsozialisiert ist, soll dann Tragfähigkeit für Veränderungen in gesamtgesellschaftlicher Perspektive bedeuten. Die individualgeschichtlich begründete normative

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Jugendbewegung

„Mobilität" Jugendlicher gilt als Potential für gesellschaftsgeschichtliche Dynamik, als kulturelle, soziale oder politische „Regenerationschance". Eine solche Auffassung ist nicht ohne Realitätsgehalt, sie deutet aber zugleich auf mögliche Übersteigerungen zu einem „Mythos der jungen Generation" und auf das Risiko politischer Indienstnahme von Jugendbewegungen hin. 3. Die „klassische"

deutsche

Jugendbewegung

Als die „klassische" deutsche Jugendbewegung beim freideutschen Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 ihr Selbstverständnis auf die Formel brachte, bewegte Jugend wolle ihr Leben „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit" führen (Kindt II, 495), umschloß diese Formulierung unterschiedliche Ausdeutungsmöglichkeiten. Sie war interpretierbar als Anspruch auf eine mehr oder weniger weitreichende Autonomie jugendbündischer Gesellung abseits der Erwachsenenwelt, in einer „pädagogischen Provinz"; sie konnte aber auch als Kampfansage einer jugendlichen Alternativbewegung gegen eine als „unwahrhaftig" empfundene Moderne, als „antibürgerlicher" Protest bürgerlicher Jugend verstanden werden. In der sozialen Realität von Bewegungen, Gesellungen und Organisationen junger Menschen in entwickelten Industriegesellschaften, und zwar weit über die „klassische" Jugendbewegung hinausreichend, finden sich beide Perspektiven in einer mehr oder weniger engen Verbindung wieder. „Jugendliche" soziale Bewegungen sind vielfach von dem Bedürfnis geprägt, „Unmittelbarkeit" und Primärerfahrungen, die als durch die „verwaltete Welt" und, durch Sekundärsysteme bedroht angesehen werden, in jugendkulturellen Gruppen und Lebensstilen zurückzugewinnen, dem durchrationalisierten, hochgradig zentralisierten und institutionell geregelten „Industrialismus" (-»Industrialisierung) eine überschaubare, Spontaneität zulassende Lebenswelt der „kleinen Netze" entgegenzustellen, „Nestwärme in erkalteter Zeit" zu rekonstituieren. Jugendbewegungen als Versuche, einer als entfremdet und entfremdend empfundenen Dominanzkultur identitätssichernde jugendliche Sonderkulturen zu kontrastieren, können sich freilich in ihren gesellschaftspolitischen und ideologischen Bezügen recht unterschiedlich entwickeln. Die „klassische", ihrer sozialen Herkunft nach vornehmlich bildungsbürgerliche deutsche Jugendbewegung ordnete sich in ihrer politischen Philosophie zumindest mehrheitlich einer „organischen", antiaufklärerischen, antiliberalen und nationalistisch-völkisch gestimmten Gesellschaftsauffassung ein, die sich selbst als „konservativ-revolutionär" definierte, mit vielen Querverbindungen zu zivilisationskritischen, lebensreformerischen Konzepten. Nach dem Ersten Weltkrieg breiteten sich in der deutschen Gesellschaft Leitbilder, Symbole und Lebensformen dieser Jugendbewegung in der Mehrzahl der Jugendverbände aus und wurden ideologisch und praktisch attraktiv auch für weite Teile der kirchlichen Jugendarbeit, teils auch für die Arbeiterjugendbewegung (s. T R E 6,630,31 ff). Kirchliche Jugendpflege als Reaktion auf den mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Wandel und die darin liegende Verunsicherung traditionellen kirchlichen Lebens w a r in beachtlichem Umfange bereits vor dem Aufbruch der „klassischen" Jugendbewegung zustandegekommen; kirchliche Jugendvereine zielten darauf ab, durch Freizeitbetreuung, sozialpflegerische Tätigkeit und neue F o r m e n religiöser Bildung die Integrationsfähigkeit der Kirchen in einer sich säkularisierenden Welt zu erhalten. Auch diese jugendpflegerischen Vereine gaben dem selbständigen Agieren junger Menschen zunehmend R a u m ; mit der in den Zwanziger Jahren in der kirchlichen Jugendarbeit in Deutschland sich vollziehenden Wende vom „Jugendverein zur Jugendbewegung" kam es zu einer Umorientierung der Sozialformen und Leitideen auch kirchlicher Jugendarbeit, die sich in ihren Folgen als durchaus ambivalent erwies. Einerseits erbrachte die Öffnung zur Jugendbewegung hin den kirchlichen Jugendverbänden und -bünden einen Zugewinn an Partizipation Jugendlicher, an Eigenständigkeit jugendlichen Gruppenlebens, an Selbsterziehung und sozialer Kompetenz. Andererseits verbanden sich mit der deutschen Jugendbewegung in dieser Phase Imaginationen, die teilweise in den ideologischen Vorraum des Dritten Reiches führten. In der Zusammenfügung der Leitbilder „Jugendreich - Gottesreich - Deut-

425

Jugendbewegung

sches R e i c h " oder in Leitbegriffen wie „Alles für Deutschland, Deutschland für C h r i s t u s " stellten sich höchst fragwürdige Mischungen nationalgeschichtlich überformter christlicher Werte und politischer M y t h e n her, die partielle Überschneidungen mit der nationalsozialistischen Ideologie aufwiesen.

4. Jugendbewegung

in der Weimarer Republik

und im Dritten

Reich

4.1. Gestützt auf das damals vielbeschworene Kriegserlebnis, angetrieben aber auch durch sozialökonomisch bedingte Existenzunsicherheiten junger Menschen, ergriff die innere Militarisierung der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik gerade die Jugendgeneration. Eine „Straffung" jugendlicher Gruppenstile setzte sich durch, „Führer-Gefolgschafts"-Konzepte bestimmten die jugendbündische Struktur, eine „heroische" Interpretation jugendlicher Verhaltensmöglichkeiten trat an die Stelle der „Wand e r v o g e l - R o m a n t i k " . Im Zuge dieser Entwicklung wurde übrigens das ohnehin problematische Weiblichkeitsbild der deutschen Jugendbewegung noch weiter in Richtung auf eine völkisch-sozialbiologische Auffassung von der Rolle der - » F r a u verschoben und auch in dieser Hinsicht eine Annäherung an Leitbilder des kommenden Dritten Reiches vollzogen. Machtpolitisch war es gewiß nicht die Jugendbewegung, die die Weimarer Demokratie zu Fall brachte; im gesellschaftlichen Diskurs trugen aber Einflüsse der J u gendbewegung wesentlich dazu bei, die ideologischen Kräfteverhältnisse zugunsten der antidemokratischen Lösung der gesellschaftlichen Krise zu verändern und irrationale Hoffnungen auf eine „völkische N e u g e b u r t " zu verbreiten. 4.2. Der - > N a t i o n a l s o z i a l i s m u s zog daraus erheblichen Nutzen. Er übernahm jugendbewegte Begriffe u. Symbole, er umwarb die junge Generation als diejenige Kraft, von der „nationale R e g e n e r a t i o n " zu erwarten sei, die das „alte S y s t e m " beseitigen werde. Es war nicht zuletzt dieser Jugendmythos, der den Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden ließ und der N S D A P innerhalb des konservativ-nationalen Lagers zum Erfolg in der Konkurrenz mit anderen, weniger extremen Parteien verhalf; der Nationalsozialismus präsentierte sich als „jugendlich-vital", als „ u n v e r b r a u c h t " . Berührungspunkte und ideologische Schnittmengen zwischen dem Nationalsozialismus und vorherrschenden Tendenzen in der damaligen deutschen Jugendbewegung bildeten die eine Seite des historischen Prozesses; ihr entsprach es, daß 1933 große Teile der in der Jugendbewegung - auch der kirchlichen - sozialisierten jungen Menschen bereit waren, sich trotz mancher Vorbehalte in die „nationale R e v o l u t i o n " einzureihen und dem Dritten Reich „idealistisches" Potential bereitstellten; dieser Seite entsprach es ferner, daß die Hitler-Jugend als Staatsjugendorganisation in großem Umfange Lebensformen der Jugendbewegung übernehmen und daraus Attraktivität gewinnen konnte.

4.3. Aber das Verhältnis von Jugendbewegung

und nationalsozialistischem

Staat hat-

te noch eine zweite Seite: die des Konflikts zwischen dem in der Jugendbewegung entwickelten Anspruch auf eigenständiges jugendliches Gruppenleben und den Herrschaftsund Kontrollansprüchen eines totalitären Systems. Systemlogisch zielte das Dritte Reich auf Verstaatlichung der Jugendbewegung ab, auf Vereinheitlichung und Reglementierung der eigenen Jugendorganisation. Kulturpubertärer Freiraum für eine Jugendbewegung und organisierte, staatlich monopolisierte Verfügbarkeit von Jugend ließen sich auf Dauer und in der Regel nicht miteinander vereinbaren. Infolgedessen deklarierten NS-Staat und Hitler-Jugend schon bald das „Ende der Jugendbewegung"; aus der „nationalen Jugendbewegung" wurde eine Organisation zur Durchführung eines Staatsjugenddienstes. Traditionen der Jugendbewegung wurden angesichts dessen nun zu Impulsen einer gegenkulturellen, oppositionellen Gesellung von Jugendlichen im Dritten Reich; Gruppenstile jugendbündischer Herkunft waren wichtige Komponenten auch der vom NS-Staat bedrängten oder iiiegalisierten kirchlichen Jugendarbeit zwischen 1933 und 1945. Die „konservative R e v o l u t i o n " , deren Verheißungen im Zusammenhang mit der J u gendbewegung für viele Jugendliche in Deutschland vor und um 1933 attraktiv geworden

Jugendliteratur

426

w a r e n , stellte sich in der R e a l i t ä t s e r f a h r u n g des Dritten R e i c h e s als F i k t i o n heraus; bei einer sensiblen M i n d e r h e i t der J u g e n d g e n e r a t i o n nach 1 9 3 3 wurden nun die A n t r i e b e der J u g e n d b e w e g u n g zu Protesthaltungen gegen einen Staat, der für sich r e k l a m i e r t e , er sei „ A u s d r u c k des organisierten J u g e n d w i l l e n s " . Es zeigte sich hier, d a ß lebensweltliche Orientierungen (hier: die der „ k l a s s i s c h e n " deutschen J u g e n d b e w e g u n g ) und gesellschaftspolitische Ideologien (hier: die einer völkisch-nationalistischen Politik, einer „ k o n s e r v a t i v e n R e v o l u t i o n " ) eine Verbindung eingehen k ö n n e n , die sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und nach neuen G e s e l l s c h a f t s e r f a h r u n g e n wieder lösen k a n n (—•Ideologie/Ideologiekritik).

5. Die Zeit nach 1945 F ü r die jugendgeschichtliche G e s a m t e n t w i c k l u n g ist allerdings k e n n z e i c h n e n d , d a ß die K o n z e p t e der „ k l a s s i s c h e n " deutschen J u g e n d b e w e g u n g sich n a c h dem Z w e i t e n Weltkrieg als historisch v e r b r a u c h t herausstellten, dies sicherlich a u c h infolge ihrer zeitweiligen V e r e i n n a h m u n g durch das Dritte R e i c h . D i e geschichtliche E r f a h r u n g , die sich aus dem Weg der „ k l a s s i s c h e n " deutschen J u g e n d b e w e g u n g ergibt, weist a u f R i s i k e n von J u g e n d b e w e g u n g e n allgemein hin; sie wertet a b e r nicht die sozialhistorischen E n t d e c k u n gen a b , die sich mit dieser B e w e g u n g e r g a b e n . J u g e n d l i c h e S o n d e r k u l t u r e n und generationsspezifische soziale E x p e r i m e n t e k ö n n e n als R ä u m e für den „ E r f a h r u n g s h u n g e r " in der m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t , als relativ eigenständige L e r n o r t e für Suchleistungen junger M e n s c h e n und jugendlicher G r u p p e n p r o d u k t i v sein. Diese P r o d u k t i v i t ä t setzt voraus, d a ß J u g e n d b e w e g u n g e n ihre G r e n z e n e r k e n n e n , zugleich a b e r a u c h , d a ß die „ E r w a c h s e n e n g e s e l l s c h a f t " ihnen R a u m zubilligt. Literatur Hermann Giesecke, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, München 1981. - Irmtraud Götz v. Olenhusen, Jugendreich-Gottesreich-Deutsches Reich. Junge Generation, Religion u. Politik 1 9 2 8 - 1 9 3 3 , Köln 1987. - Matthias v. Hellfeld, Bündische Jugend u. Hitler-Jugend. Z u r Gesch. v. Anpassung u. Widerstand 1 9 3 0 - 1 9 3 9 , Köln 1987. - Franz Henrich, Die Bünde kath. Jugendbewegung, München 1968. - Jb. des Archivs der dt. Jugendbewegung, seit 1969 fortlaufend, Burg Ludwigstein/Witzenhausen. - Johannes Jürgensen, Die bittere Lektion. Ev. Jugend 1933, Stuttgart 1984. Werner Kindt (Hg.), Dokumentation der Jugendbewegung, Köln, I 1963, II 1968, III 1974. - Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich, Düsseldotf/Köln 1984. - Thomas Koebner (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt 1985. - Franz-Josef Krafeld, Gesch. der Jugendarbeit, Weinheim 1984. - Udo Smidt (Hg.), Dokumente ev. Jugendbünde, Stuttgart 1975.

Arno Klönne

Jugendliteratur,

Religiöse

E i n e a n e r k a n n t e Definition der religiösen und/oder christlichen J u g e n d l i t e r a t u r fehlt; Versuche finden sich bei H a l b f a s (Das religiöse Kinder- und J u g e n d b u c h ) und A. Werner. Allgemein ist Kinder- und J u g e n d l i t e r a t u r die Bezeichnung für alle T e x t e , die ausdrücklich für diese Adressatengruppe produziert wurden und/oder die K i n d e r und Jugendliche lesen (Klingberg; D o d e r e r II). D i e s e Definition hat U n k l a r h e i t e n bei der A b g r e n z u n g der Quellen z . B . bei S c h u l b ü c h e r n zur Folge. Breit angelegte systematische S a m m l u n g e n und Sichtungen der historischen Quellen der Kinder- und J u g e n d l i t e r a t u r befinden sich in Arbeit (Heinz W e g e h a u p t , Alte deutsche K i n d e r b ü c h e r ; T h e o d o r B r ü g g e m a n n / H a n s - H e i n o E w e r s und unterschiedlich konzipierte R e p r i n t s und T e x t s a m m l u n g e n z . B . bei R e c l a m ) . In diesen S a m m l u n g e n ist religiöse Kinder- und J u g e n d l i t e r a t u r eher ein R a n d g e b i e t . A. W e r n e r versuchte eine gegenwartsbezogene B e s t a n d s a u f n a h m e . F ü r das vielschichtige G e b i e t „ R e l i g i o n und J u g e n d l i t e r a t u r " ist zu unterscheiden zwischen religiöser J u g e n d l i t e r a t u r im engeren und weiteren Sinne. Z u r ersten G r u p p e

Jugendliteratur

427

sind folgende Gattungen zu rechnen: Werke zur Bibel, wie Kinderbibeln und Kinderpostillen, Katechismen, Hausbücher und -»Erbauungsliteratur für Kinder und Jugendliche, wie Exempelbücher; Zucht- und Sittenbücher, z. B. für den Jungfrauen- und Junggesellenstand, Fürsten- und Knabenspiegel, Ehebüchlein; Dialogtexte; Lyrik, z . B . Gebetsund Liederbücher; Festbüchlein zum Kirchenjahr; Spielliteratur, z . B . Weihnachts- und Passionsspiele, Legenden; Almanache, Verteilschriften, konfessionelle Jugendzeitschriften, neuerdings auch religiöse Sachbücher. Ein Teil dieser Schriften läßt sich aus der religiösen Erbauungsliteratur für die Jugend herleiten, die nach Erfindung des Buchdrucks entstand und der christlichen Erziehung diente. Ausweitungen z . B . im Blick auf die in Deutschland neu entstehende islamische Jugendliteratur (Ehrhardt/Reents: Werner 83ff), auf Schriften des sich auffächernden religiösen Pluralismus und religiöse Jugendschriften aus sozialistischen Ländern fanden in der Jugendliteraturforschung noch kaum Beachtung. Theoriegeleitete Auswertungen unter interdisziplinären Gesichtspunkten sind rar. Die zweite Gruppe läßt sich nicht exakt abgrenzen. Wer einen weiten Religionsb e g r i f f - „Sinn für den S i n n " , Sehnsucht nach Sinn - zugrunde legt, wird religiöse Elemente, Sprachmuster, Bibelzitate, Motive, Symbole, Figuren, Lebensformen, Vorbilder, Werte und Institutionen sowie die Kritik an allem in vielen Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur expli..it und implizit finden. Thematische religionspädagogische Ansätze trugen seit M i t t e der sechziger Jahre entscheidend zur Neubestimmung religiöser Ansätze in der Kinder- und Jugendliteratur bei (Halbfas, D a s religiöse Kinder- und Jugendbuch). Ein weites Aufgabenfeld ist nahezu unbearbeitet: 1. Religionskritische Erforschungen typischer Long- und Bestseller vom Beginn der Buchdruckerkunst über Schriftsteller des 1 6 . - 2 0 . J h . stehen aus. 2. Die Geschichte der Ikonographie der religiösen Gebrauchskunst (auch Bilderbögen) für Kinder und Jugendliche ist ungeschrieben (z.B. Jesusbilder im sozialgeschichtlichen Wandel, Engel und Teufel, M a r i a , Heilige Familie, Gottesbilder, Weihnachten). Die unkritische Tradierung zeigt sich bis heute in religiösen Verbrämungen und Trivialisierungen, z. B. in Comics. 3. Erforderlich sind Längsschnittuntersuchungen zu T h e m e n wie Rassismus, Missionsliteratur und Dritte Welt; Kampf zwischen Gut und Böse; Tugend und Dekalog; Andersdenkende und Ketzer, Heilige und Vorbilder, Weltreligionen, Religionslosigkeit; Natur und Schöpfung, Erlösung und Befreiung, Weltende; Arbeit und Freizeit, Strafe; gesellschaftliche Rollen in religiöser Sicht. 4. Gattungsuntersuchungen müssen auf eine breitere Grundlage gestellt werden, z . B . sind säkulare Varianten zu Spruchbüchern und zu Katechismen - z. B. Vaterländische Katechismen, Katechismen der natürlichen Religion — in theologischen Untersuchungen zu berücksichtigen. Der Untersuchung wert sind 5. der Stellenwert von familialer und institutioneller Erziehung, 6. das Verhältnis von kirchlicher Dogmatik und Volksfrömmigkeit, von Tradition und individueller Überzeugung und 7. der Übergang von der bürgerlichen Lesekultur zur M e d i e n k o m m u n i k a t i o n . Solche Untersuchungen, sinnvoll interdisziplinär, über das Verhältnis von Jugendliteratur und Religion in Geschichte und Gegenwart können Auskunft geben über die religiöse Sozialisation breiter Schichten durch direkte oder indirekte kirchliche Vermittlung. Einer Gliederung, die der literaturwissenschaftlichen Epocheneinteilung und/oder theologiegeschichtlichen Untersuchungen von Richtungen folgt, steht die zeitüberdauernde Anpassungsfähigkeit von „Longsellern" entgegen; sie wurden ohne konfessionelle Grenzen und ohne Berücksichtigung religiöser und kirchlicher Richtungen ebensowenig wie zeitgeschichtlicher Veränderungen Kindern und J u gendlichen angeboten. Neuerdings haben sich deshalb in der Forschung formale Ordnungsgesichtspunkte für die Sammlung und Sichtung des Materials durchgesetzt, die der ausstehenden Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur (Wegehaupt, Vorstufen; Brüggemann/Ewers) als Voraussetzung dienen werden. Erst auf der Basis einer umfassenden Bibliographie kann gefragt werden, in welchem Verhältnis die Kinder- und Jugendliteratur einer E p o c h e zu ihren literarischen, theologischen und sozialen Richtungen und deren Trägern stand, wie sie die Veränderungen im Verhältnis von Kirchen, Religionen, Kunst und Gesellschaft seit der frühen Neuzeit spiegelt und welche Neuansätze zur Überwin-

Jugendweihe

428

dungderSubstanzlosigkeit ( H a h n ) und „ S p r a c h s k l e r o s e " (Halbfas, Das religiöse Kinderund Jugendbuch) in Richtung auf eine überzeugendere religiöse Kinder- und Jugendliteratur zu verzeichnen sind. Die neuen Aktivitäten auf katholischer Seite (z. B. Kinderbuchpreis der katholischen Bischöfe seit 1977) bedürfen kritischer Ergänzungen von Seiten der Religionswissenschaft und der evangelischen Theologie und Kirche. Literatur Alfred Clemens Baumgärtner (Hg.), Ansätze hist. Kinder- u. Jugendbuchforschung, Baltmannsweiler 1980. - Wolfgang Brückner, Art. Exempelsammlungen: EdM 4 (1983) 5 9 2 - 6 2 6 . - Theodor Brüggemann/Hans-Heino Ewers, Hb. zur Kinder- u. Jugendlit. Von 1750 bis 1800, Stuttgart 1982. Theodor Brüggemann/Otto Brunken, Hb. zur Kinder- u. Jugendlit. v. Beginn des Buchdrucks bis 1570, Stuttgart 1986. - Diess., Hb. zur Kinder- u. Jugendlit. v. 1570 bis 1750, Stuttgart 1988. - Klaus Doderer/Helmut Müller, Das Bilderbuch, Weinheim/Basel 2 1975. - Klaus Doderer (Hg.), Lexikon der Kinder- u. Jugendlit., 4 Bde., Weinheim/Basel 2 1977f¥. - Friedrich Hahn, Zwischen Verkündigung u. Kitsch, Weinheim/Basel 1968. - Hubertus Halbfas, Fundamentalkatechetik, Düsseldorf/Stuttgart 1968. - Ders., Das rel. Kinder- u. Jugendbuch: Gerhard Haas (Hg.), Kinder- u. Jugendlit., Stuttgart 3 1 9 8 4 , 2 2 9 - 2 4 6 . - Rüdiger Hoffmann, Rel. Jugendlit. Eine Analyse des Weltbildes kirchl. Verteilblätter, Hildesheim 1974. - Johannes Horstmann (Hg.), Rel. Comics, Schwerte 1981 (Dokumentationen 3. Veröffentlichungen der Kath. Akademie Schwerte). - Reinhold Jacobs (Hg.), Kinderbuch u. Religion, Regensburg 1979. - Göte Klingberg, Kinder- u. Jugendlit.-forschung, Wien/Köln/Graz 1973. - Sophie Köberle, Jugendlit. zur Zeit der Aufklärung, Diss. München 1924, Weinheim 1 9 7 2 . - H o r s t Künnemann (Red.), Religion im Kinder- u. Jugendbuch. Beih. zum Bulletin Jugend + Lit. 1, Hardebeck 1975. - Willy Lussnigg/Hilde Laible, Das rel. Kinderbuch. Sonderdr. aus „Die Barke", Wien 1962. - Medien für den Kindergarten. Förderprogramm für den Kindergarten H. 4. Hg. v. Comenius-Institut, Münster 1978. - Hans Peter Neureuter, Art. Exemplum: EdM 4 (1983) 6 2 7 - 8 0 6 . - Cornelia Niekus Moore, „Mein Kindt, nimm diß in acht", Göttingen 1981 (Pietismus u. Neuzeit 4), 1 6 4 - 1 8 5 . - Josef Rabl (Hg.), Rel. Kinderlit. Religionspädagogische Beitr. 1 9 6 7 - 1 9 8 0 , München/ Mainz 1981. - Ders., Religion im Kinderbuch, Hardebeck 1982. - Regula Renschler/Roy Preiswerk (Hg.), Das Gift der frühen Jahre. Rassismus in der Jugendlit., Basel 1981. — Egon Schmidt, Die dt. Kinder- u. Jugendlit. v. der Mitte des 18. Jh. bis zum Anfang des 19. Jh. Berlin/DDR 1974. - Themenheft: Kinder- u. Jugendlit. u. Religion, 1984 (JSW 6). - Mechthild Voss-Eiser (Hg.), Religion im Kinder- u. Jugendbuch. Beih. zum Bulletin Jugend + Literatur 13, Hardebeck 1981. - Heinz Wegehaupt, Vorstufen u. Vorläufer der dt. Kinder- u. Jugendlit. bis in die Mitte des 18. Jh., Berlin/DDR 1977. - Ders., Alte dt. Kinderbücher. Bibliogr. 1 5 0 7 - 1 8 5 0 , Berlin/DDR 1979. - Ders., Alte dt. Kinderbücher. Bibliogr. 1 8 5 1 - 1 9 0 0 , Berlin/DDR 1985. - Jutta Wermke (Hg.), Comics u. Religion, München 1976. - Anneliese Werner (Hg.), Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein, München/Mainz 1982. - Heinrich Wolgast, Das Elend unserer Jugendlit. (1896), Worms 7 1951. - Ders., Das Rel. u. Patriotische in der Jugendschrift: Vom Kinderbuch. G. Aufs., Leipzig/Berlin 1906, 2 4 - 5 1 . Christine R e e n t s / M a r i e - L u i s e E h r h a r d t

J u g e n d r e l i g i o n e n - » N e u e Religionen Jugendweihe 1. Herkommen und religionsgeschichtlicher Bezug 2. Heutige Formen der Jugendweihe 3. Zur Stellung von Theologie und Kirche (Literatur S. 432) 1. Herkommen

und religionsgeschichtlicher

Bezug

Weder Grimms Deutsches Wörterbuch (4/2,1877; 14/1/1,1911/1955) noch Trübner (8,86 ff) vermerken den Begriff. Doch subsumiert bereits der Große Brockhaus von 1933 (6,797) die „Jugendweih e " im Blick auf „Naturvölker" unter die „Initiationszeremonien" (-»Initiation/Initiationsriten). Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (3,Berlin[DDR] 1969,2001) schreibt: „Feier, bei der die Vierzehnjährigen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden und sich zu einem Leben für die sozialistische Gesellschaft bekennen." Der bisher älteste Beleg für das W o r t Jugendweihe s t a m m t aus dem J a h r 1 8 5 2 (Krapp 2 1 6 ) . E. Baltzer, Prediger der „Freien Protestantischen G e m e i n d e " (gegründet 1847) zu

Jugendweihe

429

Nordhausen, benannte damit eine Feier, die dort anstelle der —»Konfirmation gehalten wurde. Spätere Belege führen auf die Jahre 1868 und 1877 (Hallberg 86.173); diese zeigen, daß das Wort inzwischen in Lieder- und Gebetbüchern, zumal durch J . Ronge, verbreiteten Eingang gefunden hatte. Immer deutlicher bezeichnete es, und zwar bereits 1868 neben einer , Kind weihe' für die —> Taufe, eine die kirchliche Konfirmation ersetzende Feier der „freien religiösen" oder „frei-protestantischen und frei-religiösen Gemeinden (Freie deutsche Nationalkirche)"; in deren Bund freireligiöser Gemeinden (vgl. T R E 11,568 f) war auch der 1844 entstandene Deutschkatholizismus (C. Mirbt: R E 3 4,583-589; -»Deutschkatholiken) organisatorisch aufgegangen. Die Forschung hat zwar die Feierpraxis der protestantischen —> Lichtfreunde und der genannten Gemeinden als Entstehung der Jugendweihe um 1850 belegen sowie ihre späteren Wandlungen in den Verbänden der ^bürgerlichen' und proletarischen' Freidenker des 19. und 20. J h . " (S. T R E ll,489ff.492) teilweise aufhellen können. Dennoch müssen für das Herkommen des Begriffes, nicht zuletzt um seiner Wirkungskraft in den verschiedenartigsten politisch-sozialen Bewegungen und ideellen Strömungen dieses Zeitraumes willen, tieferreichende Quellen erschlossen werden. In der hierfür bis heute umfassendsten Studie führt Hallberg (25 - 4 5 ) an vielen Belegen aus -»Aufklärung und deutscher -»Klassik die These durch, „die Bedeutung der Weihe als Zustand, als ein Vorhandensein heiliger Kraft, entwickelte sich schon vor der Wende des [d.h.: zum] 19. Jh."(27). Dabei seien das neue „Interesse an fremden Kulten" (32) ebenso bestimmend gewesen wie Humanitätsdenken und „Sentimentalität der Aufklärungszeit" (42). Z . B . nahm schon 1802 beim Promotionsakt innerhalb des Dankfestes der Landshuter Universität der juristische Redner „zum besonderen Thema den Nutzen, den die Jugendfeste für die Erziehung gewähren, wieder im Hinblick auf die Antike und ihre Jugendfeste": „Erwecket alte Feste wieder, verbindet sie mit den notwendigen Festen der Kirche!" (33 f). Und wenn der späte Herder (TRE 15,70-95, bes.84) „Jehovah" nicht „in Donner und Blitzen", sondern „milder . . . im Wasser des Himmels" herabkommen sieht auf das „Volk" der „Franken", „weihend die Menge zum neuen Geschlecht mit der Taufe der Menschheit", so stehe hier bereits die Grundaussage der humanistischen Jugendweihe im Zielpunkt: „Jeder Geweihte heißt Mensch." (Herder, SW 29,659f; Hallberg 44f). Zur Verbreitung der Jugendweihe haben neben den Freidenkern und Freireligiösen unterschiedlicher Richtungen nicht zuletzt die -»Deutschgläubigen Bewegungen beigetragen. So nennt schon Das deutsche Buch der Germanischen Glaubensgemeinschaft (TRE 8,556,15) als „germanische Weihetage" die folgenden „einzelnen Weihen": „Namengebung, Jugendweihe, Trauung und Totenweihe" ( 2 1921, 38ff; vgl. Hallberg 106ff). Sie sind als Vorstufen gerade für die „Jugendweihe der NSDAP" anzusehen, die sich freilich nur zusammen mit dem komplexen Prozeß aus ideologischer Intention, parteiamtlicher Einflußnahme und staatlicher Durchsetzung einer „Verpflichtung der HitlerJugend" (diese seit 1940) schildern läßt (Hallberg 112-134). Mit den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen, religionsphänomenologischen und kulturanthropologischen Forschung ist der Bezug der Jugendweihe auf Initiationen und ihre Riten (—•Initiation/Initiationsriten) unübersehbar geworden. Seit A. van Gennep (1909) und G. van der Leeuw (210ff) zählt man zu den „rites de passage" auch die „Einweihung" als eines der „Kollektivrituale", die „im Grunde genommen Initiationen zum Menschsein sind" (M. Eliade, zit. T R E 16,156,33—42). Damit aber öffnet sich eine neuartige Perspektive zugleich auf die Fragen, die das Herkommen der Jugendweihe im deutschen Sprach- und Kulturraum seit der Aufklärung und seit Herder (s. o.) samt ihren verschiedenen und gegenläufigen Ausprägungen im 19./20. Jh. auch für die heutigen Begehungsformen dieses Passage-Ritus aufgibt - gleichsam von den kirchlichen und religiösen bis hin zu den säkularen Vollzügen. Hier allerdings steht die Forschung erst am Anfang.

430 2. Heutige Formen der

Jugendweihe Jugendweihe

Die Schwierigkeiten des Neuaufbaues zum Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands seit 1948 (RGG 3 2,1118 ff) haben sich zusammen mit dem 1954 einsetzenden Beginn einer eigenen Jugendweihe in der DDR auch auf die quantitativen und inhaltlichen Schwankungen der Feierpraxis ausgewirkt. Zwar war die Zahl der jugendlichen Teilnehmer z.B. in Hamburg zwischen 1946 und 1951/58 von 200 bis etwa 3000 angestiegen (Hallberg, 98; RGG 3 3,1053); doch beklagt ein Bericht vor der Bundesversammlung 1967 für 1966 eine - allerdings ohne Hamburg - immer noch geringere Zahl als 1951. Bei allen rituellen Unterschieden in den Jugendweihen der westdeutschen Gruppen hat sich gleichzeitig wohl auch durch das Geschenkbuch Weltfrömmigkeit (Schlötermann, 1958 u.ö.) die folgende Grundmeinung konsolidiert: „ W i r Freireligiöse möchten weder eine Bestätigung noch eine Bekräftigung irgendeines Glaubens fordern; es geht uns vielmehr darum, den alten religiösen Gedanken der Weihe wieder lebendig werden zu lassen . . . Die Jugendweihe ist kein Akt, den ein Prediger vollzieht, sondern im Gegenteil: der Prediger bekennt: ,Ich kann euch kein Heil und keine Kraft geben. Heil und Kraft liegen in euch selbst, und so bekommt die Jugendweihe ihren rechten Sinn, wenn ihr euch selbst w e i h t . . . " ' (Schlötermann, 5 f ; zur gegenwärtigen Feierpraxis Hallberg, 1 0 0 - 1 0 5 ) .

Auf welche Weise sich in der DDR eine eigene, der Intention nach an die „Tradition" der „Arbeiterklasse in Deutschland" anknüpfende Jugendweihe entwickelt hat, wurde neuerdings von H.W. Weinzen umfassend dargestellt (Urban/Weinzen, 1984). Noch 1950 verteidigte man den „Beschluß der SED, keine Jugendweihen durchzuführen", als „Anwendung der Grundsätze des Marxismus-Leninismus" und mit der „klaren politischen Erkenntnis, daß heute die Jugendweihen keine Berechtigung mehr haben" (S. Heymann, Warum keine Jugendweihe?, zit. Urban/Weinzen, 20f). Für das Jahr 1955 erging jedoch der „Aufruf des Zentralen Ausschusses für Jugendweihen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 12.11.1954" an die „Eltern", ihre „Kinder an der Jugendweihe teilnehmen" zu lassen, und an die „Kulturschaffenden, Lehrer und Erzieher, die Jugendweihe zu einem unvergeßlichen Erlebnis zu gestalten". Damals sollten „junge Menschen, ungeachtet ihrer Weltanschauung, teilnehmen können" (sie!), denn die „Jugendweihe soll ein Kraftquell für die weitere Entwicklung des jungen Menschen sein. Sie soll anspornen, alle ihre Fähigkeiten zum Wohle ihres Vaterlandes zu entfalten" (zit. Urban/Weinzen 22). Obwohl hier unter der bewußt säkularen Terminologie dennoch Elemente des religions- und kulturgeschichtlichen Herkommens aufscheinen, bezeichnete man doch erst 1962 die „Reife- und Weihefeiern der Jugend" offiziell als „eine uralte Tradition der Menschheit". Die „Weihefeiern" seien aber „nicht durch religiöse Vorstellungen entstanden — obwohl Mystik und Aberglauben eine bestimmte Rolle spielten sondern das Leben stellte den Menschen diese Aufgabe"; die „Arbeiterklasse in Deutschland" habe „gerade diese alten, weltlichen Formen des Eintritts der Jugendlichen in das Leben, die auf einer jahrtausendealten Tradition fußen, aufgenommen und ihnen einen den Zielen und Aufgaben der Arbeiterklasse entsprechenden Inhalt gegeben" (W. Billerbeck; zit. Urban/Weinzen 17 f). Im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten legte die Jugendweihe in der DDR den „Weg von der Ausnahme zur Regel" zurück; „der Ritus einer Minderheit wird vorherrschend" (Urban/Weizen 26 ff mit Zahlen): zwischen 1954/55 und 1968/69 stieg die Beteiligung von 17,7% auf 90,9% der betreffenden Altersjahrgänge; 1983 war sie auf 97% zu schätzen. Aber die Jugendweihe hat sich in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens zugleich immer mehr „von der atheistischen zur staatsbürgerlichen Bildung und Erziehung" gewandt. Die Jugendweihebücher' spiegeln von Weltall-Erde-Mensch (zwischen 1 1954 und 2 0 1972 häufig eingreifend verändert) über Unser Deutschland (1957) und Der Sozialismus Deine Welt (1975-1982) bis Vom Sinn unseres Lebens (seit 1983) diese Entwicklung wieder. Man kann sie jedoch in ihrem politischen Richtungssinn besonders klar am sich wandelnden ,Gelöbnis' mit seiner bis 1969 drei-, dann vierteiligen Fragenkette sowie an

Jugendweihe

431

seiner Schlußformel ablesen (Synopse bei Urban/Weinzen 58 f; zur sonstigen Feierpraxis samt Vorbereitung im ,Jugendstundenprogramm' ebd. 40-100). Das 1959 von G. Niemeier abgegebene generalisierende Urteil, „allen Formen der J . " sei die „antikirchliche und antichristliche Zuspitzung gemeinsam" (RGG 3 3,1053), bedarf heute der Modifikation. Daß aber die Jugendweihe „ein bewußtes und beabsichtigtes ,Gegenstück' zur —• Konfirmation" darstellt und dieser „in ihrem Vollzug antithetisch nachgestaltet" sei (ebd.), dürfte noch heute an ihren differierenden Formen nachweisbar sein; es unterstreicht indes nochmals und spezieller die oben (1.) aufgewiesene Notwendigkeit weiterer Forschung. 3. Zur Stellung von Theologie

und

Kirche

Eine erste Phase klarer Auseinandersetzung mit der Jugendweihe und ihren Trägern konzentrierte sich um die theologische und kirchliche Apologetik seit den zwanziger Jahren (TRE 3,416ff). Die Apologetische Centrale in Berlin-Spandau war durch das Handbuch Freidenkertum und Kirche ( 1 ~ 6 1932; darin: H. Waldenmaier, Kultische Feiern 282ff; vgl. C. Schweitzer, Antwort des Glaubens, 2 1928, Anhang I.IV) führend beteiligt. Schon 1930 verkündete der Kirchensenat der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union eine „ O r d n u n g des kirchlichen Lebens", mit der das „Kirchengesetz betr. die Verletzung kirchlicher Pflichten in Bezug auf Taufe, Konfirmation und Trauung" von 1880 neuartig abgelöst wurde; in der Lebensordnung heißt es: „Die Konfirmation kann nicht gewährt werden, wenn der Konfirmand einer Veranstaltung, die im Gegensatz zur Konfirmation steht (Jugendweihe oder dergl.) zugeführt wird oder sich ihr unterzieht" (11,3.; G. Thümmel 390.397; zur Interpretation vgl. auch O. Thümmel 66). Diese Haltung prägt auch die in den betreffenden Kirchen bis heute gültige „ O r d n u n g des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union" von 1955 (Art. 19,1, Satz 2). Aus solcher im kirchlichen Sinne apologetischen Kompromißlosigkeit dürften sich einerseits gegenbildlich die Versuche erklären lassen, „unter Jugendweihe auch etwas anderes und besseres", nämlich eine „auch kirchlich sinnvolle Möglichkeit" zu verstehen (M. Doerne, 1936, 172f unter Anschluß an K.B. Ritter, 1929; vgl, Hallberg 65f, zur katholischen Seite ebd. 42). Andererseits kann das unausgeglichene Nebeneinander der Lebensordnung und der Auffassung Doernes die Hintergründe der im Kirchenkampf zutage tretenden doppelgesichtigen Reaktionsweise der DEK-Kirchenkanzlei erklären, die Hallberg (113 ff) untersucht hat. Zum kirchlichen und vor allem theologischen Knoten schürzte sich beides jedoch erst in jenen Schwierigkeiten, die den Kirchen in der DDR seit der Einführung der Jugendweihe 1954/55 auferlegt waren. D. Urban hat diese Probleme für die evangelische und die katholische Kirche ausführlich dokumentiert (Urban/Weinzen 119-194). Nachdem zunächst „die Schwächen in der eigenen theologischen Standortbestimmung hinsichtlich der Konfirmationsfrage gar nicht bedacht" worden waren (125), bildete sich zwischen 1962 und 1975 der Begriff „konfirmierendes Handeln der Kirche" bzw. später „der Gemeinde" samt entsprechenden Plänen heraus, mit denen der prozessuale Charakter von confirmatio im Unterschied zu ihrem nur aktualen oder gar punktuellen Verständnis betont wurde (152 ff; vgl. Schmitthenner 353-357; Bloth 177 f; J. Henkys 74ff). Eben hierin aber zeigt sich auch der Ansatz zu einer theologischen Neubewertung des gesamten Erziehungs- und Bildungshandelns der Kirche, wie er sich sowohl aus den veränderten Ansprüchen industrieller Gesellschaften an die Jugendlichen als auch zu deren Gunsten aus den entwicklungs- und identitätspsychologischen Einsichten der Gegenwart ergibt (vgl. vor allem Erikson 181-187). Auf solchen Wegen könnte es gelingen, die mit Herkommen und Realität der Jugendweihe an christliche Religion und Kirche gestellten Aufgaben zu bestehen.

432

Jugoslawien

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Peter Constantin Bloth

Jugoslawien 1. Kirchengeschichte Serbiens 2 . Aus dem Leben der serbischen O r t h o d o x i e 3 . Die Frage einer mazedonischen Autokephalie 4. Die k r o a t i s c h e katholische Kirche in ihrer G e s c h i c h t e 5. Die kirchlichen Verhältnisse in Slowenien (Quellen und Literatur S. 4 4 0 )

Die von südslawischen Völkern besiedelten Gebiete, die am 1. Dezember 1918 ihre Einheit als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen proklamierten und - nach vorübergehender Auseinandertrennung durch die Besatzungsmächte Deutschland, Italien und Bulgarien im Zweiten Weltkrieg - seit 1945 in der Volksrepublik Jugoslawien unter einer eher föderalistisch gestalteten Verfassung leben, haben eine ganz unterschiedliche politische und religiöse Geschichte hinter sich. Dies wirkt sich bis in die Gegenwart aus. Von katholischen K r o a t e n , stärker noch von o r t h o d o x e n Serben wird der Z u s a m m e n h a n g ihrer N a t i o n a l i t ä t mit ihrer Konfession auch unter den Bedingungen einer von marxistisch-leninistischer Ideologie bestimmten Öffentlichkeit durchgehalten. Im katholischen Slowenentum färbt die Erinnerung d a r a n , d a ß die A u s f o r m u n g einer besonderen slowenischen N a t i o n a l i t ä t im 16. J h . dem lutherischen Kreis um T r u b a r zu danken w a r und daß mit reformatorischen Schriften die slowenische Nationalliteratur begründet wurde, das kirchliche Selbstbewußtsein. In der mazedonischen O r t h o d o x i e wiederum wirken die schmerzlichen Erinnerungen an die Orientierungskonflikte während der ausgehenden O s m a n e n h e r r s c h a f t dahin, sich als „mazedonische N a t i o n " zu verstehen und dies in der o r t h o d o x e n Kirche zur Geltung zu bringen. In M o n t e n e g r o hat der gemeinsame Versuch der

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H i e r a r c h i e und der national gesinnten T s c h e t n i k i , die kommunistische P a r t i s a n e n b e w e g u n g zurückzudrängen, bei T i t o s Sieg zu einer grauenhaften R e a k t i o n geführt, m i t der F o l g e , daß in dieser R e g i o n die o r t h o d o x e T r a d i t i o n sehr abgeschwächt w u r d e .

1. Kirchengeschichte

Serbiens

Heidnische serbische Zadruga-Verbände waren seit dem 6. Jh. bis nach Mittelgriechenland vorgedrungen. Von griechischen Küstenstädten und Klöstern aus wurden sie hellenisiert und damit zugleich christianisiert. Im Z u g e ihrer Staatsgründung A n f a n g des 13. Jh. gelangten die Serben zu ihrem autokephalen Kirchenwesen. Der Verselbständigungsvorgang w a r dadurch ermöglicht, daß der 4. Kreuzzug (—• Kreuzzüge) durch Gründung des lateinischen Kaisertums die byzantinische M a c h t niederdrückte. Zwischen Ost und West gestellt, entschied sich der Großzupan Stefan N e m a n j a zu einer nationalen O r t h o d o x i e . (Daß der ihm nachfolgende Sohn Stefan v o m Papst eine Königskrone annahm, war nur eine vorübergehende Schwankung.) Der heilige Sava, Stefan N e m a n j a s jüngster Sohn, ließ im Athos-Kloster Hilandar ein serbisches, auch die Kultur bestimmendes Zentrum entstehen. Stefan N e m a n j a selbst nahm das M ö n c h t u m an. D a ß Vater und Sohn nicht byzantinische sondern syrische Heiligennamen wählten - Sabas und Symeon stellte einen bewußten Rückgriff dar. 1208 kehrte Sava nach Serbien zurück, um die Gebeine seines Vaters zu überführen, und ließ sich aus Liebe zu seinem Volk zum Bleiben bestimmen. D i e traditionsreichen Klöster Studenica und Zica wurden gegründet. 1219 setzte Sava am byzantinischen Patriarchenhof zu Nicäa die Verselbständigung der serbischen O r t h o d o x i e durch und ließ sich zum ersten Erzbischof weihen (Sitz Z i c a , Ende 13. Jh. Überführung nach Pec). Sava veranlaßte die griechischen Hierarchen, die bis dahin die serbische Kirche verwaltet hatten, zum A b z u g und erhob seine Schüler auf die sieben neugegründeten Bischofssitze. Unter König M i l u t i n veranlaßte Erzbischof Danilo II. eine Revision der gottesdienstlichen Bücher nach griechischem Urtext und ergänzenden Übersetzungen. Als sich Dusan 1345 zum Z a r e n proklamieren ließ, um damit das byzantinische Kaisertum zu ersetzen, wurde die Kirche Serbiens in den Rang eines Patriarchats erhoben. Diese hierarchische Selbsterhöhung führte zu Konflikten mit dem Ökumenischen Patriarchat. D a ß Z a r Dusan starb und sein Reich zerfiel, ließ das Volk glauben, dies sei W i r k u n g des Anathems. Fürst Lazar stellte die Gemeinschaft mit Byzanz wieder her. Beim Einbruch der Osmanen warf sich Fürst L a z a r in der Erkenntnis, daß nur sein O p f e r dem o r t h o d o x e n Serbien eine Z u k u n f t verbürgen könnte, der überlegenen islamischen M a c h t 1389 auf dem Amselfeld entgegen. Diese T a t blieb als „ G e i s t von K o s s o v o " im Volksepos lebendig. D a ß Soliman der Prächtige 1557 das serbische Patriarchat, das 1463 erloschen war, wieder herstellte, gab dem Volk den Mittelpunkt, den es brauchte, um zu überdauern. Entscheidenden Einfluß übte dabei ein Sohn des serbischen Volkes, der, achtzehnjährig nach Istanbul entführt und muselmanisch erzogen, zum Wezir aufgestiegen war: M e h m e t Sokolovic. Sein jüngerer Bruder M a k a r i j e , A b t von Hilandar, der die Patriarchatsgründung angeregt hatte, wurde als erster Patriarch der neuen Reihe eingesetzt. Seine N a c h f o l g e r entstammten dem gleichen serbischen Feudalmilieu. M o t i v e des Nepotismus und politische Überlegungen, das serbische Volk durch kirchliche Verselbständigung zu einem tragenden Faktor des Osmanischen Reiches zu machen, gaben bei Sokolovic den Ausschlag. Als der Patriarchenstuhl von Pec 1737 zum zweiten M a l dadurch vakant wurde, daß ein Patriarch, durch Unterstützung der österreichischen A r m e e bei den T ü r k e n k o m p r o mittiert, ins Gebiet der ungarischen K r o n e auswich, wurde unter Mißachtung der Rechte der serbischen Synode erstmals ein Phanariote in die serbische Hierarchie eingeschleust. D i e Verschuldung des Patriarchats von Pec w a r dann bestimmend für den Firman Mustafas III. 1766 zur A u f h e b u n g . Zwischen der phanariotischen Hierarchie, v o n der keine Impulse für das geistliche Leben ausgingen, die aber eine liturgische und pädagogische Gräzisierung anstrebte, und den serbischen M ö n c h e n und Priestern klaffte ein A b g r u n d . Doch schon 38 Jahre später kam mit d e m serbischen Aufstand der Gegenschlag. D a ß

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die Strukturen des Volkslebens in Familiengemeinschaften, Bruderschaften und im Beichtverhältnis der Gläubigen zu den Klöstern kirchlich bestimmt blieben, bot die Ausgangsbasis für die serbischen Revolutionen von 1804 und 1815. Zwei J a h r e nach dem Zugeständnis politischer Selbständigkeit im Hatti Scherif von 1830 besiegelte ein Vertrag des serbischen Fürsten Milosch mit dem Phanar den unabhängigen Status der serbischen Metropolie mit nationaler Hierarchie. Milosch ließ einen M ö n c h aus dem Kreis seiner Vertrauten, Melentije Pavlovic (seinen Trommler in der siegreichen Schlacht von Ljubic), in Konstantinopel zum Metropoliten von Belgrad weihen. Der T o m o s vom 16. O k t o b e r 1879 machte die serbische Autokephalie rechtskräftig. Bei Errichtung des jugoslawischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg schlössen sich sechs bisher voneinander getrennt verwaltete Kirchen zusammen: 1. Die M e t r o p o l i e B e l g r a d , jetzt z u m P a t r i a r c h a t e r h o b e n . 2 . Ihr w u r d e die K i r c h e v o m Sremski Karlovci einverleibt, welche die auf ungarisches T e r r i t o r i u m geflüchteten serbischen A u f s t ä n d i s c h e n organisiert h a t t e und z u m D a n k für die U n t e r s t ü t z u n g gegen die ungarische E r h e b u n g von 1 8 4 8 d u r c h W i e n mit der P a t r i a r c h e n w ü r d e ausgezeichnet w o r den w a r . 3. D i e M e t r o p o l i e M o n t e n e g r o , die 1 7 6 6 nicht bereit gewesen w a r , die Ü b e r t r a g u n g der Jurisdiktionsgewalt n a c h K o n s t a n t i n o p e l h i n z u n e h m e n und sich fortan ihre Bischofsweihen bei der russischen Kirche geholt h a t t e . 4 . D i e seit 1 8 7 8 an Ö s t e r r e i c h - U n g a r n angeschlossenen Kirchengebiete von Bosnien und H e r z e g o w i n a (4 B i s t ü m e r ) . 5. D i e bisher von C e r n o v i c J u r i s d i k t i o n e n geleiteten dalmatinischen Bistümer Z a r a und K o t o r , die in der Z e i t n a p o l e o n i s c h e r H e r r s c h a f t 1 8 1 0 aufgerichtet w a r e n , sich aber t r o t z k a t h o l i s c h e m D r u c k nicht wieder h a t t e n auslöschen lassen. 6. D i e E p a r c h i e n M a z e d o n i e n s , die z w a r seit 1 9 1 2 d e m serbischen Staat inkorporiert w a r e n , aber n o c h zu Konstantinopels Jurisdiktionsbereich zählten. D i e v o m K ö n i g a m 1 6 . N o v e m b e r 1 9 3 1 sanktionierte Kirchenverfassung, die den Z e n t r a l i s m u s d a d u r c h stärkte, d a ß das M e t r o p o l i t a n - S y s t e m abgelehnt und die zwanzig (später einundzwanzig) E p a r c h i e n u n m i t t e l b a r d e m P a t r i a r c h e n unterstellt w u r d e n , ging in der Substanz in den v o n der Volksrepublik J u g o s l a w i e n a m 3 0 . M a i 1 9 4 7 g e w ä h r t e n Ustav ein.

Die jüngste kirchliche Entwicklung wurde dadurch eingeleitet, daß der serbische Patriarch Gavrilo Dozic den von Hitler erzwungenen Akt vom 25. M ä r z 1941, der dem jugoslawischen Staat die Respektierung seiner Souveränität und Integrität unter der Bedingung zusagte, daß er sich von der Kleinen Entente und von französischen Bindungen zurückziehe, durch einen Rundfunkappell unterlief, der zwei Tage darauf einen Staatsstreich auslöste, der den Vertrag mit Hitler annullierte. Damit war ein deutscher Einmarsch ausgelöst, der Jugoslawien in Einflußzonen der Achsenmächte aufteilte. Der Patriarch, der sich gemäß seiner Hirtenpflicht weigerte, das Land mit der Regierung zu verlassen, fiel im Kloster Ostrog in deutsche Gefangenschaft. Bis zum Kriegsende im K Z Dachau, ließ T i t o ihn ungern nach Jugoslawien zurückkehren. Metropolit J o s i f von Skopje, eine energiegeladene Persönlichkeit, von den Bulgaren, die Mazedonien besetzten, ausgewiesen, organisierte in Belgrad ein kirchliches Notregiment. Wichtigste Aufgabe war, die Zwangstransporte orthodoxer Serben und ihrer Priester (über 3 0 0 0 0 0 ) , die im Zuge der „Kroatisierung" serbischer Landstriche Kroatiens vertrieben waren, aufzufangen. D a überall die Seminararbeit geschlossen und die Bildung des Priesternachwuchses problematisch war, wurde im Juli 1942 das St. Sava-Seminar in Belgrad eröffnet. Kaum war die M a c h t an T i t o gefallen, als Priester, die sich der Partisanenbewegung eingereiht hatten, Funktionen in der orthodoxen Kirche übernahmen. Als das M o s k a u e r Patriarchat die Oberhäupter der Schwesterkirchen 1945 zur Patriarchenwahl einlud, geleitete der Altpartisan Priester Jevstatije Karamatijevic den Metropoliten Josif, der in M o s k a u den serbischen Patriarchen zu vertreten hatte. Dies war seit langem die erste Gelegenheit zu einem Zusammentreffen mit ausländischen Hierarchen. N a c h dem M u ster der damaligen Bewilligung von seilen der Regierung verliefen alle späteren Bestätigungen kirchlicher Akte. Die Regierung erkannte im Fall der Moskaureise einen politi-

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sehen Nutzen. In gleicher Weise wie Vater Jevstatije förderte der Priester und Altpartisan Milan Smiljanic die Gründung progressiver Priestervereinigungen, die nach sowjetischem Muster die Hierarchie aus der Kirchenführung verdrängen sollte. Anträge auf Anerkennung der Priestervereinigungen durch die Synode wurden jedoch 1952 und auch bei späteren Synodensitzungen abgelehnt, bis die Priestervereinigung entpolitisiert und auf die Funktion eines Versicherungsvereins reduziert war. Die Kirche hatte eine Periode der Rechtsunsicherheit zu durchmessen. Regierungsdruck war insbesondere im Falle des in den USA amtierenden Bischofs Dionisije zu spüren, der gegenüber der kommunistischen Umgestaltung Jugoslawiens eine kritische Position eingenommen hatte und dessen Verurteilung durch die Bischofssynode erpreßt werden sollte. 1948 wurde ein Schauprozeß gegen Bischof Varnava Nastic in Serajevo inszeniert - ein Mann, den der kroatische Poglavnik zur Leitung einer „kroatisierten" Orthodoxie gedrängt hatte und der daraufhin zu den serbischen Partisanen geflüchtet war, sich aber wegen seines Glaubens mit den Marxisten überworfen hatte und nie den Mund halten wollte. Das Urteil lautete auf 11 Jahre Haft. Dies Faktum bremste die Kooperation des Patriarchen Vikentije mit der Regierung. Als Synodale den einsitzenden Varnava zur Verurteilung des Dionisije in den USA bestimmen wollten, erklärte der Bischof: Ich bin frei - ihr sitzt im Gefängnis. 1954 wurde ein Verfahren gegen vier montenegrinische Priester eingeleitet, die die Behörde kritisiert hatten, ihre die Religion schützenden Gesetze stünden nur auf dem Papier. Der Metropolit des montenegrinischen Küstengebietes Arsenije Bradvarovic wurde in den Prozeß verwickelt, weil er 1952 einen Rundbrief hatte zirkulieren lassen, der den Priestern den Beitritt zu politischen Gruppen wie der Volksfront oder der Priestervereinigung untersagte, und wegen „destruktiver Propaganda". Er habe die Ordnung im Lande „diktatorisch" genannt und in einer Beschwerde beim montenegrinischen Premier Lokalautoritäten mit dem Vorwurf ungesetzlichen Verhaltens gegenüber Priestern verleumdet. Das Urteil lautete auf 11 1/2 Jahre Gefängnis. Ohne Zweifel hatte Arsenije den Kooperationskurs des Patriarchats nicht mitvollziehen wollen. 2. Aus dem Leben

der serbischen

Orthodoxie

Der Priesternachwuchs des Patriarchats Belgrad, das seit 12.9.1958 von Patriarch German Djoric geleitet wird, wird in fünf theologischen Schulen ausgebildet: in der Klosterschule Ostrog in Montenegro, in den Seminaren Kloster Krka in Kroatien (zeitweise für Spätberufene), in Prizren, Sremski Karlovci und Belgrad. Zu akademischen Graden führt die Theologische Fakultät, die, 1905 im Rahmen der Staatsuniversität konzipiert, seit der Trennung von Kirche und Staat als Patriarchatsinstitut geführt wird. Als bedeutendster zeitgenössischer Theologe wurde Justin Popovic (gest. 1983) angesehen, der Anregungen des russischen Theologen Antonij Chrapovickij (seit 1920 als Leiter der russischen Exilkirche im ehemaligen Patriarchatsgebäude Karlovci residierend) aufnahm, vor allem dessen Kritik an der abendländischen Gnadentheologie, der eine juridische Gottesvorstellung zugrundeliege. Bei der politischen Wende gab Popovic den Dogmatiklehrstuhl auf und erzog im Kloster Celije eine Gruppe junger M ö n c h e , die jetzt wieder als Dozenten an der Belgrader Fakultät lehren. Die geistliche Musik besitzt in Stefan M o k r a n j a c , Leiter des Kathedralchors und Lehrer a m St. SavaSeminar einen bedeutenden Komponisten. Bestimmte Landstriche sind von der Frömmigkeitsbewegung der Bogomoljci erfaßt, die, streng im Gottesdienstbesuch und Fasten, die o r t h o d o x e Spiritualität mit pietistischen Elementen erneuert. Ein Flügel der Bewegung ließ sich von Bischof Nikolaj Velimirovic inspirieren, einem Charismatiker, der eigenes Liedgut schaffen half, von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet und ins K Z Dachau eingewiesen wurde. Ins kommunistische Jugoslawien kehrte Velimirovic nicht zurück (gest. 1956 in den USA). Der für die Bundesrepublik im serbischen Z e n t r u m Himmelsthür amtierende Bischof Lavrentije (seit 3 0 . 3 . 6 7 ) verbreitete durch Druckwerke Bischof Nikolajs Gedanken. Im frommen Brauchtum nimmt die Slava-Feier noch immer einen bestimmenden Platz ein. Hier ist die heidnische Verehrung der Familiengeister damit überdeckt, daß jede serbische Familie ihren Schutzpatron auf dem Hausaltar verehrt. Vor der N a c h t r u h e vollzieht der Familienvater eine Anru-

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fung, der alle mit brennender Kerze beiwohnen. A m Slava-Tag beräuchert der Hausherr den Altar des Stammpatrons und jeder atmet den Rauch des Rauchfasses ein. Den Festkuchen Slavski Kolac läßt die Familie, im Kreise stehend, unter Hymnengesang auf ausgestreckten Händen ruhen und kreisen. Das Sava-Fest (27. J a n u a r ) w a r früher Nationalfeiertag. Die Viten des Heiligen, von Teodosije und Homentianus verfaßt, zählen zur frommen Lektüre. Die Sava-Reliquien, die früher im Kloster Milesevo ruhten, überführte der Türkenherrscher Sinan Pascha zum Vracar-Berg und ließ sie dort verbrennen. Seitdem heftet sich die Verehrung an diesen Berg, der vor dem Systemwechsel für einen Neubau des Patriarchats vorgesehen war. Als die rumänische Nachbarkirche 1955 begann, neue Nationalheilige zu kanonisieren, darunter auch solche, die man wegen serbischen Ursprungs selber verehren wollte, sah sich die Synode zu Neukanonisierungen provoziert (14. Juni 1962). Die serbische Ikonenverehrung heftet sich an wundertätige Marienikonen: so an die Tricherousa von Hilandar, die ursprünglich Johannes Damascenus gehört haben soll, der, als ihm beim Gebet v o r der Ikone die vom Kalifen abgeschlagene rechte H a n d wieder anwuchs, eine Silberhand an die Ikone heftete. In gleichen Ehren wird die Marienikone von Pec gehalten, die dem hl. Sava bei der Bischofsweihe geschenkt worden sein soll. Die Prozession mit dieser Ikone durchs serbische Land gestaltete sich zur größten religiösen Kundgebung der serbischen Neuzeit. Der 1894 gedichtete Akafist zu Ehren dieser Ikone endet mit den Worten: „Freue dich, Schützerin und Retterin des serbischen kreuztragenden Volkes!"

3. Die Frage einer mazedonischen

Autokephalie

Mazedonien erlitt ein besonderes politisches und kirchliches Schicksal, seit der Berliner Kongreß 1878 entschieden hatte, daß dieses Territorium unter osmanischer Herrschaft bleibe. Die Hierarchie, dem Ökumenischen Patriarchat unterstehend, war schon seit dem 11. J h . griechisch, aber nur auf einen rund 180000 zählenden griechischen Bevölkerungsanteil abgestützt. Die in ethnischer Mischlage siedelnden Albaner, Aromunen, sephardischen Juden, Türken und majoritären Slawen suchten, als die Welle nationaler Bewußtwerdung sie erfaßte, jeder für sich die Superiorität über die anderen. Als sich 1858/60 in der in Konstantinopel ansässigen bulgarischen Intelligenz eine nationale Emanzipationsbewegung formierte, die eine bulgarische Unabhängigkeit durch Loslösung vom griechisch dominierten Patriarchat - dem Phanar - zu erreichen strebte und sich in ihren Zielvorstellungen von historischen Erinnerungen bestimmen ließ, mußte das einstige bulgarische Patriarchat Ochrid in den Blick kommen. Dort hatten auch nach Eingliederung ins byzantinische Reich autochthone Christen den Patriarchenstuhl eingenommen, also Aromunen, Albaner oder Slawen, die der gräzisierten Bildungsschicht angehörten, bis 1767 der ö k u m e n i s c h e Patriarch, der schon häufiger „Phanarioten", die den lokalen Gemeinden als „Allodapoi" fremd waren, eingesetzt hatte, die Patriarchatsfunktion von Ochrid aufhob. Die stets unter der Decke schwelende Protesthaltung der lokalen Christen brach hervor, als sich die bulgarische Nationalbewegung entfaltete: Notabein von Ochrid schlugen 1861 dem bulgarischen Nationalkomitee die Wiederherstellung des alten nationalbulgarischen Patriarchats („von ganz Bulgarien" - historischer Titel) vor. Die mazedonischen Slawen, die in dem von Nationalbewegungen gezeichneten 19. J h . eine nationale Identität für sich wählen mußten, waren gezwungen, dies in Form eines Votums für eine der in Mazedonien miteinander rivalisierenden kirchlichen Jürisdiktionen zu tun. In Konstantinopel hatte 1860/61 ein Versuch begonnen, die bulgarische Unabhängigkeit durch Konversion zum unierten Ritus der römischen Kirche zu erlangen. Französische Lazaristen vertraten diese Linie durch ihre Stationen in Thessaloniki, M o nastir und Kukusch und gewannen auch den 1890 in Üsküb inthronisierten bulgarischen Bischof Teodosije, der Ochrid erneuern wollte, für diese Lösung. Als die Tendenz, das nationale Ziel durch Errichtung einer nationalbulgarischen orthodoxen Hierarchie zu erreichen, das Übergewicht gewann und durch Erlaß eines Firmans über ein bulgarisches Exarchat ihre Chance erhielt, eröffnete Artikel 10 des Firmans die Möglichkeit, auch nach Gründung des Fürstentums Bulgarien im osmanischen Mazedonien exarchistische Bischofssitze, Gemeinden und Schulen zu gründen, sofern bei Abstimmungen in den Gemeinden 2/3 für das bulgarische Exarchat votierten.

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Die griechischen Hierarchen M a z e d o n i e n s , unterstützt von türkischen Behörden und griechischen Partisanenbanden, suchten der E x a r c h a t s b e w e g u n g gegenüber für sich und ihre griechische M i n d e r h e i t die historische Position zu halten. Da o r t h o d o x e Gläubige dazu erzogen sind, auf die Befolgung k a n o n i s c h e r Regeln in ihrer Kirche zu achten, weil nur H a n d l u n g e n kanonischer A m t s t r ä g e r h e i l s w i r k s a m sind, blieben zahlreiche s l a w i sche Priester und Gläubige unter Patriarchats] urisdiktion oder kehrten dahin zurück und n a h m e n die griechische D o m i n a n z in Kauf. Als vierte W a h l m ö g l i c h k e i t tauchte das Votum für serbische Kirchlichkeit auf, und z w a r zuerst in den 90er J a h r e n in der V i l a j e t - H a u p t s t a d t Ü s k ü b (Skopje). Die dortigen griechischen M e t r o p o l i t e n Paisios (bis 1898) und M e t h o d i o s (bis 1896) hatten, um sich gegen die Offensive der bulgarischen E x a r c h a t s b e w e g u n g behaupten zu können, die als „ S e r b e n " bezeichneten slawischen A n h ä n g e r des P a t r i a r c h a t s durch paritätische Nutzung der kirchenslawischen und griechischen Liturgiesprache zu g e w i n n e n gesucht, erst, indem sie s y m p h o n einen links postierten Kirchenchor slawisch, einen rechts aufgestellten griechisch singen ließen, d a n n , indem sie in der M e t r o p o l i t a n k i r c h e - der einzigen, über die sie verfügten - alternierend einmal slawisch, das nächste M a l griechisch zelebrieren ließen. Doch das griechische Element, von Geizer als „blind fanatisch, numerisch ganz s c h w a c h " qualifiziert, „ v o n der a u s w ä r t i g e n sehr energischen P r o p a g a n d a und ihrer Presse unterstützt", trat in Opposition zu seinen friedliebenden Hierarchen, störte die kirchenslawischen Gottesdienste, so d a ß die türkische Polizei die griechischen R a n d a l i e rer a u s dem Gottesdienst herausholen m u ß t e , und setzte 1896 bei des M e t h o d i o s Tod beim P h a n a r die Ernennung eines stur griechischen M e t r o p o l i t e n , nämlich des A m b r o s i o s durch. Jetzt störten die Serben die Gottesdienste w i e früher die Griechen. Als g a r die serbische R e g i e r u n g dem Patriarchen mit der G r ü n d u n g eines u n a b h ä n g i g e n serbischen Exarchats drohte, falls die neue Praxis in Ü s k ü b beibehalten w ü r d e , zog der P h a n a r schleunigst A m b r o s i o s ab und b e a u f t r a g t e den bisherigen R e k t o r der Theologischen Schule Belgrad, den Serben Firmilian, mit der Leitung der Eparchie Üsküb. Der kehrte zur Praxis alternierender slawischer und griechischer Gottesdienste zurück und stellte in den Dörfern nur serbische Priester ein. Als M a z e d o n i e n mit den B a l k a n k r i e g e n 1912/13 dem serbischen Fürstentum zufiel, w u r d e die Serbisierung der O r t h o d o x i e im ganzen neuen Landesteil durchgesetzt. Getreu einem Kominternbeschluß von 1934, d e m zufolge a u s den serbischen, bulgarischen und griechischen Elementen M a z e d o n i e n s ein revolutionäres u n a b h ä n g i g e s M a z e donien hervorgehen sollte, w u r d e n nach d e m Partisanensieg in der jugoslawischen Volksrepublik als fünfte Nation die M a z e d o n i e r a n e r k a n n t . D a m i t w u r d e der Schein e r w e c k t , zwischen den kommunistischen Brudervölkern sei der historische Streit um M a z e d o n i e n beendigt. W ä h r e n d auf staatlichem Gebiet der Parteizentralismus die föderalistische Aufgliederung überspielt, w i r k t sich die behördlich geförderte Konstituierung einer eigenen Schriftsprache und einer u n a b h ä n g i g e n Kirche M a z e d o n i e n s als S c h w ä c h u n g des Patriarchats Belgrad und als Vermehrung der G l a u b w ü r d i g k e i t mazedonischen Eigenlebens aus. Patriarch Gavrilo lehnte jede Diskussion über die mazedonische Frage ab. Doch a m 10. April 1957 k a m es zu einer Vereinbarung zwischen d e m serbischen P a t r i a r c h a t und dem mazedonischen kirchlichen Initiativausschuß, die d e m mazedonischen M e t r o p o l i t e n Dositej von Ochrid ein selbständiges Kirchenregiment ermöglichte. U m die Aussicht auf A n e r k e n n u n g durch die o r t h o d o x e n S c h w e s t e r p a t r i a r c h a t e offenzuhalten, w u r d e f o r m a l bloß von einer „ A u t o n o m i e " gesprochen. Die einzige Verbindung des P a t r i a r c h a t s mit der mazedonischen Kirche bestand d a r i n , d a ß der Patriarch die W a h l s y n o d e für das M e t r o p o l i t e n a m t - ohne Vetorecht - zu leiten hatte. Im Juli 1967 durchschnitt die mazedonische Kirche d a s letzte Band, d a s sie an die serbische Kirche fesselte, und e r k l ä r t e sich f ü r a u t o k e p h a l . Die Belgrader Bischofssynode sprach ihr d a r a u f h i n die Kanonizität ab. Der Ö k u m e n i s c h e Patriarch forderte die mazedonische H i e r a r c h i e auf, ihre Entscheidung a n k a n o n i s c h e n M a ß s t ä b e n zu überprüfen. Im gleichen Z u g e w u r d e 1967 d a s u n a b h ä n g i g e Leben der mazedonischen Kirche, die vier

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Eparchien umfaßt, durch Gründung einer eigenen Theologischen Hochschule im EliasKloster bei Skopje abgerundet. 4. Die kroatische

katholische

Kirche in ihrer

Geschichte

An der Wende vom 6. zum 7. Jh. kamen die Kroaten, vom byzantinischen Kaiser Heraklius gegen die Avaren aufgeboten, von den Karpaten her in die Wohngebiete zwischen adriatischer Küste und Drau. Ihre Christianisierung erfolgte von den romanischen Küstenstädten, insbesondere vom Erzbistum Split aus. Seit 803 sandten die zur Macht gelangten Franken Missionare aus Aquilea. Ende des 9. Jh. führten Jünger des Kyrill und Method die lebendige Volkssprache in der Liturgie ein (glagolitische Schreibweise) und legten so die Basis der nationalen Kultur. Mit Ausnahme der Regierungszeit des Fürsten Zdeslav (878/79), in der man sich dem Photianischen Schisma (—•Photios) zuwendete, folgte die Kirche Kroatiens Rom. 923 wurde unter Tomislav das Erzbistum Split, das bisher unter byzantinischer Jurisdiktion stand, Westrom zugeteilt und alsbald zur Metropolie erhoben. Die 1094 gegründete Diözese Zagreb war politisch und kirchlich dem Königreich Ungarn eingegliedert. Seit 1102 war das kroatische Königreich in Personalunion mit dem Königreich Ungarn verbunden. Das Eindringen der bogomilischen Häresie (—>Bogomilen) und die weitgehende Islamisierung der bogomilischen Kreise in dem nach der verlorenen Schlacht von Mohacs 1526 osmanischen Bosnien zerstörte die hierarchische Ordnung. Das Gebiet des Königreichs wurde durch das osmanische Vordringen von 50000 km 2 auf 16 800 km 2 zurückgedrängt. Im Blick auf den kroatischen Widerstand gegen die Osmanen bezeichnete —>LeoX. 1519 Kroatien als antemurale Christianitatis. Durch den Bevölkerungszustrom aus den besetzten Gebieten entwickelte sich Zagreb zum neuen Zentrum. In Bosnien, wo sich die Franziskaner 1260 niedergelassen hatten und die Seelsorge in der Periode osmanischer Herrschaft ganz bei ihnen lag, bahnte sich in den Jahren 1837-1844 ein Schisma an, indem die in Ungarn ausgebildeten Mönche, die die Mehrzahl darstellten, in Opposition zum Inhaber des Bischofsamtes Baricic traten, der die mönchische Einfachheit verließ, den Bau einer Residenz erzwang und die Klosterkirche von Sutiska als seine Kathedrale beanspruchte. Der von der Propaganda mit der Untersuchung des Konfliktes beauftragte Bischof Molajoni (Nicopolitanus) schleuste den deutschen Jesuiten Pothen ein, der jetzt einen Frontwechsel vollzog, die Baricic-Linie fortsetzte und unter den in Italien ausgebildeten Mönchen Anhänger fand. Pothen setzte die Guardiane der Klöster ab. Daß er sich an Österreich anlehnte, die oppositionellen Franziskaner jedoch bei dem Wezir in Travnik Schutz fanden, läßt erkennen, daß der kirchliche Konflikt unterschwellig auch einen politischen Orientierungskonflikt des katholischen Bosniakentums darstellte. Daß sich Bischofsamt und Franziskanertum in Bosnien (auch in der Herzegowina) polarisieren, kennzeichnet noch die heutige Situation. In Mostar, das sowohl Bistum als auch Franziskanerprovinz ist, beträgt der auch vom Vatikan gebilligte Verteilungsschlüssel für die Besetzung der Pfarren 50 : 50. Anstelle der offen unbotmäßigen Provinzleitung der Franziskaner wurde aus Rom eine neue eingesetzt. Die meisten Mönche betrachten sie als usurpatorisch und meiden den Verkehr mit ihr. Daß in Medjugorje im Frühsommer 1981 Erscheinungen Mariens auftraten, die in jekavischem Kroatisch dem Volk von seiner Zukunft sprach, führte dazu, daß die Franziskaner, auch wenn die Justiz ihre Brüder dafür ins Gefängnis warf, den neuen Wallfahrtsort verwalteten, das Bischofsamt aber auf Distanz ging. N a c h d e m der deutsche Angriff im Zweiten Weltkrieg Jugoslawien niedergeworfen hatte und am 10. April 1941 ein unabhängiges Kroatien ausgerufen w a r , kam es zu Serbenmassakern, ausgeführt von den Ustascha, bei denen rund 3 0 0 0 0 0 ums Leben kamen, darunter 128 Priester. 2 9 9 Kirchen wurden niedergebrannt, Zwangsbekehrungen zum katholischen Glauben versucht. Als die Partisanen 1945 dafür R a c h e nahmen, stürzten sie auch sieben an den Greueln nicht beteiligte Franziskaner des Klosters Siroki Brijeg von der alten Steinbrücke in die Neretva. Der katholische Erzbischof von

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Z a g r e b Alojzije Stepinac protestierte oft beim Poglavnik gegen die Unmenschlichkeiten, die in K r o a tien geschahen, und reizte damit die U s t a s c h a - F u n k t i o n ä r e und die Vertreter der A c h s e n m ä c h t e . Der E r z b i s c h o f von Z a g r e b h a t t e sich beim Einrücken serbischer und montenegrinischer Partisanen in der kroatischen Hauptstadt zum Bleiben entschieden, eingedenk dessen, daß o h n e eine päpstliche Weisung kein Bischof seine Diözese verlassen darf. Vor G e r i c h t gestellt, wurde ihm der V o r w u r f der Kollaboration g e m a c h t , zumal er seinen Besuch beim Poglavnik schon vor dem D a t u m der jugoslawischen Kapitulation von 1941 abgestattet h a b e - ein Akt des Staatsverrats! In krassem Widerspruch zum wirklichen Ablauf der G e s c h i c h t e wurden dem Hierarchen die Ausschreitungen der Ustascha zur Last gelegt. Der Erzbischof wurde zu 16 J a h r e n Gefängnis verurteilt. N a c h seinem T o d galt Stepinac zwar der Partei noch immer als Krimineller, die Kirche aber g a b ihm in vollen Ehren im D o m sein G r a b . Doch der Vorsitzende des kroatischen Republikpräsidiums Blazevic, der im Schauprozeß gegen Stepinac als Staatsanwalt fungiert hatte, wiederholte in seinen M e m o i r e n 1981 die alten Vorwürfe in voller Schärfe. D e m trat a m 21. J a h r e s t a g von Stepinac' T o d , dem 10. F e b r u a r , der Z a g r e b e r Erzbischof Kuharic (seit 1983 Kardinal) in einer Predigt in der überfüllten Kathedrale entgegen, die Punkt für Punkt die Vorwürfe widerlegte.

R o m tat das Beste zur Stützung des kroatischen Katholizismus, indem es zum ersten M a l in der Geschichte der Heiligsprechungen zwei Kroaten zur „ E h r e der A l t ä r e " erhob: den Franziskaner Nikolaus Tavelic und den Kapuziner Leopold Bogdan M a n d i c . Tavelic, aus Sibenik stammend, diente in der Kustodie in dem von den M a m e l u k e n beherrschten Jerusalem und hatte sich im vollen Wissen, was er zu erwarten hatte, missionarisch dem Islam zugewandt. Als Beleidiger des Koranglaubens bezahlte er den Missionsversuch am 14. Nov. 1391 mit seinem Blut. Z u m Akt der Heiligsprechung 1970 strömten 2 0 0 0 0 Kroaten nach R o m . Am 2. M a i 1976 wurde der kroatische Kapuziner M a n d i c , ein begnadeter Beichtvater, selig gesprochen. Meist wirkte er in Padua, aber „sein Herz blieb auf der anderen Seite der A d r i a " (1983 kanonisiert). 1982 fand ein Konflikt seine gewaltsame Lösung, der die katholische Bildungswelt Kroatiens lange beschäftigt hatte. Im M a i 1977 hatten bedeutende Theologen Zagrebs, basierend auf einem kirchlichen Forschungszentrum, das von Kardinal F r a n j o Seper seinerzeit angeregt war, die Theologische Gesellschaft Christliche Gegenwart (Krscanska Sadasnjost), hauptsächlich um eine hohe Steuerlast für verlegerische Arbeit zu vermeiden, nicht nach kirchlichem, sondern nach staatlichem R e c h t organisiert. In der Hierarchie, aber auch bei den Jesuiten kam der Verdacht auf, die Mitglieder der Theologischen Gesellschaft wollten sich von den Bischöfen unabhängig halten, ja erstrebten eine Annäherung an den kommunistischen Staat. Die Dynamik der Gruppe war bedeutend. Als die vatikanische Klerus-Kongregation am 8. M ä r z 1982 die Erklärung Quidam Episcopi erließ, die allen Priestern die Zugehörigkeit zu politischen Vereinigungen untersagt, war das - außer auf die tschechoslowakische Priestervereinigung Pacem in Terris - auf die Theologische Gesellschaft im jugoslawischen Z a g r e b gemünzt. Die Gesellschaft, der bedeutende Theologen wie Sagi-Bunic angehören, behauptete zwar in einer Verlautbarung vom 13. April 1982, die römische Erklärung enthalte keinerlei Elemente, welche sie berührten. D o c h die jugoslawische Bischofskonferenz beschloß Ende September, daß die einzelnen Diözesanbischöfe das Verbot der Zugehörigkeit ihrer Priester zur Gesellschaft durchzusetzen hätten. Erzbischof Frane Franic von Split suspendierte alle Priester, die Mitglieder wurden, und verbot besuchsweise anwesenden Mitgliedern der Gesellschaft jede Amtshandlung. Die römische Kongregation für Erziehung nahm Mitgliedern die Möglichkeit zu akademischer Karriere. Die neue Gesellschaft war von der Vijerska Komisia, die innerhalb der Regierung für Religionsfragen zuständig ist, angeregt. Dieses Regierungsamt, das 1953 hinnehmen mußte, daß die von ihr begünstigte politisch-konforme Priestervereinigung durch ein non licet der Bischofskonferenz geschwächt wurde, hatte jetzt Einflußnahme bei der theologischen Elite gesucht.

440

Jugoslawien

5. Die kirchlichen

Verhältnisse

in

Slowenien

In der Teilrepublik Slowenien wurde im Unterschied zu Kroatien nach dem Z u s a m menbruch des jugoslawischen Widerstandes 1941 kein unabhängiger Staat ins Leben gerufen, vielmehr wurde das Gebiet dreigeteilt. In dem von deutscher Seite beanspruchten 5 Gebietsteil wurde ein unbarmherziger Eindeutschungsprozeß eingeleitet, in dem Italien überlassenen Gebiet gleichfalls jede slowenische Tendenz unterdrückt; im Kerngebiet um Lubljana, das von italienischen Truppen besetzt wurde, akzeptierte der Klerus unter Bischof R o z m a n s Führung die italienische Besatzung und hielt Verbindung zum italienischen H o c h k o m m i s s a r . D o c h im slowenischen Widerstand war von Anfang an auch eine io christliche Gruppe, die Christlich-sozialistische Bewegung, die schon vor dem Krieg bestanden hatte, tätig. Der Klerus von M a r i b o r entzog sich dem deutschen Druck durch Ausweichen in den Süden und konnte nach T i t o s Sieg ins Land zurückkehren. Das w a r für die kirchliche Restauration entscheidend. Die in Slowenien eingespielte klerikale Führung des Volkes blieb in der Volksrepublik erhalten. 15

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Quellen

und

Literatur

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Julian von A e c l a n u m

441

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Julian von A e c l a n u m (ca. 385-ca. 1. Leben 1.

2. Werk

450)

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S.443)

Leben

Julian, geboren gegen Ende des 4. J h . als Sohn Julianas und M e m o r i u s ' , eines Bischofs in Süditalien, heiratete um 403, n a c h d e m er seine geistliche Laufbahn als Lektor begonnen hatte, Titia, eine Tochter Bischof Aemilius' von Benevent, ein Anlaß, der -»Paulinus von N o l a zu einem Gedicht bewog ( C a r m . 2 5 ) . Julian erhielt eine gründliche Ausbildung in traditioneller Rhetorik; 4 0 8 schrieb - » A u g u s t i n an M e m o r i u s (Ep. 101) und legte auf dessen Drängen zur Unterweisung dessen Sohnes eine Abschrift eines Teiles seines T r a k tats Über die Musik bei, wobei er einen Besuch v o m jungen M a n n selbst erbat, der kurze Zeit vorher zum Diakon geweiht worden w a r . Julian k a m nur nach K a r t h a g o , w o er Augustins Freund H o n o r a t u s traf. N a c h Gennadius (Vir. 4 5 ) erlangte Julian in der Kirche R u h m wegen seiner Gelehrsamkeit, allerdings bevor er sich öffentlich dem Pelagianismus (->Pelagius/Pelagianischer Streit) anschloß. Kurz bevor er als Führer einer Gruppe von 18 italienischen und sizilianischen Bischöfen auftrat, die sich weigerten, die Epístola tractoria Papst Z o s i m u s ' zu unterschreiben, in welcher der Pelagianismus v e r d a m m t wurde (418), war er Bischof von Aeclanum (südwestlich von Benevent) geworden ( 4 1 6 / 1 7 ) . Julian und seine Mitopponenten fanden sich bald abgesetzt und unter dem Verbannungsspruch, trotz Appellationen an den einflußreichen C o m e s Valerius in R a v e n n a , an den Heiligen Stuhl und an die östliche Kirche in der Person R u f u s ' von Thessalonich, in der Hoffnung auf eine gerechtere A n h ö r u n g durch ein allgemeines Konzil. E r selbst und

442

Julian von Aeclanum

einige seiner Verbündeten fanden jedoch 421 Unterkommen bei Bischof - » T h e o d o r von Mopsuestia, der bereits gegen die Kritiker des Pelagius geschrieben hatte; hier verbrachte Julian die ersten Jahre des Exils, das für ihn zeit seines ganzen Lebens währen sollte. Dort scheint er sich mit biblischer Exegese beschäftigt zu haben, da das, was von seinem Werk überkommen ist, Theodor und anderen antiochenischen Kommentatoren verpflichtet ist. Er widmete sich ebenso der polemischen Auseinandersetzung mit Augustin, die er in seiner Berufung an Valerius (418) begonnen und in Italien in seinem Traktat Ad Turbatttium (419) fortgeführt hatte; er fügte eine weitere Schrift Ad Florum hinzu (421). Julian versuchte bei jeder Gelegenheit, seinen Sitz zurückzuerlangen, obwohl seine aussichtsreichsten Bemühungen (428/29), offizielle Unterstützung zu erhalten von Theodosius II. und vom neuen Patriarchen von Konstantinopel, ->Nestorius, der pflichtgemäß zu seinen Gunsten bei Papst Coelestin eintrat, durch das alsbaldige Eingreifen von Marius M e r c a tor zunichte gemacht wurden. Er überzeugte den Kaiser, daß die Pelagianer Häretiker waren, und erreichte so ihre Vertreibung aus der Hauptstadt des Ostens. Als die Verurteilung der Häresie auf dem Konzil von -»Ephesus (431) bestätigt wurde, war Julians Schicksal schließlich besiegelt. Danach wurde der Versuch einer Versöhnung mit der Kirche in seinem Heimatland Italien unter den Päpsten Sixtus III. und - > L e o I. entschlossen bekämpft, da Julian noch immer nicht willens war, seine Lehre zu ändern (Prosper, Chron. anno 439). Gennadius (Vir. 45) verbindet eine typisch patrizische Geste von Großzügigkeit, bei der Julian während einer Hungersnot den Armen Hilfe zukommen ließ, mit dessen Bestreben, Unterstützung für die Sache der Pelagianer zu gewinnen; aber es ist unsicher, wann dies geschah. Eine jetzt verlorengegangene Schrift des Fulgentius (s. PL 48,296 ff) erweckt den Eindruck, daß Julian bei den sogenannten „Semipelagianern" in Südgallien vorübergehend Unterkommen fand, wo er —»Faustus in Lerins besuchte, bevor er seine Tage als Lehrer in Sizilien beendete. Er starb irgendwann vor 45.5. 2. Werk Julians Schriften leben nur unter den Namen anderer Autoren oder bruchstückhaft in zahlreichen Zitaten bei Augustin, Marius Mercator und -»Beda fort. Seine exegetische Sachkenntnis, theologische Konsequenz und didaktische Fähigkeit werden beseelt von aufrichtiger Sorge um Sittlichkeit und Religion. Antiochenische Schriftauslegung, zu der ihm seine Vertrautheit mit der griechischen Sprache Zutritt verschaffte und die ihm ein klarer lateinischer Stil auszuwerten ermöglichte, hinterließ ihre Spur bei Julians entschieden historischer Betrachtungsweise der biblischen Texte, deren typologische Bedeutung er nicht abstritt, sondern innerhalb deutlich umrissener Grenzen festzuhalten bemüht war. Eine lateinische Ubersetzung der Expositio in Psalmos Theodors, Kommentare zu Hiob (gekürzt) und zu den Kleinen Propheten (unvollständig) Hosea, Joel und Arnos werden Julian zugeschrieben, wie auch einige Fragmente In Canticum und De bono constantiae, die von Beda zitiert werden. Seine polemischen Werke werden beherrscht von seiner persönlichen Auseinandersetzung mit Augustin zwischen 418 und 421. Ihr Disput war kompliziert, weil die Teilnehmer von verschiedenen philosophischen Voraussetzungen ausgingen - Julian unter aristotelischem und stoischem, Augustin unter neuplatonischem Einfluß - und weil ein manchmal hitziger Austausch von Traktaten dazu führte, daß die Argumentationen sich überkreuzten. Von Julians Brief an Valerius (418) sind nur ein paar Zeilen erhalten in Augustins De nuptiis et concupiscentia ad Valerium comitem ( = Nupt.) 1. Ad Turbantium (Sommer 419), als Antwort auf Nupt. 1, kann weitgehend rekonstruiert werden aus Contra lulianum, Nupt. 2 und Contra secundam luliani responsionem imperfectum opus. Kurze Auszüge aus seinem Brief an Zosimus (418) und ebenso aus einer öffentlichen Disputation in Rom sind enthalten in Marius Mercators Commonitorium, während ein anonymer Libellus fidei wahrscheinlich als Teil eines zweiten Briefes, den Julian an Zosimus schrieb, zu identifizieren ist. Nach dem Tod Zosimus' (Dez. 418) erhielt die römische Kirche einen weiteren Brief, der zusammen mit dem an Rufus von Thessalonich adressierten bruch-

Julian von Aeclanum

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stückhaft bewahrt geblieben ist in Contra duas epistulas Pelagianorum ad Bonifatium. Die ersten drei Viertel von Ad Florum (421) können behutsam herausgelöst werden aus Contra secundam luliani responsionem imperfectum opus. Es antwortete auf Nupt. 2, welches nur eine vorläufige Reaktion Augustins war, die auf einer anonymen Auswahl von Auszügen aus Ad Turbantium basierte; später wurde es ausführlicher in Contra Iulianum widerlegt. In dieser ganzen Auseinandersetzung greift Julian den angeblichen - » M a n i c h ä i s m u s seines Gegners an, dessen Lehre von der Erbsünde das Böse in der menschlichen N a t u r , in der Begierde, und nicht im Willen festzulegen schien. N a c h Julians Ansicht w a r dies gleichbedeutend mit einer Verdammung der Ehe. Julian selbst bemüht sich vor allem, Gottes Gerechtigkeit und das Gute aller Schöpfung zu verteidigen. Begierde ist für ihn nicht in sich selbst böse, sondern nur, wenn ihrer im Ü b e r m a ß gefrönt wird. Durch den Gebrauch des freien Willens kann jeder, auch ein Heide, das Gute erlangen und sollte deshalb auch dazu angespornt werden. G n a d e kann nicht mit persönlicher sittlicher Freiheit im Streit liegen. Julian betont den Vorrang der Vernunft, der weder die Schrift noch die Autorität der Kirche widersprechen sollten. Seine A r g u m e n t a t i o n s m e t h o d e ist gekennzeichnet durch Klarheit der Definition. O h n e Julian hätte, was Augustin selbst anerkennt, dem Pelagianismus ein zusammenhängendes System gefehlt. 3.

Nachwirkung

Wenn auch die pelagianische Lehre als häretisch verurteilt wurde, so zwang die Art, in der Julian diese Lehre entwickelte und definierte, Augustin in einen immer stärker defensiven und wenig befriedigenden D o g m a t i s m u s , welcher eine unmittelbare Reaktion im „Semipelagianismus" hervorrief und die zentralen Fragen für weitere Diskussion offen ließ. E b e n s o bot Julians historische Betrachtungsweise der Schrift einiges Gegengewicht zu der vorherrschend allegorischen Exegese zeitgenössischer westlicher Gelehrter wie H i e r o n y m u s und Augustin. Quellen

(vgl. CPL 2 1961, Nrn. 7 7 3 - 7 7 4 )

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444

Julius II.

Julian von Halikarnaß -> Jesus Christus, -»Monophysiten Julius II., Papst (1503-1513) Giuliano della Rovere wurde am 5 . 1 2 . 1443 in Albissola bei Savona geboren. Er stammte aus dürftigen Verhältnissen, wurde bei den Franziskaner-Konventualen erzogen, legte aber keine Profeß ab. Von seinem Onkel, Papst Sixtus IV., begünstigt, erhielt er eine Reihe von Bistümern und wurde am 1 5 . 1 2 . 1 4 7 1 zum Kardinalpresbyter von S. Pietro in Vincoli kreiert. 1479 erhielt er unter Beibehaltung von S. Pietro das Kardinalbistum Sabina, 1483 dasjenige von Ostia. Während des Pontifikates -»Alexanders VI. war Giuliano della Rovere der Anführer der Opposition gegen die Borgias im Kardinalskollegium. Um sich dem Zugriff des Borgia-Papstes zu entziehen, flüchtete er zu König Karl VIII. von Frankreich. Nach dem kurzen Pontifikat Pius' III. wurde er in einer äußerst raschen Papstwahl am 1. November 1503 als Julius II. zum Papst gewählt. Dabei war, wie damals meist üblich, Bestechung im Spiel. Julius II. war eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit. Er verfügte über eine große körperliche Leistungsfähigkeit, reiche Geistesgaben und einen unbändigen Schaffensdrang. Doch besaß er ein aufbrausendes und jähes Temperament. Die Zeitgenossen nannten ihn Ii Terribile. Infolge der egoistischen Familienpolitik der Borgias befand sich der Kirchenstaat nach dem Tode Alexanders VI. in einer fast völligen Auflösung. Das politische Ziel Julius' II. war es, den Kirchenstaat in seinem Bestand zurückzugewinnen und zu konsolidieren. Er sollte die Grundlage eines erstarkten und unabhängigen Papsttums werden in einem Italien, das von Fremdherrschaft befreit war. Der gefährliche Cesare Borgia, der Sohn Alexanders VI., konnte entmachtet werden. Perugia und Bologna wurden für den Kirchenstaat zurückgewonnen. Um die stolze Republik Venedig zur Herausgabe ihrer zahlreichen Eroberungen zu zwingen, bildete sich im Dezember 1508 die Liga von Cambrai zwischen Maximilian I. und Ludwig XII. von Frankreich. Aragon, Savoyen und der Papst traten dem Bündnis bei, letzterer allerdings erst im M a i 1509. Venedig mußte eine militärische Niederlage bei Agnadello (Mai 1509) hinnehmen und gab die widerrechtlich besetzten Städte in der Romagna an den Papst zurück. Julius suchte daraufhin einen Ausgleich mit der Markusrepublik. Er wollte nämlich den Einfluß der Franzosen in Italien brechen. Am 5 . 1 0 . 1 5 1 1 kam es zur Heiligen Liga zwischen dem Papst, Venedig und Ferdinand von Spanien, der auch Heinrich VIII. von England beitrat. Dank der militärischen Unterstützung durch die schweizerischen Eidgenossen, die sich der Papst verpflichtet hatte (der Bischof von Sitten, Matthäus Schiner, war am 10. M ä r z 1511 zum Kardinal erhoben worden), gelang es, die Franzosen vorübergehend aus Italien zu vertreiben. Parma, Piacenza, Reggio/Emilia konnten für den Kirchenstaat zurückgewonnen werden. Die Auseinandersetzungen mit Frankreich beschworen für Julius II. jedoch eine große innerkirchliche Gefahr herauf. Ludwig X I I . erneuerte 1510 die Pragmatische Sanktion von Bourges (1438). Eine Reihe von Kardinälen, die zu Julius in Opposition standen, beriefen im Einvernehmen mit dem französischen König und mit Billigung Maximilians I. ein allgemeines Konzil für den 1 . 9 . 1511 nach Pisa ein. Um einem drohenden Schisma zuvorzukommen, berief Julius II. seinerseits für Mai 1512 das 5. allgemeine Laterankonzil nach R o m . Auch der Kaiser konnte schließlich für das letztere gewonnen werden. Bei der Verfolgung seiner politischen Ziele waren Julius II. große Erfolge beschieden. Es gelang ihm, den Kirchenstaat für das Papsttum zu sichern. Dagegen fällt die Bilanz seiner innerkirchlichen Tätigkeit dürftig aus. Im Januar 1506 erließ er, der selbst durch Bestechung gewählt worden war, eine Bulle, in der er eine simonistische Papstwahl für nichtig erklärte und die simonistischen Wähler mit den schwersten Kirchenstrafen belegte. In den amerikanischen Kolonialgebieten errichtete er einige neue Bistümer. Ferner verfügte er eine Reihe von Reformmaßnahmen für verschiedene Orden.

Julius III.

445

G r o ß ist die Bedeutung des Papstes als Kunstmäzen. Er nahm die überragenden R e naissancekünstler Bramante, -»Michelangelo und Raffael in seine Dienste. Bramante arbeitete am Umbau des Vatikanpalastes und am Neubau der St. Petersbasilika. Am 18. April 1506 nahm der Papst die Grundsteinlegung für St. Peter vor. Die Kosten des Neubaus sollten vor allem durch die Ausschreibung eines Ablasses (1507) gedeckt werden. Michelangelo schuf die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle und das G r a b m a h l des Papstes (der ursprünglich gigantische Plan k a m nicht zur Ausführung) mit der berühmten Statue des M o s e in S. Pietro in Vincoli. Von Raffael stammen u . a . die Stanzen im vatikanischen Palast. Auch zur Umgestaltung des römischen Stadtbildes trug der Papst wesentlich bei (Via Giulia). Am 2 1 . 2 . 1513 starb Julius II. Der Rovere-Papst war zweifellos eine überragende Persönlichkeit. Das Urteil über ihn fällt jedoch zwiespältig aus. Als Politiker, Feldherr und Kunstmäzen k o m m t ihm eine hervorragende Bedeutung zu. Im Unterschied zu Alexander VI. suchte er nicht so sehr die Glorie seiner Familie, als vielmehr die des Papsttums. Dagegen gehört Julius II. vom innerkirchlichen, religiösen Gesichtspunkt aus zu jenen Gestalten des RenaissancePapsttums, die eine schwere Hypothek für die Kirche als geistliche Institution bedeuteten. Quellen und

Literatur

John F. D ' A m i c o , Papal History and Curial Reform in the Renaissance. Raffaele Maffei's „Brevis H i s t o r i a " of Julius II and L e o X : A H P 18 (1980) 1 5 7 - 2 1 0 . - Guillemette de Beauville, Jules II. Sauveur de la papauté, Paris 1965. - Olivier de la Brosse/Joseph Lecler/Charles Lefebvre, Lateran V u. Trient, I . T . , Mainz 1978. - R o b e r t o Cessi, Dispacci degli ambasciatori veneziani alla C o r t e di R o m a presso Giulio II, Venedig 1932. - Konrad Eubel, Hierarchia Catholica Medii et Recentioris Aevi, Münster, III 2 1 9 2 3 , Neudr. Padua I 9 6 0 . - G i n o Evangelisti, Giulio II alla conquista di Bologna: C a r r o b b i o 5 (1979) 1 3 5 - 1 4 6 . - Christa Friess, Die Beziehungen Kaiser Maximilians I. zur R o m . Kurie u. zur dt. Kirche unter dem Pontifikat Papst Julius II. ( 1 5 0 8 - 1 5 1 3 ) , Phil. Diss. Graz 1974 (masch.). - d e m e n t e Fusero, Giulio II, Mailand 1965. - Felix Gilbert, T h e Pope, his Banker and Venice, C a m b r i d g e / M a s s . 1980. - Hubert Jedin, Gesch. des Konzils v. Trient, Freiburg, I 3 1 9 7 7 . Jesus M a n g i a n o de Terrateig y Cucaló de Montull, Politica en Italia del Rey Catolico 1 5 0 7 - 1 5 1 6 . Correspondencia inedita con el embajador Vieh, 2 B d e . , Madrid 1963. - Ludwig Frhr. v . P a s t o r , Gesch. der Päpste seit dem Ausgang des M A , Freiburg, II 1 3 1 9 5 5 (passim); III/2 1 1 1 9 5 6 , 6 5 9 - 1 1 4 2 . Pio Pecchiai, R o m a nel Cinquecento, Bologna 1948. - Giovanni Battista Picotti, La politica italiana sotto il pontificato di Giulio II, Pisa 1949. - Emmanuel R o d o c a n a c h i , L e pontificat de Jules II, Paris 1928. - Federico Seneca, Venezia e papa Giulio 11, Padua 1962. - Lea Bindi Senesi, Giulio II. Un papa con l'archibugio, Mailand 1967. - Franz X a v e r Seppelt, Gesch. der Päpste v. den Anfängen bis zur Mitte des 2 0 . Jh., München, IV 2 1 9 5 7 , 3 9 5 - 4 0 8 . 4 9 0 f f . 5 0 0 f . - Winfried Stelzer, Konstantin Arianiti als Diplomat zw. König Maximilian I. u. Papst Julius II. in den Jahren 1 5 0 3 - 1 5 0 8 : R Q 6 3 (1968) 2 9 - 4 8 . - Walter Ulimann, J u l i u s » and the Schismatic Cardinais: S C H ( L ) 9 (1972) 1 7 7 - 1 9 3 .

Klaus Ganzer

Julius III., Papst

(1550-1555)

Aus einem über zwei M o n a t e dauernden Konklave nach dem T o d Pauls III., das im Zeichen des Gegensatzes zwischen der kaiserlichen und der französischen Partei im Kardinalskollegium stand, ging Giovanni M a r i a del M o n t e am 8 . 2 . 1550 als eine Art Kompromißkandidat für die Papstwürde hervor. Die Namenswahl Julius III. erfolgte aus Pietät gegenüber Julius II., der seinen Onkel Antonio zum Kardinal kreiert und damit ihm selbst die klerikale Karriere eröffnet hatte. Giovanni M a r i a del M o n t e war am 1 0 . 9 . 1487 in R o m geboren. Sein Onkel, Auditor der R o t a und Erzbischof von Siponto (Manfredonia), ließ ihn in Perugia und Siena Jurisprudenz studieren und verhalf ihm zu der Stelle eines Kammerherrn bei Julius II. 1513 übernahm er von seinem Onkel das Erzbistum Siponto, von 1521 an besaß er zeitweilig auch das Bistum Pavia. Er bekleidete verschiedene Ämter an der Kurie und im Kirchenstaat. Paul III. erhob ihn am 2 2 . 1 2 . 1 5 3 6 zum Kardinal. Bei der ersten Trienter Tagungsperiode (1545/47) und in Bologna (1547/48) fungierte Del M o n t e als Konzilspräsident. Die

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Julius III.

Persönlichkeit Julius' III. wird als gütig und freigebig geschildert. In seinen Entschlüssen galt er als rasch und unberechenbar. Er liebte das Vergnügen, Jagd und Spiel, Musik und Theater und war ein Freund von glänzenden Festlichkeiten und üppigen Gastmählern. Sinnbild dieses Lebensstils ist die von ihm erbaute Villa Giulia. Den Aufgaben seines Amtes kam er dennoch mit großem Fleiß nach. Zwielichtig ist die Affäre des Innocenzo del M o n t e . Als Legat in Piacenza hatte der Papst den vaterlosen, verwahrlosten Jungen beim Einfangen eines ihm entlaufenen Affen von der Straße aufgelesen. Er überhäufte ihn mit Gunsterweisen, ließ ihn von seinem Bruder adoptieren, machte ihn im Alter von e t w a 17 Jahren zum Kardinal und übertrug ihm im Herbst 1551 die Leitung des Staatssekretariats, wozu dieser weder geistig noch charakterlich befähigt war. Dies alles führte begreiflicherweise zu zahllosen Gerüchten.

Die Wahlkapitulation verpflichtete den Papst, das Konzil fortzusetzen. Der Kaiser drängte darauf wegen der Protestanten, die Franzosen lehnten eine Beschickung ab. Nach schwierigen diplomatischen Verhandlungen berief Julius mit Bulle vom 1 4 . 1 1 . 1550 das Konzil zum 1 . 5 . 1551 wiederum nach Trient ein. Die Translation nach Bologna und die Suspension der dortigen Verhandlungen wurden aufgehoben. Da sich infolge der kriegerischen Ereignisse der deutschen Fürstenverschwörung das Konzil fast völlig auflöste, erwies sich seine Suspension als unumgänglich. Sie erfolgte in der Session vom 2 8 . 4 . 1552. Julius III. sah die Rückführung des Konzils nach Trient 1551 als politische und kirchliche Notwendigkeit an, aber er unterzog sich ihr ohne Enthusiasmus. Die Aufgabe des Konzils bestand nach seinen Vorstellungen lediglich darin, die noch notwendigen dogmatischen Dekrete und gewisse allgemeine Reformforderungen zu verabschieden. Er war aber darauf bedacht, daß die päpstliche Autorität durch das Konzil in keiner Weise geschmälert werde. Nach der Suspension des Konzils setzte Julius 1552 eine Reformdeputation ein. Der Konvent von Kardinälen, der in R o m tagte, arbeitete in den folgenden Jahren an einer großen Reformbulle, die einen Teil der Reformdekrete des Konzils, die ja formaljuristisch noch keine Gültigkeit besaßen, zur Anwendung bringen sollte. Doch ehe die Bulle vollendet war, starb der Papst. Es handelt sich um „das letzte Glied einer stattlichen Reihe von unvollendeten oder doch erfolglosen Reformversuchen, die seit den Tagen von Basel . . . unternommen wurden" (Jedin, Kirchenreform 245). In kriegerische Auseinandersetzungen wurde Julius mit Ottavio Farnese verwickelt, dem der Papst Parma als Lehen überlassen hatte (1551/52). Da sich Farnese gegen den Willen des Papstes mit Frankreich verbündete, sah sich Julius genötigt, gegen den Vasallen vorzugehen. Doch scheiterte das Unternehmen nicht zuletzt wegen der schwierigen Finanzlage des Papstes. Die Gesellschaft Jesu (-»Jesuiten) erfreute sich der Förderung durch Julius III. Ihr vertraute er auch das von ihm 1552 gegründete Collegium Germanicum an, das der Heranbildung von deutschen Klerikern dienen sollte. Als einen besonderen Erfolg seines Pontifikates konnte Julius die Rückkehr Englands unter die päpstliche Jurisdiktion verbuchen. Nachdem Maria die Katholische sich mit Philipp von Spanien vermählt und R o m auf die Rückgabe des entfremdeten Kirchengutes verzichtet hatte, vollzog der englische Kardinal Reginald Pole als päpstlicher Legat am 30. November 1554 den Wiederanschluß Englands an die katholische Kirche. Julius starb nach kurzem Krankenlager am 2 3 . 3 . 1555. Das Urteil über Julius III. ist unterschiedlich. Pastor stellt fest, „seine Regierung hat keine tieferen Spuren hinterlassen. Den Erwartungen, die man nach seiner Tätigkeit als Kardinal und seinem anfänglichen Eifer als Papst an sein Pontifikat knüpfte, hat er nicht entsprochen" (VI, 116). Dagegen ist C. Erdmann der Meinung: „Es ist nicht unberechtigt, wenn man Julius III., so wenig er persönlich ein Eiferer für Kirchlichkeit und Sittenstrenge war, doch schon unter die Reformpäpste rechnet" (283). Man könnte ihn als eine Gestalt des Übergangs bezeichnen, die noch sehr stark dem Lebensstil der Renaissance

Julius Echter von Mespelbrunn

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verhaftet war. Zu den Reformpäpsten des 16. Jh. dürfte er wohl noch nicht zu rechnen sein. Quellen und Literatur Reiches Material findet sich in den verschiedenen Reihen der Nuntiaturberichte ( N B D ) . Konrad Eubel, Hierarchia Catholica Medii et Recentioris Aevi III, Münster 2 1 9 2 3 , Neudr. Padua 1960. - Carl Erdmann, Die Wiedereröffnung des Trienter Konzils durch Julius III.: Q F I A B 2 0 (1928/29) 238 - 3 1 7 . - Carlo de Frede, La restaurazione cattolica in Inghilterra sotto M a r i a Tudor nel carteggio di Girolamo Seripando, Neapel 1971. - Friedenslegation des Reginald Pole zu Kaiser Karl V. u. König Heinrich II. ( 1 5 5 3 - 1 5 5 6 ) , hg. v. Heinrich Lutz, 1981 ( N B D 1. Abt. 15). - Hubert Jedin, Analekten zur Reformtätigkeit der Päpste Julius III. u. Paul IV.: R Q 4 2 (1934) 3 0 5 - 3 3 2 ; 4 3 (1935) 8 7 - 1 5 6 . - Ders., Gesch. des Konzils v. Trient, Freiburg i . B r . , I—III 1 9 4 9 - 1 9 7 0 . - Ders., Kirchenreform u. Konzilsgedanke 1 5 5 0 - 1 5 5 9 : H J 5 4 (1934) 4 0 1 - 4 3 1 = ders., Kirche des G l a u b e n s Kirche der Gesch. Ausgew. Aufs. u. Vorträge II, Freiburg/Basel/Wien 1966, 2 3 7 - 2 6 3 . - Heinrich Lutz, Christianitas afflicta. Europa, das Reich u. die päpstl. Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karls V. ( 1 5 5 2 - 1 5 5 6 ) , Göttingen 1964. - Gerhard Müller, Die Kandidatur Giovanni Salviatis im Konklave 1 5 4 9 - 5 0 : Q F I A B 4 2 / 4 3 (1963) 4 3 5 - 4 5 2 . - Ludwig Freiherr v. Pastor, Gesch. der Päpste seit dem Ausgang des M A , Freiburg, VI 1 3 1 9 5 7 , 1 - 3 1 4 . - Franz X a v e r Seppelt, Gesch. der Päpste v. den Anfängen bis zur Mitte des 2 0 . Jh., München, V 5 1 9 5 9 , 5 8 - 6 8 . 5 1 1 .

Klaus Ganzer

Julius Echter von Mespelbrunn, Bischof

von Würzburg

(1573-1617)

Der zu den Häuptern der oberdeutschen Gegenreformation zählende Bischof entstammte einem mäßig begüterten ritterschaftlichen Geschlecht, von welchem zahlreiche Angehörige in kurmainzischen Diensten standen. Geboren wurde er am 18. März 1545 auf Schloß Mespelbrunn im Spessart — in densissima silva, wie spätere Gegner spotteten. Nach zehnjährigem Studium an mehreren Universitäten nach Franken zurückgekehrt, wurde er bald (1570) in Würzburg Domdekan. Während der schweren Erkrankung Bischof Friedrichs v. Wirsberg (1558-1573) wirkten die römische Kurie und Bayern, die der Würzburger Wahl größte Bedeutung für ganz Oberdeutschland zumaßen, auf das Domkapitel ein, daß es einen entschieden katholischen Bischof wähle. Aus der Wahl am 1. Dezember 1573 ging der 28jährige Julius Echter hervor. Das Wahlergebnis wurde von allen altgläubigen Kräften lebhaft begrüßt. Der Gewählte, der sich auf Priester- und Bischofsweihe (20. bzw. 22. Mai 1575) durch die ignatianischen Exerzitien (-»-Ignatius v. Loyola) vorbereitete, hat deren Erwartungen nicht enttäuscht. Obwohl das Hochstift Würzburg im Vergleich mit anderen geistlichen Staaten ein nicht unbedeutender Machtfaktor war, mußte Julius Echter, wollte er seine kirchenpolitischen Ziele erreichen, nach einer breiteren Machtbasis suchen. Nach dem Scheitern seines verwegenen Planes, das Territorium Fulda dem Hochstift Würzburg zu inkorporieren, der auch von seinen Freunden nachdrücklich verurteilt wurde, nach dem Scheitern seiner Kandidaturen für den Mainzer Erzstuhl (1582,1601,1604) und nach dem Dahinsiechen des grundsätzlich überkonfessionellen Landsberger Bundes, dessen Verfall er nicht aufzuhalten vermochte, konnte er die Errungenschaften seiner kirchlichen Reformen nur durch den Beitritt zum Bündnissystem der Liga (1609 bzw. 1617) politisch zu sichern versuchen. Bei aller Anerkennung der bayerischen Dominanz blieb er auf Stärkung des Kaisertums und der Reichsverfassung bedacht, ließ sich auch in seiner Handlungsfreiheit nicht beschränken: Wittelsbachische Hoffnungen auf eine Coadjutorie in Würzburg machte er zunichte, unterstützte aber vorbehaltlos die wittelsbachische Position in Köln. Nur gelegentlich hat Julius Echter in den ersten zwölf Jahren seiner Regierung vom ius reformandi Gebrauch gemacht. Erst 1585 leitete er, unterstützt vom Geistlichen Rat und den Jesuiten, unbekümmert um Drohungen und Proteste benachbarter lutherischer Stände und der Ritterschaft, unter Ermunterung der Päpste, der Herzöge von Bayern und stillschweigender Zustimmung des Kaisers systematisch Rekatholisierungsversuche ein

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Julius Echter von Mespelbrunn

mit dem Ziel, einen konfessionell einheitlichen Untertanenverband herzustellen. Vor allem in den Städten traf er z . T . auf nachhaltigen Widerstand. Viele, durchweg der Oberschicht angehörende Familien zogen die Auswanderung, obwohl für diese sehr kurze Fristen gesetzt waren, der Annahme des Katholizismus vor. In der Stadt Würzburg führte er im April 1587 die Gegenreformation durch; von 600 protestantischen Bürgern verweigerten 73 den Übertritt. Erst um diese Zeit wurden auch alle noch in bischöflichen Diensten stehende Protestanten durch Katholiken ersetzt. Mit dem Einsetzen der Gegenreformation verschlechterte sich sein Verhältnis zu seinen protestantischen N a c h b a r n . Die Gegenreformation wurde von einer R e f o r m der Klöster, der Stifte und des Weltklerus begleitet; das Vermögen ausgestorbener und unreformierbarer Klöster wurde anderen Institutionen (Universität, Priesterseminar, Juliusspital) inkorporiert. In der Seelsorge suchte der Bischof, die spätmittelalterlichen Frömmigkeitsformen, insbesondere das Wallfahrts-, Bruderschafts- und Andachtswesen, zu erneuern; er betonte die Bedeutung der Sakramente, vor allem der Beichte, sorgte für Druck und Verbreitung katholischer Literatur, besonders gottesdienstlicher und katechetischer Bücher, und die Fernhaltung nichtkatholischer. Zahlreiche Pfarreigründungen, zumal in den 1612 heimgefallenen Wertheimischen Gebieten, sowie die Neugliederung der Landkapitel (1584) gehen auf Julius Echter zurück. Die Z a h l der Kirchen, die er erbauen oder erneuern ließ, wird glaubwürdig mit ca. 300 angegeben. Ihre charakteristischen, an die —>Gotik anknüpfenden Formen („Juliusstil"), die bereits von Zeitgenossen als Besonderheit empfunden wurden, bestimmen mit ihren überspitzen T ü r m e n teilweise noch heute das Bild der mainfränkischen Landschaft. Kirchenreform und konfessionell einheitlicher Untertanenverband wurden stabilisiert durch Einrichtungen der Caritas, der Bildung und Erziehung. Am 12. M ä r z 1576 legte er den Grundstein zu dem großzügig geplanten, nach ihm benannten Spital in der Stadt Würzburg; das Zusammenleben der Insassen war nach dem Modell eines klösterlichen Konventes geregelt. N a c h dem Vorbild des Juliusspitals organisierte bzw. reorganisierte er das Spitalwesen auf dem Lande. Pläne seines Vorgängers zum Ziele führend, betrieb er seit Beginn seiner Regierung die Wiederbegründung der kurzlebigen mittelalterlichen Universität, die er nach mehr als siebenjähriger, vom Widerspruch der Ritterschaft und des Domkapitels begleiteter Vorbereitung a m 2. J a n u a r 1582 mit zunächst zwei Fakultäten eröffnete. M i t der Universität verband er vier mit eigenem Vermögen ausgestattete Konvikte: das Collegium Kilianeum (Priesterseminar), das bereits bestehende Collegium Marianum (Gymnasialkonvikt), das Collegium Pauperum und das später Julianum genannte Collegium Nobilium. Die Rekatholisierung der lateinischen und deutschen Schulen im Hochstift konnte er allmählich, aber schließlich weitgehend durchsetzen. Julius Echter starb am 13. September 1617. D a n k seiner außerordentlich langen Regierungszeit von 4 4 J a h r e n konnte er noch wachsen sehen, was er gesät hatte. Das Hochstift Würzburg war ein moderner, frühabsolutistisch regierter Staat geworden. Die Relationen über die regelmäßigen Pfarreivisitationen zeigen, daß in der Würzburger Kirche allmählich eine zahlreicher und eifriger gewordene Priestergeneration im Sinne des Bischofs wirkte. A m Vorabend des Dreißigjährigen Krieges repräsentierten Bayern und Würzburg das katholische Oberdeutschland. Julius Echter war eine der profiliertesten Gestalten in Kirche und Reich. Bibliographien B D G , 3 4 0 7 8 a - 3 4 1 2 5 , 6 2 0 2 0 - 6 2 0 2 8 . - Gerhard Pfeiffer, Fränkische Bibliogr. III/2, Würzburg 1974, 2 5 - 2 7 , N r . 4 8 5 5 7 a - 4 8 6 4 9 .

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Jung

respondenz Kaspar Groppers, hg. v. Wilhelm Eberhard Schwarz, 1898 ( Q F G 5). - Hans Eugen Specker, Die Kanzleiordnung Fürstbischof Julius Echters von 1574: W D G B 3 5 / 3 6 (1974) 2 7 5 - 3 1 7 . Virorum doctorura epistolae selectae. Ed. T h e o d o r u s Freytagius, Leipzig 1831.

Literatur Vitus Brander, Julius Echter v. Mespelbrunn, Fürstbischof v. Würzburg, Würzburg 1917. J o h a n n N e p o m u k Buchinger, Julius Echter v. Mespelbrunn, Bischof v. Würzburg u. Herzog v. Franken, W ü r z b u r g 1843. - T h o m a s Frenz, Wann genehmigte Papst Gregor XIII. die Wiederbegründung der Univ. Würzburg?: Vierhundert Jahre Univ. Würzburg. FS, hg. v. Peter Baumgart, Neustadt/Aisch 1982, 3 1 - 4 5 . - Julius Echter u. seine Zeit. G e d e n k s c h r . . . . , hg. v. Friedrich Merzbacher, W ü r z b u r g 1973. - Julius Echter v. Mespelbrunn, Fürstbischof v. Würzburg u. Herzog v. Franken 1 5 7 3 - 1 6 1 7 . FS, hg. v. Clemens Valentin Heßdörfer, W ü r z b u r g 1917. - Siegfried Kadner, Z u r Charakteristik des Fürstbischofs Julius Echter: B B K G 5 (1899) 2 6 9 - 2 8 0 . - Wolfgang Müller, Beobachtungen zum Bau der Dorfkirchen zur Zeit des Bischofs Julius Echter v. Mespelbrunn: W D G B 3 5 / 3 6 (1974) 3 3 1 - 3 4 7 . - Götz Frhr. v. Pölnitz, Julius Echter v. Mespelbrunn, Fürstbischof v. Würzburg u. Herzog v. Franken ( 1 5 7 3 - 1 6 1 7 ) , München 1935 (Schriftenr. zur bayerischen Landesgesch. 17). — Hans-Christoph Rublack, Gescheiterte Reformation, Stuttgart 1978 (SpätMA u. Frühe Neuzeit 4). - Ernst Schubert, Gegenreformationen in Franken: J F L F 28 (1968) 2 7 5 - 3 0 7 . - Ders., Julius E c h t e r v. Mespelbrunn: Fränkische Lebensbilder 3 (1969) 1 5 8 - 1 9 3 . - Erik Soder v. Güldenstubbe, Die Bischofsweihe des Julius Echter v. Mespelbrunn: W D G B 4 2 (1980) 2 4 5 - 2 9 4 . - H a n s Eugen Specker, Die Reformtätigkeit der Würzburger Fürstbischöfe Friedrich v. Wirsberg ( 1 5 5 8 - 1 5 7 3 ) u. Julius Echter v. Mespelbrunn ( 1 5 7 3 - 1 6 1 7 ) : W D G B 27 (1965) 2 9 - 1 2 5 . - Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg, III 1978 (GermSac N F 13), 162 - 2 3 8 (Lit.). - Ders., Das Juliusspital in W ü r z b u r g , Würzburg, I 1976.

Alfred Wendehorst Jung, Carl Gustav 1. Leben

1.

(1875-1961)

2. Werk

3. Wirkungsgeschichte

(Quellen/Literatur S.453)

Leben

Carl Gustav Jung wurde 1875 in Keßwil/Thurgau als Sohn eines Pfarrerehepaares geboren. Seine Kindheit war von elterlichen Spannungen, diffusen Ängsten und Einsamkeit überschattet. Das protestantische Pfarrhausmilieu erlebt er als eine bedrückende Welt unerfüllbarer Glaubensansprüche. Rückblickend schildert der Achtzigjährige (Erinnerungen 13 f) seine kompensatorische Zuflucht zu Phantasiebildungen und magischen Ritualen. Der gepredigte Gott seines Vaters ist für ihn kalt und unnahbar, wohingegen sich bereits der heranwachsende Jung auf unmittelbare Gotteserfahrungen in Träumen und Visionen beruft (a.a.O. 42f). Nach der Schulzeit und dem Studium von Naturwissenschaften und Medizin in Basel beginnt Jung 1900 als psychiatrischer Assistenzarzt bei dem berühmten Schizophrenieforscher Eugen Bleuler. Er profiliert sich mit Untersuchungen über Assoziationsteste, die die Wirksamkeit unbewußter Komplexe im Bewußtsein empirisch belegen (GW II). Des weiteren bemüht er sich um ein lebensgeschichtliches Verstehen der schizophrenen Wahnwelten seiner Patienten. Sein lebenslängliches Interesse für parapsychologische Phänomene (->Parapsychologie) zeigt sich bereits in der Wahl seines Dissertationsthemas Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene (GW I, 1 - 9 9 ) , dessen Material aus mehrjährigen spiritistischen Sitzungen stammt. 1906 beginnt der persönliche Kontakt mit S. -»Freud, dessen Entwicklung der -»Psychoanalyse Jung seit 1900 mit wachsender Anteilnahme verfolgt. Beide Forscher waren Pioniere in der Entdeckung der Bedeutsamkeit unbewußter Konflikte für seelisch bedingte Krankheiten. Freud wird.für den zwanzig Jahre jüngeren Jung zu einer geistigen Vaterfigur par excellence. Freud sieht in ihm den Josua, der nach ihm als dem Mose „das gelobte Land der Psychiatrie" in Besitz nehmen werde (Freud/Jung, Briefwechsel 218). 1911 wird der ,Kronprinz' Jung Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Persönliche Animositäten und wachsende Differenzen bezüglich der Freudschen Sexualtheorie (Erinnerungen 154) lassen die mit beidseitigen Erwartungen überfrachtete

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Jung

Beziehung zerbrechen. Jung, seit 1909 Psychotherapeut mit Privatpraxis in Küßnacht bei Zürich gerät nach dem Bruch mit Freud in eine jahrelange psychosenähnliche Persönlichkeitskrise. Die Zeit bis 1919 wird zu seiner eigenen entscheidenden Auseinandersetzung mit den —»,Dämonen' des Unbewußten (Erinnerungen 174 f). Der Umformung jener seelischen Urerfahrungen in psychologische Theoriebildungen gilt das in den nächsten Jahrzehnten entstehende Werk (Erinnerungen 203). Die Suche nach historischen Vorläufern seiner Selbsterfahrungen führt zu umfangreichen Studien der frühchristlichen -»Gnosis, der -» Alchemie und der jüdisch-christlichen Tradition. Jung unternimmt Forschungsreisen, um seine Psychologie mit anderen Kulturen zu vergleichen: u.a. zu den PuebloIndianern, Eingeborenen in Kenya und Uganda sowie nach Indien. Er entfaltet eine umfangreiche Lehrtätigkeit in Vorlesungen und privaten Seminaren. 1933 rückt Jung ins politische Rampenlicht, als er Präsident der gleichgeschalteten überstaatlichen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapaie und Herausgeber des von der nationalsozialistischen Ideologie (-»Nationalsozialismus) geprägten Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete wird. Gleichzeitig erschienene Aufsätze, die Unterscheidungen germanischer und jüdischer Seelenheilkunde nahelegten (GW X , 181 f), brachten Jung den bis heute nicht eindeutig widerlegten Vorwurf ein, zumindest zeitweise ein Anhänger antisemitischer-nationalsozialistischer Ideen gewesen zu sein (Wehr 278 f). 1944 zwingt ihn eine Herzkrankheit zur teilweisen Aufgabe seiner therapeutischen Praxis und Lehrtätigkeit. 1948 wird das C. G. Jung Institut in Zürich gegründet. Eine wachsende Schar von Anhängern konsultiert den als ,Weisen vom Zürichsee' geltenden Jung (Stern 265). Dieser entfaltet in den ihm verbleibenden Jahren eine umfangreiche schriftstellerische und vor allem briefeschreibende Tätigkeit, die der Klärung und erweiterten Anwendung seiner Psychologie des Unbewußten dienen soll. Wenige Monate vor seinem Tode im Jahre 1961 beendet er seine autobiographischen Erinnerungen mit der Deutung seines Lebens als einer „Geschichte der Selbstverwirklichung des Unbewußten" (ebd. 10). 2. Werk Die Anfänge Jungscher Psychologie liegen neben der Entdeckung der Autonomie des Unbewußten in Komplexbildungen (1906, GW II, 13 ff) und parapsychologischen Phänomenen (1902, GW I, 1 ff) in der therapeutischen Verstehensbemühung um schizophrene Wahnbildungen. Unabhängig von lebensgeschichtlichen Motiven entdeckt Jung frappierende Ubereinstimmungen mythisch-archaischer Denkformen und -inhalte mit schizophrenen Symbolbildungen (GW VIII, 175). Er schließt auf ein kollektives Unbewußtes, das als genetisches Erbe allen Menschen gemeinsam ist und vom persönlichen Unbewußten als lebensgeschichtlich Erworbenem zu unterscheiden ist (GW VII, 139ff). Das kollektive Unbewußte zeigt in seinen Gestaltungen eine Anordnung typischer Themen (-»Schöpfung, Heldenkampf, Wandlung und -»Wiedergeburt) und Figuren (Schatten, Animus und Anima, die Große Mutter und der Alte Weise). Jung führt sie auf unanschauliche psychische Strukturelemente, die Archetypen zurück (GW IX/1, 13ff). Diese sind präformierende Gestaltungsmöglichkeiten des Menschseins, die zwar in ihrer geschichtlichen Realisation variieren können, aber eine Art Kollektivseele der Menschheit bilden. Die per definitionem empirisch nicht aufweisbaren Archetypen liegen als transzendentaler Grund sowohl religiös-mythologischen Vorstellungen als auch spontanen Äußerungen des Unbewußten in Traumbildern, schöpferischen Phantasien und Wahnideen zugrunde (GW VI, 453 f). In ihrer postulierten psychoiden (GW VIII, 205 f) Absolutheit umgreifen Archetypen die Totalität psychischer Erscheinungen in all ihrer Gegensätzlichkeit, deren wichtigste nach Jung die Paradoxie von Gut und Böse ist (GW IX/1, 45). Archetypische Vorstellungen können auf das Bewußtsein numinose Wirkungen ausüben und so zu einer religiösen Urerfahrung werden (GW XI, 163). Dem Ich als Zentrum der Bewußtwerdung kommt der überragende Stellenwert zu, Identität und Kontinuität der Person zwischen dem Pandämonium innerer Bilder und Kräfte und der äußeren Realität zu stiften und aufrechtzuerhalten (GW VIII, 219f). Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbe-

Jung

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wußten werden weniger unter dem Gesichtspunkt der täuschenden Entstellung durch Abwehr und Widerstand, so Freud, als vielmehr einer psychisch zu realisierenden komplementären Ganzheit verstanden (GW VIII, 75ff). Ihr psychischer Ausdruck ist das -»Symbol, ein Sinn-Bild, das aus dem schöpferischen Unbewußten und dem ordnenden, sinngebenden Bewußtsein komponiert ist (GW VI, 515ff). 2.1. Da Jungs Seelenparadigma die Relation des Ichs zu den Archetypen des kollektiven Unbewußten mit der Beziehung zum psychisch erfahrbaren ,Göttlichen' in Analogie setzt (GW XI, 349), sind seelische Krisen immer auch religiöse Sinnkrisen. Abgesehen von Anpassungsproblemen in der ersten Lebenshälfte (GW XVI, 41) ist „die Psychoneuros e . . . im letzten Verstände ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat" (GW XI, 358). Den Religionen kommt in diesem Zusammenhang ein eminenter psychotherapeutischer Wert zu, sind sie doch „große Heilsysteme für seelische Leiden" (GW IV, 376). Heilsysteme, weil sie archetypische Symbole in der projizierten Form von Kult und -»Dogma repräsentieren und psychisch wirksam werden lassen (GW XI, 219ff: „Das Wandlungssymbol in der Messe"). Jungs Kulturdiagnose folgend, ist jedoch die Zeit der lebendigen Religionen vergangen und ihre Heilsmacht für die Seele verloren: „Seitdem... unsere höchsten Symbole verblaßt sind, herrscht geheimes Leben im Unbewußten. Deshalb haben wir heutzutage eine Psychologie..." (GW IX, 1, 33). Somit kann Jungs Psychologie des Unbewußten für suchende Menschen, die ihrem Glauben entfremdet sind, auch zur Gestalt einer neuen religiösen Offenbarung werden (Br II, 338 f). 2.2. Die Explikation eines solchen psychischen Heilsweges (Jacobi 90) zentriert sich um die Begriffe Individuation und Se/bst-Erfahrung. Individuation meint einen dialektischen Prozeß zwischen dem Ich und den Archetypen des kollektiven Unbewußten, der mittels eines bewußten Sich-Einlassens und Sich-Auseinandersetzens mit der in -»Träumen und Imaginationen auftauchenden Bilderwelt psychotherapeutisch wirksam wird (GW XIV/2, 309). Ziel des Individuationsprozesses ist die Erfahrung des Selbst, jenes zentralen Archetypus, der nach Jung die anordnende Mitte des mundus archetypus darstellt. Empirisch zeigt sich der Archetypus des Selbst in spontan auftauchenden Symbolen eines innerseelischen Göttlichen (Br I, 88). Personal werden sie als Gott, der aus den Tiefen der -»Seele dem Menschen begegnen will, apersonal in Form von sogenannten Mandalas, Symbolen der Ganzheit, die die Stelle einer Gottheit eingenommen haben, erfahren (GW IX/2, 50). Die Identität von Selbst- und Gotteserfahrung umfaßt bei Jung beides: zum einmaligen Individuum und zum Teil eines übergeordneten Ganzen zu werden (Samuels 102 f). Die psychische Sinnerfahrung eines archetypischen Selbst ist die natürliche Antwort des kollektiven Unbewußten auf die bewußt erlebte Gebrochenheit und Sinnleere des psychisch Leidenden. Jung benutzt zu ihrer Umschreibung religiöse Kategorien wie Annahme, —»Versöhnung, -»Frieden mit Gott (GW XI, 89). So fallen mit der Bewußtwerdung des Selbst im Ich psychische —»Heilung und Heil zusammen. Es ist mithin das Grundaxiom der Jungschen Seelenheilkunde, daß die Dynamik der Psyche natürlicherweise religiös-soteriologisch ausgerichtet ist. 2.3. Die Geschichte religiöser Ideen ist nach Jung eine Geschichte archetypischer Bewußtseinswandlungen (Jaffe 128). Mittels seines religionspsychologischen Grundaxioms der Spiegelrelation von Selbst und Ich, die der Beziehung Gottes zum Menschen psychisch entspricht, interpretiert Jung in seinem Spätwerk (Aion, 1951: GW IX, 2; Antwort auf Hiob, 1952: GW XI, 387 ff) die Geschichte des christlichen Glaubens als eine Auseinandersetzung des menschlichen Bewußtseins mit der moralischen Paradoxie des Archetypus Gott. -»Hiobs Erkenntnis des seinen eigenen Verheißungen zuwiderhandelnden Gottes -»Jahwe hat nach Jung eine Wandlung des seiner selbst unbewußten Schöpfers bewirkt (GW XI, 425ff). Der unbewußte Gott wandelt sich in seiner menschlichen Bewußtwerdung zu Jesus Christus, einem Symbol der lichten, guten Seite des archetypischen Selbst. Die dunkle, böse Seite des Selbst symbolisiert die Gestalt des -»Teufels als Gegenspieler Gottes. Das zentrale christliche Symbol des Kreuzes Christi deutet Jung als die Bewußtwerdung der Paradoxie des Selbst im menschlichen Ich, als qualvolles Erleiden der

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Jung

moralischen Abgründigkeit Gottes im Menschen (GW XI, 447f). Der Heilige Geist ist schließlich das erlösende Symbol der vollständigen Wandlung Gottes in der menschlichen Seele; sie entspricht der Selbst-Erfahrung des Ichs in der Individuation, der Bewußtwerdung eines tragenden, sinnstiftenden inneren Göttlichen (GW XI, 192). Die vollständige Wandlung des archetypischen Selbst im menschlichen Bewußtsein kann jedoch nach Jung nicht im Symbol der christlichen Trinität adäquat ausgedrückt werden. Sie bedarf der Ergänzung zur Quaternität, d. h. der Miteinbeziehung des dunklen Gottes, der im Christentum als Teufel mit dem Bösen, dem Weiblichen, der Materie identifiziert wurde, in die Offenbarung Gottes im Menschen (GW XI, 494f). Dieses Geschehen einer fortwirkenden Wandlung Gottes, das über die christliche Symbolik der Trinität hinausgeht, sieht Jung in gegenwärtigen Gotteserfahrungen aus dem kollektiven Unbewußten antizipiert (Br III, 40). So gesehen kommt dem psychotherapeutischen Prozeß der Selbst-Ich Assimilation in der Selbst-Erfahrung eine theologischsoteriologische Bedeutung zu: die „Weiterführung der göttlichen Selbstverwirklichung, . . . i n der Aufgabe unserer Individuation" (Briefe III, 42). 3.

Wirkungsgeschichte

Im Gegensatz zu S. Freud, dessen Schriften in der Theologie, insbesondere in der Lehre von der -»Seelsorge seit dem Ende der sechziger Jahre häufig zitiert und kritisch reflektiert wurden, ist es um Jung und sein Werk im deutschsprachigen Raum vergleichsweise still geblieben. Dies im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Pastoralpsychologie, die Jung zeitweise enthusiastisch rezipierte (Sandford). Die Entwicklung der deutschsprachigen Jung-Rezeption erstaunt um so mehr, als Jung seit dem 2. Weltkrieg in intensivem Gedankenaustausch mit Theologen aller Konfessionen stand (Br I—III) und gerade in der Theologie als Reformer und Erneuerer eines ,bloße Historie' gewordenen christlichen Glaubens Gehör finden und diskutiert werden wollte (Br I, 421). 3.1. Die Subjektivierung der christlichen Dogmatik zu psychischen Wandlungsstufen der individuellen und kollektiven Entwicklung des Bewußtseins, die Jung als legitime Verifizierung des protestantischen Glaubens ansah (Br III, 214), ist in der Systematischen Theologie nicht als Herausforderung erkannt und beantwortet worden. Die bisherige Rezeption beschränkt sich entweder auf ausgesuchte Teile seines Werkes, die positiv als Bereicherung dogmatischen Verstehens gewertet werden, so z. B. die Theorie der Archetypen als Basis einer Neuinterpretation christlicher Symbole bei P. -*Tillich (GW VIII, 241), oder seine Religionspsychologie wird als eine Art „hermeneutischer Zauberschlüssel" zur christlichen Dogmatik vereinnahmt (U. Mann, Die Gotteserfahrung des Menschen bei C.G. Jung, 7 - 2 4 ) . Hier verwischt sich jedoch bereits die Grenze zu jenen JungAdepten, die seine Tiefenpsychologie als die Antwort auf die Glaubensprobleme heutiger Menschen verstehen (exemplarisch: H. Barz, Selbst-Erfahrung). W. Pannenberg hat in seiner Anthropologie die Jungsche Erkenntnis der komplementären Relationalität des Ichs zum Unbewußten positiv referiert, gleichzeitig aber die Unterbelichtung der notwendigen außerpsychischen Bezogenheit dieses Ichs auf Gott und die Mitmenschen bei Jung bemängelt (256 f). Die von Jung begonnene Aufgabe einer tiefenpsychologischen Interpretation biblischer Schriften („Antwort auf Hiob", GW XI, 378 ff) hat, von vereinzelten Autoren abgesehen (Drewermann), in den exegetischen Disziplinen keinen Widerhall gefunden. 3.2. In der Seelsorgeliteratur hat die Jungsche Seelenheilkunde aufgrund ihrer schwierigen Methodisierbarkeit bei weitem nicht den Einfluß gehabt wie andere Therapieformen. Der Name Jungs wird zwar in der einschlägigen Literatur genannt, aber lediglich unter Aufnahme einzelner Teilerkenntnisse seiner Psychologie, z.B. die Problematik von Animus- und Animaprojektionen in der Ehepastoral (Schütz 106 f) oder der Archetypus des Schattens in seiner Bedeutung für Schuld und ihre Annahme (Handbuch der Seelsorge 484). Kritische Auseinandersetzungen mit Jungs religionspsychologischem Ansatz finden sich in den Schriften E. ->Thurneysens (z.B. Die Lehre von der Seelsorge 190f).

Jung

453

3.3. Die Kritik an J u n g s T i e f e n p s y c h o l o g i e hat sich in der wissenschaftlichen D i s k u s sion vor allem an Fragen der Verifizierbarkeit eines kollektiven U n b e w u ß t e n und der Archetypen festgemacht (Balmer). D i e U n a b g e k l ä r t h e i t von J u n g s m e t h o d i s c h e m Vorgehen und mangelnde Problematisierung seines e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Subjektbegriffes ist ein Konsens in der Beurteilung seines W e r k e s ( e x e m p l a r i s c h : Keintzel). Eine W ü r d i g u n g der J u n g s c h e n Psychologie aus theologischer Sicht hat zunächst seine B e o b a c h t u n g eines ursächlichen Z u s a m m e n h a n g s von subjektiv erlebter Sinnleere und seelischen E r k r a n k u n g e n ernstzunehmen (V. v. Weizsäcker 1 0 9 f). Sein als Stellvertretung eines erstarrten G l a u b e n s entwickelter psychischer Initiationsweg zur heilenden n u m i n o sen S e l b s t - E r f a h r u n g bleibt o b ihrer v o m leidenden M e n s c h e n her motivierten N o t w e n digkeit eine A n f r a g e an die seelsorgerliche P r a x i s und die ihr zugrundeliegende T h e o l o gie. Eine Kritik der J u n g s c h e n Psychologie hat p r i m ä r die m a n g e l n d e Infragestellung jenes Ichs zu b e t o n e n , das ungeachtet aller faktischen Verblendung und G e s p a l t e n h e i t in seelischen Krisen für fähig gehalten wird, authentischer M i t t l e r erlösender G o t t e s e r f a h r u n g e n aus dem kollektiven U n b e w u ß t e n zu sein. D i e von J u n g inaugurierte Heilsgewißheit gründet letztlich allein in der Selbstgewißheit des S u b j e k t s . Entgegen seiner P r o j e k t i o n s these, die christliche D o g m a t i k sei eine H y p o s t a s i e r u n g seelischer Wandlungsprozesse, w ä r e J u n g s Seelenheilkunde bezüglich ihrer T r a n s p o n i e r u n g christlicher Heils- und H o f f nungsinhalte in die säkularisierte F o r m der Soteriologisierung p s y c h o d y n a m i s c h e r Prozesse zu untersuchen. Quellen GW, 18 Bde., Zürich/Olten 1958-1981; Bd. 19 Bibliographie. - Briefe, 3 Bde., Olten/Freiburg 1972/1973. -Erinnerungen, Träume, Gedanken von C . G . Jung, Aufgezeichnet u. hg. v. Aniela Jaffe, Zürich 1962. - Sigmund Freud/C. G. Jung, Briefwechsel, hg. v. William McGuire/Wolfgang Sauerländer, Frankfurt 1974. Literatur Bibliographie der Sekundärliteratur bis 1975: Joseph F. Vincie, C . G . Jung and Analytical Psychology, New York 1977. Zu Jung: Heide-Linde Bach, Heilung u. Heil, Heilung u. Erlösung. Eine Unters, der theol.soteriologischen Implikationen der Seelenheilkunde nach Sigmund Freud u. C . G . Jung, Diss. Ev. Theol. Münster 1980. - Heinrich H. Balmer, Die Archetypentheorie v. C . G . Jung, Berlin 1972. Helmut Barz, Selbst-Erfahrung. Tiefenpsychologie u. christl. Glaube, Stuttgart 1973. - Jolande Jacobi, Die Psychologie v. C. G. Jung, Zürich 1959. - Aniela Jaffe, Der Mythos vom Sinn im Werk v. C . G . Jung, Zürich 1962. - James W. Heisig, Imago Dei. A Study of C . G . Jung's Psychology of Religion, London 1979. - Raimar Keintzel, C. G. Jung. Ergebnisse seiner Psychologie, Bonn 1977. Ulrich Mann, Die Gotteserfahrung des Menschen bei C. G. Jung: Wolfgang Böhme (Hg.), C. G. Jung u. die Theologen, Stuttgart 1977. - Andrew Samuels, Jung and the Post-Jungians, London 1985 (Lit.). - John A Sandford, Gottes vergessene Sprache. Stud. aus dem C . G . Jung Institut, Zürich/Stuttgart, XVIII 1966. - Alfonsas Savickas, The Concept of Symbol in the Psychology of C . G . Jung, Innsbruck 1979. - Robert Steele, Freud and Jung, London 1982. - Gerhard Wehr, C . G . Jung, München 1985. - Victor v. Weizsäcker, Natur u. Geist, München o. J . Sonstiges: Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie u. Exegese, Ölten, I 1984 (Lit.). - Hb. der Seelsorge, Berlin 1983. - Wolfhart Pannenberg, Anthropologie, Göttingen 1983. - Werner Schütz, Seelsorge, Gütersloh 1977. - Eduard Thurneysen, Die Lehre v. der Seelsorge, Göttingen 1948. - Paul Tillich, G W I - X I V , Stuttgart 1959ff. Heide-Linde Bach

454

Junge Kirchen

Junge Kirchen 1. Definition 2. Verlagerung des Schwergewichts des Christentums Chancen und Probleme (Literatur S.459)

1.

3. Theologische

Definition

Unter Jungen Kirchen versteht man im allgemeinen die aus der westichen Missionsarbeit entstandenen Kirchen der Dritten Welt, die heute nominell selbständig sind. Der Begriff ist aber aus folgenden Gründen umstritten: (1) Es ist nicht klar, welche Kirchen zu den Jungen Kirchen gezählt werden. Sollen zum Beispiel die zahlenmäßig bedeutsamen sogenannten unabhängigen Kirchen in Afrika (vgl. T R E 1,709ff), Lateinamerika, Indien (Raj, Hoerschelmann) und Korea dazugezählt werden? Es besteht auch keine Einigkeit darüber, unter welchem Begriff diese unabhängigen Kirchen zusammengefaßt werden sollen. „Unabhängige" oder „independente" Kirche ist ein ungeeigneter Begriff, weil er auch auf die EKD (vgl. T R E 10, 656ff), die —»Quäker oder die ->Methodistischen Kirchen angewandt werden könnte. „Primal Movements" (H.W. Turner) ist besser geeignet, aber unübersetzbar. „Nachchristliche Bewegungen" (Oosthuizen; T R E 1, 709, 40) ist ebenfalls ungenau, denn darunter könnte man auch die jetzige Gestalt der westlichen Volkskirchen und die ökumenische Bewegung verstehen. „Non-White Indigenous Churches" (Barrett) ist wohl zur Zeit der beste Begriff. Der Kürze halber wird dieser Begriff im folgenden etwas ungenau mit „Einheimische Kirchen" übersetzt. Die bis 1982 übliche Klassifikation dieser Kirchen krankte daran, daß sie sich jeweils auf ein einziges Land bezog (z.B. Sundkler auf Südafrika, Baeta auf Ghana). Nachdem Turner gezeigt hat, daß es sich bei diesen Kirchen um ein weltweites Phänomen handelt, das unter einem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen ist, obschon diese Kirchen nach westlicher Usanz keine Konfession mit gemeinsamer historischer Wurzel, gemeinsamem Bekenntnis und Mitgliedschaft in einem konfessioionellen Weltbund darstellen, legte Barrett folgende Klassifizierung vor: Tafel 1: Klassifizierung der Non-White Indigenous Churches (nach D . Barrett, World Christian Encyclopedia 60; I = Indigenous) Black I (USA)

Third World I African 1

Asian I

Latin American

Bantu I Coloured I Ethiopian I Ghanaian I Kenyan I Malagasy I Nigerian I Tribal I Yoruba I Zairian I etc.

Arab I Bengali I Burmese I Chinese I Filipino I Indian I Indonesian I Japanese I Korean I Nepali I Pakistani I Sinhalese I etc.

Amerindian I Argentinian I Brazilian I Chilean I Colombian I Guatemalan I Mexican I Peruvian I Salvadorian I Venezuelan I etc.

I Caribbean

I

Black I Cuban I Guyanan I Puerto Rican I West Indian I

Other Non-White (USA, GB etc.)

1

Pacific I Aboriginal I Melanesian I Micronesian I Papuan I Polynesian I

Amerindian I (USA)

Barrett schließt in seine Begrifflichkeit auch die schwarzen Kirchen Nordamerikas und Großbritanniens ein. Für die einzelnen Vertreter seiner Gruppen und Untergruppen muß hier auf seine Enzyklopädie und die Spezialliteratur verwiesen werden. Es ist jedoch eindeutig, daß der Anteil dieser Kirchen an der Weltchristenheit und innerhalb der Jungen Kirchen im Steigen begriffen ist, in einigen Ländern dramatisch.

Junge Kirchen

455

In vielen Ländern Afrikas nähert sich die Mitgliederzahl der Einheimischen Kirchen derjenigen der protestantischen Missionskirchen (wobei die pfingstlichen Missionskirchen zu den Protestanten gerechnet werden), z.B. in Nigeria (6 Mio. Protestanten, 3,8 Mio. Anglikaner, 5,7 Mio. Katholiken, 4,3 Mio. Einheimische) oder in Ghana (1,8 Mio. Katholiken, 1,1 Mio. Protestanten, 1,8 Mio. Einheimische). In den meisten Ländern Südamerikas haben die Einheimischen die übrigen Protestanten um ein Mehrfaches überholt (z.B. in Chile mit 1,8 Mio. chilenischen Einheimischen gegenüber 200000 Protestanten). Selbst in Thailand gibt es neben 200000 Katholiken und 150000 Protestanten 140000 Mitglieder der Asiatisch-Einheimischen Kirchen. Dramatisch hat sich die Situation in Südkorea zugespitzt, wo die Koreanisch-Einheimischen fast die Hälfte sämtlicher Christen ausmachen (4 Mio. Protestanten, 1,1 Mio. Katholiken, 4,8 Mio. Koreanisch-Einheimische). Die Gründe für das Wachstum dieser Kirchen, von denen sich einige dem WCC angeschlossen haben und viele eine wachsende Rolle in den Nationalen Kirchenräten spielen, sind nicht eindeutig feststellbar. Gewiß ist ihre Unabhängigkeit von überseeischen Experten und Finanzen einer der Gründe (TRE 5, 482). Dazu kommen ihre Verwurzelung in einheimischer Tradition, ihre mündliche Theologie und Liturgie. Ihre Mitglieder rekrutieren sich im übrigen aus allen Sozialschichten, inklusive Regierungsbeamte und Akademiker (s. H.W. Turner, Patterns of Ministry 50). Die beste Dokumentation über die Kirchen befindet sich zur Zeit im von Turner gegründeten Center for the Study ofNew Religious Movements in Birmingham. Schließlich wird die Frage gestellt, ob die Einheimischen Kirchen insgesamt oder auch nur mehrheitlich zu den christlichen Kirchen gerechnet werden können. Wenn aber Köberle die Zeugen Jehovas, die Mormonen und die Christliche Wissenschaft zum Christentum rcchnet (s. T R E 8,13 f, was sicher nicht unproblematisch ist), wenn in vielen unserer Statistiken christliche Kirchen aufgeführt werden, die nicht nur einander widersprechen, sondern in wichtigen Punkten mehr ihrem kulturellen Kontext als der biblischen Tradition verpflichtet sind, so erscheint es berechtigt, auch diese von ihrer Kultur mitbeeinflußten Einheimischen Kirchen in die Statistik der Jungen Kirchen aufzunehmen. (2) Wenn man unter „jung" eine Kirche versteht, die erst Ende des letzten oder in diesem Jahrhundert entstanden ist, so gehören die meisten Freikirchen des europäischen Festlandes und alle Pfingstkirchen der Welt zu den Jungen Kirchen, so wie die erst in den letzten zehn Jahren entstandenen House Churches in Großbritannien (Thurman; in USA independent churches genannt) und die von David Clark Basic Communities genannten Neugründungen. (3) Die Kirchen der Dritten Welt schätzen den Begriff „Junge Kirche" nicht. Sie fürchten ein mögliches paternalistisches Mißverständnis (vgl. T R E 1, 709) und weisen darauf hin, daß einige von ihnen älter sind als die neu entstandenen Kirchen im Westen. (4) Um ein statistisch beinahe unmögliches Unterfangen nicht überhaupt aufgeben zu müssen, werden in diesem Artikel alle Kirchen der Dritten Welt, inklusive die Einheimischen Kirchen, unabhängig von ihrem Alter und ihrer konfessionellen Zugehörigkeit zu den Jungen Kirchen gezählt. Dieses Vorgehen ist auch theologisch gerechtfertigt, da unter den Kirchen der Dritten Welt eine gegenseitige Beeinflussung, steigende internationale, regionale und lokale Zusammenarbeit (auf internationaler Ebene ist besonders zu erwähnen die Ökumenische Vereinigung der Dritte-Welt-Theologen, gegründet 1976 in Daressalam; S. Torres), ein Abschleifen der konfessionellen Unterschiede und eine sich ausprägende Distanz zu den konfessionellen Mutterkirchen zu beobachten ist. Dies gilt auch für die katholischen Jungen Kirchen (Bühlmann, Hastings), was vielleicht in Zukunft zu einer grundlegenden Änderung des konfessionellen Spektrums führt. Es ist zum Beispiel denkbar, daß einige katholische Kirchen in Lateinamerika, in China oder in Afrika eine stärkere Affinität zu den Christen ihrer Region als zu Rom entwickeln. Gleicherweise ist es möglich, daß die protestantischen Jungen Kirchen in Asien und Afrika sich der Kirche in ihrer Region mehr verpflichtet fühlen als ihren Mutterkirchen in Übersee.

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Junge Kirchen

2. Verlagerung des Schwergewichts

des

Christentums

Geht man von den obigen Voraussetzungen aus, so ist schon heute der Zeitpunkt abzusehen, wo die Mehrheit der Weltchristenheit zu den Jungen Kirchen gehört, was durch die folgende Tafel statistisch aufgewiesen wird. 5 Tafel 2: Weltweite Christenheit (nach Barrett, World Christian Encyclopedia 4) Spalte 1: Anzahl der Christen in Millionen Spalte 2: Christen in Prozenten der Weltchristenheit Spalte 3: Christen in Prozenten der Weltbevölkerung 10

1 Afrika Ostasien Europa 15 Lateinamerika Nordamerika Ozeanien Südasien UdSSR 20

203 19 415 348 219 20 109 96

1980 2 14.2 1.3 29.0 24.3 15.3 1.4 7.6 6.7

3 4.7 0.4 9.5 8.0 5.0 0.5 2.5 2.2

2000

1 236 22 420 392 227 21 125 102

1985 2 15.3 1.4 27.2 25.3 14.7 1.4 8.1 6.6

3 4.9 0.5 8.8 8.2 4.8 0.5 2.6 2.1

1 393 32 431 571 253 27 192 118

2 19.5 1.6 21.4 28.3 12.6 1.4 9.5 5.8

3 6.3 0.5 6.9 9.1 4.1 0.4 3.1 1.9

Anzahl Länder 59 8 37 47 5 29 37 1

557 305 685

36 19.7 44.3

11.7 6.4 14.3

592 443 983

29.3 6.4 48.7

9.5 7.1 15.7

35 30 158

Aufgeteilt nach politisch1en Blöcken Westl. Welt Komm. Welt Dritte Welt

546 254 631

38.2 17.7 44.1

12.5 5.8 14.4

Aufgeteilt nach Entwicklungsstand (Definition der UNO) 25

789 643

55.1 44.9

18.1 14.7

811 737

52.4 47.6

17.0 15.4

875 1143

43.4 56.6

14.0 18.3

51 172

1432 4373

100

32.8 100

1548 4781

100

32.4 100

2019 6259

100

32.3 100

223 223

Entw. Länder Unterentw. Land.

Total Weltchristenh. Weltbevölkerung

30

Es ist hier nicht der Ort, die Schwierigkeiten dieser Statistik (und insbesondere ihrer Extrapolationen) zu diskutieren. Dazu möge man die umfangreichen und komplexen Erwägungen bei Barrett heranziehen. Die Tendenz ist jedenfalls eindeutig. Das zeigt sich auch darin, daß zwei Generalsekretäre des WCC aus den Jungen Kirchen kamen (Philip Potter aus der Karibik, Emilio Castro aus Uruguay) und daß die 35 höchsten Ämter im Lutherischen Weltbund und im Reformierten Weltbund von Vertretern der Jungen Kirchen besetzt wurden (Allan Boesak aus Südafrika, Josiah M. Kibira aus Tansania). Der Prozeß der Verlagerung des Schwergewichtes der christlichen Kirchen von den Alten zu den Jungen Kirchen kann vielleicht am besten verstanden werden, wenn wir uns 40 an die „Überholung" der palästinensischen (Alten) Mutterkirche durch die hellenistische (Junge) Missionskirche im 1. Jh. erinnern. Dabei ist die Warnung der Geschichte nicht zu übersehen, daß eine steif bei ihrer immerhin biblisch begründbaren Tradition verharrende Mutterkirche dem Untergang geweiht war! Noch wichtiger in unserem Zusammenhang aber ist die schon erwähnte Tatsache, daß auch der zahlenmäßige Anteil der Einhei45 mischen Kirchen innerhalb der Jungen Kirchen steigt (1980: 82 Mill., 1985: 95 Mill.) und ein Anpassungsprozeß der protestantischen und katholischen Jungen Kirchen an diese Einheimischen Kirchen zu beobachten ist (Barrett, Schism and Renewal). 3. Theologische

Chancen und Probleme

„Früher hatte jede Nation, jede Kultur und jede Religion der Erde ihre eigene Ge50 schichte, ihre besondere Herkunft und ihre eigene Zukunft. Geschichte gab es nur im

Junge Kirchen

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Plural der verschiedenen Geschichten der Erde. Es gab keine Weltgeschichte, sondern nur menschliche Geschichten auf der W e l t . " Heute werden die Völker „weiterhin ihre Vergangenheit und Traditionen im Plural haben, Z u k u n f t und Hoffnung aber nur noch im S i n g u l a r . . . Als ,Weltreligion' werden sich in Zukunft nur noch diejenigen Religionen behaupten und darstellen können, die sich auf die jetzt entstehende ,eine Welt' und die erst heute zu schaffende gemeinsame ,Weltgeschichte' einlassen" (Moltmann 172). Wenn diese Analyse M ö l l m a n n s zutrifft, so werden sowohl die Jungen als auch die Alten Kirchen an einer Theologie der Zukunft gemeinsam arbeiten müssen. Es geht also nicht mehr darum, möglichst eigenständige Kirchen und Theologien zu erarbeiten, sondern darum, diese Eigenständigkeit so darzustellen, daß sie Bestandteil einer gemeinsamen ökumenischen Theologie und Geschichte wird. Etwas vereinfacht ausgedrückt zeichnet sich aber im Verhältnis zwischen Jungen und Alten Kirchen nicht diese gemeinsame ökumenische Zukunft ab, sondern ein Prozeß, der zwei gleicherweise unerwünschte Optionen enthält: 1) Die Jungen Kirchen werden ad infinitum von den westlichen Kirchen subventioniert, was ihnen die Aufrechterhaltung eines nach europäisch/amerikanischem Muster ausgebildeten und funktionierenden Pfarrerstandes ermöglicht und eine nach europäischem Vorbild aufgebaute theologische Ausbildung, Kirchenorganisation und medizinische Betreuung garantiert (Boyd, Essiben). 2) Wie die Einheimischen Kirchen gezeigt haben, ist die Alternative der Verzicht auf Finanzen und Experten aus Übersee und die Entwicklung einer eigenständigen Theologie und Kirchenstruktur unter Einschluß eines von indigenen Traditionen mitbestimmten Gesundheits- und Schulwesens (Appiah-Kubi, Lartey, M a z i b u k o , Pfleiderer/Bichmann). Das eindrücklichste Beispiel einer solchen Entwicklung sind die Kirchen Chinas, von denen gesagt wird, daß sie sich seit dem Rückzug der Missionare verdreifacht hätten. Aber auch weniger drastische Beispiele sind bekannt, z. B. die Entwicklung der indonesischen Kirchen während der japanischen Besetzung (Haire; -»Indonesien). Beide Optionen nehmen das biblische Zeugnis nicht genügend ernst. Durch formal negierte, praktisch aber doch sehr wirksame finanzielle und theologische Abhängigkeit einerseits und durch totale Isolierung von den Alten Kirchen andererseits wird der Frage ausgewichen, wie „Kontextualität und Katholizität, Partikularität und Universalität ins rechte Verhältnis zu bringen s i n d " ( T R E 4 , 192, 4 6 f). Die biblischen Autoren waren kontextuelle Theologen in dem Sinne, daß die Elemente, die sie aus der sie umgebenden Kultur in ihre Theologie aufnahmen, durch einen theologischen Selektions- und Reinterpretationsvorgang in ihre Tradition integrierten. Das bedeutet für die Theologie der Jungen Kirchen, daß sie die Elemente aus ihrer nichtchristlichen Vergangenheit und Kultur durch einen theologischen Reinterpretationsvorgang in ihre Theologie integrieren müssen (Beispiele: K. Koyama, Thailand; S. Yagi, J a p a n ; C. S. Song, Taiwan; D. Tutu, C. Baeta und G . Setiloane, Afrika; E. Cardenal, J . L. Segundo, D. Winter, Südamerika; I. H a m i d , Ph. Watty, G . Mulrain, Karibik). Welche Elemente dabei abgestoßen, welche transformiert und welche relativ unverändert übernommen werden, ist eine Frage, die von den Jungen Kirchen selber beantwortet werden muß. Den gleichen kritischen Rezeptionsvorgang werden sie der westlichen Theologie gegenüber anwenden. Nicht alle Elemente westlicher T h e o l o g i e und Kultur sind eo ipso für die Jungen Kirchen unbrauchbar. Die gleichen Kriterien gelten aber auch für die westliche Theologie in bezug auf Einsichten und Erfahrungen der Jungen Kirchen. D e r Dialog zwischen den verschiedenen T h e o l o g i e n ist nicht nur für die Jungen, sondern ebenso sehr für die Alten Kirchen nötig, und zwar im Interesse einer eigenständigen westlichen und einer verbindlichen ökumenischen T h e o l o g i e . Dies gilt nicht nur für die Praktische, Missionswissenschaftliche und Ökumenewissenschaftliche Theologie, sondern ebensosehr für Systematik, Ethik und Exegese. In den letzten Disziplinen ist das diesbezügliche Problembewußtsein noch ungenügend entwickelt.

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Die praktische Durchführung dieses Dialogs krankt daran, daß schon die Wahl der theologischen Sprache eine kulturelle Vorentscheidung bedeutet, was leicht in jedem Seminar, in jeder ökumenischen Konferenz mit Theologen aus den Alten und Jungen Kirchen demonstriert werden kann. Wird als Unterrichts- und Konferenzsprache die Begriffssprache des Westens gewählt, so fällt es den Theologen der Jungen Kirchen schwer, ihre Einsichten in diesen Konzepten darzustellen. Wird umgekehrt als Kommunikationsmedium die mündliche, narrative Sprache der Jungen Kirchen gewählt, so fällt es den Theologen der Alten Kirchen schwer, diese Berichte theologisch ernst zu nehmen. Fast immer wird die europäische Sprache gewählt, was zur Unterdrückung oder Ausschaltung der nur in mündlicher Sprache ausdrückbaren Sachverhalte führt. Hier die Einsicht von W. Wink offensichtlich: „Schon die Wahl des Vokabulars und des Satzbaus ist ein gesellschaftlicher [man müßte hinzusetzen: und ein theologischer, v. Verf.] Akt, der festlegt, wie ,Fakten' erfahren werden können, ja in gewissem Sinne die zu studierenden Fakten selbst produziert" (Wink lOf). Eine Lösung des Dilemmas ist nur möglich, wenn wir Theologen zweisprachig werden, eine Forderung, die um so leichter zu erfüllen ist, als uns die mündliche, narrative Sprache der Bibel als theologisches Medium durch die kritische Exegese vertraut sein sollte. Darüber hinaus wird die mündliche Sprache auch für unsere eigene Praxis von Bedeutung sein (-»Erzählung). Drei für eine ökumenische Theologie der Zukunft relevante Themen sollen hier kurz erwähnt werden. (1) Träume und Visionen: Es ist unbestritten, daß die Mehrheit der Christen der Jungen Kirchen auf Grund von Träumen, Visionen, Ahnenerscheinungen, Heilungen und ähnlichen Erfahrungen und äußerst selten auf Grund von Unterricht und Predigt Christen wurden (was nicht bedeutet, daß Unterricht und Predigt unwichtig sind, wohl aber, daß sie nicht konstitutiv für das Christwerden sind). Wenn aber das, was biographisch Grundlage ihres Christseins ist, theologisch nicht ernst genommen wird (wobei eine biblisch fundierte Kritik auch zu diesem Ernstnehmen gehört), wie sollen dann die Jungen Kirchen unsere Theologie ernst nehmen? Gabriel Setiloane beklagt sich bitter darüber, daß selbst der W C C einen Passus über die grundlegende Bedeutung der Ahnen aus einer seiner Meditationen gestrichen hat (zu den Ahnen vgl. auch Singleton und Barrington-Ward). Darüber hinaus müssen auch wir Europäer unser Verhältnis zu den Ahnen (siehe die vielen Gräber in anglikanischen und katholischen Kirchen; die Kerzen an Weihnachten auf den Friedhöfen, die auch von Protestanten hingestellt werden), zu unseren Träumen und Visionen neu überdenken. Sie als theologisch irrelevant abzuschreiben und der Psychologie, der Psychiatrie und der Parapsychologie zu überlassen, heißt auf verantwortliche theologische Arbeit in einem Gebiet zu verzichten, das genauso wichtig ist wie die Sozialethik und die Dogmatik. Daß sich dabei schwerwiegende Fragen an unseren Wissenschafts- und Theologiebegriff ergeben, ist kein Grund, ihnen auszuweichen. Sie könnten im Gegenteil uns zu einer wichtige Einsichten entschränkenden Paradigmen-Verschiebung (Kuhn) verhelfen. Wahrscheinlich würde diese Paradigmenverschiebung zeigen, daß das, was wir als Säkularisation bezeichnen, eine vorübergehende lokale Erscheinung ist, was keinesfalls bedeutet, daß dadurch die Aufgabe von Theologie und Kirche leichter würde (siehe dazu die wichtigen Erwägungen zum Thema Religion und Politik: FasholeLuke, passim). (2) Krankenheilung: Ähnliches ist zum Thema religöse Krankenheilung zu sagen. Für die Jungen Kirchen ist Krankheit in erster Linie Symptom einer gestörten Sozialbeziehung zu den Mitmenschen, der Natur und den Ahnen. Infolgedessen erscheint ihnen eine medizinische Behandlung, die Krankheit lediglich als physisches Defizit betrachtet, den Patienten in einem Spitalbett isoliert, ihn von fremden Menschen betasten und „behandeln" läßt als groteske Magie des weißen Mannes, die Symptombehandlung mit Heilung verwechselt. Die meisten Einheimischen Kirchen sind auf Grund einer Kontroverse über die Heilungsfrage entstanden. Ein Dialog zu dieser Thematik ist heute schon deswegen dringend, weil auch die Weltgesundheitsorganisation in Genf die Einseitigkeit der westli-

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chen Gesundheitsindustrie erkannt hat und nach „Dritte-Welt-Alternativen" sucht (Newell, Djukanovic). Auch eine steigende Anzahl westlicher Mediziner (Schaefer, Lambourne, Wilson) und Theologen (Doebert, Sheils, Becken) vermuten, daß wir uns aus finanziellen und anderen Gründen eine Medizin, die sich vorgängig als Reparaturdienst versteht, nicht mehr leisten können. Es ist möglich, daß die Fragen, die K. Beth schon 1959 (RGG 3 3, 197) stellte, durch einen ernsthaften Dialog mit den Jungen Kirchen einer Beantwortung näher geführt werden könnten. Auf alle Fälle können wir von den Jungen Kirchen lernen, daß das Thema —»Heilung in die Liturgie, d.h. in die soziale Öffentlichkeit und nicht in erster Linie in die Einzelseelsorge gehört. Hier werden auch die sozial und politisch relevanten Verbindungslinien zwischen den Einheimischen Kirchen und den Basisgemeinden in Lateinamerika sichtbar. Für die westlichen Kirchen bedeutet dies, daß Krankheit nicht länger als Defizit der Einzelperson verstanden wird. Die Liturgien zur Veröffentlichung dieses Tatbestandes werden dabei im Rückgriff auf orthodoxe und katholische Erfahrungen entstehen. Es sind Liturgien nötig, die die Privatsphäre des einzelnen respektieren, die aller reißerischen Propaganda aus dem Wege gehen und die es strikte vermeiden, das Evangelium als eine Erfolgsreligion anzupreisen. Darum ist eine Übernahme der Praxis amerikanischer Pfingstgemeinden oder auch östlicher kommerzialisierter Heilungspraktiker undenkbar. Die beste Kritik an diesen unerwünschten Einflüssen ist eine theologisch und kirchlich verantwortete Praxis. Das gilt sowohl für die Alten wie auch für die Jungen Kirchen. (3) „Begriffliche" und „mündliche" Kommunikationsweise: Ernst Dammann hat auf den Unterschied zwischen schwarzer und weißer Predigt aufmerksam gemacht (TRE 1, 713). Die weiße Predigt bezeichnet er als „nüchtern" und „deduzierend", die schwarze Predigt als „emotional" und wahrscheinlich dem zyklischen Denken verhaftet. Die in diesen Kategorien versteckte Wertung könnte vermieden werden, wenn man die eine Form als „begrifflich und deduzierend", die andere als „mündlich und narrativ" bezeichnete. Eine Höherbewertung der deduzierenden Kommunikationsweise erscheint mir anhand des biblischen Befundes und moderner Kommunkationstheorien unangebracht. Beide Kommunikationsweisen haben ihre Vorteile und Nachteile. Jedenfalls verteidigt der Nobelpreisträger D. Tutu die schwarze Verkündigung und Theologie. Sie kann, so sagt er, adäquat nur im Lied, im Tanz und in der Narration ausgedrückt werden. Was hier auffällt ist, daß der Ort der Theologie die Liturgie ist - eine alte christliche Einsicht, über die es sich im Interesse von Liturgie und Theologie lohnt nachzudenken. Zu fragen wäre auch, ob nicht das, was Dammann „weiße Predigt" nennt, die Kommunikationsweise nicht des Weißen schlechthin, sondern diejenige des weißen Akademikers ist, wenn er sich zum Thema Religion äußert. Es könnte sich ja erweisen, daß die „deduzierende Predigt" auch für Europa nicht die einzige Predigtweise ist. Jedenfalls ist eine Diskussion der hier anfallenden theologischen Problematik nicht nur im Interesse der Jungen Kirchen, sondern ebenso im Interesse der westlichen Theologie und Kirche und ihrer Relevanz für die ökumenische Zukunft nötig. Literatur Wichtig sind die Serien Die Kirchen der Welt, Stuttgart, 18 Bde., 1 9 6 4 - 1 9 7 8 , World Studies in Mission, 13 Bde., London 1 9 5 8 - 1 9 7 0 , Studien zur interkulturellen Geschichte, bis 1988 5 0 B d e . , Frankfurt/Bern 1 9 7 5 ff, Theologie in der Dritten Welt, Freiburg 1981 ff. Kofi Appiah-Kubi, M a n Cures, G o d heals. Religion and Medical Practice Among the Akans of Ghana, T o t o w a / N . J . 1981. - Christian G. Baeta, Prophetism in Ghana. A Study of Some „Spiritual" Churches, L o n d o n 1962. - David B. Barrett, Schism and Renewal in Africa. An Analysis of Six Thousand C o n t e m p o r a r y Religious Movements, London 1968. - Ders., World Christian Encyclopedia. A C o m p a r a t i v e Study o f Churches and Religions in the M o d e r n World A D 1 9 0 0 - 2 0 0 0 , London 1982. - Simon Barrington-Ward, , T h e centre c a n n o t h o l d . . .'.Spirit possession as redefinition: Edward Fashole-Luke (Hg.), s.u., 4 5 5 - 4 7 0 . - Hans-Jürgen Becken, Theol. der Heilung. Das Heilen in den Afrikanischen Unabhängigen Kirchen in Südafrika, Hermannsburg 1972. - Peter Beyerhaus, Die

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Hollenweger

Junges Deutschland 1. Historischer Überblick 2. Literarisch-politische 4. Konservative Polemik (Quellen/Literatur S. 464) 1. Historischer

Ästhetik

3. Moral

und

Religion

Überblick

Mit dem Jungen Deutschland bezeichnet man in der Literatur- und allgemeinen Geschichtsschreibung eine in den 1830er Jahren auf breite öffentliche R e s o n a n z stoßende Gruppe junger Literaten, zu der insbesondere die im Rechtsrheinischen wirkenden Karl G u t z k o w ( 1 8 1 1 - 1 8 7 8 ) und Ludolf Wienbarg ( 1 8 0 2 - 1 8 7 2 ) einerseits und die in Berlin tätigen T h e o d o r M ü n d t ( 1 8 0 8 - 1 8 6 1 ) , Gustav Kühne ( 1 8 0 6 - 1 8 8 8 ) und Heinrich L a u b e ( 1 8 0 6 - 1 8 8 4 ) andererseits gehören. Was K. G u t z k o w im Augenblick des Sturzes K a r l X . von Frankreich und der Julirevolution von 1830 (vgl. T R E 11, 3 7 0 , 35ff; 3 7 9 , 2 8 ff) feststellt: „ D i e Wissenschaft lag hinter, die Geschichte vor m i r " , gilt für die Jungdeutschen insgesamt: Die Julirevolution wird für sie zur entscheidenden Wende ihres Lebens, wobei das Bewußtsein des Neuen im Lichte des von Ludwig B ö r n e und Heinrich Heine propagierten Endes der durch —» Goethe und die —»Romantik geprägten Kunstperiode gedeutet wird. Dieses Bewußtsein des U m b r u c h s weiß sich durch die Generationsablösung bestätigt, die sich in den 1830er J a h r e n mit dem Tod —»Hegels ( 1 8 3 1 ) - bei dem G u t z k o w , Kühne und M ü n d t gehört haben - , - » G o e t h e s ( 1 8 3 2 ) , -»Schleiermachers ( 1 8 3 4 ) , W. v. - • H u m b o l d t s (1835) u . v . a . vollzieht. Durch die Julirevolution erhalten die seit den Karlsbader Beschlüssen ( 2 0 . 9 . 1819) unterdrückten frühliberalen und demokratischen Ideen (—•Demokratie) neuen Auftrieb, so daß die Jungdeutschen ihre vordringliche Aufgabe darin sehen, mit der Verbindung von Kunst und Leben, Wissenschaft und Politik, Geist und Sinnlichkeit die aufklärerisch-liberale Funktion der Literatur im Interesse der Freiheit und Emanzipation der Individuen zu mobilisieren. D a m i t werden die Forderungen des -»Liberalismus »Freiheit und - » A u t o n o m i e des Individuums (-»Individualismus), Gleichheit vor dem Gesetz, Rechtssicherheit und Garantie des Privateigentums - ins Literarische übertragen, um den unter den Bedingungen des Restaurationssystems ( - » R e stauration) des Deutschen Bundes nicht durchsetzbaren liberalen Ideen wenigstens ideell N a c h d r u c k zu verleihen. Diese liberalen Bemühungen ziehen aber von Anbeginn die Reaktion des Staates und seiner Zensurmaßnahmen (-»Zensur) auf sich; durch wiederholte Bundesbeschlüsse nach 1830 wird auf die Durchsetzung der Karlsbader Beschlüsse gedrängt, was bedeutet, daß alles Gedruckte von weniger als 20 Bogen einer Vorzensur unterworfen ist. Neben den offiziell eingesetzten Zensurkollegien sind überdies von Metternich und dem preußischen Geheimrat G. A. v. Tzschoppe besoldete ,Konfidenten' tätig, die Spitzeldienste leisten und den Briefverkehr von Verdächtigten überwachen. Von diesen Maßnahmen sind die literarischen Aktivitäten des Jungen Deutschland in besonderem Maße betroffen, so daß die meisten Schriften der Jungdeutschen ab etwa 1833 systematisch verboten werden. Ihren Höhepunkt erreicht die Verfolgung mit dem Beschluß der Bundesversammlung vom 10.12. 1835, durch den der Druck und die Verbreitung der jungdeutschen Schriften und der Heines durch den Buchhandel und die Leihbibliotheken verboten werden. Begründet wird dieses Verbot damit, daß die Bestrebungen des Jungen Deutschland „unverhohlen" dahin gingen, „in belletristischen, für alle Klassen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden sozialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören." Durch diesen Bundestagsbeschluß werden die Pläne zu einem organisatorischen Zusammenschluß des Jungen Deutschland vereitelt. Zwar versuchen Gutzkow und Wienbarg mittels der Gründung der Deutschen Revue, deren erstes Heft am 1.12. 1835 erscheint, ein Zentralorgan des Jungen Deutschland zu schaffen, an dem neben den Jungdeutschen auch u.a. Heine und Börne und einige Hegel-Schüler mitarbeiten sollten. Aber durch den Bundestagsbeschluß und die literarische Fehde, die der Literatur- und Goethekritiker Wolfgang Menzel gegen die Jung-

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deutschen im allgemeinen und gegen Gutzkows Wqlly, die Zweifelerin im besonderen in polemischdenunziatorischer Absicht entfacht, sind die Pläne zu einer organisatorischen Vereinigung des J u n gen Deutschland zum Scheitern verurteilt. Als Folge der politisch-rechtlichen Repressionen und der Angriffe aus dem Lager des politischen und kirchlichen Konservativismus zerfällt die jungdeutsche Schule; während sich Kühne, L a u b e und Mündt offen oder insgeheim vom Jungen Deutschland lossagen, bleiben zwar G u t z k o w und Wienbarg standfest; aber Zensur und konservative Polemik sorgen für die Erfolglosigkeit ihrer literarischen Opposition.

Als Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Februar 1842 die noch bestehenden Ausnahmeregelungen gegen die Jungdeutschen aufheben läßt, geht von deren Ideen schon längst keine Beunruhigung mehr aus. Nicht mehr das Junge Deutschland, sondern die Hallischen Jahrbücher Ruges und Echtermeyers und die Junghegelianer (->Hegel/Hegelianismus) avancieren zu Stimmführern des kritischen Bewußtseins in den 1840er Jahren, so daß die in den 1830er Jahren gleichwohl zeitgemäße jungdeutsche Kritik zur Zielscheibe der Polemik der konservativen Literaturgeschichtsschreibung und Historiographie wird. 2. Literarisch-politische

Ästhetik

Das von H. Heine bereits 1828 diagnostizierte Ende der Goethischen Kunstperiode wird von den Jungdeutschen in der Weise aufgenommen, daß sie eine der Zeit enthobene, ,autonome' durch eine zeitgebundene Ästhetik ersetzen, derzufolge Dichtung als ins Poetische übertragener Zeitgeist fungiert (Dietze 157). Der der ,Bewegung* der Geschichte verpflichtete Zeitgeist (vgl. T R E 12, 647, 50ff) manifestiert sich für die Jungdeutschen als Fortschritt', durch den die Rechte und die Freiheit der Individuen gestärkt werden sollen. Poetisch findet diese subjektiv-ästhetische, gegen die historische Schule (vgl. T R E 12,649, 32 ff) gerichtete Geschichtsauffassung ihren Niederschlag in der Favorisierung des Sittenund Zeitromans und in den besonders geschätzten Formen des Reiseberichts, der Briefsammlung und des Feuilletons. Durch diese die Sprache des täglichen Lebens verwendenden Literaturformen soll der literarische ,Aristokratismus' zugunsten eines ,Demokratismus' bekämpft werden. Mit der auf das individuelle Leben bezogenen Kunst werden die Grenzen zwischen Literatur und Moral, Ästhetik und Weltanschauung fließend, so daß die als Ausdruck der individuellen Subjektivität erscheinende Poetik in der zum ästhetischen Akt stilisierten Bildung der eigenen Persönlichkeit gipfelt. Gradmesser der literarischen Produktion sind nicht die Formgesetze einer vermeintlich zeitlosen Ästhetik, sondern die Erfordernisse einer funktional interpretierten Literaturtheorie, die im Interesse eines auf politische, religiöse und moralische Befreiung drängenden Zeitgeistes die bedrückend-restaurativen Zustände des Metternichschen Systems kritisiert. Im Mittelpunkt der politischen Bestrebungen steht also d a s Eintreten der Jungdeutschen für einen Liberalismus, der um der individuellen Freiheit willen ein Mitspracherecht der bürgerlichen Schichten in den Belangen des Allgemeinwohls fordert; die aristokratisch-autoritäre Herrschaftsform soll zugunsten der Selbstherrschaft' der Individuen abgelöst werden: „ D i e Millionen Selbstherrscher sind d a s äußerste Ziel der Zivilisation" (H. Laube). Zugleich stellen das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit in der Sicht der jungdeutschen Publizisten, die ihren Lebensunterhalt mittels ihrer literarisch-journalistischen Tätigkeit verdienen, grundlegende Voraussetzungen der Emanzipation v o m System des Spätabsolutismus dar. D a die Jungdeutschen den kosmopolitischen Ideen der - » A u f k l ä r u n g zugetan sind, treten Bemühungen um die nationale Einheit in den Hintergrund. Auch Fragen der zukünftigen Staatsform spielen eine untergeordnete Rolle; sowohl von der Republik als auch der konstitutionellen Monarchie erwartet man die Sicherung individueller Freiheit und die Gleichstellung vor dem Gesetz. D a in der Durchsetzung der Freiheit der Individuen das vorrangige Mittel zur Beseitigung der politischen Mißstände gesehen wird, bringen die Jungdeutschen der .sozialen Frage' (-»Sozialismus) und dem Problem der ökonomischen Bedingtheit der Gesellschaft und des Staates nur ein untergeordnetes Interesse entgegen.

Die Hoffnung auf die Erreichung ihres politischen Hauptzieles: Befreiung des Individuums als Entfaltung der allseits gebildeten Persönlichkeit wird durch einen Fortschrittsgedanken genährt, bei dessen Formulierung insbesondere Theoreme des Saint-Simonismus (~>Frühsozialisten) Pate stehen. Obwohl bei dessen Rezeption einerseits religiöse

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und andererseits moralisch-soziale M o t i v e im Vordergrund stehen, stimmen die J u n g deutschen d o c h in der Ü b e r n a h m e von dessen F o r t s c h r i t t s g e d a n k e n überein, der freilich evolutionistisch umgebogen und als Weiter- und H ö h e r e n t w i c k l u n g des apart gesetzten Geistigen verstanden wird. D i e J u n g d e u t s c h e n sind also weit davon entfernt, eine U m g e staltung der sozialen und ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse zu fordern. Sie führen ihren „ F e d e r k r i e g " mit dem Ziel der U m f o r m u n g von Ideen und geistig-moralisch-religiösen Verhaltensweisen; ihre literarisch-ästhetische R e v o l u t i o n hebt auf R e f o r m e n a b , die h a u p t s ä c h lich G e d a n k e n f r e i h e i t und F r a u e n e m a n z i p a t i o n ( - » E m a n z i p a t i o n ; - » F r a u VII. 3), R e l i gionsverbesserung und die - » B i l d u n g s e l b s t b e s t i m m e n d e r Individuen beinhalten.

3. Moral und

Religion

M i ß t m a n das J u n g e D e u t s c h l a n d an der Gesellschafts- und Religionskritik der radikaleren J u n g h e g e l i a n e r oder der ,Wahren Sozialisten', so ist man allzu schnell geneigt, seine Bestrebungen als L i t e r a t u r „ r e v o l u t i o n " bürgerlicher, oder gar „ k l e i n b ü r g e r l i c h e r " Intellektueller abzutun. D a b e i wird j e d o c h übersehen, d a ß die J u n g d e u t s c h e n nicht nur „durch P u b l i k a t i o n s v e r b o t des D e u t s c h e n Bundes zu oppositionellem Ansehen g e k o m m e n " (Nipperdey 5 7 7 ) sind. V i e l m e h r zeigt s o w o h l die zeitgenössische P o l e m i k als auch die pejorative Behandlung der J u n g d e u t s c h e n in der späteren, konservativ gesinnten Historiographie, d a ß das J u n g e D e u t s c h l a n d politische, moralische und religiöse Fragen aufwirft, durch die das Bewußtsein der die politische und kirchliche R e a k t i o n tragenden Kreise empfindlich verunsichert wird. A u f der G r u n d l a g e des Prinzips persönlicher Freiheit treten die J u n g d e u t s c h e n in A u f n a h m e verschiedener Vorbilder (Schlegels Lucinde, S a i n t - S i m o n i s m u s u . a . ) für die Befreiung der F r a u , die Erleichterung der E h e s c h e i d u n g (-»Ehe/Eherecht/Ehescheidung), rechtliche Gleichstellung der unehelichen Kinder, größere Freizügigkeit in erotischen Fragen ein und attackieren die kirchliche Eheschließung und damit die a u f göttliche O r d n u n g zurückgeführte und staatlich-kirchlich s a n k t i o n i e r te Ehe- und Familienauffassung. G e t r a g e n werden diese Forderungen zu einer veränderten Ehe- und S e x u a l m o r a l durch die E r w a r t u n g einer „ W i e d e r e i n s e t z u n g des F l e i s c h e s " , durch die das R e c h t der Sinnlichkeit gegenüber einer vereinseitigten Spiritualisierung des N a t ü r l i c h e n akzentuiert werden soll. Diese Kritik ü b e r k o m m e n e r M o r a l v o r s t e l l u n g e n , die insbesondere, aber weit über das Ziel hinausschießend, aus G u t z k o w s Wally herausgelesen wird, ruft eine Flut persönlich verletzender und gehässiger P a m p h l e t e hervor. Diese m a ß l o s e R e a k t i o n zeigt j e d o c h , d a ß es den jungdeutschen Verfechtern einer aufgeklärten S e x u a l m o r a l gelingt, an den G r u n d f e s t e n der kirchlich gestützten Gesellschaftsordnung zu rütteln. D a s wird auch dadurch bestätigt, d a ß sowohl der Vertreter der evangelisch-kirchlichen R e a k t i o n , E . W . - > H e n g s t e n b e r g und seine Evangelische Kirchenzeitung, als auch die Historisch-politischen Blätter - das von J . v. —»Corres herausgegebene O r g a n des militanten deutschen K a t h o l i z i s m u s - das von W. M e n z e l ausgelöste Verdammungsurteil des J u n g e n D e u t s c h l a n d sich zu eigen m a c h e n , um es der „ H u r e r e i " und der Z e r r ü t t u n g der staatlich-religiösen F u n d a m e n t e zu bezichtigen. J e d o c h gereicht es dem - » R a t i o n a l i s m u s zur E h r e , d a ß er in den C h o r der H a ß t i r a d e n nicht e i n s t i m m t , vielmehr, indem er auf die „ S e l b s t ä n d i g k e i t seiner G r ü n d e " setzt, den inhaftierten G u t z k o w gegen die V o r w ü r f e der G o t t e s l ä s t e r u n g und der Verführung zur Unzucht verteidigt ( H . E . G . Paulus) bzw. die Auseinandersetzung mit dem J u n g e n D e u t s c h l a n d auf eine im T o n ironische, a b e r in der S a c h e o b j e k t i v - n ü c h t e r n e G r u n d l a g e stellt (K. H a s e ) . Die Vorstellung einer vage gehaltenen Synthese zwischen Geistigem und Sinnlichem, Transzendenz und Immanenz, Christentum und Hellenismus steht im Hintergrund der religionskritischen Intentionen des Jungen Deutschland, die in Aufnahme von Grundgedanken u.a. des -»-Deismus, -•Voltaires, ->Lessings, ->Reimarus' und wiederum des Saint-Simonismus formuliert werden. Kritisiert werden vorrangig die kirchlichen Institutionen, weil sie die jeweilige politische Herrschaft legitimieren und in der Gegenwart „sich überall der politischen Emanzipation in den Weg stellen" (Gutzkow). Im Interesse dieser Emanzipation plädieren die Jungdeutschen daher für die Trennung von -»Kirche und Staat, wodurch die Integrationsfunktion der Religion zumindest eingeschränkt

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werden soll. Daneben wird auch die kompensatorische Zwecksetzung der Religion hervorgehoben: als „Verzweiflung am Weltzweck" biete sie eine Erklärung der Welt an, durch die ihre Entstehung aus natürlichen Ursachen verschleiert werde. Gutzkow skizziert in seinen „Geständnisse(n) über Religion und Christentum" (Wally, 3. Buch) eine Genealogie des Christentums. Jesus wird in der Nachfolge von Reimarus als gescheiterter Revolutionär dargestellt, der weder eine neue Religion, geschweige denn das —»Christentum hervorbringen wollte. Dieses ist vielmehr ein Produkt des —»Paulus und der Apostel, die die Lehre Jesu durch den Glauben an seine Person und Passion ersetzen. So zieht auch die welthistorische Ausdehnung des Christentums eine Geschichte des Leidens nach sich, für die Verfolgungen und die „Blutströme" der Hingemordeten symptomatisch sind. Auch die -»Reformation hat die der Lehre Jesu zuwiderlaufende Verkirchlichung des Christentums nicht aufgehalten, sondern in Gestalt des „Territorialsystems" verstärkt. Ebenso wird die im Gefolge des Kritizismus -»Kants agierende und in Rationalismus und -»Supranaturalismus gespaltene Theologie kritisiert, weil sie ein falsches Doppelspiel treibe: „Auf der Kanzel gaben sie niemals jenen Glauben preis, den sie auf dem Katheder anatomisch zergliederten." D i e s e K r i t i k des k i r c h l i c h institutionalisierten Christentums wird a b e r nicht zu einer destruktiv-genetischen K r i t i k der Religion und des Christentums überhaupt ausgezogen, wie sie für die J u n g h e g e l i a n e r signifikant sein wird ( - » R e l i g i o n s k r i t i k ) . V i e l m e h r spielen die J u n g d e u t s c h e n die an J e s u Lehre orientierte Idee des Christentums gegen seine verk e h r t e V e r k i r c h l i c h u n g aus. In diesem Z u s a m m e n h a n g k ö n n e n R e f o r m a t i o n und P r o t e s t a n t i s m u s ihrer E r s t a r r u n g zum T r o t z auch positiv beurteilt werden, so d a ß die R e f o r m a tion als G e b u r t s s t ä t t e des Prinzips der Freiheit gilt, zu deren Folgen A u f k l ä r u n g und - » F r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n erklärt werden. Diese Sicht k o m m t freilich auch dadurch zustande, d a ß in der R e f o r m a t i o n in erster Linie ein Vorgang des Protests gesehen wird, zumal die A u s d r ü c k e ,Protestantismus' und , P r o t e s t a n t ' vom Vorgang des Protestierens h e r gedeutet werden.

4. Konservative

Polemik

I h r e affirmativen Intentionen und ihre K r i t i k an tradierter Politik, Ä s t h e t i k , M o r a l u n d R e l i g i o n tragen die J u n g d e u t s c h e n weitgehend thetisch-provozierend und weniger b e g r ü n d e n d vor. A b e r diese argumentative S c h w ä c h e , die auch in den favorisierten, z u m Feuilletonistischen und J o u r n a l i s t i s c h e n tendierenden Darstellungsformen angelegt ist, m a c h t n i c h t die H a ß t i r a d e n verständlich, denen die Jungdeutschen von Seiten der zeitgenössischen H ü t e r des Bestehenden und den n a c h g e b o r e n e n Vertretern einer konservativen H i s t o r i o g r a p h i e ausgesetzt sind. D i e zeitgenössische Pamphlet- und Artikelflut, in der die J u n g d e u t s c h e n als u . a . „ F r a n z o s e n f r e u n d e " , „ J u d e n " , „ S c h r e i e r " , „ G o t t e s l ä s t e r e r " , „ W ü s t l i n g e " , „ W o l l ü s t i g e " g e s c h m ä h t werden, wird nur daraus verständlich, d a ß durch ihre G e s e l l s c h a f t s - , M o r a l - und R e l i g i o n s k r i t i k und durch ihre liberalen Ideen die S c h w ä c h e z u s t ä n d e eines a u t o r i t ä r e n R e g i m e s aufgedeckt werden, das seine o b s o l e t g e w o r d e n e O r d n u n g durch Polizei und Z e n s u r , mittels Einschüchterung liberaler R e g u n g e n und durch B e s c h w ö r u n g kirchlicher T r a d i t i o n und ,heiliger' Sitte aufrechtzuerhalten versucht. Z u g l e i c h werden in der Polemik gegen das J u n g e D e u t s c h l a n d die Diffamierungsstereotypen ausgebildet, die in der konservativ eingestellten H i s t o r i o g r a p h i e von G e n e r a tion zu G e n e r a t i o n , a u c h über 1 9 4 5 hinaus, weitergegeben werden, um unliebsame B e strebungen liberaler, d e m o k r a t i s c h e r o d e r sozialistischer Art als , u n d e u t s c h " , irreligiös oder u n m o r a l i s c h zu disqualifizieren. An der den J u n g d e u t s c h e n zuteil g e w o r d e n e n Polem i k lassen sich Wurzeln des deutschen Ungeistes aufdecken, der glaubt, die Besonderheit seiner , K u l t u r ' durch Ausgrenzung der ,westlichen Zivilisation' unter Beweis stellen zu müssen. Quellen Alfred Estermann (Hg.), Politische Avantgarde 1830-1840. Eine Dokumentation zum „Jungen Deutschland", 2 Bde., Frankfurt a.M. 1972. - Der dt. Vormärz. Texte u. Dokumente, hg. v. Jost Hermand, Stuttgart 1974. - Karl Gutzkow, Ausgew. Werke, hg. v. Heinrich Hubert Houben, 12 Bde., Leipzig 1908. - Ders., Wally, die Zweiflerin, hg. v. Günther Heintz, Stuttgart 1983 (Lit.). -

Jungmann

465

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Falk Wagner

Jungfrauengeburt -»Jesus Christus, -»Maria Jungmann, Josef 1. Leben

Andreas

(1889-1975)

2. Werk und W i r k u n g

(Quellen/Bibliographien/Literatur S . 4 6 6 )

1. Leben Jungmann wurde am 16.11. 1889 in Sand in Taufers als zweiter Sohn des Südtiroler Mühlenbesitzers J. Jungmann geboren. Am fürstbischöflichen Vincentinum in Brixen erhielt er eine gründliche Gymnasialausbildung (1901-1909), studierte anschließend in Brixen Theologie und wurde am 27.7. 1913 in Innsbruck zum Priester geweiht. Nach einigen Jahren praktischer Seelsorgearbeit trat er 1917 in die Gesellschaft Jesu ein, vertiefte im Orden seine philosophisch-theologische Ausbildung an der Innsbrucker theologischen Fakultät, wo er 1923 zum Dr. theol. promovierte und, nach Studienaufenthalten in München und Wien, für das Fach Pastoraltheologie habilitiert wurde; Habilitationsschrift: Die Stellung Christi im liturgischen Gebet (1925). Von 1925 an lehrte er in —»Innsbruck als Privatdozent, a.o. Professor (1930) und o. Professor (1934) Pädagogik (bis 1952), Katechetik (bis 1957) und Liturgik (bis 1963). Die feierliche Ordensprofeß hat er am 2.2. 1932, ebenfalls in Innsbruck, abgelegt. Als 1939 sowohl das Jesuitenkolleg als auch die Theologische Fakultät in Innsbruck durch die Nationalsozialisten aufgehoben

Jungmann

466

worden waren, ging Jungmann nach Wien (bis 1942) und Hainstetten (bis 1945) und bereitete sein Hauptwerk Missarum sollemnia (1948) vor. Von 1945 an bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er wieder in Innsbruck. 1953/54 war er Rektor der Innsbrucker Universität. 1956 trat Jungmann in den Ruhestand, dozierte aber noch bis 1963 als Honorarprofessor. Von 1956-1962 leitete er als Rektor das internationale Theologenkonvikt Canisianum. In den Jahren 1950-1956 gehörte Jungmann zu den Konsultoren der Ritenkongregation. 1960 wurde er zum Mitglied der Vorbereitungskommission für das —• Vaticanum II, 1962 zum Mitglied der konziliaren Liturgiekommission und 1964 zum Consultor des Rates zur Durchführung der Liturgiekonstitution des Vaticanum II berufen. Seit dem Ende der 60er Jahre nahmen zunächst das Gehör und dann die Sehkraft Jungmanns so stark ab, daß er nur noch selten Einladungen zu Gastvorlesungen, Vorträgen und Tagungen folgen konnte, die ihn in viele Länder der Erde geführt hatten. 1972 erhielt er als letzte offizielle Anerkennung das Ehrendoktorat der Salzburger Theologischen Fakultät. Fast erblindet starb er am 16. Januar 1975 in Innsbruck, wo er in der Krypta der Jesuitenkirche beigesetzt wurde. 2. Werfe und

Wirkung

Jungmann hat seine wissenschaftliche Arbeit schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Katechetik und Pädagogik begonnen. Sein Hauptanliegen war von Anfang an eine heilsgeschichtlich-christologische Konzentration der Seelsorge und des kirchlichen Lebens auch der Liturgie (damals wie Pädagogik, Katechetik und Hodegetik ein Teilgebiet der Pastoraltheologie). Die 20 Jahre nach der Urfassung 1936 als Buch erschienene Arbeit Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung war ein frühes Zeugnis dafür wie auch für die historisch-genetische Methode, welche Jungmanns Arbeiten kennzeichnet. Das Buch gab den Anstoß zu einer material-kerygmatischen Erneuerung der Katechese, die nicht nur Jungmanns Katechetik (1953) prägte, sondern auch zum neuen deutschen Katechismus (1955) führte. Seine Grundanliegen gingen auch in die von Jungmann und dessen Innsbrucker Kollegen und Mitbrüdern, den PP. F. Dander, F. Lakner und H. Rahner initiierte Diskussion um eine ,Theologie der Verkündigung' ein. Unter dem Einfluß der Liturgischen Bewegung, der Jungmann eng verbunden war, konzentrierte sich jedoch sein Interesse schon seit den 30er Jahren immer mehr auf liturgiewissenschaftliche Fragen. Dabei ging es ihm nie um die reine Wissenschaft als solche, sondern immer um die tragenden Grundideen und -strukturen christlichen Gottesdienstes, aus denen die Liturgie der Kirche lebt und sich erneuern kann. Paradigmatisch ist dafür die kleine Schrift Die liturgische Feier. Grundsätzliches und Geschichtliches über Formgesetze der Liturgie (1939); aber auch Jungmanns Standardwerk Missarum sollemnia, das ihn weltberühmt gemacht hat, und das zu wenig beachtete Spätwerk Christliches Beten in Wandel und Bestand (1969) zeigen ihn als Gelehrten, dessen Arbeit ganz auf die Erneuerung der Glaubenspraxis von ihren Grundlagen her ausgerichtet ist. Es entsprach daher der inneren Logik seines Lebenswerkes, daß er bedeutenden Anteil am Zustandekommen der Liturgiekonstitution des Vaticanum II hatte und insbesondere die Reform der Meßliturgie maßgeblich beeinflußte, die zum Missale Komanum Pauls VI. (1970) geführt hat. Quellen

(die wichtigsten Buchveröffentlichungen in Auswahl)

Die Stellung Christi im liturg. Gebet, 1925 2 1962 (LF 7 / 8 ) . - Die lat. Bußriten in ihrer gesch. Entwicklung, 1932 (FGIL 3/4). - Die Frohbotschaft u. unsere Glaubensverkündigung, Regensburg 1936; 2. Überarb. Aufl.: Glaubensverkündigung im Lichte der Frohbotschaft, Innsbruck 1963. - Die liturg. Feier. Grundsätzliches u. Geschichtliches über Formgesetze der Liturgie, Regensburg 1939; 4. Überarb. Aufl.: Wortgottesdienst im Lichte v. Theol. u. Gesch., Regensburg 1965. - Gewordene Liturgie. Stud. u. Durchblicke, Innsbruck 1941. - Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Wien 1948 5 1962. - Katechetik. Aufgabe u. Methode der rel. Unterweisung, Freiburg i.Br. 1953 3 1965. - Der Gottesdienst der Kirche auf dem Hintergrund seiner Gesch. kurz erläutert, Innsbruck 1955 3 1962. - The early liturgy to the time of Gregory the Great, Notre Dame 1959 (Liturgical Studies 6); dt.: Liturgie der christl. Frühzeit bis auf Gregor den Großen,

467

Jung-Stilling

Freihurg/Schw. 1967. - Liturg. Erbe u. pastorale Gegenwart. Stud. u. Vorträge, Innsbruck 1960. Christi. Beten in Wandel u. Bestand (Leben und Glauben), München 1969. - Messe im Gottesvolk. Ein nachkonziliarer Durchblick durch Missarum Sollemnia, Freiburg i.Br. 1970.

Bibliographien 5

Die Messe in der Glaubensverkündigung. Hg. v. F. X . A r n o l d / B . Fischer. FS zum 60. Geburtstag, F r e i b u r g / B r . 1950 2 1 9 5 3 , 3 7 7 - 3 8 2 . - Paschatis sollemnia. Hg. v. B. F i s c h e r / J . Wagner. FS zum 7 0 . Geburtstag, Freiburg/Br. 1959, 3 5 7 - 3 6 1 . - Z K T h 91 (1969) H . 3 (FS zum 80. Geburtstag), 5 1 0 - 5 1 5 . - J . A . Jungmann. Ein Leben für Liturgie u. Kerygma. Hg. v. B. F i s c h e r / H . B . Meyer, Innsbruck 1975, 1 5 6 - 2 0 7 (Gesamtbibliogr. mit Sachregister 2 0 8 - 2 3 3 ) . - M . Pranjic, s . u . Lit., 10 9 5 - 1 2 5 .

Literatur

15

J . A . Jungmann, Ein Leben für Liturgie u. Kerygma, s . o . Bibliogr. - M . Pranjic, Christus als Mittelpunkt der Glaubensverkündigung nach Josef Andreas J u n g m a n n , Z a g r e b 1983. - J. Pröls, Z u r Frage der liturg. Bildung bei T h e o d o r Filthaut u. Josef A. J u n g m a n n , Innsbruck 1978 (Diplomarbeit - ungedr.). - A. Thaler, Das Selbstverständnis der Kirche in J . A . J u n g m a n n ' s „Missarum Sollemnia". Versuch einer eucharistischen Ekklesiologie, Innsbruck 1969 (Lizentiatsarbeit - ungedr.). - In Vorbereitung: Themenheft zum 100. Geburtstag Jungmanns: Z K T h 111 (1989) H . 3 über den jungen Jungmann (R. Pacik), den akademischen Lehrer (Balth. Fischer), den Katecheten (H. Pissarek-Hudelist), den Theologen ( H . B . Meyer); R . Pacik, Liturgie u. Liturgiereform im Denken J . A . Jungmanns.

Hans Bernhard Meyer S J

20

Jung-Stilling, Johann 1. Leben

Heinrich

2. Schriften

(1740-1817)

(Quellen/Literatur S. 4 7 0 )

1. Leben In den fünf Folgen seiner vielgelesenen Autobiographie ( H e n r i c h Stillings

25 1777, Jünglings-Jahre

30

35

40

45

1778, Wanderschaft

1778, Häusliches

Jugend

Leben 1789, Heinrich Stil-

lings Lehr-Jahre 1804) hat Jung-Stilling seinen Lebensgang selbst dargelegt und unter den Gesichtspunkt eines autobiographischen Gottesbeweises gerückt; eine moderne Biographie fehlt. Über die einfachen Verhältnisse seiner bäuerlichen Heimat Grund bei Hilchenbach im Siegerland strebte der streng religiös, im reformierten Bekenntnis erzogene, vielseitig interessierte junge Mann entschieden hinaus. Nach unglücklichen Jahren in wechselnder Stellung als Dorfschullehrer und Handwerker, als Hauslehrer und als Verwalter in der Eisenfabrik von Peter Johannes Flender in Kräwinklerbrücke bei Radevormwald ( 1 7 6 3 - 1 7 7 0 ) studierte der dreißigjährige Autodidakt in Straßburg Medizin (1770/72) und ließ sich zunächst (bis 1778) als praktischer Arzt in Elberfeld nieder, wo er auch Augenkuren und Staroperationen durchführte. Danach wirkte er 25 Jahre lang als Professor der Staatswirtschaft an der Kameralhochschule in Kaiserslautern (bis 1784), an der Universität Heidelberg (bis 1787) und in Marburg (bis 1803), wo er im Kriegsjahr 1792 Rektor war. Karl Friedrich von Baden (s. T R E 5, 100, 22 ff) berief ihn schließlich in die freie Tätigkeit eines religiösen Schriftstellers nach Heidelberg (1803) und als Gesellschafter nach Karlsruhe (1806) an seinen Hof, wo er seinen greisen Gönner um sechs Jahre überlebte. Jungs Name erlangte gewisse Bedeutung in der Staatswirtschaft (Volkswirtschaft und Politologie) seiner Zeit. Weit bekannter wurde er jedoch, vor allem in Kreisen des pietistischen Adels und der Erweckten in Stadt und Land, als Briefseelsorger und — unter seinem nach Ps 35,20 gewählten Beinamen - als Volksschriftsteller, der für die Wahrheit der „alten christlichen Glaubens- und Heilslehre" gegen die „neue Aufklärung" Front machte. Mit seinen - ungleichen - Altersgenossen Claudius, -> La vater und -•Oberlin gehört Jung-Stilling zu den Vätern der Erweckung in Deutschland. Gelegentlich hat man ihn geradezu als „Patriarchen der Erweckung" ( - • Erweckung/Erweckungsbewegungen) bezeichnet.

468 2.

Jung-Stilling Schriften

Noch vor dem von -> Goethe veranlaßten Erscheinen von Henrich Stillings Jugend, die mit ihrer ungekünstelten Verklärung fromm-rechtschaffener bäuerlicher Menschlichkeit die Herzen der deutschen Leser gewann, nahm Jung-Stilling in seiner Schleuder eines Hirtenknaben (1775) die evangelische Kirche und Geistlichkeit gegen die pietismusfeindliche Satire Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai in Schutz. Es war ein Kampf ohne Entscheidung, zumal sich Jung-Stilling bald darauf in seinen eigenen Romanen (Die Geschichte des Herrn von Morgenthau, 1779; Die Geschichte Florentins von Fahlendorn, 1781; Leben der Theodore von der Linden, 1783) seinerseits auf den Boden einer „frommen Aufklärung" stellte und sich, zumal in seinem autobiographisch gefärbten Theobald oder die Schwärmer (1784), von einem von ihm als weltfremd kritisierten Pietismus distanzierte. Unter dem Motto „Mittelmaß die beste Straß" propagierte er damals ein weltzugewandtes, aktives Christentum im Dienst des patriarchalischen Fürstenstaates, zu dessen äußerer Förderung er selbst rastlos lehrte, schrieb und ganze 11 Lehrbücher verfaßte (Grundlehre sämtlicher Kameralwissenschaften, 1779; Forstwissenschaft, 1781/1782; Landwirtschaft, 1783; Fabrikwissenschaft, 1785; Handlungswissenschaft, 1785; Vieharzneikunde, 1785/1786; Kameralrechnungswissenschaft, 1786; Staatspolizeiwissenschaft, 1788; Finanzwissenschaft, 1789; Kameralwissenschaft oder Kameralpraxis, 1790; Grundlehre der Staatswirtschaft, 1792). In seiner Zeitschrift Der Volkslehrer (1781-1784) verstärkte er unterdessen nur den tönenden Chor der Tugendlehrer der Zeit; Lavater übte daher Kritik an ihm. Erst als er in den Gewalttaten der -*• Französischen Revolution, die er unerschrocken verurteilte, die radikale Konsequenz der Philosophie der Aufklärung erkannt und sie als den Auftakt zum endzeitlichen „großen letzten Kampf zwischen Licht und Finsterniß" begriffen hatte (s. T R E 3, 285f), rückte Jung-Stilling von seinem Programm einer frommen Aufklärung ab, um von nun an vor der Neologie und ihrem kompromißhaften „Christo-Belialschen System" mit allen Kräften zu warnen und als Schriftsteller im Sinne der Erweckung „dem Herrn und seinem Reich ganz allein und aus allen Kräften zu dienen". Dieser Übergang ist in dem großen erwecklichen Roman Das Heimweh vollzogen (I/II 1794, III 1795, IV 1796; Der Schlüssel zum Heimweh 1796), den JungStilling in besonderer Hochstimmung - „eine erhöhte Empfindung der Nähe des Herrn" niederschrieb und dessen Publikumserfolg ihn dazu mitveranlaßte, seine Professur vollends aufzugeben (1803) und zum erbaulichen Volksschriftsteller zu werden. Nach dem Vorbild von John -»Bunyans Schrift The Pilgrim's Progress (1678), die ihn schon im Kindesalter beeindruckt hatte, schilderte Jung-Stilling im Heimweh den mit vielerlei Bewährungsproben durchsetzten Heilsweg zur himmlischen Heimat in Gestalt einer allegorischen Beschreibung der Reise des Christian Eugenius von Ostenheim aus Deutschland über den Balkan bis nach Jerusalem. Damit verband er besondere Anweisungen für die „Kreuzritter", die auserlesenen erwecklichen Führer auf diesem Wege, und schließlich rief er die gesamte abendländische Christenheit zur Abkehr von ihrer Verflechtung in die Philosophie der Aufklärung und zur Errichtung einer neuen Art von idealen christlichen Gemeinden auf. Das Neue war hier die Überzeugung von der Naherwartung der Verfolgung der Kirche und des Endes der Welt. Die Wiederbelebung dieser gemeinhin für überholt und überwunden gehaltenen Elemente der christlichen Verkündigung erregte nach Jung-Stillings eigenen Worten eine „starke und weit um sich greifende Sensation". Jung-Stilling verstärkte sie noch durch die Scenen aus dem Geisterreiche (1795), die er „zum ernstlichen Nachdenken und zur Belehrung und Erbauung" nach dem Vorbild der Totengespräche Lukians in Dialogform verfaßte. Von dem fiktiven Standpunkt jenseits des Erdenlebens aus verknüpfte er hier seine frühere apologetische Zielsetzung, unter Einschaltung wahrer und erdachter Beispielgeschichten, mit neuer, verschärfter Zeit-, Standes- und Kirchenkritik. In der Siegsgeschichte der christlichen Religion (1799) schwang er sich schließlich sogar zum Ausleger der Apokalypse auf, die er als „bildliche

Jung-Stilling

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Vorhersagung der ganzen Geschichte des Kampfes zwischen dem Erlöser und dem Verderber des Menschen-Geschlechts von Johannes an bis in die künftige Ewigkeit hinein" verstand. Zwar hielt er sie, im Unterschied zu der „buchstäblichen Ängstlichkeit" ->Bengels, nicht für wortwörtlich inspiriert, sondern zog auch die „natürliche Schreibart" des Johannes in Betracht. Aber der Versuchung zur Berechnung der Endzeit mochte auch er nicht widerstehen: Die erste der sieben Schalen des Zorns (Apk 16,1) deutete er auf den Beginn der Französischen Revolution, und für das Jahr 1836 erwartete er die Fesselung des Satans und den Beginn des Tausendjährigen Reiches (zu Apk 20,1). Seit seiner Hinwendung zur Erweckung trat Jung-Stilling mit den Mitgliedern der Herrnhuter Brüdergemeine, die er nunmehr als „eine wichtige Anstalt zur vorbereitenden Gründung des Reichs Gottes" rühmte, und mit der Basler Christentumsgesellschaft (-»Basel, Christentumsgesellschaft) in enge Verbindung (Besuche in Neuwied 1789, in Basel 1801, 1802, in Herrnhut 1803, 1804). Aus dem reichhaltigen Briefwechsel, den er seit Jahren mit Korrespondenten aus allen Ständen führte und den er nun gleichfalls in den Dienst der Erweckung stellte, hat er später (1807) nach eigener, vermutlich überschätzender Angabe gegen 15000 Briefe ausgeschieden, um nur die wichtigsten aufzubewahren. Bis ins hohe Alter sah er nicht nur seine - grundsätzlich unentgeltlichen - Staroperationen (bis 1801 ingesamt 900), sondern auch diese Korrespondenz als Christenpflicht und als seine besondere geistliche Aufgabe an. Seit 1795 gab Jung-Stilling nach dem Vorbild der Basler Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit (seit 1783) eine eigene Zeitschrift Der Graue Mann. Eine Volksschrift (1795-1816) heraus, in der er nun auch seiner Volksbelehrung die neue, erweckliche Zielrichtung gab. In der Person jener Symbolfigur aus dem Heimweh verlieh er seinen Worten höhere Weihe und Autorität, gleichviel ob er nun politische Zeitereignisse kommentierte und Regeln christlicher Erziehung propagierte oder aber die neuesten Erbauungsschriften empfahl und über die Fortschritte des Reiches Gottes auf den Missionsfeldern berichtete. Mit seiner hervorragenden Erzählergabe - „Erzählen ist immer so seine Sache gewesen" - gewann er eine wachsende anhängliche Lesergemeinde, aus deren Reihen schließlich auch ein Verein zur Verbreitung von Erbauungsbüchern nach Art der English Tract Society hervorging. Rein belehrende Literatur schloß er von dieser Schriftenmission ausdrücklich aus. Alle Titel sollten „auf Jesum Christum und seine Erlösung hinweisen" und „den Unglauben und die heutigen neologischen Grundsätze und ihre Schwäche zeigen". Sein besonderes Interesse richtete er dabei, nicht anders als im Grauen Mann, auf „erbauliche Geschichten frommer Menschen, besonders von Sterbenden, besondere Strafgerichte Gottes mit nützlichen Anwendungen, merkwürdige Führungen und ausgezeichnete Züge der Vorsehung." Zwei weitere Zeitschriften, den Christlichen Menschenfreund in Erzählungen für Bürger und Bauern (1803-1807) und das Taschenbuch für Freunde des Christentums (1805-1816) gestaltete Jung-Stilling nach ähnlichem Muster. Überall ging es ihm um die Einprägung der alten und rechtgläubigen, für die Theologie der Erweckung grundlegenden drei Artikel von der völligen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, von der Gottmenschheit Christi und von seinem versöhnenden Opfertod, die er als die „Hauptwahrheiten der christlichen Religion" bezeichnete. Jung-Stilling beschränkte sich jedoch nicht auf diese Hauptwahrheiten. In seiner Theorie der Geisterkunde (1808) suchte er mit Schrift-, Vernunft- und Erfahrungsbeweisen, u. a. gestützt auf den Mesmerismus, die Existenz der Geisterwelt zu erhärten: Gläubige Christen werden der Seligkeit im Reich des Lichts sofort nach ihrem Tode teilhaftig, die Seelen der Gottlosen fallen sogleich der Qual anheim. Aber für die Mehrzahl der Verstorbenen öffnet sich ein Zwischenzustand, in dem sie zum Zweck ihrer Läuterung bis zur Auferstehung verweilen. Vom Körper gelöst, über Raum und Zeit erhaben und daher mit der Einsicht in zukünftige und entfernte Dinge versehen, umlagern sie als Geister die noch lebenden Menschen, um mit ihnen womöglich in Verbindung zu treten - eine Versuchung, vor der Jung-Stilling eindringlich warnt. Die Diskussion dieses Themas beunruhigte manche Leser. Von den Behörden in Basel und in Württemberg wurde die

Jung-Stilling

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Verbreitung der Geisterkunde verboten. Selbst die Christentumsgesellschaft mahnte ihren Freund zur Vorsicht bei seinen Aussagen über das Geisterreich, das Weltende und den Bergungsort. So rückte Jung-Stilling immerhin von dem von ihm (1810) behaupteten Endjahr „1816 oder 1819" wieder ab; nicht auf das Datum, sondern auf unablässiges „Wachen und Beten" und Buße und Bekehrung komme es an. Seit seiner Unterredung mit Zar Alexander I. in Bruchsal (10.7.1814) - „er ist ein wahrer Christ im strengsten Sinn" und seit dem Abschluß der Heiligen Allianz (1815) richtete Jung-Stilling seine Hoffnungen um so lebhafter auf Rußland als Schutzmacht und Bergungsort der Christenheit, womit er in Süddeutschland die Bereitschaft zur Auswanderung in den Osten (1817ff) verstärkt haben dürfte. Auf seine Zeitgenossen wirkte Jung-Stilling vor allem durch seine fromme Persönlichkeit. Seine Schriften fanden ihre Leser im nachfolgenden Neupietismus und in der Gemeinschaftsbewegung. Darüber hinaus ist namentlich seine Autobiographie lebendig geblieben. Quellen H s . N a c h l a ß in der U B Basel. - J o h a n n Heinrich J u n g ' s , genannt Stilling, S ä m t l . Sehr., Stuttgart, I 1835—XIII 1837, X I V 1838; N a c h d r . H i l d e s h e i m / N e w York 1979. - J o h a n n Heinrich J u n g ' s , genannt Stilling, SW, Stuttgart, 1 1 8 4 1 - X I I 1 8 4 2 2 1 8 4 3 / 4 4 . - J o h a n n Heinrich Jung-Stilling, Lebensgesch., Vollst. Ausg. mit A n m . , hg. v. G . A. B e n r a t h , D a r m s t a d t 1976 2 1 9 8 4 . - Briefe Jung-Stillings an seine Freunde, hg. v. Alexander V ö m e l , Berlin 1905 2 1 9 2 4 . - J o h a n n Heinrich Jung-Stilling, Briefe an die St. Gallerin Helene Schlatter-Bernet, St. Gallen 1964. - Ders., Briefe an Verwandte, Freunde u. Fremde aus den J a h r e n 1 7 8 7 - 1 8 1 6 , hg. v. H a n s W . Panthel, Hildesheim 1978. - . . . wenn die Seele geadelt ist. Aus dem Briefwechsel Jung-Stillings, hg. v. H e r m a n n M ü l l e r , G i e ß e n / B a s e l 1 9 6 7 .

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Gustav Adolf Benrath Junilius

Schriftauslegung

Jurieu, Pierre

Hugenotten

Justin der Märtyrer Jus divinum

471

Recht/Rechtswesen

Jus in sacra et circa sacra -> Kirchenregiment, Landesherrliches, -» Kirchenverfassung Justin der Märtyrer (gest. um 165) (s. auch -»Apologetik) 1. Leben

2. Werk

3. N a c h w i r k u n g

( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 475)

1. Leben Als Quellen zu Justins Lebenslauf kommen vor allem seine eigenen Aussagen in I Apol. 1, II Apol. 3 und 12f und Dial. 1,1-8,2 in Betracht, außerdem das Martyrium s. lustini et sociorum. Spätere Erwähnungen des Justin (s.u.) sind von diesen Quellen abhängig. Die einzige Ausnahme ist Eusebs Aufzählung der Schriften Justins in h.e. IV,18,2-6. Möglicherweise ist auch die Justins Tod betreffende Überlieferung in Epiphanius, haer. 46,1, von diesen Quellen unabhängig; ihr Quellenwert ist indessen schwer zu beurteilen (vgl. besonders Harnack, Gesch. 11,1,283). Aus diesen Quellen läßt sich folgendes entnehmen: Justin wurde in Flavia Neapolis (heutiges Nablus) in Samaria geboren; sein Vater war Priscus und sein Großvater Bacchius, beide aus Neapolis (I Apol. 1). Der lateinische Name des Vaters und der griechische des Großvaters werden oft als Indizien dafür betrachtet, daß Justin einer Familie griechischer oder römischer Kolonisten entstammte; er war ja unbeschnitten (Dial. 28,2 u.ö.). Andererseits kann er in Dial. 120,6 die Samaritaner „mein Volk" nennen, im selben Kontext aber auch „ihr Volk". Eine eingehende Kenntnis der samaritanischen Religion läßt sich bei ihm nicht aufzeigen, und eindeutig samaritanische Elemente in seiner Theologie und Schriftauslegung sind bisher nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden (gegen P.R. Weis). Dagegen hat er - laut seiner eigenen Darstellung in Dial. 2,3—6 - eingehendere Bekanntschaft mit mehreren Richtungen der griechischen Philosophie gemacht, um schließlich in der platonischen Schulphilosophie seine „Ruhe" zu finden. Zwar ist der historische Wert dieses selbstbiographischen Berichts in der neueren Forschung sehr umstritten. „Philosophische Itinerare" dieser Art waren längst eine literarische Konvention geworden, und es wäre denkbar, daß Justin seinen Bericht als sehr durchstilisiert und typisiert verstanden wissen wollte. Die Charakterisierung des Stoikers, des Peripatetikers und des Pythagoreers, mit denen er zusammentraf, ehe er Platoniker wurde, scheint in der Tat sehr typisiert (vgl. besonders Hyldahl und van Winden). Man kann aber andererseits geltend machen, daß solche Typisierung rein literarisch wenig wirkungsvoll wäre, wenn sie nicht eine gewisse Deckung in der Erfahrung mancher Leute hatte. Jedenfalls kann kaum Zweifel daran bestehen, daß Justin sich letztlich in der mittelplatonischen Schulphilosophie zurechtfand (vgl. vor allem C. Andresen und E. des Places). Infolge der Darstellung in Dial. 3 war Justins Begegnung mit dem Christentum unvorbereitet und ungeplant; eine vorausgehende Unzufriedenheit mit dem Piatonismus ist nicht erwähnt. Dagegen bekommt man in II Apol. 12f den Eindruck, daß es Justin schon als Platoniker in gewisser Weise imponierte, wenn er die christlichen Märtyrer und ihre Todesbereitschaft beobachtete. Die Bekehrung wird in Dial. 3—8 als rein intellektuell beschrieben: Durch einen alten Mann, auf den er zufällig stößt, wird Justin in seinem Piatonismus tief erschüttert, und als der Greis ihn dann auf die Bücher der Propheten hinweist, findet Justin, daß die Propheten „und jene Männer, die Christi Freunde sind", die Wahrheit besitzen (8,1). Durch diese Überzeugung glaubt Justin, auch die wahre Philosophie entdeckt zu haben, und trägt von nun an den Philosophenmantel in seiner Eigenschaft als christlicher Wanderprediger. Wie der historische Wert der „Autobiographie" Justins umstritten ist, herrscht auch in der Frage, ob dem Dialog mit dem Juden Tryphon ein wirklich stattgefundenes Gespräch zugrunde liegt, keine Einigkeit. Die Frage könnte vielleicht sicherer beantwortet

472

J u s t i n der M ä r t y r e r

werden, w e n n wir genau w ü ß t e n , wie zu J u s t i n s Z e i t die platonischen D i a l o g e in dieser Hinsicht verstanden wurden. D e n n es k a n n k a u m bezweifelt werden, d a ß J u s t i n seinen Dialog als eine N a c h a h m u n g des platonischen Vorbildes verfaßte. D i e w a h r s c h e i n l i c h s t e A n n a h m e ist die, d a ß die platonischen D i a l o g e als freie Wiedergaben faktisch stattgefundener G e s p r ä c h e verstanden wurden und d a ß J u s t i n sein Buch ähnlich verstanden wissen wollte. J e d e n f a l l s hat E u s e b das Buch nicht als rein literarische F i k t i o n aufgefaßt. D i e Szene des Dialogs ist im überlieferten T e x t nicht e r w ä h n t ; g e w ö h n l i c h schenkt m a n Eusebs A u s k u n f t (Ephesus) G l a u b e n ; d o c h ist a u c h für Korinth argumentiert w o r d e n (besonders H y l d a h l , auf G r u n d von Dial. 1,3). T r y p h o n w a r ein Flüchtling aus d e m „kürzlich stattgefundenen K r i e g e " , d . h . d e m B a r K o c h b a - K r i e g . D i e letzten J a h r e seines Lebens hat J u s t i n in R o m gelebt. (Das M a r t y r i u m setzt zwei A u f e n t h a l t e in R o m voraus; die A n n a h m e , d a ß J u s t i n inzwischen nach Ephesus gereist ist und dort sein G e s p r ä c h mit T r y p h o n hatte, ist reine K o n j e k t u r . ) Wahrscheinlich ist die M e h r z a h l seiner Schriften in R o m geschrieben, jedenfalls die drei, deren T e x t b e w a h r t ist. In R o m h a t auch der heftige Z u s a m m e n p r a l l mit d e m Kyniker C r e s c e n s stattgefunden, der J u s t i n v e r a n l a ß t e , seinen eigenen T o d vorauszusagen (II Apol. 3,1). O b seine H i n r i c h tung als C h r i s t unter dem Präfekten R u s t i c u s ( 1 6 3 - 1 6 7 ) wirklich auf C r e s c e n z zurückzuführen ist (so E u s e b , h. e. IV,16,1), bleibt ungewiß - d a v o n sagt das Martyrium nichts. D a s im Chronicon Paschale überlieferte T o d e s j a h r 165 k a n n als ziemlich k o r r e k t gelten ( H a r nack, Gesch. I I / l , 2 8 2 f ) .

2. "Werk In der H a n d s c h r i f t e n ü b e r l i e f e r u n g sind viele W e r k e unter J u s t i n s N a m e n untergeb r a c h t (siehe vor allem H a r n a c k , T U 1 , 1 / 2 , 1 4 8 — 1 7 1 ) , a b e r nur drei werden allgemein als

echt anerkannt: die Erste und Zweite Apologie und Der Dialog mit dem Juden

Tryphon.

E i n sicher echtes F r a g m e n t aus einer verlorengegangenen Schrift Gegen Markion ist bei Irenaeus, Adv. H a e r . IV,6,2 b e w a h r t ; das J u s t i n - F r a g m e n t in Adv. H a e r . V , 2 6 , 2 ist w a h r scheinlich aus demselben W e r k . Vielleicht ist dieses W e r k mit dem Syntagma gegen alle Häresien identisch, das J u s t i n selbst in I Apol. 2 6 , 8 e r w ä h n t . Auch die drei F r a g m e n t e aus einer Schrift Von der Auferstehung, die in den Sacra Parallela des J o h a n n e s von D a m a s kus überliefert sind (Holl 3 2 - 5 3 ) , werden neuerdings von Prigent als echt a n e r k a n n t ( 3 6 - 6 7 ; in der älteren F o r s c h u n g vor allem Z a h n 2 0 - 3 7 . Vgl. den scharfen W i d e r s p r u c h von J o l y 1 2 8 - 1 3 0 ) . Ein F r a g m e n t bei M e t h o d i u s (in Photius Myrobiblion [Bekker 2 9 8 a; H e n r y V, 9 7 f ] und a n d e r n o r t s überliefert, vgl. bes. Z a h n , 1 - 1 5 ) scheint aus demselben W e r k exzerpiert zu sein, und seine Verwendung s c h o n bei Irenaeus (Adv. H a e r . V , 9 , 4 ) w ä r e ein gutes Indiz für seine Echtheit. Der sonst nicht unbeträchtliche Bestand an „Justin"-Fragmenten bei späteren Autoren und in Florilegien i s t - n a c h der umfangreichen Sammlung des Materials bei Harnack (Gesch. 1,1,105-114) - nicht Gegenstand einer umfassenden kritischen Sichtung gewesen; eine solche wäre heute ein Desiderat, ebenso wie eine neue kritische Gesamtausgabe des Corpus Justinicum. Doch kann mit Recht vermutet werden, daß das Fragmentmaterial nicht viel echt Justinisches enthält und daß es jedenfalls kaum das Justin-Bild, das aus den unbestrittenen Werken hervortritt, wesentlich modifiziert. Ü b e r die Abfassungszeit der drei a n e r k a n n t e c h t e n W e r k e herrscht in der F o r s c h u n g g r o ß e E i n s t i m m i g k e i t (besonders seit H a r n a c k s grundlegenden U n t e r s u c h u n g e n , G e s c h . 1 1 , 1 , 2 7 5 - 2 8 1 ) : I Apologie c a . 1 5 0 - 1 5 5 ; II A p o l o g i e kurze Z e i t nach der ersten; D i a l o g 155-160. D i e Erste Apologie ( - » A p o l o g e t i k ) besteht aus zwei Hauptteilen: K a p . 1 - 2 9 enthalten die A b w e h r gegen die Beschuldigung, die Christen seien Atheisten. J u s t i n gesteht, d a ß die Christen g e w i ß den G ö t t e r n keine E h r e zollen, denn sie haben e r k a n n t , d a ß die G ö t t e r in W i r k l i c h k e i t böse D ä m o n e n sind, die durch S c h r e c k e n und Plagen die M e n s c h e n dazu verleitet h a b e n , sie als G ö t t e r zu verehren. J e s u s C h r i s t u s , der L o g o s und S o h n G o t t e s ist, hat den T r u g der D ä m o n e n entlarvt. D u r c h C h r i s t u s werden nun M e n s c h e n in aller Welt

Justin der M ä r t y r e r

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wirklich gottesfürchtig. Kap. 3 0 - 6 0 bringen dann den Schriftbeweis aus dem Alten Testament, der zeigen soll, daß Jesus wirklich Gottes Sohn ist und kein Zauberer. Kap. 6 1 - 6 7 bringen eine Beschreibung des Taufgottesdienstes und des sonntäglichen Gottesdienstes. Das Ganze wird in Kap. 68 mit der Wiedergabe eines Reskripts Hadrians abgeschlossen. Sowohl als Ganzheit als auch in mehreren Details ist dieses Werk recht lose komponiert; man stößt schon hier auf die vielen Abschweifungen, die dann im Dialog ganz überhandzunehmen drohen und die etwas Charakteristisches für Justins Schreibweise sind. Z u m Teil mag dies damit zusammenhängen, daß Justin christlichen (vielleicht auch jüdischen) Quellen so nahe folgt, daß die Disposition der verwendeten Quellen seine eigene Disposition durchbricht (speziell im Schriftbeweis, s.u.). Sieht man aber von der etwas losen Komposition ab, ist Justins Gedankengang straff und klar. Als Ausgangspunkt dient ihm eine doppelte Voraussetzung: einerseits das auch von den Philosophen anerkannte Ideal des gottesfürchtigen Lebens, andererseits die scheinbare Ablehnung dieses Ideals durch die Christen, die die Teilnahme an dem sozial und politisch notwendigen Kultus verweigerten. Kurz: W i e können Atheisten gottesfürchtig sein? Justin kann hier an die philosophische Religionskritik anknüpfen: Die Taten der homerischen Götter sind abscheulich und unmoralisch, und wer sie nachahmt, fällt in die gröbsten Sünden. T o t e Götterbilder anzubeten, ist unvernünftiger Unsinn. Diese philosophische Religionskritik verknüpft Justin mit der jüdischen Ätiologie der - » D ä m o n e n und der Dämonenfurcht, wie sie in der Henochliteratur bewahrt ist (I Apol. 5 , 2 - 4 ; II Apol. 5 , 2 - 5 ; vgl. speziell äth. Hen. 19,1 [ J S H R Z V,6,551]). Hinter den homerischen Göttern sieht darum Justin die D ä m o n e n agieren, und dies bestimmt auch in diesem Kontext sowohl seinen Gottesbegriff als auch sein Verständnis des Heilswerkes Christi: Im Gegensatz zu den Göttern der Poeten ist Gott ungezeugt und nicht den Leidenschaften unterworfen (ayevvrjxoQ xai änaSfiq, I Apol. 25,2). Christus hat die Dämonen, deren Anführer Satan ist, durch sein Leiden und seine Auferstehung besiegt. Er befreit jetzt alle Menschen, die an ihn glauben wollen, von der Herrschaft der Dämonen. Aber nicht nur als der inkarnierte - » L o g o s und die Weisheit Gottes war Christus gegen die Dämonen wirksam; als Schöpfungsmittler hat der Logos in alle Menschen — das heißt: in ihre Vernunft — Samen der Wahrheit gesät, so daß sie, wenn sie die D ä m o n e n anbeten, keine Entschuldigung haben (ävanoXöytjxoi, vgl. z . B . I Apol. 28,3). In diesem Kontext begegnen wir zwei Konzepten, die bei Justin eng zusammenhängen: einerseits der Gedanke, daß einige der Philosophen „ C h r i s t e n " waren, andererseits die Vorstellung vom Aöyoq amp^iaxixöc,. Den Modellfall eines „christlichen" Philosophen liefert Sokrates: Er hat für die Athener den Trug der Dämonen aufgedeckt und hat sie aufgefordert, den ihnen unbekannten G o t t zu suchen (I Apol. 5,3 f; II Apol. 1 0 , 2 - 8 ) . D a r u m ist er auch Märtyrer geworden - genau wie die Christen. Darum kann er auch als „ C h r i s t " gelten (I Apol. 46,3). Wahrscheinlich ist Justin hier von einer jüdischen Konzeption abhängig, die Heiden, die den Götzendienst verneinten, „ J u d e n " nennen könnte (z. B. b M e g 13 a). Auf gut jüdische Weise kann Justin solche Heiden mit A b r a h a m und den drei M ä n n e r n im Feuerofen (Dan 3) vergleichen (I Apol. 46,3) - in der rabbinischen Legende war ja auch Abraham wegen seiner Verneinung des Götzendienstes in den Feuerofen geworfen worden (z.B. E s t R 6,2). Der Aöyog onepßazixöq (nur II Apol. 8,3 und 13,3) bezeichnet in diesem Kontext den Logos als Schöpfungsmittler, als den „aussäenden" (aktiv!) Logos (vgl. besonders Holte), der „ S a m e n " der Wahrheit in die Vernunft aller Menschen aussät. Der Terminus ist stoischen Ursprungs; die Vorstellung, die Justin damit verbindet, ist durch und durch jüdisch: Die Definition des A-logischen ist der Götzendienst. Als spezifisch christlich zeigt sich der Gedanke Justins dadurch, daß die allgemeine Teilnahme am Logos kraft der Schöpfung als selten, schwach und unklar geschildert wird, während der inkarnierte Logos in Christus mächtig und wirkungsvoll die Herrschaft der D ä m o n e n bricht. Dieser Vorstellungskreis bestimmt auch die Auffassung vom Christentum als der einzigen und wahren Philosophie, die in Dial. 1 - 8 entwickelt wird. Die ersten, die sich um die Philosophie bemüht haben - auch hier wird wohl in erster Linie an Sokrates gedacht -

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Justin der M ä r t y r e r

h a b e n k e i n e wirklichen N a c h f o l g e r gefunden, sondern nur E p i g o n e n , die sich dann in der Vielfalt und den W i d e r s p r ü c h e n der P h i l o s o p h e n s c h u l e n verfestigt h a b e n (2,1 f). In den P r o p h e t e n aber und vollends in C h r i s t u s , den die Propheten voraussagten, ist die w a h r e Weisheit o f f e n b a r t . D i e wirklichen P h i l o s o p h o i sind d a r u m die Philoi Christou (Dial. 8,1). Diese ganz ungriechische Auffassung von der A u f g a b e der P h i l o s o p h i e bedeutet, d a ß J u s t i n nicht a u t o m a t i s c h das C h r i s t e n t u m „ h e l l e n i s i e r t " , w e n n er das C h r i s t e n t u m mit der w a h r e n Philosophie gleichsetzt (vgl. S k a r s a u n e , C o n v e r s i o n 6 3 - 6 5 ) . D e r c h r i s t o l o g i s c h e Schriftbeweis (I A p o l . 3 1 - 6 0 ) ist diesem K o n z e p t nicht o h n e weiteres a n g e p a ß t . Es ist vielmehr ein ausgesprochenes messianisches C h r i s t u s - K e r y g m a , das hier vorgestellt wird. In der vorausgeschickten D i s p o s i t i o n 3 1 , 7 werden die Präexistenzvorstellung und die S c h ö p f u n g s m i t t l e r s c h a f t Christi überhaupt nicht e r w ä h n t , sondern ausschließlich die historische Erfüllung der messianischen Weissagungen im L e b e n J e s u : die jungfräuliche G e b u r t , die H e i l u n g e n , das Leiden, T o d und Auferstehung J e s u und seine h i m m l i s c h e E r h ö h u n g . D i e messianischen Verheißungen, die hier aus dem Alten T e s t a m e n t herausgegriffen sind, s t i m m e n weitgehend mit denen der T a l m u d e überein, und m e h r e r e Details zeigen, d a ß dieses christologische K e r y g m a im intensiven D i a l o g mit d e m J u d e n t u m entwickelt wurde (vgl. S k a r s a u n e , P r o o f ) . M a n k a n n z . B . eine deutliche P o l e m i k gegen B a r K o c h b a spüren ( N u m 2 4 , 1 7 wird stark modifiziert zitiert: D u r c h H i n z u f ü g u n g von J e s 11,1 und 5 1 , 5 wird deutlich g e m a c h t , d a ß der w a h r e „ S t e r n " ein Davidide sein sollte und sein E r l ö s u n g s w e r k universal, I Apol 32,12). Hadrians Dekret nach der N i e d e r l a g e B a r K o c h b a s (Juden aus J e r u s a l e m ausgeschlossen) wird als eschatologisches Z e i c h e n begrüßt: G o t t hat nun J e r u s a l e m a u f die e s c h a t o l o g i s c h e E i n n a h m e durch die C h r i s t e n vorbereitet (I Apol 4 7 / 4 9 ; D i a l . 2 4 , 3 f ) . D e r auferstandene Christus herrscht jetzt über alle V ö l k e r durch das apostolische K e r y g m a ( z . B . I A p o l . 4 5 ) . Dieses christologische K e r y g m a wird von einer antikultischen P o l e m i k begleitet, die die sündenvergebende T a u f e als E r s a t z der sühnenden O p f e r versteht (Dial. 1 3 , 1 - 1 4 , 2 ) . Z e n t r a l p u n k t dieses K e r y g m a s ist das Kreuz Christi, wie es c h a r a k t e r i s t i s c h in einer interpolierten Version des Ps 9 6 heißt: „ D e r H e r r ist K ö n i g g e w o r d e n v o m H o l z e h e r " (I Apol. 4 1 , 4 ) . N a h e Parallelen zu diesem ganzen T r a d i t i o n s s t o f f sind in den ältesten christlichen Interp o l a t i o n e n der Testamente der zwölf Patriarchen und auch in Ps. C l e m . Kecognitiones 1 , 3 3 - 7 1 zu finden. Die Schriftzitate dieses Kerygmas sind in der Regel nicht direkt aus LXX-Handschriften exzerpiert, sondern aus christlichen Quellen, die stark „targumisierte" Texte bieten. Justin aber war überzeugt, daß diese Texte die authentische Ubersetzung der „Siebzig" repräsentierten (vgl. I Apol. 3 1 , 2 - 4 ) . Die Juden müssen die LXX-Handschriften revidiert und geändert haben, um christlich wichtige Texte auszuräumen (Dial. 7 1 , 1 - 7 3 , 6 ; 120,4f; 124,3f; 131,1; 137,3). Diese Annahme war gewiß irrig, aber ganz ohne Halt war Justins Meinung doch nicht, denn die Entdeckung der jüdischen Revision des LXX-Textes, die Barthélémy xai ye genannt hat und die mit Justins Dodekapropheton-Text übereinstimmt, hat bewiesen, daß Justins LXX-Exemplar zu diesem Buch eine jüdische Revision repräsentierte (-»Bibelübersetzungen 1.2.1). In dem weit ausführlicheren christologischen Schriftbeweis des D i a l o g s verwendet J u s t i n n o c h m a l s das traditionelle M a t e r i a l , das uns in der A p o l o g i e begegnet ist. Aber im D i a l o g wird das christologische K e r y g m a mit M a t e r i a l aus einer anders orientierten Q u e l l e bereichert. C h r i s t u s wird hier als der p r ä e x i s t e n t e S c h ö p f u n g s m i t t l e r , als der erscheinende G o t t in den a l t t e s t a m e n t l i c h e n T h e o p h a n i e n und als der w a h r e S o h n G o t t e s dargestellt, der A d a m s Sündenfall d a d u r c h rückgängig m a c h t , d a ß er den Teufel überwindet, die D ä m o n e n besiegt und den M e n s c h e n L e b e n und N e u s c h ö p f u n g bringt (z. B. Dial. 4 5 , 4 ; 7 6 , 6 f ; 8 4 , 2 ; 8 8 , 4 ; 9 1 , 4 ; 9 4 , 2 ; 1 0 0 , 4 - 6 ; 1 0 3 , 5 f ; 113,5; 1 2 5 , 4 ; 138,2). In diesem M a t e rial liegt die R e k a p i t u l a t i o n s t h e o l o g i e des Irenäus in nuce v o r (vgl. besonders Prigent, Skarsaune). I m D i a l o g geht J u s t i n auch n ä h e r a u f die Gesetzesfrage und das Israel-Problem ein. D i e ethischen K o m p o n e n t e n des Gesetzes sind ewig, die Z e r e m o n i a l g e s e t z e aber nur um der jüdischen H a r t h e r z i g k e i t willen gegeben und nach C h r i s t u s hinfällig (z.B. Dial.

J u s t i n der M ä r t y r e r

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1 8 , 2 - 2 3 , 5 ; 9 2 f ) . J u s t i n k o m b i n i e r t wirkungsvoll diese nicht-paulinische T r a d i t i o n mit genuin paulinischen Z i t a t e n und G e d a n k e n ( z . B . Dial 9 5 ) .

3.

Nachwirkung

D i e N a c h w i r k u n g der A p o l o g e t e n im allgemeinen und die J u s t i n s im besonderen ist seit H a r n a c k s grundlegenden Studien nicht eingehend untersucht worden. N u r J u s t i n s literarisches F o r t l e b e n bei - » I r e n a e u s und - » T e r t u l l i a n ist neuerdings dargestellt w o r d e n (Prigent und S k a r s a u n e ) . - > T a t i a n gilt schon bei Irenaus als Schüler J u s t i n s (Adv. H a e r . 1,28,1). D i e E r w ä h n u n g J u s t i n s in T a t i a n s Oratio (18 f) bezeugt die C r e s c e n s - E p i s o d e ; möglicherweise ist T a t i a n hier von 2 . A p o l . 3 a b h ä n g i g (vgl. aber die I n t e r p o l a t i o n s h y p o t h e s e W e k e n b o r g s ) . S o n s t scheint er J u s t i n s Schriften nicht benutzt zu h a b e n , und das Schülerverhältnis zu J u s t i n w a r vielleicht nicht so eng, wie die späteren V ä t e r voraussetzen. Bei Irenäus ist J u s t i n e r w ä h n t und ausdrücklich zitiert ( s . o . ) , I A p o l . und D i a l o g a u ß e r d e m reichlich o h n e Q u e l l e n a n g a b e benutzt, möglicherweise auch J u s t i n s Syntagma. L a u t Verfasser des Chronicon Paschale w a r auch - > M e l i t o von Sardes in seiner A p o l o g i e von der des J u s t i n a b h ä n g i g . Tertullian bezeugt, d a ß J u s t i n zu seiner Zeit schon den E h r e n n a m e n „ P h i l o soph und M ä r t y r e r " erhalten h a t t e und d a ß er als erster Ketzerbestreiter galt (Adv. Val. 5 ) . Tertullians A b h ä n g i g k e i t von J u s t i n ist vor allem in seinen antijüdischen, antivalentinianischen und a n t i m a r k i o n i t i s c h e n Werken abzulesen und ist hier durchgehend. Später hat M e t h o d i u s J u s t i n zitiert (wahrscheinlich ein F r a g m e n t aus dem T r a k t a t Über die Auferstehung, s . o . ) . E u s e b nennt a c h t W e r k e des J u s t i n , die er selbst zu k e n n e n scheint (h. e. I V , 1 8 , 2 - 6 ) , o b darunter schon P s e u d o - J u s t i n i c a w a r e n , läßt sich nicht m e h r a u s m a chen. Diese vornicänische Bezeugung zeigt, d a ß J u s t i n vor allem als Ketzerbestreiter und o r t h o d o x e r C h r i s t o l o g e geschätzt w a r , und seine N ä h e z u m apostolischen Z e i t a l t e r g a b seinem N a m e n einen b e s o n d e r e n G l a n z . In theologiegeschichtlicher Hinsicht ist seine indirekte N a c h w i r k u n g d u r c h Irenäus und Tertullian wichtig. D i e Synthese zwischen der nicht-paulinischen, aber missionsfreundlichen und gesetzeskritischen judenchristlichen S c h r i f t b e w e i s t r a d i t i o n einerseits und wichtigen paulinischen T h e o l o g o u m e n a andererseits, die in J u s t i n z u s t a n d e g e k o m m e n ist, w u r d e durch diese beiden A u t o r e n in wirkungsvoller Weise an die westliche und ö s t l i c h e T h e o l o g i e vermittelt. N a c h Tertullian wurde J u s t i n a b e r in der westlichen K i r c h e nicht viel benutzt. H i e r o nymus ist in seinem Kapitel über J u s t i n in D e vir. ill. 2 3 völlig von Eusebius a b h ä n g i g , e b e n s o in K a p . 9; Rufin hat J u s t i n s A p o l o g i e gelesen und bringt das lateinische O r i g i n a l des H a d r i a n r e s k r i p t s . S p ä t e r h ö r t m a n nur N a c h k l ä n g e aus E u s e b . In der östlichen K i r c h e werden b y z a n t i n i s c h e Bücher mit dem N a m e n J u s t i n s ausstaffiert, a b e r seine echten B ü c h e r wurden nicht viel gelesen o d e r k o p i e r t . D e r einzige umfangreiche B e r i c h t über J u s t i n - der des Photius (Biblioth. 125) — scheint z . B . a u ß e r auf E u s e b nur a u f P s e u d o - J u s t i n i c a zu beruhen (wenn nicht die Apologie für die Christen sowohl gegen die Hellenen als auch gegen die Juden, die Photius unter J u s t i n s W e r k e n e n n t , mit der echten A p o l o g i e u n d / o d e r dem D i a l o g identisch w a r - vgl. A r c h a m b a u l t I, XL-LIII). Quellen

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Justin der Märtyrer

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478

Justinian

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Justinian, Kaiser (ca.

483-565)

1. Leben 2. Kirchenpolitik Literatur S. 485)

3. Gesetzgebung

4. Theologie

5. Nachwirkung

(Quellen/

Die Quellen für Justinians Leben werfen Probleme auf: Seine eigenen Schriften wie auch die seiner Widersacher, z. B. Facundus', sind offensichtlich alles andere als objektiv; der einzige zeitgenössische Geschichtsschreiber, an den man sich für einen objektiven Bericht wenden kann, ist Procopius von Caesarea, aber seine Wertung bietet besondere Schwierigkeiten. Tatsache ist, daß Procopius scheinbar widersprüchliche Berichte bietet: In der Lobschrift unter dem Namen De aedificiis wird Justinian als Gottes Werkzeug für die Wiederherstellung der Kirche und Orthodoxie geschildert, während in der Schmähschrift, die als Historia arcana bekannt ist und für postume Veröffentlichung bestimmt war, Justinian und Theodora fleischgewordene Teufel sind, die sich der Zerstörung von Kirche und Staat verschrieben haben. Camerons wichtige Untersuchung zeigt, wie beide Sichtweisen in das Verständnis des Procopius vom 6. Jh. passen, daß Geschehnisse durch Wirken des Geistes, nicht durch Analyse menschlicher Motivation zu erklären sind. Dieser Gesichtspunkt, zusammen mit seinem Elitebewußtsein, seinem Frauenhaß und seiner Billigung der Grenzen klassischer Geschichtsschreibungsregeln, ließ Procopius unfähig sein, die eigentliche Bedeutung der Herrschaft Justinians zu verstehen oder zu erklären. Im folgenden wird das Zeugnis des Procopius über Tatsachen und Ereignisse oft akzeptiert, aber die unkritische Übernahme seines Lobes oder Tadels Justinians, die manche frühere Geschichtsschreibung verfärbte, vermieden. Bei jeglicher tieferen Analyse der Motive und Bedeutungen muß man sich mit Vorsicht vor allem der Gesetzgebung und damit zusammenhängenden Abhandlungen, die Justinian und sein engster Kreis verfaßten, zuwenden.

1. Leben Als Kaiser Anastasius 5 1 8 starb, w a r sein eher u n e r w a r t e t e r N a c h f o l g e r ein lateinsprachiger B a u e r aus d e m G r e n z l a n d zwischen T h r a k i e n und Illyrien n a m e n s J u s t i n , der es in der kaiserlichen L e i b w a c h e zu einem h o h e n K o m m a n d o p o s t e n g e b r a c h t hatte. Unter seinen Schützlingen in der G a r d e w a r ein Neffe, Petrus S a b b a t i u s , den der kinderlose J u s t i n irgendwann früher zur Vermittlung einer klassischen Bildung n a c h K o n s t a n t i n o p e l g e b r a c h t h a t t e und wahrscheinlich adoptierte. D e r Neffe d r ü c k t e seine D a n k b a r k e i t dadurch aus, d a ß er den N a m e n J u s t i n i a n a n n a h m . Z u r Z e i t der T h r o n b e s t e i g u n g J u s t i n s w a r er ungefähr 3 5 J a h r e alt. J u s t i n i a n zeigte ein T a l e n t für die Verwicklungen der R e g i e r u n g s a r b e i t , das sein ungebildeter O n k e l nicht besaß. Als er nach J u s t i n s T o d 5 2 7 Kaiser wurde, erlangte er rechtm ä ß i g , w a s er zuvor durch U n v e r m ö g e n seines O n k e l s ausgeübt hatte: die Verwaltung des gesamten R e i c h e s . D i e G e s c h i c h t e des L e b e n s Justinians ist fast gänzlich die G e s c h i c h t e seines öffentlichen L e b e n s ; so vollständig identifizierte er sich selbst mit seinem A m t . Eine A u s n a h m e ist seine H e i r a t mit T h e o d o r a irgendwann v o r 5 2 5 . Sie w a r die T o c h t e r eines W i r t e s , eines einstigen M o n o p h y s i t e n , und eine F r a u , deren Vergangenheit zumindest fragwürdig war; sie wurde a b e r eine hingebungsvolle und treue E h e f r a u für J u s t i n i a n , die die L a s t des A m t e s teilte. In einem Fall (dem , , N i k a " - A u f s t a n d 5 3 2 ) , als J u s t i n i a n im Begriff w a r , vor der a u f g e b r a c h t e n V o l k s m e n g e —> K o n s t a n t i n o p e l s zurückzuweichen, w a r es T h e o d o r a s M u t , der ihn aufrüttelte, und er k o n n t e seine A u t o r i t ä t wiederherstellen. W i e seine Vorgänger sollte auch er es schwierig finden, die H a u p t s t a d t ständig ruhig zu halten.

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Vom Standpunkt Justinians aus hatte, wie Kommentare zu seinen Gesetzen aufzeigen, das Reich seine Sendung, die christliche Gesellschaft zu sein, verleugnet und bedurfte der Reinigung. Er achtete darauf, daß Gesetze gegen sexuelle Verirrungen, Häresie und Heidentum streng angewandt wurden, und 529 schloß er die Akademie in Athen, wodurch ein Bildungssystem beendet wurde, das in der heidnischen Vergangenheit wurzelte. Justinian glaubte auch, was Propagandisten im Osten seit einer Generation gesagt hatten: Der Westen war durch unwürdige Kaiser „verloren" und unter barbarische und (was noch schlimmer war) arianische Herrscher „gefallen". Die größte Verletzung der Reichsidee Justinians war jedoch die andauernde Spaltung innerhalb der Kirche: Die Heilung des akakianischen Schismas 518 war um den Preis der Entfremdung der starken monophysitischen Bevölkerung -»Syriens und -»Ägyptens erkauft worden (-»Monophysiten). In der Überzeugung, daß weitere göttliche Huld für das Reich eine im orthodoxen Glauben geeinte Kirche erforderte, widmete er sich selbst der Aufgabe, ein geeintes Reich und eine geeinte Kirche wiederherzustellen. Obwohl ein wiedererstandenes Persien fortwährend die Abzweigung von Geld und Mannschaften erzwang, gab der „Ewige Friede" 532 Justinian die Freiheit, seinen ersten westlichen Feldzug aufzunehmen - gegen das arianische Vandalenreich in Nord—» Afrika. Bis 540 war dieses Gebiet „befreit", wie auch große Teile -»-Italiens. 532/33 begann Justinian größere Initiativen zur Einigung der Kirche. Er hatte bereits die Reform eines weiteren Glanzpunktes der römischen Welt, des Rechtswesens, unternommen. Eine Reihe von Kommissionen unter dem hervorragenden Juristen Tribonian erstellte eine in sich stimmige Kodifizierung aller vorherigen Gesetze (Codex Justinianus), eine Sammlung des Juristenrechts (Digesten) und eine Einführung für Studenten (Institutionen). Zur selben Zeit wurde das großartigste Werk des umfangreichen Bauprogramms Justinians vollendet, die wiedererrichtete Kirche der Heiligen Weisheit (Hagia Sophia) in Konstantinopel. Als er sie zum ersten Mal vollendet sah, soll ihr Anblick Justinian zu einer Bemerkung hingerissen haben, die, historisch oder auch unecht, ganz und gar das eigene Verständnis seiner Rolle und seiner Errungenschaften 537 offenbart: „Salomo, ich habe dich übertroffen" (NevixrjKä ae, Eoloji&v [Pseudo-Codinus 143]). Während des nächsten Jahrzehnts brachten die Ereignisse trübere Aussichten: Mit Persien brach wieder Krieg aus, und die große Stadt —»Antiochien ging verloren; in Italien führte hartnäckiger Widerstand der Goten zum Rückschlag und Verlust Roms; die Pest brach 541 aus und ließ auch den Kaiser nicht unberührt. 548 starb seine geliebte Theodora an Krebs. Die Auffassungen des -»Origenes wurden 543 in Palästina wiederaufgegriffen, während die Monophysiten keinerlei Neigung zeigten, die Rechtgläubigkeit im Sinne —»Chalkedons anzunehmen. Das sechste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts brachte Justinians Wunschbild der Verwirklichung näher. Italien wurde zurückerobert und die spanische Südküste den Westgoten entrissen. 553 trat das Ökumenische Konzil von -»Konstantinopel zusammen und brachte Hoffnung auf eine Beilegung der Probleme, die Chalkedon hervorgerufen hatte. Obwohl die letzten Jahre der Herrschaft Justinians nicht ohne Schwierigkeiten blieben, waren die Brüchigkeit der Rückeroberung des Westens und der Ergebung der Kirche des Westens in die Gedankenwelt des Ostens noch nicht sichtbar. Begrenzter Erfolg war seiner Politik gegenüber dem Westen beschieden. Im Osten jedoch mag seine Verzweiflung über sein Unvermögen, das monophysitische Schisma zu heilen, ihn in seinen letzten Tagen dazu geführt haben (wenn ein entsprechender Bericht wahr ist), die radikale Lehre des Aphthartodoketismus (die Auffassung Julians von Halikarnassos, daß Christi Leib [ -»Jesus Christus] nur scheinbar der Vergänglichkeit unterworfen war) anzunehmen und zu erwägen, sie der Kirche aufzuerlegen (Evagrius, h. e. IV,39—41). Wenn dem so ist, verhinderte sein Tod am 14. November 565 diesen tollkühnen Schritt. Er wurde mit großem Prunk in der Kirche der Heiligen Apostel in Konstantinopel beigesetzt, in der Stadt, die er seit seiner Ankunft 50 Jahre zuvor fast nie verlassen hatte.

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2.

Kirchenpolitik

Das Problem, dem sich alle Kaiser seit Chalkedon gegenübersahen, war die Spaltung der Kirche zwischen denen, welche das Konzil als maßgebend annahmen und seine Formel von den „zwei N a t u r e n " bereitwillig gebrauchten, und den Monophysiten, die diese Formel als nestorianisch (-»Nestorius) ablehnten und stattdessen lieber die charakteristische Formel —»Cyrills von Alexandrien benutzten: „eine fleischgewordene Natur des Wortes Gottes" [fiia Nestorianische Kirche bestand in Persien fort) als auch die Auffassungen des —»Eutyches, derentwegen Chalkedon zusammengerufen worden war. Sie konnten aber nicht einfach die Mehrheit der gemäßigten Monophysiten wegen ihrer Weigerung, eine Formel zu gebrauchen, als Häretiker abweisen. Andererseits waren R o m und der Westen nicht willens, solcherart Differenzierung zuzugestehen; das Prestige - » R o m s war mit Chalkedon verbunden, das den Tomus -•Leos I. angenommen hatte, und nur eine vollständige Übernahme Chalkedons konnte genügen. Justinians Vorgänger waren nicht in der Lage gewesen, der Kirche bei der Lösung dieser schwierigen Frage beizustehen. Wenn sie eine Schwächung der Geltung Chalkedons unterstützten (wie Zeno in seinem Henotikon getan hatte), war R o m empört; falls sie Chalkedon nachhaltig unterstützten, entzogen sich die Monophysiten der offiziellen Kirche. 518 unterbreiteten einige M ö n c h e aus Skythien einen Vorschlag in Konstantinopel: „Wir nehmen das Konzil von Chalkedon an; wir hoffen, daß du uns gestattest, es auszulegen; denn so, wie es ausgelegt ist, reicht es nicht aus gegen die nestorianische Häresie"

(Nos synodum Calcedonensem suscepimus; hoc speramus, ut jubeatis nobis eam exponere, quid non sufficit sie quomodo est exposita, contra haeresim Nestorianam... [Dioskur, Brief an Hormisdas, CSEL 35,2,676]). Sie schlugen vor, die theopaschitische Formel zu gebrauchen „einer aus der Trinität wurde für uns gekreuzigt" (unus de trinitate crucifixus est pro nobis), um die Einheit des göttlichen Wortes mit dem Fleisch, in dem es litt, zu betonen. Dieser Gedanke beflügelte Justinians Vorstellungskraft: Er könne, so schrieb er an Papst Hormisdas, den „Frieden der heiligen Kirchen" ( p a x sanetarum ecclesiarum [ep. 191, Scritti teologici 9]) wiederherstellen. Er erkannte, daß die Auseinandersetzung zwischen Chalkedonensern und Monophysiten ein Streit um Worte war, der eine sachliche Übereinstimmung verschleierte. Falls Chalkedon als antinestorianisch dargelegt werden könnte, könnten vielleicht die Monophysiten dazu gebracht werden, es anzunehmen. Während Justins strenge Maßnahmen gegen Monophysiten nach Justinians Thronbesteigung fortgesetzt wurden, begann er 532/33 Gespräche in Konstantinopel zwischen monophysitischen Führern (unter ihnen der einflußreiche -»Severus von Antiochien) und Anhängern von Chalkedon. Theodoras monophysitische Vergangenheit war von Nutzen: Sie konnte als Gastgeberin für die monophysitischen Delegationen auftreten, ohne die Rechtgläubigkeit des Kaisers zu kompromittieren. Dekrete, die den Gebrauch der theopaschitischen Formel in der Kirche verbindlich regelten, wurden sogar in R o m und Konstantinopel angenommen, nachdem die —•Akoimeten, die einen großen Einfluß auf die Bevölkerung ausübten, als Nestorianer verbannt worden waren. Dieser frühe Erfolg wurde von Anthimos, dem neuen Patriarchen von Konstantinopel, der in Gemeinschaft mit Severus getreten war, zunichte gemacht. Als Papst Agapetus nach Konstantinopel kam, erzwang er dessen Absetzung. In dieser Situation sah Justinian ein, daß R o m Zusicherungen gegeben werden mußten, und man ergriff neue Maßnahmen, um Monophysiten von allen östlichen Stühlen zu verdrängen. Versöhnung mußte jetzt warten, bis sich eine günstigere Gelegenheit ergab. Während des nächsten Jahrzehnts sammelte sich wichtige Unterstützung in der östlichen Kirche. Die neuchalkedonischen Theologen (—>Neuchalkedonismus) traten in dieser Zeit auf. Sie sprachen für die gemäßigten Chalkedonier des Ostens, als sie argumen-

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tierten, daß Chalkedon den Glauben Cyrills wirklich beinhaltete, als es von „einer Person und Hypostase" sprach und die problematische Formel „zwei N a t u r e n " nur in dem Sinn annahm, den Cyrill ihr gegeben hatte, als er 433 Frieden mit den Antiochenern schloß. Wie die skythischen Mönche verfochten sie ein antinestorianisches Verständnis Chalkedons, das, wenn nicht mit der Sprache, so doch mit dem Wesen des gemäßigten Monophysitismus nicht unvereinbar war. Sie stellten eine Initiative innerhalb der östlichen Kirche zum besseren Verständnis der Bedeutung der chalkedonensischen Sprachregelung insgesamt dar, indem sie geltend machten, daß die zwei Naturen durch die „hypostatische Union" unverfälscht in einer Person und Hypostase vereint waren. Eine solche Sicht unter gemäßigten Chalkedoniern widersprach der Behauptung, ihr Glaube sei in Wahrheit ein verschleierter Nestorianismus. Die Monophysiten hatten jedoch lange geltend gemacht, daß Chalkedons Zustimmung zu Theodoret von Kyros und Ibas von Edessa, zwei langjährigen Freunden des Nestorius, überzeugender Beweis seines Nestorianismus sei. Das Wiederaufblühen der Auffassungen Theodors von Mopsuestia in Palästina bestätigte diesen Verdacht. Es mag stimmen, daß ein Mönch aus Palästina, Theodor Askidas, Justinian vorschlug, daß die „Drei Kapitel" als Vergeltung für die Verurteilung des Origenismus, die von Schülern der Ideen Theodors von Mopsuestia dort inspiriert war, verdammt werden sollten. Diese Ächtung der Person und des Werks Theodors, der Schriften Theodorets gegen Cyrill und des Briefes von Ibas an den Perser Maris war nichtsdestoweniger eine logische Erweiterung der Politik, die Justinian seit 518 verfolgt hatte: die Ausräumung eines nestorianischen Verständnisses von Chalkedon. Die Mehrheit in der östlichen Kirche war gleichermaßen bestrebt, dieses als falsch anzuerkennen, und es gab nur wenig Widerspruch, als die „Drei Kapitel" in einem Edikt 544 verurteilt wurden. Im Westen jedoch gab es Widerstand, da Chalkedon Theodoret und Ibas zugestimmt hatte. Fulgentius von Karthago führte die Opposition an; der schwache Papst Vigilius schwankte zwischen Ost und West und reizte damit beide Seiten. Das 2. Ökumenische Konzil von Konstantinopel 553 stellt die Apotheose der Politik Justinians dar. Als weitgehend östliches Konzil anerkannte es die Notwendigkeit, Chalkedon gegen eine nestorianische Interpretation in Schutz zu nehmen, und es selbst verkündete die Anathematismen gegen eine solche Interpretation, die Justinian seinen Edikten beigegeben hatte. Vigilius, der vorher seine Verurteilung der „Drei Kapitel" angedeutet hatte, widerrief nun plötzlich; das Konzil verurteilte seine Person (nicht seinen Stuhl), und Justinian handelte schnell, um diejenigen, die unter seine Anathematismen fielen, zu verbannen. Unter einigem Druck von Justinian (obwohl die Berichte übertrieben sein können) bestätigte Vigilius 554 schließlich die Konzilsentscheidungen, starb aber auf der Heimfahrt nach Rom. Justinians Strategie war eine Reaktion auf die Arbeit der östlichen Kirche, so wie diese Chalkedon verstand; so gesehen war sie erfolgreich. Als eine Politik, die auch die Versöhnung mit den Monophysiten im Auge hatte, kam sie zu spät. In Ägypten hatte es eine zunehmend unabhängige monophysitische Hierarchie ab dem Zeitpunkt gegeben, da Chalkedon versuchte, Dioskur durch einen prochalkedonischen Patriarchen zu ersetzen (-•Koptische Kirche); auch in Syrien hatte die Weihe von Jakob Baradäus 543 den Beginn einer getrennten monophysitischen Kirche angekündigt (-»Jakobitische Kirche). Im Bund mit aufkommenden nationalistischen Gefühlen sollten solche Kirchen sich nie den kaiserlichen Plänen für eine geeinte Kirche in einem geeinten Reich einfügen. 3.

Gesetzgebung

Eine der eindrucksvollsten Vorstellungen über Justinian, die aus seiner Zeit bis auf uns gekommen sind, ist die des „schlaflosen Kaisers", der die Nacht hindurch arbeitet, um die Gesetzgebung für seine Untertanen vorzubereiten. Der höchste Rang in seinen Gesetzen wurde denen für die Kirche gegeben. Seit der Zeit Konstantins hatte der Kaiser für eine Kirche die Gesetzgebung innegehabt, die selbst keinen Apparat hierfür hatte. Trotzdem

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ist die Weise, wie J u s t i n i a n diese traditionelle F u n k t i o n a u s ü b t e , o f t als die unzulässigste Art des C a e s a r o p a p i s m u s ( - » K i r c h e und Staat) verurteilt w o r d e n . Es wird oft behauptet, er h a b e einer unwilligen K i r c h e seinen eigenen exzentrischen N e u c h a l k e d o n i s m u s in einem verzweifelten Versuch, Frieden mit den M o n o p h y s i t e n zu finden, aufgedrängt. Diese Beschuldigung gegen J u s t i n i a n bedeutet, seine Auffassung von seinem A m t und seinen C h a r a k t e r mißzuverstehen. N i e m a n d w a r t r a d i t i o n s b e w u ß t e r als er; niemand war weniger begierig, ein N e u e r e r zu sein, wie sein erstes offizielles G e s e t z g e b u n g s w e r k , das E d i k t von 5 2 7 über den G l a u b e n , zeigt: „Cum recta intemerataque fides, quam praedicat sancta dei catholica atque apostolica ecclesia, nullo modo innovationem recipiat, sequentes sanctorum apostolorum et eorum qui post eos in sanctis dei ecclesiis claruerunt praecepta rede nos facturos credidimus universis manifestando, quomodo de spe quae in nobis est sentiamus, secuti traditionem ac consensum sanctae dei catholicae et apostolicae ecclesiae" [Da der richtige und makellose Glaube, den Gottes heilige, katholische und apostolische Kirche verkündet, auf keinen Fall eine Neuerung billigt, haben wir, die wir den Vorschriften der heiligen Apostel und derer, die nach ihnen in den heiligen Kirchen Gottes ruhmreich waren, folgen, es für richtig gehalten, allen deutlich zu machen, wie wir fühlen über die Hoffnung, die in uns ist, weil wir der Uberlieferung und dem gemeinsamen Urteil der heiligen, katholischen und apostolischen Kirche Gottes gefolgt sind...] (Cod. Just. 1,1,5). J u s t i n i a n s Überzeugung, nicht selbstherrlich, sondern aus der T r a d i t i o n der Kirche heraus zu h a n d e l n , die gegründet ist in den A p o s t e l n , erleuchtet d u r c h die V ä t e r und errichtet durch in S y n o d e n und Konzilien g e w o n n e n e Ü b e r e i n s t i m m u n g , k ö n n t e nicht deutlicher zum A u s d r u c k k o m m e n . In e i n e m christlichen R e i c h k o n n t e diese T r a d i t i o n die G r u n d l a g e für zuversichtliche G e s e t z g e b u n g gegen -»-Häresie und - » H e i d e n t u m wie auch über alltägliche Angelegenheiten des kirchlichen L e b e n s wie E h e s c h l i e ß u n g , Weihe und M ö n c h t u m sein. D e r Origenismus, den die K i r c h e seit 150 J a h r e n v e r d a m m t hatte, k o n n t e o h n e Z ö g e r n vom Gesetz geächtet w e r d e n ; o b w o h l es für die H o f f n u n g e n auf Versöhnung schädlich erscheinen k o n n t e , m u ß t e n m o n o p h y s i t i s c h e F ü h r e r wie Severus vom G e s e t z verurteilt werden, w e n n eine r e c h t m ä ß i g zusammengetretene S y n o d e sie verurteilt h a t t e , wie es 5 3 6 geschah. D a J u s t i n i a n nie die R e c h t m ä ß i g k e i t C h a l k e d o n s in F r a g e stellte, verließ er sich auf den Anspruch der N e u c h a l k e d o n i k e r , für die Überlieferung zu s p r e c h e n , als er Erlasse wie jenen von 5 3 3 , der die theopaschitische F o r m e l für rechtens e r k l ä r t e , und die Erlasse in den vierziger J a h r e n gegen die „ D r e i K a p i t e l " verordnete. N i c h t s in diesen Schriften ist so offenkundig wie der W u n s c h , das für die a u t h e n t i s c h e T r a d i t i o n G e h a l t e n e zu schützen. V o m S t a n d p u n k t des O s t e n s aus w a r die G e s e t z g e b u n g e r f o l g r e i c h , wie die Übereinkunft auf dem II. C o n s t a n t i n o p o l i t a n u m zeigt. Im Westen, dessen andersgeartete Sicht der Vergangenheit und der A u t o r i t ä t J u s t i n i a n nie verstanden h a t t e , überrascht es nicht, d a ß es a u c h weiterhin, wie auch zu seiner eigenen Z e i t , W i d e r s t a n d g a b gegen seine G e s e t z g e b u n g und gegen die T h e o l o g i e , die sie beinhaltete.

4. Theologie P r o c o p i u s ' Bild eines J u s t i n i a n s , der stundenlang sitzt und mit b e t a g t e n Prälaten theologische F r a g e n erörtert, hat zu der irregeleiteten Vorstellung eines „ T h e o l o g e n - K a i s e r s " geführt, der sich a m a t e u r h a f t mit T h e o l o g i e beschäftigt (Procopius, De hello gothico, 111,32,9). F ü r einen Kaiser, der N e u e r u n g vermied und für den Wiederherstellung alles bedeutete, für einen Kaiser überdies, der seine R o l l e als D i e n e r der K i r c h e und Gesetzgeber ihrer E n t s c h e i d u n g e n sehr ernst n a h m , w ä r e diese R o l l e a b s t o ß e n d gewesen. J u s t i n i a n besprach t h e o l o g i s c h e F r a g e n , um den Geist der K i r c h e zu e n t d e c k e n , den seine Gesetze ausdrücken sollten. Seine Schriften bieten deshalb so g e n a u wie nur eben möglich die R e f l e x i o n nicht seiner persönlichen theologischen Auffassungen, sondern der T h e o l o g i e der offiziellen K i r c h e , wie sie zu seiner Z e i t ausgearbeitet w u r d e . N e u c h a l k e d o n i s c h e T h e o l o g i e w u r d e in J u s t i n i a n s Z e i t mündig. Es gibt also einen w a h r n e h m b a r e n F o r t s c h r i t t v o m Ausdruck seiner frühen C h r i s t o l o g i e im E r l a ß gegen die

Justinian

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Monophysiten ca. 541 zum Bekenntnis des wahren Glaubens 5 5 1 , der dem entspricht, was bei jenen neuchalkedonischen Theologen dieses Jahrzehnts, die bekannt sind, zu finden ist. Es ist der Fortschritt von einer Position, die einfach Chalkedons „zwei Natur e n " zusammen mit seinem „eine Person und H y p o s t a s e " vertritt, zu einer entwickelteren Position, die diese beiden Akzente in einer geschlossenen Christologie zusammengebracht hat. Die frühere Auffassung ist deutlich gegenüber dem, was vermieden werden muß: das Verfließen von Göttlichem und Menschlichem, das bei einem radikalen Monophysiten wie Eutyches zu finden ist, und ihre Trennung, wie man sie bei Nestorius findet. Sie verficht, daß Chalkedon zu Recht sagte „in zwei N a t u r e n " , wie auch „aus zwei N a t u r e n " , um den früheren Irrtum zu vermeiden. In diesem Zusammenhang kommentiert diese Position ausführlich Zitate aus Cyrill (->Florilegien), um zu zeigen, daß er wirklich behauptete, es gebe zwei Naturen in Christus, auch wenn er ebenso die Formel von der „einen fleischgewordenen N a t u r " benutzte. Justinian wiederholt den von den frühen Neuchalkedoniern oft vertretenen Standpunkt, d a ß das Wort „fleischgeworden" in dieser Formel die Existenz einer zweiten Natur außerhalb der dem Wort eigenen göttlichen Natur einschließt. Gegen die nestorianische Auffassung argumentiert Justinian, wiederum in einer sehr traditionellen Weise, daß sie Christus in je „eine S a c h e " und „eine andere S a c h e " aufteile, während er doch in Wahrheit ein einziges Seiendes in zwei Naturen war. Gegen sie unterstützt er das, was er für Cyrills Lehre von der „einen H y p o s t a s e " hält, die Formel, die Chalkedon benutzte. Der gemeinsame Irrtum der Monophysiten und Nestorianer besteht nach Justinian darin, daß sie die Bedeutung von „ N a t u r " und seinen Synonymen mit der Bedeutung von „ H y p o s t a s e " und „ P e r s o n " verwechseln. D a s erste bezieht sich auf die Form der Dinge, die verschiedenen Individuationen gemeinsam ist; das letztere bezieht sich auf das besondere Ding selbst. Diese Argumentation spiegelt eine allgemein gebräuchliche frühneuchalkedonische Ausweitung trinitarischer Kategorien auf die Christologie wider als ein Mittel, zwischen den beiden Arten des Sprechens über Christus zu unterscheiden: Es gibt eine Bedeutung von „ N a t u r " , die dem Sprechen über Menschliches und Göttliches angemessen ist, und eine Bedeutung von „ P e r s o n " oder „ H y p o s t a s e " , die dem Bezug zu dem einen Seienden, das diesen Naturen eignet, angemessen ist. Was hier fehlt, ist die hochneuchalkedonische Entwicklung dieser Kategorien außerhalb der trinitarischen Unterscheidungen. 551 kann Justinian diese Entwicklung reflektieren. Er k o m m t zu einer wichtigen Aussage:

voovßevrjs Ss pälXov xai i'mapxovarjc, ixaxépaq év TOJ xfjc, iöiag (pvaECüQ öpqj xe xai Xóycp nenpäx^ai ipa/ièv xtjv evcoaiv xa9' ùnóazaaiv. ij Sé xaS' ìmóoxaaiv evcooiq SrjXoi öxi ó Oedt; Äöyoi;, xooxéoxiv IJ pia vnóaxaaiq èx rcDv xpiwv xfjz &eóxt]xo ijvà>9?}, àXX év xfj yaaxpì xrjq àyiaq napSévou èòrjpioùpyrjaev èaoxcò it, aòxiji; èv xrj iSiq. ónooxàoei oàpxa ¿i//vxu>pévt]v Melanchthon zwar nicht die Kabbala, aber Reuchlin schätzten, wurde dieser von dem getauften Juden J. Pfefferkorn und dem Dominikaner F.J. Hoogstraten (Hochstraten) scharf angegriffen (Destructio Cabale[ae] seu Cabalistice[ae] perfidie[ae] ab ]. Reuchlin Capnione iampridem in luce edite[aej, Köln 1519). 2.3. Die Wirkung Picos und Reuchlins. Trotz des Widerstands in der Kirche fand die christliche Kabbala Picos und Reuchlins manche Anhänger in Italien, Deutschland, Frankreich und auch England. 2.3.1. In Italien gehörte zu den wichtigsten der Konvertit Paul Ricci (gest. 1541), der eine Zeitlang Arzt des Kaisers Maximilian I. war und Pico und Reuchlin rühmte (Pist. 1,144). Er hatte wichtige Teile der Sha'are 'Orah in die lateinische Sprache übersetzt (Portae Lucis, erschienen 1516 in Augsburg; bei Pist. 1,138-192); sein Hauptwerk De coelesti agricultura (in vier Büchern, deren letztes die Portae Lucis mit einer Einleitung ist; bei Pist. 1,5-192) wurde von den Vätern des Trienter Konzils auf den Index gesetzt. Denn

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nach Ricci sind nicht nur die Trinität, sondern auch das ewige Gezeugtwerden des Eingeborenen, die Erbsünde, die Erlösung durch das Leiden und das Blut des Messias, dessen Auferstehung, die Jungfrau als Himmelskönigin, der mystische Leib der Kirche und andere christliche Lehren durch eine geistliche Deutung von Wörtern und Buchstaben nach Art der Kabbalisten in der Tora zu finden (Vorrede zu Buch IV, Pist. 114f). Freilich wird für diese Behauptung nicht nur der kabbalistische Schriftbeweis, sondern auch das von der Kirche entdeckte Christuszeugnis des Alten Testaments geltend gemacht (vgl. Agric. II; Pist. 61—73). Ricci berief sich u.a. auf die Theologie des -»Dionysius Areopagita, den er dem angeblichen Autor des Zohar, Simon ben Jochai, als Zeitgenossen an die Seite stellte; die allegorische Schriftauslegung - die Kabbalisten waren für ihn allegorizantes sah er durch Gal 4,24 gerechtfertigt (Pist. 125.116). Der Augustinereremit und Kardinal -»Egidio da Viterbo, ein guter Kenner der orientalischen Sprachen, übersetzte einen wichtigen Teil von Reuchlins De Verbo Mirifico ins Italienische und einige kabbalistische Werke ins Latein. In seiner Schrift Scechina, die in die Kabbala einführt (1530), weist er auf eine mystische Geschichte der Kirche im Alten Testament hin, die bisher nur einigen gelehrten Juden bekannt war. Der Dominikaner Pantaleone Giustiniani (1470-1536) übertrug als erster Stücke des Buches Zohar ins Latein, noch ehe es 1 5 5 8 - 6 0 in Mantua und Cremona im Druck erschien. Für Reuchlin setzte sich auch der Franziskaner Petrus Galatinus (Pietro Columna 1460-1540) ein. Sein Werk De arcanis Catholicae Veritatis (1516-1518) bot zwar keine neuen kabbalistischen Erkenntnisse, aber eine geschickte Zusammenstellung der bisher geleisteten Arbeit und wurde zu einem Bestseller. Galatinus vertrat eine prophetische, auf die Endzeit ausgerichtete Kabbala. Francisco Giorgio (1460-1540 in Venedig) verfaßte das Werk De Harmonia Mundi (1525) und die Problemata (1536) mit kabbalistischen Themen, wobei er auch Material aus dem Zohar verwendete. Bei einigen christlichen Kabbalisten erscheint nun auch die rabbinische Vorstellung von einem himmlischen Behälter (güph) der Seelen, dazu die von Plato vertretene und in die Kabbala (Sepher Bahir, Zohar) aufgenommene Lehre von der Seelenwanderung (metempsychösis, gilgül, revolutiones animarum). 2.3.2. Auch in Deutschland gab es Freunde der Kabbala, und zwar Schüler Reuchlins, die sich dem Studium der hebräischen Sprache widmeten, hebräische Werke übersetzten und sich dabei auch mit kabbalistischen Ideen befreunden konnten, freilich z. T. auch deren Hermeneutik kritisierten. Zu ihnen gehören Konrad Summenhardt (Tractatus bipartitus, Tübingen 1545), der Elsässer Konrad Pellikan (1478-1556), zeitweiliger Lehrer des Hebraisten Sebastian -»Münster in Basel, dann J. A. Widmannstetter (1506-1557), der die jüdische Kabbala verurteilte und die Sephiroth nur in Verbindung mit dem Kreuz Jesu gelten ließ, und Wolfgang Fabricius —»Capito, Verfasser einer hebräischen Grammatik, sowie dessen Schüler Paul Fagius (1504-1543), Übersetzer eines Sephär Aemana, in dem er die Trinität als Grundlage der alttestamentlichen Schriften bezeugt fand. 2.3.3. Für Frankreich ist u.a. J . Thenaud (Le traicte de Cabale dazu die Dichtung La saincte et treschrestienne cabale 1519) zu nennen, sowie H. C. Agrippa (1486-1535: De occulta philosophia), der - wie Theophrastus -»Paracelsus und dessen Schüler - die Kabbala mit der -»Magie und der -»Alchemie verband. Der vielseitig gebildete und mehrere orientalische Sprachen beherrschende Guillaume Postel (1510-1581) verfaßte eine große Zahl eigenständiger, oft rasch konzipierter und z.T. ungedruckt gebliebener Werke christlicher Kabbala. Er hatte 1552 das Buch Jesirah und Teile des Zohar ins Latein übersetzt und kommentiert; mit Hilfe der Kabbala wollte er die grundlegende Einheit der verschiedenen Religionen und Philosophien nachweisen (De Orbis terrae concordia). Postel unterschied vier Perioden der Heilsgeschichte: die des Naturgesetzes, des geschriebenen Gesetzes, des Gnadengesetzes und die Zeit der Einheit. Für das Buch Zohar nahm er vier Etappen der Überlieferung an: die der mündlichen Tradition von Mose bis zum Exil, dann deren Sammlung durch Esra; die mündliche Veröffentlichung durch den letzten Hohenpriester Simon den Gerechten, den Postel mit Simeon in Lk 2,25 ff gleichsetzte, und schließlich die Verschriftlichung und Redaktion durch Simon ben Jochai (vgl. Titel der Zoharübersetzung). Die

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Tatsache der Seelenwanderung erwies sich für ihn an Johannes dem Täufer, der als Elia redivivus wirkte (Mk 9,12), und an Jesus, der als wiedererstandener Täufer galt (Mk 6,14). Der Geist des Messias wohnte in Adam, Henoch, Mose und Elia; Postel glaubte, er sei selbst in den Geist Adams vor dem Fall erneuert und habe die Mission Elias, alles wiederherzustellen. Seine spekulative Exegese schien sich oft im Netz eines fast magischen Kombinierens und Identifizierens zu verstricken, zumal er für jedes biblische Wort einen Reichtum vielfältiger Bedeutungen für möglich hielt. Er wurde 1555 in Venedig als insanus, demens et delirans verurteilt, nachdem ihn vorher Ignatius von Loyola wegen seiner ausschweifenden Theologie aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen hatte.

Dennoch hatte Postel bedeutende Schüler, so etwa die Brüder Guy und Nicolas Le Fèvre de la Boderie (1541-1598 bzw. 1550-1613). Guy arbeitete an einem Dictionarium Syro-Chaldaicum, das auch Begriffe aus dem Zohar bot, und Nicolas übersetzte 1579 den Heptaplus Picos. Biaise de Vigenère (1523-1596) wies in seinem Traicté de prières et oraisons (1595) auf die im Buch Zohar erwähnten Kräfte der mystischen Intentionen (iqawwanôth) und auf die intensive Liebe zum Göttlichen (dëbeqûth) für das Beten der Christen hin. Zunächst scharf kritisiert, dann aber akzeptiert wurde die Kabbala von G. Genébrard (1537-1597; Chronographia). 3. Die Kabbala

im Pietismus des 17. und 18. Jh.

3.1. Die Vorbereitung: Übersetzungen und Erklärungen. Wie schon im 16. Jh. wurde das Studium der Kabbala auch im 17. und 18. Jh. durch christliche Hebraisten gefördert, die den Schatz der jüdischen Weisheit sowohl der mischnisch-talmudischen Ära als auch des Mittelalters in lateinischen Übersetzungen und Erklärungen boten. Das tat etwa J. Buxtorf (1564-1629) in Grammaticae chaldaicae et syriacae libri très (1613) und in De abbreviaturis hebraicis et Bibliotheca rabbinica mit verbesserten Übersetzungen von Abschnitten aus dem Zohar. Bewundernswert ist das Werk von Chr. Knorr von Rosenroth Kabbala Denudata (1674-1684, Sulzbach), dessen 1. Band die Loci communes kabbalistici, d.h. wichtige Begriffe der jüdischen Weisheit, in alphabetischer Reihenfolge erläutert, während der 2. ausgewählte Kapitel vor allem aus dem Buch Zohar und der lurianischen Kabbala enthält. Der Zohar galt Knorr als Dokument der theologia Judaica antiquissima, die einen Messias spiritualis erhoffte (1,11,75,178-187). Die Geheimnisse des christlichen Glaubens, die den Juden bisher als absurd erschienen, lassen sich von der Kabbala her auf eingängige Weise erklären (1,11,74). Denn der Schatz der göttlichen Weisheit liegt in der mosaischen Ökonomie verborgen und wurde durch das Christentum offenbart (1,11,209). Christus ist das Prinzip der Gotteserkenntnis (vgl. Joh 1,18; 17,3), da Gott durch ihn die Emanation {'asîlûth = aporroia) der geschaffenen Dinge vollzog. Trotz aller Liebe zum jüdischen Volk fehlt es bei Knorr nicht an Kritik: Die späteren Kabbalisten haben die alte Lehre oft schlecht verstanden, die prophetische Ausdrucksweise verkannt und die ursprüngliche Einfachheit durch verkehrte Bilder verderbt; deshalb gilt es, alles zu prüfen und das Gute zu behalten (1,11,209.223 f). Chr. Schöttgen hat das Werk Knorrs für seine Horae hebraicae et talmudicae (Leipzig 1742) benützt. In einem ersten Band führt er rabbinische und auch kabbalistische Parallelen zu allen Schriften des Neuen Testaments an, in einem zweiten stellt er die jüdische Messiaserwartung dar (Namen, Zeiten, Zeichen, Leiden, Ämter des Messias). Schöttgen unterscheidet zwischen einer Cabbala vera, die sowohl einer exegetischen als auch systematischen Darstellung wert ist, und einer Cabbala falsa, die mit der spekulativen GinatHermeneutik operiert oder in Magie abzugleiten droht. G. Chr. Sommer hat in seinem Werk Specimen Theologiae Soharicae (Gotha 1734) zwanzig, meist christliche Glaubenssätze durch lange Zitate aus dem Zohar kommentiert und „verifiziert". 3.2. Die Verwendung der Kabbala im protestantischen Pietismus. Die christlichen Kabbalisten des -»Pietismus, z.B. Fr. Chr. -»-Oetinger und der Oetinger auf volkstümliche Weise deutende Michael ->Hahn, waren stark von Jakob -»Böhmes Eingebungen geleitet. Dieser „Laientheologe" hat zwar die kabbalistische Terminologie und Exegese nicht verwendet und etwa die Zehn Sephiroth namentlich nicht erwähnt, aber in seinen

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Werken Morgenröte (1612) und Von den drei Prinzipien des göttlichen Wesens (1619) finden sich manche Grundgedanken, die an die Kabbala erinnern. Böhme stellt die Offenbarung des lebendigen Gottes dar. Er nimmt einen vorweltlichen „Ungrund" an, in dem es weder Licht noch Finsternis, sondern nur absolutes Schweigen gibt (vgl. Reuchlin, De arte 65de); dieser „Ungrund" meint wohl die Größe En Soph. Die Schöpfung ist ein „Aussprechen" des göttlichen Wesens, eine ewige Geburt in Gott; ausgelöst wird sie durch eine „Begierde" (attractio), die eine ähnliche Wirkung wie die „ K o n t r a k t i o n " Gottes in der lurianischen Theosophie hat ( T z i m t z u m ) . Das Feuer ist eine elementare Größe, ferner läßt sich die Polarität von Finsternis und Licht, Zorn und Liebe bei J . Böhme zum polaren Aufbau der Zehn Sephiroth in Beziehung setzen. Die für die Kabbala wichtigen Stellen Jes 43,7 und 45,7, nach denen Gott Licht und Finsternis, Heil und Unheil schafft, und die Rolle der Weisheit nach Prov 3,19; 8 , 2 2 - 3 1 nehmen auch in der Theologie J . Böhmes einen wichtigen Platz ein. Die uranfängliche Weisheit ist das Bild, der Spiegel Gottes; sie verkörpert die Fülle und Reinheit des göttlichen Lichtes. Böhme spricht ferner von einem gottebenbildlichen, vollkommenen „Ersten M e n s c h e n " , den man der Himmelsgestalt des Adam Qadmon vergleichen kann. Mit der Geburt des Sohnes, des ersten ewigen Willens und der Kraft des Vaters, beginnt die Offenbarung Gottes in der Zeit. Der Fall Adams, dem der Fall Luzifers voraufgeht, macht das Erscheinen des „Christus", d.h. des von Maria geborenen Sohnes und Zweiten Adams, erforderlich; dieser bricht die M a c h t des Todes und zertritt die Schlange. Die Trinität entsteht dadurch, daß der unergründliche Wille des Vaters sich im Wort (Logos) begreift; der Geist der Gottheit ist „das Ausgehen vom Willen im Sprechen". Die christlich-kabbalistischen Ideen wurden auch auf künstlerische Weise dargestellt. J . Thenaud und Guy Le Fevre de la Boderie konnten die Zehn Sephiroth in Versen besingen. In der jüdischen Kabbala wurden sie oft symbolisch verstanden und gelegentlich in schematischen Zeichnungen dargestellt, so etwa als Baum oder als menschliche Gestalt (vgl. Reuchlin, De arte 62 v). Die durch kein Bilderverbot gehemmten christlichen Kabbalisten konnten ihre Ideen mit Hilfe der Emblematik (->Emblem/Emblematik) veranschaulichen und künstlerisch gestalten. Im Syrischen Neuen Testament des J . A. Widmanstetter findet sich das Bild des Gekreuzigten, von dessen Leib die Heilslinien zu den Sephiroth führen. Die Prinzessin Antonia von Württemberg ( 1 6 1 3 - 1 6 7 9 ) ließ eine Kabbalistische Lehrtafel anfertigen und 1673 als Altarbild in der Kirche von Bad Teinach aufstellen. Das in barocker Farbenpracht strahlende Hauptbild des Altars stellt die Heilsgeschichte des Alten und Neuen Testaments dar, und zwar in vielen kunstvoll zusammengestellten Einzelbildern; diese Geschichte ist als Offenbarung des göttlichen Namens und als Wirkungsfeld der Zehn Sephiroth verstanden. Die ersten neun werden als Frauengestalten, die zehnte durch Christus dargestellt, der als König den zwölf Jakobssöhnen und Repräsentanten Israels die Segenskraft des Kreuzes zuströmt. Diese Lehrtafel verrät den Einfluß vor allem der „Tore des Lichts" (so P. Rüger) und der Lehren Reuchlins und Böhmes; das Shtn ist der Christusbuchstabe. Ein tiefsinniger und besonders wirkungsvoller Vertreter der christlichen Kabbala in der Zeit des Pietismus war der Schwabe Fr. Chr. -»Oetinger, der auch die Lehrtafel der Prinzessin Antonia beschrieb (1763). Er war ein Freund J . A. -»Bengels und auch - > Z i n zendorfs und verband die Theosophie J . Böhmes mit kabbalistischen Ideen, die er aus Werken wie dem Zohar, dem Es Chajjim und der Mischnat Chäsidtm kannte; darüber hinaus war er philosophisch gebildet und an der Naturwissenschaft interessiert. Unter seinen zahlreichen Schriften sind in unserem Zusammenhang das Biblische und emblematische 'Wörterbuch (1776) und die Theologia ex idea vitae deducta (1765) bemerkenswert. Oetinger stellte der Theologie des -»Rationalismus und der —> Aufklärung eine „Heilige Philosophie" entgegen, die alle Wissenschaften zusammenschließen und auf die „Güldene Z e i t " der Königsherrschaft Christi ausrichten sollte. Das Leben, d.h. die Selbstbewegung Gottes wird nicht nur in der Heiligen Schrift, sondern auch in der Natur bezeugt, in der es durch die Sephiroth ( = „Abglänze, Ausgänge") wirksam ist. Die letzteren hat

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Oetinger auch im Neuen Testament entdeckt, vor allem im Brief des J a k o b u s , den er für den „tiefsten" Apostel hielt (1,17: Vater der Lichter; 3,6: R a d der Wiedergeburt); die sieben unteren Sephiroth fand er in den sieben Geistern von Apk 1,4;3,1;4,5;5,6. Die Alchemie und die kabbalistische T h e o s o p h i e ermöglichen nach Oetinger ein Gesamtsystem der Wahrheit, ein realistisches Verständnis der biblischen Begriffe und eine organisch gedachte biblische Theologie: „ D i e sichtbaren Werke Gottes (sind) Abbildungen der unsichtbaren G o t t h e i t " . Die endzeitliche Offenbarung der Herrlichkeit Gottes (vgl. Jes 43,7) führt zur „Wiederbringung aller D i n g e " , und „ L e i b l i c h k e i t " , d. h. die harmonische Vereinigung der durch den Sündenfall getrennten Größen Geist und Materie, „ist das Ende der Werke G o t t e s " . Quellen Giovanni Pico della Mirandola, O p e r a omnia, Basel 1557ff, Neudr. Hildesheim 1969. - Johannes Reuchlin, De Verbo Mirifico (1494); De Arte Cabalistica (1517): Nachdr. in einem Bd., Stuttgart Bad Cannstatt 1964. - Ders., Gutachten über das jüd. Schrifttum (1510), Konstanz/Stuttgart 1965. Friedrich Christoph Oetinger, Öffentliches Denkmal der Lehrtafel einer weiland württembergischen Prinzessin Antonia (1763), hg. v. Reinhard Breymayer/Friedrich H ä u ß e r m a n n , 2 Bde., 1977 ( T G P VII/1). - Johannes Pistorius, Artis Cabalisticae, hoc est, reconditae theologiae et philosophiae, scriptorum T o m u s I, Basel 1587. - Christian Knorr von Rosenroth, Kabbala Denudata, Sulzbach, I 1677, Frankfurt, II 1684, Nachdr. Hildesheim 1974.

Literatur Ernst Benz, Die christl. Kabbala, Z ü r i c h 1958. - Josef Leon Blau, T h e Christian Interpretation of the Cabala, N e w York 1944. - William J o h n Bousma, C o n c o r d i a mundi. T h e career and thought of Guillaume Postel, Cambridge/Mass. 1957. - Pierre Deghaye, La Naissance de Dieu ou la Doctrine de J a k o b Boehme, Paris 1985. - Engelbert M o m m e r j a h n , Giovanni Pico della M i r a n d o l a , Wiesbaden 1960. - François Secrec, Les Kabbalistes Chrétiens de la Renaissance, Paris 1964. - Ders., Le Z o h a r chez les Kabbalistes Chrétiens de la Renaissance, Paris 1964.

O t t o Betz Kaddisch - » G e b e t , -»-Vaterunser Kadesch Der O r t s n a m e Kadesch (Num 32,8 u . ö . : Kadesch-Barnea) begegnet im Alten Testament in topographischen Angaben (Gen 14,7; 16,14; 20,1; Dtn 33,2; J o s 10,41; Ps 29,8) und bezeichnet in Grenzbeschreibungen den südlichsten Punkt des Siedlungsgebietes Israels im Westjordanland (Num 3 4 , 4 ; J o s 15,3; Ez 4 7 , 1 9 ; 48,28). Die übrigen 2 1 Belege erwähnen Kadesch als Station der , Wüsten Wanderung'. In den Tetrateuch-Erzählungen über Israels Weg von Ägypten bis zum Ostjordanland wird Kadesch nur N u m 13,26; 2 0 , 1 . 1 4 . 1 6 . 2 2 in Zusammenhängen genannt, die unter literarkritischen Gesichtspunkten zumeist der Quelle J zugerechnet werden. Zwischen N u m 13 und 20 berichtet J von verschiedenen mehr oder weniger sagenhaften Vorgängen in und um Kadesch: Aussendung von Kundschaftern nach Kanaan (vgl. auch N u m 32,8; Dtn l , 1 9 f f ; J o s 1 4 , 6 f ; ferner D t n 9,23), Niederlage Israels bei H o r m a ( - > Arad), Auflehnung Dathans und Abirams, T o d und Begräbnis M i r j a m s , Quellwunder, vergebliches Ersuchen um Erlaubnis zum Z u g durch E d o m (vgl. auch J d c 11,17; ferner N u m 3 3 , 3 7 ) . Die priesterschriftliche R e d a k tion hat diesen älteren Erzählungsbestand unter Verwendung eigenen Materials ergänzt. Abgesehen von kultgesetzlichen Einfügungen in N u m 15; 18 f verflocht die R e d a k t i o n die Dathan- und Abiram-Episode mit der P-Erzählung vom Aufruhr d e r , R o t t e K o r a h ' (Num 16,1 - 17,15). Weiterhin wurde in die Erzählung vom Quellwunder eine P-Variante eingebaut (Num 2 0 , 1 - 1 3 ) . Ihr T h e m a ist die Widersetzlichkeit M o s e s und Aarons gegenüber dem Befehl J a h w e s , mit dem Felsen „zu r e d e n " , damit er dem dürstenden Volk Wasser spende. Als Strafe wird beiden der T o d vor Erreichen des verheißenen Landes angekündigt (vgl. auch N u m 20,24; 27,14; D t n 3 2 , 5 1 ; Ps 106,32). Nach dem Aufriß von P spielen

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die Num 13 ff parallel zu J geschilderten Vorgänge zunächst in der Wüste Pharan (Num 13,3.26), danach in der Wüste Zin (Num 2 0 , 1 a ) , die N u m 33,36 sekundär mit Kadesch identifiziert. Eindeutig in Kadesch lokalisiert P das Quellwunder, indem sie den N a m e n Kadesch [heilig] davon herleitet, daß sich hier J a h w e Israel als „ h e i l i g " erwiesen h a b e (Num 2 0 , 1 2 f). Zugleich übernimmt P die Namensätiologie für M e r i b a [Streit] aus der älteren Quellwunder-Erzählung von M a s s a und Meriba (Ex 17, 2 - 7 ) . Dies deutet einerseits auf Identifizierung von Kadesch mit M e r i b a (Num 20,13 a); andererseits gebraucht P bzw. die P-Redaktion die eher differenzierende Bezeichnung „Wasser des Streites von Kadesch in der Wüste Z i n " (Num 27,14; Dtn 32,51; ähnlich, aber abgekürzt Dtn 3 3 , 2 [conj.]; Ez 4 7 , 1 9 ; 48,28). Jedenfalls hat Kadesch in der alttestamentlichen Überlieferung zunehmend an Bedeutung gewonnen, wie auch die sekundäre Identifizierung der len mischpät [Quelle des Rechtsentscheids] mit Kadesch bezeugt (Gen 14,7). Die deuteronomistische Darstellung nennt überhaupt nur Kadesch als einzige Station zwischen H o r e b und Ostjordanland (Dtn 1,2.19; vgl. J u d 11,16 f). Dort soll Israel lange verweilt haben (Dtn 1,46). Dtn 2,14 beschränkt jedoch die Zeit zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Verlassen von Kadesch auf zwei Jahre. Der N a m e Kadesch hat sich in der 'ew qud.es [Heilige Quelle] in einem großen Oasengebiet ca. 80 km südlich von Beerseba erhalten. Die biblische Örtlichkeit wird allerdings meist in der weiter nördlich gelegenen 'en quderät wiedergefunden. Archäologisch bezeugt ist eine geringe Besiedlung während einiger Phasen der Früh- und Mittelbronzezeit (3. J t . ) . Für das 2. J t . konnten bislang keine Siedlungsspuren nachgewiesen werden. In der israelitischen Königszeit ( 1 0 . - 6 . J h . v. Chr.) befand sich im Oasengebiet eine Reihe von Befestigungsanlagen. Ihr Zentrum, die mächtige Festung (60 x 41 m) des Teils im wädi elquderät, wurde dreimal erbaut und zerstört. (Ausgrabungen von M . D o t h a n 1956 und R . Cohen 1 9 7 6 - 1 9 7 9 . ) Kadesch war ein wichtiges Glied im System der südöstlichen Grenzbefestigungen Israels bzw. J u d a s und zugleich Ausgangsstation für den Karawanenverkehr, vornehmlich in Richtung Elath. Hinzu kommt seine Funktion als Weideplatz und Wasserstelle für die umwohnenden N o m a d e n . Üblicherweise sind solche Oasen „heilige" Plätze, an denen Auseinandersetzungen ruhen und Streitfragen gütlich ausgetragen werden ( - * Beerseba). Die historische Bedeutung Kadeschs für die Anfänge Israels ist vor allem darin zu sehen, daß von hier aus die später in Juda aufgegangenen Stämme Kaleb (Num 13,30ff; - • H e b r o n ) und Jerachmeel sowie die Keniter ( - > N o m a d e n t u m ) in den Süden Kanaans eindrangen. Wahrscheinlich gehörte Kadesch zum Bereich der alten vorisraelitischen Jahweverehrung. Einziger, aber sehr alter Hinweis ist J u d 5,4: „ J a h w e , als Du auszogst von S e i r . . . " , also von dem östlich von Kadesch liegenden Bergland. Keine hinreichende Basis in den Quellen haben Versuche, durch Lokalisierung weiterer Überlieferungen aus E x und N u m sowie der Heimat der Leviten (Dtn 33,8?) in Kadesch dem Aufenthalt in dem Oasengebiet eine überragende Bedeutung für Israels Volkwerdung zu verleihen (vgl. z . B . Eduard Meyer, Die Israeliten und ihre N a c h b a r s t ä m m e , Halle 1906/Neudr. Tübingen 1967, 60-99). Literatur Rudolph Cohen, E x c a v a t i o n s at Kadesh-bamea 1 9 7 6 - 1 9 7 8 : B A 4 4 (1981) 9 3 - 1 0 7 . - M . Dothan, T h e Fortress at Kadesh Barnea: IEJ 15 (1965) 1 3 4 - 1 5 1 . - Volkmar Fritz, Israel in der Wüste, 1970 ( M T h S t 7), 2 6 - 5 1 . - O t h m a r K e e l / M a x Küchler, O r t e und Landschaften der Bibel II, Göttingen 1982, 1 7 7 - 1 8 5 .

Karl-Heinz Bernhardt

Kahler Kahler, Martin 1. Leben

511

(1835-1912)

2. Werk

3.Nachwirkungen

(Werke/Literatur S. 514)

1. Leben Am 6 . 1 . 1 8 3 5 wurde Martin Kahler in Neuhausen bei Königsberg geboren. Im theologischen Studium empfing er die entscheidenden Anstöße von Richard - » R o t h e , August - » T h o l u c k und Julius -»Müller, sowie Johann Tobias - » B e c k . Das Interesse vor allem an systematischer Theologie weckten Rothe und Müller. Beck vermittelte „Original- und Zentralbegriffe der Bibel". Doch die für Kahler tragende und bestimmende „Biblische Theologie" ist vor allem dem Studium der Schriften J . G. —»Hamanns und G. -»Menkens erwachsen. Die akademische Lehrtätigkeit begann 1860 in Halle (Priv.-Doz.); sie führte über Bonn (1864 a.o.Prof.) wieder nach —»Halle (1867 a.o.Prof. und Inspektor des Schlesischen Konvikts). Der eigentliche Durchbruch geschah 1879, als Kahler das „Ordinariat für systematische Theologie und Neues Testament" erhielt. Die Hörerzahl stieg schlagartig; der theologische Lehrer wurde überall im Land bekannt und zog viele Studenten an. Begleitet und geprägt wurde sein Lebensweg von der Freundschaft mit Hermann -»Cremer und Pastor Heinrich Hoffmann ( 1 8 2 1 - 1 8 9 9 ) . Schon früh setzte Kähler sich mit der Frömmigkeit der Gebildeten, insbesondere mit der Naturreligion -»Goethes, auseinander. Das Ringen um die Freiheit des Glaubens von der Weltfrömmigkeit des 19. J h . bestimmte das ganze Leben und Wirken, so vor allem die Auseinandersetzung mit dem Deutschen -»Idealismus, dem „Prozeßpantheismus" - » H e gels und dem „allgemeinen Herrschen des Pelagianismus" in Theologie und Kirche. Scharf war die Auseinandersetzung mit dem „Anthropozentrismus" der Bewußtseinstheologie -»Schleiermachers, der „bestrickenden Virtuosität dieser Kunstlehre", die doch jeder Gründung in „Biblischer T h e o l o g i e " und Geschichte entbehrt und darum weithin als „dichterische Abstraktion" sich darstellt. Auch Rothe, die „personifizierte Vermittlungstheologie" und der Schöpfer einer „modernen G n o s i s " , konnte hier keine neuen Wege weisen. Hingegen wuchs die Hochschätzung für -»Herder, der dem Christentum den Blick für die Geschichte geöffnet und die Wissenschaft gelehrt hatte, daß es ohne Christentum auch kein Verständnis für die Menschheitsgeschichte gibt. - M i t großer Gewissenhaftigkeit rezipierte Kähler sodann die Fragestellungen und Methoden der historisch-kritischen Forschung, als deren Exponenten er J . S . -»Semler betrachtete. -»Reformation und -»Pietismus waren für Kähler keine voneinander abzuhebenden Größen. Vor allem durch Tholuck wurde seine Liebe zum Pietismus geweckt, zumal durch diese Frömmigkeitsbewegung die reformatorische Frage nach der certitudo salutis wachgehalten wurde. Wie Tholuck, so war auch Kähler der Seelsorger und Freund seiner Studenten in einzigartiger Zuwendung zu jedem einzelnen. - Er starb am 7 . 9 . 1 9 1 2 in Halle. 2. Werk Es sind die Hauptthemen des Lebenswerkes Kählers zunächst zu bedenken. In zahlreichen Abhandlungen und Aufsätzen werden sie in systematischer Strenge immer wieder behandelt. Die „Unfindbarkeit und Unersetzlichkeit des Evangeliums zu erweisen", das war erklärtermaßen Kählers Anliegen; „Bibeltheologie unsere Losung". In ernsten Auseinandersetzungen, so z.B. um das Alte Testament und um den „historischen J e s u s " , mußte der Dogmatiker als „Anwalt des L a i e n " fungieren, bewegt von der Liebe zu den Armen, denen das Evangelium gehört (Mt 11,5). So steht an erster Stelle der Hauptthemen die Bibelfrage. Kähler war Bibeltheologe, jedoch kein „Biblizist". Für den Biblizisten wäre die Autorität der Schrift apriorischer Grundsatz christlicher Erkenntnis. Für den Biblizisten gibt es nach Feststellung dieses Apriori nur Probleme, die die Bibel stellt und beantwortet. Gegenüber einer solchen starren Prinzipiensetzung kann nach Kählers Auf-

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Kähler

fassung die Lehre von der Geltung der Schrift nur im Zusammenhang des Systems christlicher Lehre entfaltet werden. Das Inspirationsdogma ist aufzugeben. Die historischkritische Forschung hat unerbittlich das Vorurteil zerstört, daß ein inspirierter „Wunderbuchstabe" für die Offenbarung bürgt. Offenbarungsansehen und Autorität gewinnt die Bibel durch das kirchengründende, lebendige Wort Gottes in der Verkündigung der biblischen Zeugen. Kählers Theologie erweist sich als reformatorisch geprägte Wort-GottesTheologie. Doch was in der Bibel „Wort Gottes" ist, hat die Theologie nicht erst auszumachen; das kirchengründende Ereignis ist ihr immer schon voraus, das selbstmächtige Mitteilungsvermögen von keiner Methode oder Definition einzufangen. Biblizistische Theologie aber ist die Grundlage aller theologischen Arbeit; sie bezieht sich auf die „aus sich selbst ausgelegte Schrift" und hat als „Vorbereitung in der Systematik" zu gelten (vgl. T R E 6,385,45ff; 482,33 ff). Das Thema Offenbarung und Geschichte drängt zur Klärung. Gott selbst ist in unser Menschsein, in unsere Zeit und Geschichte hineingekommen. Der Begriff der „Übergeschichte" signalisiert dieses Geschehen: die „Offenbarung des Unfindbaren und Unerfindbaren" - die Geschichte, in der Gott zu uns redet und zu uns kommt. Doch kann nicht von „Heilsgeschichte" gesprochen werden. Denn obwohl Kähler dem theologischen Werk J . von —»Hofmanns viel verdankt, negiert er doch die Möglichkeit, eine „Heilsgeschichte" als eine Art Sondergeschichte mit mythologisierender Deutlichkeit aus der Weltgeschichte abzuheben und darzustellen. Angemessen wäre darum die Bezeichnung „verkündigende Geschichte" oder „Verkündigungsgeschichte". Vor allem dem Alten Testament ist hier größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. In der Abhandlung Jesus und das Alte Testament lautet die Hauptthese: „Das Heilandswerk Jesu ist in der Geschichte Israels planvoll vorbereitet und durch die in der heiligen Schrift Alten Bundes niedergelegte Erkenntnis dieser Vorbereitung in seiner offenbarenden Bedeutung bedingt" (1. Abschnitt: 3). Die vielgestaltige Verkündigung des Alten Testaments wirkt, wie in Israel, so auch in der Kirche: Erziehung. Dies ist der eine Aspekt. Der andere wird mit der Rede vom „Kommen des lebendigen Gottes" angezeigt. Doch vor allem gilt das Alte Testament als „Bibel Jesu" und empfängt sein „Offenbarungsansehen" durch ihn, den Juden, durch den wir alle in Gottes Geschichte hineingezogen und „semitisiert" werden. Jesus Christus ist Erfüllung und Mitte der Schrift. Die Evangelien, die ihn verkündigen, sind keine Urkunden für eine „wissenschaftlich hergestellte Biographie Jesu". Die LebenJesu-Forschung (-»Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung) wird in ihren Voraussetzungen und Zielbestimmungen in Frage gestellt. Es ist der Zweck und das Ziel der Evangelien, Glauben an Jesus durch anschauliche Verkündigung seiner Heilandstätigkeit zu wecken. An die Stelle der Frage nach dem „historischen Jesus" tritt die Hinwendung zum biblisch bezeugten Christus. Im ohnmächtigen Wort des Jesus von Nazareth spricht der lebendige Gott. Die kirchengründende Predigt der ersten Augenzeugen der Auferstehung erweist die Macht des Geistes Christi. So wird nicht um der Kirche willen, aber durch die Kirche und in der Kirche geglaubt. Dabei ist Verkündigung Jesu Christi stets Mitteilung seines Heilswerkes, das in der Soteriologie zur Sprache kommt. Die Lehre von Versöhnung und Rechtfertigung steht im Zentrum. Das Kreuz ist Grund und Maß für die Christologie. Diese Schrift von 1911 steht im Zeichen des Satzes Crux sola nostra theologia. Doch handelt es sich um das „Wort vom Kreuz", durch das und in dem der Gekreuzigte als lebendig fortwirkender verkündigt wird. Die Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes geschieht in diesem „Wort vom Kreuz". „Sehet, da ist euer Gott!" Im Kreuzestod Christi geschieht Versöhnung als Wandlung eines Verhältnisses aus Feindschaft in Frieden und Vertrauen. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst". Dieses Ereignis bedeutet: Beseitigung der Weltfeindschaft gegen Gott. Als universales Heilsereignis ist die Versöhnung in der Theologie Kählers der Rechtfertigung vorgeordnet. Dies wird im Blick auf Die Wissenschaft der christlichen Lehre noch zu verdeutlichen sein. Mit dem Wort vom Kreuz beginnt die Mission, die im Zeugnis der Evangelien durch die Sendung des Menschensohnes zur Menschheit vorgezeichnet ist. Der Auferstandene sendet seine Jünger und Apostel, sprengt den „Partikularismus" der Erwählung, der auch

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in den Evangelien noch nachwirkt (Mt 15,24), und befiehlt: „Geht hin!" Nicht: „Wartet ab, bis sie kommen!" Im Jahre 1899 wird der Vortrag Die Bedeutung der Mission für Leben und Lehre der Kirche gehalten und veröffentlicht. These I: „Die Heidenmission ist das Vermächtnis des auferstandenen Heilands an seine erwählten Sendboten und Apostel zur Durchführung seiner eigenen Sendung an die Menschheit" (Schriften zur Christologie und Mission: Mission, These I). So ist Mission „Grundpflicht der Kirche", die als apostolische von jeder Kulturkirche unterschieden ist. Das herausragende und bedeutende systematische Werk Kählers ist Die Wissenschaft der christlichen Lehre - ein Opus, das in seiner denkerischen Strenge und in der Dichte seiner Darstellungsweise immer wieder fasziniert hat. Doch stellt das Opus auch vor nicht geringe Schwierigkeiten. Thesen und Sätze der Explikation sind überfrachtet mit einer Fülle gestochener Präzisionsarbeiten; als eigenwillig und teilweise fremd erweisen sich die Begriffsbildungen. Oft fragt man sich, wie ein solch schwieriges, schwer lesbares Buch „ansprechen" konnte. Doch dieses Werk ist subtilste Schreibtischarbeit, Gelehrsamkeit von ganz seltener Gestalt. Wie lebendig und anschaulich Kähler in den Vorlesungen zu dozieren vermochte, zeigt die Nachschrift seines Kollegs Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert. Hier wird begreiflich, warum der in Halle lehrende Systematiker so viele Studenten anzog. - Das systematische Hauptwerk gliedert sich in drei Lehrkreise. Der erste Lehrkreis befaßt sich mit der christlichen Apologetik, deren Hauptstücke für die gesamte theologische Konzeption von großer Wichtigkeit sind. Doch die Näherbestimmung dessen, was im ersten Lehrkreis vorgetragen werden soll und den Gesamtentwurf prägt, lautet: „Von den Voraussetzungen des Rechtfertigungsglaubens". Das reformatorische Hauptthema Rechtfertigung wird zum Prinzip und Kontext der gesamten Lehrentfaltung; so schon in der Apologetik. Mit dezidierter Deutlichkeit tritt an die Stelle einer im Bewußtsein lokalisierten Theologie der „Rechtfertigungsglaube". Es wird sodann in der Tradition dogmatischer Prolegomena eine Auseinandersetzung mit der menschlichen Anlage zur Religion geführt. Zeit seines Lebens hat Kähler sich mit dem Religionsproblem befaßt und darauf gedrungen, zwischen Offenbarung und -> Religion zu unterscheiden, die biblische Offenbarung nicht einem Allgemeinbegriff von „Religion" zu subsumieren. Nach biblischer Auffassung offenbart Gott sich nicht durch Religion, sondern Offenbarung in seinem Wort und seiner Tat. Jede Verwechslung oder Vermischung entzieht der Theologie ihre besonderen Voraussetzungen. „,Religion', eines der Mittel des in sich beschlossenen irdischen Lebens", so lautet ein Aphorismus Kählers (Kähler 311). Im 1. Lehrkreis des Hauptwerkes wird der Rechtfertigungsglaube zum Kriterium der Religion. Durch ihn wird die christliche Kritik aller Religion akut, zugleich aber auch die Herausstellung der biblischen „Bundesreligion" als der„wahren Religion". Anders formuliert: Die geschichtliche Offenbarung begründet die „wahre Religion". Wort und Name Gottes sind die Propria der Bundesreligion, des „Kommens des Reiches Gottes", das eine fortgehende Wirkung auf die Entwicklung der Menschheit ausübt. - Im 2. Lehrkreis wird die Evangelische Dogmatik entfaltet; sie handelt von dem „Gegenstande des Rechtfertigungs-Glaubens" und setzt ein mit dem Glauben an die göttliche Erwählung, durch die sowohl die Eigenart biblischer Offenbarung wie auch das „sola gratia" jeder Zuwendung Gottes zum Menschen festgeschrieben wird. Erwählung und Heilstat Gottes bestimmen die Teleologie der Schöpfung. Denn die teleologische Weltbetrachtung ist nur als soteriologische verbürgt. Darum ist auch nur eine soteriologische Theodizee theologisch legitim. Die Erfüllung göttlicher Heilsveranstaltung geschieht allein in Jesus Christus; er ist der einzige Heilsmittler. Der Versöhnungsglaube wird expliziert: die Versöhnung durch den Mittler zwischen Gott und den Menschen, der mit dem Opfer seines Leibes am Kreuz Feindschaft und Sünde überwunden und eine neue Menschheit heraufgeführt hat. Die universale Komponente ist unverkennbar. Zugeeignet wird die Versöhnung durch den Geist Christi, durch „den Dienst am Wort". Unter diesem Vorzeichen steht der Rechtfertigungsglaube. Die einzige Bedingung für die Rechtfertigung besteht darin, daß man die offenbarende und vertretende Bürgschaft des ewigen

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Kahler

Hohenpriesters annimmt. Doch die „Heilszueignung" ist die Ermöglichung und die Kraft der Heilsaneignung. These 487: „In der Gerechterklärung des Gottlosen eignet G o t t die Versöhnung dem einzelnen Sünder dergestalt zu, daß er allen Äußerungen der von diesem angeeigneten Menschheitssünde die scheidende Bedeutung für das unmittelbare Verhältnis zu Gott selbst n i m m t . " Ziel der Rechtfertigung in der Gerechterklärung ist demnach: Gemeinschaft des Sünders mit Gott. Der Rechtfertigungsglaube lebt in Heilsgewißheit. Darum lautet die These 497: „Die Gewißheit, mit welcher der Gerechtfertigte sich den Folgen der Sünde für die Ewigkeit entnommen weiß, bildet nicht die tragende Voraussetzung oder die hinzutretende Bekräftigung des Rechtfertigungs-Glaubens, sondern ist seine kennzeichnende Äußerung; denn er ist kraft seines tragenden Grundes seiner selbst gewiß in betreff sowohl seiner Tragweite in jeder Gegenwart als seiner Ausdauer." Diese Thesen verdeutlichen die gesamte systematische Theologie, die von Rechtfertigung her und auf Rechtfertigung hin angelegt ist. - Der 3. Lehrkreis enthält die theologische Ethik und ist thematisiert durch die Formulierung „Von der Betätigung des Rechtfertigungsglaubens". Sittlichkeit wird wesentlich verstanden als Auswirkung der Rechtfertigung. Bestimmt von der „Urbildlichkeit Christi" ist heilige Liebe der sittliche Beweggrund und das „Bildungsgesetz des christlichen Charakters", aber auch des Gemeinschaftslebens der Christen. Ziel der Sittlichkeit ist die Gleichgestalt mit dem Bild Christi, mit dem Erstgeborenen von den Toten, und das Erbe des Reiches Gottes. 3.

Nachwirkungen

Die Nachwirkungen der theologischen und seelsorgerlichen Tätigkeit Kählers sind außergewöhnlich und unabschätzbar. Sie betreffen zunächst einmal die Pastoren, die zur Bibeltheologie und zum „Dienst am W o r t " gründlich vorbereitet und ermutigt wurden. In Dankbarkeit gegenüber Heinrich Hoffmann hat Kähler einmal gesagt, jede rechte Theologie bilde sich unter der Kanzel. Ebenso gilt aber auch, daß jede rechte Theologie sich auf der Kanzel bewährt. Auch in der Feuerprobe des Kirchenkampfes ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 ) hat diese Theologie ihre Kraft bewiesen. Ernst Kähler hat in einem noch unveröffentlichten Vortrag 1984 aufgezeigt, daß beinahe alle Verantwortlichen der älteren Generation auf der „Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, Barmen 1 9 3 4 " Schüler Martin Kählers und Hermann Cremers waren. Der bedeutendste Schüler Martin Kählers war Julius —•Schniewind. Er hat das wissenschaftliche Lebenswerk seines Lehrers und väterlichen Freundes in die neutestamentliche Theologie eingebracht. Biblische Theologie, tief verwurzelt im Alten Testament, „Wort Gottes" und eine im Kontext der Rechtfertigungslehre entwickelte Christologie waren Schniewinds Leitthemen. Er hat den Gedanken der „Ubergeschichte" im Problemfeld „Offenbarung und Geschichte" neu konzipiert und für die Entdeckung der Eschatologie fruchtbar gemacht. In der Tradition August Tholucks und seines Lehrers hat Schniewind, zuletzt in Halle, als Seelsorger und Freund seiner Studenten gewirkt. Wie Kähler, so sah auch er seine Aufgabe darin, das theologische Denken seiner Studenten zu bilden, die Fähigkeit zu wecken, selbständig zu urteilen und zu handeln. - Unter den Systematikern, die sich als Schüler Kählers verstanden, sind vor allem Hans Emil Weber und Rudolf -»Hermann zu nennen. Auf ihn bezogen und beriefen sich aber auch Wilhelm -»Lütgen:, Paul Althaus, Friedrich Karl -•Schumann und Martin Fischer. Es wird festzuhalten sein, daß die großen Themen^ die in der Theologie Karl -»Barths hervortreten, bei Martin Kähler nicht nur anklangen, sondern in erstaunlich klarer Weise ausgeführt worden waren. Als um so bedauerlicher erscheint es, daß Barth sich nur selten und peripher auf Kähler bezogen und seine Versöhnungslehre überhaupt ignoriert hat.

Werke Hauptschriften: Das Gewissen, Halle, I 1878. - Die Wiss. der christl. Lehre, Leipzig 1883 3 1905 = Neukirchen-Vluyn 1966. - Der sog. hist. Jesus u. der gesch. bibl. Christus, Leipzig 1892 2 1896, 4 1969 (TB 2). - Die Versöhnung durch Christus in ihrer Bedeutung für das christl. Glauben u. Leben, Erlangen 1885, Leipzig 2 1907. - Das Kreuz. Grund u. Maß für die Christologie, 1911 (BFChTh 15). - Dogmat. Zeitfragen, Gotha, l/II 1898 2 1907f, III 1913. Neuere Ausgaben: Der Lebendige u. seine Bezeugung in der Gemeinde. Auswahl v. Anna Kähler. Einl. v. Julius Schniewind, Berlin 1937. - Gesch. der prot. Dogmatik im 19. Jh., hg. v. Ernst Kähler,

Kafka

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Berlin/DDR 1962 (auch T B 16) (Bibliogr.). - Jesus u. das AT, 1 9 6 7 (BiblStud 45), hg. u. eingeleitet v. Ernst Kahler. - Aufs, zur Bibelfrage, 1967 ( T B 37), hg. v. Ernst Kahler. - Sehr, zur Christologie u. Mission, 1971 ( T B 42), hg. v. Heinzgünter Frohnes (Lit.).

Literatur Martin Kahler, Theologe u. Christ. Erinnerungen u. Bekenntnisse, hg. v. Anna Kahler, Berlin 1926. - H a n s - J o a c h i m Kraus, Julius Schniewind. Charisma der Theol., Neukirchen-Vluyn 1965, 3 7 - 4 7 . - Heinrich Leipold, Offenbarung u. Gesch. als Problem des Verstehens. Eine Unters, zur Theol. Martin Kählers, Gütersloh 1962. - H a n s - G e o r g Link, Gesch. Jesu u. Bild Christi. Die Entwicklung der Christologie Martin Kählers in Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Theol. u. der Ritschl-Schule, Neukirchen-Vluyn 1975. - Johannes H . Schmid, Erkenntnis des gesch. Christus bei Martin Kahler u. bei Adolf Schlatter, Basel 1978. - Julius Schniewind, Martin Kahler: Nachgel. Reden u. Aufs., hg. v. Ernst Kahler, Berlin 1 9 5 2 , 1 6 6 - 1 7 2 . - Christoph Seiler, Die theol. Entwicklung Martin Kählers bis 1 8 6 9 , 1 9 6 6 (BFChTh 51). - Ernst Vielhaber, Das Problem der Offenbarung in der Theol. Martin Kählers, Diss. Göttingen 1963. - Ullrich W i m m e r , Geistestheol. Eine Unters, zur Grundlegung der Theol. und zur Pneumatologie Martin Kählers, Zürich 1978. — Johannes Wirsching, Gott in der Gesch. Stud. zur theologiegesch. Stellung u. syst. Grundlegung der Theol. Martin Kählers, 1963 (FGLP X / 2 6 ) .

Hans-Joachim Kraus Kafka, Franz

(1883-1924)

1. Biographisches 2. Kafkas Werk als K r y p t o g r a m m (Werke/Literatur S . 5 1 8 )

1.

3. Z u r Frage religiöser Deutbarkeit

Biographisches

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als ältestes Kind des Kaufmanns Hermann Kafka und seiner Ehefrau Julie in Prag geboren. Sein Vater stammte aus dem tschechisch-jüdischen Provinzproletariat, seine Mutter aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Brauerfamilie. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Kafka in trostlosem Alleinsein. Die ihm in diesen Jahren zuteil werdenden traumatischen Grunderfahrungen haben in dem Ende 1919 entstandenen Brief an den Vater ihren ästhetisch gültigen Ausdruck gefunden. Nach dem Besuch der Grundschule und des humanistischen Gymnasiums studierte Kafka ohne innere Beteiligung Jura und arbeitete nach seiner Promovierung vierzehn Jahre lang für die Prager „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt", sah jedoch in seinem nächtlichen „Gekritzel" sein „einziges Verlangen", ohne es zu seinem Hauptberuf machen zu können. Während des Studiums und der ersten Berufsjahre versucht er vergeblich, die wachsende Vereinsamung niederzuringen; ab dem Jahre 1912 geben nur noch die Tagebücher und Briefe Aufschluß über seinen Kampf gegen den von ihm gehaßten Beamtenberuf, gegen und wiederum auch für die Bindung in einer Ehe (drei Verlobungen scheiterten). Ende 1917 erlitt Kafka einen Blutsturz; dies der Beginn der Tuberkulose, an der er einige Jahre später, am 3. Juni 1924, starb. Kafka, äußerlich ein unauffälliger, fleißiger, überall beliebter Beamter, hatte nur wenige Freunde. Seine reifen Werke, Fragment zumeist, die er aus Skepsis abbrach und deren Vernichtung er testamentarisch gegenüber M. Brod anordnete, handeln fast durchweg von Urteil, Strafen und Prozeß. Immer wieder empfand Kafka die „Welt" als zerstörerische Gefahr für jene innere Hellsichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Klarheit, „die sich unmittelbar in der knappen, kühlen, wortarmen Sauberkeit seiner Sprache ausdrückt" (K. Wagenbach). In engstem Zusammenhang mit seiner Biographie steht der thematische Gehalt seines Werkes. 2. Kafkas

Werk als

Kryptogramm

Kafkas sirenenhafte Dichtung übt als Darstellung seines „traumhaften inneren Lebens" (Tagebücher 1910-1923, hg. von M. Brod, New York/Frankfurt a. Main 1951, 420) einen Deutungszwang aus, den das Fremde der sie tragenden Erzählkunst ebenso

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Kafka

provoziert wie abweist. Die Paradoxie der Interpretation, daß alle Deutung das traumhaft Absurde der Kafkaschen Literatur nie auszudeuten vermag, es vielmehr in seiner undurchdringlichen Erstarrung bestätigt, wurzelt wohl in zwei Voraussetzungen dieser Literatur. Die eine Voraussetzung ist transzendentaler Natur: „Es gibt keine Beobachtung der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt", schreibt Kafka im dritten Oktavheft. Das heißt: im Akt der Wahrnehmung läßt sich niemals ein innerseelisches Phänomen direkt erfassen, sondern lediglich ein spiegelbildliches „Etwas", das zum Teil nur das reflektiert, was sich im Akt des Auslegens im Deutenden selbst als „Wahrnehmungsbild" formt. Die zweite Voraussetzung ist geschichtsphilosophischer wie ästhetischer Natur: „Wir sind", schreibt Kafka im gleichen Oktavheft, „mit dem irdisch befleckten Auge gesehn in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel..." (Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hg. von. M . Brod, New York/Frankfurt a. Main 1953, 73). Diese zentrale Passage aus dem dritten Oktavheft, die zu Beginn den von -> Nietzsche konstatierten geschichtsphilosophischen Ruin der Metaphysik am Zerfall der Identität von Einsicht und Licht zitiert, verweist auf jene für Kafkas Kunst charakteristische Korrespondenz des Schönen mit dem Schrecklichen im „kaleidoskopischen Spiel" ihrer „abseitigen Beobachtungen", die — ihrer Bedeutung beraubt — keinem tradierten Sinnschema mehr eingegliedert werden könne, gleichwohl aber gerade durch den Entzug ihrer SinnReferenz die Projektion von Sinn anlocken. Daher ist Odradek, diese Sorge des Hausvaters, die gültige Metapher für Kafkas Kunst, ihres „unbestimmten Wohnsitzes" zwischen Belebtem und Unbelebtem, zwischen traumscharfer Realität und Unirdischem, zwischen scheinbar genauester Detailzeichnung und irritierendem Verschweigen. Dieses „zwischen", das jene „Seekrankheit auf festem Lande" evoziert, von welcher der junge Kafka sich befallen wußte, erzeugt jenes „Schaukeln" der Welt, das als Schwindelgefühl der Angst im Werk Kafkas allgegenwärtig ist. Die auditiv vermittelten Angsthalluzinationen verdichten sich im „Lachen" Odradeks, das ein Lachen ist, „wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern" (Sämtliche Erzählungen, hg. v. P. Raabe, New York/Frankfurt am Main 1970, 157f). Nichts scheint wirklich zu sein — weder das Ich noch die Dinge —, und doch ist alles Ausdruck einer „aufdringlich überdeutlichen" Wirklichkeit. Und dieses „Rascheln", das die alten verdrängten Kinderängste sich belebender Wände, flüsternder Schränke und Kommoden wiedererweckt, verbindet sich in verwirrender Weise mit dem Rauschen jenes „großen Schwunges", mit dem sich der „Schutzmann" in Kafkas „labyrinthischer Textstadt" (H. Thies-Lehmann) in dem 1922 geschriebenen Kommentar Gibs auf von dem ihn atemlos nach dem Weg Fragenden abwendet. Das „Rascheln in gefallenen Blättern" wie der „große Schwung" verweisen aber auf die Literatur als den Corpus des Buches, in dem man atemlos lesend mit großem Schwung die Seiten umblättert, auf den buchstäblichen Körper, der sich beim späten Kafka zu einem abstrakten Zeichenfeld entsinnlicht — „weißgefrorene Eisfläche, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer" (Hochzeitsvorbereitungen 55). Indem der Leser auf dem Textfeld der Kafkaschen Literatur das labyrinthische Geflecht der ihm eingezeichneten Sinn-Spuren sich zu er-fahren sucht, erfährt er jenseits aller fixierbaren Sinn-Substrate jene ästhetischen Figuren, deren Schleifenbildung das nach der Kombinatorik des Traums gebildete Kryptogramm des Kafkaschen Textes konstituiert. Die ihn durchschneidenden „Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer" verweisen darüber hinaus aber auch auf das gespaltene Subjekt, dessen Organisation durch den Einbruch ich-fremder Wirklichkeit dezentriert wird. Wie bei —»Freud ist auch bei Kafka das Unheimliche das Heimliche, Abgespal-

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tete, Vergessene, dessen Hervordringen aus den abgedunkelten Innenräumen des menschlichen Daseins als verfremdetes, dem matten Tagesbewußtsein unverständliches „Schreckbild" die tabuisierte Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußtem annagt und das - indem es sich von den verdämmernden Randzonen des Lebens her zu dessen Zentrum durchfrißt - das Lebendige aufzehrt. Das „Andere" stammt aus dem vergessenen „Schweinestall" des Ich, das Ich aber ist ein Anderer. Der Angsttraum, den Kafka im Landarzt erzählt, entfaltet die Dialektik dieses Satzes. Das hat zur Folge, daß das Ich im Prozeß endloser analytischer Selbstreflexion nurmehr der vielsagende Ausdruck für einen dem Bewußtsein selbst unverständlichen Chor flüsternder „Stimmen" ist, welche im Prozeß-Roman „die Vorfälle" des Inneren „nach Art von Studierenden (...) einer unbekannten Rechtswissenschaft zu besprechen" pflegen: phantastische Kommentare über einen „ungewußten Text" (F. Nietzsche). Die Rückbiegung der äußeren Wirklichkeit in die Dominanz einer inneren, in welcher die Differenz zwischen dem Subjekt des Erzählens und des erzählten Subjekts aufgehoben ist, begründet die phantastische Weltsicht Kafkas, den Zirkel von Innen und Außen, dem noch das Unwahrscheinliche als zugleich wirklich und unwirklich sich vorstellt. Die „perspektivische Phantastik" (R.G. Renner) von Kafkas Erzählen umzirkelt in der Kongruenz von alptraumhafter Fiktion und angsttraumhafter Wirklichkeit das Phantasma seiner ins Externe verlegten Imagines des Inneren als „Gericht" und „Schloß", deren absurdem Augenaufschlag das bewußte Ich erliegt. 3. Zur Frage religiöser

Deutbarkeit

Kafkas Stellung zur religiösen Frage sei durch ein biographisches Schlüsselzitat aus dem vierten Oktavheft belegt. Er schreibt dort: „Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang" (Hochzeitsvorbereitungen 121). Die frühe positiv-religiöse Auslegung Kafkas durch M . Brod hat einer Überprüfung nicht standzuhalten vermocht. Forschungsgeschichtlich bildet sie eine zwar im Ganzen und in zahlreichen Details überwundene, dennoch aber unentbehrliche Vorstufe moderner Interpretation. Schon früh widerspricht W. Benjamin dieser „leichtfertigen" theologischen Interpretation aus Prag (W. Benjamin, Briefe II, Frankfurt am Main 1966, 618). Was Kafkas Stellung zum -»Judentum anbetrifft, so hat B.B. Kurzweil in seiner grundsätzlichen Stellungnahme zu Kafkas „jüdischer Existenz ohne Glauben" (Franz Kafka - jüdische Existenz ohne Glauben: Die Neue Rundschau 77 [1966] 418-436) im Gegenzug zu den religiösen Deutungsversuchen von M . Brod, H.-J. Schoeps und M. Buber zu Recht auf die Inadäquatheit eines jeden Versuchs hingewiesen, mit überkommenen Begriffen von „Sünde", „Schuld" und „Heil" gegenüber der von Kafkas Werk bezeugten undurchdringlichen Wirklichkeit göttlicher Abskondität zu operieren. Auch die von M . Brod zitierte Vorstellungswelt -»Kierkegaards, die ihn zu unhaltbaren - im Gang der Forschung von W. Emrich, Th. W. Adorno und E. Heller zurückgewiesenen - Analogien in bezug auf die Interpretation des Kafkaschen Schloß-Romans (ver)führte, ist nur dann relevant, wenn erkannt wird, wie Kafkas ursprünglich biographisch bedingtes Interesse an Kierkegaard in den letzten Lebensjahren in eine Kritik umschlägt, welche die Kierkegaardschen Glaubenskonstruktionen paralysiert (W. Ries, Transzendenz als Terror, Heidelberg 1977,25-65). - Kafkas Werk repräsentiert insofern „den Endpunkt der Arbeit am jüdischen Gesetz" (N. Bolz), als es sich nur noch negativ manifestiert: im Nichtwissen vom Gesetz und in der Anarchie der Sumpfwelt, in welche die uralte Väterwelt eingelassen ist. W. Haas, der Zeitgenosse Kafkas, hat bereits im Jahr 1929 über Kafkas „finstere Religiosität" geschrieben und die obere Macht im Schloß als „grausam, katzenhaft und raubtiermäßig" interpretiert (Uber Franz Kafka: Tagebuch Jg. 10, Nr. 24 [1929]). Für den weiteren forschungsgeschichtlichen Prozeß wird die mörderische Destruktivität, die im Zentrum dieser „finsteren Religiosität" haust, am Rückfall der Mythenkritik in eine nach E. Heller gnostisch gestimmte - Dämonopathie manifest. Hatte das theologische

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Kaftan, Julius

Dogma die Gottesvorstellung von allem mythischen Gehalt gereinigt, so bringt demgegenüber Kafka von neuem den Aspekt eines tellurischen Pandämoniums zur Geltung: Die „Gottheiten" sind als rezente Schicht des Archaikums Inbegriff des vieldeutig-unbeherrschbaren Naturschreckens. So heißt es in Kafkas spätester Erzählung Der Bau (1923): „Und es sind nicht nur die äußeren Feinde, die mich bedrohen. Es gibt auch solche im Inneren der Erde (...) nicht einmal die Sage kann sie beschreiben. Selbst wer ihr Opfer geworden ist, hat sie kaum gesehen; sie kommen, man hört das Kratzen ihrer Krallen knapp unter sich in der Erde, die ihr Element ist, und schon ist man verloren. Hier gilt auch nicht, daß man in seinem Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus" (Sämtliche Erzählungen 413). Die im Werk Kafkas zweifellos vorhandene „theologische Sinnschicht" (H. H. Hiebel) ist vom ältesten Substrat des Religiösen bestimmt: dem Gewahrwerden von Zwiespältigkeit. Sie reaktiviert auf traumbelassener Erfahrungsstufe das Numinose als „Tremendum" (R. ->Otto). Haftet dem lateinischen Wort sacer der Charakter des Heiligen wie des Verruchten gleichermaßen an, so korrespondiert diesem „gleichermaßen" die „auf französisch" gegebene Antwort des Lehrers auf die Frage nach dem „Grafen" des „Schlosses": „Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder" (Das Schloß, hg. von M. Pasley, Frankfurt a. Main 1982, 20). - Im ProzeßRoman ist der Dom als Ort des „ewigen Lichtes" zugleich der dunkelste aller Räume der Gerichtswelt. Ihm entreißt der Strahl von K.s „elektrischer Taschenlampe" nurmehr Bildsymbole des Todes: einen „gepanzerten Ritter" sowie „eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung" (Der Prozeß, hg. von M. Brod, New York/Frankfurt am Main 1965, 245 f). Werke GW, hg. v. M. Brod, New York/Frankfurt a.Main 1950 ff. - Kritische Ausgabe der Werke von Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe, Hg. von J. Born, N. Neumann, M. Pasley, J. Schillemeit, Frankfurt am Main 1982ff. Literatur Forschungsberichte und Bibliographien: Peter Beicken, Franz Kafka. Eine krit. Einf. in die Forschung, Frankfurt a. Main 1974. - Hartmut Binder (Hg.), Kafka-Hb. in zwei Bänden, Stuttgart 1979. - Angel Flores, A Kafka Bibliography. 1 9 0 8 - 1 9 7 6 , New York 1976. - Harry Järv, Die Kafka-Lit. Eine Bibliogr., Malmö/Lund 1961. Sammelbände: Angel Flores (Hg.), The Kafka-Debate. New Perspectives for Our Time, New York 1977. - Heinz Politzer (Hg.), Franz Kafka, 1973 2 1980 (WdF 322). Christoph Bezzel, Kafka-Chronik, München 1975. - Wilhelm Emrich, Franz Kafka, Bonn 1958. Erich Heller, Franz Kafka, München 1965. - Heinz Politzer, Franz Kafka. Der Künstler, Frankfurt a.Main 1965. - Walter H. Sokel, Franz Kafka - Tragik u. Ironie, München/Wien 1964.

Wiebrecht Ries

Kaftan, Julius Wilhelm Martin 1. Leben und Werk

(1848-1926)

2. Würdigung

(Quellen/Werke/Literatur S. 521)

1. Leben und Werk Julius Kaftan wurde am 30. September 1848 in dem Kirchdorf Loit bei Apenrade geboren. Der Vater Marten Hinrich Kaftan mußte das Hauptpastorat in Loit im Jahre 1850 nach der schleswig-holsteinischen Erhebung verlassen und verlor mit anderen deutschgesinnten Geistlichen seine nordschleswigsche Heimat (—>Schleswig-Holstein); er starb bereits im März 1853. Die Mutter (1822-1889) sorgte alleine für ihre beiden Söhne, Theodor und Julius, die in Husum und (seit 1859) in Flensburg aufwuchsen. In -»Erlangen studierten die Brüder Theologie vor allem bei J. v. Hofmann, G. —»Thomasius und F. -»Delitzsch. Die von Hofmann vertretene neulutherische Erfahrungstheologie scheint den

Kaftan, Julius

519

jungen J. Kaftan nicht beeindruckt zu haben. Ostern 1868 gingen die Brüder zum Studium nach -»Berlin, wo der Systematiker I. A. -»Dorner Einfluß auf sie gewann. Nachhaltiger wirkte auf Julius Kaftan der Philosoph Friedrich A. Trendelenburg ein. Vor allem seine Logischen Untersuchungen, seine Wendung zu Aristoteles und die damit verbundene Abkehr von -»Hegel schulten ihn philosophisch. Im Hause Dorners haben die Brüder an der Übersetzung von Hans Lassen Martensens (s. T R E 8,311,30ff) Werk Om Tro og Widen (Glaube und Wissen) mitgearbeitet. Uber den Briefwechsel zwischen dem bedeutenden dänischen Theologen Martensen und Dorner veröffentlichte Julius Kaftan eine Rezension (ChrW 3 [1889] 567).

Nach den Semestern in Erlangen und Berlin brachte Kaftan die zweiten fünf Semester in der Heimat zu, „zwei davon in Kiel, die drei anderen zu Hause - der Ersparnis halber. Was diese privaten Studien fruchtbar und lebendig machte, war der Umstand, daß wir zu zweit waren" (Selbstdarstellung 4). In Kiel besuchte Kaftan nur wenige Vorlesungen; ihn beschäftigten die philosophischen Schriften —»Schleiermachers. Das Ergebnis dieser Studien war die erste Abhandlung mit dem Titel Die religiöse Erfahrung als theologisches Erkenntnisprinzip, int Anschluß an Kant und Schleiermacher untersucht. Im Examen in Kiel 1871 mit dem höchsten Prädikat ausgezeichnet, ermöglichte ihm Generalsuperintendent Bertel Petersen Godt den Eintritt in die akademische Laufbahn. Nur kurz in Quem in Angeln tätig, ging Kaftan nach -»Leipzig, promovierte in der Philosophischen Fakultät, mußte aber die in der Theologischen Fakultät abzufassende Dissertation neu bearbeiten. In Leipzig schloß er mit A. v. —»Harnack Freundschaft (doch finden sich in den Briefen öfters Kontroversen, 2. T., 918). An der Thomas-Kirche nahm Kaftan eine Predigttätigkeit auf. Die Habilitation war noch nicht abgeschlossen, als er einen Ruf nach —»Basel erhielt (1874 a.o. Professor und 1881 Professor). Die ersten fünf Jahre in Basel hat Julius Kaftan um die eigene philosophisch-theologische Stellung innerlich gerungen, da sich das, was er mitbrachte, nicht bewährte, namentlich mit dem einfachen historischen Verständnis von Schrift und Dogma, wie es sich ihm aufdrängte, nicht vertrug. Ende des Sommersemesters 1878 ordneten sich ihm jedoch die Linien zu einem Ganzen und er gewann seinen „Standpunkt" (Selbstdarstellung 24). Dieser Vorgang fand seinen Niederschlag in der Schrift Die Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben (Basel 1879). Später ist die gesamte Arbeit Kaftans als konsequente Durchführung des in dieser Schrift entwickelten Programms bezeichnet worden (Max Reischle: T h L Z 27 [1902] 646). In Basel vertrat Kaftan neunzehn Semester lang als einziger die Fächer Dogmatik und Ethik; daneben las er neutestamentliche Exegese, überwiegend Auslegung der Paulusbriefe, neutestamentliche Theologie, Symbolik, hielt wiederholt auch Vorlesungen über die reformierten Bekenntnisschriften sowie über das römisch-katholische Lehrsystem. In Basel bestanden persönliche Beziehungen Kaftans mit A.E. -»Biedermann (Peter Schulz: SThU 30 [1960] 116-123). Lange Zeit hatte Kaftan an der religiösen -»Erfahrung als theologischer Quelle festgehalten: Sie schien eine objektive Erkenntnis des christlichen Glaubensinhaltes zu gewähren. Die Lektüre von A. -•Ritschis 3. Band über Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1874) befreite ihn von der Vorstellung, die religiöse Erfahrung als theologisches Erkenntnisprinzip werten zu müssen. Fortan trat Kaftan der Losung Ritschis bei, es sei in der Theologie wieder an den Ansatz Luthers anzuknüpfen: Gott und Glaube gehören zusammen. „Uber Luther wollen wir doch nicht hinaus" (Brief aus dem Jahre 1925, Nr. 431,893). In der Öffentlichkeit wurde Kaftan häufig als Anhänger Ritschis bezeichnet; seinem Bruder Theodor gegenüber äußerte er jedoch: „Ich bin ein einigermaßen inkonsequenter Ritschlianer" (Brief Nr. 432). Es ist eine viel behandelte Streitfrage gewesen, ob Julius Kaftan mehr von A. Ritsehl oder dieser von ihm gelernt habe. Kaftan wußte wohl, daß die Veränderungen in der zweiten und dritten Auflage von Ritschis Werk auch auf seine kritischen Anregungen zurückgingen (Briefe 789).

Im Jahre 1883 wurde Kaftan auf den früheren Lehrstuhl —»Schleiermachers nach Berlin berufen (vgl. T R E 5,636,30ff). In den Jahren von 1904-1925 war er zugleich Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche und 1921 dessen geistlicher Vizepräsident. Als solcher führte er die Generalsuperintendenten in

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Kaftan, Julius

Berlin, Danzig, Stettin, Königsberg und Breslau ein. Er war an der Entstehung der neuen Kirchenverfassung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (APU) beteiligt (1922; s. T R E 10,679,50ff). Bei den Verfassungsverhandlungen trat er für die Einführung des Bischofsamtes (-»Bischof IV) und für die Freiheit der theologischen Wissenschaft ein. Er führte den Vorsitz im sozialen Ausschuß des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes (vgl. TRE 10,662,15ff). Kaftan hatte zu den Begründern des -»Evangelisch-sozialen Kongresses gehört; bis zu seiner Berufung in den Evangelischen Oberkirchenrat war er auch Mitglied der Freunde der „Christlichen Welt" (M. -»Rade). Die für seine gesamte Theologie grundlegende christliche Ethik nahm im Rahmen der Berliner Vorlesungstätigkeit eine feste Form an; sie wurde 1884 neu ausgearbeitet und zuletzt 1926 vorgetragen. Wenn Kaftan Ethik las, war es das Ereignis des Semesters - eben das, worüber die Studenten unter sich am meisten sprachen, pro und contra disputierten. Der Wortlaut der in der Vorlesung diktierten Leitsätze wurde nach dem Umsturz von 1918 etwas beeinflußt, namentlich die Aussagen über die Kirche und den christlichen Staat, ohne daß sich die Standpunkte grundsätzlich irgendwie geändert hätten. Die menschliche Gesellschaft wird von Kaftan als Schöpfung des sittlichen Willens begriffen. Durch immer fortschreitende geistige Hebung der unteren Stände müssen die Unterschiede der Bildung ausgeglichen werden, damit sie die Gemeinschaft und das wirkliche Zusammenleben aller nicht unmöglich machen. Den Frauen, die unverheiratet blieben, sollten Berufsbildung, Berufsarbeit und ökonomische Selbständigkeit ermöglicht werden. Schon Mitte November 1918 nach dem Umsturz heißt es bei Kaftan: Es gelte zu erwägen, ob man nicht mit den Katholiken zusammen gegenüber den jetzigen Machthabern etwas erreichen könne. „ D a s von ihnen dekretierte Wahlrecht der Frauen kann da ein wichtiger Faktor auch für uns werden. Die evangelischen Pastöre werden jetzt auch nach katholischem Muster sich um die Wahlen kümmern m ü s s e n " (Briefe 2. T. 6 7 5 ) .

Das In- und Miteinander der theologisch-wissenschaftlichen und kirchlich-praktischen Interessen bei Kaftan hat seinerzeit viele Studenten in Berlin angezogen und beeindruckt. Seine Dogmatik (1897, 8 1920) war viele Jahre das Standardwerk der Studierenden. — Julius Kaftan starb am 27. August 1926 in Berlin-Steglitz. 2. Würdigung In der Beurteilung des Lebens und in den Denkmitteln dem abschließenden 19. Jh. und den Anfängen des 20. Jh. zugewandt und dem gehobenen Bürgertum verpflichtet, weist Julius Kaftan dennoch über seine Epoche hinaus, indem er den Psychologismus und Subjektivismus der damaligen neulutherischen Erfahrungstheologie (-»Neuluthertum) überwinden konnte. Es gelang ihm, entgegen historistischen Tendenzen die Autorität der Heiligen Schrift als theologisches Erkenntnisprinzip zu verteidigen. Sein Geschichtsverständnis und seine christozentrische Orientierung hoben ihn über Gleichgesinnte seiner Zeit hinaus. Als Kirchenregimentler im Evangelischen Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche verdient Kaftan neu gewürdigt zu werden. Seine Position war kritisch zum Synodal-Parlamentarismus (Briefe 2. T. 767), bejahend in der Bischofsfrage und zugleich ausgleichend zwischen den Ost- und Westprovinzen im weiten Kirchenkörper der Union zwischen Memel und Aachen. Unter seinen Schülern sind Arthur Titius (1864-1936) und Georg Wobbermin (1869-1943), beide in Berlin, mit eigenen Wegen die bekanntesten. Mit dem Philosophen Friedrich Paulsen (1846-1908) war Kaftan in Freundschaft verbunden. Das unmittelbare Verhältnis des Glaubens zu Gott und Christus stand für Julius Kaftan stets im Mittelpunkt der theologischen Arbeit. Leitmotiv war für ihn der Gedanke, daß das evangelische Bekenntnis ein hohes Gut sei. Nordschleswigsche Frömmigkeit, kritisches Luthertum, auch Basler Pietismus und Betonung des mystischen Gedankengutes im Christentum waren ihm eigen.

Kaftan,

Theodor

521

Quellen Autobiographie: Die Religionswiss. der G e g e n w a r t in Selbstdarstellungen, hg. v. E . Stange, Leipzig, IV 1928, 2 0 1 - 2 3 2 . - Kirche, R e c h t u. T h e o l . in vier J a h r z e h n t e n . D e r Briefwechsel der Brüder T h e o d o r u. Julius K a f t a n , hg. v. W. G ö b e l l , 2 Bde., M ü n c h e n 1967.

Werke Sollen u. Sein in ihrem Verhältnis zueinander. Eine Stud. zur Kritik H e r b a r t s , Leipzig 1872. - Die Religionsphil. Anschauung Kants . . . (Antrittsrede in Basel 1873), Basel 1874. - Grundtvig, der Prophet des N o r d e n s , Basel 1876. - Das Wesen der christl. Religion, Basel 1881 2 1 8 8 8 . - Die Wahrheit der christl. Religion, Basel 1888. - D a s Christentum u. Nietzsches H e r r e n m o r a l . Ein Vortrag, Berlin 1897 3 1 9 0 2 . - D o g m a t i k , Freiburg 1897 7 + 8 1 9 2 0 (Grundriß der theol. Wiss., T 5 / 1 ) . - Z u r D o g m a tik. Sieben A b h . aus der Z T h K , T ü b i n g e n 1904. - Phil, des Protestantismus. Eine Apologetik des ev. G l a u b e n s , T ü b i n g e n 1917. - Ntl. T h e o l . im A b r i ß darg., Berlin 1927. - Weiteres s. Kaftan-Briefwechsel 9 6 5 - 9 6 8 .

Literatur J e n d r i s Alwast, Art. K a f t a n , J . : Biographisches L e x i k o n für Schleswig-Holstein u. L ü b e c k 7 (1985). - H a n s J o a c h i m B i r k n e r , „ L i b e r a l e T h e o l o g i e " : Kirchen u. Liberalismus im 19. J h . , hg. v. M a r t i n S c h m i d t / G e o r g Schwaiger, 1976 ( S T h G G 19), 3 3 - 4 2 . - F G für D . D r . J . Kaftan zu seinem 70. G e b u r t s t a g e 30. Sept. 1 9 1 8 , dargebracht v. Schülern u. Kollegen, T ü b i n g e n 1920. - A. Heger, J . Kaftans theol. Grundposition im Verhältnis zu Schleiermachers Prinzipienlehre, G ö t t i n g e n 1930. Kurt Leese, Die Prinzipienlehre der neueren syst. T h e o l . im Lichte der Kritik Ludwig Feuerbachs, Leipzig 1912, 87 ff. - J o h a n n e s R a t h j e , Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952. - M a r t i n R e d e k e r , J . Kaftan zum 100. G e b u r t s t a g des T h e o l o g e n u. K i r c h e n m a n n e s , F A B Beilage, 1. J g . , 1948, 1 0 9 - 1 9 3 . - Carl Stange, D e r d o g m . Ertrag der Ritschlschen T h e o l . nach J . K a f t a n , Leipzig 1906. Arthur T i t i u s , J . Kaftan; Z T h K N F 8 (1927) 1 - 2 0 . - G e o r g W o b b e r m i n , Ertrag der Ritschlschen T h e o l . bei C. Stange: Z T h K 17 (1907) 5 3 - 5 9 .

Walter Göbell t

Kaftan, Theodor 1. Leben

1.

Christian

2. Werke

Heinrich

(1847-1932)

( Q u e l l e n / W e r k e / L i t e r a t u r S. 5 2 3 )

Leben

Der ältere der Brüder Kaftan, Theodor Kaftan, ist am 18. März 1847 in Loit geboren (s. o. S. 518,41 ff). Über die gemeinsame Jugendzeit berichtet er in seiner Autobiographie Erlebnisse und Beobachtungen und in seinen frühen Tagebüchern ( 1 8 6 3 - 1 8 7 3 ) bis in das erste Amtsjahr in Apenrade. N a c h dem T e n t a m e n bei dem schleswiger Generalsuperintendenten Bertel Petersen G o d t und dem A m t s e x a m e n Ostern 1871 wollte Kaftan nicht das von G o d t errichtete Predigerseminar in Hadersleben für den Kirchendienst in dänischer S p r a c h e aufsuchen, vielmehr absolvierte er einen pädagogischen Kursus auf dem Lehrerseminar in E c k e r n f ö r d e . Als Hauslehrer auf R a s t o r f beim G r a f e n R a n t z a u lernte Kaftan viel an Lebensart und U m g a n g ; er hielt auch Bibelstunden im Schulhause. A m 4 . Advent 1872 wurde er in Schleswig als Hilfsprediger für Kappeln an der Schlei ordiniert. Im O k t o b e r 1873 schloß er die Ehe mit Sophie H a n s e n ( 1 8 5 0 - 1 9 3 1 ) , T o c h t e r des in dänischer Z e i t ebenfalls vertriebenen H a n s Nikolaus H a n s e n , P a s t o r in Kappeln, und der Anna M a r i e Elisabeth, geb. von R a u m e r . D a s D i a k o n a t in Apenrade (24. September 1873 bis 31. J a n u a r 1880) ist Kaftan zeitlebens gegenwärtig geblieben. Die T ä t i g k e i t als Regierungs- und Schulrat unter Oberpräsident Karl Heinrich von B ö t t i c h e r in Schleswig g a b Kaftan in Schule und Kirche umfassende Kenntnisse von seinem späteren Sprengel und begründete sein Vertrauensverhältnis zu der L e h r e r s c h a f t des Landes. Es festigte sich in ihm die Uberzeugung, daß die geistliche Schulaufsicht radikal beseitigt werden müsse ( - » S c h u l w e s e n ) . Er forderte eine Leitung des Religionsunterrichts durch die Religionsgesellschaft (Erlebnisse und B e o b achtungen 134); in der Lehrerbildung eine M i t w i r k u n g der Kirche beim Lehrplan wie den Lehrmitteln für die religiöse Ausbildung im Seminar mit einer entsprechenden Einsicht in den Unterricht. Ihm ging es um die Christusherrschaft in der Schule. Als Propst in Tondern (seit 1884) und im D o p p e l a m t des H a u p t p a s t o r a t s und der K i r c h e n p r o p -

522

Kaftan,

Theodor

stei wurde Kaftan besonders gefordert. Weil es Gemeinden mit dänischem Recht neben solchen mit schleswigschem Recht gab, war es eine Vorbereitung auf das höchste Hirtenamt im alten H e r z o g t u m Schleswig.

Am 7. Mai 1886 wurde Kaftan zum Generalsuperintendenten als Nachfolger von B. Godt ernannt. Das Miteinander von geistlicher, wissenschaftlicher und verwaltender Tätigkeit war ihm der Inhalt seines Lebens. Mit besonderer Sorgfalt führte er die Visitationen durch, die jedes dritte Jahr in den Propsteien stattfanden. Sie betrafen auch den gesamten Schulbetrieb und sollten die Gemeinschaft der Einzelgemeinden und die Einheit der Kirche zum Ausdruck bringen. Maßgeblich beteiligt war Kaftan an den Reformwerken der Ev.-Luth. Landeskirche: Den Gemeinden gab er die Gottesdienstordnung für die evangelisch-lutherische Kirche der Provinz Schleswig-Holstein (1892); er verfaßte das Liturgische Handbuch (1897) und im Jahre 1900 dessen dänische Ausgabe. Die Ausbildung förderte er in dem neuen Predigerseminar in Preetz (1896) mit homiletischen, katechetischen, auch liturgischen und musikalischen Übungen; hinzu kamen Recht und Ordnung der Kirche, Einführung in die Pädagogik und das Schulwesen. Nach seiner Emeritierung war Th. Kaftan als Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Baden-Baden tätig. Dort starb er am 26. November 1932. 2. Werke Die theologische und kirchliche Entwicklung Kaftans läßt sich aus seinem Schrifttum und dem Briefwechsel entnehmen. In der Übergangszeit von 1867 bis 1918 ging es um das Selbstverständnis der Kirche, namentlich gegenüber den Angriffen von Seiten der Liberalen. Sein theologisches Programm, die Moderne Theologie des alten Glaubens (1905) — er wagte diesen paradox klingenden Ausdruck - vertritt eine Theologie, die mit den Zügen des modernen geistigen Lebens im inneren Einklang stehen will, nämlich dem „Vordrängen des Individuellen" und der neuen Gestaltung des Denkens, wie sie sich in der Wandlung der Philosophie seit -»Kant ausdrückt. Der -»Evangelisch-soziale Kongreß beschäftigte ihn wie seinen Bruder Julius Kaftan lebhaft. Bereits 1897 konstatierte Kaftan seine politische Verlegenheit: Von Haus aus konservativ, war er doch zugleich überzeugt von der Notwendigkeit sozialer Reformen und durchdrungen von dem Ziel, das Christentum zur „Volkssache" zu machen (Briefe 163). Dabei deduzierte er schon 1903, weshalb die Staatskirche keine Zukunft habe: Die Vier Kapitel von der Landeskirche zeigen im Ansatz ein neues Kirchenrechts-Denken. Vorausschauend konzipierte Kaftan eine nach dem Ende der Staatskirche zu bildende eigenständige, ihre Angelegenheiten selbstverwaltende -» Volkskirche. Den Bemühungen um eine Kirche der Union (-»Evangelische Kirche der Union) stand er kritisch gegenüber (Briefe 246). Wer eine Kirche des Evangeliums wolle, die im Leben des Volkes etwas zu bedeuten habe, „der erwäge einmal ernstlich, ob die Kirche in der Gestalt der Staatskirche je wieder Eingang und Einfluß gewinnen wird in den sozialdemokratischen Massen" (Briefe 622f). In der sozialen Revolution (-»Sozialismus) sah Kaftan ein Gottesgericht über den M a m m o n i s mus ( - » G e l d ; - » E i g e n t u m ) . H ä t t e die Kirche nicht schon lange ganz anders den Reichen gegenüber für die Rechte der Armen eintreten sollen? Er kritisierte die Politik der Deutsch-Nationalen und verließ 1925 die Partei (Briefe 911). Im Vertrag von L o c a r n o (1925) zur europäischen Friedenssicherung (-»Frieden V) und der Verständigung mit Frankreich sah Kaftan realpolitisch den Anfang einer Besserung. Über die Weltkirchenkonferenz in Stockholm (s. T R E l l , 6 3 3 , l l f f ) konnte Julius Kaftan die positive Auffassung seines Bruders T h e o d o r nicht ganz teilen: Liegt nicht doch etwas wie eine Analogie zum Völkerbund darin (Briefe J . K., 931)? Deshalb schrieb T h e o d o r Kaftan an N . - » S ö derblom: Den Völkerbund religiös unterbauen, heiße, die hoffentlich zukunftsreiche Sache Stockholms an ein fragwürdiges Produkt einer fragwürdigen Zeitpolitik zu verkaufen.

Kaftan bemühte sich, das kirchliche Leben tunlichst vor der Politisierung zu bewahren, damit Kirche gerade für die Menschen unterschiedlicher Gesinnung im Grenzland Kirche war und blieb. Außer Claus -»Harms hat kein Kirchenmann so nachhaltig auf die schleswiger Landeskirche (-»Schleswig-Holstein) eingewirkt, überragend in Theologie

Kaftan,

Theodor

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und gründlicher Gelehrsamkeit. Der Kirchenmann Theodor Kaftan gehört zu den bedeutenden Persönlichkeiten der evangelischen Kirche, im Weltluthertum und in der Ökumene. Quellen Briefe des Lehnsgrafen Hans Schack-Schackenburg u. Th. Kaftans (Forarbeyder til Psalmebogen, Schackenborgs Archiv): SVSHKG 37 (1981) 7 1 - 1 1 5 . - Jugendtagebücher 1 8 6 3 - 1 8 7 3 (Ms. PrivatArchiv). - Erlebnisse u. Beobachtungen des ehemaligen Generalsuperintendenten v. Schleswig D. T h . Kaftan. Von ihm selbst erzählt, Kiel 1924, Gütersloh 2 1931. - Kirche, Recht u. Theol. in vier Jahrzehnten. Der Briefwechsel der Brüder Theodor u. Julius Kaftan. Hg. u. komm. v. Walter Göbell, 2 Bde., München 1967.

Werke Femten Praedikener. En Afskedsgave til min Menighed, Apenrade 1880. - Kirkelige Rejsebilleder fra Danmark, Odense 1884. - Die Auslegung des luth. Katechismus. Mit einem Anhang: Der Katechismusunterricht auf Grund des luth. Katechismus, Schleswig 1892 7 1926. - Die Einweihung des Domes in Schleswig am 25. Oktober 1894. Predigt über 1. Kön. 8,29, Schleswig 1894. - Liturg. Hb. für die Geistlichen der ev.-luth. Kirche der Provinz Schleswig-Holstein, Revidierte Ausg. 1896. Auszug aus der Matutin für geistliche Synoden, Flensburg 1896. - Der christl. Glaube im geistigen Leben der Gegenwart, Schleswig 1896 3 1904. - Liturgisk Haandbog til fri Afbenyttelse for den evangelisk-lutherske Kirkes Praester i Proindsen Slesvig-Holsten. Udg. af det Kongelige evangelisklutherske Konsistorium i Kiel, Schleswig 1900. - Vier Kapitel v. der Landeskirche, Schleswig 1903 2 1907. - Taugt das ev.-luth. Bekenntnis für das 20. Jh? Vortrag gehalten am 27. Sept. 1904 auf der internationalen Allg. ev.luth. Konferenz in Rostock, Schleswig 1904. - Er den evangelisk-lutherske Bekendelse brugbar for des 20. Aarhundrede?, Odense 1905. — Moderne Theol. des alten Glaubens, Schleswig 1905 2 1906. - Gemeinsame Weltanschauung, Ultramontanismus, Protestantismus, Halle o. J . [1905]. - Die Schule im Dienste der Familie, des Staates u. der Kirche, Hamburg 1906. - Der Mensch Jesus Christus der einige Mittler zwischen Gott u. den Menschen, Berlin 1908. - Zur Verständigung über moderne Theol. des alten Glaubens, Schleswig 1909. - Wo stehen wir? Eine kirchl. Zeitbetrachtung, verf. in Veranlassung des Falles Heydorn bzw. des Falles Jatho, Schleswig 1911 2 1911. - Ernst Troeltsch. Eine krit. Zeitstud., Schleswig 1912. - Unterricht im Christentum. Interessierten u. gebildeten Laien aller Stände dargeboten, Schleswig 1914. - Vom ev. Erziehen, Leipzig/Hamburg 1916. - Von weiblicher Jugendpflege. Predigt in Itzehoe, Bordesholm 1916. - Die gegenwärtige Kriegslage u. wir Christen, Ratzeburg 1916. - Reformation, nicht Revolution, Leipzig 1917. - Reformation u. Gustav-Adolf-Verein, Leipzig 1917. - Die staatsfreie Volkskirche, Leipzig 1918 2 1918. - Staat u. Kirche. Zur Frage ihrer Trennung, Berlin 1919. - Was nun? Eine christl.-dt. Zeitbetrachtung, Leipzig 1919. - Luthers Katechismus, wie ein Hausvater denselben einfältig erklären soll, Schleswig 1919. - Wie verfassen wir die Kirche ihrem Wesen entsprechend? Mit einem Anhang: Minoritätenschutz, Leipzig 1920. - Das Christentum als Religion, als Sittlichkeit, als Weltanschauung, Schleswig 1927. - Der Sinn der Kirche, Stuttgart 1927. - Bischöfliche Kirchenverwaltung, (Schleswig) 1928. Aufsätze: Beiträge - Predigten, Andachten, Reden: Kirche, Recht u. Theol. in vier Jahrzehnten Nr. 3 4 - 3 2 4 . - Rezensionen: ebd. 9 5 4 - 9 5 7 , Nr. 3 2 6 - 3 7 8 . - Nachlaß: ebd., Predigten u. geistl. Reden, 958; Vorträge (Manuskripte); Predigten 1 8 7 3 - 1 9 2 5 .

Literatur Walter Göbell, Th. Kaftan: SVSHKG 10 (1949) 7 - 2 6 . - Ders., Zum kirchenrechtlichen Problem der Zuordnung v. Bischofsamt u. kirchl. Verwaltung: M P T h 42 (1953) 1 3 3 - 1 4 2 . - Ders., Kirchl. Leben um die Jahrhundertwende: N E 22 (1954) 1 6 8 - 1 8 6 . - Ders., T h . Kaftan u. der Norden: Grenzfriedenshefte 1 (1955) 28 - 4 0 . - Ders., Art. T h . Kaftan: Biographisches Lexikon für SchleswigHolstein u. Lübeck 7 (1985) 1 0 8 - 1 1 0 . - Hans-Peter Muus, Zum Briefwechsel der Brüder Kaftan: ZevKR 15 (1970) 4 0 1 - 4 0 6 . - Henry Petersen, T h . Kaftan, Slesvigs Biskop 1 8 8 6 - 1 9 1 7 : Dansk Praeste - o f Sognehistorie, 10: Haderslev Stift, hg. v. A. Pontoppidan Thyssen, Arhus 1 8 7 7 - 1 9 8 0 , 4 8 - 5 8 . M . Rasch, Der Nordschleswiger T h . Kaftan. Die heimatliche Verwurzelung einer Grenzlandpersönlichkeit: Aus Schleswig-Holsteins Gesch. u. Gegenwart. FS Volquart Pauls, Neumünster 1950, 2 7 2 - 2 8 0 . - H. Rothe, Die politische Wirksamkeit T h . Kaftans in der Weimarer Republik: SVSHKG 13 (1955) 9 4 - 1 3 8 . - H. v. Schade, „Was nun?" T h . Kaftan am Ende des I. Weltkriegs: SVSHKG 38 (1982) 6 3 - 7 2 . - J . Schmidt, Geistliche Väter unserer Kirche. Claus Harms - Th. Kaftan - W. Halfmann: Kirche zwischen den Meeren, hg. v. Jens Motschmann, Heide 1981, 9 3 - 1 0 7 .

Walter Göbell f

524 Kahle, Paul

Kahle (1875-1964)

Das wissenschaftliche Lebenswerk des Semitisten und Theologen Paul Kahle (geb. 21.1. 1875 in Hohenstein/Ostpreußen, gest. 24.9. 1964 in Oxford) ist geprägt von den Traditionen der Hallenser Orientalistik und Bibelwissenschaft (-»Halle), in denen speziell die Erforschung des Bibeltextes und seiner Sprache einen bedeutenden Rang (—>Gesenius) hatten. Sein orientalistischer Lehrer war Franz Praetorius (1847-1927). Bei ihm promovierte Kahle 1898 mit der phil. Dissertation Textkritische und lexikalische Bemerkungen zum samaritanischen Pentateuchtargum. Im folgenden Jahr weilte Kahle mehrere Monate in England, um in London, Oxford und Cambridge Manuskripte für die Fortsetzung dieser Forschungen einzusehen und nach Handschriftenrnaterial für das weitere Projekt der Vollendung der von A. Kuenen 1851-1853 begonnenen Herausgabe der arabischen Pentateuchübersetzung der Samaritaner zu suchen. Entscheidend für die zukünftige Richtung von Kahles Arbeit war die Bekanntschaft mit dem von S. Schechter nach Cambridge gebrachten umfangreichen Manuskriptmaterial aus der Geniza der EsraSynagoge in Alt-Kairo. Mit den in England gewonnenen Erfahrungen gelang es Kahle, in dem Berliner Handschriftenfragment Or. Qu. 680 einen Teil der bislang fast unbekannten babylonischen Überlieferung des Bibeltextes zu entdecken, die Eigentümlichkeiten der babylonischen Masora gegenüber der palästinischen in seiner theologischen Dissertation Der masoretische Text des Alten Testaments nach der Überlieferung der babylonischen Juden (Leipzig 1902) herauszuarbeiten und grammatisch auszuwerten. Ab 1903 wirkte Kahle über fünf Jahre als Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo. Hier entstanden seine Untersuchungen zur Geschichte der neuarabischen Volksdichtung in Ägypten, mit denen er sich 1909 in Halle habilitierte. Sein Buch Die arabischen Bibelübersetzungen war schon 1904 in Leipzig herausgekommen. Vorwiegend arabistischen und islamkundlichen Studien widmete sich Kahle auch während seines Aufenthaltes in Jerusalem 1909/1910 als Mitarbeiter Gustaf ->Dalmans. Während seiner 1910 aufgenommenen Tätigkeit als Privatdozent in Halle sammelte Kahle weitere Fragmente der babylonischen Bibelüberlieferung, eine Arbeit, die in seinem Buch Masoreten des Ostens (1913 [BWAT 15]) ihren Niederschlag fand. Nach seiner Berufung nach Gießen (1914) und Bonn (1923) trat die Erforschung der alten palästinischen Textüberlieferung und der sie ablösenden tiberischen Masoretenschulen der Gelehrtenfamilien Ben Naphtali und Ben Ascher (—•Karäer) in den Vordergrund. Es ist Kahles Verdienst, den Wert der originalen masoretischen Arbeit der tiberischen Schulen des 9./10. Jh. gegenüber dem Textus receptus des Jakob ben Chajjim (1524-1525) erkannt und die handschriftlichen Zeugen dieser Arbeit identifiziert zu haben. Während Die Masoreten des Westens l (1927 [BWAT NF 8]) und II (1930 [BWANT III, 17]) erschienen, stand Kahle bereits in der Mitarbeit an der 3. Auflage von Rudolf Kittels Biblia Hebraica. Es ist Kahle zu verdanken, daß dabei nunmehr auf den Text des Aaron ben Mosche ben Ascher in der vollständig erhaltenen Abschrift des Codex Leningradiensis (ca. 1006—1008) zurückgegriffen wurde. Das weitere Vorhaben, auch die Masora der Ben-Ascher-Handschrift zu veröffentlichen, konnte Kahle nur z. T. durch den Abdruck der kleinen Masora am Rande des Bibeltextes verwirklichen. Er mußte im März 1939 wegen seines Protestes gegen die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland nach England emigrieren, wo er in Oxford eine neue Wirkungsstätte fand. Bibliothek und Forschungsmaterial blieben in Bonn zurück und wurden ihm erst nach Kriegsende wieder verfügbar. Neue Impulse für seine Arbeit gewann Kahle durch die Handschriftenfunde von ->Qumran, an deren Auswertung er sich mit mehreren Beiträgen beteiligte (vgl. u.a. Die hebräischen Handschriften aus der Höhle, Stuttgart 1951). In Oxford hatte Kahle bereits 1941 im Rahmen der Schweich Lectures Vorlesungen über seine bisherige Forschungsarbeit gehalten, die 1947 unter dem Titel The Cairo Geniza in Oxford herauskamen. Die erweiterte Ausgabe vom Jahre 1959 gibt einen zusammenfassenden Selbstbericht über sein Lebenswerk (Deutsche Übersetzung: Die Kai-

Kaisertum und Papsttum

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roer Geniza. Bearb. v. Rudolf Meyer, Berlin 1962; vgl. auch P. Kahle, Der Bibeltext seit Franz Delitzsch, Stuttgart 1961).

hebräische

Karl-Heinz Bernhardt Kaiser, Römische -»Reich/Reichsidee, -»Rom Kaiserswerther Verband -»Diakonie Kaisertum und Papsttum 1. A n f a n g s p h a s e 2. Die Epoche byzantinischer V o r h e r r s c h a f t 3. Die W i e d e r b e g r ü n d u n g des a b e n d l ä n d i s c h e n Kaisertums 4. Der s o g e n a n n t e Investiturstreit 5. D a s Spätmittelalter (Literatur S. 534)

Das Begriffspaar Kaisertum und Papsttum verweist auf eine in der Kirchengeschichte oft intendierte Kooperation, bezeichnet aber während des Mittelalters und der Frühneuzeit meist eine Antagonie. Das resultiert aus den universalen Ansprüchen beider Mächte und ist zunächst eine Folge der Christianisierung des Römerreiches. Zeitlich hatte das Kaisertum Vorrang, das seit der „Konstantinischen Wende" durch die „Reichstheologie" bereits eines —»Eusebius von Caesarea positiv gewertet wurde und aufgrund altrömischer Traditionen (z.B. Claudius Ptolemäus) und biblischer Prophetie (z.B. —»Daniel) gar eschatologische Bedeutung und universalen Rang erhielt. Der Universalismus des Papsttums wuchs mit der allmählichen Durchsetzung des römischen —»Primats und der sukzessiven Beschränkung des seit dem 4. Jh. gebrauchten Papsttitels auf den römischen Bischof (—»Papsttum). Übersehen wurden dabei staatlicher- wie kirchücherseits die politischen Realitäten, wie die praktische Begrenzung der kaiserlichen Autorität auf das Römische Reich und die Existenz souveräner, auch christlicher Herrschaft außerhalb seiner Grenzen oder die sich gegen den „römischen Zentralismus" erhebende „altkirchliche Autonomie" (F. Heiler) sowie die Entstehung von Rom geschiedener Nationalkirchen und Konfessionen mit eigener Hierarchie. Das Nebeneinander von Kaisertum und Papsttum hat man später in der wohl Ende des 5. Jh. entstandenen Silvesterlegende und dem noch jüngeren -»Constitutum Constantini bereits auf die Zeit Kaiser -»Konstantins d. Gr. (306-337) und Papst Silvesters I. (314-335) zurückprojiziert, indem man die Gründung der neuen Reichshauptstadt und Kaiserresidenz -»Konstantinopel als dankbar freiwilliges Überlassen Roms an den Papst deutete: Der durch Silvester von schwerer Krankheit geheilte Kaiser habe nicht dort residieren wollen, wo das kirchliche Oberhaupt seinen Sitz habe (übt principatus sacerdotum et christianae religionis caput ab imperatore caelesti constitutum est, iustum non est, ut illic imperator terrenus habeat potestatem) (MGH.F 10, 1968, 94ff). Im Geschichtsverlauf lassen sich fünf Perioden wechselnder Beziehungen zwischen Kaisertum und Papsttum unterscheiden: Eine Anfangsphase wird durch eine Epoche byzantinischer Vorherrschaft abgelöst (6.-8. Jh.); sodann bezeichnet um 1100 der sogenannte Investiturstreit einen deutlichen Einschnitt in der mit der Wiederbegründung des abendländischen Kaisertums (800) beginnenden neuen Periode, und steht man seit dem Spätmittelalter (13. Jh.) wieder vor neuen Gegebenheiten. 1.

Anfangsphase

Für den Aufstieg des Papsttums war nächst der Berufung auf die -»Petrus-Sukzession ausschlaggebend, daß der römische Bischof in der ehemaligen Kaiserresidenz immer mehr zum höchsten Repräsentanten des römischen Volkes wurde. Die kirchliche und staatliche Hochschätzung Roms und der dortigen Bischöfe wird einerseits im Konzil von Serdika (342; -»Synode), andererseits im Edikt von Thessalonich (380) Kaiser -»Theodosius' d . G r . deutlich. In den damaligen dogmatischen Streitigkeiten hat jene Synode Rom zur Appellationsinstanz bei Synodalprozessen gegen Angehörige des Episkopats ge-

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Kaisertum und Papsttum

macht, und als der Kaiser das Christentum im Römerreich zur Staatsreligion erhob, wurde die vom alexandrinischen und vom römischen Bischof vertretene Orthodoxie für allgemein verbindlich erklärt. Nachdem 422 ein Papstbrief den Terminus principatus für den Apostolischen Stuhl aus römischer Tradition arrogiert hatte, findet sich 445 erstmals in einem kaiserlichen Erlaß der Ausdruck -»Primat, alsbald während des Konzils von ->Chalkedon römischerseits schon als Beschluß von —>Nicäa gedeutet. Für die Päpste hatte eine römische Synode schon 378 den direkten Gerichtsstand unter dem Kaiser gefordert, anscheinend vergeblich, denn es kam später öfter zum Eingreifen kaiserlicher Beamter in Rom, besonders bei strittigen Papstwahlen. Das Ende des weströmischen Kaisertums (476) nutzte das Papsttum zu weiterer Emanzipation. Als Papst Symmachus (498-514) nach einer Doppelwahl von dem damals mit kaiserlichem Auftrag Italien beherrschenden Ostgotenkönig Theoderich d.Gr. (493-526) zur Verantwortung gezogen wurde, behaupteten die Symmachianischen Fälschungen, daß bereits in der diokletianischen Verfolgungszeit beim Synodalprozeß von Sinuessa gegen den abtrünnigen Papst Marcellinus (295-304) der dann auch von Kaiser Konstantin d. Gr. anerkannte und von Papst Silvester I. nach synodaler Beratung in einem Constitutum proklamierte Grundsatz gegolten habe: Prima sedes a nemine iudicatur, doch hat sich diese Gerichtsimmunität des Papsttums erst viel später und nur mit Einschränkungen (rtisi deprehendatur a fide devius) durchgesetzt (D.21 c.7; C.9 qu. 3 c.13). Wichtiger war, daß während eines ersten Schismas zwischen Rom und Byzanz (484-519) Papst ->Gelasius I. (492-496) in einem mutigen Brief an den oströmischen Kaiser Anastasios I. (491-518) auf —• Augustin fußend die sogenannte Zweigewaltentheorie entwickelt hatte, wobei die sacrata auctoritas pontificum der regalis potestas übergeordnet wurde, weil die Päpste auch für die Taten der Kaiser vor Gott Rechenschaft ablegen müssen (Duo quippe sunt, imperator auguste, quibus principaliter mundus hic regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas. In quibus tanto gravius est pondus sacerdotum, quanto etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine rationem [Zwei sind es, erhabener Kaiser, von denen diese Welt vornehmlich regiert wird: die geheiligte Autorität der Bischöfe und die königliche (hier = kaiserliche) Gewalt. Von ihnen ist die Bedeutung der Priester ( = Bischöfe) umso schwerwiegender, als sie unter der göttlichen Prüfung auch für die Könige der Menschen Rechenschaft ablegen müssen.]) (Ep.12 c.2) (QGP 222 f). Der Kaiser erscheint als Funktionär innerhalb der universal gedachten Kirche, keineswegs die Kirche als Institution innerhalb des Reiches. Von der ekklesiologischen Theorie blieb freilich die politische Praxis weit entfernt. 2. Die Epoche byzantinischer

Vorherrschaft

Unter byzantinischer Herrschaft konnte sich kein paritätisches Verhältnis zwischen Kaisertum und Papsttum entwickeln. Richtungweisend war anscheinend die lange restaurative Regierungszeit des dem Caesaropapismus verhafteten Kaisers Justinian d . G r . (527-565), schon vorher Mitregent seines Onkels Justin I. (518-527). Daß Papst Johannes I. (523-526) bei seinem Byzanzaufenthalt als ostgotischer Gesandter zu Ostern 526 bei einer Festkrönung mitwirken durfte, wird als erste Kaiserkrönung durch einen Papst angesehen, hatte aber weder konstitutive Bedeutung noch Folgen. Seit Justinian mußten die Päpste als ständigen Vertreter einen Apokrisiar am Kaiserhof haben. Oft wurden aber auch sie selbst nach Byzanz zitiert oder mit Gewalt dorthin gebracht, um der kaiserlichen Religionspolitik genüge zu tun. Papst Agapit I. (535-536) starb als ostgotischer Gesandter in der Kaiserstadt, wegen seiner Opposition zur monophysiten-freundlichen Kirchenpolitik Justinians mit Deposition bedroht. Sein Nachfolger Silverius (536-537) ist wegen Konspiration mit den Ostgoten als Hochverräter spektakulär abgesetzt worden. Dem dann vom Kaiser zum Papst erhobenen Apokrisiar Vigilius (537-555) wurde 553 nach fast zehnjährigem byzantinischen Exil die Zustimmung zu den Beschlüssen des 2. Konstantinopolitanischen Konzils ( - • Konstantinopel) abgepreßt, er erhielt aber dafür eine Pragmatische Sanktion, die mit der Übertragung von Aufsichtskompeten-

Kaisertum und Papsttum

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zen in Italien an den Papst einen ersten Schritt zur Herausbildung des —» Kirchenstaates darstellt. Der nächste Papst, Pelagius I. (556—561), verdankt seinen Aufstieg vom Apokrisiar wiederum kaiserlicher Ernennung. Als rechtens galt, daß eine römische Papstwahl vor der Papstweihe vom Kaiserhof bestätigt werden mußte, was oft zu langen Vakanzen führte. Trotzdem wurde nur in Ausnahmefällen und mit Entschuldigungen davon abgewichen, und erst gegenüber Papst Benedikt II. (684-685) verzichtete der Kaiser auf sein Bestätigungsrecht zugunsten seines italischen Statthalters, des Exarchen von Ravenna. Schon Papst Agatho (678-681) soll eine Ermäßigung der für die Bestätigung fälligen Gebühren erreicht haben. Man wertet beides als Dankeserweis für die Willfährigkeit des Papsttums gegenüber Byzanz. Papst —»Gregor d.Gr. (590—604) hat sich in dem weithin von den Langobarden besetzten Italien um den Frieden und um die Erhaltung Roms für das Reich bemüht. Sein Streit mit dem byzantinischen Patriarchen tangierte keineswegs seine Loyalität zum Kaiser, die sogar dem Usurpator Phokas (602-610) zuteil wurde. Dieser soll dann dem Papst Bonifaz III. (607) den Primat bestätigt haben. In den nächsten Dezennien sah sich Rom vielen Gewalttaten kaiserlicher Beamter ausgesetzt und wurde durch die kaiserliche Religionspolitik wieder in die Opposition gedrängt. Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen stellt der Pontifikat Martins I. (649-653) dar, der wegen Unterstützung eines Usurpators in Rom verhaftet und, in Byzanz als Hochverräter zum Tode verurteilt, im Exil starb. Folgenreicher war die postume Verurteilung des im -»Monenergetisch-monotheletischen Streit nachgiebigen Papstes -»Honorius I. (625-638) durch das 3. Konstantinopolitanische Konzil (-»Konstantinopel). Zum letzten Mal für lange hatte 663 ein Kaiser (Konstans II., 6 4 1 - 6 6 8 ) Rom besucht, ohne gute Erinnerung zu hinterlassen. Umgekehrt war letztmalig Papst Konstantin I. (708-715) zu einer Byzanzreise gezwungen und empfing 711 bei seiner Begrüßung durch Kaiser Justinian II. (685-711) erstmalig den Fußkuß, den später das päpstliche Zeremoniell vorschrieb. Für das allmähliche Ausscheiden Roms und des Papsttums aus dem byzantinischen Reich während des 9. Jh. gab es dogmatische und politische Gründe. Im Bilderstreit ( - * Bilder) nahmen die Päpste für die Ikonodulen Partei und sahen sich deswegen kaiserlichen Repressalien ausgesetzt. Umgekehrt konnten die Kaiser Rom nicht vor den Langobarden schützen. Zur neuen römischen Schutzmacht wurde seit der Frankreichreise Papst Stephans II. (752-757) 753/754 das karolingische Frankenreich und dessen Könige, besonders seit der römischen Kaiserkrönung -»Karls d.Gr. (768-814) durch Papst Leo III. (796-816) zu Weihnachten 800. Regelungen für das beidseitige Verhältnis hatte schon jener Frankreichaufenthalt erbracht. Mit der Verleihung des Titels eines Patricius Romanorum an König -»Pippin (751-768) und dessen Nachfolger wurde die Defensio ecclesiae übertragen. Der von Pippin 754 bei der Begrüßung des Papstes in Ponthion geleistete Marschalldienst war später usuell bei Begegnungen von Kaiser und Papst. Da Stephan II. an Pippin eine —»Salbung nach alttestamentlichem Vorbild vollzog, wurde dieser Ritus später mit dem der Kaiserkrönung verbunden. Der durch die Pippinische Schenkung 754 geschaffene —»Kirchenstaat ist seither bei jeder Kaiserkrönung bestätigt worden, doch offenbart das wohl in jener Zeit gefälschte Constitutum Constantini größere Forderungen des Papsttums. Zuletzt scheint Papst Gregor III. (731-741) die Bestätigung seiner Wahl aus Ravenna erbeten zu haben. Papst Zacharias (741-751) meldete seine Wahl nach Byzanz. Dann adressierte erstmals Papst Paul I. (757-767) eine Wahlanzeige ins Frankenreich. Papst Stephan II. ließ sich 753 als byzantinischer Legat aussenden. Zuletzt datierte man unter Papst -»Hadrian I. (772—795) in Rom nach dem im Osten regierenden Kaiser, und noch vor der Kaiserkrönung Karls d. Gr. nannte diesen Leo III. seit 798 in der Datierung der Papsturkunden. Manches spricht dafür, daß eine abendländische Kaiseridee längst vor 800 existierte. Die das Geschehen rechtfertigende Lehre von einer Translatio imperii durch den Papst wurde erst unter Papst -»Innozenz III. (1198—1216) Grundlage der kurialen Argumentation.

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Kaisertum und Papsttum

Nach der Erneuerung des römischen Kaisertums im Westen (800) gab es kaum noch Kontakte zwischen Rom und Ostrom. In bezug auf das entstandene Zweikaiserproblem nahm das Papsttum eine eindeutig antibyzantinische Haltung ein. Kirchliche Streitigkeiten, wie zwischen Papst -»Nikolaus I. (858-867) und dem Patriarchen -»Photios (858-886), vergrößerten die Kluft. Man erinnerte sich aber in Byzanz des Papstes, wenn man seiner gegen eine kirchliche Opposition bedurfte, so unter Kaiser Leon VI. (886-911) im Tetragamiestreit. Als 968 Papst Johannes XIII. (965-972) bei der Brautwerbung für Kaiser Otto II. (967—983) den imperator Graecorum aufforderte, mit dem imperator Romanorum in verwandtschaftliche Beziehungen zu treten (RI.KR 2/5, 1969, 176 n. 444), also die Zuständigkeit des byzantinischen Kaisers für Rom und seinen Anspruch auf Alleinvertretung der universalen Reichsidee bestritt, wurde trotz des dadurch in Byzanz wohl bewußt provozierten Skandals den politischen Realitäten Rechnung getragen. Seit 1054 war römisches Papsttum und oströmisches Kaisertum auch durch das perfekt gewordene Kirchenschisma getrennt und beschränkte sich der Verkehr fast nur auf Unionsverhandlungen. In Zeiten der Spannung zwischen Päpsten und abendländischen Kaisern konnten sich diese unter der Komnenendynastie (1081-1185) zuweilen mit der Hoffnung auf Restauration im Westen nach Beseitigung des dortigen Rivalen verbinden, so vor allem 1166 bei Verhandlungen zwischen Kaiser Manuel I. (1143-1180) mit Papst -»• Alexander III. (1159-1181). Umgekehrt hat jedoch der 4. Kreuzzug (1202-1204) dem byzantinischen Kaisertum zunächst den Garaus bereitet und in Konstantinopel ein „Lateinisches Kaisertum" (1204-1261) entstehen lassen, das freilich neben mehreren orthodoxen Nachfolge-Imperien in Nicäa, Trapezunt und Thessalonich sowie unter den Bulgaren und Serben im dualistischen Nebeneinander von Kaisertum und Papsttum keine Rolle spielte. Nach der paläologischen Restauration des byzantinischen Reiches kam es am 2. Lyoner Konzil (—»Lyon) nur zu einer kurzen kirchlichen Union zwischen Rom und Byzanz (1274-1281) unter dem in seiner Bedrängnis auch beim Papst Unterstützung suchenden Kaiser Michael VIII. (1259-1282). Die Türkengefahr führte 1369 mit Kaiser Johannes V. (1341-1391) letztmalig einen oströmischen Kaiser nach Rom, wo er zum katholischen Glauben übertrat. Die Union der Kirchen kam erst 1439 unter Papst Eugen IV. (1431-1447) und Kaiser Johannes VIII. (1425-1448) auf dem Konzil von Florenz zustande (-»-Basel-Ferrara-Florenz), überlebte aber den Untergang des byzantinischen Reiches 1453 nicht. 3. Die Wiederbegründung

des abendländischen

Kaisertums

Die Erneuerung des abendländischen Kaisertums zu Weihnachten 800 scheint zwar längst geplant gewesen zu sein, war aber letztlich durch konkrete römische Ereignisse veranlaßt worden. Selbst die offizielle päpstliche Historiographie im sogenannten Liber pontificalis stellt einen Zusammenhang zwischen der römischen Revolte gegen Papst Leo III. von 799, der Flucht des Abgesetzten zu Karl d. Gr. und seine Restitution und Rehabilitation gemäß dem damals anerkannten Prinzip der päpstlichen Gerichtsimmunität nach Ableistung eines Reinigungseides einerseits und andererseits der Krönung des Königs durch einen dankbaren Papst sowie der Aburteilung der Papstgegner als Majestätsverbrecher durch den Kaiser her. In der Karlsvita Einhards begegnet Kritik an der römischen Krönung durch den Papst, die gar dem Kaiser selbst in den Mund gelegt wird. Tatsächlich sprach man am Hofe Karls d. Gr. lieber vom Imperium Christianum als von einem Imperium Romanum. Das Vorhandensein der Idee eines romfreien Kaisertums gilt auch dadurch bezeugt, daß bei der Erhebung von Karls Sohn und Nachfolger Ludwigs des Frommen (813—840) zum Mitregenten 813 und 817 bei der Erhebung von dessen Sohn Lothar I. (817-855) jeweils in Aachen eine (Selbst)krönung ohne päpstliche Beteiligung erfolgte. Dagegen hat das Papsttum noch während der Karolingerzeit sein Krönungsrecht und gar seine Verfügungsgewalt über die Krone sowie die Verpflichtung zur Einholung der Krönung in Rom durchgesetzt. Ludwig der Fromme wurde 816 in Reims durch Papst Stephan IV. (816—817) nochmals mit einer aus Rom mitgebrachten angeblichen Krone Konstan-

Kaisertum und Papsttum

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tins d. Gr. gekrönt, Lothar I. bekam 823 in Rom eine zweite Krönung durch Papst Paschalis I. (817-824). Als mit Kaiser Ludwig II. (850-875) die italische Linie der Karolinger ausstarb, entschied sich Papst Johannes VIII. (872-882) entgegen letztwilligen Verfügungen des Kaisers zunächst für die Nachfolge der westfränkischen Linie. Bei den karolingischen Reichsteilungen wurde jeweils darauf geachtet, daß Rom zu dem vom Kaiser direkt beherrschten Reichsteil gehörte, weil die kaiserliche Schutzpflicht gegenüber dem Papst nur so ausgeübt werden konnte. Zuletzt waren freilich in einem zusammengeschrumpften Reich italische Fürsten „Imperatores Italiae", ohne hindern zu können, daß Rom und das Papsttum in die Gewalt des römischen Adels kamen. Sein Verhältnis zum Papst hatte Karl d.Gr. in einem Brief an Leo III. schon 796 so umschrieben, daß des Herrschers Aufgabe die Verteidigung von Kirche und Glauben sei, die Pflicht des Papstes aber das Gebet nach dem Beispiel des Mose (Ex 17,11), also nur geistlicher Dienst (elevatis ad Deum cum Moyse mattibus nostram adiuvare militiam [mit Mose mit zu Gott erhobenen Händen unserem Waffendienst beizustehen]) (QGP 261). Der 801 auftauchende Kaisertitel übernahm aus Byzanz die Devotionsformel a Deo coronatus. Hingegen zeigt ein damals entstandenes Lateranmosaik Karl d. Gr. als Empfänger einer Lehensfahne aus den Händen des Apostels Petrus. In den jeweils bei Kaiserkrönungen erneuerten Pacta wurden die Rechte des Kaisers im Kirchenstaat und bei der Papsterhebung fixiert. Das erste im vollen Wortlaut erhaltene Kaiserprivileg für die römische Kirche, von Ludwig dem Frommen 817 (ed. A. Hahn, 1975) ausgestellt, brachte die Bestätigung des Kirchenstaates gemäß den Schenkungen Pippins und Karls d.Gr., allerdings mit dem Vorbehalt kaiserlicher Oberhoheit für manche Gebiete, was wohl noch unter Ludwig durch generelle Bestimmungen über das Wirken kaiserlicher Missi im Kirchenstaat ausgestaltet wurde. Hinsichtlich der Papsterhebung wurde die Entsendung päpstlicher Legaten an den Kaiserhof nach der Weihe erbeten. Das wurde 824 aus konkretem Anlaß in der Constitutio Romana (RI.KR 1,1966,416 n. 1021) Lothars I. abgeändert, und seither waren die Römer verpflichtet, die Weihe des erwählten Papstes nur in Gegenwart kaiserlicher Gesandter und erst nach Leistung eines Treueides durch den Papst durchführen zu lassen. Von einer kaiserlichen Wahlbestätigung wie in byzantinischer Zeit ist keine Rede, doch kann sie vorausgesetzt werden, ohne freilich konstitutive Wirkung zu haben. Man hat sich in Rom selten genug an diese Bestimmungen gehalten. Sie wurden 898 während des Streites um Papst Formosus (891-896) zum Konzilsbeschluß erhoben und vergeblich neu eingeschärft. Erst 963 sollen die Römer Kaiser ->Otto d. Gr. geschworen haben, in Zukunft keinen Papst ohne kaiserlichen Konsens (praeter consensum et electionem) (RI.KR 2/5, 1969, 126 n. 320) zu wählen oder zu weihen, jedoch ist diese Verschärfung der Bestimmungen nicht ins Formular der Kaiserpacta aufgenommen worden. Die Entstehung des von 962 bis 1806 fortdauernden römisch-deutschen Kaiserreichs wurde erst später als Translatio imperii gedeutet. Die Zeitgenossen glaubten zunächst an den Fortbestand des 800 von den Franken wiederbegründeten christlichen Römerreiches und hielten ihn aus eschatologischen Gründen für nötig. Das zeigt auch der um 950 in Toul geschriebene Antichristtraktat des Adso von Montier-en-Der, der für die spätere Kaiserprophetie wichtig wurde, indem er einen Endkaiser und dessen spektakulären Jerusalemzug vorhersagte. In Rom bestand während der damaligen Vakanz des Imperiums (928-962) ein Fürstentum und scheint man einen Kaiser nicht vermißt zu haben, bis Papst Johannes XII. (955-964) in akuter Bedrängnis den deutschen König -»Otto d.Gr. (936-973) zu Hilfe rief und krönte. Seither war das römische Kaisertum mit dem deutschen Königtum so fest verbunden, daß sich die auf die Kaiserwürde stets Anspruch erhebenden deutschen Könige seit dem 11. Jh. schon vor ihrer römischen Krönung rex Romanorum oder (Heinrich VI. seit 1186) als Mitkaiser caesar nannten und sich auch ohne Krönung als Kaiser fühlten, wie der Augustus-Titel Konrads III. (1137-1152) zeigt. Usuell erfolgte die Kaiserkrönung in der römischen Peterskirche durch den Papst, abgesehen von wenigen Ausnahmen, wo die Laterankirche Krönungsort war (1133 u. 1312) und

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Kardinallegaten fungierten (1312 u. 1355). Der Aufenthalt der Kaiser in der dem Papst als Residenz überlassenen Stadt Rom dauerte aber während des ganzen Mittelalters insgesamt nur knapp 5 Jahre. Das gleichwohl seit dem 11. Jh. offiziell Imperium Romanum genannte Reich, aus den in Personalunion vereinigten Königtümern Deutschland, Italien und Burgund bestehend, war auch nur ein Reich neben anderen, und dem Kaiser wurde eine höhere Würde (dignitas, nicht auctoritas oder potestas) nur wegen der von ihm auszuübenden Schutzvogtei über das Papsttum zugebilligt. Schon seit der späten Karolingerzeit leistete der Kaiser vor seiner Krönung dem Papst einen Schutzeid und erscheint als filius specialis des Papstes aufgrund einer unter Umständen schon vor der Krönung erfolgten Adoption. In den seit dem 10. Jh. überlieferten Ordines für die Kaiserkrönung (ed. R. Elze, M G H . F 9, 1960) finden sich entsprechende Formeln. Der Römereid von 963 betreffend die Papstwahl signalisiert den Einbau des Papsttums in das ottonische Reichskirchensystem. Die Heranziehung hoher Kleriker zur Reichsadministration mußte durch Einflußnahme auf das Papsttum abgesichert werden, und analog zur Bistumsbesetzung möglichst schon bei der Auswahl der Kandidaten für den Papstthron. Tatsächlich sind in ottonisch-salischer Zeit mehrere Päpste durch kaiserliche Ernennung mit nachfolgender römischer Wahl zu ihrer Würde gelangt. Als Patricius Romanorum beteiligte sich der Kaiser an der durch Klerus und Volk zu vollziehenden Papstwahl, indem er als erster seine Stimme abgab und seinen Kandidaten nominierte, während die Römer nur zu akklamieren brauchten. Umgekehrt kam es auch zur Absetzung nicht willfähriger oder in Opposition zum Kaiser erhobener Päpste, beginnend mit der spektakulären Absetzung Papst Johannes XII. 963. Ein Höhepunkt der Kooperation von Kaisertum und Papsttum war die Regierungszeit Kaiser —>Ottos III. (983—1002), unter dem mit Gregor V. (996-999) und -»Silvester II. (999-1103) der erste deutsche und der erste französische Papst in Rom residierten, beide vom Herrscher erhoben. Die Papstnamenwahl Silvesters verweist programmatisch auf die damals schon idealisierten Zeiten Konstantins d. Gr. Freilich plante Otto III. im Zuge einer renovatio Romani imperii Rom wieder zur kaiserlichen Residenz zu machen. Die Einflußnahme des deutschen Königtums auf Rom und das Papsttum kulminiert sodann unter -»Heinrich III. (1039-1056), als 1046 in Sutri und Rom auf Synoden unter seinem Vorsitz gar drei rivalisierende Päpste abgesetzt wurden, und dann sukzessive vier deutsche Bischöfe als vom Kaiser ernannte Päpste durchaus im Sinne einer für nötig erachteten Reform amtierten. Der römische Patriziat des Kaisers diente als Rechtfertigung, doch begann sich dagegen auch schon Kritik zu regen infolge der kluniazensischen Reformbewegung (-»Cluny) und der von ihr vertretenen Idee der „Liberias ecclesiae". 4. Der sogenannte

Investiturstreit

Der sogenannte -»Investiturstreit war keineswegs (wie oft behauptet) eine Auseinandersetzung zwischen Kaisertum und Papsttum. Die römischen Investiturverbote wandten sich im Interesse der Unabhängigkeit der Kirche generell gegen die in allen Ländern übliche Rechtspraxis der Einsetzung kirchlicher Amtsträger durch Laien, wozu man auch die Könige rechnete trotz ihres aus dem Gottesgnadentum resultierenden Selbstbewußtseins, als „minister Dei" zu wirken, und trotz des bei Krönung und Salbung verliehenen quasiklerikalen Ranges (—»Königtum). Den Anfang in der Befreiungsaktion machte die römische Kirche, als unter Papst -»Nikolaus II. (1058-1061) im Papstwahldekret 1059 das Recht des Kaisers auf Mitwirkung an der von nun an durch die Kardinäle durchzuführenden Papstwahl als eine jeweils persönlich zu erbittende Konzession des Papstes hingestellt und praktisch negiert wurde („Salvo debito honore et reverentia ..., sicut iam sibi concessimus, et successorum illius, qui ab hac sede personaliter hoc ius impetraverint" [Unbeschadet der schuldigen Ehre und Ergebenheit ..., wie wir sie ihm (sc. Heinrich IV.) bereits zugestanden haben und seinen Nachfolgern, sofern sie dieses Recht persönlich von diesem erlangen]) (SGSG 7,1960,273). Die auch deswegen naturgemäß besonders heftigen Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und deutschem Kö-

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nigtum während des Investiturstreites haben den Eindruck entstehen lassen, als handle es sich primär um einen Prinzipienkampf zwischen Kaisertum und Papsttum, zumal auch die zeitgenössische Publizistik kaum zwischen Kaiser und König unterscheidet. Der Höhepunkt liegt zweifelsohne im sogenannten Dictatus papae Papst -»Gregors VII. (1073-1085), wo der Papst als der eigentliche Kaiser erscheint, dem allein kaiserliche Insignien zu tragen gebühre (Quod solus possit uti imperialibus insigniis [er allein kann von den kaiserlichen Herrschaftszeichen Gebrauch machen]) (MGH. ES 2,1920,204) und dessen Urteil bis hin zur Absetzung auch Kaiser unterworfen sind. Die Auseinandersetzungen führten zu spektakulären Ereignissen, wie der zweimaligen Déposition Gregors VII. als Apostat durch Synoden unter König -»Heinrich IV. (1056-1106) in Worms 1076 und in Brixen 1080 sowie umgekehrt der Buße des vom Papst exkommunizierten und suspendierten Königs in Canossa 1077, weiter der Verhaftung Papst Paschais II. (1099-1118) und des Kardinalkollegiums durch König Heinrich V. (1106-1125) im Petersdom 1111 nach vergeblichen, weithin auf eine Scheidung von Staat und Kirche hinauslaufenden Verhandlungen. Im Wormser Konkordat wurde sodann 1122 Rom und der Kirchenstaat von der vereinbarten Regelung des Investiturproblems ausdrücklich ausgenommen, d.h. für vom Kaiser unabhängig erklärt. Insgesamt war die Folge des langen Streites eine Säkularisation des Staates und merkliche Abwertung des theokratischen Kaisertums. Das Papsttum hatte Schutz und Hilfe bei den süditalischen Normannen oder in Frankreich gefunden. Es sah sich auch mehr als früher in herrscherlicher Rolle, wie nicht zuletzt die damals beginnende Ausgestaltung der Tiara zur Krone zeigt. Die Gewaltentrennung verstärkte sich. Die im Investiturstreit ungelöst gebliebene Frage des Vorranges von Kaiser oder Papst hat auch in der nachfolgenden staufischen Epoche das gegenseitige Verhältnis belastet. Wenn die Reichskanzlei seit 1157 propagandistisch vom sacrum imperium sprach, nützte das wenig gegenüber der unbezweifelbaren Heiligkeit der Kirche. Die Kaiserkrone aus den Händen des gegen den Papst revoltierenden römischen Volkes zu empfangen, haben aber sowohl 1149 Konrad III. (1138-1152) als auch 1155 -»Friedrich I. (1152-1190) abgelehnt. Auch ihr Vorgänger, der nach dem Aussterben der salischen Königsdynastie unter kirchlichem Einfluß gewählte Lothar III. von Supplinburg (1125-1137), hatte, wie schon die deutschen Gegenkönige während des Investiturstreites, aus Rom eine Bestätigung seiner Wahl erbeten und erhalten. Auf einem bald nach seiner Kaiserkrönung 1133 hergestellten Wandbild im Lateran wird er gar in der Beischrift als Vasall des Papstes („homo fit papae" [er wird Lehnsmann des Papstes]) bezeichnet. Friedrich I. hat anläßlich seiner Kaiserkrönung 1155 die Entfernung von Bild und Schrift verlangt, weigerte sich auch zuerst, dem Papst den vasallitisch deutbaren Marschalldienst zu leisten. Der dem Romzug vorangehende Konstanzer Vertrag hatte 1153 beide Teile durchaus paritätisch zur Wahrung des „honor papatus" bzw. „imperii" verpflichtet (RI.KR 4/2,1980,47 n. 164). Verständlicherweise erregte es einen Skandal, als 1157 am Reichstag von Besançon ein Brief Papst Hadrians IV. (1154-1159) das Kaisertum als Lehen (beneficium) des Papstes erklärte. Der Papst sah sich zu einer beruhigenden Erklärung genötigt: „non feudum sedbonum factum" [nicht Lehen, sondern Wohltat] (RI.KR 4/2,1980,154 n. 491 u. 178 n. 555). Das bald später ausbrechende Papalschisma (1159-1180) hat der Kaiser 1160 vergeblich durch ein von ihm nach Pavia berufenes Konzil nach dem Vorbild Konstantins d. Gr. schiedsrichterlich zu entscheiden und 1165 mit der Kanonisation Karls d. Gr. der Sakralität des Reichs zu dienen versucht. Am Ende seiner Auseinandersetzungen mit Papst —»Alexander III. (1159-1181) stand 1177 der Friede von Venedig, wobei der Kaiser dem Papst den Fußkuß leistete, was die Legende zu einer Unterwerfung des Kaisertums unter das Papsttum gemacht hat. Im deutschen Thronstreit (1198-1218) zwischen Staufern und Weifen gelang es dem von beiden Parteien angerufenen Papst -»Innozenz III. (1198-1216) besser, päpstliche Ansprüche zur Geltung zu bringen und den gelegentlich schon früher ins Treffen geführten favor apostolicus als notwendig hinzustellen. In seiner

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„Deliberatio super facto imperii" (MHP 12,1947,75 ff) erklärte er 1201, daß das Imperium durch Gründung und Zielsetzung das Papsttum angehe (ad eam principaliter et finaliter pertinere), verwies auf die kuriale Translationslehre und forderte auch im Hinblick auf das päpstliche Recht der Kaiserkrönung die Konfirmation der deutschen Königswahl und die Approbation des Gewählten, gerade weil die staufische Partei die Wahl ihres Kandidaten Philipp von Schwaben (1198-1208) voreilig gar schon zur Kaiserwürde (in imperaturam) dem Papst mitgeteilt hatte. Die gelasianische Zweigewaltentheorie wurde nach entsprechenden Ansätzen schon im Investiturstreit (—»Zweischwertertheorie) durch Innozenz III. im Sonne-Mond-Gleichnis zu einer neuen Erklärung von Distanz und Abhängigkeit umgeformt. Seit der Vereinigung des süditalischen Normannenreiches mit dem Imperium unter Heinrich VI. (1190-1197) (unio regni ad imperium) 1194 war die päpstliche Politik von der Furcht vor der staufischen Umklammerung des Kirchenstaates gekennzeichnet, zumal der Kaiser zur Durchsetzung seines Erbreichsplanes 1196 dem Papst und der Kurie feste Besoldung angeboten haben soll, was aber aus Gründen der Wahrung der Unabhängigkeit abgelehnt wurde. So entschied sich Innozenz III. im Thronstreit zunächst auch gegen die Staufer und für den Weifen Otto IV. (1198-1218), der sich selbst „König von Gottes und des Papstes Gnaden" nannte. Ein Jahr nach der 1209 erfolgten Kaiserkrönung wurde er gleichwohl gebannt, als er nach Süditalien übergriff. Die von intensiver Propaganda begleiteten Auseinandersetzungen mit Kaiser -»Friedrich II. (1212-1250) endeten nach zweimaliger Bannung des Kaisers 1227 und 1239 durch Papst -»Gregor IX. (1227-1241) und nach dem Novum einer Appellation an ein über dem Papst stehendes Konzil mit der Absetzung Friedrichs durch Papst -»Innozenz IV. (1243-1254) auf dem 1. Lyoner Konzil 1245 (-»Lyon). 5. Das

Spätmittelalter

In dem mit dem Interregnum (1245-1273) beginnenden Spätmittelalter gab es nur noch 5 Kaiserkrönungen in Rom (1312,1328,1355,1433 u. 1452), und nur bei den letzten beiden hat ein Papst fungiert. Die kaiserlose Zeit schien perpetuiert und wurde keineswegs überall (mit F. Schiller) als „schrecklich" empfunden. Nach früheren Egalisierungstendenzen begegnet erstmals 1256 in einem lehenrechtlichen Traktat des französischen Juristen Jean de Blanot (gest. nach 1287) die Behauptung: „rex est imperator in regno suo" [der König ist Kaiser in seinem Reich]. Später wurde dem Papste gar die Abschaffung des unnötigen, auf Anmaßung beruhenden und selbst der Kirche schädlichen Kaisertums nahegelegt, nachdem der 1312 in Rom gekrönte Luxemburger Heinrich VII. (1308-1313) kaiserliche Rechte auch gegenüber reichsfremden Fürsten geltend gemacht hatte, wie gegenüber dem sich an der Kurie in Avignon beschwerenden König Robert von Neapel (1309-1343). Der französische König Philipp IV. der Schöne (1285-1314) ließ wissen, daß ein König von Frankreich niemals dem Kaiser Untertan gewesen sei. Apologeten eines universalen Kaisertums waren hingegen der Kölner Kanoniker Alexander von Roes (gest. nach 1288) in seinem für einen Kardinal geschriebenen Memoriale de praerogativa Romani imperii von 1281 (MGH.DMA 4, 1949) und niemand Geringerer als -»Dante Alighieri (gest. 1321) in seiner nach dem enttäuschend kurzen Kaisertum Heinrichs VII. im ghibellinischen Sinne verfaßten Monarchia. Das Imperium erscheint als göttliche Weltordnung, wird aber auch philosophisch mit Berufung auf -»Aristoteles begründet. Von kurialer Seite wurde, ebenfalls auf Aristoteles fußend, die Abhängigkeit des Kaisertums vom Papsttum untermauert, so 1281 in der einem Schüler des -»Thomas von Aquino (gest. 1274), dem Dominikaner Tolomeo von Lucca (gest. 1327), zugeschriebenen Determinatio compendiosa de iurisdictione imperii (MGH.F 1,1909) und im Interesse der Einheit der die ganze Menschheit umfassenden universalen Kirche prinzipiell von Papst -»Bonifaz VIII. (1294-1303) in seiner berühmten Bulle Unam sanctam von 1302 (Lo Grasso 212), wo freilich das Imperium mit keinem Wort erwähnt, aber die gelasianische Zweigewaltenlehre mit einer früher weniger scharf wirkenden Exegese von Lk 22,38 pointiert wurde: Der Papst verfüge über beide Schwerter („gladius spiritualis" und ,,gla-

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dius temporalis" bzw. „materialis") und gebe das eine an die Könige weiter, damit sie es auf Befehl („ad nutum") des Papstes gebrauchen. Nur in diesem Sinne waren die Päpste nach dem Interregnum an einer Erneuerung des Kaisertums interessiert, wie Papst Gregor X. (1271-1276), der von König Rudolf I. von Habsburg (1273-1291) einen -»Kreuzzug erhoffte, oder Bonifaz VIII., der in seinen Auseinandersetzungen mit Philipp IV. den deutschen König Albrecht I. von Habsburg (1298-1308) anläßlich der bis 1303 ohnehin herausgezögerten Approbation durch einen Untertaneneid zur Hilfe verpflichten wollte, ohne gleichwohl 1303 dem Attentat von Anagni zu entgehen. Sowohl von Rudolf als auch von Albrecht hatten die Päpste Gebietsabtretungen zur Vergrößerung des Kirchenstaates gefordert. In Deutschland hatte indessen längst eine gewisse Emanzipation vom hierokratischen Papsttum eingesetzt. Bereits 1252 hatte ein Braunschweiger Weistum zugunsten des deutschen Königs Wilhelm von Holland (1248 - 1 2 5 6 ) festgestellt, daß ein erwählter deutscher König dieselbe Macht (potestas) habe wie ein Kaiser und ihm die päpstliche Salbung anläßlich der römischen Kaiserkrönung nur einen Titel (nomen) verschaffe. Diese Rechtsauffassung wurde unter Ablehnung der päpstlichen Konfirmation und Approbation 1338 vom Rhenser Kurverein und in das Reichsgesetz Licet juris Kaiser -» Ludwigs des Bayern (1314-1347) sowie 1356 in die Goldene Bulle (MGH.F 10, 1972) Kaiser Karls IV. (1346-1378) übernommen. Hier erscheint der erwählte deutsche König als futurus caesar und als rex Romanorum in imperatorem (oder caesarem) promovendus [zum Kaiser zu befördernder König der Römer], wird also die automatische Folge von deutscher Königswahl durch die Kurfürsten und römischer Kaiserkrönung durch den Papst suggeriert. Ludwig der Bayer hat sich nach seiner Bannung (1324) durch Papst -»Johannes XXII. (1316-1334) nicht gescheut, 1328 in Rom die Kaiserkrone aus der Hand römischer Volksvertreter zu empfangen, ließ sich freilich dann doch nochmals von einem Gegenpapst krönen, den er anstelle des von ihm abgesetzten Johannes erhoben hatte. Auch später stand gegen die gesetzlich fixierte Romfreiheit des deutschen Königtums bzw. Kaisertums das Streben nach einer höheren Legitimierung durch eine vom Papste vollzogene Approbation und Krönung. Für seinen schon zu eigenen Lebzeiten zum König gewählten Sohn Wenzel (1376-1419) hat Karl IV. die päpstliche Bestätigung erbeten. Der gegen Wenzel erhobene König Ruprecht von der Pfalz (1400-1410) hat 1401/1402 einen gescheiterten Romzug unternommen. König Sigismund (1410-1437) ließ sich 1433 in Rom von Papst Eugen IV. (1431-1447) krönen, obwohl er als Initiator des Konstanzer Konzils (-»Konstanz) (1414-1418) und als Protektor des Basler Konzils (1431-1449) (-»Basel-FerraraFlorenz) in jener konziliaren Epoche (-»Konziliarismus) dem Kaisertum hohe Autorität gegenüber dem umstrittenen Papsttum verschafft hatte. Spätmittelalterliche Traktate über Kaisertum und Papsttum und über ihr Verhältnis zueinander erwuchsen aus Konfliktsituationen, wie der antipapalistische Defensor pacis des -»Marsilius von Padua (1324) oder die Admonitio de iniustis usurpationibus paparum Romanorum ad imperatorem des Gregor von Heimburg (gest. 1472; ed. M. Goldast, Monarchia 1, Frankfurt/M. 1611,557-563), waren historisch ausgerichtet, wie des späteren Papstes -»Pius II. humanistische Huldigung an Friedrich III. De ortu et auctoritate imperii Romani (1446; ed. G. Kallen 1939), oder bloß eine nüchterne Bestandsaufnahme, wie der Libellus de caesarea monarchia des Basler Juristen Petrus von Andlau (gest. 1480) (ed. J. Hürbin, ZSRG.G 1 2 - 1 3 , 1891-92). Die letzte Kaiserkrönung in Rom vollzog 1452 Papst -»Nikolaus V. (1447-1455) an König Friedrich III. (1440-1493), als letzter Kaiser empfing 1530 -»Karl V. (1519-1556) in Bologna die Krone aus päpstlicher Hand. Sein Vorgänger Maximilian I. (1486—1519) hat sich bei Ankündigung eines von vornherein undurchführbaren Romzuges 1508 in Trient zum „Erwählten Römischen Kaiser" proklamieren lassen, wozu Papst -»Julius II. (1503-1513) seine Zustimmung nachträglich erteilte. Denselben Titel nahm dann 1558 -»Ferdinand I. (1530-1564) ohne Rücksichtnahme auf den Papst an und hat damit zwar einen letzten Streit um das päpstliche Approbationsrecht heraufbeschworen, zugleich

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a b e r seinen N a c h f o l g e r n a m K a i s e r t h r o n ein Vorbild gegeben. K a i s e r k r ö n u n g e n f a n d e n seit 1562 o h n e p ä p s t l i c h e Beteiligung in d e r seit 1147 als O r t d e r d e u t s c h e n K ö n i g s w a h l d i e n e n d e n Stadt F r a n k f u r t a m M a i n statt. D a s neuzeitliche R ö m i s c h - d e u t s c h e K a i s e r t u m w a r m i t d e m P a p s t t u m nicht enger v e r b u n d e n als irgendein christliches R e i c h , w o N u n tien p ä p s t l i c h e Interessen vertreten m u ß t e n , wie seit 1513 a m d e u t s c h e n K a i s e r h o f . „ R o m f r e i " u n d v o n p ä p s t l i c h e r L e g i t i m a t i o n u n a b h ä n g i g w a r e n e b e n s o die a n d e r e n Kaiserreiche, so R u ß l a n d (1547 b z w . 1 7 2 1 - 1 9 1 7 ) , F r a n k r e i c h ( 1 8 0 4 - 1 8 1 5 u. 1 8 5 2 - 1 8 7 0 ) , Ö s t e r r e i c h ( 1 8 0 4 - 1 9 1 8 ) , Brasilien ( 1 8 2 2 - 1 8 8 9 ) , M e x i k o ( 1 8 6 4 - 1 8 6 7 ) , D e u t s c h l a n d ( 1 8 7 1 - 1 9 1 8 ) , d a s m i t G r o ß b r i t a n n i e n v e r b u n d e n e Indien ( 1 8 7 6 - 1 9 4 7 ) , Bulgarien ( 1 9 0 8 - 1 9 4 6 ) , d a s v o n Italien o k k u p i e r t e Ä t h i o p i e n ( 1 9 3 6 - 1 9 4 3 ) , v o n n i c h t c h r i s t l i c h e n M o n a r c h i e n mit Kaisertitulatur ganz abgesehen. 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Harald Zimmermann Kaland —»Bruderschaften/Schwesternschaften/Kommunitäten 55 Kaleb - » H e b r o n , -»Pentateuch Kalender -»Feste und Feiertage, —» Heilige/Heiligenverehrung, -»Kirchenjahr, -»Ostern, —»Zeitrechnung

536

Kambodscha

Kalthoff, Albert -»Liberalismus Kamaldulenser -»Benediktiner, -»Mönchtum, -»Orden Kambodscha

(Kampuchea)

1. Allgemeines 2. Die historischen Religionen 3 . D i e katholische M i s s i o n und 4. Die evangelische M i s s i o n und K i r c h e (Literatur S. 5 3 9 )

1.

Kirche

Allgemeines

Kambodscha (Kampuchea) ist mit ca. 6,8 Mio. Einwohnern (1983) eine Volksrepublik (seit 11.1.1979) in Südostasien. Sie ging aus dem buddhistischen Königreich Kambodscha hervor und wurde 1953 von Frankreich unabhängig. Die Bevölkerung besteht aus Khmer(82,l % : 1975), Chinesen (7,5 %), Vietnamesen (6,2% : 1975, ihr Anteil dürfte seit 1979 erheblich gestiegen sein), sowie Cham (2,4 %) und kleineren Volksstämmen (1,8%). - Man schätzt, daß sich rund 90 % der Khmer-Bevölkerung zum Theravada—»Buddhismus rechnen. Chinesen und Vietnamesen sind traditionell Mahayana-Buddhisten, während die Cham (Tscham) als islamische Minderheit schafiitische Sunniten (-»Islam) sind. Die Volksstämme lebten bis 1975 in ihren eigenen Glaubenstraditionen. Nach Barrett, World Christian Encyclopedia, gab es um 1980 in Kambodscha ca. 56000 Christen. 2. Die historischen

Religionen

In Kambodscha haben sich religiöse Vorstellungen und Handlungen erhalten, die in die Zeit vor der Indisierung zurückreichen. Der Glaube an Geistwesen drückt noch heute den Sinn für die Einheit von Mensch, Umwelt und Überwelt aus. In diese Abgeschlossenheit traten im 1. Jh. Brahmanen, die den Staat Funan gründeten. Glaube und Kultur der Hindu (-»Hinduismus) ließen das ansässige Volk in seiner religiösen Haltung unberührt. Erst im 5. Jh. „gestaltete" der indische Brahmane Kandinya „alle Gesetze nach den Sitten Indiens" um. Neben der als Staatskult eingeführten Siva-Verehrung verbreiteten sich Visnuismus und Mahayana-Buddhismus (791). Der Gottkönigskult (Deva-Raja) entwikkelte sich in der Chenla-Periode weiter. 1243-1295 zeigte sich am Hof nochmals eine hinduistische Reaktion. Insgesamt war „religiöser Synkretismus eines der Hauptmerkmale des Khmer Reiches" (Bechert 222). Die Verehrung der Gottherrscher bildete den Höhepunkt des Feudalismus der Angkor-Epoche. Die Belastung des Volkes durch das Tempelwesen verursachte soziale Unruhen und zwei größere Aufstände. Mit dem Niedergang des Khmer-Reiches um 1300 begannen Mon-Mönche, den Theravada-Buddhismus im Volke auszubreiten. Die Ursachen für den Religionswechsel hängen wahrscheinlich mit dem Kontext der Traditionen zusammen. Für die Landbevölkerung galten Hinduismus und Mahayana als Ausdruck höfischer und städtischer Religiosität. Sie bedeuteten Unterdrückung. Von 1474 bis 1863 wurde Kambodscha abwechselnd zum Vasallen Thailands, Vietnams, europäischer Mächte und ab 1979 erneut Vietnams. Unter Prinz Norodom Sihanouk (1941-1970) ging aus der Verbindung von Krone und Mönchsorden (Sangha) ein Khmer-Sozialismus hervor. Bis 1970 beruhte die Religionspolitik auf der königlichen Verfassung. Theravada-Buddhismus galt als Staatsreligion. Zugleich gewährte Art. 8 allgemeine Religionsfreiheit. Ein Ministerium führte die Aufsicht über die Religionsausübung, das buddhistische und das islamische Schulwesen. Der König ernannte die Leiter der Orden, mit denen das Ministerium Gesetze in Religionsfragen vorbereitete. Die Mönche genossen Steuerfreiheit und nahmen eine Mittlerrolle zwischen Regierung und Volk wahr. Bis 1975 gliederte sich der Sangha in den aristokratisch orientierten Dhammayuttika-Nikaya (Orden des Gesetzes) mit 104 Klöstern und 2053 Mönchen und den MahaNikaya (Großer Orden) mit 2722 Klöstern und 66092 Mönchen. Das Lon Nol Regime (1970-1975) versuchte mit dem Khmer Buddhisten-Kongreß,

Kambodscha

537

die Geistlichkeit für sich zu gewinnen. Pol Pot veranstaltete 1975 eine Konferenz in Phnom Penh, zu der auch 311 Mönche als Vertreter der buddhistischen Geistlichkeit erschienen. Die neuen Machthaber erklärten die Freiheit des Gewissens und der Religion. Fast gleichzeitig jedoch begannen Massenvertreibungen und Terrorherrschaft, die gemeinschaftliche Religionsausübung illusorisch machten. Von 80000 Mönchen fielen 50000 der Herrschaft von Pol Pot 1975-1979 zum Opfer. Heng Samrin und die kommunistische Führung Hanois im Hintergrund ließen nach der vietnamesischen Invasion 1979 wieder eine beschränkte Religionsausübung zu. 400 der ursprünglichen 2400 Pagoden waren intakt geblieben und wurden in geringer Anzahl wieder bezogen. 1978 soll es nur noch 2000 Mönche, 1985 jedoch wieder 8000 gegeben haben. Alte Mönche durften wieder die wenigen intakten Klöster beziehen, doch Rückkehr und Eintritt jüngerer Männer mißbilligte die Regierung. Nach Phnom Penh kehrten 571 Mönche in die Tempel und Pagoden zurück (1980). An dem Wat Unalom wurde 1980 das einzige buddhistische Institut unter Oum Soum wiedereröffnet. In der NirodreangsiPagode der Hauptstadt lebten mit dem 76jährigen Vorsteher fünf Mönche (1985). In den Pagoden-Grundschulen durften Mönche nur insoweit wieder Unterricht erteilen, als sie sich in das nationale Erziehungssystem integrierten. Darum konnten ihre Schulen die frühere Rolle nicht wiedergewinnen. Die Vergebungsbereitschaft gegenüber den „Pol Potisten" bleibt ein entscheidender Ausdruck des buddhistischen Glaubens im Lande. Betroffen wurden auch die 700000 Muslime in Kambodscha. 500000 von ihnen ermordeten die Roten Khmer zwischen 1975 und 1979.1980 konnten sie mit Hilfe ihrer buddhistischen Nachbarn und der Regierung die Shraing Chamree-Moschee und Schulen wieder aufbauen. 3. Die katholische

Mission und

Kirche

Die erste Begegnung Kambodschas mit der christlichen Botschaft geht auf den portugiesischen Dominikaner Gaspar da Cruz zurück, der, von Malakka kommend, Kambodscha 1555 besuchte. Ihm folgte der Portugiese Silvester Azevedo, dem der König von Kambodscha Freiheit der Verkündigung und Lehre gewährte. Er wurde 1576 in Kambodscha getötet. 1719 erreichten spanische Franziskaner aus den Philippinen Kambodscha und begründeten eine kontinuierliche katholische Gemeinde. P. Levavasseur übersetzte um 1770 einen katholischen Katechismus in die Khmer-Sprache. Um 1842 gab es vier Kirchen und 222 Katholiken. 1850 wurde eine apostolische Präfektur (1924 ein Vikariat) in Phnom Penh errichtet, die von der Société des missions étrangères de Paris (MEP) übernommen wurde. Der erste Vietnamese in Kambodscha wurde 1888, der erste Khmer 1957 zum Priester geweiht. 1888—1970 erhielten 156 Vietnamesen, 5 Khmer und 2 Chinesen die Priesterweihe. In der ersten Hälfte des 20. Jh. lag die Stärke der katholischen Kirche bei den eingewanderten Vietnamesen und bei den Chinesen. Die Zahl der Khmer war immer gering. 1969 waren von 62000 getauften Mitgliedern 55000 (88%) Vietnamesen, 3000 Khmer, 2000 Chinesen und 2000 Europäer (vor allem Franzosen). Die Mehrzahl der katholischen Khmer stammte aus khmer-portugiesischen und khmer-spanischen Familien. Die Mitarbeiterschaft war noch weniger einheimisch: von 80 Priestern waren 58 Franzosen, 16 Vietnamesen und nur 5 Khmer. Nur 14 Priester konnten in Khmer predigen. Von den Ordensbrüdern waren 27 Vietnamesen und 2 Khmer, von den 266 Schwestern 183 aus Europa, 75 Vietnamesinnen und 8 Khmer (1969). Neben einem Priesterseminar mit 9 Kandidaten hatte die Kirche je eine Katechetenschule für Vietnamesen und für Khmer. 54 Schulen, 2 Krankenhäuser und einige Heime kennzeichneten den diakonisch-pädagogischen Schwerpunkt der französisch geprägten Arbeit. Erst 1969 rief ein bischöflicher Hirtenbrief zur Integration in die Khmer-Gesellschaft auf. Die politischen Umstürze von 1970 und 1975 veränderten die Lage der katholischen Kirche tiefgreifend. Die antivietnamesischen Pogrome des Lon Nol-Regimes trafen die Kirche angesichts ihrer ausländischen Struktur und ihrer mangelnden nationalen Hai-

538

Kambodscha

tung verheerend. Ungefähr 40000 Katholiken, überwiegend Vietnamesen, und fünf Missionare wurden getötet. Mehrere Kirchen in Phnom Penh wurden in Brand gesteckt. Von der Schließung aller privaten Schulen waren auch die katholischen betroffen. Viele Pariser Missionare (MEP) flohen nach Südvietnam. So verblieben Ende 1970 nur noch ca. 20000 Katholiken mit 29 Geistlichen (12 Vietnamesen, 4 Khmer, 13 ausländische), 3 Ordensbrüdern und 54 Schwestern. Bis zum Vorabend der Regierung Pol Pot sank die Zahl auf 15 000 verstreute Mitglieder. Noch 1974 konnte ein Khmer zum Priester geweiht werden, und zwei Tage vor dem Fall von Phnom Penh wurde ein Khmer-Priester zum Bischof des Vikariates Phnom Penh geweiht. Pol Pot wies alle ausländischen Mitarbeiter der Kirche aus. Die Khnjer- Bischöfe, Priester, Schwestern u. a. hatten ihre Gläubigen auf dem Massen-Exodus zu begleiten. Nach der - vietnamesischen - Machtübernahme durch Heng Samrin scheint der aus Khmer bestehende Teil der Kirche nochmals reduziert worden zu sein. Um die Wende 1979/80 hatte die katholische Kirche 11000 Mitglieder und 36 Kirchen und Kapellen. 1985 wurde noch von „etwa 250 katholischen Familien, die sich auf vier oder fünf Gruppen verteilen", berichtet. Die Entspannung von 1979/81 scheint zurückgenommen worden zu sein. „Jedes gemeinsame Gebet ist untersagt, selbst in Familien" (W. Hunger SJ). Doch wurde m Phnom Penh eine katholische Ausgabe des Neuen Testaments in Khmer herausgegeben. Bischöfe in Kambodscha gehören zur Bishops Conference von Laos-Kambodscha (CELAC) und zur Far Eastern Bishops Conference (FABC) in Hong Kong. Diplomatische Beziehungen zum Vatikan bestehen nicht. 4. Die evangelische

Mission und Kirche

1922 kamen Mitarbeiter der Christian and Missionary Alliance (C.M.A) aus den U.S.A., evangelisierten anfangs in dem Gebiet von Phnom Penh, später auch in anderen Teilen von Kambodscha. Sie wandten sich den Khmer zu, fanden aber Zuspruch auch unter Chinesen und Vietnamesen. Erwähnenswert ist ihre Arbeit mit den Mnung Biet und Koi Stämmen im Nordosten von Kambodscha. 1964 konnte die Evangelische Kirche in Kambodscha mit 14 Ortsgemeinden in 9 der 17 Provinzen, mit 7 Pfarrern und 734 Mitgliedern gegründet werden. Infolge der antiamerikanischen Haltung der Sihanouk-Regierung mußten die 15 amerikanischen Mitarbeiter Mitte 1965 das Land verlassen. Auch alle Kirchen mußten - außer in zwei Provinzen - geschlossen werden. Die Bibel in Khmer erschien 1954 (Neues Testament 1929). Einheimische Lehrkräfte unterhielten seit 1965 die Bibelschule in Tha Khman. Von 18 Studenten konnten 5 in den Gemeindedienst eintreten, ehe die Schule von örtlichen Instanzen geschlossen wurde. 1964 standen 27 Titel einheimischer christlicher Literatur zur Verfügung, 15 davon allein 1964 erschienen. - Der Abzug der ausländischen Missionare diente der schnelleren Konsolidierung der kambodschanischen Kirche, ermöglicht durch die hohe Bewertung der Rolle der Laienprediger. Finanzielle Opferbereitschaft der Gemeinden trug dazu bei, der Kirche ein tragfähiges Fundament zu geben. So wurde sie auch wegen ihrer Integration im kambodschanischen Volk durch die Machtübernahme von Lon Nol nicht gefährdet. Sie wurde zwar nicht offiziell anerkannt, konnte aber die Gottesdienste in Phnom Penh und Battembang wieder aufnehmen. Sie erhielt bis 1973 einen zehnfachen Zuwachs an Mitgliedern. Ehe in der Revolution durch Pol Pot auch ihre Gemeinden zerstreut wurden, bestand sie aus 50 Gemeinden und 3000 Angehörigen. Zwischen 1970 und 1975 konnten amerikanische C.M.A.-Mitarbeiter der Kirche vorübergehend wieder diakonisch und evangelistisch tätig sein. 1981/82 wurde von evangelischen Khmer-Christen berichtet, daß sie in 339 Familien in sechs Provinzen und zwei Großstädten in Wohnungen zu Andachten zusammenkamen. Der einzige Pfarrer, Sieng Ang, betreute die verstreuten Gruppen. Ausländer durften an ihren Versammlungen nicht teilnehmen. Die vier kleinen Kirchen in der Hauptstadt vermochte die Gemeinde nicht wiederherzustellen. Obwohl öffentliche Gottesdienste untersagt waren, hatten 1982 „14 Leute zum Glauben an Christus gefunden". In der Bibelschule T h a Khman bildete der Pfarrer zwei Studenten zu Predigern aus. Drei Pfarrer arbeiteten in 18 Flüchtlingslagern in Thailand, in deren größtem mehrere tausend

Kanaan

539

Buddhisten in christliche D e n o m i n a t i o n e n eingetreten sein sollen. D i e T ä t i g k e i t westlicher Christen w e c k t e die H o f f n u n g , als C h r i s t a u s w a n d e r n zu k ö n n e n . Die V e r b i n d u n g auch o h n e M i t g l i e d s c h a f t - mit der Christlichen Konferenz von Asien ( C C A ) , S i n g a p u r , b e w a h r t die Evangelische K h m e r - K i r c h e vor der V e r e i n s a m u n g . D i e C C A ihrerseits wurde seit 1982 in der D i a k o n i e in K a m b o d s c h a und auch für die Versöhnung zwischen K h m e r n und V i e t n a m e s e n tätig. Die b o d e n s t ä n d i g e Evangelische K h m e r - K i r c h e erwies sich widerstandsfähiger als die k a t h o l i s c h e K i r c h e , mit der sie die U n t e r d r ü c k u n g religiösen Lebens teilte. M i t g l i e d s c h a f t in einer K i r c h e w a r g l e i c h w o h l m ö g l i c h . N a c h B a r r e t t , W. C . E . , hatte die Evangelische K h m e r - K i r c h e u m 1 9 8 0 1 0 0 0 0 M i t g l i e d e r , andere „ e v a n gelikale K i r c h e n " , die a u f die Far Eastern Gospel Crusade 1961 z u r ü c k g e h e n , und eine verstreute Rundfunkkirche (seit 1952) je c a . 2 0 0 0 Angehörige. Literatur Zu Quellen und Literatur s. auch -»Buddhismus. Bibliographien: Walter Aschmoneit, Sozialhist. Bibliogr. zu Kambodscha v. der Vorgesch. bis 1954 (2860 Titel), Münster 1981. - Lothar Schreiner, Cambodia, Laos, Vietnam: Christianity in Southeast Asia. A bibl. Guide, hg. v. G . H . Anderson, New York 1966, 2 8 - 3 3 . Darstellungen: Walter Aschmoneit/Rainer Werning (Hg.), Kambodscha. Lesebuch zu Gesellschaft, Gesch., Politik, München 1981. - A. Barnett/J. Pilger, Aftermath. The struggle of Cambodia and Vietnam, London 1982. - A. Barth/T. Terzani, Holocaust in Kambodscha, Hamburg 1981. Heinz Bechert, Buddhismus, Staat u. Gesellschaft in den Ländern des Theravada Buddhismus, Wiesbaden, II 1967. - A. H. Broderick, Little Vehicle. Cambodia and Laos, London 1949. - Buddhism in Kampuchea. Then and Now: CCA News 15 (Singapore 1980) 1 0 - 1 1 . - Cambodia in the Seventies. Report of a Finish Inquiry Commission, Tampere 1982. - Henri Chappoulie, Aux Origines d'une Eglise. Rome et les Missions d'Indochine au XVIIe Siècle, 2 Bde., Paris 1 9 4 3 - 1 9 4 8 (I: Lit.). - The disabled Child of Cambodia: CCA News 15 (1980) 1 2 - 1 4 . - Bernard Philippe Groslier (in Zusammenarbeit mit C. R, Boxer), Angkor et le Cambodge au XVIe Siècle d'après les sources Portugaises et Espagnoles, Paris 1958. - Kambodschanische Totenklage, „Adieu, meine Kinder", mit einem Vorw. v. Georg Specht, Freiburg 1982. - Justus M . van der Kroef, Communism in South-East Asia, London/Basingstoke 1981. - R. Lester, Theravada Buddhism in Southeast Asia, Ann Arbor/Mich. 1972. - R. Newman, Brahmin and Mandarin. A comparison of the Cambodian and Vietnamese revolutions: Asia Quarterly 2 , 1 4 9 - 1 6 4 ; 3 , 2 0 3 - 2 1 4 , Brüssel 1979. - Helen Penfold, Remember Cambodia, Sevenoaks/Kent 1980. - Emanuel Sarkisyanz, Social ethics of Theravada Buddhism in relation to socio-economic development problems in Southeast Asia: Southeast Asia in the modern world, Wiesbaden 1972 (Sehr, des Instituts für Asienkunde 33), 1 4 0 - 1 5 0 . - Ders, Die Religionen Kambodschas, Burmas, Laos, Thailands u. Malayas, 1975 (RM 23), 3 8 4 - 5 6 0 (Lit.). - D . J . Steinberg, Cambodia, its People, its Society, its Culture, rev. ed. New Haven 1959 (Lit.). - E. Steinhauser/I. Horlemann, Kambodscha 1979. Befreiung oder Aggression?, Köln 1979. - Walking the Third Mile? The Report of the Christian Conference of Asia (CCA) Team to Cambodia 2 5 . 9 . - 2 . 1 0 . 1 9 8 0 , Singapore 1980. - Oskar Weggel, Gesamtbericht Vietnam, Kambodscha, Laos: Südostasien aktuell. Nov. 1984, 528. 1/8/86. L o t h a r Schreiner

Kanaan 1. Die Form des Namens 2. „Kanaan" und „Kanaanäer" als geographische und genealogische Bezeichnungen 3. Begrenzung und Gliederung 4. Elemente der Geschichte 5. Wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte 6. Kanaan, Israel und das Alte Testament (Quellen/Literatur S. 555) Die Bezeichnung „Kanaan" ist a) ein seit dem 3. Jt. nachweisbarer, unterschiedlich verwendeter geographischer Name. Daraus hat sich b) in der historischen Forschung der Sprachgebrauch herausgebildet, als „kanaanäisch" den syrisch-palästinischen Bereich überhaupt zu bezeichnen, wobei vorausgesetzt ist, daß dieser als einheitlicher Kulturraum zu betrachten ist. c) Schließlich findet sich im Alten Testament eine bestimmte theologische Wertung, welche mit dem Ausdruck „Kanaan" Assoziationen einer ethnischen und religiösen Größe verbindet, welche derjenigen Israels völlig entgegengesetzt ist.

540

Kanaan

1. Die Form des

Namens

Der Name wird in einzelnen Sprach- bzw. Schrifttypen unterschiedlich wiedergegeben. Keilschriftlich sind (unter Vernachlässigung des ')kä-na-na (u.a.) in Ebla und """Keen-a-nik' in Alalah belegt. Bei der (häufigeren) Wiedergabe des ' durch h entstehen Schreibungen wie Ki-na-ah-num u.ä. und (ohne das Afformativ -n) Ki-na-ah-hi u.a. sowie Gentilizien wie Ki-na-ah-hi, Ki-na-ha-a-a-u u. ä. Ägyptische Texte geben den Namen mit Kjn'nw, Kin'ni usw. wieder. In den keilalphabetischen Texten von Ugarit schließlich findet sich einmal das Gentilizium kn'ny. Die alttestamentliche Überlieferung vokalisiert kn'n als k^naän, woraus sich dann ähnliche Namensformen in Tochterübersetzungen erklären: griechisch Xavaav, entsprechend lateinische und syrische Namensformen. Andere griechische Versionen des Namens entstammen nicht alttestamentlicher, sondern phönizischer Tradition, so die Lautung Xvä (ohne auslautendes -«), wie bei den oben genannten Beispielen. Was die Etymologie betrifft, wird man von einer ursprünglich dreiradikaligen Basis ausgehen können, die überwiegend durch das Afformativ -n verlängert ist. Neben einer Vielzahl anderer Erklärungen stehen zwei Herleitungen im Vordergrund: Die traditionelle Deutung verbindet Kanaan mit dem Verb kanä' „(sich) beugen" u.ä. und versteht darunter „Tiefland" (in Anlehnung an bestimmte alttestamentliche Verwendungen des Namens, vgl. u.); doch könnte auch das „Westland" (in dem die Sonne untergeht) gemeint sein. Demgegenüber ist vermutet worden, daß der rote Purpur, ein wichtiger Exportartikel der phönizischen Küstenregion, der nach Belegen aus Nuzi kinahhu heißt, dem Gebiet den Namen gegeben hätte (analog (poivii, — Purpur, daher die Bezeichnung „Phönizien" u.a.); doch ergeben sich sprach- und kulturgeschichtliche Probleme (kinahhu gehört wohl mit akk. uqnü „Lapislazuli" zusammen). Die etymologische Frage bleibt ungeklärt. 2. „Kanaan"

und „Kanaanäer"

als geographische

und genealogische

Bezeichnungen

Die frühesten Belege für die Verwendung des Namens finden sich in den Archiven von Ebla: Hier ist mehrfach von einem Gott mit der Bezeichnung äBAD kä-na-na(-um) u.ä. (wohl „Herr" oder „Dagan" von Kanaan) die Rede. Parallel zum Ausdruck „BAD von Kanaan" erscheinen an anderen Stellen Städtenamen oder auch die Bezeichnung „BAD des Landes" (sc. des eigenen). Der „BAD von Kanaan" gehört dabei zu den offiziellen Opferempfängern (MEE 2,3 v. III 3 - 4 ; OrAnt 18 [1979] 3 v. XI 11 ff; vgl. weiter A R E T 3,31 r. II 13; 42 III 6; VII 6; 769 II 1; ARET 4,23 v. VIII 4); daraus scheint hervorzugehen, daß „Kanaan" Landschaftsbezeichnung (allerdings fehlt ein entsprechendes Determinativ!) für eine Region ist, mit welcher der eblaitische Staatskult befaßt ist; sie wäre demnach in Nordsyrien zu lokalisieren, vielleicht sogar im Bereich, in dem Ebla selbst liegt. Sodann erscheint der Name Kanaan im Mari-Brief A 3552 v. 9, der ins 18. Jh. zu datieren i s t : h a b b a t u m ü '"Ki-na-ah-nummes „Räuber und Kanaanäer" bzw. „kanaanäische Räuber") werden (neben anderen) als Verteidiger der (nicht lokalisierbaren) Stadt Rahis genannt, wohl als Söldner. Deutlicher werden die geographischen Verhältnisse bei Idrimi von Alalah Anfang 15. Jh.: Die aus den Amarna-Briefen bekannte Stadt Ammija wird lokalisiert ina ma-at Ki-na-nimk' (Idr. 18 f, ANET S. 557). Diese Stadt ist eventuell mit Amjun bei Tripolis zu identifizieren, Kanaan wäre demnach im nördlichen Libanon zu suchen. Die keilalphabetischen ugaritischen Texte erwähnen einmal in einem Wirtschaftstext (KTU 4.96, 7) neben anderen fremden Händlern (z. B. einem Ägypter und einem Asdoditen) y'l kn'ny - „Jael den Kanaanäer"; kn'n ist offenbar nicht Selbstbezeichnung der Region Ugarits. In den Amarna-Briefen - also der in akkadischer Keilschrift verfaßten diplomatischen Korrespondenz des ägyptischen Hofes mit Partnern in Syrien-Palästina und ferner liegenden Gebieten - ist im Hinblick auf die Verwendung von Kanaan zu unterscheiden zwi-

Kanaan

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sehen engerem und weiterem Sprachgebrauch: Kanaan (auch H j rw genannt) ist eine ägyptische Provinz (EAT 36,15) und als solche einem Statthalter unterstellt (EAT 148,46); von den Großmächten wird dies anerkannt (Babylon: EAT 8 , 1 3 - 4 1 ; 9 , 1 9 - 3 0 ; Mitanni: EAT 30,1 f). Als Gebietsbegrenzung werden genannt: im Süden Ägypten; im Norden (nördlich von Byblos) die Provinz Amurru mit der Hauptstadt Simyrna; und im Nordosten Upe (Biqa' und Raum Damaskus, Hauptstadt Kumidi). Ausdrücklich als „Städte Kanaans" sind genannt Hinnatuni (EAT 8,17), Tyros (EAT 148,46) und Byblos (EAT 109,46; 131,61; 137,76). Ein deutlich weiteres Bedeutungsfeld hat die Bezeichnung Kanaan in EAT 151,50: Hier gehören neben Tyros und Sidon auch Ugarit, Quades am Orontes, Amurru und Upe mit in das gemeinte Gebiet. Nach EAT 36,15 wird der ganze asiatische Besitz Ägyptens unter Kanaan subsumiert, und nach EAT 162,40 f ist die Provinz Amurru inbegriffen. Ägyptische Texte bezeugen „Kanaan" seit der 1. Hälfte des 14. Jh., zuerst im Zusammenhang mit dem Asienfeldzug Amenophis' II; dabei werden die Namen Kjn'nw und Hlrw - wie in den fast zeitgenössischen akkadischen Dokumenten der Amarna-Korrespondenz- parallel genannt. Gelegentlich wird Kanaan tl „Land" genannt, in der Mehrzahl der Fälle ist darunter eine Stadt verstanden, und zwar wahrscheinlich Gaza. Identisch damit ist gewiß die „Ramsesstadt in Kanaan" in Briefen Ramses II. an Hattusili III. Auch auf der sogenannten Israel-Stele des Merneptah ist Kanaan eher als Städte- denn als Ländername aufzufassen (ANET 378). In späterer Zeit verschwindet der Begriff aus dem geographischen Vokabular Ägyptens. Die phönizische Überlieferung der hellenistisch-römischen Zeit verwendet den Namen Kanaan vielfach; so heißt etwa die Stadt Berytos (Beirut), phönizisch L'dK' 'sr bKti'n, griech. Aaoöaceia r\ EV (poiviKq. Damit ist (wie in Mk 7,26 = Mt 15,22) eine Gleichsetzung zwischen Kanaanäer und Phönizier vorausgesetzt. Die Bezeichnung wandert mit der phönizischen Kolonisation nach Nordafrika. Eine punische ex voto-Stele aus Constantine (ca. 3. Jh. v. Chr.) bezeichnet jemanden als 's knn, ohne daß klar würde, ob es sich um die Bezeichnung eines punischen Nordafrikaners oder die Herkunftsbezeichnung eines Phöniziers aus der Levante handelt. Jedenfalls nennen sich punische Bauern noch im 4. Jh. n. Chr. Chanani (PL 35,2096). Doch ist der Name nicht nur geographischer Terminus, sondern er erscheint auch als Element in der Genealogie der Kulturbringer. Nach Sanchunjaton (ca. 7. Jh. v. Chr.), einem phönizischen Priester und Gewährsmann von Philo Byblios (ca. 6 4 - 1 4 1 n. Chr.), ist Xvä der Bruder des Kulturheroen Eisirios; Philo fügt hinzu, er habe als erster den Namen Phoinikos getragen (FGH 790 F 2,39). Auch das Alte Testament verwendet den Ausdruck Kanaan zunächst als geographischen Terminus. Nach alter Überlieferung ist in Jdc 5,19 von den „Königen Kanaans" die Rede (wie in den Amarnabriefen, vgl. EAT 30,1; 109, 46). Konkret sind die Herrscher der Stadtstaaten im Umfeld der Jesreel-Ebene gemeint, gegen die sich die Stämme Sebulon und Naphtali erheben. Ähnlich bezeichnet das „negative Besitzverzeichnis" in Jdc 1,27 ff (vgl. I Reg 9,16; Jos 16,10; 17,12 ff) als Kanaan die vorisraelitische Stadtbevölkerung, welche teilweise durch die Israeliten verdrängt wird, teilweise jedoch im Land wohnen bleibt. Eine Reihe weiterer Stellen nennt Nachbarregionen Israels „Kanaan", insbesondere Phönizien (Jes 23,11; Ob 20; Jos 13,4; II Sam 24,7), aber vielleicht auch Philistäa (Zeph 2,5, wohl ein Zusatz; vgl. aber auch Jos 13,3), und in Gen 10,17f ist „Kanaan" durch eine Liste von fünf phönizischen Städten von Arwad und Hamath im Norden bis Sumur (wohl in der Nähe von Tripolis zu lokalisieren) im Süden bestimmt, allerdings im Zusammenhang mit einer Version der traditionsgeschichtlich jüngeren Liste vorisraelitischer Völker Palästinas (s.u.). Von der Identität Kanaans mit der Handelsnation der Phönizier leitet sich dann der Sprachgebrauch ab, der im „Kanaanäer" den (phönizischen, vgl. Jes 23,8) Händler sieht; dabei kann ein negativer Unterton mitschwingen (z. B. Hos 12,8) oder auch nicht (z.B. Prov 31,24); die geographische Konnotation verschwindet wohl weitgehend.

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Die meisten alttestamentlichen Belegstellen jedoch rechnen die Kanaanäer summarisch zu den Völkern, welche in vorisraelitischer Zeit das verheißene Land bewohnt hätten. Eine genauere Lokalisierung unterbleibt meist. Andeutungsweise erfolgt sie in N u m 13,29: Die Kanaanäer siedeln an der Küste und in der Jordansenke, die Hethiter, Jebusiter und Amoriter auf dem Gebirge, die Amalekiter im Süden. Die Konkretion ist scheinbar, tatsächlich liegt eine starke Schematisierung vor; Jebusiter (die vorisraelitische Bevölkerung Jerusalems) und Amalekiter (im Negev) lassen sich relativ genau lokalisieren, „Amoriter" ist ein so unscharfer Begriff wie „Kanaanäer" (Amurru in Mesopotamien: „Westleute", Sammelbezeichnung für im Westen siedelnde Gruppierungen; nach ägyptischem Sprachgebrauch Name einer syrischen Provinz, s.o.), und die „Hethiter" haben wohl den syrischen Raum beeinflußt, ohne aber je im Raum Palästinas gesiedelt zu haben. Die Vorstellung, die Kanaanäer hätten insbesondere die Niederungen, andere Völkerschaften das Gebirge besetzt gehabt, begegnet auch sonst (Dtn 1,7; Jos 17,16). Die geographisch meist nicht differenzierte Aufreihung der vorisraelitischen Völker umfaßt zuweilen zwei Glieder (Kanaanäer und Perizziter in Gen 13,7; 34,30, Kanaanäer und Amalekiter in N u m 14,25.43.45), meist aber mehr; summierend ist von einer Siebenzahl vertriebener bzw. zu vertreibender Völker die Rede (Dtn 7,1), doch werden im Einzelfall meist etwas mehr oder weniger Glieder aufgezählt (Ex 3,8.18; 13,5; 15,14ff; 23,23.28; 33,2; 34,11; Dtn 20,17; Jos 3,10; 9,1; 11,3; 12,8; 24,11 usw.), wobei die einzelnen genannten Ethnien selten sicher, meist nur vermutungsweise lokalisierbar sind (einerseits z. B. die Jebusiter, andererseits z. B. die Perizziter — im Raum von Sichern, Gen 34,30) und z. T. gar nie in Palästina gesiedelt haben (neben den Hethitern auch die Horiter = Hurriter). Die Belege gehören ins Umfeld der Deuteronomistik. „Kanaanäer" ist jedoch auch Sammelbezeichnung für diese Völker, u. a. in Texten, die man traditionell dem Jahwisten zuweist (Gen 12,6; 24,3.37; 28,1.6.8; 36,2; 50,11, aber auch Ex 15,15 usw.). Genauso wie in einigen Erzählschichten „Kanaanäer" Sammelbegriff für diese vorisraelitische Bevölkerung ist, ist es andernorts der Ausdruck „Amoriter" (Gen 15,16; 48,22, herkömmlicherweise „ E " zugerechnet; auch Jos 10,12; Am 2,9f) und in der Priesterschrift „Hethiter" (Gen 23,5.7 usw.). Der Ausdruck „Land Kanaan" kommt praktisch nur in späten Texten vor und bezeichnet das verheißene Land (Ausnahme: Jdc 21,12, wo die Formulierung offenbar präziser gemeint ist und die Lage von Silo qualifiziert); so in P (hier ist als Land Kanaan speziell das Westjordanland gesehen, Gen 13,12; Ex 6,4; N u m 13,2.17 usw.; in N u m 34,2, vgl. Jos 15,1-4, findet sich noch eine Grenzbeschreibung, die auf alte Tradition zurückgeht und ungefähr die alte ägyptische Provinz Kanaan - mit Upe, aber ohne Amurru — umfaßt), in relativ jungen Erzählkomplexen der Genesis wie der Josephs-Erzählung und an einigen deuteronomistischen Stellen. Der Name Kanaan ist insgesamt weniger ein geographischer als ein theologischer Terminus, indem er das Land Israels unter einer Fremdbestimmung, doch als Gegenstand der Verheißung kennzeichnet. Daneben ist Kanaan - wie im phönizischen Bereich - Ahnherr, er hat damit seinen Ort im System der Genealogien: Nach Gen 9,24ff ist er Sem und dessen Gott Jahwe in einem Fluchspruch untergeordndet, wobei weder das Verhältnis zwischen Kanaan und Ham (vgl. 10,6) noch das zwischen Japhet und den beiden anderen Figuren genau klärbar ist; generell ist hier gewiß die Unterordnung der Kanaanäer unter die Israeliten, in einer Projektion in die Vorzeit, zur Sprache gebracht. In 10,15 ff wird die Genealogie Kanaans in eine uneinheitliche geographische Beschreibung überführt, wobei die genannte Städteliste, die stereotypisierte Völkerliste und eine (der Städteliste widersprechende) Begrenzung, die etwa dem nachmaligen Israel entspricht, kombiniert sind. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß „Kanaan" eine mehrdeutige geographische Bezeichnung ist, die weitere oder engere Bedeutung haben kann. Dabei variiert diese engere Bedeutung im Laufe der geographischen und historischen Verbreitung beträchtlich. Von Norden her verwenden offenbar die Texte aus Ugarit und Alalah den Namen Kanaan für die Bezeichnung fremden Gebiets, verstehen sich selbst also nicht als „kanaanäisch"; bei Ebla scheint es sich anders zu verhalten. Wie eng oder weit der geographisch

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bezeichnete Raum ist, bleibt aber dunkel. Von Ägypten her ist Kanaan einerseits konkret Name einer Provinz, noch präziser einer Stadt; andererseits ist aber auch ein weiterer Sprachgebrauch zu beobachten, der den gesamten Raum Syrien-Palästina umfaßt. Der alttestamentliche Sprachgebrauch geht meist von dieser summarischen Bezeichnung aus; „Kanaanäer" ist Sammelbezeichnung für die Bevölkerung in Syrien-Palästina, soweit sie nicht- bzw. vorisraelitisch ist. Hauptkriterium dieser Unterscheidung ist ein religiöses; es geht darum, ob Jahwe (allein) verehrt wird oder nicht. Dieser Sprachgebrauch macht deutlich, daß auf der einen Seite der syrisch-palästinische Raum in gewissem Sinne als Einheit aufgefaßt werden kann; es ist der Bereich, in dem die „Sprache Kanaans" (Jes 19,18) gesprochen wird, in welchem ein intensiver kultureller Austausch stattfindet und zu dem auch Israel gehört. Im folgenden ist sowohl diese kulturelle Einheit des kanaanäischen Raumes im weiteren Sinn darzustellen als auch der Prozeß zu erläutern, durch welchen sich Israel aus diesem Bereich Kanaans ausgrenzt und ihn als Gegensatz zu sich selbst versteht. 3. Begrenzung

und

Gliederung

Der großräumig verstandene Bereich Kanaan ist im Westen durch das Mittelmeer begrenzt; dies ermöglicht (jedenfalls im nördlichen, viel weniger im südlichen, später israelitischen Bereich) Handelsverbindungen zur See, die insbesondere seit dem 2. vorchristlichen Jt. genützt werden, aber schon früher eine bedeutende Rolle spielen. O b dabei nur küstennahe Schiffahrt vorauszusetzen ist, ist zumindest fraglich und mit guten Gründen bestritten worden. Jedenfalls ist ein Kulturaustausch mit den benachbarten mediterranen Räumen (Ägäis und Ägypten) seit dem ausgehenden 4. Jt. möglich. Im Norden grenzt Kanaan an zwei benachbarte Kulturräume an, mit denen ein Austausch besteht. Weniger bedeutsam ist Kleinasien; viel wichtiger ist im Nordwesten die räumliche Nähe zum mesopotamischen Bereich, der ähnlich wie der kanaanäische als relative kulturelle Einheit angesprochen werden kann. Im Osten besteht eine natürliche Begrenzung durch Steppe und Wüste; der Durchgang in den mesopotamischen Kulturraum ist hier bedeutend schwieriger als im Norden, weshalb der Austausch in dieser Region auch verhältnismäßig gering ist. Im Süden stößt Kanaan an Ägypten; je nach zeitlicher Epoche und entsprechender Ausdehnung des ägyptischen Reiches ist der ägyptische Einfluß in Kanaan größer oder kleiner. Die geographische Gliederung des Raums, deren Charakteristika Siedlungsformen und deren kulturelle wie politische Rollen prägen, ist komplex. Einerseits läßt sich eine nord-südlich verlaufende Gliederung in vier Streifen feststellen: Küstenebene, westliches Hochland, Senkungsgraben, östliches Plateau. Daneben geben Trennungsbrüche, welche von Nordwesten nach Südosten verlaufen, dem Land das Gepräge. Dadurch kommt es zur Bildung verschiedener relativ deutlich voneinander gesonderter Regionen: Im nördlichen Syrien, nördlich von Tripolis, verläuft eine zentrale Verkehrsverbindung vom „Euphratknie" über Halab (Aleppo) nach Hamath und von da aus weiter südwärts. Die südliche Grenze dieser Region besteht in einem Graben, welcher wiederum eine wichtige Verbindung zwischen Mesopotamien und der Levante ermöglichte: die Route Tripolis - Homs-See - Oase von Palmyra - Mari und Euphrattal insgesamt. Die Verbindung zwischen Mesopotamien und der Levante ist hier also besonders eng. Politische und ökonomische Schwergewichte der Region lagen an der Küste (Hafenstädte Ugarit und Arwad), im syrischen Graben (Orontestal) mit Städten wie AlalaJj, Ribla, Hamath, Qatna und Qades sowie im Übergangsbereich nach Mesopotamien hinein (Ebla und Halab). Die bewaldeten Höhen des Amanus waren - wie auch die südlicheren Regionen Libanon und Antilibanon - Lieferanten von Holz und Harz, sowohl nach Mesopotamien als auch nach Ägypten. Das Libanon-Antilibanon-Gebiet zwischen Tripolis und Tyros wird dominiert durch die Gebirgskette des Libanon; die Küstenebene ist schmal, zum Teil stößt das Gebirge bis ans Meer. Hier fällt relativ viel Regen, worauf die starke Bewaldung in der Antike, die

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freilich übermäßig genutzt wurde, zurückzuführen ist. Eine Kluft in der Antilibanonkette stellt die Oase von Damaskus dar, welche politisch und verkehrsmäßig als Karawanenstützpunkt eher nach Osten orientiert ist. Wesentlich ist auch die Stadt Kumidi, die zeitweise ein politisches Zentrum bildete. Das politische Schwergewicht dieser Region liegt aber in den Küstenstädten, welche im Handel zur See dominieren: Byblos, Beirut, Sidon, Snarepta, Tyros und Akko. In der später israelitischen Z o n e (—»Palästina) zwischen den Linien Tyros — Dan im Norden und Jerusalem - Gezer im Süden ist zunächst der ausgeprägte Graben auffällig, der vom Hule-See zum galiläischen Meer und zum Toten Meer führt. Hier finden sich alte Ortschaften, insbesondere Jericho, eine seit frühester Zeit besiedelten Oase. Im westlichen Hochland senken sich die Gebirge von Libanon und Antilibanon langsam ab und gehen in Berg-, dann in Hügelland über. Verschiedene Senkungsgräben bilden die JesreelEbene, ein Sumpfgebiet, welches die Nord-Süd-Gebirgskette unterbricht. Die Haupthandelsroute von Damaskus her führt südöstlich den Antilibanon entlang nach Hasor und Megiddo, welches mit anderen stark befestigten Siedlungen zusammen (z.B. Beth-Sean, Tanaak usw.) den Bereich der Jesreelebene zu einem politischen Schwerpunkt macht; von da aus geht die via maris durch die Saronebene in Richtung Ägypten. Eine andere wichtige Verbindung führt von Megiddo in Richtung auf die phönizischen Küstenstädte. So findet sich hier eine zentrale Verkehrslage, welche durch die genannten Städte kontrolliert wird. Das mittelpalästinische Hügelgebiet, von unterschiedlicher landwirtschaftlicher Nutzbarkeit, ist kleinräumig gegliedert; es enthielt ebenfalls Städte (wie etwa -»Sichern). Die später judäische bzw. philistiäische Z o n e ist zunächst durch die relativ breite, von der Haupthandelsstraße durchzogene Küstenebene gekennzeichnet; sie ist durch eine Anzahl stark befestigter Städte besiedelt (Asdod, Askalon, Gaza, Lakis u.a.), welche in der Bronzezeit stark unter ägyptischem Einfluß standen und seit der Eisenzeit weitgehend philistäisch besetzt waren. Das östlich sich anschließende Hochplateau und das judäische Bergland waren dünner besiedelt, die bestehenden Städte kleiner. Der nord-südliche Graben wird im Bereich des Toten Meeres besonders tief. Nur bedingt zu Kanaan zu rechnen sind in dieser Region die jenseits des Grabens gelegenen, vorwiegend für Kleinviehzucht geeigneten und wenig durch Städte geprägten Siedlungsgebiete der Ammoniter und Moabiter, mit denen sich immerhin Kulturaustausch ergab, sowie der Negev, durch welchen Verbindungswege nach Ägypten und in den arabischen R a u m (Golf von 'Aqaba) führen. Die landwirtschaftliche Nutzbarkeit (es handelt sich durchwegs um Regenfeldbau) hängt unmittelbar mit der Niederschlagsmenge zusammen. Reichlichere und zuverlässigere Regenfälle als im Süden ermöglichen im nordsyrischen R a u m eine intensive Ackerbaukultur und entsprechend dichte Besiedelung; weit ins Inland hinein findet sich gutes Steppenland. Hier kommt es, im Kontakt zu den Kulturräumen Mesopotamiens und Kleinasiens, zur ausgeprägtesten Ballung politischer Kraft mit entsprechend starken Staatenbildungen. Nach Süden und gegen die Wüste hin werden diese Faktoren schwächer. Im Vergleich mit den politisch großräumig organisierten Nachbarbereichen Mesopotamien und Ägypten ist Kanaan mit seinen zahlreichen politischen Zentren vielfach untergliedert, ein Durchgangsland mit Handelsbeziehungen zu allen Seiten, damit allen möglichen kulturellen Einflüssen offen. 4. Elemente

der

Geschichte

Die Quellenlage zur historischen Erforschung ist höchst uneinheitlich. Neben einer großen Breite archäologischer Befunde, die aussagekräftig sind hinsichtlich der Siedlungsgeschichte, aber sich häufig einer eigentlich historischen Interpretation entziehen, sind direkte Informationen durch Texte eher spärlich. Im Hinblick auf wenige Schwerpunkte besteht bedeutende Dokumentation: Die Archive der Stadt Ebla aus dem 3. J t . geben eine Vielzahl von Informationen, deren Auswertung aber erst anläuft; die spät-

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bronzezeitliche Epoche ist gut dokumentiert in Ugarit; in Alalah sind zahlreiche Texte aus dem 18./17. und 15. Jh. erhalten; und über das 1. Jt. informiert insbesondere zum südlichen Bereich die literarische Überlieferung des Alten Testaments, die freilich einen erheblichen Umformungs- und Kanonisierungsprozeß durchlaufen hat und entsprechend kritisch verwertet werden muß. Die Spuren vorgeschichtlicher Besiedlung Kanaans reichen weit zurück. Paläolithische und mesolithische Siedlungsreste zeigen das Vorhandensein von Wildbeuterkulturen; seit dem Neolithikum manifestieren sich Pflanzerkulturen. Besonders aufschlußreich ist die archäologische Arbeit an der Stadt -»Jericho. Nach Siedlungsspuren aus dem Mesolithikum, die offensichtlich noch wildbeuterischen Kulturen zuzuweisen sind, kommt es im präkeramischen Neolithikum (frühes 8. Jt.) zur Ausbildung einer Stadtkultur mit Befestigungen. Jetzt ist - im dafür besonders günstigen Bereich der Oase - Ackerbau vorauszusetzen; die soziale Organisation ist so entwickelt, daß Stadt- und Mauerbau möglich sind. Schwierig ist zu beurteilen, inwieweit Jericho für die Siedlungsgeschichte in Kanaan repräsentativ ist. Sicher handelt es sich nicht um einen absoluten Einzelfall; auch das präkeramische Ugarit (-»Phönizien und Israel) ist befestigt, desgleichen £atal Hüyük und Hafilar in Zentralanatolien, und doch scheint die Städtebildung noch relativ selten gewesen zu sein. Die Städte erreichten z. T. bereits eine beachtliche Größe; Ugarit besteht im präkeramischen Neolithikum in fast derselben Ausdehnung wie in der kulturellen Hochblüte der Spätbronzezeit. Typisch für das Neolithikum sind indessen dörfliche Ackerbaukulturen, wie sie für Palästina etwa in Sa'ar ha-Golan nachgewiesen wurden: Wilder Weizen war insbesondere am Nordende des Jordantales im Überfluß vorhanden, und deshalb kam es zur Ausbildung einer Pflanzerkultur (das sogenannte Yarmukium). Diese Siedlungsschicht kann mit der keramisch-neolithischen Schicht B in Jericho aufgrund verwandter Keramik verbunden werden; analoge Bandkeramik ist auch in Byblos nachzuweisen, sie bildet ein Element des damaligen Kulturaustausches. Für das junge Neolithikum ist die dörfliche Kultur typisch, obwohl sich daneben bereits Städte finden. Seit dem Ende des 4. Jt., im Chalkolithikum und in der Frühbronzezeit, wird der Übergang von der Dorfkultur zur Stadtkultur zu einem verbreiteten Phänomen, wobei sich dies bereits in einem Kulturaustausch innerhalb des ganzen fruchtbaren Halbmondes und darüber hinaus (nach Anatolien und dem Kaukasus hin) abspielt. Es kommt zur Gründung oder Neukonsolidierung verschiedener Städte, die später Gewicht haben. Im Norden ist Ugarit zu nennen (mit Handelskontakten nach Zypern einerseits, nach Mesopotamien und Iran andererseits). Auch Byblos erhält (nach neolithischen Anfängen) neue Impulse zu Beginn des 3. Jt.; der Stil der Stempel auf Krughenkeln erinnert an die ägyptischen Hieroglyphen, weist aber auch Beziehungen zu Siegeln der Djemdet-Nasr-Epoche in Mesopotamien auf. Im später israelitischen Bereich sind Siedlungen belegt in Jericho, Megiddo, Beth Sean, Beth Yerah, Ai. Südpalästina ist noch nicht mit einer Stadtkultur überzogen. Auffällige Unterschiede bestehen zwischen den nordsyrischen Küstenstädten und den eher im Inneren des Landes gelegenen Siedlungen; letztere weisen kaum Importprodukte auf, sind also wenig von den Handelsbeziehungen betroffen, die im Norden bereits in reichem Maße nach den verschiedenen Kulturzentren hin bestehen. Anscheinend kommt es in dieser Epoche zu einer ersten größeren Entwaldung; die Rodung dient ebenso der Gewinnung von Ackerland wie dem Export nach Mesopotamien und Ägypten, entsprechend treten anschließend Erosionserscheinungen auf. Ein Rückgang der städtischen Kultur ist gegen Ende der Frühbronze-Zeit zu beobachten; zwischen 2400 und 2100 bricht in verschiedenen Städten die Siedlungstätigkeit für eine gewisse Zeit ab, ohne daß die Gründe immer klar wären. Mancherorts sind Spuren gewaltsamer Zerstörung deutlich. In diese Epoche gehört die Blütezeit des Reiches von Ebla, die dokumentiert ist durch archäologische Aufschlüsse und historische Quellen (Tontafel-Archiv mit vorwiegend wirtschaftlichen, aber auch religiösen und schulischen Texten). Weitreichende politische,

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ökonomische und kulturelle Beziehungen sind zu beobachten; es bestehen Verbindungen mit Kis und anderen Zentren Mesopotamiens, nach Westen mit Byblos usw. Die Lesung zahlreicher Ortsnamen ist noch umstritten, so daß der geographische Horizont Eblas noch nicht feststeht (so ist es z.B. fraglich, ob Assur bereits genannt ist). Der Kulturaustausch mit Ägypten ist durch Stücke datierbarer, welche den Namen des Pharaos Chefren (4. Dynastie; dieser Herrschername ist gleichfalls in Byblos belegt) tragen. Mit der rivalisierenden Stadt Mari befindet sich Ebla im Krieg. Ebla ist politisch und kulturell sehr nach Osten hin orientiert; es ist (nach heutigem Wissensstand) ein äußerster Ableger der sumerisch-akkadischen Kultur, wenngleich mit ausgeprägten eigenständigen Zügen, sowohl was die Sprache als auch was den Aufbau der Gesellschaft betrifft. Auch nach der Zerstörung der Stadt in der Frühbronze-Zeit (wohl im Zusammenhang mit Kämpfen gegen das Reich von Akkad) geht die Siedlungstätigkeit weiter; Ebla wird noch in syrischen und ägyptischen Texten des 14. Jh. genannt. Aus dem mesopotamischen und ägyptischen Bereich liegen zahlreiche Hinweise zum frühbronzezeitlichen Kanaan vor. Für Mesopotamien (-»Babylonien und Israel) kommen einige Königsinschriften seit der frühdynastischen Zeit in Betracht. Lugalzagesi von Umma gibt vor, den Handelsweg „vom oberen Meer bis zum unteren Meer" zu kontrollieren, Meskigala von Adab "Spricht vom Import von Bauholz aus dem Amanus, dem Zedernbergland. Sargon unternimmt in der Akkad-Zeit seinen ersten Feldzug bis Tuttul am Euphrat und Mari; auf dem zweiten Feldzug gelangt er nach Ebla, zum Libanon, Amanus und Taurus. Die Machtentfaltung der Ur Iii-Zeit im 21./20. Jh. wirkt sich mannigfaltig auf den kanaanäischen Raum aus; in Qatna ist eine mesopotamische Kolonie nachgewiesen, und der König Ibdati von Byblos legt sich den sumerischen Titel ensi zu; offensichtlich ist in diesem Zeitpunkt der mesopotamische Einfluß stärker als die traditionelle Bindung nach Ägypten hin, das sich im Kollaps der ersten Zwischenzeit befindet. Die Beziehungen —>Ägyptens zum kanaanäischen Raum sind bereits für die vorgeschichtliche Zeit gut dokumentiert. Der Handel zwischen Kanaan und Ägypten verstärkt sich unter den Thiniten; Namen vor- und frühgeschichtlicher Könige Ägyptens (Narmer, König „Schlange") sind auf Scherben in Palästina belegt. Insbesondere Holzimporte sind wesentlich, seit vorgeschichtlicher Zeit ist in Ägypten Koniferenholz syrischer Provenienz belegt, und aus der 1. Dynastie sind entsprechende schriftliche Mitteilungen erhalten. Die Verbindungen Ägyptens zum frühbronzezeitlichen Byblos sind genau datierbar durch eine Scherbe mit dem Namen des Chasechemui (2. Dynastie) und Inschriften von Pharaonen der 4., 5. und 6. Dynastie. Zu dieser Zeit besteht starker Kultureinfluß Ägyptens auf Byblos, von wo aus die ägyptischen Exporte ostwärts gehen. Immer wichtiger werden Zedernholzexporte aus dem Libanon nach Ägypten; eine ausführliche historische Angabe dazu findet sich aus der Zeit von Snofru (4. Dynastie). Ein weiteres wichtiges Exportprodukt war Olivenöl; Gefäße syrischer Herkunft sind in Gräbern vielfach erhalten. Analog zum Ende des Alten Reiches in Ägypten und vielleicht im Zusammenhang mit Umbrüchen in Mesopotamien kommt es zu einem Niedergang der kulturellen Entwicklung im kanaanäischen Bereich mit häufigen Siedlungsabbrüchen. In der Mittelbronze-Zeit, deren Beginn ungefähr 1950 anzusetzen ist, erscheinen neue Bevölkerungselemente, im nordsyrischen Raum insbesondere die Hurriter, die bereits im 3. Jt. im Osttigrisgebiet festzustellen sind, jetzt aber im gesamten nordmesopotamischsyrischen Raum eine wichtige Rolle zu spielen beginnen. In Kanaan kommt es zur Ausbildung einer gewissen Einheitskultur, die sich von Ugarit bis zu den südlichen Wüstenrändern nachweisen läßt. Zur Zeit der Konsolidierung des amoritischen altbabylonischen Reiches zeigen sich in Kanaan häufige Zerstörungen und Wiederaufbauten der Städte. Die altbabylonischen Archive von Mari geben einige Aufschlüsse über Syrien-Palästina im 18./17. Jh. Der westliche Horizont der Mari-Texte reicht bis Hattusa in Kleinasien, Kreta in der Ägäis und Hasor in Palästina, welches dort offenbar eine dominierende Rolle spielt. Jeder Hinweis auf Ägypten (13. Dynastie) fehlt. Mari ist für den Norden Kanaans dominierendes Kulturzentrum. Hinsichtlich der politischen Verhältnisse im syrischen

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Raum ist deutlich, daß Jamhad mit der Hauptstadt Halab das größte Gewicht hat; der Fürst von Alalah ist Vasall von Jamhad. Daneben bestehen anders zentrierte Abhängigkeitsverhältnisse; Aplahanda von Karkemis ist Vasall Samsiadads von Assur, der mesopotamische Einfluß auf Nordsyrien ist also deutlich. Ugarit und Qatna spielen bedeutende Rollen. Im Bereich des Libanon und weiter südlich findet sich in der Mittelbronze-Zeit wieder stärker ägyptischer Einfluß. Die Holzexporte sind seit Amenemhet I. wieder im Schwange, in Byblos ist die ägyptische Präsenz inschriftlich seit Amenemhet III. wieder bezeugt. Jetzt ist auch lebhafter Import ägyptischer Kunstschätze zu beobachten; es dürfte sich dabei in erster Linie um ausrangiertes Kultmaterial handeln. Der Import ägyptischer Waren führte zu einer reichen Imitationskultur, indem byblische Handwerker in ägyptischem Stil zu arbeiten begannen. Der König von Byblos führt während der 12. Dynastie einen ägyptischen Ehrentitel, was die Beziehungen dokumentiert, und auch während der 13. Dynastie halten diese .an. Andererseits findet sich gegen Ende der 12. Dynastie noch ein anderer Typus ägyptischer Quellen im Hinblick auf Kanaan, und zwar die sogenannten Ächtungstexte. Dabei handelt es sich einerseits um Scherben zerbrochener Gefäße, andererseits um Figürchen, welche mit Namen kanaanäischer Siedlungen und deren Fürsten versehen sind. In magischen Ritualen wurde die Macht dieser potentiellen Gegner zunichte gemacht. Wahrscheinlich handelte es sich dabei nicht um ein Begleitritual zu militärischen Aktionen, sondern um magische Sicherung der Karawanenwege. Genannt sind später wichtige Orte wie Askalon, Jerusalem, Sichern, Beth Semes, Hasor, Akko, Tyros und Byblos. Bei bestimmten Orten (z. B. Byblos) ist nicht der (offenbar als ägyptischer Beamter gesehene) Herrscher als Feind genannt, sondern die Bevölkerung des Umlandes; eine politische Kontrolle Ägyptens über Kanaan besteht nicht, sondern lediglich kulturell-ökonomische Dominanz an einzelnen Orten. Im 17./16. Jh. kommt es wiederum häufig zu Siedlungsabbrüchen und damit zum Ende der Mittelbronzezeit, wieder in Parallele mit dem Niedergang des altbabylonischen Reiches und der zweiten Zwischenzeit in Ägypten. Gleichzeitig ergeben sich Verlagerungen im politisch-militärischen Kräftespiel, obwohl es auch Kontinuitätselemente gibt wie das Reich von Jamhad (Hauptstadt Halab), das den Fall von Mari überdauert und sich bis zur Mitte des 16. Jh. hält. Wesentlich sind Impulse, die aus dem nordsyrischen und kleinasiatischen Bereich kommen; die in Gang gesetzten Bewegungen wirken sich bis nach Ägypten hin aus, wo die „Hyksosherrschaft" (15. Dynastie) anbricht - kaum eine Fremdherrschaft im eigentlichen Sinne des Wortes, aber eine Machtverlagerung im Zusammenhang mit Bevölkerungsbewegungen, welche als starker Kontinuitätsverlust in Erinnerung blieb. Im Norden kommt es zunächst zur Bildung des althethitischen Großreiches. Hattusili stößt in den syrischen Raum vor; er erobert u. a. Alalah und kann gegen hurritischen Widerstand die Herrschaft im kleinasiatisch-syrischen Raum konsolidieren. Sein Sohn Mursiii zerstört 1531 (nach der kurzen Chronologie) Babylon. In der Folgezeit jedoch tritt die hethitische Dominanz zugunsten derjenigen der Hurriter zurück; diese sind jetzt durch eine Bevölkerungsschicht mit indogermanischen Personen- und Götternamen, wie sie aus dem altindischen und -persischen Bereich bekannt sind, durchsetzt oder gar dominiert. Das Reich von Mitanni wird stärker und ist um die Mitte des 2. Jt. die dominierende Kraft in Nordsyrien. Gleichzeitig aber erstarkt das Ägypten des Neuen Reiches; Tuthmosis I. führt 1505 einen Feldzug bis ans Ostufer des Euphrat bei Karkemis, und alle außenpolitisch aktiven Pharaonen unternehmen analoge Exkursionen. Dabei wechseln kriegerische Auseinandersetzungen mit friedlichen Übereinkünften, wobei das Mittel der dynastischen Heirat eine wichtige Rolle spielt. Seit dem 15. Jh. kommt es zu erneutem Erstarken der Hethiter, welche die Vorherrschaft der Hurriter zurückdrängen und ihrerseits zu den Kontrahenten der Ägypter werden. Auch in diesem Verhältnis wechseln militärische Konfrontation und vertragliche Vereinbarung ab, am eklatantesten im 13. Jh.; die Schlacht bei Qades am Orontes geht

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eher zugunsten der Hethiter aus, welche daraufhin bis nach Damaskus ziehen. Später jedoch kommt es zu einem schiedlich-friedlichen Nebeneinander. Die Stadtstaaten zwischen den Großmächten neigen der jeweils dominierenden Seite zu und sind zum Lavieren gezwungen, was für manche Städte - z.B. Ugarit - sehr einträglich ist. Insbesondere Amurru versucht von der Lage zwischen den beiden Großmächten zu profitieren; nachdem es zuerst Ägypten gegenüber loyal geblieben ist, wendet es sich später den Hethitern zu. Ein Ausschnitt dieser Epoche (Mitte des 14. Jh.) wird in der Amarna-Korrespondenz durch sehr präzise, allerdings nur punktuelle Informationen hinsichtlich der kanaanäischen Städte erhellt. Es zeigt sich, daß die ägyptische Herrschaft in Kanaan zu diesem Zeitpunkt als Ordnungsfaktor nicht ausreicht; die Ägypter versuchen, die konkurrierenden kanaanäischen Städte gegeneinander auszuspielen, diese wiederum bringen ägyptische gegen hethitische Loyalitäten ins Spiel; so kommt es zu einem relativ freien Spiel der Kräfte unter den einzelnen Stadtstaaten, wobei im palästinischen Bereich Hasor dadurch auffällt, daß sich dessen Herrscher den Titel „König" auch dem Pharao gegenüber anmaßt. In zunehmendem Maße müssen die Städte sich und ihre Handelsverbindungen gegen nicht fest angesiedelte räuberische Elemente, u. a. die Hapiru, wehren. Diese Bezeichnung (daraus das alttestamentliche 'ibrt, „Hebräer") wird nicht einheitlich verwendet; sie hat auf der einen Seite eine soziale, andererseits eine ethnographische Komponente. Gemeint sind die nicht fest angesiedelten Bevölkerungselemente, welche im Zusammenhang mit den seit Mitte des 2. Jt. zu beobachtenden Wanderbewegungen („aramäische Wanderung") in Palästina immer deutlicher zu beobachten sind und eine unklare politische Lage zusätzlich destabilisieren. Das Ende der Spätbronze-Zeit, das das Ende des Hethiterreiches und den Abbruch der ägyptischen Präsenz in Syrien-Palästina bedeutet, wird eingeleitet durch die SeevölkerBewegungen: Es kommt zu militärischen Aktionen und allgemeinen Wanderbewegungen die Küste entlang und über das Meer; in Ägypten werden sie mit einigen Schwierigkeiten abgewehrt, zum letzten Mal 1181 durch Ramses III. Viele spätbronezzeitlichen Siedlungslagen erleiden einen abrupten Abbruch, z. B. Ugarit. Zu den Seevölkern gehören auch die Philister (-»Philister und Israel) in Palästina, welche kanaanäische Siedlungen und weitgehend kanaanäische Kultur übernehmen; ein neuer Typ Keramik geht von ihnen aus. Die philistäische Herrschaft dehnt sich bis zum mittelpalästinischen Raum hin und wirkt sich auch auf abseitigere Stämme aus. In dieser Zeit kommen (zunächst ganz spärlich) Eisengegenstände auf (Beginn der Eisenzeit). In dieser Zeit des Fehlens starker Einflüsse von Seiten der Großmächte gelingt es verschiedenen kleineren politischen Zentren, sich zu konsolidieren. So entstehen das israelitische, das edomitische, das moabitische und das aramäische Königtum, Staatenbildungen, die insofern miteinander zu vergleichen sind, als sie auf neu gruppierten, durch die „aramäische Wanderung" konstituierten Bevölkerungsschichten beruhen (->Aramäer und Israel). Insgesamt sind diese Reichsbildungen relativ kurzlebig, insbesondere büßen sie ihren Aktionsradius schnell ein und geraten erneut in Abhängigkeit anderer politischer Zentren. Zwar gelingt es Ägypten nicht mehr, dauerhafte Einflüsse auf Kanaan geltend zu machen - die Einmischungen durch Sesonk und Necho im 10. und 7. Jh. bleiben Episode. Doch nimmt seit dem 9. Jh. der assyrische Druck ständig zu, und die verschiedenen Koalitionen kanaanäischer Stadtstaaten und Territorialreiche vermögen die Expansion nur zu verzögern, nicht aber aufzuhalten. Immerhin geben die zwei bis drei Jahrhunderte des relativen politischen Vakuums den kanaanäischen Gemeinwesen Raum für eine bemerkenswerte kulturelle Entfaltung. In diese Zeit fällt eine starke kolonisatorische Tätigkeit der phönizischen Küstenstädte (->Phönizien und Israel). Insbesondere Tyrus ragt in dieser Beziehung hervor; es ist Partner des kurzfristig blühenden israelitischen Großreiches und später des nordisraeliti-

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sehen Kleinstaates, scheint dabei immer eher die dominierende Rolle zu spielen. Allerdings kommt es innenpolitisch zu keiner Stabilität. Phönizische Handelskolonien finden sich auf den ägäischen Inseln, in Kilikien, Nordafrika, auf Malta, in Süditalien, Sizilien, Sardinien und Spanien. Teilweise gewinnen diese Handelsniederlassungen dann auch politisches Gewicht; zu einem ganz wesentlichen Machtfaktor im westlichen mediterranen Raum wird Karthago. Im 8. Jh. wird fast ganz Syrien-Palästina dem assyrischen Reich in einer komplexen Struktur von direkter Verwaltung und Vasallitätsherrschaft eingegliedert; 675 fällt noch Sidon. Später wird die assyrische Herrschaft durch die neubabylonische, diese durch die persische abgelöst. Der Zug zu einer gemeinorientalischen Koine wird immer deutlicher. Mit dem Sieg Alexanders und dem Aufkommen der Diadochenreiche beginnt die Zeit des Hellenismus in Kanaan, welches damit Teil eines umfassenden mediterran-orientalischen Kulturraums wird. 5. Wirtschafts-,

sozial- und kulturgeschichtliche

Aspekte

Die Archäologie ist in erster Linie an den städtischen Siedlungen orientiert. In diesen politischen und kulturellen Zentren finden Bau- und Siedlungsgeschichte ihren deutlichen Niederschlag, und auch die gefundenen Texte erhellen in erster Linie Leben und Geschichte der Städte. Dörfliche Siedlungen sind erst seit den 40er und 50er Jahren genauer untersucht worden, und zwar im Hinblick auf die Ursprünge der Ackerbaukultur. Natürlich haben neben den städtischen Zentren zu allen Zeiten auch dörfliche Siedlungsformen bestanden; sie werden von städtischen Zentren her dominiert, es besteht also ein System politischer und kultureller Abhängigkeiten zwischen Städten und zugehörigen dörflichen Siedlungen. Schließlich ist daneben mit nicht fest angesiedelten Bevölkerungselementen zu rechnen, nomadischen und halbnomadischen Gruppierungen, welche eine wichtige wirtschaftliche Basis in der Kleinviehzucht haben und sich in den „Nischen" der Sedentärkultur ansiedeln. Den höchsten Organisationsgrad innerhalb des fruchtbaren Halbmondes weisen die Flußkulturen Mesopotamiens und Ägyptens auf. Dort sind die Wirtschaftsformen auf ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem angewiesen; dadurch ist eine so hohe Siedlungsdichte zustande gekommen, wie sie dann schließlich zur Bildung von Großreichen geführt hat. Hier führt die soziale Organisation also weit über die Stadt hinaus, ein Vorgang, der im kanaanäischen Bereich nur ansatzweise zu beobachten ist. Immerhin weisen schon die kanaanäischen Städte einen hohen Differenzierungsgrad auf; Arbeitsteilung und Stratifizierung sind entsprechend der Größe der Gemeinwesen ausgebildet, am meisten im Norden (im Kontakt mit der Kultur Mesopotamiens), sodann in den großen Hafenstädten und die Hauptverkehrsroute zwischen Mesopotamien und Ägypten entlang. Abseits dieser Gebiete sind die Städte kleiner, ist die Ausdifferenzierung entsprechend geringer. Die Kleinstädte in den abgelegenen Gebieten im Süden Kanaans sind eher „Dörfer" als Städte im engeren Sinn, auch wenn sie „Könige" haben - diese sind keineswegs vergleichbar mit Königen in Städten wie Ugarit oder gar in den Großreichen. Immerhin weisen auch diese Kleinstädte noch prinzipiell stratifizierte Gesellschaftsformen auf, Macht- und Dienstfunktionen sind im König konzentriert, und die politische Gemeinschaft ist durch das Territorialprinzip konstituiert. Im einzelnen weisen die verschiedenen Städte recht unterschiedliche Ausgestaltungen sozialer Stratifizierung auf. Umstritten ist noch die politische Struktur des frühbronzezeitlichen Ebla. Es scheint, daß die königlichen Kompetenzen noch stark auf die Autorität der „Ältesten" abgestützt sind. Ähnlich wie im frühdynastischen Mesopotamien zeigt sich wohl ein Mittelding zwischen einer Tribalverfassung und der klassischen monarchischen Staatsform. Demgegenüber ist die Struktur des spätbronzezeitlichen Ugarit in klassischer Weise monarchisch ausgeformt. Der König ist Zentralfigur aller gesellschaftlichen Bereiche; der reich ausgestattete Königshof, der durch mannigfache Palastbeamte betrieben wird, ist

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das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Staatswesens. Eine wichtige Funktion hat die Königsmutter (als Mutter des designierten Thronfolgers spielt sie natürlich schon vor der Inthronisation eine wichtige Rolle im königlichen Harem). Die arbeitsteilige Spezialisierung ist in Ugarit gut zu beobachten. Das Staatswesen ist zunächst von einem Verwaltungsapparat getragen, der die Verteilung der M a c h t und der Güter regelt, die politische Verantwortung, die Jurisdiktion und die wirtschaftlichen Aufgaben wahrnimmt. Die Besetzung dieser Stellen ist durch ein Lehenssystem geregelt. Sowohl die Organisation der Landwirtschaft als auch die des H a n d w e r k s (und damit auch der - qualitativ hochstehenden und für vielfache ausländische Anregungen offenen Kunst) scheint in Ugarit weitgehend durch den König monopolisiert gewesen zu sein, ähnlich wie im mykenischen Griechenland und im Gegensatz zum altbabylonischen Bereich. Ob dies für den gesamten kanaanäischen R a u m gilt, läßt sich schwer sagen; zu vermuten ist, d a ß der König überall gewisse Rechte a m Boden und an den Wirtschaftsvorgängen hat. Zentrale Bedeutung für die Verwaltung hat der Stand der Schreiber. Zu seiner Ausbildung besteht, ähnlich wie in Mesopotamien und Ägypten, die Institution der Schule; insbesondere die mesopotamische Schultradition ist vertreten, entsprechend sind sumerische und akkadische Kompositionen kopiert und gelernt worden. Der internationalen Lage gemäß finden sich auch Texte in weiteren Sprachen. Durch diese Schultradition hat Ugarit - und dies läßt sich für alle größeren Städte Kanaans (bis hin zum Jerusalem der israelitischen Königszeit) sagen - an der damaligen internationalen Bildung und Wissenschaft teil. Als besondere Leistung der Schule im kanaanäischen R a u m ist die (wohl in verschiedenen Bereichen gewonnene) Erfindung des konsonantischen Alphabets zu nennen, welche der akkadischen Keilschrift gegenüber eine ungeheure Vereinfachung darstellt und die dann schließlich auch zur Schreibung des Griechischen dienen sollte. Auch das Heereswesen ist differenziert organisiert; es ist eine Reihe von Rang- und Einheitsbezeichnungen bekannt. Neben einer stehenden Truppe, zu der auch auswärtige Söldner gehören, ist ein Milizsystem zu beobachten, das Teil- und Generalmobilmachung kennt. Selbst der Handel scheint in Ugarit weitgehend durch den König kontrolliert worden zu sein; die weitreichenden Handelsverbindungen sind verantwortlich für den außerordentlichen Reichtum Ugarits in der späten Bronzezeit, entsprechendes gilt für die anderen Städte in vergleichbarer Position; abgelegenere Siedlungen müssen sich natürlich viel bescheidener geben. Schließlich ist auch die Religion als eigenes System ausgebildet, mit eigenem Beamtenapparat und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Natürlich ist der König Kultherr und Zentralfigur der menschlichen Ebene des Religionssystems, w a s sich darin ausdrückt, daß der höchste Gott El ihm besonders verbunden ist und daß er für die Menschen die Funktionen Ba'als, des „Besitzers" des Kulturlandes, wahrnimmt. Freilich wird der König für den kultischen Alltag durch die dafür zuständigen Spezialisten vertreten. Die Organisationsform ist komplex: Verschiedene religiöse Funktionen sind voneinander unterschieden, eine Hierarchie von (Opfer-)Priestern, Divinationsfachleuten, Sängern, Musikanten usw. besteht. Der Kult hat seinen Ort an verschiedenen Heiligtümern und spielt sich in vielfältigen Formen ab. Das Symbolsystem ist mannigfach ausdifferenziert, was sich etwa auf der Ebene der Götter zeigt, die als Pantheon ähnlich komplex organisiert sind wie die Gesellschaft der Menschen: Verschiedene Götter repräsentieren die lebensbestimmenden Faktoren im Bereich von Natur, Kultur und Geschichte, bringen sie in einen Zusammenhang, machen sie überblick- und kontrollierbar. Die Mythen und Rituale werden schriftlich festgehalten, bilden damit ein Element des schulischen Bildungsgutes. Auch Wirtschafts- und Religionssystem überlappen sich insofern, als die religiösen Belange einen wesentlichen wirtschaftlichen Faktor darstellen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Religion das Element ist, welches der Gesellschaft insgesamt eine umfassende und verbindliche Deutung gibt. (Zur Ausgestaltung des Symbolsystems —•Westsemitische Religion.)

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Die mannigfachen außenpolitischen und außenhandelspolitischen Verbindungen Ugarits und der kanaanäischen Städte überhaupt riefen nach diplomatischer Aktivität und entsprechenden Regelungen. So spielt das Vertragswesen, ein erster Ansatz zu völkerrechtlichen Übereinkünften, eine wesentliche Rolle. Alle diese in Ugarit deutlichen Sachverhalte werden mehr oder weniger auf andere Städte übertragbar sein; je kleiner die Stadt, desto geringer der Organisations- und Differenzierungsgrad. Die Dörfer sind wohl überwiegend in höherem oder geringerem Grade Städten zugeordnet gewesen, die Städte befanden sich in größerer oder geringerer Abhängigkeit von den dominierenden Großmächten. Neben der städtischen und dörflichen Bevölkerung ist nun auf die nicht fest seßhafte Bevölkerung einzugehen, welche die Randzonen des kultivierten Bodens nutzte und neben spärlicher Pflanzwirtschaft - insbesondere der Kleinviehzucht oblag. Diese (halb-) nomadischen Gruppierungen sind nur sehr beschränkt mit den später aufkommenden kamelzüchtenden Nomaden zu vergleichen; vor allem fehlte ihnen der Aktionsradius, die kriegerische Potenz und wohl auch das entsprechende Selbstgefühl der für die neuere arabische Geschichte so typischen beduinischen Kultur (->Arabien und Israel). Diese Gruppen lebten in der Regel in kleinen Verbänden und besetzten die Nischen, welche ihnen durch die städtische und dörfliche Kultur gelassen wurden; zweifellos rangierten sie im Wertgefüge deutlich unter den fest angesiedelten Bevölkerungsschichten. Das soziale Gefüge wurde hier nicht durch das Territorial-, sondern durch das Verwandtschaftsprinzip bestimmt; an Stelle eines stratifizierten findet sich hier ein segmentärer Aufbau der Gesellschaft. Verschiedene Grade des Verwandtschaftsgefüges werden — wie in späteren Phasen arabischen Nomadentums - durch verschiedene Grade der Solidaritätspflicht bestimmt gewesen sein. Naturgemäß ist über die geistige Kultur dieser Bevölkerungsschichten - insbesondere auch über ihre Religion - nichts Gewisses auszumachen; Mutmaßungen ergeben sich allenfalls aus ethnologischen Vergleichen. Waren diese Gruppen zwar den seßhaften Bevölkerungsschichten unterlegen, so konnten sie zuweilen doch als einschneidender Störfaktor auftreten. Die hochkomplexe Sozialform der Städte und Reiche war empfindlich und konnte nur bei hoher innerer Konsistenz Störungen von außen problemlos abwenden. Die militärisch und politisch viel schwächeren, aber weniger empfindlich organisierten Nomadenhorden konnten so u. U. in Perioden innerer Destabilisierung zu Umwälzungen führen. Die Umwälzungen, zu denen es periodisch unter dem Einfluß nomadischer Bewegungen gekommen ist (amoritische Wanderung, aramäische Wanderung), dürfen nicht in der Weise verstanden werden, daß es zu einer „Überschwemmung" der Sedentärkulturen durch die Nomaden gekommen wäre (dazu waren die nomadisierenden Gruppen schon numerisch nicht in der Lage); vielmehr wirkten sie in Auflösungs- und Umschichtungsprozessen als Katalysator und bildeten dann allerdings häufig nach einem Prozeß fester Ansiedlung ein führendes politisches Element, wie dies etwa von der altbabylonischen Dynastie Hammurapis oder der Davids gilt. 6. Kanaan, Israel und das Alte

Testament

Die Interpretation der negativen theologischen Konnotationen, welche der Bezeichnung Kanaan in weiten Bereichen des Alten Testaments anhaften, ist eng mit Grundproblemen der politischen, kulturellen und religiösen Geschichte Israels verknüpft, und sie ist in diesem Zusammenhang strittig. Auf verschiedenen Ebenen stellen sich analoge Fragen: Seit wann und in welchem M a ß e ist Israel als politisches Gebilde strukturell von seiner Umwelt abgehoben (etwa im Hinblick auf die Rolle des Königtums)? Wie weit empfindet sich Israel in seiner Lebensart als grundsätzlich von seiner Umwelt verschieden? Seit wann sind die „typischen" Züge israelitischer Religion, insbesondere der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes, wirksam, wann haben sie sich durchgesetzt? Diese Fragen hängen mit exegetischen Urteilen, vor allem auch mit Datierungsproblemen hinsichtlich erzählender Texte des Alten Testaments, zusammen. Die nachfolgenden Überlegun-

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gen gehen davon aus, daß das „typisch" Israelitische nicht seit der Konstituierung des Volkes (oder sogar noch früher) gegeben ist, sondern sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Es ist also zu skizzieren, in welcher Weise der geographische Begriff „Kan a a n " zunehmend theologische Qualitäten erhalten hat. Der Prozeß der Volks- und Staatenbildung Israels hat sich, wie angedeutet, innerhalb eines politischen und kulturellen Umschichtungsprozesses in der ausgehenden Bronzeund beginnenden Eisenzeit eingestellt, einer Phase, die schließlich als „Landnahme" in Erinnerung geblieben ist. Wenngleich sich die Umwälzungen weitgehend undramatisch abgespielt haben dürften, sind doch die militärischen Konfrontationen prägend geworden. Der Gegensatz zwischen den nicht fest angesiedelten Gruppierungen und den kanaanäischen Städtern mit ihrer überlegenen militärischen Technologie wirkt noch in Jdc 1,19 und entsprechenden Stellen (vgl. o.), im Kontext mit konkreten historischen Erinnerungen, nach. Dieser politische Gegensatz erhält dadurch eine religiöse Interpretation, daß der Kampf gegen die Feinde in dieser konstitutiven Phase offenbar bereits als „Krieg Jahwes" - der sich demnach gegen Kanaanäer richtet - geführt wird. Im Hinblick auf die Reichsgründung ist es deutlich, daß David mit Jerusalem eine typisch kanaanäische Stadt zu seiner Basis macht; von hier aus erfolgt der Aufbau eines Staatswesens, welches sich an die politischen und kulturellen Organisationsformen der Umwelt anschließt. Dasselbe gilt später für das Nordreich. Zwischen städtischen und ländlichen Bevölkerungsschichten dürfte es dabei zu Spannungen gekommen sein; zu letzteren gehörten die Gruppierungen, welche die politische Neuordnung zustande gebracht hatten und damit auch hauptsächliche Träger der israelitischen Identität waren, bei der Verteilung von Macht und Verantwortung im neu konstituierten Staatswesen jedoch ins typische Hintertreffen den städtischen Zentren gegenüber gerieten. Daß die hier angelegten Konflikte dauerhaft bestimmend blieben, gehört zu den Besonderheiten israelitischer Entwicklung. Die Spannung Stadt-Land ist eine wesentliche Wurzel der späteren Spannung Kanaan-Israel; dabei bleibt in den oppositionellen Kreisen die Erinnerung daran lebendig, daß die Städte ein einst gegnerisches kulturelles und religiöses System repräsentierten. Eine weitere typische Konfliktsituation zeichnet sich besonders innerhalb des Nordreichs ab. Soziale Gegensätze zwischen städtischer und dörflicher Bevölkerung, zwischen dem Hof und der konservativen Landbevölkerung, werden religiös aufgeladen und münden in einen religiösen Konflikt ein, wie er sich schon zur Zeit -»-Elias, dann bei -*Hosea deutlich manifestiert: Der Kampf gegen die dominierende religiöse und soziale Ordnung wird als Kampf gegen Ba'al und für Jahwe aufgefaßt (wobei ohne Zweifel dieser Gegensatz herkömmlicherweise gar nicht als solcher empfunden wurde). In den Kreisen, welche die prophetischen Traditionen des 8. Jh. sammelten und bearbeiteten, kam es wohl erstmals zu einer grundlegenden Ausarbeitung des Gegensatzes zwischen zwei religiösen Konzepten, eines dominierenden „offiziellen" bzw. volkstümlichen und eines prophetisch-oppositionellen. Doch spielt hier der Begriff „ K a n a a n " allem Anschein nach kaum eine Rolle (vgl. immerhin Hos 12,8); es geht um einen Gegensatz innerhalb Israels. Diese Situation verändert sich in einer Zeit, in welcher die nationale Existenz Israels auf dem Spiel steht, also im Exil, möglicherweise schon in den Existenzkrisen davor. Jetzt gilt es, die Identität als Volks- und Religionsgemeinschaft überhaupt zu bewahren, sowohl in der Diaspora als auch im eigenen Land, das von fremden Mächten beherrscht und wohl auch mit fremden Bevölkerungselementen durchsetzt ist. Der Abgrenzungsprozeß kommt unter Rückgriff auf die Orientierungsmuster prophetischer Gruppierungen zustande. Deutlich wird dies etwa in Ez 16, wo am Anfang eines Schuldaufweises Jerusalem der Vorwurf gemacht wird, es stamme aus dem Land Kanaan, sein Vater sei ein Amoriter gewesen, die Mutter eine Hethiterin (V. 3); dem Fehlen der nationalen Identität entspricht das Fehlen der religiösen: Israel gibt sich allen möglichen politischen und kultischen Fremdeinflüssen hin.

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Die in ihrer Datierung umstrittenen erzählenden Texte, in welchen von der Völkerliste Gebrauch gemacht wird oder wo „Kanaan" (bzw. ein analoger Sammelbegriff) summarisch die vorisraelitische Bevölkerung des verheißenen Landes bezeichnet, sind m. E. jedenfalls später anzusetzen als die „klassische" Prophetie des 8. Jh. Hier wären also etwa die jahwistischen Belege für „Kanaanäer" einzuordnen. Stets steht der theologische Aspekt im Vordergrund, sei es nun, daß den Vätern gegenüber die Verheißung gilt, im noch fremd dominierten Land als großes Volk zu herrschen (Gen 12,6; 13,7 usw.), sei es, daß dem ins verheißene Land dringenden Israel zugesagt wird, sich den mächtigeren Völkern gegenüber zwar nicht aus eigener Kraft, wohl aber mit Jahwes Hilfe durchsetzen zu können (Num 14,25.43.45; 21,1.3). Der Landbesitz ist nicht selbstverständlich, sondern vielmehr Gegenstand der Hoffnung, für die man sich zu bewähren hat. Reden die Texte auch von einem Gegenüber der feindlichen Völker als einer Zukunftsperspektive innerhalb der Vergangenheit, so sind sie doch auf die Gegenwart bezogen; die Botschaft Gen 28,1.6.8, welche vor der Vermischung mit den Kanaanäern warnt, ist von einer Krise nationaler Identität her verständlich. Diese Thematik wird in der Deuteronomistik geradezu dogmatisch ausgearbeitet. Jetzt ist stereotyp unterschieden zwischen Israel einerseits und „den Völkern" andererseits, zwischen dem Gott Israels Jahwe und dem Gott Ba'al samt Gefährtin und Anhang. Umfassend hält Dtn 7,1 ff das Vorgehen dem Feind gegenüber fest: Er ist vollständig zu vernichten (Bann), vertragliche und verwandtschaftliche Beziehungen sind untersagt, die bestehenden kultischen Einrichtungen sind zu profanieren (vgl. Ex 23,20ff usw.). Auch hier findet sich die Projektion in die Vorzeit; die Landnahme erscheint als umfassender Kampf zwischen dem ins verheißene Land eindringenden Israel und den angesiedelten Völkerschaften, die ausgeführte Ideologie des Jahwekrieges korreliert dem Konzept eines feindlichen Landes, das es in Besitz zu nehmen und dessen Bevölkerung es zu vertreiben oder zu vertilgen gilt. Der historische Kontext dieser Sicht der Dinge, die exilisch-nachexilische Zeit, ist tatsächlich durch die lebenswichtige Grenzziehung zwischen Israel und „den Völkern" bestimmt. Dabei geht es jetzt nicht mehr um kulturelle Gegensätze, sondern um religiöse. Unterschieden werden soll primär zwischen den Göttern und dem einen Gott Jahwe, welchem ganz neue Qualitäten zugeschrieben werden, z.B. insofern, als er sich nicht in historischer Dominanz seines Volkes durchsetzt, sondern durch paradoxe historische Fügungen. Kanaan (und „die Völker" überhaupt) wird damit Chiffre für die Welt, die Israel in seiner ethnischen und religiösen Identität und Existenz gefährdet. Die —•Priesterschrift gibt dieser Thematik ihre eigene Interpretation, indem sie fast durchgängig vom „Land Kanaan" spricht und demgegenüber die Völker, die dieses Land bewohnen, in den Hintergrund treten läßt. Das Land ist Ziel der Auswanderung von Terah und Abraham (Gen 11,27; 12,5); hernach ist es Raum der Fremdlingschaft der Erzväter und Gegenstand der Verheißung (Gen 17,8 u.ö.). In diesem Land soll sich das intendierte Verhältnis zwischen Jahwe und Israel einstellen (Lev 25,38), was freilich bedingt, daß man sich nicht nach den Kultordnungen Ägyptens oder Kanaans richtet, sondern die Reinheitsgebote Jahwes beachtet (Lev 14,34; 18,3). Besonderes Gewicht liegt — gewiß im Anschluß an alte Überlieferung - auf der Tatsache, daß Kanaan ein Land ist, in dem „Milch und Honig fließen" (Num 13,27), wobei paradiesische Züge die Schilderung qualifizieren; entsprechend hört die Manna-Speisung beim Betreten des Landes auf (Ex 16,35; Jos 5,12). Mit dieser Gewichtung ist der Akzent ganz auf das Handeln Jahwes gelegt, welcher sein Volk auf das verheißene Land hin führt, um ihm hier Existenz und Kultausübung zu ermöglichen. Die Faktoren, welche dies gefährden könnten, fallen kaum mehr in Betracht; die Souveränität Gottes, der über sein Land verfügt, wird zum Thema, welches andere Themen ganz an den Rand drängt.

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Kanada Kanada 1. Die Kirchen u n d die Religionen in der k a n a d i s c h e n Gesellschaft chen 3. Regionale Besonderheiten (Literatur S.562)

1. Die Kirchen und die Religionen

in der kanadischen

2. Protestantische Kir-

Gesellschaft

Wie die meisten hoch verstädterten und industrialisierten Gesellschaften ist auch die kanadische Gesellschaft religiös pluralistisch und hochgradig säkular. Dennoch offenbart die kanadische Volkszählung von 1981 einen beträchtlichen Grad von Stabilität und Kontinuität in den religiösen Lebensformen. Aus einer Bevölkerung von 24 Mio. identifizieren sich 46% selbst als römisch-katholisch und 41 % geben an, sie seien Protestanten. Mit Ausnahme einer Verschiebung von einer protestantischen zu einer römisch-katholischen Mehrheit, die zuerst in der Volkszählung 1971 zu bemerken war, ist diese grobe Trennlinie in der kanadischen Bevölkerung seit der Staatsgründung 1867 relativ konstant geblieben. Weiterhin gehört die überwiegende Mehrheit der kanadischen Protestanten zu fünf großen Kirchen: Anglikaner (2 436 375), Baptisten (696 850), Lutheraner (702 905), Presbyterianer (812 105) und United Church of Canada (eine Vereinigung von Kongregationalisten, Methodisten und Zweidritteln der kanadischen Presbyterianer 1925; 3 758 015). Wiederum blieb dieses Muster, abgesehen von der Bildung der United Church of Canada, seit 1867 weitgehend unverändert. Die neuen Faktoren, die in der Volkszählung 1981 zum Vorschein kamen, wie die Anwesenheit von Buddhisten, Moslems, Sikhs und 1,7 Mio. Einwohner, die keine Religion angeben, weisen auf einen breiteren religiösen Pluralismus und einen wachsenden Säkularismus (-»Säkularisierung), aber ihre Anzahl ändert das Gesamtbild von Stabilität und Kontinuität noch nicht dramatisch. Kircheneigene Mitgliedszahlen sind natürlich i m m e r niedriger als solche der k a n a d i s c h e n Volkszählung. A u ß e r d e m geben G a l l u p - U m f r a g e n a n , d a ß regelmäßiger Kirchgang f ü r einen n o c h m a l s geringeren Prozentsatz der Mitglieder zutrifft u n d d a ß der Einfluß religiöser G l a u b e n s ü b e r z e u g u n g auf ethische Entscheidungen o f t minimal ist. H i e r v o n ausgehend, h a b e n einige W i s s e n s c h a f t l e r , wie z.B. Reginald Bibby a r g u m e n t i e r t , d a ß eine d r a m a t i s c h e Säkularisierung der k a n a d i s c h e n Gesells c h a f t seit d e m 2. Weltkrieg s t a t t g e f u n d e n h a t , die viel g r ö ß e r ist, als die Z a h l e n der k a n a d i s c h e n Volkszählung v e r m u t e n lassen. A n d e r e jedoch, wie z.B. H a n s M o l u n d R o g e r O ' T o o l e , h a b e n die Säkularisierungstheorie und ihre Bedeutung f ü r die Z u k u n f t der Religion in der k a n a d i s c h e n Gesells c h a f t angezweifelt. In dieser D e b a t t e w e r d e n n u r wenige verneinen, d a ß sich b e d e u t e n d e Veränderungen in der k a n a d i s c h e n Gesellschaft ereignet h a b e n und d a ß diese Ä n d e r u n g e n eine beträchtliche W i r k u n g auf die Kirchen a u s g e ü b t h a b e n . Viele g l a u b e n jedoch, d a ß Volkszählungsstatistiken u n d M e i n u n g s u m f r a g e n allein kein a d ä q u a t e s Bild der inneren U n r u h e und L e b e n s k r a f t geben, die in vielen Bereichen des religiösen Lebens in K a n a d a sichtbar sind.

Von den verschiedenen Quellen der Unruhe ist die moderne charismatische Bewegung (—>Pfingstbewegungen) vielleicht diejenige, die am meisten aufrüttelt. In der Volkszählung 1921 gab es nur 7000 Kanadier, die sich selbst als Pfingstler identifizierten. 1981 war ihre Zahl aber auf 338 000 angewachsen. Während dies eine bemerkenswerte Wachstumsrate ist, sind die Pfingstler aber noch immer nur halb so zahlreich wie die Baptisten, die kleinste der traditionellen protestantischen Konfessionen Kanadas. Die Pfingstkirchen sind aber nur Teil einer viel größeren charismatischen Bewegung, die im englisch- und französischsprachigen Katholizismus und in den meisten alten Hauptkirchen der Reformation sichtbar geworden ist. In keiner dieser Kirchen hat sie auch nur annähernd ein Kräftegleichgewicht erreicht, aber kaum ein Kirchenführer in Kanada kann sich heute noch leisten, die Ziele und Zwecke der verschiedenen Renewal Fellowships, die als Ergebnis dieser Bewegung innerhalb ihrer Amtsgrenzen entstanden sind, völlig zu ignorieren. Während die charismatische Bewegung, viele neue Religionen und das Zustandekommen von religionsübergreifenden Dialogen zwischen Christen, Juden, Buddhisten, Moslems und Sikhs verschiedene Bereiche der Lebenskraft und inneren Bewegung offenbaren, halten viele Beobachter die tiefverwurzelte Kontinuität und Stabilität des religiösen Lebens in Kanada für bedeutender, und sie weisen auf die Beziehung zwischen der relativen

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Kanada

Kraft und dem Einfluß der verschiedenen religiösen Gruppen in Kanada und dem Zeitpunkt ihrer Ankunft dort. Französische Katholiken z.B. waren die ersten, die sich auf kanadischem Boden niederließen (1535), und heute repräsentieren französischsprachige Kanadier 60% der kanadischen Katholiken. Die Mehrheit wohnt in der Provinz Quebec, dem Gebiet der ersten Besiedlung; es gibt nicht unbeträchtliche Minderheiten in New Brunswick, Ost- und Nordontario und Manitoba. Die Iren, von denen viele in den vierziger Jahren des 19. Jh. ankamen, bilden die größte Gruppe englischsprachiger Katholiken; ihr Zentrum ist in Ontario. Noch spätere Einwanderer wie z. B. die Deutschen, die Polen, die Italiener und die Portugiesen haben sich in den großen kanadischen Ballungszentren bemerkbar gemacht, aber außerhalb ihrer Pfarreien mußten sich diese Gruppen mit kirchlichen Strukturen und Bildungseinrichtungen arrangieren, die bereits bestanden und von französischen und irischen Katholiken kontrolliert wurden. Wegen ihrer ethnischen Verschiedenheit würden viele innerhalb der römisch-katholischen Kirche verneinen, d a ß es einen klar umrissenen kanadischen Katholizismus gibt; für Außenstehende jedoch ist der kanadische Katholizismus eine einzigartige Gemeinschaft, in der französischsprachige Kanadier von Marie de l'Incarnation bis zu Kardinal Emile Leger ihrer Frömmigkeit einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt und Irisch-Kanadier, wie z.B. Bernard Lonergan, ihr beträchtlichen intellektuellen und theologischen Gehalt gegeben haben. 2. Protestantische

Kirchen

Unter Kanadas protestantischen Kirchen ist die augenfällige Ausnahme von der Beziehung zwischen Größe und Einfluß und ihrem ersten Auftreten die United Church of Canada, die erste der bedeutenden konfessionsübergreifenden Kirchenzusammenschlüsse des 20. Jh. Nach ihrer Bildung am 10. Juni 1925 hat die United Church als Kanadas zahlenmäßig stärkste protestantische Kirchengemeinschaft eine beherrschende Rolle bei der Formung kanadisch-protestantischer Kultur während der vergangenen sechs Jahrzehnte gespielt. Ihre sechs theologischen Colleges, fünf kirchlich ausgerichtete Universitäten und ihre zahlreichen anderen Begegnungs- und Ubungsstätten für Geistliche und Laien haben eine beträchtliche Wirkung auf die protestantische Erziehung; viele ihr angehörende Wissenschaftler wie z.B. JohnT. McNeil, W. C. Graham, Gerald Cragg, Wilfred Cantwell Smith und John W. Grant haben auf ihren Gebieten internationale Reputation erreicht. Die United Church ist für ihren liberalen theologischen Standpunkt und ihre sozialen Aktivitäten bekannt und war die erste größere protestantische Gemeinschaft in Kanada, die Frauen ordinierte (1935), und die erste, die eine Frau (Lois Wilson) in ihr höchstes Kirchenamt wählte (1980). Obwohl die geplante Vereinigung mit der Anglican Church of Canada 1975 fallengelassen wurde, spielt die United Church auch weiterhin eine wesentliche Rolle im Kanadischen Kirchenrat und ebenso im Weltkirchenrat (-•Ökumene/Ökumenismus) und nimmt an unterschiedlichen gemeinschaftlichen Unternehmungen im tätigen Christentum teil, vor allem indem sie sich für die Rechte der Urbevölkerung einsetzt. Die Anglican Church of Canada (vor 1955 unter dem Namen Church of England in Canada) war die erste größere nicht-römisch-katholische Gruppe, die nach der britischen Eroberung Quebecs 1759 geschaffen wurde; von 1789 bis 1854 war sie die Staatskirche Kanadas. Nach Aufhebung dieses Privilegs hatten die Anglikaner Schwierigkeiten, sich dem neuen System freiwilligen Unterhalts und den Spaltungen zwischen den Parteigängern der High Church- und Low Church-Auffassung (—•Hochkirchliche Bewegung I) anzupassen, aber gegen Ende des 19. Jh. hatte man für diese Probleme tragfähige Lösungen gefunden, und heute ist sie Kanadas zweitgrößte nicht-römisch-katholische Kirche. Sie hat sechs theologische Colleges, verschiedene kirchlich ausgerichtete Universitäten und eine Anzahl von Bildungszentren für Laien. Bis vor kurzem tendierte sie aber dazu, ihre geistige Führung aus Großbritannien zu gewinnen; sie hat kaum kanadischstämmige Wissenschaftler mit einer über die engere oder weitere Heimat bekannten Reputation hervorgebracht. Mit ihrem reichen liturgischen Erbe und ihrem Zentrum in den Sakra-

Kanada

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menten haben die kanadischen Anglikaner ein charakteristisches kirchliches Leben entwickelt, das den Eifer der Evangelikaien mit der Betonung des Sakramentalen und Mystischen durch die hochkirchlich Eingestellten verbindet. Anglikanische Missionsarbeit unter der Urbevölkerung Kanadas wurde bis 1905 von der Society for the Propagation of the Gospel (-»Mission) durchgeführt, als die Missionary Society der Church of Canada gebildet wurde. Die Anglican Church of Canada hat sich stets um die Armen gekümmert und eine aktive Rolle bei Gegenwartsfragen wie der Friedensbewegung und der Forderung nach Rechten für die Urbevölkerung übernommen. Die Presbyterianer waren die zweite größere protestantische Gemeinschaft, die in Kanada Wurzeln schlug. Trotz vieler interner und geographischer Trennungen schafften sie es, sich 1875 als vereinte Kirche zusammenzuschließen, und obwohl Zweidrittel ihrer Mitglieder 1925 der United Church of Canada beitraten, blieben sie doch die drittgrößte protestantische Gemeinschaft in Kanada. Während sich die Mehrheit ihrer Wissenschaftler und Seelsorger dafür aussprach, sich der United Church anzuschließen, konnten die kanadischen Presbyterianer doch zwei höhere theologische Colleges aufrechterhalten, und verschiedene ihrer Theologen wie z.B. James Smart (Katechetik) und Arthur Cochrane (Historische Theologie) haben internationale Anerkennung erworben. Lehrmäßig ist die Presbyterian Church in Canada konservativer als die United Church oder die Anglican Church, aber unter der Führung z. B. von Walter Bryden, David Hay und Allan Farris ist sie nicht ins Fahrwasser des —>Fundamentalismus geraten und hat einen wichtigen Beitrag zum Kanadischen Kirchenrat und Weltkirchenrat geleistet. Die Lutheraner in Kanada haben erst kürzlich ihre Bindungen an ihre Mutterkirchen in den Vereinigten Staaten aufgegeben und ihre ethnischen Unterschiede in Kanada überwinden können. Anfangs hatten die Deutschen, Dänen, Schweden, Norweger und Isländer jeweils ihre eigene, von den anderen getrennte lutherische Kirche, aber bis zu den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts hatten verschiedene Zusammenschlüsse diese auf drei größere Kirchen reduziert: die Lutheran Church in America, die American Lutheran Church und die Lutheran Church - Missouri Synod. Seit 1958 sind die kanadischen Gemeinden der Lutheran Church - Missouri Synod als Lutheran Church in Canada verbunden, aber sie werden ihre Unabhängigkeit von der ursprünglichen Körperschaft nicht vor dem 1. Januar 1989 erhalten. 1967 wurden die kanadischen Gemeinden der American Lutheran Church unabhängig von der American Lutheran Church. Die Gemeinden der Lutheran Church in America wurden nicht autonom, sondern erhielten die Erlaubnis, eine kanadische Sektion zu bilden; ihnen wurde das Recht zugestanden, in Einigungsgespräche mit anderen lutherischen Körperschaften in Kanada zu treten. Anfänglich beteiligten sich in den siebziger Jahren alle drei kanadischen lutherischen Gruppen an den Einigungsgesprächen, aber die Lutheran Church in Canada zog sich zurück und machte so den Weg für die beiden anderen Gemeinschaften frei, sich am 1. Januar 1986 als die Evangelical Lutheran Church in Canada zu vereinen. Es hat die Lutheraner viel Zeit gekostet, eine vereinte kanadische Kirche zu werden; aber jetzt, da dies Wirklichkeit ist und es theologische Colleges in Waterloo, Ontario und Saskatoon, Saskatchewan gibt, um die kanadischen Seelsorger dieser Kirche auszubilden, werden die Lutheraner wohl eine größere Rolle in der kanadisch-protestantischen Kultur spielen. Von den bedeutenden kanadischen protestantischen Kirchen sind die Baptisten wohl am stärksten untereinander gespalten, aber trotz ihrer internen Trennungen haben sie zwei größere akademische Einrichtungen in Kanada aufbauen können: die Acadia University in Wolfville/Nova Scotia und die McMaster University in Hamilton/Ontario. Sie haben eine Anzahl von Wissenschaftlern hervorgebracht, die internationalen Rang haben, wie z.B. Douglas Clyde Macintosh von der Universität Yale und Shirley Jackson Case und Peter Mode von der University of Chicago. Kanadische Baptisten, gespalten durch die Auseinandersetzung um —•Fundamentalismus und Modernismus in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, haben immer noch Schwierigkeiten mit internem Meinungsstreit und ökumenischen Beziehungen. Keine der kanadischen Baptistengrup-

Kanada

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pen z.B. wurde Mitglied des Weltkirchenrats, und obwohl die Baptisten 1944 eines der Gründungsmitglieder des Kanadischen Kirchenrats waren, mußten sie sich 1980 aus diesem Rat wegen mangelnden Konsenses unter ihren Gliedgruppen zurückziehen. Etwas von der Unterschiedlichkeit der Baptisten in Kanada wird deutlich an den aus ihnen hervorgegangenen Politikern: Einerseits ist dort der Führer der Konservativen Partei John Diefenbaker (Premierminister von Kanada 1 9 5 7 - 1 9 6 3 ) und andererseits Tommy Douglas, der sozialistische Ministerpräsident von Saskatchewan 1 9 4 4 - 1 9 6 1 und erste Führer der landesweiten New Democratic Party 1 9 6 1 - 1 9 7 1 . Unter den neuen Faktoren im protestantischen Spektrum gibt es eine Anzahl kraftvoller evangelikaler Kirchen. Während einige, wie z.B. die Southern Baptists, die Free Methodists, die Four Square Gospel und die Assemblies ofGod, aus den Vereinigten Staaten importiert wurden, gehen die Wurzeln vieler dieser Gruppen zurück auf die Kluft zwischen Fundamentalisten und Modernisten im frühen 20. J h . Die Opposition zum Darwinismus (-»Darwin/Darwinismus), die Bibelkritik, die -»Liberale Theologie und die soziale Einstellung und Tätigkeit der Kirchen (Social Gospel) führten zu tiefen Spaltungen im kanadischen Protestantismus und schufen praktisch ein protestantisches Zweiparteiensystem. Da die Konservativen die Universitäten und theologischen Colleges der großen Kirchen als eine Quelle des Modernismus ansahen, schufen sie ein System alternativer Ausbildungsstätten, die als Bible Colleges bekannt wurden. Das erste war das Toronto Bible College (jetzt das Ontario Bible College), das 1895 gegründet und dem Moody Bible Institute of Chicago (1886) nachempfunden wurde. Das zweite öffnete 1917 in Vancouver; ihm folgte das Prairie Bible Institute in Three Hills, Alberta. Seit den zwanziger Jahren wurden 41 weitere errichtet; 8 0 % davon sind in Westkanada. Diese Schulen haben die Führungsmannschaft der verschiedenen evangelikalen Gruppen in Kanada ausgebildet und sind zu Zentren für die Entwicklung von missionarischen Tätigkeiten, Literatur, Radioevangelisation und religiösen Fernsehsendungen geworden. Trinity Western in British Columbia, das ursprünglich als alternative Ausbildungsstätte konzipiert worden war, wurde kürzlich eine den drei provinzialen Universitäten gleichgestellte Institution und erhielt das Recht, ähnlich wie staatliche Universitäten,akademische Grade zu verleihen. Die Lehraufsichtsbehörde in British Columbia hat damit praktisch die Spaltung im kanadischen Protestantismus als dauerhaft anerkannt und die wachsende wirtschaftliche und politische Bedeutung des evangelikalen Protestantismus in Westkanada bestätigt. Diese Spaltung hat nicht nur das protestantische Zeugnis geschwächt, sondern auch zu einer Reihe interessanter und verwirrender Verbindungen geführt. Auf den Gebieten sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit z. B. arbeiten Katholiken und liberale Protestanten sehr eng zusammen, aber in fest umrissenen ethischen Problemen, wie z. B. Abtreibung und Geburtenkontrolle, finden sich Katholiken und konservative Protestanten, die diese Maßnahmen ablehnen, in gemeinsamer Front, um die Mehrheit in Aufsichtsbehörden für Krankenhäuser und in Kommissionen zur Beratung Abtreibungswilliger zu erlangen.

3. Regionale

Besonderheiten

Die Erwähnung relativ neuer Entwicklungen in Westkanada führt zu einer grundlegend wichtigen Angelegenheit bei jeder Diskussion über Religion in Kanada. Wenn jemand die Fragestellung landesweit betrachtet, ist es offenkundig, daß 90 % der kanadischen Christen Anhänger der sechs großen Konfessionen sind, die in diesem Artikel behandelt wurden, und dieses Muster ist seit der Staatsgründung Kanadas 1867 im wesentlichen gleich geblieben. Wenn jemand die Fragestellung aber nach Regionen aufgeteilt betrachtet, ändert sich das Bild schlagartig. Landesweit z. B. sind die Baptisten die kleinste der großen kanadischen Konfessionen, und proportional zur kanadischen Gesamtbevölkerung nehmen sie ab. Aber in der Küstenregion Ostkanadas sind sie die größte und mächtigste protestantische Kirche in der Provinz New Brunswick. Außerdem haben die Baptistenkirchen in diesem Gebiet Spaltungen vermieden, welche die Baptistenkirchen im Rest des Landes kennzeichnen. Dementsprechend können Aussagen allgemeiner Art, die aus einer landesweiten Perspektive eine gewisse Gültigkeit zu haben scheinen, völlig daneben treffen, wenn sie sich auf einen Ort oder eine Gegend beziehen. Zweifellos gilt dies für alle Länder; aber in einem Land, das 9 9 7 6 1 3 9 k m 2 umfaßt und durchschnitt-

Kanada

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lieh eine Bevölkerungsdichte von 225 Personen pro 100 km 2 hat, ist es besonders wichtig, die regionalen Unterschiede in allen Bereichen, die sich auf Religion beziehen, im Auge zu behalten. Regionale Verschiedenheit ist besonders auffällig in der kanadischen Theologie und Religionswissenschaft. In der Ostküstenregion z.B. gibt es neuerdings eine Renaissance regionaler Baptistengeschichte, die einzigartig in Kanada ist. Außerdem sind nur in der Küstenregion die Anglikaner, Katholiken und die United Church in der Lage, bei einem Programm ökumenischer Seelsorgeausbildung zusammenzuarbeiten: an der Atlantic School of Theology in Halifax. In der Provinz Quebec haben die bedeutenderen französisch-kanadischen theologischen Fakultäten an der Laval University in Quebec City und an der University of Montreal eine lange Tradition in der Ausbildung für römisch-katholische Priester. In jüngerer Vergangenheit wurden an den meisten französisch-kanadischen Universitäten Abteilungen für Religionswissenschaft gegründet, und viele Wissenschaftler an diesen Einrichtungen beschäftigen sich intensiv mit dem Studium der Religion im französischsprachigen Teil Kanadas. An der McGill University in Montreal gibt es auch eine wichtige protestantische Fakultät, die auch religionswissenschaftlich ausgerichtet ist. Im 20. Jh. hat sich die McGill University zu einem der herausragenden Zentren höherer theologischer Ausbildung in Kanada entwickelt; mit seinem Institute of lslamic Studies, das von Wilfried Cantwell Smith 1951 gegründet wurde, besitzt McGill Möglichkeiten für weiterführende Studien, wie man sie kaum anderswo in Kanada findet. In Ontario ist Toronto das wichtigste Zentrum für theologische Ausbildung und religiöse Studien. Die Toronto School of Theology (1969), die Anglikaner, Baptisten, Presbyterianer, Katholiken und die United Church umfaßt, bietet theologische Graduiertenausbildung. Die noch später errichtete Abteilung für Religionswissenschaft bietet ein Studienprogramm innerhalb ihrer philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät und ein weiterführendes Programm an ihrem Centre for Religious Studies. Das Studium der Religion an der University of Toronto war aber nie auf die konfessionsgebundenen Colleges oder die Abteilung für Religionswissenschaft beschränkt. Die Abteilung für Klassische Philologie hat seit Charles Norris Cochrane ein aktives Interesse am Studium der Religion bewahrt; in der Gegenwart hält Timothy Barnes diese Tradition aufrecht. Auch das Pontifical Institute of Medieval Studies, mit dem Etienne Gilson und Jacques —•Maritain jahrelang an prominenter Stelle verbunden waren, bleibt eines der herausragendsten Zentren für Mittelalterstudien in Nordamerika. Im westlichen Kanada wurden ebenso katholische wie protestantische Colleges und Seminarien errichtet, zumeist kleine Schulen mit sehr begrenztem Lehrkörper und Mitteln. Erst als spät in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts zwei größere Gruppen theologischer Colleges in Saskatoon, Saskatchewan (aus Anglikanern, Lutheranern und der United Church bestehend), in Vancouver, British Columbia (aus Anglikanern, Presbyterianern und der United Church bestehend) gebildet wurden, begannen die Zentren für die seelsorgerische Ausbildung angemessene Form anzunehmen. Zu etwa derselben Zeit errichteten die meisten Provinzuniversitäten im westlichen Kanada ebenfalls Abteilungen für Religionswissenschaft. Als neueste Abteilungen waren sie auch die ersten, die die Auswirkungen finanzieller Einschränkungen in den späten siebziger und den achtziger Jahren spürten. Folglich sind nur wenige von ihnen in der Lage gewesen, angemessene höhere Studiengänge zu entwickeln, aber trotz dieser Einschränkungen nehmen die meisten von ihnen Kanadas religiösen Pluralismus ernst und liefern so in ihren Kursen über Buddhismus, Hinduismus, Judentum und Islam wie auch über das Christentum einen bedeutenden Beitrag zur Verständigung unter den Rassen und zur Vielschichtigkeit der kanadischen Kultur.

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Kanon

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N. Keith Clifford Kanaanäische Religionen —•Westsemitische Religionen Kanon 1. Die Kanonsfrage 2. Der Prozeß der Kanonsbildung 3. Die Relation der Kanonsbildung zur Kirche 4. Kanon und die Mitte der Schrift 5. Kanon und Reformation 6. Das Inspirationsproblem 7. Die kanonische Bedeutung des Alten Testaments 8. Die ökumenische Qualität des Kanons (Literatur S. 5 6 8 )

1. Die

Kanonsfrage

Der Begriff „Kanon" (6 Kavcbv) besagt ursprünglich in allgemeiner Bedeutung Richtschnur, Regel, Maßstab, Vorbild vor allem für die bildende Kunst. In seiner speziellen Bedeutung bringt dieser Begriff seit den drei ersten Jahrhunderten nach Christus die Authentizität und normative Geltung der von der offiziellen Kirche legitimierten biblischen Bücher zum Ausdruck (Art. Kanon: R G G 3 3,1116—1122 [Lit.]). Aus dieser Definition ergeben sich drei Problemkreise: Zum ersten die Kanonsfrage als historisches Problem. Hier geht es um die Besinnung auf die Ursachen und Motive, die zu dieser Kanonsbildung geführt haben, wodurch die -+ Kirche veranlaßt wurde, bestimmte christliche Schriften als „echt" und gültig, als „kanonisch" anzuerkennen und damit zugleich andere auszuschalten. Zum zweiten das ekklesiologische Problem, in dem das Verhältnis der Kirche zur ->Bibel (Kanon) zur Debatte steht. „Mit der Anerkennung des Vorhandenseins eines Kanons spricht die Kirche aus, daß sie sich gerade in ihrer Verkündigung nicht allein gelassen w e i ß . . . " , daß es sich um einen „kategorischen Imperativ" ihres Auftrages handelt. Der Schriftlichkeit des Kanons eignet eine besondere Bedeutung. An ihr „hängt seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und also seine freie Macht gegenüber der Kirche" (Karl Barth, KD 1/1, 103 f. 107). Zum dritten geht es um ein theologisch-dogmatisches Problem, in dem die Beziehung von kanonischer Bibel zur -»• Lehre der Kirche eine Untersuchung erfordert. Inwiefern kann der Kanon zur regula fidei werden und selbst die Qualität einer „Norm der Wahrheit und des Glaubens" empfangen? Die Kanonsfrage bildet somit einen Kreuzungspunkt verschiedener zentraler Erkenntnisreihen, denen grundlegende theologische Bedeutung zukommt. 2. Der Prozeß der Kanonsbildung

(s. auch T R E 6 , 2 2 - 4 8 )

Der Prozeß der Kanonsbildung muß aus dem Horizont der kirchlichen und geistesgeschichtlichen Situation, wie sie sich nach dem Tode der Apostel entwickelt hat, verstanden werden. Die urchristlichen Gemeinden standen zwar, entscheidend für ihre Verkündigung, unter dem Einfluß der apostolischen Briefe, der tradierten „Herrenworte" sowie der vier —»Evangelien, aber sie wurden je länger desto stärker von Gefahren bedroht. Im Vordergrund stand das Faktum der Verschiedenheit der ältesten christlichen Literatur. Man konnte sich zwar über die nie bezweifelten Schriften mit apostolischer Autorität, über die „Homologumena" einigen, daneben aber gab es „Antilegomena" (Jak, Jud, II Petr, II u. III Joh) sowie -»„Apokryphen" (z.B. Apokalypse des Henoch, die Himmelfahrt Moses und Jesajas, das Kerygma Petri, das Thomas-Evangelium, die historisch unhaltbaren Apostelakten, oder auch die Didache, einen Paulusbrief nach Laodicea und

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den 1. Clemensbrief aus R o m im ersten Jahrhundert), deren Gültigkeit und Verbindlichkeit strittig waren. Dazu traten die speziellen Gefahrenmomente durch die möglichen Verluste echter apostolischer Schriften, ihre willkürliche Auswahl, ja ihre Korrektur, ihre Veränderung und die Verstümmelung der jeweiligen Texte. Schließlich drohte noch die Umdeutung des urchristlichen Schrifttums durch ideologische Fremdeinflüsse, wie sie durch gnostische Strömungen (—»Gnosis), welche sich ebenfalls auf christliche Quellen beriefen, hervorgerufen wurde (vgl. dazu Prümm). Angesichts dieser kritischen Lage der nachapostolischen Periode war eine Sammlung der umlaufenden christlichen Schriftzeugnisse eine unumgängliche Notwendigkeit geworden. Diese allgemeine Gefährdung steigerte sich zur höchsten Aktualität durch den Einbruch von - » M a r c i o n s massiven Häresien (etwa seit 144). Drei Charakteristika kennzeichnen die Irrlehren des „ M a r c i o n i s m u s " : einmal die antinomisch-antijudaistische Ausrichtung mit der Verwerfung des Alten Testaments sowie eine entsprechende Revision der Evangelien, so daß eine harte Konfrontation zwischen —»Gesetz und Evangelium statuiert wird; sodann eine einseitige Verabsolutierung und ideologisch-gnostische Manipulierung der Paulusbriefe, besonders von R o m , Gal und II Kor. Schließlich erscheint seine dualistisch-utopische Grundkonzeption, die ein radikales Nein zum alttestamentlichen Schöpfergott postuliert und die Christus ohne geschichtliche Basis in ein Himmelswesen verwandelt, folgenschwer. Dieses von M a r c i o n inszenierte „ R e f o r m w e r k " einer „literarischen S ä u b e r u n g " des urchristlichen Schrifttums einschließlich des Alten Testaments stellte eine ungewöhnliche Herausforderung für die junge Kirche dar. Die Gültigkeit biblischer Schriften im R a u m der Kirche schien in Frage gestellt. „Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die seit dem Ende des 2. Jahrhunderts entstehende kirchlich-neutestamentliche Schriftensammlung in erster Linie als antimarcionitische Kontrafaktur gedacht w a r " (Beyschlag 79; vgl. Adolf v. H a r n a c k ) . D e m g e m ä ß trägt der Entstehungsprozeß des Kanons den Stempel eines Bewahrungsaktes, einer Schutzfunktion gegenüber Fehlerquellen. Das Sicherheits- und Garantiebedürfnis, die Tendenz, „ e c h t e " und fragwürdige urchristliche Schriften voneinander zu unterscheiden, wurden zur Triebkraft dieser Ausscheidungs-, Kontroll- und Sammlungsaktion. Dieser universale Prozeß der allmählichen Entwicklung der Kanonsbildung erstreckte sich vom Ende des 2. J h . bis hin zu den offiziellen Entscheidungen der kirchlichen Synoden von R o m 3 8 2 , von Hippo 392 und von Karthago 397 bis 419. -> Athanasius hat in einem Osterbrief schon 367 den Entstehungsprozeß als abgeschlossen angesehen. W. -•Eiert urteilt: „ D e r Kanon der bei uns heute geltenden neutestamentlichen Schriften ist erst im vierten J h d . , im Osten zum Teil noch später, endgültig abgegrenzt worden. Der weit überwiegende Teil von ihnen hatte allerdings bereits am Ende des zweiten J h d . in der gesamten Kirche kanonische Autorität: die vier Evangelien, die dreizehn Paulusbriefe, die Apostelgeschichte, der erste Petrus- und der erste Johannesbrief. Das sind dem Umfang nach mehr als neun Zehntel des endgültigen K a n o n s " (178). Zu diesem Grundstock trat später die Rezeption des Zweiten und Dritten Johannesbriefes, des Hebräerbriefes, des Zweiten Petrusbriefes, des Judasbriefes und der Apokalypse des J o h a n n e s , so daß abschließend 27 neutestamentliche Schriften zusammen mit dem Alten Testament von der offiziellen Kirche als „ k a n o n i s c h " anerkannt wurden (Althaus 178 ff). Zusammenfassend und prinzipiell gilt das Urteil: „ D e r Wert des Kanons für die Kirche ist k a u m zu überschätz e n " . „ D a s Wesen der Kanonbildung besteht in einer autoritativen Umgrenzung des Schriftbestandes und in der dogmatischen Erklärung dieses Bestandes zum tragenden Grund und zur maßgeblichen Glaubensquelle der K i r c h e " (Trillhaas 72). M i t dieser Erkenntnis wird die für das Kanonsverständnis kardinale Frage nach den Kriterien der Auswahl bzw. der Ausschaltung brennend. Es handelt sich um die Fixierung der dogmatischen Prämissen: Was hat als die Glauben begründende - » W a h r h e i t zu gelten? Worin findet der Autoritätsanspruch des Kanons seine sachlich-inhaltliche Legitimation? Dazu betont K . Beyschlag: „Kein christlicher T h e o l o g e der ersten Jahrhunderte hat das Urvertrauen der Kirche zur Wahrheit ihres Glaubens so unerbittlich in Frage gestellt

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wie der „Ketzer" Marcion, keiner aber hat diese Kirche auch so gebieterisch gezwungen, sich auf diese Wahrheit zu besinnen wie eben er" (69). Die Antwort darauf trägt demnach eine streng theologisch-dogmatische Qualität. Das Selbstverständnis und somit die Selbstinterpretation der urchristlichen Schriften, scriptum sui ipsius interpres, deklarieren Fundament und Voraussetzung des Kanons. Sein Kriterium beruht inhaltlich auf dem Geschehensein der dreifaltigen -»Offenbarung Gottes in Zeit und Raum der Geschichte. Diese Offenbarungswirklichkeit aber ist nur erkennbar durch das pneumatisch erwählte Zeugentum,das, „prophetisch" und „apostolisch" geprägt, die Merkmale der Ursprünglichkeit und Unvergleichbarkeit besitzt. Die göttliche Offenbarung ist weder mit der Kirche noch mit dem Kanon identisch, sondern ist vorgegeben, sie geht beiden voraus. Hinter allen Kanonsbemühungen stehen die Apostel und -»Propheten als Offenbarungszeugen, die einen unbedingten Wahrheitsanspruch erheben (Eph 2,20; Mt 16,18; I Kor 3,11; II Kor 5 , 1 8 - 2 1 ) . Aus dieser Grunderkenntnis ergibt sich, daß die nach den apostolischen Kriterien ausgewählten „kanonischen" Schriften des Neuen Testaments die literarische Urtradition, welche auf die Apostel selbst, auf die Apostelschüler oder apostelähnliche Zeugengestalten zurückgehen, manifestieren. Dieses Schrifttum nimmt die Position eines „Apostelersatzes", einer Vergegenwärtigung der einmaligen, unwiederholbaren apostolischen Autorität ein. Die Apostel sind selbst in das Offenbarungsgeschehen mithineingezogen und dadurch zu unmittelbaren Offenbarungszeugen geworden. Ihre „Augen- und Ohrenzeugenschaft" begründet die Apostolizität, auf die alles bei der Deutung des Kanons ankommt (Act 1,21.22; 2,22ff; 3,15; 5,32; 10,39; 13,31; 22,15; 26,15; I Kor 15,5ff; Gal 3,1; II Petr 1,16-18). Das apostolische Urzeugnis vermittelt Unmittelbarkeit und Direktheit zur Offenbarung. Ihm eignet eine exzeptionelle Würde und es ist nicht mit den Stimmen der Kirchenväter oder der Reformatoren gleichzusetzen. Da die „apostolische Präsenz" sich stets in ihrem Zeugnis aktualisiert, wird ihre Stimme identisch mit der Stimme des Deus revelatus, mit der Stimme des „Wortes Gottes" als Organ des Heiligen Geistes (Act 4.20ff; I Thess 2,4.13; Lk 10,16; Gal 1,11.12; 3,1; I Joh 1 , 1 - 3 ; II Petr 1 , 9 - 2 1 ; vgl. Althaus 156ff; Trillhaas 69f; Eiert 172ff). 3. Die Relation

der Kanonsbildung

zur

Kirche

Aus der Bedeutung des kanonischen Maßstabes ergeben sich folgende ekklesiologische Überlegungen: Nach römisch-katholischer Lehre ist die Kirche selbst die eigentliche Garantie des apostolischen Ursprungs der kanonischen Schriften. Die Kirche repräsentiert sich als corpus mysticum, als durch den Heiligen Geist entstanden und gelenkt. Konkret besagt das, daß das bischöfliche Amt die kanonische Wahrheit sanktioniert. Die Kirche bietet die entscheidende Bürgschaft für die Autorität des Kanons, da die Kirche schon vor dem Kanon, schon vor den neutestamentlichen Schriften existierte. Infolgedessen steht die Kirche über dem Kanon, sie besitzt eine ältere Autorität als das Neue Testament. Im Gegensatz zu diesen Thesen ergeben sich jedoch aus dem Denkansatz in der Apostolizität des Kanons folgende modifizierte Feststellungen: Die christliche Urkirche besitzt keine dogmatische Selbständigkeit und keine Autonomie in den Lehr- und Lebensfragen gegenüber den Aposteln (Act 2,42; 20,35). Der kritische Einwand Elerts lautet: „ . . .der Kirche [wird in der römisch-katholischen Lehre] eine Selbständigkeit gegenüber den apostolischen Schriften zugeschrieben..., die sie nach dem Tode der Apostel nie besessen h a t . . . War also die Kirche nach dem Tode der Apostel niemals ohne deren Schriften, so war sie auch niemals ohne deren Autorität... Die Kirche stand vom Augenblick ihrer Entstehung an unter der Autorität der Apostel, die Organe des Parakleten geworden waren. Eine Kirche, die davon unabhängig war und die sich also über die Autorität des apostolischen Zeugnisses, des mündlichen wie des schriftlichen, hätte schlüssig werden können oder müssen, hat es nie gegeben" (178f). (Eine Bestätigung findet sich schon in I Clem 47,1 ff; IgnEph 12,2; Polyk 3,2; 11,2 f.) Die Priorität der

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apostolischen Autorität qualifiziert und garantiert umgekehrt die kirchliche Autorität. 4. Kanon und die Mitte der Schrift In der apostolischen Perspektive des Kanons erschließt sich das christologisch-soteriologische und zugleich trinitarische Zentrum aller Schriftaussagen. In dieser damit durch die Schrift selbst gesetzten „Mitte" (dies ist recht verstanden und theologisch verantwortbar auch mit dem Begriff „Kanon im Kanon" gemeint) liegt der eigentliche wesenhafte Deutungsschlüssel für die biblische Offenbarungsdimension. Dementsprechend begründet die Schriftmitte, als entscheidender Bezugspunkt in aller Mannigfaltigkeit und sachlichen Pluralität der einzelnen kanonischen Schriften, die Einheit der Schrift, unitas scripturae. Der formale Kanon umgrenzt den Raum jenes Schrifttums, innerhalb dessen das apostolisch legitime Zeugnis von Gottes Offenbarung uns begegnet. Er repräsentiert den Zeugnisbereich, der allein die heilsnotwendige Glaubenserkenntnis zu vermitteln vermag, er besitzt perspicuitas, sufficientia, perfectio scripturae. Seine sachgemäße Interpretation wird durch die Orientierung an der „Mitte der Schrift" ermöglicht. Die Schriftmitte faßt die elementare Zeugnissubstanz des Kanons zusammen, auf die alles bei der Verkündigung und Lehre der Kirche ankommt. „Der zentrale Inhalt der Schrift ist das, was ihn zur N o r m der Lehre macht" (Brunstäd 23; s. dazu auch Althaus 150 f, Eiert 181 ff sowie Trillhaas 69ff). 5. Kanon und

Reformation

Die reformatorische Konzeption bestätigt und entfaltet das biblische Schriftprinzip. Insbesonders stellt Luthers Schriftverständnis das klassische Beispiel für eine durch die Schriftmitte gelenkte Kanonsinterpretation dar. Sein christologischer Maßstab „Was Christum treibt" (Vorrede zum Jakobusbrief) bedeutet Bindung und Freiheit zugleich. „Was Christum nicht lehrt, das ist nicht apostolisch, wenn es gleich Petrus und Paulus lehrte. Wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenngleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes es täte" (WA.DB 7,384). Infolgedessen kann Luther gegenüber der Apokalypse Johannes, dem Jakobusbrief oder auch Hebräerbrief eine reservierte und z.T. kritische Haltung einnehmen. Der allein maßgebende Grundsatz solus Christus, er allein ist dominus et rex scripturae, beherrscht das gesamte Bibelverständnis. In dieser christologisch-soteriologischen Sicht setzt Luther bestimmte Akzente auf Römerbrief, Galaterbrief, das Johannesevangelium und die Psalmen. Entscheidend ist für Luthers Position die radikale Rückbeziehung des christlichen Glaubens direkt auf das Offenbarungszeugnis der Bibel im Unterschied zur Zwischenschaltung kirchlicher Tradition sowie des päpstlichen Lehramtes oder eines kirchlichen Konzils. Es geht hier um die Konfrontation mit der Überordnung der Kirche über die Schrift, welche der kirchenamtlichen kanonischen Exegese unterworfen wird. Damit aber verliert „die Bibel... ihre normative und kritische Macht gegenüber der Kirche" (Althaus 154). Die Berufung auf das sola scriptura bejaht nicht nur die formale Anerkennung des biblischen Kanons, sondern vor allem die inhaltliche kanonische Autorität, welche ihren Grund in der Heilsbotschaft sola gratia propter Christum per fidem, vermittelt durch -»Glauben, besitzt. Die Frucht dieser Schriftlehre ->Luthers findet ihre zusammenfassende theologische Reflexion in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1530-1580). Für ihr Verständnis sind drei Grunderkenntnisse charakteristisch: Z u m ersten ist das Bekenntnis konzentrierte Ausprägung und verbindlicher Niederschlag der im Kanon überlieferten Offenbarungswahrheit. Dieses prophetisch-apostolische Urzeugnis ist die einzige N o r m „unica regula et norma" (Epitome, Von dem summarischen Begriff, BSLK 767,15). Das Bekenntnis wird von daher verstanden als „Vorbild" und Richtlinie für die „Schriftauslegung der Kirche" und beansprucht Verbindlichkeit für Lehre und Predigt (Brunstäd 18f.21f.27). Dementsprechend betont die Confessio Augustana (1530) in ihrem zusammenfassenden Schlußurteil, daß ihre Artikel mit der Heiligen Schrift übereinstimmen und „mit Grund göttlicher heiliger Schrift" alle ihre Lehraussagen dargelegt

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werden. Abschließend stellen das Konkordienbuch und die Konkordienformel (FC) die konstante Gültigkeit der Bekenntnisentscheidung fest, die als „öffentliches gewisses Zeugnis nicht allein bei den Jetztlebenden, sondern auch bei unsern Nachkommen" herausgestellt wird (BSLK 840,15ff). Luthers Katechismen sind „der Laien Bibel, darin alles begriffen, was in Heiliger Schrift weitläufig gehandelt und einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen von nöten ist" (Epitome, Von dem summarischen Begriff, BSLK 769,6ff). Als zweites Charakteristikum manifestiert sich die „Schriftmitte" in den konkreten Begriffen Gesetz und Evangelium (vgl. dazu Ratschow). Das Offenbarungshandeln des dreieinigen Gottes findet seine eindeutige Gestaltungsform im Zeugnis von dem Wirken Gottes durch Gesetz und Gnade. So werden „Gesetz und Evangelium" zu tragenden Säulen und richtungsgebenden Brennpunkten des universalen kanonischen Schriftwortes. „Universa scriptura in hos duos locos prcecipuos distribui debet: in legem et promissiones" (Apol. IV,5, BSLK 159,30ff). Sie dienen „zu klarem richtigem Verstände der ganzen heiligen Schrift" und sollen „zu dem rechten Erkennen Christi allein den Weg weise(t), auch in die ganze Bibel allein die Tür auftu(n)" (Apol. IV,3, a . a . O . 159,6ff). Zum dritten ist es kennzeichnend, daß das lutherische Bekenntnis auf die Aufzählung der einzelnen kanonischen Schriften verzichtet und sich von jeglicher Kanonstheorie unabhängig macht. Es kann daher von einer Offenheit und „Unabgeschlossenheit des Kanons" geredet werden. Nach Althaus verhilft gerade diese nur „relative" Geschlossenheit „der Kirche also immer wieder zur Besinnung auf die rechtverstandene Autorität der Schrift..., nämlich . . . dem grundliegenden Zeugnis von Jesus Christus" (ebd. 167). Die calvinistisch-reformierte Schriftposition zeigt im Vergleich mit dem lutherischen Schriftprinzip erhebliche Unterschiede. Da nicht die Schriftmitte als Angelpunkt des Schriftverständnisses anerkannt wird, muß es zu einer inhaltlichen Nivellierung der kanonischen Schriften, die eine abgegrenzte und abgeschlossene Einheit darbieten, kommen. Infolgedessen wird eine formalistisch-nomistische Zuspitzung der Schriftlehre unvermeidbar. Zur theologischen Rechtfertigung dient die Grundthese von der Urheberschaft des Heiligen Geistes für den Kanon. Daraus ergibt sich für -> Calvin 1543 die Konsequenz, daß nicht die inhaltliche Apostolizität für die Schriftauslegung normgebend sein kann, sondern vielmehr die Heiligkeit des Kanons selbst, denn die Bibel ist das Buch „in dem Gott sein Gesetz und seinen Willen verfaßt hat" (Institutio IV 8,8 f). Daraus ergibt sich teilweise ein gesetzlicher Biblizismus, eine Lehrgesetzlichkeit, welche die „Mitte der Schrift" aus dem Auge verloren hat und die Wertgleichheit aller Bibelworte postuliert. Das extremste Resultat dieser nomistischen Entwicklung zeigt die Formula Consensus Helvetica 1675 (s. auch Confessio Gallicana Art. 3,4; 1559), welche die unantastbare Heiligkeit der biblischen Buchstaben, „die ganz genaue Inspiration der hebräischen Punktation bis auf jedes Pünktchen und Häkchen" behauptet (Brunstäd 20 f; Althaus 152-155.168 f). Die römisch-katholische Schriftlehre befindet sich in einer gewissen Analogie zu diesen Theorien. So statuiert das ->Tridentinum (Sitzung IV. D. 785, 1545-1563) die „Irrtumslosigkeit der Bibel" in der Abgeschlossenheit des vorliegenden Kanons. Bemerkenswert ist, daß auch die alttestamentlichen Apokryphen zum Kanon gerechnet werden. „Als authentischer Text gilt heute noch die Vulgata Clementina 1592, eine Verbesserung der Vulgata des Hieronymus" (Walther v. Loewenich, Der moderne Katholizismus, Witten 6 1963, 153). 6. Das

Inspirationsproblem

Unlösbar mit der Kanonsfrage ist das Inspirationsproblem verbunden. Damit wird die Besinnung auf den theologischen Stellenwert des Heiligen Geistes für das Kanonsverständnis akut. Es geht hier um vier Gesichtspunkte: 1. Das von dem Kanon bezeugte Offenbarungsgeschehen versteht sich als ein überrationales, aber geschichtsgebundenes Ereignis, das einen wesenhaft pneumatischen Charakter trägt. 2. Die apostolischen Zeugen des Jesus Christus Kyrios sind ebenso wie die Propheten des Alten Testaments durch

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den Heiligen Geist erwählte und bevollmächtigte Botschafter. Ihre Erkenntnis steht unter der Wirkung des göttlichen Geistes und ist insofern pneumatisch bestimmt. 3. Daher müssen ihre Schriften ihrem zentralen Inhalt nach als vom Heiligen Geist inspiriert beurteilt werden. Es handelt sich um die Effizienz der „Theopneustie" (Mk 13,11, Lk 12,12; Joh 6,63; Act 2,4; Rom 8,2.12; I Kor 2,4; II Kor 3 , 1 4 - 1 7 ; Eph 1,17; II Tim 3,16; I Petr 4,14; II Petr 1,19-21). 4. Das Verständnis des Kanons in seiner einmaligen Offenbarungs- und Heilsqualität bedarf wiederum der pneumatisch gewirkten Glaubensentscheidung. Ohne sie wird der Kanon zu einem bloßen Bestandteil einer allgemeinen weltlich-religiösen Literaturgattung. Die Autorität der Bibel „muß sich ständig darin ereignen und erweisen, daß der Geist zum Worte kommt und wir das lebendige Zeugnis vernehmen, das uns zum Glauben ruft" (Trillhaas74 [mit Literaturangaben]; vgl. Gal 3,2.5; I Kor 12,9; II Kor 3,6; II Tim 1,14; I Joh 5,6). Im Raum dieser Inspirationsproblematik begegnet die altorthodoxe Theorie der „Verbalinspiration" (Johann Gerhard, Loci theologici I, Cap. XV, 1610-1625 „Sacra scriptura est verbum Dei"). Sie stellt eine theologische Hilfskonstruktion dar, um die Heiligkeit und Unfehlbarkeit des Kanons zu sichern (Brunstäd 23). Diese Theorie verfehlt jedoch das kanonische Zeugentum, degradiert die biblischen Verfasser zu mechanischen Werkzeugen, anonymi calami, zu Griffeln des Heiligen Geistes und wird dem Heilszentrum der „Schriftmitte" nicht gerecht. Damit vollzieht sich eine Schwerpunktverlagerung von dem Inhalt der Offenbarungswahrheit zu formalen Textaussagen, zu einem „Buchstabendienst", dessen Richtigkeit durch den „diktierenden Geist garantiert" wird (Trillhaas 79; Eiert [170f] spricht von einer „Diktattheorie"; vgl. auch Weber, Art. Inspiration). 7. Die kanonische

Bedeutung

des Alten Testaments

(s.auch T R E 6,28,35 ff; 50f)

Einer speziellen Begründung bedarf die kanonische Bedeutung des Alten Testaments. Zweifellos können im Vergleich zum Neuen Testament die spezifische Besonderheit und Differenziertheit der alttestamentlichen Aussagen nicht übersehen werden. Eiert untersucht u.a. die Frage nach der „Kanonsfähigkeit" des Alten Testaments (226), und W. Trillhaas prüft die Distanz des Alten Testaments (88 f). Aber entscheidend ist die wesenhafte heilsgeschichtliche Komponente der Kanonizität. Die Aufnahme in den Kanon war von Anfang an in der Urgemeinde problemlos, da das Alte Testament die „Bibel" Jesu und seiner Apostel darstellte, also zum Grundstock der Kanonsbildung werden mußte. Damit wird aber auch deutlich, daß die kanonische Autorität eine spezifische, heilsgeschichtliche Perspektive erfordert. Das Alte Testament kann als legitimer Teil des Kanons nur in der Sicht der trinitarischen Offenbarung (Schöpfung, Fall, Erlösung, Vollendung) speziell von der Christusmitte des Neuen Testaments her gelesen und verstanden werden, um so mehr, als Jesus selbst als der Auferstandene eine neue Interpretation des Alten Testaments vollzieht (Lk 24,25.27.44.45; II Tim 3,14.15). Gott hat durch die Propheten und das Gesetz geredet und ihre Sendung erfüllt (Hebr 1,1; Jes 53,2ff; I Petr 2,22.25; II Kor 5,21; Joh 1,29; I Joh 3,5; Rom 10,4; Mk 15,28; Lk 22,37). Demgemäß ist der Kanon das Zeichen für die unlösbare Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament (vgl. Althaus 150 f). 8. Die ökumenische

Qualität des

Kanons

Das Vorhandensein des biblischen Kanons ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung einer ökumenischen Bewegung zur Zusammenarbeit und zum Zusammenschluß der christlichen -*Konfessionen. Dabei sind folgende Faktoren zu berücksichtigen. 1. Die kommunikative Bedeutung des Kanons als formales Einheitsband für alle Kirchen der Christenheit. 2. Die Differenziertheit der theologischen und kirchlichen Beurteilung der Kanonsqualität und seiner Interpretation. Die Spannweite in der Bewertung des Kanons ist trotz seiner allgemeinen Anerkennung nicht zu übersehen. 3. Die kritische Funktion des Kanons gemäß seinem Apostolizitätsprinzip, das ein confitemur et damnamus statuiert, klare Unterscheidungsmerkmale herausstellt und eine Abgrenzung gegen

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allgemeine religiös-ideologische Phänomene und die außerchristlichen Weltreligionen (Buddhismus, Hinduismus, Islam) vollzieht. Die heutige ökumenische Situation ist gekennzeichnet durch die Priorität einer Einheitstendenz sowie einer Relativität der kanonischen Wahrheitsfrage. Charakteristisch erscheint die ökumenische „Konvergenztheolog i e " (die Erklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in L i m a / P e r u , 1982, zu „Taufe, Eucharistie, A m t " ) , die sich bemüht, durch Reduzierung theologischer Lehrdifferenzen und durch eine Begriffsangleichung eine neue kirchliche Einheitsbasis anzuvisieren. Nicht wenige Theologen rücken die Wahrheitsfrage in den Hintergrund, um durch einen - » D i a l o g mit den gleichwertigen außerchristlichen Partnern (Islam, Buddhismus, Hinduismus) anstatt christlicher - » M i s s i o n , sich der ökumenischen Einheit aller Konfessionen und Religionen nähern zu können (s. z. B. H a n s Küng, Christentum und Weltreligionen, M ü n c h e n 1984). Damit wird die Verbindlichkeit des Kanons relativiert. Dagegen betont R e i n h a r d Slenczka „die Gefahr, daß die Einheit selbst zur N o r m w i r d , . . . es geht nicht d a r u m , in der Einheit zu konvergieren, sondern in der Wahrheit zu bleiben" (R. Slenczka, Die Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie, A m t und ihre Konsequenzen für Lehre und Gottesdienst: KuD 31 [1985] 18 f; vgl. ders., Schrift-Tradition-Kontext 44ff, ebenso ders., D o g m a und Kircheneinheit). Abschließend kann festgestellt werden: Die ökumenische Zentralfrage ist nicht identisch mit der Einheitsfrage, sondern findet letztlich ihre A n t w o r t und Dignität in dem Wahrheitszeugnis der im K a n o n präsenten Heiligen Schrift. Diese Wahrheitsfrage aber spitzt sich in der Entscheidungsfrage zu, o b es im Offenbarungszeugnis um die göttliche Wahrheit selbst oder nur um menschliche Ideologien, die in einem Wahrheitssuchen ihre Einheit finden, geht. Sie kann ihre Lösung nur in der A n t w o r t des Glaubens finden. Literatur William J . Abraham, The Divine Inspiration of Holy Scripture, Oxford 1981. - Kurt Aland, Das Problem des ntl. Kanons: NZSTh 4 (1962) 2 2 0 - 2 4 2 = Das N T als Kanon, s.u., 1 3 4 - 1 5 8 . - Paul Althaus, Die christl. Wahrheit, Gütersloh 8 1969. - Nikolaus Appel, Kanon u. Kirche. Die Kanonkrise im heutigen Protestantismus als kontroverstheol. Problem, Paderborn 1964. - Die Autorität der Sehr, im ökumen. Gespräch, hg. v. Karl Kertelge, 1985 (ÖR.B 50). - Heinrich Bacht, Die Rolle der Tradition in der Kanonbildung: Cath (M) 12 (1958) 1 6 - 3 7 . - Gustave Bardy, Art. 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Kant/Neukantianismus I

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Heilige/Heiligenverehrung

Kanonistik -> K i r c h e n r e c h t Kant/Neukantianismus I. Kant II. N e u k a n t i a n i s m u s I. Kant, Immanuel

581 (1724-1804)

1. Leben 2. Lehre 2.1. Dogmatismus/Kritizismus 2.2. Die vorkritische Periode (bis 1769/70) 2.3. Der Übergang 2.4. Kritik der reinen Vernunft 2.5. Ethik, Moralmetaphysik, Religionsphilosophie 3. Wirkung 3.1. Wirkung auf die protestantische Theologie 3.2. Wirkung auf die katholische Theologie (Quellen/Literatur S.580). I m m a n u e l K a n t , d e r w i r k u n g s m ä c h t i g s t e D e n k e r d e r N e u z e i t , g a b n i c h t n u r d e r Philos o p h i e e i n e n e u e R i c h t u n g , er b e s t i m m t e d a r ü b e r h i n a u s n a c h h a l t i g E n t w i c k l u n g e n in a n d e r e n W i s s e n s c h a f t e n , speziell a u c h in d e r T h e o l o g i e . D a ß K a n t g e r a d e in ihr - u n d z w a r s o w o h l in d e r p r o t e s t a n t i s c h e n als a u c h in d e r k a t h o l i s c h e n - zu m a ß g e b l i c h e m E i n f l u ß g e k o m m e n ist, h a t n a c h w e i s b a r e G r ü n d e : 1) D i e K a n t i s c h e P h i l o s o p h i e e n t h ä l t in i h r e m e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n w i e in i h r e m e t h i s c h e n Teil g e d a n k l i c h e E l e m e n t e , die d i e G r u n d l e g u n g t h e o l o g i s c h e r W i s s e n s c h a f t a l l g e m e i n a n g e h e n , 2) d a s K a n t i s c h e Œ u v r e ist v o n A n f a n g a n m i t d i r e k t t h e o l o g i s c h e n P r o b l e m e n b e f a ß t . A u f beides h a t d i e T h e o l o g i e ,

Kant/Neukantianismus I

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je anders nach Epochen und Personen, in vielfältiger Weise reagiert: affirmativ-weiterbildend, kritisch abwägend und auswählend, polemisch zurückweisend. Die in der Rezeptionsgeschichte sich widerspiegelnde theologische Relevanz der Philosophie Kants hat ihren Ursprung primär nicht in einem akademischen, objektivwissenschaftlichen Interesse, sie entspringt vielmehr einer Fundamentalthematik des Kantischen Denkens selbst: der Frage nach Möglichkeit und Wesen metaphysischer Erkenntnis. W o immer daher das Denken Kants für die Theologie als erheblich erscheint, steht im Hintergrund Kants Metaphysikinteresse mit der von ihm selbst bezeichneten Ideentriade „ G o t t , Freiheit, Unsterblichkeit". Kants philosophisches Werk ebenso wie sein Lebensgang zeigen sich von der metaphysischen - und in ihrem Vorfeld: der religiösen - Frageintention geprägt.

1. Leben Immanuel Kant, am 22. April 1724 als Sohn des Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina, geb. Reuter, in Königsberg geboren (und wahrscheinlich schon am folgenden Tag in der Domkirche auf den Namen „Emmanuel" evangelisch-lutherisch getauft), wächst in der Atmosphäre eines lokalspezifisch gefärbten -»Pietismus auf. Bibelgläubigkeit und Gebetsfrömmigkeit, verbunden mit tätigem Dienst am Nächsten, sind bestimmende Faktoren der Religiosität, die Kant im Hause der Eltern und dann (ab 1732) im Collegium Fridericianum, das von dem pietistischwolffianischen Theologen F. A. Schultz geleitet wird, begegnen. Die lokalspezifische Mischung von pietistischem Protestantismus und rationalistischer Schulphilosophie bestimmt auch weitgehend das geistige Klima der -»Königsberger Universität. Kant bezieht sie zum Wintersemester 1740. Schwerpunkte seines Studiums sind: Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften, klassische Philologie; er hört auch theologische Vorlesungen, ohne aber je eingeschriebener studiosus theologiae gewesen zu sein. Von vielen akademischen Lehrern beeindruckt ihn am meisten Martin Knutzen, der, ähnlich wie Schultz, Wolffianische Philosophie mit pietistischer Religiosität verbindet. Sein Studium schließt Kant 1746 mit der Schrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte ab (erschienen 1749). Die Jahre zwischen Studienabschluß und akademischer Tätigkeit verbringt Kant als Hauslehrer. 1755 erscheint als Frucht ausgedehnter naturwissenschaftlicher Studien die ihrem Gegenstand nach astrophysikalische, gleichzeitig aber auch stark philosophisch-theologisch imprägnierte Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Nachdem Kant 1755 zum Magister promoviert worden war (mit einer wiederum naturwissenschaftlichen Schrift De igne), schreibt und verteidigt er im gleichen Jahr als Habilitationsarbeit sein erstes rein philosophisches Werk: Primorum principiorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio. Als Privatdozent (magister legens) beginnt er im Wintersemester 1755/56 seine Lehrtätigkeit. Er liest über die philosophischen Hauptdisziplinen, über Natürliche Theologie, Naturrecht, Mathematik, Physik, Physische Geographie. In den 60er Jahren erreicht Kants 1755 erstmals literarisch artikuliertes Bemühen um eine apodiktisch gewisse Grundlegung der Philosophie ihren ersten Höhepunkt: Es erscheinen Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), der Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) und die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764). Von Kants breiter Beschäftigung mit ästhetischen (und mit ihnen verbunden: moralischen) Fragen zeugen die 1764 publizierten Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, seine Aufgeschlossenheit für psychopathologische Phänomene zeigt der im selben Jahr veröffentlichte Versuch über die Krankheiten des Kopfes. Erste Ansätze zu einer Totalrevision der -»Metaphysik läßt die letzte größere Schrift der 60er Jahre erkennen: die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766). Beruflich bringt das Jahr 1770 eine Wende, Kant wird ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik. Die zur Übernahme der Professur erforderte Disputationsabhandlung („InauguralDissertation") verteidigt Kant am 21. 8.1770 {De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis). Bringt diese Abhandlung bereits die revolutionär-neue Raum-Zeit-Lehre, so dauert es noch ein Jahrzehnt, bis das Werk erscheint, das diese Lehre einbaut in den Entwurf einer radikalen Neugründung philosophischen Denkens überhaupt: die Kritik der reinen Vernunft (1781). In rascher Folge veröffentlicht Kant die Werke, die das Programm der kritischen Philosophie realisieren: (a) für die Ethik 1785 die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft, die durch Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und schließlich durch die Metaphysik der Sitten (die außer der Tugendlehre Kants Rechts- und Staatslehre enthält) (1797) abgeschlossen wird; (b) der kritizistischen Grundlegung der Naturwissenschaften (Newtons Physik) gelten die 1786 erschienenen Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft-, (c) Ästhetik und Teleologie (Philosophie des Organischen) sind Thema der Kritik der Urteilskraft (1790); (d) das

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unvollendet gebliebene S p ä t w e r k ( o p u s postumum, a b 1796) setzt in i m m e r neuen A n l ä u f e n die kritizistische F u n d i e r u n g s t h e m a t i k fort. Flankiert w i r d Kants Arbeit an der D u r c h f ü h r u n g u n d Volle n d u n g des kritischen P r o g r a m m s d u r c h eine Vielzahl kleinerer, zumeist f ü r einen größeren Leserkreis b e s t i m m t e r (daher „ p o p u l ä r e r " ) Schriften zu verschiedenen T h e m e n : zur Geschichtsphilosophie u n d speziell z u m A u f k l ä r u n g s b e g r i f f , zu G e g e n s t ä n d e n der Rechts- u n d Staatslehre (vor allem: Zum ewigen Frieden 1795), zur Religionsphilosophie und A n t h r o p o l o g i e . 1794 g e r ä t Kant mit d e m p r e u ß i s c h e n Staat seiner Religionsphilosophie wegen in Konflikt. Öffentlich h a t K a n t nach d e m T o d e Friedrich W i l h e l m s II. im Streit der Fakultäten (1797) klärend zu diesem Konflikt Stellung g e n o m men. 1796 stellt er aus G e s u n d h e i t s g r ü n d e n seine Vorlesungen ein. 1798 erscheint als letzte g r o ß e Schrift die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht-, sie f a ß t den Stoff der Vorlesungen, die Kant seit d e m W i n t e r s e m e s t e r 1772/73 regelmäßig zur „ M e n s c h e n k u n d e " gehalten h a t , in systematischer A n o r d n u n g z u s a m m e n . A m 1 2 . 2 . 1 8 0 4 stirbt er u n d wird a m 28. F e b r u a r in der P r o f e s s o r e n g r u f t beigesetzt. Sein G r a b in Königsberg (Kaliningrad) ist erhalten.

2. Lehre 2.1. Dogmatismus/Kritizismus. Philosophie, definiert Kant, ist „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnisse auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" (KrV, A 839/B 867). Auch wenn diese Konzeption von Philosophie erst in der Kritik der reinen Vernunft ihre erste Explikation erhält, um dann in den weiteren Kritiken und in den ihnen sachlich zugeordneten Schriften zu voller Entfaltung zu kommen, so ist das in dieser Definition enthaltene Programm schon in den ersten philosophisch relevanten Schriften dem Keime nach enthalten. Vernünftiges Denken in dem zu bestimmen, worauf es seiner Natur nach abzielt, und das Erkennen im Horizont dieser Bestimmung auf die ihm eigenen Möglichkeiten zu befragen, ist das Motiv, aus dem heraus Kant selbstdenkend an die ihm geschichtlich vorgegebene Philosophie herantritt. Die Gestalt dieser Philosophie ist durch -»Leibniz, den englischen -»Empirismus und Christian ->Wolff geprägt. Kant hat die Art des Denkens, die im (vor allem an Leibniz anschließenden) Wolffianismus und in den ihn polemisch begleitenden Richtungen (u.a. Crusianismus) sich verkörpert, aus der Rückschau als „Dogmatismus" gekennzeichnet und diesen als „Denkungsart" charakterisiert, in der die auf die Konkretisierung ihrer Erkenntnisintention ausgehende Vernunft diese Konkretisierung dadurch verfehlt, daß sie, statt sich selbst einer Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit zu unterwerfen, sich direkt auf das Seiende als Seiendes richtet. Seine eigene philosophische Entwicklung versteht Kant als Abkehr eines dem Dogmatismus anfänglich verpflichteten Denkens von dieser Selbstverfehlung kraft eines spontanen Aktes („Revolution der Denkungsart") („kopernikanische Wende"). Die in der Kantforschung gängig gewordene Einteilung der philosophischen Denkarbeit Kants in eine „vorkritische" („dogmatische") und in eine „kritische" Periode gründet daher in der Deutung, die Kant seinem eigenen Entwicklungsgang gegeben hat. Nach dieser Deutung betrifft die Trennung „vorkritisch"/„kritisch" primär nicht die Intention und nicht die Gegenstände der Reflexion, sondern die Art, in welcher das Denken sich zu seinem eigenen Vollzug im Erkennen der Gegenstände verhält. 2.2. Die vorkritische Periode (bis 1769/70). Obwohl Kant sich zu Beginn seines philosophischen Schaffens im Horizont der rationalistischen Schulphilosophie bewegt, so gehört er doch keiner der herrschenden Richtungen an. Von Anfang an mit seiner - sich immer distinkter artikulierenden - Generalfrage nach dem adäquaten „Wie" der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis befaßt, steht er der rationalistischen Konzeption von Metaphysik kritisch-distanziert gegenüber. Schon in Grundzügen ist dies in der Nova dilucidano (1755) der Fall; die späteren vorkritischen Schriften zeigen deutlich seinen Willen, eigene Wege in der Metaphysik zu gehen - bis zu dem Punkt, an dem sich ihm die Frage nach dem adäquaten „Wie" der Möglichkeit von Metaphysik zur Frage nach dem „ O b " der Möglichkeit von Metaphysik radikalisiert. Die Kritik der reinen Vernunft greift so mit ihrer Frage, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, ein Problem auf, das selber noch auf vorkritischem Boden aufkommt. Das aber besagt: Auch wenn zwischen der vorkritischen und der kritischen Phase kein kontinuierlicher Übergang hinsichtlich der Änderung der „Denkungsart" besteht, so wird in der kritischen Phase gleichwohl ein

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Problem ausgetragen, auf welches das nach der adäquaten metaphysischen Erkenntnis suchende vorkritische Denken in mannigfachen und heterogenen Anläufen stößt. Der Status des Denkens, in welchem es sich einerseits negativ zu allen Versuchen überkommener Metaphysik verhält, andererseits aber noch nicht über die Einsicht verfügt, die es zum kritischen Denken m a c h t , ist der des —»Skeptizismus. Dieser ist im Übergang Kants v o m vorkritischen zum kritischen Denken Bewußtsein von der Dringlichkeit der Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik bei gleichzeitiger Negation aller bislang behaupteten Möglichkeiten und unter Offenlassen einer konstruktiv-affirmativen Antwort. Die vorkritische Periode des Kantischen Philosophierens läßt sich d e m g e m ä ß in zwei Hauptabschnitte einteilen: in eine emendative und in eine skeptische Phase. In der emendativen Phase verbleibt Kant affirmativ in der dogmatischen Denkart, er verbessert die Position des D o g m a t i s m u s teils durch Korrektur schon bestehender T h e o r e m e , teils durch eigene methodologische Neuentwürfe (Schriften der Zeit 1 7 5 5 - 1 7 6 4 ) ; in der skeptischen Phase verhält Kant sich innerhalb der dogmatischen Denkart negativ zu dieser: Metaphysik wird Grenzwissenschaft, die Realisierung der metaphysischen Intention des Denkens erfolgt in einem praktischen Glauben (Position der Träume, 1765/66). 2.3. Der Übergang. So wesentlich die in den Träumen erreichte Position für Kants Übergang zum Kritizismus ist, direkt ausgelöst hat sie die „Revolution der Denkungsart" nicht. Sie ist noch eine Vorstufe zu dieser Revolution, wenn auch eine äußerst wichtige. Ausgelöst wird die eigentliche Wendung des Denkens durch die Antithetik des Weltbegriffs, die im Horizont des in den Träumen sich ausdrückenden skeptischen Bewußtseins aufkommt. Kant hat selbst aus der späten Rückschau auf seinen Denkweg erklärt: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ,Die Welt hat einen Anfang - sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: es ist Freiheit im Menschen, - gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit'; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben" (an Christian Garve 21.9.1798). Die Hebung dieses Skandals erfolgt durch die neue Raum-Zeit-Lehre - sie ist „das große Licht" des Jahres 1769; die Dissertation von 1770 expliziert das in diesem Licht Gesehene: die Idealität und Intuivität von Raum und Zeit, aus welchen wiederum die Erscheinungshaftigkeit alles durch die Sinnlichkeit Erkannten folgt. Mit der Dissertation ist der erste Schritt auf den Kritizismus hin getan: Nicht mehr wird spekulativ oder wissensanalytisch der direkte Zugang zu den Gegenständen gesucht, sondern: Es geht dem Gegenstandserkennen eine Untersuchung der Leistungsfähigkeit und Reichweite unseres Erkennens (speziell des apriorischen und innerhalb seiner wiederum: des metaphysischen Erkennens) voran. Da die Dissertation diese Wende vom Dogmatismus zum Kritizismus lediglich für das Verstehen der Leistungsfähigkeit des rezeptiven Vermögens vollzieht, ist sie partiell kritizistisch, nämlich: (a) in formaler Hinsicht, insofern sie dem Erkennen überhaupt eine Prüfung seines Vermögens vorausschickt, (b) in materialer Hinsicht, insofern sie kraft dieser Prüfung zur Einsicht in die Erscheinungshaftigkeit des sinnlichen Erkennens gelangt. Aber: sie ist kritizistisch eben nur erst hinsichtlich der Sinnlichkeit; hinsichtlich des Verstandes verharrt sie noch auf dem dogmatischen Standpunkt: Der Verstand erkennt die Dinge, wie sie an sich selbst sind, die Sinnlichkeit, wie sie erscheinen. Die besonders eindrucksvoll im Brief an Marcus Herz vom 2 1 . 2 . 1 7 7 2 zum Vorschein kommende Arbeit Kants im Anschluß an die Dissertation von 1770 besteht darin, auch den Verstand der Kritik zu unterwerfen und nachzuweisen, daß Erkenntnis a priori - wie sie vor allem von der Metaphysik beansprucht wird - durch das Sichbeziehen des Verstandes auf die Sinnlichkeit zustande kommt. Wie diese Erkenntnis möglich ist, wird im Rückgang auf die an dieser Erkenntnis beteiligten Vermögen Sinnlichkeit und Verstand erörtert. 2.4. Kritik der reinen Vernunft. Diese Erörterung liegt in ihrem Resultat in der Kritik der reinen Vernunft vor. Sie vollzieht die „ R e v o l u t i o n der D e n k u n g s a r t " darin total, daß sie das gesamte Erkenntnisvermögen, das den (für die Metaphysik konstitutiven) synthetischen Urteilen a priori bedingend ermöglichend zugrundeliegt, einer Prüfung der in diesen Urteilen vollzogenen Erkenntnis unterzieht und von der B e a n t w o r t u n g der F r a g e n a c h der Art von deren Möglichkeit die Möglichkeit von Metaphysik abhängig m a c h t . Die über das Schicksal der Metaphysik entscheidende „ K r i t i k " setzt sich so ins Werk als

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„transzendentale" Erkenntnis: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" (B24). Transzendentalphilosophie - so der leitende Gedanke der „Revolution der Denkungsart" - entscheidet über den Anspruch der Metaphysik, über wahre synthetische Urteile a priori zu verfügen. Die Kritik der reinen Vernunft vollzieht diese „transzendentale" Erkenntnis in zwei großen Hauptteilen: sie untersucht zum einen die die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori leistenden Elemente („Transzendentale Elementarlehre"), sie bestimmt sodann die „formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft" (A707/B735) („Transzendentale Methodenlehre"). Die Elementarlehre sondert zunächst die beiden an der Konstitution von synthetischen Urteilen a priori beteiligten Hauptvermögen (Rezeptivität und Spontaneität) voneinander ab. (A) Die erste große Untersuchung gilt dem Anteil der reinen Sinnlichkeit (mit ihren Formen Raum und Zeit) an jener Konstitution („Transzendentale Ästhetik"); sie präzisiert die bereits in der Dissertation gewonnene neue Raum-Zeitlehre: Raum und Zeit sind transzendental ideal (weder Dinge noch Eigenschaften von Dingen noch Relationen, sondern reine Anschauungsformen); sie sind empirisch real, insofern sie aller Wirklichkeitserkenntnis zugrunde liegen und dieser Erscheinungscharakter verleihen. Als reine Anschauungsformen und zugleich rein angeschaute Formen ermöglichen sie die Mathematik. (B) Der (umfangmäßig ungleich größere) Teil der Kritik der reinen Vernunft gilt dem zweiten Hauptvermögen, der Spontaneität, für die die „Transzendentale Logik" als Disziplin zuständig ist. Da das spontane Vermögen hinsichtlich seiner Gegenstandsbeziehung in zwei Modifikationen auftritt („Verstand" und „Vernunft"), zerfällt die Transzendentale Logik in die mit der Objektkonstitution des Verstandes befaßte „Transzendentale Analytik" und in die — mit der problematischen Objekterkenntnis der Vernunft befaßte — „Transzendentale Dialektik". Die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wird durch die Arbeit der Transzendentalen Analytik im ständigen Rückbezug auf die Transzendentale Ästhetik beantwortet: Synthetische Urteile sind dadurch möglich, daß sich der reine Verstand (die „transzendentale Einheit der Apperzeption") vermittels der Kategorien auf die in Zeit und Raum gegebene Mannigfaltigkeit der Empfindungen bezieht. Da die Kategorien als ordnende Handlungen des spontanen Verstandes das Gegebene in Raum und Zeit bestimmen, kommt durch das Zusammengehen von Verstand und Sinnlichkeit nach der Gegenstandsseite hin der gesetzmäßige Zusammenhang der Dinge, Natur, nach der Erkenntnisseite hin Erfahrung zustande. Da weiterhin eine Erkenntnis, die als einen ihrer Ermöglichungsgründe die Rezeptivität hat, Erscheinungserkenntnis ist, und da der Verstand, insofern er Objekte ermöglicht, auf die Erscheinung sich bezieht, führt die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zu dem Hauptresultat, daß theoretische Erkenntnis (Erkenntnis dessen, was ist) immer nur auf die Erscheinung geht und sich im Horizont der durch den gesetzgebenden Verstand ermöglichten Erfahrung ereignet. Eine Wesenserkenntnis, wie die dogmatische Ontologie sie zu haben behauptet, entzieht sich daher dem theoretischen Erkennen: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann" (A 277/B 332f). Die transzendentale Analytik kommt zu diesem Gesamtresultat in mehreren Schritten: Sie zeigt in einem ersten großen Teil den Ursprung der Kategorien auf („metaphysische" Deduktion) und ihren notwendigen Bezug zur reinen Sinnlichkeit, durch welchen überhaupt erst Objektivität zustande kommt („transzendentale" Deduktion); sie behandelt in einem zweiten großen Teil („Transzendentale Doktrin der Urteilskraft") das durch die Zeit gewährleistete apriorische Zustandekommen der erfahrungsermöglichenden „Grundsätze des reinen Verstandes" (Schematismuskapitel) und stellt diese Grundsätze in systematischer Ordnung vor. Der solchermaßen durchgeführte transzendental-philosophische Aufweis der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori als Aufweis der Mög-

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lichkeit von Erfahrung ist für Kant gleichbedeutend mit dem Aufweis „transzendentaler Wahrheit"; d. i. derjenigen Wahrheit, die alle einzelnen theoretischen wahren Sätze wahr macht: „In dem Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen aber alle unsere Erkenntnisse, und in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe besteht die transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht, und sie möglich m a c h t " (A 146/B 185). Wenn die Transzendentalphilosophie hiermit eindeutig eine theoretische Erkennbarkeit des Erfahrungstranszendenten abweist, so bildet gleichwohl die Zurückweisung der Ansprüche der reinen Vernunft auf eine objekthafte Erkenntnis des Unbedingten ein besonders schweres, nach Kants Meinung noch von keinem früheren Denker gesehenes Problem. Dies bestände nicht, wären die über die Erfahrung (den unabschließbaren Zusammenhang des Bedingten) auf das Unbedingte abzielenden synthetischen Urteile a priori irrige Annahmen eines über seine Leistungsfähigkeit noch nicht belehrten Verstandes oder bloße Willkürerfindungen einer von der Einbildungskraft verführten Vernunft. Das singuläre Problem jedoch besteht hinsichtlich des Anspruchs der Vernunft auf transzendente Objekterkenntnis darin, daß die das Unbedingte objekthaft meinenden Ideen „Seele", „Welt", „ G o t t " mit Notwendigkeit aus der reinen Vernunft selbst hervorgehen. Der Anspruch der Vernunft auf objektive Erkenntnis der aus ihr selbst vermittels eines dreigliedrigen Schlußverfahrens entspringenden Ideen ist das T h e m a der „Transzendentalen Dialektik": Da wahre Erkenntnis nur unter dem Kriterium der transzendentalen Wahrheit möglich ist, da die Sätze über das Unbedingte aber diesem Kriterium nicht entsprechen, kann die von den Sätzen über das Unbedingte behauptete objektive Realität nur ein Schein sein; da aber zugleich gilt, daß jener Anspruch aus der Vernunft, die der Ursprung der Ideen ist, entstammt und Vernunft von ihrem Objektivitätsanspruch nicht läßt, handelt es sich bei dem durch die metaphysischen Sätze erzeugten Schein um einen notwendigen Schein. Das besagt: auch wenn die Transzendentale Dialektik als „Kritik des dialektischen Scheins" (A 62/B 86) die Anmaßung der menschlichen Vernunft, objekthafte Erkenntnis des (dreifachen) Unbedingten zu haben, aufdeckt und der Schein nicht mehr betrügen kann (weil er als Schein identifiziert ist), so bleibt er gleichwohl bestehen; wir haben es bei dem transzendentalen Schein mit dem Produkt einer „natürliche(n) und unvermeidliche(n) Dialektik der reinen Vernunft" (A 298/B 354) zu tun, „die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen" (A 298/B 354/355). Die Aufdeckung des dialektischen Scheins (zusamt seiner Unhintertreiblichkeit) einerseits und die positive Funktion der Ideenerkenntnis für die Gewinnung der Einheit der Erfahrung („regulativer Vernunftgebrauch") andererseits werden von Kant für jede der drei Ideen expliziert: für die Idee der Seele in der Kritik des „Paralogismus der reinen Vernunft", für die Welt-Idee in der „Antithetik der reinen Vernunft", für die Gottesidee in der Kritik des „transzendentalen Ideals". Wie es nur Schein ist, die Substantialität (und in ihrer Konsequenz: Unzerstörbarkeit, Personalität und Spiritualität) der Seele in objekthafter Hinsicht zu behaupten, so erweist sich in der We/t-Antinomie die Entgegensetzung von Aussagen über Weltgröße (Anfang und Grenzen der Welt), über das Einfache und Nicht-Einfache der Teilung des Zusammengesetzten, über Freiheit und Notwendigkeit, über Zufälligkeit und Notwendigkeit als Selbsttäuschung der reinen Vernunft, die durch den transzendentalen Idealismus entlarvt wird; die Behauptung schließlich, die reine Vernunft könne sich rational-argumentativ des Daseins Gottes theoretisch versichern, es könne also für das vernunftentsprungene (und daher „fehlerfreie") Ideal eine notwendige Existenz demonstriert werden, scheitert daran, daß Existenz (als absolute Position) nur Erscheinungen zugesprochen werden kann. Dies zeigt Kant am ontologischen —•Gottesbeweis, der dem kosmologischen Beweis (welcher wiederum dem physikotheologischen Beweis vorhergeht) zugrundeliegt. Erweisen sich so „alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in

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Ansehung der Theologie (als) gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach (als) null und nichtig" (A 636/B 664), so heißt dies noch nicht, es sei der Vernunft überhaupt der Zugang zur Gewißheit des Daseins Gottes (wie auch der Realität der Freiheit und der Gewißheit der Seelenunsterblichkeit) versperrt. Der Weg zum Unbedingtheitswissen, der dem theoretischen (auf das, was ist, gehenden) Gebrauch der reinen Vernunft verwehrt ist, öffnet sich der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch. Vermittels seiner geht die Vernunft auf das, was sein soll, und gelangt über die Moralität hinsichtlich Gott, Freiheit, Unsterblichkeit zu einer Gewißheit, die vom dialektischen Schein frei ist. Die „Transzendentale Methodenlehre" leitet mit ihrer Einordnung der (auf praktischen Prinzipien gegründeten) rationalen Theologie ins System der neuen Metaphysik und mit ihrer Zuweisung metaphysischer Gewißheit an den moralischen Glauben über zur positiven Entfaltung der auf dem Boden des Kritizismus möglichen Metaphysik in der Kritik der praktischen Vernunft. 2.5. Ethik, Moralmetaphysik, Religionsphilosophie. Geht die Kritik der reinen Vernunft auf die Möglichkeit apriorischen Erkennens, so die Kritik der praktischen Vernunft auf die Möglichkeit apriorischer Willensbestimmung als der Grundlage sittlich verbindlichen Handelns. Die Reflexion wiederum auf die Verbindbarkeit sittlichen Handelns (Tugendhaftigkeit) mit dem naturhaften Glückseligkeitsstreben führt zur kritizistischen Moralmetaphysik und zur philosophischen Religionslehre. A priori kann der Wille nur bestimmt werden, wenn —»Freiheit, die in der ersten Kritik als „nicht-unmöglich" erwiesen wurde („transzendentale Freiheit"), wirklich ist. Kant erschließt die Wirklichkeit der praktischen Freiheit im Gange einer Analyse des gesamten praktischen Vermögens („Begehrungsvermögen"); wie in der Kritik des theoretischen Vermögens, wird auch in der zweiten kritischen Untersuchung der empirische Teil des Vermögens (sinnliche Neigung, Glückseligkeitsstreben) vom „reinen" Teil des Begehrungsvermögens abgetrennt. Die Analyse gilt so dem vernünftigen Willen und den ihn bestimmenden Prinzipien. Materialer Art können diese nicht sein, da „alle materialen praktischen Prinzipien... als solche... unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit" (AK V, 22) gehören. Apriorisch für den vernünftigen Willen bestimmend kann daher nur das Formale an den subjektiven Handlungsprinzipien („Maximen") sein; dieses Formale drückt sich aus im „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft", dem „kategorischen Imperativ", dessen Fundamentalformel lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (ebd. 30). Dieses Grundgesetz, das alle Handlungen, die das Prädikat „sittlich gut" beanspruchen, als Motiv (Triebfeder) bestimmen muß, (so daß sie „aus Pflicht" und „aus Achtung fürs moralische Gesetz" erfolgen, also nicht bloß mit dem Gesetz ihrer Form nach übereinstimmen - bloß „legal" sind) - dieses Grundgesetz beweist - „befremdlich genug" (AK B, 31) — durch sein bloßes Auftreten im menschlichen Wissen seine absolute Evidenz. Dies meint Kants Rede vom „Faktum der Vernunft": „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft... herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet i s t . . . " (ebd.). Die Faktizität dieses Grundgesetzes verbürgt die Wirklichkeit der Freiheit: Vernunft ist darin für sich allein praktisch, daß sie dieses Grundgesetz sich selbst gibt. „Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit" (AK V, 33). Gegenüber der Freiheit, die ihre Wirklichkeit durch das Sittengesetz erweist, können die beiden anderen Ideen nicht als wirklich, wohl aber a priori als subjektiv-praktisch möglich aufgewiesen werden. Unsterblichkeitsgewißheit und Gewißheit der Existenz Gottes ergeben sich dadurch, daß in die ethische Reflexion (die sich nur auf den vernünftigen Willen richtet) die andere Seite des wollenden Menschen, das Glückseligkeitsstreben, das in jener Reflexion zunächst nur eine negative Rolle spielte, positiv einbezogen wird.

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Zwar kann das Glückseligkeitsstreben nie Triebfeder sittlichen Handelns sein, doch besteht das -»höchste Gut, nach welchem der Mensch aus Pflicht streben muß, nicht aus der Tugend allein, sondern aus der Tugend und der ihr folgenden proportionierten Glückseligkeit. Da der Mensch weder in diesem Leben die vollkommene Moralität noch aus eigener Kraft die Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit leisten kann - er verfügt ja nicht über das Naturhafte, dem die Glückseligkeit angehört - , ergeben sich zwei Forderungen („Postulate") der reinen praktischen Vernunft im Hinblick auf ihr „ganze(s) Objekt" (AK V, 119): 1) Fortdauer der Persönlichkeit „ins Unendliche" (AK V, 122) zwecks Erreichung der im irdischen Leben nicht erlangbaren völligen Angemessenheit seiner Gesinnungen ans moralische Gesetz („Heiligkeit"). 2) Annahme der Existenz einer „oberste(n) Ursache der Natur" (AK V, 125), „die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat" (ebd.), d.i. die Existenz eines Wesens, „das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig" (ebd.) ist, also Verstand und (insofern seine Kausalität durch Gesetze bestimmt wird) einen Willen hat: ein Wesen somit, „das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d.i. Gott" (ebd.). Der Status dieser beiden Postulate (und im Prinzip auch des Freiheitspostulats, das aber einen Sondercharakter hat, weil Freiheit als wirklich gewußt wird) unterscheidet sich deutlich vom Status der die Erfahrung ermöglichenden „Grundsätze des reinen Verstandes" einerseits und dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" andererseits: a) Die Postulate haben, obwohl sie ihrer Form nach theoretische (Ist-)Sätze sind, keine die theoretische Vernunft erweiternde Bedeutung; b) sie drücken keine Pflicht aus; c) ebensowenig hängt das moralische Sollen von ihnen ab; dies betont Kant gegenüber jeglichem Versuch theonomer Ethik: die Existenz Gottes steht in keiner bedingend-ermöglichenden Beziehung zur Moralität; d) nur insofern kann von einer Erweiterung der ideendenkenden theoretischen Vernunft gesprochen werden, als die von ihr problematisch gelassene Frage, ob den Ideen ein Objekt entspreche, nun - aber nur in praktischer Hinsicht - affirmativ beantwortet wird; „wie sich ihr Begriff auf ein Objekt bezieht" (AK V, 135) (wodurch allein Objekterkenntnis möglich würde), bleibt durch die Postulierung der Tatsächlichkeit des Objekthabens aber völlig unausgemacht; e) die Art der Gewißheit ist hinsichtlich Gott und Seelenunsterblichkeit ein praktischer Glaube, der, weil auf dem vernünftigen Willen gegründet, subjektiv-notwendig ist. Für die Konzeption von Theologie heißt dies: Theologie ist als Inbegriff von Aussagen, die abgeleitet sind aus dem auf dem praktischen Vernunftgebrauch beruhenden Postulat des Daseins Gottes, möglich. Von der objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis ist theologische Erkenntnis prinzipiell verschieden, denn die in theologischen Aussagen verwendeten Begriffe geben - im Unterschied zu Prädikaten in objektwissenschaftlichen Sätzen — nicht an, was die prädizierte Sache ist; dies ist nur dort möglich, wo Prädikate einen erscheinungshaft-objektiven Gegenstand bestimmen. Wieder aufgegriffen wird diese Konzeption von Theologie in der Kritik der Urteilskraft, in der Kant im Rahmen der (doppelten: ästhetischen und teleologischen) Vermittlung von Natur und Freiheit durch die reflektierende Urteilskraft die Ethikotheologie ausdrücklich von der Physikotheologie absetzt: Zwar kommt die am Zweckbegriff orientierte Naturerkenntnis zu einem Begriff von Gott, sie kann aber „diesen Begriff weder in theoretischer noch praktischer Absicht weiter bestimmen und taugt daher nur als „Propädeutik" (AK V, 442) der eigentlichen Theologie, welche auf der „moralischen Teleologie" (AK V, 455) gründet und - wie in der Kritik der praktischen Vernunft — postulativ zustandekommt. Kraft der Postulatenlehre erweitert sich die Ethik zur -+Religionsphilosophie. Religion ist ein Folgephänomen von Moral: religiös versteht sich der Mensch, insofern er zur „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote" (AK V, 129) gelangt, d. i. insofern er die Gebote auf den postulativ in seiner Existenz erschlossenen und moralisch-analog prädizierbaren Gott bezieht. Die Wahrheit religiöser Aussagen mißt sich daher allein an dem, was der Mensch als autonomes moralisches Wesen durch das Sittengesetz weiß. Ge-

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schichtlich überkommene religiöse Vorstellungen sind folglich auf ihren mit der Moral übereinstimmenden Kern zu prüfen, zu beurteilen und zu deuten. Diese Aufgabe übernimmt die Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Sie geht davon aus, daß der Übergang der Moral zur Religion praktisch-notwendig ist - daß es notwendig ist, die der autonomen Vernunft entspringenden Pflichten zugleich als göttliche Gebote anzunehmen, und zwar, wie es bereits in der Kritik der praktischen Vernunft heißt, deswegen, „weil wir nur von einem moralisch vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstand unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können" (AK V, 129). Am Leitfaden dieses praktisch-notwendigen Begriffs von Religion beschäftigt Kant sich mit dem Menschen, insofern dieser einerseits durch einen eingewurzelten Hang vom moralischen Gesetz abgewichen ist (Lehre vom „radikalen —»Bösen"), andererseits kraft der „ursprünglichen moralischen Anlage" zur Aufhebung von Sünde und Schuld befähigt ist. In die systematische Erörterung der vemunitfaktischen (nicht: vermmhwesentlichen) Bosheit, des Kampfes des „guten Prinzips" mit dem „bösen Prinzip" und des Sieges des guten Prinzips über das böse Prinzip bringt Kant seine Beurteilung und Deutung der christlichen Hauptdogmen ein (Sünden- und Gnadenlehre, Christologie, Kirchenauffassung, Schriftauslegung). Während die ebenfalls ständig betrachtete religiöse Position des Alten Testaments von Kant weitgehend (als „statutarisch") abgelehnt wird, findet er die Fundamentallehren des Christentums seiner Religionskonzeption weitgehend konform. Charakteristisch für diesen Versuch, den christlichen Glauben „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" dem reinmoralischen Religionskonzept zu integrieren, sind folgende Gesichtspunkte: (a) formal: Die neutestamentlichen Lehren und kirchlichen Dogmen werden nicht aus der Vernunft abgeleitet; vielmehr legt die moralisch-praktische Vernunft nach ihrem autonomen Maßstab historisch vorgegebene Lehren und Dogmen aus; der Vernunftglaube schafft nicht Dogmen, er ist Interpret („Ausleger"); (b) material: Schwierigkeit bereitet der Gnadenbegriff (-»Gnade); Kant lehnt ihn nicht ab, der „Beistand" kann aber nur der Leistung der autonomen Willensbestimmung folgen (als Zugabe), er kann nicht Voraussetzung des Übergangs vom Bösen zum Guten sein; (c) geschichtlich: Kants Religionsphilosophie trennt das Historisch-Empirische streng vom Moralisch-Vernünftigen in den überlieferten religiösen Vorstellungen ab; nur Letzteres zählt und dient als Maßstab für eine dezidierte Kritik der vom statutarischen Glauben beherrschten historischen Kirchen- und Glaubensgemeinschaften; gleichwohl ist Kants Position nicht ahistorisch: seine generelle Geschichtsauffassung, nach welcher das Menschengeschlecht in einem kontinuierlichen Prozeß sich zum Besseren bewegt, findet auch im Bereich der Religion eine Anwendung; die „Gründung eines Reiches Gottes auf Erden", also die im rein moralischen Glauben existierende Gemeinde, ist das Ziel der religiösen Entwicklung; innerhalb ihrer gewinnt das (als solches wertlose) Statutarisch-Gottesdienstliche der Religion (wozu auch die äußere Kirchenorganisation gehört) einen instrumenteilen Sinn (Vehikel-Funktion des „Kirchenglaubens" für den „reinen Religionsglauben" und der sichtbaren für die unsichtbare Kirche). Auf ihr Ziel hin gesehen, vereinigt sich die religionsgeschichtliche Entwicklung letztlich mit der allgemeinen Geschichtsentwicklung, die auf die Totalentfaltung menschlicher Vernunft unter Einbeziehung der sinnlich-leiblichen Komponente ausgerichtet ist. Religionsgeschichte wird so zu einem Moment der dynamisch verstandenen „Aufklärung": Abschluß des „Ausgang(s) des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (AK VIII, 35), Vollendung des Zusichkommens der Vernunft in der ihr wesenseigenen weltwirksamen und zugleich weltübersteigenden intelligiblen Freiheit.

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3.

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'Wirkung

Theologie. Eine Gesamtwürdigung der Wirkung Kants auf 3.1. Wirkung auf die protestantische die Theologie kann nur im Rahmen einer - in der Kantforschung noch ausstehenden - umfassenden Darstellung der „Geschichte der Kantischen Philosophie" erfolgen. Es läßt sich aber jetzt schon absehen, daß der Rezeption Kants durch die Theologen in einer solchen Darstellung ein vorrangiger Platz zukommen wird. Sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Theologie setzt die Rezeption bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des'18. Jh. ein und erreicht in den 90er Jahren ihren ersten Höhepunkt. Für die protestantische Theologie ist dies die Epoche, in der „das Zeitalter der Neologie... in das des Gegensatzes des theologischen Rationalismus und Supranaturalismus" (Hirsch V, 7) übergeht. Die Anhänger Kants stehen bei dieser Konfrontation entschieden auf der Seite des Rationalismus. Genannt seien der Henkeschüler J . A. L. Wegscheider mit seinen Institutiones theologiae dogmaticae (1815, 8 1844) und der überzeugte Kantianer J . H . Tieftrunk mit der Zensur des christlich-protestantischen Lehrbegriffs (1791-1795); einen mehr vermittelnden Standpunkt nehmen Theologen wie Chr. F. Ammon („rationaler Supranaturalismus") und der von Kant geschätzte C. F. Stäudlin ein. Auf der Seite der Supranaturalisten sind es vor allem die Tübinger Theologen G. Chr. Storr, J.F. Flatt, K.Chr. Flatt, F. G. Süskind, die sich kritisch mit dem kantianischen Rationalismus auseinandersetzen. Schärfer als sie richten sich dann die aus dem Supranaturalismus hervorgehenden Neupietisten (s. Collenbusch, G. —»Menken) - mit weitreichendem Verdrängungseffekt - gegen Kant. Indirekt aber wohl am folgenreichsten für die Geschichte der evangelischen Theologie in der frühen Periode der Kantrezeption ist die intensive Auseinandersetzung des jungen -» Schleiermacher mit Kant geworden. Wenn Schleiermachers Entwurf einer eigenständigen Theologie auch mit einer bewußten Abwendung von Kant (unter Fichtes Einfluß) einhergeht, so wirken in ihr insgeheim Kantische Denkmotive stärker nach, als es ihre explizite Ausgestaltung erkennen läßt. Gleichwohl gilt — wie für die Geschichte der Philosophie - , daß in der Epoche von -»Romantik und Deutschem -»Idealismus andere Faktoren als der Kantianismus für die Theologie von erstrangiger Bedeutung sind. Mit dem Verfall der idealistischen Philosophie und dem allmählichen Hervorkommen des -•Neukantianismus wird auch in der Theologie die Wirkkraft des Kantischen Denkens wieder spürbar. Zentrale Bedeutung kommt hierbei dem Werk A. -»Ritschis und seiner Schüler, in erster Linie des (an der Seite der großen Marburger Neukantianer lehrenden) W. -» Herrmann, zu. Ähnlich wie sich an Schleiermacher der für die idealistische Rezeptionsepoche signifikante Ubergang von Kant zum Idealismus beobachten läßt, so an Ritsehl der durch Lotze vermittelte Übergang vom (Hegeischen) Idealismus zu Kant - kenntlich vor allem an der kantisch-neukantianischen Hervorhebung des sozial-ethischen Moments des Christentums und speziell bei W. Herrmann der Bedeutung des kritizistischen Wissenschaftsbegriffs für die Theologie. Die enorme Rolle, die die Ritschlsche Schule in der zweiten Hälfte des 19. Jh. spielte, brachte Kant in vielfältiger Weise theologisch zur Aktualität; besonderes Interesse gewann im Kontext der theologisch-neukantianischen Kantaktualisierung die Frage nach dem Verhältnis des Kritizismus zur reformatorischen Theologie M . Luthers. Dieser Zuwendung zu Kant folgte im 20. Jh. eine dezidierte Abwendung. Die -»„Dialektische Theologie", die sich auch als Gegenschlag gegen den „Ritschlianismus" verstand, richtete ihre Polemik primär zwar nicht direkt gegen Kant, wohl aber ist ihre Absage an den ritschlianischen Typus von Theologie der Sache nach auch eine Ablehnung der Auffassung, es lasse sich von Kant aus (wie gemäßigt auch immer) eine der Substanz evangelischen Glaubens angemessene Theologie entwickeln. Offen freilich und noch ins einzelne zu erforschen ist dabei, inwieweit die Dialektische Theologie selber Denkweisen enthält, die ihren ideengeschichtlichen Ursprung zu einem guten Teil in Kant selbst haben - zumindest: inwieweit die Grundanliegen der „dialektischen Theologie" (deren Hauptvertreter Herrmannschüler waren!) sich mit dem religiösen Impetus decken, der Kants Denken zum Kritizismus trieb. 3.2. Wirkung auf die katholische Theologie. Nicht weniger intensiv und extensiv als die protestantische hat sich die katholische Theologie seit den 80er Jahren des 18. Jh. mit Kant beschäftigt. Hauptpunkte der Auseinandersetzung katholischer Theologen mit Kant sind von Anfang an - neben grundlegenden methodologischen und erkenntniskritischen Problemen - die Gottesbeweiskritik auf der einen und die autonomistische Ethik mit ihren (einen auktoritativen Offenbarungsglauben ausschließenden) religionsphilosophischen Konsequenzen auf der anderen Seite. Vier Phasen katholischer Kantrezeption und -kritik lassen sich unterscheiden: a) Die frühe Zuwendung katholischer Theologen zu Kant steht im Zeichen der Spätaufklärung. An vielen süddeutschen Universitäten wird über Kant gelehrt; der Würzburger Benediktiner M . Reuß reist eigens nach Königsberg, um sich von Kant direkt unterrichten zu lassen. Die Oberdeutsche Literaturzeitung (Salzburg) wirkt für die Verbreitung Kants. Zugleich meldet sich eine starke Kant-Gegnerschaft (B. Stattler: Antikant, 1788), der es gelingt, die kirchlichen und staatlichen Behörden von der Verderblichkeit der Kantischen Philosophie für Religion und Sitten zu überzeugen. Zum Ende des 18. Jh. kommt die rasch aufge-

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blühte spätaufklärerische katholische Kantrezeption zum Erliegen, b) Die der katholischen Theologie gleichwohl verbliebene Aufgabe, sich im Rahmen einer umfassenden Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie auch Kant zu stellen, sucht in der 1. Hälfte des 19. Jh. am entschiedensten Georg -+Hermes (Philosophische Einleitung in die christkatholische Theologie, 1819) zu lösen. Hermes kritisiert Kant und -»Fichte von einem psychologistischen Standpunkt aus, bleibt beiden Denkern aber auf moralphilosophischem Gebiet und speziell hinsichtlich der Begründung des Offenbarungsglaubens verpflichtet. Die hermesische Lehre wird 1835 durch päpstliches Breve verboten; die wirkungsreiche Bewegung, die von Hermes ausging („Hermesianismus") findet in der Jahrhundertmitte ihr Ende, c) Die in direkter Gegenstellung gegen die neuzeitliche Philosophie (und speziell gegen von ihr beeinflußte Theologen wie Hermes und Günther) entstandene Neuscholastik lehnt Kant prinzipiell ab. Die durch Josef Kleutgen (1811-1883) wesentlich geprägte neuscholastische Kantkritik wendet sich gegen Kants (subjektivistisch verstandene) Transzendentalphilosophie, gegen den Agnostizismus seiner Gotteslehre, gegen den Autonomismus seiner Ethik und Religionsphilosophie. Kant erscheint als ein mit dem (auf dem Ersten Vaticanum offiziell erneuerten) Thomismus unverträglicher Denker. Verschärfend wirkt auf diese Einschätzung Kants die im Raum des Neukantianismus propagierte Zugehörigkeit der Kantischen Philosophie zum Luthertum (F. Paulsen). d) Aus dem Thomismus kommt indes auch die Gegenbewegung: In der Absicht, die thomistische Lehre für die neuzeitliche Transzendentalphilosophie zu öffnen, wendet sich in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts / . Maréchal interpretativ der Kantischen Philosophie zu und bereitet so den Boden für eine breit angelegte Auswertung der Hauptmomente des Kritizismus für die katholische Gegenwartsphilosophie und -theologie (Johannes B. Lötz, J. de Vries, J. Schmucker). Innerhalb dieses noch nicht abgeschlossenen Rezeptionsprozesses kommt der Verbindung des Kantischen transzendentalen Ansatzes mit der Erkenntnislehre Thomas' von Aquin und der Heideggerschen Existentialontologie eine besondere Rolle zu (Karl Rahner, E. Coreth). Quellen Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), 1902ff. - Werke, hg. v. Ernst Cassirer, 11 Bde., Berlin 1912ff, Nachdr. Hildesheim 1977. - Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Wiesbaden 1 9 5 6 - 1 9 6 4 (parallel: Darmstadt 1956-1964; 10 Bde., Darmstadt 1968; 12 Bde., Frankfurt 1968). Einzelausgaben: Philosophische Bibliothek Meiner; Reclams Universalbibliothek, u.a. Literatur Bibliographien: Erich Adickes, German Kantian Bibliography (1895/96), Nachdr. Würzburg 1970. - Rudolf Malter, Kant-Bibliographie 1968ff: (Lfd. in Kant-Studien). - R . C . S . Walker, A Selective Bibliography on Kant, Oxford 1975. Zu 1.: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen v. Zeitgenossen. Die Biographien v. L.E. Borowski, R . B . 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K a n t / N e u k a n t i a n i s m u s II

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2. Die Schulhäupter

3. Die zweite Generation

(Quellen/Literatur

Nach Fr.A. Lange vernahm man „in philosophischen Kreisen die Parole ,auf Kant zurückgehen!' " schon lange, ehe es „in neuerer Zeit mit diesem Zurückgehen Ernst" wurde, so 1865 in Otto Liebmanns Kant und die Epigonen (17.152). Liebmann versteht die Vernunftkritik anthropologisch: In Abschnitt C. I - Die Hauptlehren und der Hauptfehler Kants - bestimmt er Erkenntnis als

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„psychischen Prozeß" und die „Natur des menschlichen Intellekts" als Gegenstand der kritischen Frage (55 f.64). Kants Hauptfehler sei der Ding-an-sich-Realismus; die von den Epigonen „idealistischer", „realistischer", „empirischer" und „transzendenter" Observanz mitgeschleppte Hypothek entwerte ihre Entwürfe ebenso wie die Kants selbst. Also müsse - Fazit jedes der den Epigonen gewidmeten Kapitel - auf Kant zurückgegangen, jenes proton pseudos ausgemerzt und auf der Grundlage von Kants Hauptlehre ein unanfechtbarer Entwurf konzipiert werden! - Auch der mit Liebmann etwa gleichaltrige Alois Riehl hält sich an die Formulierungen Kants, durch welche die Realität des Dinges an sich behauptet wird, erblickt in dieser Behauptung aber etwas vernünftigerweise nicht zu Bezweifelndes (1,391 f)- - Bruno Bauch bemerkt im Anhang seiner Ausgabe von Liebmanns Schrift nicht allein deren Anthropologismus, sondern auch, was denselben Lügen straft: Verständnis der Transzendentalphilosophie als ,,,Gültigkeits'- oder ->,Wert'-philosophie" und die Wendung gegen Fries' „anthropologisch-psychologische" Interpretation (Bauch, O. Liebmann 228.233). Daß Liebmann über die methodischen Notwendigkeiten einer Wertphilosophie nicht nachdenkt, muß freilich verwundern. Riehl, der Kants Methode als „synthetisch" kennzeichnet, muß sich durch Cohen berichtigen lassen: So kann nur die Darstellungsweise heißen. - Die Einschätzung von Kants Lehre als Gültigkeitsphilosophie ist ein „kleiner Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Denkungsart eine ganz neue Richtung giebt" (Kant Akademie-Ausg. VIII,113), der Anfang des Neukantianismus im strengen Wortsinn. Sein Ende wird markiert durch das Erscheinen des Opus postumum (1936/1938). Weil es den Neukantianern unbekannt war, weil sie also die hier wieder aufgenommenen Motive aus dem Frühwerk nicht wahrnahmen, verkannten sie die Kontinuität in Kants Denken und konzentrierten sich auf das Opus criticum. Soweit der Neukantianismus in der Vergegenwärtigung von Kants Werk besteht, ist heute nur im Perfekt von ihm zu handeln; nicht so vom Neukantianismus als Inbegriff von Systementwürfen - etwa Cohens oder Rickerts, Cassirers oder Bauchs. - Der Neukantianismus hat über die Philosophie hinaus auf Psychologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft und Theologie gewirkt; die Selbstverpflichtung der sogenannten „liberalen Theologie" auf strenge Wissenschaftlichkeit und ihr Kampf für die Gewissensfreiheit bestätigen kantisch-neukantisches Ideengut. Insbesondere gilt das von der Rechtfertigungs- und der ReichGottes-Lehre Albrecht -»Ritschis und von der „Erlebnistheologie" seines Schülers Wilhelm -»Hertmann, der seit 1879 im Marburger Zentrum des Neukantianismus wirkte: Wie Kant beispielsweise das Lust-/Unlustgefühl auf die Kunst, bezog Herrmann das „Erleben" auf die Theologie. - Die Möglichkeitsbedingungen synthetischer Urteile a priori sind nach neukantischem Konsens nicht Bedingungen von deren Vollzug, sondern Kriterien ihres Wahrheitsanspruchs. Die klassische Möglichkeitsfrage zielt auf Begründung, welche sich von Erklärung auch durch das unterscheidet, worauf Liebmann u. a. nicht reflektiert haben: durch die transzendentale Methode. - Aus jenem Philosophieverständnis folgt die Neueinschätzung der philosophischen Tradition: Will der Philosophiehistoriker sie um ihres Wertes oder ihrer Gültigkeit willen vergegenwärtigen, so muß er die Fragestellungen und Denkleistungen der großen Denker nachvollziehen - argumentierend, so daß nur der Leser etwas gewinnt, der mitargumentiert. Nicht soll er erzählen - erzählt wird, was sich in der Zeit zugetragen hat, und, wenn von Texten erzählt wird, was an ihnen zeitbedingt ist. Das ist das Selbstverständnis der „kritischen" oder „Problemgeschichte", die einen überlieferten Text nicht zur Kenntnis nimmt, ohne ihn am Maßstab der Gültigkeit und Wahrheit zu messen. Vor allem Kants eigene Lehre wurde durch die Neukantianer „kritisch" oder „problemgeschichtlich" reproduziert unbekümmert hinsichtlich des Wortlauts, z. B. der Ding-an-sich-Lehre. Cohen, der in Kants Theorie der Erfahrung die „Kantische Aprioritätslehre von neuem begründen" will, tut die Erklärung (Liebmanns, Riehls u. a.), „Kant habe die Erkenntnis zwar auf die Erscheinungen eingeschränkt, dennoch aber das unerkennbare Ding an sich stehen gelassen", als „Gerede" ab (ebd. 659 f) und gibt dem Ausdruck „Ding an sich" einen gemessen an Kants Text völlig neuen Sinn - und nicht viel anders Bruno Bauch. - Der Problemhistoriker muß Rechenschaft ablegen, wie er sich des unverlierbaren Wahrheitsgehalts versichert, an dem er den Wortlaut der Vorlage mißt. Die Frage verliert ihren Stachel, wenn bedacht wird, daß jener nicht (wie der Erzähler der Philosophiegeschichte) zwischen Historie und Philosophie steht, sondern ein seinerseits philosophisches Geschäft betreibt, „historisch im Dienste des Systems des kritischen Idealismus" (Bauch, Immanuel Kant, XI). Zu diesem Dienst taugt nur eine systematisch erhebliche Historie: daher die Kontinuität von philosophischer Problemgeschichte und Systematik. Wer von den Philosophen und ihren Lehren erzählt, der fragt, wenn er bis zur Gegenwart gelangt ist: Was passiert in der Philosophie jetzt? Denn nur was passiert, läßt sich erzählen. Wer aber die Denkbewegung produktiv mitvollzogen hat, bemerkt die ihren jüngsten Niederschlag belastende Aporie, um sie aufzuheben, die Bewegung also voranzutreiben, damit aber bei einem und demselben Geschäft zu bleiben.

1. Die

Kantrezeption

In Auseinandersetzung mit M a r t i n - » H e i d e g g e r bemerkt Ernst Cassirer 1931, die „ n a m h a f t e n V e r t r e t e r " des Neukantianismus seien sich „vor etwa einem Menschenalter

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mindestens in dem einen Punkt" einig gewesen, „daß der Schwerpunkt von Kants System in seiner Erkenntnislehre zu suchen sei, daß das ,Faktum der Wissenschaft' und seine ,Möglichkeit' Anfang und Ziel von Kants Problemstellung bilde" (Kant u. das Problem der Metaphysik, 2). Mit noch mehr Recht als auf Riehl dürfte Cassirer auf das Marburger Schulhaupt Hermann Cohen verweisen, seinen Lehrer (der statt „Erkenntnislehre" „Erkenntniskritik" schreibt). Nach Cohen unternahm Kant um des Systems der Erkenntnis willen ihre Grundlegung - in der Linie von -»Plato her, der das System als Trias LogikPhysik-Ethik konzipiert hatte. Kant begann mit der Grundlegung der Physik, welche außer den exakten Disziplinen beschreibende Naturforschung und Naturgeschichte umfaßt, der „mathematischen Naturwissenschaft mit ihren Annexen"; sie bezeichnete er durch das „Drohwort": „Erfahrung". „Mathematisch" ist nicht nur auf die Mathematik endlicher Größen zu beziehen (als methodisches Instrument der quantifizierenden exakten Disziplinen), sondern auch auf die des nur als Quäle denkbaren unendlich Kleinen. Jene setzen die Realität des prinzipiell Quantifizierbaren voraus; Kants Prinzip der „Antizipationen der Wahrnehmung" aber vindiziert der Empfindung eine methodische Funktion und postuliert die Infinitesimalmathematik als Denkmittel (Cohen, Das Prinzip, 92ff. 165ff; Kants Theorie der Erfahrung, C. 12, II). — Die Frage nach dem „systeme de la nature" ist auf die Idee des Systems der Erkenntnis bezogen: was Erfahrung ergibt, soll wissenschaftlichen Wert haben! Eingelöst wird der Sollensanspruch auf Grund des obersten Grundsatzes; derselbe gewährleistet die Lösung der Gesamtaufgabe, des durch das Faktum der -» Naturwissenschaften gestellten Problems. „Kein Problem, ohne von diesem Faktum aus. Was als ein apriori gelten soll, muß im einzelnen die Lösung dieser Gesamtaufgabe fördern" (Kants Theorie der Erfahrung 187), also Raum und Zeit und die Kategorien, welche die Einheit des obersten Grundsatzes in den einzelnen Grundsätzen zur Geltung bringen. Die Gesamtaufgabe, auf die transzendentale Erörterung und Deduktion bezogen sind, wird also erst in der Analytik der Grundsätze formuliert — daher der notwendige Fortgang von der Transzendentalen Ästhetik über das Erste zum Zweiten Buch der Analytik; wers begreift, bemerkt auch, daß der „synthetische" Aufbau nicht Methode, aber durch die transzendentale Methode geboten ist und daß Kant mit Anschauung und Denken nicht Gemütsfunktionen meint, sondern Methoden. — Die „Annex e " der mathematischen Naturwissenschaft enthalten nach deren Grundlegung Zufälliges: Forschungen, die zur Erfahrung gehören, genügen dem Sollensanspruch nicht! Doch die Transzendentale -»Dialektik überbietet den Gesichtspunkt der synthetischen Einheit durch den der systematischen: Die Grundlegung der „Erfahrung als des Inbegriffs der synthetischen Einheiten" kommt zum Abschluß im „Ding an sich der systematischen Idee". Es ist zu denken als „Inbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnisse"; „all unser Wissen ist Stückwerk, ganz ist allein das Ding an sich; denn die Aufgabe der Forschung ist unendlich" (ebd. 648.663). Daher wird der Stellenwert jeder dem Inbegriff integrierten Erkenntnis nie definitiv bestimmt. - „ A u f g a b e der Forschung" - nicht im Sinne des Primats der praktischen Vernunft! Auch nach „Kants Begründung der Ethik" bildet nicht das Sittengesetz deren Thema, sondern der -»Mensch bzw. seine — des „homo noumenon" - Menschheit; als „ h o m o phaenomenon" gehört er zur Natur. Cohen unterscheidet von der ersten Kritik als einer Philosophie der Natur die zweite als solche der Freiheit, ohne die im Triebfedern-Kapitel entschiedene Frage aufzunehmen. -»Natur und -»Freiheit sind vorauszusetzen; Kant hätte die Pflicht gar nicht zum Problem machen sollen! „Kants Begründung der Ästhetik" gilt dem in der Genielehre Thematisierten: Der Künstler bindet sich kraft des Gefühls an die Menschheit und entnimmt der Natur und dem sittlichen Leben, wessen er zur Gestaltung eines von beiden essentiell Unterschiedenen bedarf. (Schon 1874 hat Cohens Freund August Stadler Kants Teleologie in ihrer erkenntniskritischen Bedeutung veröffentlicht.) Als Cassirer sich mit Heideggers Kantbuch auseinandersetzte, bestand der von ihm bemerkte Consens der Neukantianer nicht mehr; 1917 hatte Bruno Bauch dem Marburger Kantverständnis das der „Südwestdeutschen Schule" entgegengesetzt. Nach jenem ist

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Kants Anliegen auch praktisch (Forschung ist Aufgabe)-, nach Bauch ist es ursprünglich praktisch. Das Problem der Wissenschaft wird dringlich als Kulturproblem — so auch die Probleme der Sittlichkeit, des Rechts, der Kunst, der Religion, der Erziehung. Bestimmt werden müssen die Möglichkeitsbedingungen auch der sittlichen, rechtlichen, ästhetischen, religiösen, pädagogischen Erfahrung. - Heinrich Rickert, nach Windelband Schulhaupt der Südwestdeutschen, spitzt Bauchs Auffassung von Transzendentalphilosphie geschichtsphilosophisch zu: Die von den Griechen ausgebildete Kultur des Denkens, die durch die R ö m e r im Rechtsstaat verwirklichte Willenskultur und die christliche Gefühlskultur seien seit Renaissance und Reformation in die moderne Kultur eingegangen; deren Kennzeichen: Jedes Glied der Dreiheit wird als a u t o n o m geachtet - und diese Autonomie hat Kant legitimiert. Doch nicht nur um die Spezifika der Wissenschaft und jedes atheoretischen Kulturgebiets anzugeben, muß man Kant folgen, sondern auch um die Einheit der sich aus ihnen allen integrierenden Kultur zu begreifen (Rickert, Kant als Philosoph). - Der Anspruch der Philosophie, den christlichen Glauben und die Theologie besser zu verstehen, als diese ihn und sich selbst versteht, wird nämlich durch die Südwestdeutschen als selbstverständlich vertreten - wie durch Rickert, so in Luther und Kant durch Bauch, dessen antitheologischer Affekt durch eine Anmerkung seiner Selbstdarstellung bezeugt wird (229 Anm.). Im Medium Natur bringt der Geist Kultur hervor. Indem Bauch die Naturwissenschaften als Kulturgebiete bestimmt, bezieht er die Frage nach ihrer Möglichkeit zugleich auf den Inbegriff ihrer Gegenstände als Kulturmedium. Also: W i e ist Physik im weiteren Wortsinn oder Erfahrung möglich, wofern ein Medium angenommen werden muß, in und mit dem der Geist sie (als ein Kulturgebiet u. a.) hervorbringen kann? D o c h zweitens: Darf das angenommen werden? W i e wenn die Natur sich gegen die Mediatisierung sperrt? ,Wenn die zahllosen synthetischen Einheiten ungeachtet ihrer Konstituiertheit durch R a u m , Zeit und Kategorien ein Chaos bilden, in dem sich keine gedankliche Ordnung herstellen läßt? Das Faktum der Wissenschaft steht dem entgegen; nur folgt das nicht aus der Vernunftkritik. Und auch die Kritik der praktischen Vernunft statuiert nur, daß Kultur sein soll, läßt aber die Frage nach ihrem Medium offen. D o c h die dritte Kritik macht begreiflich, was die ersten beiden voraussetzen (Bauch, Immanuel Kant 3 7 7 f . 4 6 5 f ) . Damit gibt sie der 1 7 8 1 / 1 7 8 7 vorgetragenen T h e o r i e der Erfahrung die Letztbegründung, indem sie die 1788 offengelassene Frage nach der Möglichkeit von Natur entscheidet; sodann bringt die Kritik der teleologischen Urteilskraft als Grundlegung der Wissenschaften vom Lebendigen das Vorhaben von 1781/1787 zum Abschluß; drittens trägt die Kritik der ästhetischen Urteilskraft zur Kulturphilosophie bei, indem sie die platonische Trias um die Ästhetik zur Vierheit erweitert. - Bauch bezieht die erste Kritik von vornherein auf das dreigliedrige Corpus criticum und verdankt diesem Aufschlüsse, mit deren Hilfe er in jener zurechtrücken kann, was nicht im Originalwortlaut belassen werden darf. Er wird daher Kants Intentionen eher gerecht als Cohen. Im transzendentalen Gegenstand oder in der kategorial-anschaulichen Synthesis des Mannigfaltigen zum Erfahrungsgegenstand wird zweierlei gedacht: die apriorische Struktur dessen, was synthetisiert wird, und der dieselbe voraussetzende Synthesisvollzug. Dieser transzendentale Gegenstand ist allgemein und wird durch jeden Synthesisvollzug vermittels eines besonderen Mannigfaltigen von eigentümlicher apriorischer Struktur geltend gemacht. Und das gemäß seiner spezifischen Struktur zu synthetisierende besondere M a n nigfaltige, die „Ursache des Erfahrungsdings"? Ihm gibt Bauch den nach Preisgabe des Ding-an-sich-Realismus zu anderer Verwendung freigewordenen Namen „Ding an s i c h " . „ U r s a c h e " heißt nun nicht: Affizierendes, sondern: transzendentallogische Bedingung empirischer Synthesis (Immanuel Kant 265.325.465).

2. Die

Schulhäupter

D a ß das Subjekt sich mit der Wirklichkeit im „ i m m a n e n t e n " Sinn - den bloßen Vorstellungen - nicht begnügt, sondern den Gegenstand - „wirkliches S e i n " - kategorial bestimmt, liegt nach Heinrich Rickert nicht an dessen Wirklichkeit, sondern am „un-

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wirklichen Sollen": dem durch das Subjekt selbst erhobenen und vernommenen Anspruch, den Gegenstand in seinem Sein und Sosein als wirklich auszuweisen (Der Gegenstand der Erkenntnis 180ff). Eingelöst ist er erst, wenn das kategorial Bestimmte „Material der wissenschaftlichen Erkenntnis" wird. Denn wirklich im „transzendenten" Sinn ist, was mit wissenschaftlichen Mitteln als wirklich bestätigt wird (ebd. 4.5.352). - Der kategorial geformte Inhalt ist Stoff und Form ineins. Neben, vor, hinter, über und unter einem Ineins erscheint ein zweites, ein drittes, ohne daß das „neben", „vor" etc. definiert wäre. Daher bedarf es der Form in Gestalt des - gemessen an der Kategorie - komplexeren Begriffs, endlich des Begriffssystems: Wissenschaft qualifiziert ihr Material als wirklich, indem sie es auf den Begriff bringt, der in ihrem Begriffssystem seine angebbare Stelle hat. - Jenes Sollen ist bezogen auf den -> Wert Wahrheit; das des Künstlers, des Richters, des Menschenfreunds entspricht jeweils einem anderen, nicht-theoretischen Wert. Der Mensch erscheint, sobald er sich zurechenbar verhält, als ein in bestimmtem Wertsinn Tätiger, mithin als Urheber von Kultur (mit ihren „Sinndimensionen" Wissenschaft, Kunst, Gerechtigkeit etc.). Nicht ontologisch ist diese Werttheorie zu verstehen: Die Werte gehören mit den spezifischen, sich der personalen Spontaneität eröffnenden Möglichkeiten zusammen, eine „heterothetische" oder „heterologische" Beziehung wie zwischen Form und Stoff des Bewußtseinsinhalts (Allgemeine Grundlegung 57). Der Heterologie ist der Ausdruck „sowohl . . . als auch" angemessen (nicht „entweder . . . oder"); daher bedarf es keiner Aufhebung durch ein Drittes: gemeinsam bilden das Eine und sein Heteron das „Ganze", das — wenn hier schon an Hegel gedacht wird - „das Wahre" ist. Heterologisch verhalten sich Klassifikation der Kulturgebiete, in welchen die Werte verwirklicht werden, und Charakteristik einmaliger Hervorbringungen, welche auf Grund der Klassifikation nicht vorausgesehen werden können, sondern entdeckt werden müssen; heterologisch ist in seiner „Geschlossenheit" und seiner „Offenheit" das eine System: Es wird nur geschlossen, indem es sich für Nicht-antizipierbares offen hält, bedarf aber, um in der Offenheit System zu bleiben, der Geschlossenheit (a. a. O. 348 ff). Heterologisch ist insbesondere die Beziehung von Sollen und Freiheit; Rickerts Kulturphilosophie ist eo ipso Philosophie der Freiheit, vornehmlich derjenigen des Urhebers von Naturwissenschaft einerseits, -»Geschichte andererseits. Der Naturwissenschaftler genügt dem Wahrheitswert, indem er zu seinen Gegenständen in die Distanz des Beobachters geht: Das specimen humanum Naturwissenschaft ist „als Wissenschaft möglich" nur, wenn kein specimen humanum als Merkmal des Gegenstandsbegriffs fungiert. „Erkenntniswert" einer Beobachtung qualifiziert also das Beobachtete nicht als werthafte Leistung eines ens naturale, sondern meint, daß dieses durch den Forscher in Absicht dessen mediatisiert wird, was seine Sache und ihm zuzurechnen ist. - Windelbands Charakteristik der „nomothetischen" Naturwissenschaft wird bestätigt: Der Begriff, an den der Forscher sich hält, antizipiert das Gesetz, das er sucht. Die Identität der als wissenschaftlicher Begriff und als Naturgesetz artikulierten Synthesis hat der Rickertschüler Bauch in Das Naturgesetz überzeugender dargelegt als das mit den Naturwissenschaften weniger vertraute Schulhaupt. - Doch von geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung kann nur gesprochen werden, sofern die Person auch auf der Objektseite erscheint. Die Freiheit, für die Natur keinen Raum läßt, bildet die Voraussetzung geschichtlichen Denkens. Der Begriff antizipiert hier kein Gesetz, sondern ist auf einen Wert oder eine Wertmehrheit bezogen. Die Begriffe Investiturstreit, Römisches Recht, Nazarenertum ordnen Erscheinungen einander zu, die sämtlich den nämlichen speziellen Wertindex zeigen, ob sie den indizierten Wert mehr oder weniger realisieren oder gegen seinen Anspruch verstoßen. Wie die naturwissenschaftlichen Begriffe gegenstandslos würden, wenn keine Naturgesetze angenommen würden, so die geisteswissenschaftlichen, wenn Personalität - also zugleich mit dem „Wertreich" die Freiheit - geleugnet würde. - Die Heterologie von Wertsystematik und Hermeneutik geschichtlicher Kulturleistungen gilt auch für den geistes-, nicht aber für den naturwissenschaftlichen Begriff. Was mit dem Wort „Kulturkampf" gemeint ist, muß erst entdeckt werden, wie sich entdecken lassen müßte, wie oft das rechtwinklige Dreieck

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in Sternbildern erscheint. Während aber diese Entdeckung für die Dreieckslehre gleichgültig wäre, ist jene von höchstem historischen Interesse. - Daraufhin kann auch die Bestimmung der Historie als „idiographisch" mit Einschränkung bestätigt werden. Besonderheit und Einmaligkeit allein qualifizieren ein Geschehen noch nicht als geschichtlich, wohl aber sein Wertbezug, d.h. der Anteil, den Personen an ihm haben. Dank ihnen ist das geschichtliche „idion" individuell, und seiner Individualität gilt das geisteswissenschaftliche Interesse. - Als individuelle Sinngebilde sind auch die Naturwissenschaften zu Gegenständen geisteswissenschaftlicher Forschung qualifiziert, nicht aber zu Aussagen über diese. Langehin ist der Wissenschaftscharakter der Geschichte an dem der exakten Disziplinen gemessen worden. Rickert zeigt in den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, daß hier ein zu enger Wissenschaftsbegriff angenommen worden ist. und daß die Geisteswissenschaften den allzu hohen Preis für die Exaktheit (den Verzicht auf Personalität und Freiheit) nicht zu zahlen brauchen, ja daß sie selbst die Naturwissenschaften auf die Objektseite rücken können, um das naiverweise angenommene Gefälle umzukehren. - Mit dieser Berichtigung steht Rickert nicht allein; —>Dilthey in seiner Grundlegung der -» Geisteswissenschaften orientiert sich aber nicht an -»Kant, sondern an -» Hegel und —> Schleiermacher. Hermann Cohen hat Kants Theorie der Erfahrung neubegründet; doch seine Logik der reinen Erkenntnis bezieht er auf Mathematik und exakte Wissenschaften. Und da Kant mit der Anschauung angefangen hat, bestätigt Cohen das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung in der Schrift über die Infinitesimalmethode; doch in der Logik fängt er „mit dem Denken an", ohne hernach die Anschauung heranzuziehen: man kann und darf dem Denken nichts „geben, was nicht aus ihm selbst gewachsen ist" (Logik der reinen Erkenntnis, 81); Denken ist „an ihm selbst" bestimmt, nicht aber durch ein NichtDenken. Das wird bestätigt durch die vier Klassen „Urteile": In Setzung der Prinzipien Ursprung, Identität, Widerspruch erzeugt das Denken sich selbst als reine -»Logik; in den Urteilen der Realität, Mehrheit und Allheit als Mathematik; in denen der Substanz, des Gesetzes und des Begriffs als mathematische Naturwissenschaft; endlich in den Modalitätsurteilen als Methodik. Cohen stimmt der Vernunftkritik darin zu, daß Urteile Funktionen sind, Begriffe auf Funktionen beruhen: „Urteil der . . . " bzw. , , . . . des ...", insbesondere „Urteil des Begriffs" ist genetivus objectivus. - Nach der Ethik des reinen Willens fragt die —»Ethik als „Lehre vom Menschen", „was ich zu tun habe, auf daß mein Tun und Treiben den Wert einer menschlichen Handlung", d. h. Einheit hat, so daß ich in ihm meine personale Einheit geltend machen kann (ebd. 76). Nun ist Reglementierung durch das geltende Recht Kennzeichen des der Ethizität fähigen Tuns; daher hat die Rechtswissenschaft für die Ethik eine Funktion, welche der der Mathematik für die Logik analog ist (ebd. 59.63). Im -» Naturrecht als dem „Recht des Rechts" ist der Unterschied von Recht und Ethik aufgehoben. Doch in der Wirklichkeit kommt er zur Geltung, weil das Recht sich als positives, geltendes aktualisiert. Durch seine Begriffe Person, Gemeinschaft, Genossenschaft, Menschheit eröffnet das -»Recht den Raum für sittliche Kultur, nämlich als positives unter spezifischen geschichtlichen Bedingungen, von denen abhängt, was es hier und jetzt heißt, die Einheit der Person in der der Handlung zu erproben. Die immer gleichen Tugenden muß üben, wer dem Einheitsanspruch genügen will; doch wie Treue hier und jetzt gehalten werden kann, ergibt sich mit Rücksicht auf das hier und jetzt geltende Recht. — Ästhetik ist für Cohen, wie nach „Kants Begründung", so nach der „Ästhetik des reinen Gefühls", Philosophie der -»Kunst. Es gibt zwei „Objekte": Natur und Freiheit bzw. Sittlichkeit; was das Gefühl erzeugt - das Schöne mit seinen Momenten (dem Erhabenen und dem Humor) —, liegt mit jenen nicht in einer Ebene, sondern ist überformende Mediatisierung beider. Weder Wissenschaft allein noch Sittlichkeit allein machen Humanität im Vollsinn aus; das bloße Gefühl reicht nicht an sie heran; aber das reine, kraft dessen der Künstler sich der Objekte des Denkens und des Willens bemächtigt (das diese beiden also voraussetzt), gewährleistet „Vollendung". - Kant hat die Lehre

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vom Geschmack nicht mit der vom Genie vermittelt; Cohen entgeht dem Dilemma: Des reinen Gefühls bedarf der Urheber und der Betrachter des Schönen - wer aber bloß fühlt und nicht begreift, was überformt wird, erfaßt auch die Überformung nicht. - Cohens -»Psychologie, die - viertens - die reine Erkenntnis, reinen Willen und reines Gefühl umschließende Einheit des Kulturbewußtseins zum Gegenstand haben sollte, ist nicht erschienen, wohl aber seit 1907 eine Reihe religionsphilosophischer Schriften, insbesondere die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Gemeint ist, daß die jüdischen Quellen die Vernunft als den Ursprung der Religion bestätigen. Eine Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode legte aber Paul Natorp vor. Ihr Gegenstand ist Nicht-Gegenstand: die „schlechthin konkrete Einheit" oder „Ureinheit des Bewußtseins", in der die Spannung von Subjekt und Welt aufgehoben ist. Sie ist wiederherzustellen „ f ü r die Reflexion", die doch ihr Auseinandertreten indiziert (20). Also statt objektivwissenschaftlicher Intention mit ihrem „Plussinn" psychologische Rekonstruktion mit „Minussinn", Subjektivierung, Rücknahme alles gegen die Fülle des Seins Isolierten in die „ursprüngliche Konkretion"! Um zum Unmittelbaren des Erlebens zu gelangen, ohne es um die Unmittelbarkeit zu bringen, ist auszugehen vom Nicht-Unmittelbaren: einer Objektivation oder Aktualisierung einer Potenz (241), deren es viele geben mag. Um der „Ureinheit" willen muß daher „der dunkle Untergrund" angenommen werden, „von dem alles bewußte Leben sich abhebt, und aus dem es als hervortretend nicht etwa aufgezeigt, sondern allein gedacht werden k a n n " (234). Wird also auf die Ureinheit Sein und Bewußtsein reflektiert, so wird sie doch nicht für die Reflexion wiederhergestellt; die wenn auch notwendige Annahme des prinzipiell nicht Aufzeigbaren kann nicht verifiziert werden. - In den Grundlagen der Denkpsychologie hat Richard Hönigswald sich Natorps Problem zu eigen gemacht, aber Natorps Lösung mit Gründen verworfen. Bewußtsein ist „bewußt sein"; aber die „Ureinheit des Bewußtseins" ist nicht bewußt N a t o r p läßt das Denken einem Nicht-Denken entstammen. Was er über psychologische Rekonstruktion und Subjektivierung als nicht-objektwissenschaftliche „ M e t h o d e n " erklärt, hat wie dieser Ausdruck bloßen Verneinungswert — so auch die Wendung vom Minussinn der Intention auf die Ureinheit, die ein lineares (nicht-dialektisches) Denken verrät; der vorgeblich methodologische Eigenwert ist gerade nicht-methodologisch (297ff). Die Marburger sind - anders als die Südwestdeutschen - religionsphilosophisch interessiert. Während aber Cohen eine Vernunftreligion thematisiert (die sich freilich kaum von der Ethik unterscheidet), bildet für N a t o r p das Gefühl die Quelle bzw. den Ursprung der Religion innerhalb der Grenzen der Humanität (1894 2 1908), was wiederum mit Natorps Psychologie zusammenhängt und überdies Schleiermachers Einfluß verrät. 3. Die zweite

Generation

Nach Ernst Cassirer ist die überkommene Begriffslogik „in ihren allgemeinen Prinzipien der getreue Ausdruck der Aristotelischen -»Metaphysik". Weil die Begriffsbildung vom Gegebenen aus- und zum Begriffsinhalt hingeht, erscheint dieser als „sekundäres Produkt in einer ganz anderen Ebene als die primären anschaulichen Elemente" (Substanzbegriff 4; Erkenntnistheorie 14); zudem bleibt die bestimmende Bedeutung des Begriffs für den Gegenstand unbegriffen. Anders wenn statt des „Substanz-" oder „Dingbegriffs" der „Funktions-" oder „objektive Verhältnisbegriff" als „konstitutive Bedingung" des „anschaulichen Bestands" angenommen wird (Erkenntnistheorie 35.44.14f). Bestimmt als Funktion dieses Begriffs, wird die „Mannigfaltigkeit der gegenständlichen Struktur in ihrem ganzen Umfang erst sichtbar" (Zur Theorie des Begriffes 131). „Die Einzelfälle sind als völlig bestimmte Stufen im allgemeinen Prozeß der Veränderung fixiert. Die Allgemeingültigkeit eines Reihenprinzips" bildet „das charakteristische Merkmal des Begriffs" (Substanzbegriff 26). Hinzu kommt die „Einheit der gegenseitigen Bestimmung, das schlechthin erste D a t u m " . Insofern kann Erkenntnis unter „zweifachen Gesichtspunkt" gestellt und Jonas Cohns „Utraquismus" beigepflichtet werden - wenn er

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so gemeint ist. D o c h steht dem Logischen nichts Alogisches gegenüber, sondern „dem Denken, der logischen Funktion als solcher in ihrer T o t a l i t ä t " ist die „ewige ,Systole' und ,Diastole' wesentlich" (Erkenntnistheorie 15) - Cohens ceterum censeo. - M i t N a t o r p stimmt Cassirer hinsichtlich des „Primats der Beziehung" überein; auch rühmt er Natorps „wahrhaft universales Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins". D o c h resultiere entsprechend jenem Primat „nur im Hin und Her vom ,Darstellenden' zum ,Dargestellten' ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen und reellen Gegenständ e n " ; auch verwehre die „ ,Mehrdimensionalität' der geistigen W e l t " die Darstellung des „ G a n g s der ,objektivierenden' und ,subjektivierenden' Betrachtung in einer geraden Lin i e " (Philosophie der symbolischen Formen/Phänomenologie der Erkenntnis 2 3 5 . 6 0 ff). Auf Rickert, nach dem die Richtungen des Denkens auf den Begriff zum einen, das Wirkliche zum anderen einander ausschließen (Substanzbegriff 293.299), ist auch Cassirers Kritik an Lask gemünzt (wider den Wertidealismus vom Boden des „logischen Idealismus" aus) (Erkenntnistheorie 8); wird Rickert in Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht einmal erwähnt (Philosophie der symbolischen F o r m e n / Phänomenologie der Erkenntnis 4 7 2 f f ) , so ist vollends klar, wo Cassirer der neukantischen Bewegung einzuordnen ist und wo nicht. - Zu seinem spezifischen Marburgertum k o m m t aber ein Z u g , der ihn als Ausnahmeerscheinung im gesamten Neukantianismus ausweist: die genaue Vertrautheit mit allen produktiven Denkentwürfen, die sich thematisch mit seiner Konzeption berühren. Daher nichts von der Exklusivität der andern Neukantianer beider Schulen: Cassirer vergegenwärtigt in systematischer Absicht die vom Ende des 19. J h . bis in die 30er J a h r e des jetzigen führende philosophische Auseinandersetzung und bezieht auch Beiträge ein, die sich auf die Randzonen der Philosophie und der M a t h e m a t i k , der Naturwissenschaften, der allgemeinen Sprachwissenschaft erstrekken. Knapp, aber angemessen stellt er das irgend Beachtliche dar, o b dasselbe ihn nun bestätigt, oder o b er es mit Gründen bestreiten muß, um die eigene Position zu behaupten. Der abtrünnige Marburger Nicolai H a r t m a n n k o m m t ebenso zu Wort wie -»Husserl, Brentano, M e i n o n g , M a x - » S c h e l e r und —»Heidegger und wie durch eine Welt geschiedene Autoren: Hönigswald zum einen, Ludwig Klages zum andern. Und des weiteren: Hermann Usener, David Hilbert, Bertrand Russell und Henri Poincaré; du Bois Reymond, Heinrich Hertz und M a x Planck — um nur die wenigsten zu nennen. Und ständig ist die ganze philosophische Tradition präsent - nicht allein so weit sie sich in Cassirers dreibändigem Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit ( 1 9 0 6 - 1 9 2 0 ) niedergeschlagen hat. - M e h r f a c h rühmt Cassirer Heinrich Hertz für den „entscheidenden S c h r i t t " : die Erkenntnis, „daß das Bild, das wir uns von der Naturwirklichkeit entwerfen, nicht von den Daten der Sinneswahrnehmung allein, sondern von gedanklichen Gesichtspunkten und Forderungen abhängt, die wir an sie heranbringen" (Substanzbegriff 225; vgl. Philosophie der symbolischen F o r m e n / D i e Sprache 5; Philosophie der symbolischen Formen/Phänomenologie der Erkenntnis 25; Wesen und Wirkung des Symbolbegriffes 186). Auch erklärt er, daß „die Begriffslehre sowohl genetisch als auch systematisch im Zentrum der,Philosophie der symbolischen F o r m e n ' steht, und daß die letztere streng genommen eine Erweiterung und Vertiefung der Grundgedanken meiner Begriffslehre sein w i l l " (Wesen und Wirkung des Symbolbegriffes 223). - In jede Art der Wirklichkeitssetzung geht „ein bestimmtes M o m e n t der symbolischen Formung e i n " ; bezieht Cassirer den Symbolbegriff doch auf „das Ganze jener Phänomene, in denen überhaupt eine wie immer geartete,Sinnerfüllung des Sinnlichen' sich darstellt" (Philosophie der symbolischen Formen/Phänomenologie der Erkenntnis 102.109). Die drei Teile der Philosophie der symbolischen Formen entsprechen den drei Stadien symbolischer Gestaltung: -»Sprache, - » M y t h o s , -»Erkenntnis. Teil III {Phänomenologie der Erkenntnis) nimmt die T h e m a t i k der Teile I und II erneut auf, weil „sprachliche ,Begriffe'" („demselben G r u n d a k t " entsprungen wie mythische) und „wissenschaftliche, speziell naturwissenschaftliche , G e s e t z e ' " „verschiedene Richtungen der geistigen F o r m u n g " ausdrücken, deren Unterschied „ein Unterschied im Subjekt, im spezifischen Verhalten

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des ,Bewußtseins' entsprechen" muß. Daher dringt Cassirer in Teil III von den „Gestalten" des objektiven Geistes „durch eine rekonstruktive Analyse zu ihren elementaren Voraussetzungen zurück" - im Sinn von Natorps Psychologie (ebd. 66 f); daher auch das Interesse für Heidegger. Doch geht Cassirer von der „Räumlichkeit als Moment des Zuhandenen" weiter zum „Raum als der Form des Vorhandenen" und fragt nach dem „Übergang" von der „Zeitlichkeit ,als letztem Grund der Existentialität des Daseins'" zur „Zeit-Form" (ebd. 173Í.189 Anm.). - Die Weltbilder des Mythos und der Wissenschaft können „nicht im gleichen Denkraum nebeneinanderstehen", die Sprache aber dient der Wissenschaft. Das Eine ist ihr Ausdruckscharakter - ihm ist Klages wie kein anderer gerecht geworden; das Andere die durch Hönigswald bemerkte „Worthaftigkeit des Denkens" (ebd. 94.138 f Anm.). Soweit die Sprache Ausdruck ist, geht der Mythos in sie ein — soweit das logisch-diskursive Denken in sie eingeht, scheidet sie sich von der Welt des Mythos. - Streift sie als „characteristica universalis" „alles bloß Ausdrucksmäßige" ab, so befähigt sie das Denken zur Erzeugung der „reinen Bedeutung" (eines bestimmten „Kelationsgefüges innerhalb eines Systems von Urteilen und Wahrheiten"), oder: der Begriff „erhebt sich zur freien Konstruktion des ,Möglichen'" (ebd. 370). „Letzter Schritt": Dieses „Gebilde prinzipiell unanschaulicher Natur" wird als Träger „des o b jektiven' Seins", als Inbegriff von „Objekten höherer Ordnung" bestätigt. Doch läßt die „Differenz zwischen der sprachlichen und der wissenschaftlichen Begriffsbildung die Kontinuität zwischen beiden bestehen" (ebd. 388): Die Objektivität der Physik ist „ein reines Bedeutungsproblem", ihr Gegenstand „ein rein gedanklich zu fassender Einheitspunkt". Doch die reine Bedeutung legitimiert die Darstellung (in Gestalt vorwissenschaftlicher Erfahrung); daß ihm ein Erfahrungsgegenstand entspricht, macht die Gegenständlichkeit des „Einheitspunktes" aus (ebd. 552.554). - Der Pluralismus der Physiken seit dem Altertum läßt nach einem Weltbegriff fragen, der „von allen Partikularitäten frei die Welt so beschreibt, wie sie sich nicht vom Standpunkt Dieses oder Jenes, sondern — ,vom Standpunkt von Niemand' ausnimmt"! Weil die Physik sich „der Begriffs- und Zeichenfunktion als solcher niemals entschlagen" kann, wird ihr Realitätsbegriff zuletzt die Totalität der Aspekte vereinen, erklären und verständlich machen — eine Totalität, in welcher „die Besonderheit der Gesichtspunkte nicht ausgelöscht, sondern aufbehalten und ,aufgehoben' ist" (ebd. 558). Bruno Bauch unterscheidet theoretische und praktische Philosophie; jene gehe aus vom Problem des Wissens, das als begründetes Wissenschaft heiße, erschöpfe sich aber nicht in einer Grundlegung der Wissenschaft, sondern bedenke auch das „Wissen und Erkennen des täglichen lebendigen Lebens'" ([6]234f). Nun ist Wissen allemal Wissen des Gegenstandes, der Gegenstand allemal Gegenstand eines Wissens; diese Bindung setzt gemeinsame Bedingungen beider voraus. Nicht jeder Gegenstand ist wirklich, nicht jedes Wissen Wissen von Wirklichem: Was gilt, ist zwar dazu bestimmt, in der Wirklichkeit zur Geltung gebracht zu werden, ist aber nicht wirklich. Daher genügen als gemeinsame Bedingungen die den Gegenstand und seine Erkenntnis konstituierenden von Bauch sogenannten Geltungsbeziehungen nicht: Es bedarf eines Wirklichkeitskriteriums. Ubereinstimmend mit Cohen folgt Bauch hier Kant, die Empfindung als Kriterium bestimmend, aber anders als Cohen, der sich an das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung hielt, zieht er das zweite Modalitätspostulat heran (Wahrheit 233ff); nur genügt ihm nicht der Zusammenhang „mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung)", sondern erst dies, daß „die Empfindung von sich aus bereits in einen Zusammenhang eingeordnet sein" muß, nämlich in einen „solchen von objektiver Denkgesetzlichkeit", „um Wirkliches als mit ihr zusammenhängend kennzeichnen zu können" (ebd. 229). Danach fällt das Wirkliche nicht aus der Wahrheit heraus; wie Wissen und Gegenstand nicht gegeneinander zu isolieren sind, so Wahrheit und Wirklichkeit, nur daß in jenem Fall kein Glied den Vorrang hat, in diesem ein Fundierungsverhältnis besteht. - Wissen wird gezeitigt durch Erkenntnis, welche in Urteilen besteht, nämlich in richtigen. Das richtige Urteil bildet den Gegenstand nicht ab, sondern „erfaßt" ihn, indem es das „Stehen in Beziehungen" darstellt, welches ihn ausmacht, oder indem es seinen die Beziehungen verknüpfenden Begriff vollzieht. Das faktische Urteilen heißt auch „beziehendes Denken" und „Anerkennen"; gültiges oder richtiges ist ein Beziehen dessen aufeinander, was im besonderen Fall die dialektischen Momente Gegenstand und Erkenntnis ausmacht, oder ein Anerkennen des Begriffs des Gegenstandes (ebd. 139 ff.153 ff. 159ff.l94ff). Der Begriff hat seine Stelle im „allgemeinen Erkenntniszusammenhang", welcher es

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erlaubt, erkennend ohne Sprung von einem Gegenstand zum andern überzugehen; versteht sich, daß er zugleich Zusammenhang der Begriffe ist als der Kategorien-Komplexionen. Daß der Erkenntniszusammenhang nie vollendet ist, drückt die Bezeichnung -*„ldee" aus; daß er nur als „System" vollendet werden könnte, diese Bezeichnung. - Der Gegenstand aber hat seine Stelle in der ->„We/i", die nach Kant „als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden" muß (wie Bauch gern zitiert). Wie der Begriff allemal Begriff des Gegenstandes ist, so die Idee allemal Idee der Welt, die Welt Erscheinung der Idee und das System Darstellung der Welt als Erscheinung der Idee (Die Idee 210). - Die richtigen Urteile aber, aus denen sich der Erkenntniszusammenhang integriert, sind Positionen des Subjekts, und die Integration selbst ist Vollzug des Subjekts, das die Welt als aus einer Idee entsprungen denkt. In diesem Akt bringt es aber zugleich sich selbst zur Geltung, so daß „die Welt nicht ohne das Ich, das Ich nicht ohne die Welt sein kann" (ebd. 254). - Unter der Überschrift „Die Wahrheit und das Wertganze" bezeichnet Bauch die „eigenartige Komplexion", „daß die Wahrheit als Voraussetzung und Grundlage aller Wissenschaft in der Wissenschaft nicht nur die verschiedenen Seinsgebiete, sondern ebenso alle Wertgebiete umspannt und dennoch nur ein bestimmter Wert innerhalb des Wertganzen ist" (Wahrheit 483). Der erste Gedanke kommt auch auf den Ausdruck, daß die -»Wahrheit „alle praktischen Sinngehalte" umspannt, weil sie die Wirklichkeit konstituiert, in der dieselben dargestellt werden sollen. Statt vom Sollen ist die Rede auch von der „Aufgabe". Aber die so eingeleitete praktische Philosophie muß als Wertphilosophie vorgetragen werden (Selbstdarstellung 259 f). Das „ethische Prinzip" differenziert sich in die drei „Grundformen" der „Wesens-, der Willens- und der Wirkensforderung". Nur die Willensforderung deckt sich mit ihrem Gebotscharakter und in ihrer Allgemeinheit mit Kants kategorischem Imperativ ([7]89ff.l24); da die konkrete Person auf Grund ihrer natürlichen Mitgift nur ein bestimmtes singulares „Wesen" realisieren kann, und da sich „eines nicht für alle" schickt, verpflichten Wesens- und Wirkensforderungen nicht allgemein und nur bedingungsweise. Eine Wirkensforderung wird beispielsweise durch den hippokratischen Eid geltend gemacht; doch nur der Arzt wird durch sie verpflichtet. Um die besondere Aufgabe des Einen - zum Unterschied von der des Andern - zu formulieren, müssen wir nicht wie vordem allgemein vom -»Wert oder den Werten handeln, wohl aber von den besonderen Werten, welche sich a) nach ihren Wertgehalten und b) nach der Situation und den spezifischen Möglichkeiten des zu Verpflichtenden unterscheiden. - Die zu dieser Aufgliederung querlaufende Unterscheidung „Persönlichkeits-"/„Gemeinschaftswerte" bezeichnet unterschiedliche Wertaspekte, nicht aber Werte selbst: ist der Wert doch in jedem Fall Prinzip von Gemeinschaft, welche durch Personen gebildet wird, die sich aus freier Einsicht zum nämlichen Wert bekennen (Grundzüge der Ethik 151 ff). Auch sofern sie um ihres „persönlichen Wertlebens" willen ein „gemeinschaftliches" führen (ebd. 200ff), worin schon liegt, was die Gesellschaft von der Gemeinschaft unterscheidet, aber auch, daß Gesellschaften nur legitim sind, sofern die Gesellschafter sich einhellig auf einen Wert verpflichten, um Gemeinschaft zu bilden (ebd. 168 f). - Am Schluß der Selbstdarstellung bezieht Bauch sich gegen -»Nietzsche - auf das eine Wertreich und bezeichnet, was über das Umspannen aller Wertgebiete durch die Wahrheit als ein Wertgebiet erklärt wurde, als Grundverfassung des Wertreichs. Die Wahrheit umspannt das Wertreich im Sinne objektiver Geltung, „so daß wir auch von sittlicher, religiöser, künstlerischer usw., nicht allein von wissenschaftlicher Wahrheit sprechen können, während der praktische Wert das Wertreich als Ganzes umspannt, wie die Wahrheit es umspannt als Geltungsganzes" (Selbstdarstellung 279). Das entspricht der Unterscheidung des Wertes nach seinem objektiven Wertgehalt und des Wertes als Aufgabe. Doch welche, wie viele Werte integrieren das Wertreich? Hier gilt, was schon von den Kategorien gilt: So wenig Bauch es in Aufstellung einer Kategorientafel Kant nachmacht, weil im Erkenntnisfortgang immer andere Kategorien entspringen mögen, so wenig gibt er eine endliche Zahl von Werten an, weil dem Menschen im Fortgang der Geschichte immer andere Werte vernehmlich werden. Quellen Bruno Bauch, Otto Liebmann (Anhang zu Otto Liebmann, Kant u. die Epigonen, hg. v. B. Bauch, Berlin 1912). - Ders., Immanuel Kant, Berlin 3 1923. - D e r s . , Wahrheit, Wert u. Wirklichkeit, Leipzig 1923. - Ders., Das Naturgesetz, Leipzig/Berlin 1924. - Ders., Die Idee, Leipzig 1926. - Ders., Selbstdarstellung, Berlin 1929. - Ders., Grundzüge der Ethik, Stuttgart 1936. - Ernst Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik: Jb. der Phil. 1 (1913) 1 - 5 9 . - Ders., Substanzbegriff u. 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Kantate

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Wolfgang Ritzel

Kantate 1. Begriff und Geschichte der Kantate bis zu Erdmann Neumeister den Kantaten J . S. Bachs 3. Die Kantate im 19. und 20. Jahrhundert

1. Begriff und Geschichte

der Kantate bis zu Erdmann

2. Theologie und Musik in (Quellen/Literatur S . 5 9 7 )

Neumeister

Die Kantate (das „Singstück" im Gegensatz zur Sonate, dem „Spielstück") ist „im 17. und bis Mitte des 18. Jh. als Cantata die wichtigste Gattung des italienischen weltlichen Sologesangs außerhalb der Oper; im 18. Jh. die Hauptgattung der deutschen evangelischen Kirchenmusik" (Riemann 438). Sie ist eine der drei musikalischen Werkgattungen, die der um 1600 in Italien aufkommende monodische Stil hervorgebracht hat. Die Monodie oder seconda prattica löste die - jetzt prima prattica genannte - altklassische Polyphonie ab. Sie ist begleiteter Sologesang, der in Rückerinnerung an die griechische Musik und in Entsprechung zu der humanistischen Forderung, daß die Musik Dienerin des Textes sein soll, als eine Frucht der italienischen Renaissance sich ausbildete. Ihre Entwicklung hängt zusammen mit der des Generalbasses, des Basso continuo, als einer untergeordneten Harmoniestütze. Das Prinzip der Monodie ist Verständlichkeit des Textes und Darstellung seines Inhalts; die ethische Wirkung im Sinne der antiken Katharsis ihr Ziel; das Sichaussprechen der ihrer selbst bewußt gewordenen Individualität im -»Affekt ihr Element. Monodie ist cantare con affetto, als imitatione dei concetti delle parole, mit dem Ziel, di muovere l'affetto dell' animo [Singen mit Leidenschaft, Nachbildung der Gedankeninhalte der Worte, den Affekt des Herzens zu bewegen] (Giulio Caccini, Vorwort zu Nuove Musiche, Florenz 1601). Erster künstlerischer Höhepunkt des monodischen Singens ist das Werk Claudio Monteverdis. Auf der Grundlage der generalbaßbegleiteten Monodie hat sich die dramatische Gattung der Oper, die epische des -»Oratoriums und die mehr lyrische der Kantate entwickelt. Die Bezeichnung Kantate findet sich erstmals im Titel der Sammlung von Alessandro Grandi (gest. 1630) Cantade et Arie a voce sola (4 Bücher 1620/29). Frühester gedruckter Beleg in Deutschland sind die Arien und Cantaten Mit 1.2.3. und 4. Stimme/ Sambt beygefügtem Basso Continuo, Dresden 1638, des Schütz-Schülers Kaspar Kittel (1603-1639), der den neuen Stil bei seinem Italien-Aufenthalt 1624/29 kennengelernt hatte. Wesentliches formales Merkmal der Kantate ist die Mehrsätzigkeit, d.h. die Reihung selbständiger kontrastierender Teile, wobei die Unterscheidung rezitativisch-deklamierender und arienhaft-kantabler Abschnitte konstitutiv ist. Textliche Grundlage der italienischen Solo- oder Kammerkantate ist das Madrigal, ein nichtstrophisches, unregelmäßig gebautes, frei reimendes Gedicht subjektiven Charakters und vorwiegend erotischen Inhalts, Schäfer- und Liebeslyrik. Ihre Blütezeit reicht von 1650 bis 1750. In Deutschland hat die nuove musiche auf dem Gebiet der evangelischen -»Kirchenmusik die Entwicklung der Kantate in Gang gesetzt. „Kantate" ist hier allerdings ein recht breiter und undifferenzierter Gattungsbegriff, da verschiedene Traditionslinien parallel

Kantate

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auf dasselbe Ziel hinlaufen: Neben direkten Einflüssen von der italienischen Solokantate her entwickeln sich das konzertierende Madrigal und das Lied zur Kantate hin (das Madrigal des ausgehenden Cinquecento war die herrschende Gattung der mehrstimmigen Musik, bildhaft, wortausdeutend, chromatisch-expressiv, das Versuchsfeld für alle Neuerungen; Merkmal des Liedes: Strophigkeit). So „erscheint die Kantate als Ziel und Sammelbecken der geschichtlichen Entwicklung der ev. KM. [Kirchenmusik] und zugleich als deren eigentümlichste Manifestation" (Feder 584). Was alle Kirchenkantaten verbindet, ist ihre liturgische Bestimmung. Die Kantate war fester Bestandteil des sonn- und festtäglichen Hauptgottesdienstes und hatte als „Hauptmusik" ihren Platz, wie zuvor die Evangelienmotette und das Geistliche Konzert in der Regel zwischen der Evangeliumslesung und dem Glaubenslied, also kurz vor der Predigt; bei zweiteiligen Kantaten wurde der zweite Teil unmittelbar nach der Predigt oder sub communione musiziert. Dies gilt von etwa 1660 bis ins 19. Jh. hinein. Höhepunkt des Kantatenschaffens und einer „regulierten Kirchenmusik", d.h. regelmäßiger Kantatenaufführungen, war die erste Hälfte des 18. Jh. Zentren ihrer Blüte waren die reichen Handelsstädte wie Nürnberg, Leipzig, Frankfurt a.M., Danzig, Lübeck, Hamburg, Höfe wie Rudolstadt, Weißenfels, Gotha, Darmstadt, im 18. Jh. in unvorstellbarer Dichte bis auf die Dörfer hinaus der mitteldeutsche Raum: Sachsen und Thüringen, im Süden Deutschlands vornehmlich die Freien Reichsstädte. Die Texte der Kantaten wurden in ganzen Jahrgängen gedichtet, beginnend mit dem 1. Advent, und erschienen von etwa 1700 ab im Druck. Kantatentextdrucke waren nicht nur für die Komposition und zum Mitlesen im Gottesdienst gedacht, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit als Erbauungsschrift. Dagegen war eine Drucklegung der Kantatenkompositionen von etwa 1675 ab nicht mehr üblich. (Auch von J . S . Bach sind bei Lebzeiten nur zwei Kantaten gedruckt worden, BWV 71 Gott ist mein König und ein unbekanntes verlorengegangenes Werk, beide für die Feier des Ratswechsels in Mühlhausen 1708 und 1709 komponiert und nur zum Zwecke der reichsstädtischen Repräsentation gedruckt.) Die Kantaten waren Gebrauchsmusik, die der Kantor teils selber komponierte, teils sich durch Ausleihen oder Abschreiben fremder Werke besorgte. Die ungeheure Fülle des Materials (viele Tausende von Kompositionen), die Vielfalt der Typen, die Verschiedenartigkeit der textlichen Grundlage und die Entwicklung der Gattung selbst haben es mit sich gebracht, daß die Forschung bezüglich der Kantate eine bunte, inhaltlich sich überschneidende Terminologie entwickelt hat. Sie unterscheidet nach verschiedenen Hinsichten: 1. lokal die italienische, französische, deutsche etc. Kantate, 2. historisch die ältere und die jüngere bzw. die Frühkantate, die neuere und die späte (d.i. die nach-bachsche) Kantate, 3. nach dem zugrunde liegenden Text die biblische, die Choralkantate, die Odenkantate (Ode = ein strophisches geistliches Lied), die Spruchodenkantate (wenn dem Lied ein biblisches Dictum vorangestellt ist), die madrigalische Kantate, die gemischte madrigalische Kantate, 4. nach musikalischen Merkmalen, z. B. Concerto, Choral, Aria (und deren Kombinationen), Liedkantate, Dialogus 5. nach der Besetzung die Chor- und Solokantate, 6. zur inhaltlichen Charakterisierung die Erbauungs-, Predigt- und kontemplative Perikopenkantate. Die Quellen selbst bedienen sich der Bezeichnung Kantate nur selten; gebräuchlich sind Kirchenmusik, Kirchenstück, Concerto, Motetto, auch Dialogo, Musikalische Andacht oder einfach die Angabe des betreffenden Sonn- oder Feiertags, etwa Dominica Trinitatis oder Festo Ascensionis, dazu Textanfang und Besetzung. Dezidiert wählt Erdmann Neumeister (1671-1756) den Titel seines ersten Kantatenjahrgangs: Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music (erschienen Weißenfels 1700 in Einzelnummern, 1704

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Kantate

in Buchform). Neumeister hat mit dieser Sammlung, in der er das frei gedichtete Rezitativ und die (einstrophige) Dacapo-Arie in die evangelische Kirchenmusik einführte, den neueren Kantatentypus geschaffen. Die ältere Kantatendichtung, die etwa noch Salomo Franck (1659-1725), Bachs Textdichter in seiner Weimarer Zeit (1708-1717), gepflegt hat, bestand aus Bibeltext und Strophenlied ( = ->Choral = -»Kirchenlied oder Ode). Dieser „Kirchen-Music" alten Stils stellt Neumeister seine „Cantaten" gegenüber: „Soll ichs kürzlich aussprechen, so siehet eine Cantata nicht anders aus als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Rezitativo und Arien zusammengesetzt" (Vorrede 1704). Neumeisters Reform schlug ein, trotz aller Einwände, die sich gegen die „Opernhaftigkeit", das Eindringen des Theatralischen in die Kirchenmusik, erhoben (Christian Gerber, Johann Heinrich Büttstedt). Die Mehrzahl der jüngeren Dichter schloß sich Neumeister an. Christian Friedrich Hunold (Menantes) lieferte die theoretische Begründung der Form in seiner Poetik mit dem Titel Allerneueste Art, zur reinen und galanten Poesie zu gelangen (Hamburg 1707). Neumeister hat dann in späteren Jahrgängen (1716 in Leipzig gesammelt herausgekommen unter dem Titel Fünffache Kirchen-Andachten) die Elemente des alten und des neuen Stils verschmolzen: Jahrgang II (1708) enthält auch Tuttisätze, in Jahrgang III und IV (1711 und 1714) sind den madrigalischen Texten wieder biblische Dicta und Choralstrophen eingefügt. Besonders beliebt war die Folge: Dictum (etwa ein Wort aus dem Sonntagsevangelium, über das auch gepredigt wurde) - mehrere Rezitative und Arien - Schlußchoral. Diese gemischte Form der Kantate ist in der Folge die bevorzugte geblieben. Bachs Librettisten der Leipziger Zeit (ab 1723), Christian Friedrich Henrici (Picander), Mariane von Ziegler, auch der von Walter Blankenburg entdeckte Jahrgang Rudolstadt 1726 (s. BJ 63), Salomo Franck ab 1715, haben sie gepflegt. J . S . Bach hat sie musikalisch zur Vollendung geführt, so daß für heutiges Verständnis sich mit dem Begriff Kantate unmittelbar die Hörerfahrung der großen Bachschen Kirchenkantate verbindet. Für die zeitgenössischen Theoretiker des neuen Stils war sie ein Graus. Johann Mattheson tadelt sie als „ein aus viererley Schreib-Arten zusammen gestoppeltes Wesen" [Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, T. II Cap. 13 §30, 215). „Das Cantatenmäßige, so darin vorkömmt, gehört zum Madrigal-Styl; die vielstimmigen Chöre und Fugen zum Moteten-Styl; die Begleitungen und Zwischen-Spiele zum Instrumenten-Styl; und endlich die Choräle zum melismatischen. Bey solchem Verfahren werden wir wenig systematisches aufweisen können." Aber gerade diese Mischung aus traditionellen und modernen Elementen, verbunden mit der literarischen Gegebenheit verschiedener Textebenen (Bibelwort - Kirchenliedstrophe - freie Dichtung) ist hermeneutisch die große Möglichkeit der Gattung'gewesen. Alle bedeutenden evangelischen Komponisten der Zeit zwischen 1650 und 1750 haben zur Entwicklung der Kantate ihren Beitrag geleistet. Genannt seien aus der Generation der zwischen 1610 und 1630 Geborenen Andreas Hammerschmidt, der Schöpfer des musikalischen Dialogs (Musicalische Andachten, ab 1639; Dialogi oder Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele, 1645), Franz Tunder, Johann Rosenmüller, die beiden Schütz-Schüler Matthias Weckmann und Christoph Bernhard, Wolfgang Carl Briegel (mehrere vollständige Jahrgänge), Joh. Rudolf Ahle, Constantin Christian Dedekind (Singende Sonn- und Festtags-Andachten, 1683). In der Generation der zwischen 1630 und 1660 Geborenen ragen hervor in Süd- und Mitteldeutschland die drei Thomaskantoren Sebastian Knüpfer, Johann Schelle und Johann Kuhnau, die Brüder Joh. Philipp Krieger und Johann Krieger, Joh. Georg Ahle, Johann Pachelbel, Philipp Heinrich Erlebach, Friedrich Wilhelm Zachow; im nord- und ostdeutschen Raum wirkten u. a. Georg Böhm, Christian Geist, Vincent Lübeck und der bedeutendste Kantatenkomponist des älteren Typs: Dietrich Buxtehude ( M e m b r a Jesu nostri, Zyklus von sieben Kantaten auf die in der Bernhard-Nachfolge entstandene Rhythmica oratio ad unumquodlibet membrorum Christi patientis et a cruce pendentis, 1680). Intensität des Ausdrucks und die Innigkeit einer ganz persönlichen Jesusfrömmigkeit kennzeichnen diese dem frühen -•Pietismus (vgl. Geck) nahestehende Musik. Von den Zeitgenossen J . S . Bachs sind in

Kantate

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der Kantatenkomposition besonders produktiv gewesen Georg Philipp Telemann (insgesamt etwa 23 Jahrgänge, darunter Neumeister III und IV, drei davon gedruckt; am bekanntesten die Jahrgänge Solokantaten Harmonischer Gottesdienst, 1725, 1731), Christoph Graupner (mehr als 1400 Kantaten überliefert), Gottfried Heinrich Stölzel (12 Jahrgänge mit rund 1150 Kantaten), Johann Friedrich Fasch (mindestens 10, meist doppelte Jahrgänge mit 1150-1400 Kantaten), Johann Theodor Römhild (mindestens 12 Jahrgänge). Infolge der in der Regel nur handschriftlichen Überlieferung ist ein großer Teil dieser Werke verlorengegangen. Die Erforschung und editorische Erschließung des erhaltenen Bestandes ist erst in Gang gekommen und verspricht noch eine Fülle von Erkenntnissen zur Auslegungs- und Frömmigkeitsgeschichte des frühen 18. Jh. Kantatentexte des neuen (Neumeisterschen) Typus dichteten außer den schon Genannten u.a. Barthold Hinrich Brockes (1680-1747), Georg Christian Lehms (1684-1717), Johann Oswald Knauer (um 1665-?), Benjamin Schmolck (1672-1737), Johann Friedrich von Uffenbach (1687—1769). Von vielen Kantaten, deren Musik verschollen ist, sind die Texte in den gedruckten Jahrgängen und in Textbüchern, in denen die Texte zur Hauptmusik jeweils für mehrere Sonn- und Festtage zusammengefaßt vorgelegt wurden (vgl. Hobohm), auf uns gekommen. Kennzeichen der Kirchenkantate der Bachzeit sind 1. der ausschließliche Gebrauch deutscher Texte (noch Buxtehude schrieb auch Kantaten über lateinische Andachtstexte), 2. ihr liturgischer Ort vor der Predigt und damit die enge inhaltliche Bindung an das Sonntagsevangelium (Episteljahrgänge und Kantaten an anderem Ort innerhalb des Gottesdienstes sind selten), 3. eine gewisse Standardisierung der Form in Aufbau und Besetzung (Bachs Kantatenwerk ist sowohl in der kompositorischen Durcharbeitung als auch in seinem Formenreichtum für die Zeit untypisch). 2. Theologie

und Musik in den Kantaten

J.S.

Bachs

In der Kantatenforschung ist schon seit längerem gesehen worden, daß die spezifisch protestantische Ausbildung der Gattung der Kirchenkantate zusammenhängt mit der Lutherschen „Theologie des Wortes". Friedrich Blume spricht in seiner Geschichte der evangelischen Kirchenmusik von „einer Art Verdoppelung der Verkündigung und der Auslegung" (181). „Das in der Liturgie verkündigte und in der Predigt rednerisch ausgelegte Gotteswort gelangt in der Kantate... ein zweites Mal, nun im musikalischen Gewände zur Verkündigung und Auslegung." Und dies in ganz hervorragender Weise bei Johann Sebastian ->Bach. Bach schließe die geschichtliche Entwicklung auf dem Gebiet der Kantate ab „mit den höchsten Leistungen, die jemals auf diesem Gebiet erreicht worden sind" (191). Aber was sein Kantatenschaffen heraushebt, sei nicht nur die Vielseitigkeit und hohe Qualität der Arbeit sondern vielmehr „die geistige Durchdringung seiner Stoffe, die Fähigkeit zur Wortinterpretation... Die Gestaltung zielt stets auf eindringliche Plastizität und Bildhaftigkeit der Exegese, auf tiefste Ausschöpfung des Gefühlsinhaltes und auf mystisch-symbolische Auslegung der Inhalte, die oft in geheime, schwer zu enträtselnde Beziehungen gesetzt werden, auch da, wo der Text sie nicht unmittelbar bietet. Bachs beste Kantaten sind musikalische Predigten, tiefer und gedankenreicher, als Worte sie hätten ausdrücken können oder als irgendein anderer Musiker sie zu gestalten vermocht hat" (ebd.). Die Auslegung dieser musikalischen Predigten Bachs ist eine der großen Aufgaben der noch jungen Disziplin der theologischen Bachforschung, die im Gespräch mit Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstwissenschaft steht. Jüngste Einsicht ist, daß auch die Kantatenfexie Kurzpredigten in gebundener Rede sein wollen. Erdmann Neumeister schreibt in der schon zitierten Vorrede von 1704: „Wenn die ordentliche Ambts-Arbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner Privat-Andacht in eine gebundene Rede zu setzen und mit solcher angenehmen Sinnenbemühung den durch Predigen ermüdeten Leib wieder zu erquicken. Woraus dann bald Oden, bald poetische Oratorien und mit ihnen auch gegenwärtige

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Kantate

Cantaten gerathen sind" (vgl. dazu Steiger, BWV 108,49 f). Ferner entdecken wir, daß die Nichttheologen unter den Dichtern aufgedruckte Predigten zurückgreifen. So entnimmt Salomo Franck für seine Dichtungen zuweilen einzelne Stichworte und Auslegungstopoi dem Evangelischen Hertzens-Spiegel (Frankfurt a.M. 1679) oder anderen Postillen von Heinrich Müller (1631-1675) (vgl. Steiger, BWV 155, 27). Mehrere der von Picander verfaßten Arientexte der Matthäus-Passion haben sich als Nachdichtungen von Partien aus H. Müllers Passions-Predigten herausgestellt (vgl. Axmacher). Andere Kantatentexte enthalten gedichtete Dogmatik; so handelt in Übereinstimmung mit den Predigten am 8. Sonntag nach Trinitatis (Evangelium: Mt 7 , 1 5 - 2 3 ) BWV 45 „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist" im Blick auf das Endgericht von der Gewißheit des Willens Gottes und der Klarheit der Schrift (vgl. Steiger, BWV 45, 6 - 8 ; 18-20). Das Verhältnis der heterogenen Textschichten in Bachs Passionen ist von Martin Dibelius als das von „Individualismus und Gemeindebewußtsein" beschrieben worden. In Rezitativ und Arie, den im modernen Stil geschriebenen betrachtenden Stücken, wird die glaubende Seele mit dem biblischen Geschehen, mit der Historia, gleichzeitig (fiducia des Gläubigen, Realpräsenz Christi). Der neue Stil der -> Affekte und der affectus fidei Luthers gehen eine glückhafte Verbindung ein. Die affektbetonte Vergegenwärtigung bleibt also nicht rein subjektiv. Sie hält sich an die Inhalte, die ihr von Predigt und Dogmatik vorgegeben sind. Wie in den Postillen und Andachtsbüchern der Zeit durchdringen sich in den Kantatentexten reine Lehre und erbauliche Applikation, dogmatische und praktische Auslegung des jeweiligen Sonntagsevangeliums. Wie Bibel und Welterfahrung in der Barocktheologie eine Einheit bilden, so gilt gleiches für Poesie und Bibelsprache der Kantaten. Daß die Kantatentexte gedichtete Predigten sind und damit in der Tradition der Schriftauslegung stehen, manifestiert sich nicht nur an ihrem theologischen Inhalt, sondern ebenso an ihrer sprachlichen Gestalt. Die Dichter schöpfen aus der Sprache der Bibel in der Übersetzung Martin Luthers. Die Texte sind voll von biblischen Zitaten und Allusionen, Bildern und Bezügen. Dies bedeutet Stärke des Ausdrucks, Musikalität der Sprache und einen inhaltlichen Reichtum, der diesen Texten bis heute die Qualität von Andachtstexten gibt. Biblische Sprache und Bezüge und die Eigenart damaliger Schriftauslegung: das Konkordanzhören, machen jeden Kantantentext zu einem hermeneutischen Universum. Mit der Rezeption der spätmittelalterlichen Frömmigkeit (Augustin - Bernhard) durch die lutherische -»Orthodoxie im 17. Jh. im Rückgriff auf den jungen Luther fließt auch in die Kantatendichtung die Sprache der —»Mystik (insbesondere der Brautmystik des -»Hohenliedes). Antithetik, Metaphorik und Emblematik dieser Gebrauchs- und Andachtspoesie auf teilweise hohem Niveau stellen für Theologie und Germanistik eine eigene Forschungsaufgabe dar, musikalische Rhetorik und Symbolik der Vertonung für Theologie und Musikwissenschaft. Ein hermeneutisches Proprium von Bachs musikalischer Übersetzung der Texte ist die erhöhte Vergegenwärtigung: Eine Aufforderung wird zum Vollzug (vgl. BWV 155 Nr. 4 Wirf, mein Herze, wirf dich noch-, dazu Steiger, BWV 1 5 5 , 5 2 - 5 4 ) , ein Verheißungs- oder Drohwort Wirklichkeit (vgl. BWV 45 Nr. 4 Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage; dazu Steiger, BWV 4 5 , 1 2 f), ein Suchen wird in der Musik zum Gefundenhaben (vgl. Osteroratorium BWV 249 Nr. 8 Saget, saget mir geschwinde). Wort und Musik verhalten sich hier zueinander wie Wort und Sakrament in Luthers Verständnis. Dies zeigen auch Bachs Dialogkantaten, in denen die gläubige Seele mit dem Bräutigam gegenwärtig spricht. (Zu den Oster- und Erscheinungsgeschichten vgl. Steiger, Hermeneutik.) Die Erfahrung der Ewigkeit des Gerichts als unendlicher Zeit, die mit der neuen Zeiterfahrung im 17. Jh. (mathesis universalis) konvergiert, spricht sich z. B. im Lied von Johann Rist (1642) und erhöht in Kantate BWV 20 „O Ewigkeit, du Donnerwort" I aus (Steiger, BWV 20, 179; 182 f). Die didaktisch-seelsorgerliche Praxis seiner Zeit setzt Bach in der Komposition entsprechender Texte musikalisch um in Rondo- und Ostinatoformen (vgl. Steiger, Bachs Gebetbuch 2 3 2 - 2 3 4 ) .

Kantate 3. Die Kantate

im 19. und 20.

597

Jahrhundert

Nach 1750 hielt das Kantatenschaffen noch eine Weile an. Der Thomaskantor Johann Friedrich Doles (1715—1797) und der Dresdner Kreuzkantor Gottfried August Homilius (1714—1785) waren auf dem Gebiet noch produktiv, für die Bach-Söhne Wilhelm Friedemann (1710-1784) und Carl Philipp Emanuel (1714-1788) lag die Gattung bereits am Rande. Carl Heinrich Graun (1703/04-1759) und Georg Benda (1722-1795) schufen noch einzelne Jahrgänge. Mit dem Aufkommen der neuen Ästhetik der Natürlichkeit und Simplizität im Zeitalter der -»Aufklärung und der Kritik des -»Rationalismus an der de tempore-Ordnung des Gottesdienstes hatte die Kantate ihre zentrale Bedeutung in musikgeschichtlicher und in liturgischer Hinsicht verloren. Zwar behauptete sie noch ihren Platz in Festtags- und Gelegenheitsgottesdiensten, es entstanden auch noch eine Reihe bedeutender Werke, etwa auf Texte von Herder und Klopstock, in formaler Hinsicht entwickelte sie sich aber rückläufig, indem sie zu ihren frühen Vorformen zurückkehrte. Die Gattung hatte sich überlebt, die musikalische Entwicklung vollzog sich jetzt auf anderen Gebieten. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, als im Zuge der BachRenaissance des 19. Jh. zunächst Felix Mendelssohn-Bartholdy, später Max Reger (Choralkantaten zu den Hauptfesten des evangelischen Kirchenjahres, 1903-1905) eine Wiederbelebung versuchten. Auch die aus der ->Liturgischen Bewegung und der Singbewegung hervorgegangene kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung der dreißiger Jahre (-»Kirchenmusik) unseres Jahrhunderts hat zwar eine Fülle gottesdienstlicher Vokalmusik hervorgebracht, darunter auch als „Kantate" bezeichnete Kompositionen, sie hat die Kantate jedoch nicht wieder zum substantiellen Bestandteil des Gottesdienstes machen können (vgl. die Zeitschrift Musik und Kirche 1929 ff; Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, 4 Bde., Kassel 1954-1961). Die musikgeschichtliche Relevanz dieser in den Jahren der kulturpolitischen Abschottung Deutschlands entstandenen Werkgruppe ist strittig. Heute ist die Kirchenkantate eine Erscheinung am Rande der allgemeinen Musikkultur. Ein Phänomen dieser Musikkultur aber ist die Pflege des Bachschen Kantatenwerks, die bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzte, im wesentlichen von den evangelischen Kantoreien getragen wurde und heute eine nicht dagewesene Breite und Intensität erreicht hat. An mehreren Orten ist bereits das gesamte Kantatenwerk erklungen. Zu nennen sind (außer Leipzig, wo Karl Straube schon in den dreißiger Jahren eine Gesamtaufführung über den Rundfunk verbreitete) Berlin, Stuttgart, Ulm, Mainz, Heidelberg, Bad Homburg (vgl. Steiger, Kantatenzyklus). Bedeutsam nicht nur in rezeptionsgeschichtlicher,sondern in liturgiegeschichtlicher Hinsicht ist dabei die Praxis des Kantatengottesdienstes, die — in unterschiedlichen Modellen — versucht, die Kantate wieder in ihre ursprüngliche Funktion als Predigtmusik einzusetzen (vgl. Steiger, Bach im Gottesdienst). Auch sogenannte Gesprächskonzerte und Gottesdienste mit vorhergehender Einführung in die Kantate wollen der Gemeinde die Einheit von Text und Musik wieder nahebringen. Von Bedeutung für die Ökumene ist die Tatsache, daß Bachkantaten-Gottesdienste auch in reformierten Gemeinden (in der Schweiz etwa regelmäßig in Basel, Bern und Zürich mit den Chören der Evangelischen Singgemeinde) und in katholischen Kirchen stattfinden. Quellen und

Nachschlagewerke

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Kantate

Werkerläuterungen von Marianne Helms, Arthur Hirsch, Manfred Schreier u.a. - J.S. Bach. Das Kantatenwerk (noch nicht vollständig), Concentus Musicus Wien, Leonhardt-Consort, Gesamtleitung Nikolaus Harnoncourt, Telefunken-DECCA-Schallplatten GmbH, mit Partituren und Werkeinführungen v. Alfred Dürr, Ludwig Finscher, Emil Platen u.a. - NBA. Literatur Aufsatzsammlungen: Bachiana et alia musicologica. FS Alfred Dürr, Kassel 1983. - Bach als Ausleger der Bibel. Theol. u. musikwiss. Stud. z. Werk J.S. Bachs, hg. v. Martin Petzoldt, Göttingen 1985. - Theol. Bachstud. I. Hg. v. Walter Blankenburg/Renate Steiger, Neuhausen-Stuttgart 1987 (Beitr. zur theol. Bachforschung 4). Elke Axmacher, „Aus Liebe will mein Heyland sterben". Unters, zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jh., Neuhausen-Stuttgart (Beitr. zur theol. Bachforschung 2). - Walter Blankenburg, Eine neue Textquelle zu 7 Kantaten J. S. Bachs u. 18 Kantaten J. Ludwig Bachs: BJ 63 (1977) 7 - 25. - Ders., Art. Die dt. (Kirchen-)Kantate: Das große Lexikon der Musik 4 (1978) 295. Ders., Kirche u. Musik. GAufs. zur Gesch. der gottesdienstlichen Musik, hg. v. Erich Hübner/Renate Steiger, Göttingen 1979. - Ders., Mystik in der Musik J.S. Bachs: Herrenaiber Texte 46, hg. v. Wolfgang Böhme 1983, 67-81. - Friedrich Blume, Gesch. der ev. Kirchenmusik, Kassel 2 1965. Bulletin der Arbeitsgemeinschaft für theol. Bachforschung, hg. v. Renate Steiger, Heidelberg 1988 ff. -Alfred Dürr, Die Kantaten v. J.S. Bach. Mit ihren Texten, 2 Bde., München/Kassel 5 1985. - Georg Feder, Art. Kantate D. Die prot. Kirchenkantate: MGG 7 (1958) 581-608 (Lit.). - Martin Geck, Die Vokalmusik Dietrich Buxtehudes u. der frühe Pietismus, Kassel 1965 (Kieler Sehr, zur Musikwiss. 15). - Klaus Häfner, Aspekte des Parodieverfahrens bei J.S. Bach, Laaber 1987 (Neue Heidelberger Stud. zur Musikwiss. 12). - Diethard Hellmann, Die Bachsche Kirchenkantate. Ein Spiegel der Frömmigkeit: aktuelle Information 19, hg. v. Bischöfl. Ordinariat Mainz (1980) 25 - 4 8 . - Walter F. Hindermann, „Seine Einsicht in die Dichtkunst . . . " . Bachs Rhetorik-Verständnis im Spiegel v. Quintilians „Institutio oratoria": MuK 57 (1987) 284-297. - Arthur Hirsch, Die Zahl im Kantatenwerk J.S. Bachs, Neuhausen-Stuttgart 1986. - Wolf Hobohm, Neue „Texte zur Leipziger KirchenMusic": BJ 59 (1973) 5 - 3 2 . - Walther Killy, Über Bachs Kantatentexte: MuK 52 (1982) 271-281. Helmut K. Krausse, Erdmann Neumeister u. die Kantatentexte J.S. Bachs: BJ 72 (1986) 7 - 3 1 . Friedhelm Krummacher, Art. Cantate II: The New Grove Dictionary 3 (1980) 702-712 (Lit.). Ders., Funktionalität u. Phantastik. Zu den Vokalwerken v. Dietrich Buxtehude: MuK 57 (1987) 275-284. - Robin A. Leaver, Bachs theol. Bibliothek. Eine krit. Bibliogr., Neuhausen-Stuttgart 1983 (Beitr. zur theol. Bachforschung 1). - Ders., J.S. Bach and Scripture. Glosses from the Calov Bible Commentary, St. Louis 1985. - Michael Märker, Der Stile antico u. die frühen Kantaten J.S. Bachs: Bach-Stud. 9 (1986) 7 2 - 7 7 . - Andras Marti, „ . . . die Lehre des Lebens zu hören". Eine Analyse der drei Kantaten zum 17. S.n.Trin. v. J.S. Bach unter musikalisch-rhetorischen u. theol. Gesichtspunkten, 1981 (BSHST 46) (Lit.). - Hugo Riemann, Musiklexikon. Sachteil, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 1967. - Kerala J. Snyder, Dieterich Buxtehude. Organist in Lübeck, New York 1987, Part II, 5 Vocal Music, 139-226 (Lit.). - Lothar Steiger/Renate Steiger, J.S. Bachs Kantaten auf den Sonntag Estomihi: Beitr. zur theol. Bachforschung III, Neuhausen-Stuttgart 1988. - Diess., J. S. Bach „Es ist euch gut, daß ich hingehe" (BWV 108): Cantate, Kassel 1984, 49-59. - Diess., „Mein Gott, wie lang, ach lange?" Herzensfrömmigkeit in der Kantate BWV 155: Herrenalber Texte 64 (1985) 25-71.104-107. - Diess., „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist". J.S. Bachs Kantate BWV 45. Ihre Theol. u. Musik: KuD 32 (1986) 3 - 3 4 . - Diess., Zeit ohne Zeit. J.S. Bachs Kantate BWV 20 „O Ewigkeit, du Donnerwort". I Das prot. Kirchenlied im 16. u. 17. Jh.: Wolfenbütteler Forschungen 31 (1986) 165-233. - Renate Steiger, Methode u. Ziel einer musikalischen Hermeneutik im Werke Bachs: MuK 47 (1977) 209-224. - Dies., Der Heidelberger Bach-Kantaten-Zyklus: MuK 52 (1982) 3 9 - 4 1 . - Dies., Bach im Gottesdienst: MuK 55 (1985) 82-85. - Dies., Bachs Gebetbuch? Ein Fund am Rande einer Ausstellung: MuK 45 (1985) 231-234. - Günther Stiller, Bachkantate u. liturgische Tradition: Bachfest-Programmbuch 1976 Berlin, 17-29. - Reinhart Szeskus, Zu den Choralkantaten J.S. Bachs, Leipzig 1977. - Helene Werthemann, Die Bedeutung der atl. Historien in J.S. Bachs Kantaten, 1960 (BGBG 3). - Ferdinand Zander, Die Dichter der Kantatentexte J. S. Bachs. Unters, zu ihren Bestimmungen: BJ 54 (1968) 9 - 6 4 . - Jean-Claude Zehnder, Die Weimarer Orgelmusik J.S. Bachs im Spiegel seiner Kantaten: MGD 41 (1987) 149-162. - Siehe auch Lit. zu -»Bach. Renate Steiger

Kantor -» Kirchenmusik, —> Kirchliche Berufe Kantorei - » Kirchenmusik

Kanzel

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Kanzel 1. Die Definition 2. Vorläufer 3. Die Kanzel von den Bettelorden bis zur Reformation 4. Die Kanzel im 16. und 17. Jahrhundert 5. Neuzeit und Gegenwart (Literatur S. 603)

1.

Definition

Die Kanzel ist der Ort der -»Predigt. Ihr Grundbestandteil ist der Korpus. Er kann auf einem Fuß oder Träger ruhen. Zu ihm führt eine, manchmal mit einer Tür verschlossene, Treppe empor. Meist gehört zu ihr ein Schalldeckel. Er ist manchmal durch eine Rückwand optisch mit dem Korpus verbunden. Alle genannten Teile können figürlichen oder ornamentalen Schmuck tragen. Das Bildprogramm spiegelt den Inhalt der Predigt wider, die Stellung der Kanzel im Raum läßt wie ihre Korrelation zur Gemeinde und zum Altar auf den Stellenwert der Wortverkündigung schließen. 2.

Vorläufer

Die ausschließlich der Predigt dienende Kanzel ist eine Erfindung der Prediger- (Bettel-) Orden im 13. Jh. Vorher wurde von Stellen gepredigt, die primär andere und außerdem mehrere Funktionen hatten. Obwohl die Herkunft des Wortes Kanzel von cancelli (Schranken des Altarbereiches) es nahezulegen scheint, besteht kein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang. Ältester Predigtort ist die Kathedra (s. T R E 16, 196ff), der im Scheitel der Apsis stehende Thron des Bischofs, der hier inthronisiert wurde, von hier den Gottesdienst leitete, nach antiker Sitte sitzend predigte („Predigtstuhl"), Recht sprach, das Taufscrutinium und das Glaubensbekenntnis der Katechumenen abnahm. Gegen Ende des 4. Jh. wurde die Predigt um der Nähe zur Gemeinde willen häufig vom Ambo gehalten. Er ist primär der erhöhte (avaßaivca bzw. äpßäco) Ort der biblischen Lesungen. Zwischen alt- und neutestamentlicher Lesung wurde ein Psalm vom Ambo aus gesunden, von seinen Stufen wurde das (deshalb so genannte) Graduale angestimmt. Von ihm herab predigten u.a. auch —» Ambrosius, -• Augustin, -»Johannes Chrysostomus, z.T. von einer auf ihm stehenden transportablen Kathedra. Im 12. Jh. trat neben den Ambo der Lettner, dessen Funktion primär, wie die Bezeichnung lectorium ausweist, Lese- (und Predigt-) Stelle ist, sekundär Trennung zwischen Laien im Schiff und Klerikern im Chorraum. 3. Die Kanzel von den Bettelorden

bis zur

Reformation

Die Bettelorden kämpften gegen Ketzer und kümmerten sich um neue soziale Schichten vornehmlich in aus der Messe gelösten Predigten im Freien wie vor ihnen etwa -»Bernhard von Clairvaux bei seinen Kreuzzugspredigten. Sie benötigten dafür einen transportablen erhöhten Standort, in der Regel einen quadratischen Korpus auf vier Stützen mit einer kleinen Treppe (cf. Abb. 1). Ihre späteren Kirchenbauten wurden nicht, wie üblich, mit dem Altarbereich begonnen, sondern um die Kanzel herum gebaut. Sie erhielt ihren festen Platz in der Mitte einer Längswand (meist Epistelseite = Süden) und behielt diesen Ort auch in den Pfarrkirchen, in denen die Predigt im 14. Jh. wieder stärker aufgenommen wurde. Vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jh. wurden viele Kanzeln (und Prädikaturen = Predigerstellen) gestiftet. Nur in kleinen Kirchen wurde die Kanzel dem Altar etwas angenähert. Die Kanzeln, aus Holz oder Stein, hatten einen polygonalen, meist oktogonalen Grundriß. Die meisten waren mit Maßwerk verziert (cf. Abb. 2). Als figürliche Programme begegnen die vier Evangelisten mit Christus (z.B. St. Goar, Ende 15. Jh.). Häufiger sind die vier westlichen Kirchenlehrer (Gregor der Große, Ambrosius, Augustin, Hieronymus), die jedoch nicht als Prediger, sondern wie die Evangelisten schreibend und somit die Tradition fortbildend dargestellt wurden (z. B. Wien, St. Stephan, um 1500; Freiberg/Sachsen, Tulpenkanzel, 1508/10). Heilige erscheinen nur als Ergänzung, meist

600

Kanzel

der Kirchenpatron. Der Fuß ist nur in wenigen Fällen figürlich gestaltet (z.B. Wien, St. Stephan: Apostel). Der selten vorkommende Schalldeckel nimmt die Form des Korpus auf. Der älteste erhaltene Schalldeckel (Landshut, St. Martin, 1429) zeigt u. a. einen Bischof als Hinweis darauf, daß die Predigt Recht des Bischofs ist, der dieses implizit in der Priesterweihe weitergibt. Inschriften sind selten, nennen in der Regel den Stifter. Eine Sonderform ist die Außenkanzel. 135 sind in Europa (zumeist in Mittel- und Nordeuropa) nachgewiesen. Fast die Hälfte davon entstand im 15. Jh. im Zuge der damals regen Predigttätigkeit, meist außen an Kirchen angebaut. Sie dienten auch (wie in Wien, St. Stephan) den Türken- oder Kreuzzugspredigten. Daneben kommen sie als freistehende Kanzel auf protestantischen Friedhöfen des 17. Jh. vor. Ebenso sind sie in Wallfahrtsorten zu finden, wo sie außer der Predigt manchmal auch zum Vorweisen von -•Reliquien verwendet wurden. 4. Die Kanzel im 16. und 17.

Jahrhundert

Die von den Bettelorden begründete traditionelle Stellung der Kanzel wird in allen Kirchen beibehalten. Durch die Errichtung festen Gestühls für die Gemeinde in evangelischen Kirchen werden jedoch die bisher wechselnden Richtungen der Gottesdienstbesucher im Kirchenraum erstmals festgelegt. Die reformierte Kirche richtet die Bänke ganz auf die Kanzel aus. Sie ist der Zielpunkt des Raumes, denn das Abendmahl wird entweder in den Bankreihen sitzend gefeiert (z. B. Schweiz), in adaptierten Kirchen im alten Chor (z.B. Emden, Große Kirche, um 1520) oder an Tischen, die anstelle loser Stühle dazu in der Kirchenmitte aufgestellt werden (z. B. Holland). Bei Neubauten wird (außer in den kleinen Kirchen der Schweiz) auf einen Altarraum verzichtet. In den Kirchenneubauten der Hugenotten (z.B. Lyon, 1564; Charenton, 1623) steht die Kanzel in der Längsachse, in den neuen Kirchen in Holland bleibt sie am alten Standort. So entstehen Querräume (z.B. Amsterdam, Zuiderkerk, 1603/11 und Nachfolgebauten), aus denen dann ein zentralisierender neuer Raumtyp entsteht (Den Haag, Neue Kirche, 1649/54 und Nachfolgebauten). Die Lutheraner behalten dagegen die alten Standorte für Altar und Kanzel bei. Während die Emporen für die Gemeinde (auch eine Neuerung) auf die Kanzel ausgerichtet werden (an der gegenüberliegenden Längswand und vor der Westwand), müssen die Bankreihen im Schiff zwischen Kanzel und Altar entweder parallel zur Längsachse aufgestellt werden oder als Klappbänke mit der Möglichkeit des zweimaligen Richtungswechsels im Gottesdienst konzipiert werden (z.B. Augsburg, St. Anna). Die wenigen großen Neubauten vor dem Dreißigjährigen Krieg halten am alten Kanzelort fest (z.B. Bückeburg, 1615). Daneben aber wird, für die Folgezeit bedeutsam, die Kanzel dem Altar angenähert und rückt meist an den Chorbogen (z.B. Celle, adaptierte alte Kirche, 1576; Nidda, Neubau, 1615/18). Schmuck in Gestalt von szenischen Reliefs oder Statuetten weist die Kanzel in der Reformierten Kirche nicht auf, wohl aber in den lutherischen. Lediglich 12 % sind dort schmucklos, 2 % tragen nur Sprüche, dagegen sind an 46 % die Evangelisten zu sehen (ein Drittel davon zusätzlich mit Christus) und 4 0 % sind mit Statuetten oder szenischen Reliefs versehen. Bis zur Konsolidierung der Lage (Konkordienformel 1577) ist bei den Reliefs kein einheitliches Programm zu entdecken. Z. B. wird die lehrhafte Darstellung „Sünde und Gnade" von Lukas —»Cranach d.Ä. aus der Graphik übertragen, die auch sonst im Kirchenschmuck (z.B. Emporenbilder) die Vorlagen lieferte. In der Zeit der lutherischen Orthodoxie ist ein bestimmtes Programm vorherrschend, das den zweiten Artikel des Credo zum Inhalt hat (Sündenfall, Verkündigung, Geburt Christi, Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt, Jüngstes Gericht) (cf. Abb. 3), mit interpretierenden Inschriften (zur Kreuzigung etwa I Petr 2,24a cf. Abb. 4). Der Schmuck der Kanzel entspricht also der christologischen Ausrichtung der Predigt, die Interpretation dem homiletischen Prinzip scriptura sui ipsius interpres. Erkennen läßt sich das Programm besonders an Meistern, die mehrere Kanzeln schufen, z.B. Hinrich Ringeling (23 Kanzeln)

TAFEL 1

TAFEL 2 r

3 iS < !U « E Ochino, Francesco von Jesi, Eusebio von Ancona, der frühere Gegner Giovanni von Fano (s. o.) und (der spätere Chronist) Bernardino von Colpetrazzo. Im Breve vom 15. April 1534 werden diese unter Androhung der Exkommunikation aufgefordert, binnen 15 Tagen in ihre Häuser zurückzukehren (AMin 3 16,795 f). Vor Ablauf der Frist kommt es zur Abmilderung: Ludovico von Fossombrone, „Kapuzenbruder genannt, und seinen Genossen" wird verboten, „in Zukunft" Observanten aufzunehmen und ohne päpstliche Erlaubnis neue Häuser anzunehmen (De primordiis 119f). Dieses Verbot wird auch von Papst Paul III. in Breven vom 18.12.1534 (Tribulationes 2f), vom 12.1.1535 an die „Kapuziner genannten" (Capuccinis nuncupatis) Minderbrüder

Kapuziner

621

(AMin 3 16,458f) und vom 14. und 29. (19.) 8.1535 (AMin 3 16,459-461) unter Androhung der Exkommunikation wiederholt. Die 1534 übergetretenen Riformati setzten unter Anführung von Ochino und durch Unterstützung der von ihm beeinflußten Markgräfin Vittoria Colonna die Einberufung eines Generalkapitels für den November 1535 nach Rom ins Kloster zur heiligen Euphemia durch. Dort wurde Ludovico von Fossombrone die Leitung der Gemeinschaft aus der Hand genommen. Zu Definitoren wurden gewählt: Bernardino Ochino, Bernardino von Asti, Giovanni von Fano und Eusebio von Ancona und zwei weitere (MHOMC 2, 383). Neuer Generalvikar wurde Bernardino von Asti. Im Schreiben vom 29.4.1536 bestätigte Papst Paul III. die Wahl (Tribulationes 12f). Ludovico bestritt ihre Rechtmäßigkeit und erreichte eine Wiederholung auf dem 1536 neu einberufenen Kapitel. Dort wurde Bernardino einstimmig wiedergewählt. Als Ludovico weiter den Gehorsam verweigerte, erfolgte sein Ausschluß, bestätigt im Breve vom 10.10.1536 (BOFMC 1,21). Auch Matteo von Bascio verließ die Gemeinschaft. In der um der Markgräfin von Pescara, Vittoria Colonna, willen (Tribulationes 21) gewährten Bulle Expotti nobis vom 25.8.1536 bekräftigt Paul III. für den neuen Generalvikar und seine Brüder die Schreiben Clemens' VII. (Religionis zelus, s. o.) genauso, als wenn sie an sie selbst gerichtet seien (AMin 3 16,471 —475; B O F M C 1,18-20). Die 1535/36 verfaßten, auf dem Generalkapitel in Rom 1536 angenommenen und 1537 gedruckten Konstitutionen blieben im Grundtext ihrer 12 Kapitel bei den Überarbeitungen von 1552,1575,1608,1638,1643,1909 und 1925 erhalten bis zur Neufassung von 1982. 2. Die weitere

Entwicklung

Die im Breve vom 5.1.1537 (AMin 3 16,498 f) ausgesprochene Begrenzung auf das heutige Italien wurde 1574 aufgehoben (BOFMC 1,35). Bis dahin war die Gemeinschaft der Kapuziner von 5 Häusern und etwa 30 Brüdern im Jahre 1529 auf etwa 65 Häuser mit etwa 5 0 0 - 7 0 0 Brüdern in 19 Provinzen im Jahre 1536 und etwa 310 Häuser mit etwa 3600 Brüdern in 21 Provinzen angewachsen (vgl. A O F M C 94 [1978] 3 2 5 - 3 3 5 ) . Neben den genannten Generalvikaren bis 1558 (s.o.) ist der Laienbruder Felix von Cantalice (gest. 1587) prägend für diese Zeit. Mit dem Breve Pauls V. Alias felicis recordationis vom 23.1.1619 (BOFMC 1,62) erhielten die Kapuziner, bisher mit selbstgewählten Oberen den Konventualen zugeordnet, volle Unabhängigkeit mit eigenem Generalminister, dem 6 Generaldefinitoren zur Seite stehen. Bis 1761 erreichte der Orden seine höchste Mitgliederzahl mit 34029 Brüdern in 1730 Häusern in 64 Provinzen. Innerhalb Europas entstanden Niederlassungen in Spanien (1577); Frankreich (1574), von dort in Belgien (1585), von wo aus 1611 eine Niederlassung in Köln gegründet wurde (1626 Errichtung der Kölner, 1668 der Rheinischen und 1770 der Westfälischen Provinz); in der Schweiz durch Franz von Bormio (1581 Altdorf; 1622 Fidelis von Sigmaringen ermordet), von wo aus 1599 in Freiburg/Br. und 1603 in Ensisheim/Elsaß Klöster gegründet wurden; in Tirol und Bayern (1593 Innsbruck, 1596 Salzburg, 1600 München, 1615 Würzburg); in Wien, Prag und Graz (1600) durch Laurentius von Brindisi; ferner in Polen (1679) und Irland (1733). Unter den Einwirkungen von -»Aufklärung, -»Französischer Revolution, Säkularisation und Antiklerikalismus schrumpfte die Mitgliederzahl bis 1888 auf 7628 in 670 Häusern in 58 Provinzen. Unter dem Generalminister Bernhard von Andermatt (1884—1908) kam es zu einer Regeneration. Die Mitgliederzahl stieg bis 1965 auf 15710 und lag 1984 bei 11497, wobei die Zahl der Novizen wieder zunimmt. In der Bundesrepublik gibt es die Rheinisch-Westfälische Provinz mit 20 und die Bayerische mit 22 Häusern. Am stärksten verbreitet ist der Orden gegenwärtig (1984) in Italien (3305 Brüder), Brasilien (1096), den USA (964), Spanien (675), Indien (515) und der Schweiz (491). 3. Grundzüge

der

Lebensform

Nach der Bulle Religionis zelus, in der auch die Konstitutionen von 1982 (c. 8) die Annahme des Kapuzinerordens durch die Kirche sehen, ist die Lebensform charakteri-

622

Kapuziner

siert als eremitisches Leben nach der Regel des heiligen Franziskus. Dessen Ziele sind Gebet, Meditation und Kontemplation (Konst. v. Albacina Nr. 8). „Dem Leben des Gebetes, insbesondere des kontemplativen" den Vorrang einzuräumen, rufen auch die Konstitutionen von 1982 auf (c.4). Nach den Konstitutionen von 1536 ist Beten nichts anderes, als „mit dem Herzen mit Gott reden". Neben dem Stundengebet soll dem privaten und innerlichen Gebet, das „fruchtbarer als das laut gesprochene" ist (c. 3; vgl. Konst. v. Albacina Nr. 3), genügend Zeit bleiben, wenigstens zwei Stunden am Tag (Konst. v. 1536 c. 3; vgl. AMin 3 16,193f; AIA 21 [1961] 467). Die Annahme von Almosen für Messe und Gebet wird abgelehnt (Konst. v. Albacina Nr. 6; Konst. v. 1536 c. 3). Alles, was die Kontemplation beeinträchtigt, soll vermieden werden (unnützes Reden, unnötige Beteiligung an Beerdigungen, Prozessionen, Festen, ungehinderter Zutritt von Weltleuten, Seelsorge in Frauenklöstern u.a.). Die Niederlassungen sollen deshalb 1 1 / 2 Meilen von bewohntem Gebiet entfernt sein (Konst. c. 6; bis 1925). Im Unterschied zu den Konstitutionen von Albacina (Nr. 50) und zum Bittgesuch Ludovicos von 1527/28 wird 1536 bestimmt, daß die Stellen auch nicht zu „weit entfernt" sein sollen, damit Weltleute und Brüder ihre Dienste gegenseitig in Anspruch nehmen können. Schon 1529 bemühte sich Ludovico mit Erfolg um eine Niederlassung in Rom. Hier deutet sich eine Akzentverlagerung an, die auch in der 1531/1534 sich ändernden Selbstbezeichnung von Mindere Brüder des eremitischen Lebens zu Mindere Brüder Kapuziner zum Ausdruck kommt 2 . Es wäre jedoch vereinfacht zu sagen: Ludovico von Fossombrone wollte einen Eremitenorden und die Gruppe um Bernardino von Asti und Ochino einen Seelsorgeorden. Das Spannungsverhältnis zwischen Kontemplation in der Zurückgezogenheit und dem Anspruch von Seelsorge und Nächstenliebe durchzieht vielmehr die ganze Ordensgeschichte, wie die (unterschiedlich befolgte, erst in den Konstitutionen von 1909 aufgehobene) Ablehnung der Beichtseelsorge (Konst. v. Albacina Nr. 29; v. 1536 c. 7; B O F M C 1,44) zeigt. Andererseits waren Predigt und Sorge um Kranke und Arme von Anfang an mit dem eremitischen Leben, wie Ludovico und Matteo von Bascio es verstanden, verbunden. Die Konstitutionen von Albacina (Nr. 24) tragen den Oberen auf, dafür zu sorgen, daß der „Weinberg des Herrn durch Predigen" bearbeitet wird. Die Prediger sollen ungeschmückt und ohne subtile Spekulationen „rein und einfach das Evangelium des Herrn predigen". Diese Predigt der ersten Brüder, darunter ungebildete Laien, fand besonderen Anklang (MHOMC 4 , 4 3 - 4 6 . 1 9 2 - 1 9 4 ) . Während jedoch die Konstitutionen von Albacina (Nr. 28) die Einrichtung eines Studiums untersagen, ordnen die von 1536 als Voraussetzung der Zulassung zum Amt des Predigers (nicht jedoch zur Priesterweihe) „fromme und heilige Studien" der Grammatik wie der heiligen Schriften an, damit die fruchtbringende Ausübung der Predigt nicht zum Schaden der Weltleute beeinträchtigt werde (c. 9; Konst. v. 1643: drei Jahre Philosophie- und vier Jahre Theologiestudium). Aber auch 1536 werden die Studenten ermahnt, keine „aufblähende Wissenschaft" sich anzueignen. Die Prediger „sollen nicht viele Bücher mit sich tragen, damit sie um so beharrlicher in dem besten Buch des Kreuzes lesen können". Sie sollen nicht Geschichten und Spitzfindiges, sondern „nach dem Beispiel des Apostels Paulus Christus den Gekreuzigten predigen" und als „evangelische Prediger" „auch das Volk evangelisch machen". Mit Franziskus (Regula bullata 9,5) sollen sie „die Laster und Tugenden, die Strafe und Herrlichkeit verkünden", aber auf keinen persönlich hinweisen (Konst. v. 1536 c. 9). Die Aufgaben der zum Predigtamt Zugelassenen - ihr Anteil unter den Priestern stieg von 29 % im Jahre 1618 auf 7 5 % im Jahre 1761 - liegen hauptsächlich außerhalb des Klosterbezirks als Wander-, Fasten-, Fest-, Feld-, Hof-, Dom-, Kontrovers-, Exerzitien- und Volksmissionsprediger (mit oft vier Predigten pro Tag am selben Ort). In der weiteren Entwicklung wurde die christologische Grundorientierung (vgl. auch c. 2 und 12 der Konst.) akzentuiert auf Frömmigkeitsformen der Verehrung der Menschheit Christi, seines Leidens und seiner eucharistischen Gegenwart, oft verbunden mit konkreten Aktionen der Umkehr und Sühne (Joseph von Ferno krönte in Modena „sein Vierzigstündiges Gebet im Jahre 1539 mit dem Beschluß der Bürgerschaft, in Zukunft alle hungrigen Armen zu speisen"

Kapuziner

623

[Cuthbert 138]; vgl. Hyacinth von Casale [gest. 1627]; Martin von Cochem [gest. 1712]). Daneben traten mariologische und kontroverstheologische Themen sowie die direkte Moralpredigt. Entsprechend der Aufforderung der Konstitutionen zur Predigt an die Ungläubigen (Konst. von 1536-1925 c. 12) kam es zur Errichtung von -»Missionen, insbesondere im 17. Jh. (Joseph v. Paris, Franciscus v. Pamplona), nach der Gründung des Missionskollegs St. Fidelis (Rom 1841) unter dem Generalminister Bernhard v. Andermatt. Als Mindere Brüder wollen die Kapuziner die Franziskus-Regel (-»-Franziskaner) einfältig, buchstäblich und ohne abmildernde Glossen geistlich befolgen und sie nach dem Testament und dem ganzen Leben des heiligen Franziskus auslegen als Hinweis auf das Evangelium und die Nachfolge des gekreuzigten Christus (Konst. v. 1536 Prolog c. 1 und 12; vgl. Konst. v. Albacina Nr. 67). Als Konsequenz ergibt sich ein verschärftes Bemühen um Realisierung von —»Armut des einzelnen wie der Gemeinschaft: vor der Aufnahme Verteilung alles Eigenen an die Armen; Besitz nur eines Gewandes aus minderwertigem rauhen Tuch 3 ; Schlafen auf kahlen Brettern oder Stroh; Barfußgehen, einfache Sandalen nur mit Erlaubnis der Oberen; Reisen zu Fuß, nicht mit dem Pferd, wenn notwendig auf einem Esel; Bart als Zeichen verachteter Ungepflegtheit (Konst. v. 1536 c. 2); kein Reiseproviant (c. 3); keine Vorräte (c. 6); Handarbeit (c. 5); kleine Niederlassungen mit 6 - 1 2 Brüdern; einfache Kirchen mit Schrank oder Kiste als Sakristei (1609 geändert); nur zwei kleine Kelche; nicht mehr als drei ärmliche Meßgewänder ohne Gold, Silber, Samt oder Seide; nichts Unnützes, Überflüssiges oder Kostbares (c. 12); auch keine indirekte Geldannahme (c. 4); keine Rechtsgeschäfte; kein Eigentum, auch nicht der notwendigen Gebrauchsgüter, die einzeln aufgelistet jeweils für ein weiteres Jahr vom Patron erbeten werden (c. 6; die Auflistung des Inventars entfällt ab 1552); Widerruf aller Privilegien der Freiheit und Exemtion gegenüber den Bischöfen (c. 1; vgl. Vittoria Colonna: Tribulationes 32; ab 1552 nicht wiederholt). Das Leben in Armut beinhaltet auch Solidarität mit den Armen: nicht den Herren der Welt zu Gefallen sein; Wohnen nach dem Vorbild der kleinen Hütten der Armen; bei Hungersnöten Betteln für die Armen (c. 6); Aufnahme und gemeinsame Begrüßung von Fremden durch Fußwaschung (c. 3) und Einrichtung einer Kammer mit Kamin für Pilger und Fremde; Dienst an den Pestkranken und offene Augen für ähnliche Nöte (c. 6). Obwohl dieser Passus ab 1552 entfiel, leisteten die Kapuziner, besonders im 17. Jh. viele Einsätze bei Pestepidemien und waren auch sonst in der Krankenpflege und Sozialfürsorge engagiert (Krankenhäuser, Leprastationen, Bottega di Cristo [Laden Christi für die Armen], Monti Frumentari [Gemeinde-Getreidehäuser], Monti di Pietà [Leihhäuser], Seraphisches Liebes werk für Kinder, Gefangenenbetreuung, Feuerwehr, Sozialarbeit: Theobald Andreas Mathew, Theodosius Florentini u.a.). Insgesamt gesehen zeigt sich im Laufe der Geschichte eine Tendenz der Entschärfung der harten Armutsbestimmungen, eine Vergrößerung des Abstandes zwischen Priestern und Laienbrüdern, denen in der Anfangszeit neben der Predigt auch „Stellen wie des Guardians, des Novizenmeisters und selbst des Provinzialministers anvertraut wurden" (Cuthbert 132), sowie eine Akzentverlagerung auf anfangs nur begrenzt wahrgenommene Seelsorgeaufgaben. Die 1982 vorliegende Neufassung der Konstitutionen versucht in Rückbesinnung auf die ursprüngliche Spiritualität und im Licht der Zeichen der Zeit den Spuren der Väter zu folgen und neue Formen zu finden (c.4). Anmerkungen 1

2

In Spannung dazu steht die Darstellung der Ordenschronisten Mario v. Mercato Saraceno ( M H O M C 1,7f.29f. 171 —178), Bernardino v. Colpetrazzo ( M H O M C 2 , 9 2 f . l l 2 - 1 1 6 ) , Mattia v. Salò ( M H O M C 5 , 7 9 - 8 2 ) und Paolo v. Foligno ( M H O M C 7 , 2 0 - 2 2 ) , Matteo v. Bascio habe 1525 von Clemens VII. mündlich die Erlaubnis für seine neue Lebensweise außerhalb des Klosters erhalten (vgl. Graf, Zur Entstehung; Urbaneiii, Storia p. 1, v. 1, 178ff). Kapuze und Bart waren zunächst mehr Zeichen eremitischen Lebens (Urbaneiii, Storia p. 1, v. 1, 252 - 256). Die Konstitutionen von 1536 (c. 2) verweisen für die viereckige Kapuze auf die alten Bilder von Franziskus (ähnlich schon 1528 die Gruppe um Matteo v. S. Leo: A M i n 3 16,300f) und

624

3

Kapuziner

sehen unter Hinweis auf Bartholomaeus von Pisa (AFranc 5,104) in der Form des Habits ein erinnerndes Zeichen des Kreuzes. Eine bestimmte Farbe ist nach den Konstitutionen nicht vorgesehen. Erst 1912 legte die Ordensleitung „kastanienbraun" als einheitliche Farbe des Ordenskleides fest (AOMC 28, 1912, 178; vgl. MFS 25, 1925, 3 - 1 2 ) . Quellen

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Karäer

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Vinzenz Pfnür Karäer 1. Name 2. Entstehung und Geschichte teratur S.627)

3. Lehre

4. Hauptprobleme der Forschung

(Li-

1. Name Karäer, Karaiten von qara'im, ba'ale/bene ha-miqra, entsprechend der Bedeutung, die die Karäer der Bibel unter Ablehnung der mündlichen Uberlieferung (tora scebecalpce) geben. Vielleicht auch von „Rufer" nach muslimischem Vorbild. Am Anfang hießen sie nach ihrem Gründer 'Anan 'Ananiten. Der Name Karäer erscheint zum ersten Mal im 9. Jh. bei Benjamin Nahawendi (s.u. 2). 2. Entstehung

und

Geschichte

Die Anfänge des Karäertums sind quellenmäßig wenig bekannt. Gründer ist 'Anan ben David (floruit 2. Hälfte 8. Jh. in Bagdad); sein Hauptwerk Sephcer ha-miswot ist bis auf Fragmente verloren. (Zu den Einflüssen, die zur Entstehung des Karäertums führten, s. u. Abschn. 4.) Das Karäertum bestand im 9. Jh. aus verschiedenen Strömungen, wie es dem karäischen Prinzip der persönlichen Erforschung der Schrift entsprach: „Wir hingegen leiten die Wissenschaft in einer Ableitung des Verstandes ab (d.h. nicht aus Tradition), und wenn dieses Vorgehen gilt, ist das Auftreten von Differenzen (in der Lehre) nicht zu verneinen" (Qirqisani, Kitab al-anwar w-al-maraqib, ed. Nemoy, I, 19,6, S. 64, L. l f , 10. Jh., über die Karäer, s.u.). Im 9. Jh. sind die beiden hervorragenden Karäer Benjamin b. Mose Nahawendi (aus Nehawend, Persien, floruit Mitte des Jh.) und Daniel ben Mose al-Qumisi aus Damagan, Hauptstadt der nordpersischen Provinz Qumis (floruit Ende 9. Jh., ließ sich als erster bekannter karäischer Gelehrter in Jerusalem nieder). Beide kommentierten die Bibel; nur Fragmente dieser Kommentare sind erhalten. Sie verfaßten theologische (oder religionsphilosophische) Werke und bedienten sich des Hebräischen. Neben ihnen ist der von den Mu'tazila (-»Islam) beeinflußte Daniel al-Muqammis zu erwähnen (floruit 9. Jh.). Im 10. Jh. erreichte die karäische Wissenschaft vor allem in Jerusalem einen Höhepunkt: Ja'qub al-Qirqisani (auch Qarqasani, von Qirqisan bei Bagdad), 1. Hälfte 10. Jh., Verfasser der theologischen „Summa": Buch der Lichter und Wachttürme (Kitab al-anwar w-al-maraqib). Qirqisani schreibt wie die andern Karäer des 10. Jh. auf arabisch. Sein Kitab ist eine Hauptquelle für die älteste karäische Geschichte. Exegeten sind Salmón ben Jeruham und Japhet ben 'Eli, die beide fast die ganze Bibel kommentierten, deren Werk weitgehend erhalten, aber nicht annähernd vollständig ediert ist. Ihre Exegese ist eschatologisch geprägt (Naherwartung) und legt die Schrift oft in der Art eines Pesar als Erklärung zeitgeschichtlicher Ereignisse aus. Besonders Salmón polemisiert heftig gegen Sa'adja Ga'on al-Fajjumi (882-942). Ferner: David ben Abraham al-Fasi, Verfasser des biblischen Wörterbuches Kitab gami' al-alfaz. Im 10. Jh. wird unter Karäern die Massora weiter ausgebildet, s. u. 4. Neben ihnen wirkten weitere hervorragende Gelehrte. Unter ihnen ist der berühmteste Karäer im 11. Jh., Joseph ben Abraham ha-kohen ba-ro'aal-Basir (d.h. der Blinde), ein mu'tazilitischer Theologe des beginnenden 11. Jh. in Mesopotamien oder Persien, Verfasser eines Theodizee-

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Karäer

traktates Kitab al-muhtawi. Nach dem Fall Jerusalems 1099 töteten die Kreuzfahrer sowohl Juden wie Karäer, und viele von ihnen flohen nach Ägypten, Spanien (wo das Karäertum unterdrückt wurde) und Konstantinopel. Hier kam karäische Wissenschaft zu neuer Blüte vom 12.-16. Jh. Berühmteste karäische Gelehrte sind hier: Jak'qub ben Re'uben, Verfasser des Sephar ha-'osar, eines doxographischen Werkes mit zahlreichen Exzerpten aus karäischen Autoren, Jehuda ben Elijahu Hadassi, Verfasser der Enzyklopädie 'AZskol ba-kophcer, einer Summa karäischer Wissenschaft. Im 13. Jh. ragt Aaron ben Joseph ha-rophx ha-qados („der Ältere") heraus, Begründer des bis heute geltenden karäischen Ritus, Verfasser des Bibel-Kommentars Sephcer ha-mibhar we-tob ha-mishar. Aaron lebte z.T. auf der Krim. In der 1. Hälfte des 14. Jh. steht Aaron ben Elijahu hanikomedi („der Jüngere") im Vordergrund, Verfasser des Gan 'edcen, einer systematischen Darstellung karäischer —fHalacha und Lehre, des Pentateuch-Kommentars Ketcer tora und des mu'tazilitischen theologischen Traktates 'Es hajjim. Im 15.-16. Jh. verdienen Erwähnung als letzte karäische Gelehrte in Byzanz Elijahu ben Mose Basjazi, Kaleb ben Elijahu Afendopulo und am Ende des 16. Jh. der letzte bedeutende Karäer in dieser Stadt, Mose ben Elijahu Basjazi, Urenkel des Elijahu Basjazi. Das Schwergewicht des Karäertums verlegte sich im 17.-18. Jh. auf die Krimhalbinsel, Litauen, Podolien und Wolhynien (Polen). In Litauen war das Zentrum die Stadt Troki (deutsch Trakeri). Die Karäer kamen von Südrußland nach Osteuropa z.Zt. der Tatareneinfälle in Rußland (13.-14. Jh.) und bewahrten das Tatarische als Umgangs- und Gebetssprache. Im 19. Jh. erlangten die Karäer auf der Krim, besonders in den Zentren Solhat (Starij Krym), Eupatoria, Tschufut-Kale (Bachtschisarai), Theodosia (Feodosia), Kaffa, Mangup u. a. besondere Bedeutung. In Rußland erhielten sie einen besonderen Status, der sie von den Juden unterschied, während sie vorher zu den Juden gerechnet wurden. Die russische Revolution, der polnisch-sowjetische Krieg 1920, der 2. Weltkrieg (in dem die Karäer in Polen von den Nazis nicht den Juden gleichgestellt wurden) fügten den Karäer-Gemeinden Osteuropas schwere Schläge zu. Die bedeutende karäische Gemeinde in Ägypten litt nach 1948 schwer unter den Folgen des israelisch-arabischen Konfliktes, da zwischen Juden und Karäern kein Unterschied gemacht wurde. Die meisten Karäer, die nicht zerstreut und vereinzelt in Westeuropa und Amerika leben, befinden sich heute in Israel. 3. Lehre Das bekannteste Fundament des Karäertums ist die Anerkennung der Bibel als einzige offenbarte Grundlage des Glaubens. Gott ist der Schöpfer der Welt; der Messias wird als Erlöser erwartet; die Toten werden auferstehen. Jeder Gläubige ist verpflichtet, die Schrift in ihrem Urtext zu studieren. Es gibt keine offenbarte Tradition, wohl aber ist die von den hervorragenden Gelehrten ausgebildete Tradition hoch zu achten, nicht weil sie Tradition ist, sondern weil sie die besten Argumente für sich hat. Die Karäer entwickelten eine eigene —>Halacha, die oft rigoroser ist als die rabbinische, und ein Ritual mit eigener gottesdienstlicher Leseordnung und Kalenderbestimmungen. Daraus ergaben sich zwei Folgen: extreme Vielfalt theologischer halachischer und liturgischer Meinungen im Verlauf der Geschichte und besonderes Interesse am Text und an der Exegese der Bibel. 4. Hauptprobleme

der

Forschung

a) Ursprung der Karäer: Die Karäer führen ihren Ursprung auf das Schisma unter Roboam im 10. Jh. v. Chr. zurück, berufen sich auf Sadoq und Boethos, die Begründer der ->Sadduzäer und Boethosäer in der Hasmonäerzeit (Qirqisani, Kitab al-anwar, ed. Nemoy, I, 2,7, S. 11, L. 12—19). Nach der Veröffentlichung der Damaskusschrift (->Qumrari) aus der Geniza von Kairo 1910 wurde ihre Nähe zu den Karäern festgestellt, und seit den Entdeckungen von Qumran entstand die Hypothese, die essenischen Kreise von Qumran, die Damaskusschrift und die Karäer hingen geschichtlich als eine Tradition zusammen. Dies scheint unwahrscheinlich, da eine historische und lehrmäßige Kontinuität nicht nachgewiesen werden kann.

Karäer

627

b) Diskutiert wird die Frage, o b die Familie der tiberischen Massoreten Ben Aser, besonders Mose ben Aser und sein Sohn Aharon ben Aser, Karäer waren. Die Argumente gegen das Karäertum der Ben Aser vermögen nicht zu überzeugen. Die Wahrscheinlichkeit weist in die andere Richtung. c) Das Reich der turk-altaischen Chasaren (ca. 7 . - 1 0 . Jh.) in Südrußland hatte Könige, die zum J u d e n t u m oder möglicherweise zum K a r ä e r t u m übergetreten waren. Karäer fanden sich unter den Steppenbewohnern nördlich des Schwarzen Meeres. Die Frage ist vielleicht wahrscheinlicher im Sinn des jüdischen Bekenntnisses zu beantworten. d) Die Bedeutung des berühmten karäischen Gelehrten und Sammlers Abraham Firkowitsch ( 1 7 8 6 - 1 8 7 4 ) , auf den die beiden größten Sammlungen karäischer Handschriften und eine Sammlung samaritanischer Handschriften in der Staatsbibliothek SsaltikowSchtschedrin in Leningrad zurückgehen, ist umstritten: E r w u r d e als A r c h ä o l o g e der Fälschungen bezichtigt. T a t s a c h e und A u s m a ß von Fälschungen Firkowitschs in H a n d schriften und an Grabdenkmälern der karäischen Friedhöfe auf der Krim sind jedoch wegen zu polemischer Auseinandersetzungen noch nicht einwandfrei festgestellt. 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Kardinal/Kardinalskollegium 1. Begriffsbestimmung 2. Vorgeschichte 3. Das Papstwahldekret von 1059 und die Entstehung des Kardinalskollegiums 4. Ausgestaltung des Kollegiums und Mitwirkung an der Kirchen-

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Kardinal/Kardinalskollegium

leitung 5. Entstehung des auswärtigen Kardinalates 6 . Blütezeit des Kardinalskollegiums 7. Die Z e i t der R e f o r m k o n z i l i e n 8. Niedergang in der Renaissancezeit 9. N e u e r Stellenwert seit der Kurienreform Sixtus V. 10. Geltendes R e c h t (Literatur S. 635)

1.

Begriffsbestimmung

Die Kardinäle sind heute zusammen mit den Patriarchen die nach dem Papst höchsten Würdenträger der katholischen Kirche und sollen als sein „Senat" seine wichtigsten Ratgeber und Mitarbeiter sein. Die Entwicklung des Kardinalates und des Kardinalskollegiums ist eng mit der Geschichte der ->Papstwahl und der römischen Kurie verbunden. 2.

Vorgeschichte

Der Begriff cardo (Angelpunkt) und davon abgeleitet cardinalis ist seit 500 im kirchlichen Sprachgebrauch Roms nachweisbar, wobei cardo die Bischofskirche, cardinalis den dieser in besonderer Weise zugehörigen Kleriker bezeichnete. Cardinales waren in diesem Sinne damals nur die Regionardiakone der sieben kirchlichen Regionen Roms. Als seit dem 8. Jh. aufgrund einer Änderung der stadtrömischen Kirchenverfassung nur noch der jeweils ranghöchste Priester (presbyter prior) der damals 25 Titelkirchen im Presbyterium des Bischofs von Rom blieb, wurden auch diese presbyter als cardinales bezeichnet. Das gleiche galt für jene sieben Bischöfe aus dem römischen Umland, die seit dem 8. Jh. gottesdienstliche Aufgaben an der Lateranbasilika wahrnahmen („lateranensische Bischöfe"), wodurch sie dem stadtrömischen Klerus zugeordnet wurden. Später nannte man sie suburbikarische Bischöfe. Seit der zweiten Hälfte des 8. Jh. wurde der Begriff cardinalis auch außerhalb Roms übernommen und in etwa 30, meist italienischen Diözesen zur Bezeichnung für eine bestimmte Gruppe von Kathedralklerikern. Seit dem Aufstieg des römischen Kardinalates zu gesamtkirchlicher Bedeutung sind die lokalen Kardinalate allmählich verschwunden. Als Rom im 10. Jh. anstelle der zuvor sieben in nunmehr zwölf Regionen mit je einem Regionardiakon eingeteilt wurde, stiegen die ursprünglichen sieben Regionardiakone zu Palastdiakonen oder diaconi cardinales auf. 3. Das Papstwahldekret

von 1059 und die Entstehung

des

Kardinalskollegiums

Der Aufstieg des römischen Kardinalates setzte mit dem Papstwahldekret der römischen Synode von 1059 ein, das die Wahl künftig in folgender Weise regelte: Die Kardinalbischöfe hatten über die Wahl zu beraten und dann die Kardinalpriester beizuziehen, während der übrige Klerus und das Volk der so zustandegekommenen Wahl zuzustimmen hatten. Dieses zunächst auf Rechtssicherheit zielende Dekret hat nicht nur der Reformpartei zum endgültigen Durchbruch verholfen, sondern es hat auch eine neue Epoche der Papstwahl und zugleich eine Umformung des Kardinalates eingeleitet; denn anstelle der liturgischen Aufgaben trat nun für die Kardinäle die Mitwirkung an der Kirchenleitung in den Vordergrund. Dies betraf zunächst nur die Kardinalbischöfe, also den historisch jüngsten Kardinalsordo. Die Gleichsetzung der Kardinalspresbyter setzte sich dagegen erst seit der Auseinandersetzung -»Gregors VII. (1073-1085) mit Kaiser -»Heinrich IV. durch, als seitdem Schisma Wiberts von Ravenna (Klemens III.: 1080—1108) im Jahr 1084 zahlreiche Kardinäle von Gregor VII. zu Wibert übergingen. Gregors Nachfolger -»Urban II. (1088-1099) mußte daher in der Auseinandersetzung mit Wibert um die Obedienz der Kardinäle und insbesondere der Kardinalpresbyter werben. Der Kampf der Päpste um die Herrschaft hat so zur Aufwertung der Kardinalpresbyter geführt. Diese Tendenz fand prägnanten Ausdruck in der Verbreitung einer wahrscheinlich in Ravenna, jedenfalls aber im Kreis der schismatischen Kardinäle entstandenen Neufassung (Fälschung) des Papstwahldekretes von 1059. Darin war die Hervorhebung der Kardinalbischöfe vor den übrigen Kardinälen fortgefallen. Diese Fassung ist dann in die Kanonessammlungen auf-

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Kardinal/Kardinalskollegium

genommen worden und hat die Gleichstellung der verschiedenen Kardinalordines theoretisch untermauert. Der wachsende Einfluß der Kardinäle auf die Kirchenregierung fand seinen Ausdruck auch in der Mitunterzeichnung der wichtigeren päpstlichen Urkunden, wie sie schon um die Mitte des 11. Jh. praktiziert und seit der Wende zum 12. Jh. allgemein üblich wurde. Seit Innozenz II. (1130-1143) unterzeichneten sie in der Ordnung der einzelnen Ordines und hier wieder nach der Anciennität. Die Bildung des Kardinalskollegiums fand ihren vorläufigen Abschluß in der Einbeziehung der Kardinaldiakone als drittem Ordo. Sie dürfte um das Jahr 1100 erfolgt sein und betraf zunächst nur die sechs (ursprünglich sieben) Pfalzdiakone. Seit Paschalis II. (1099-1118) wurde die Bezeichnung von Kardinaldiakonen jedoch auch auf die Regionardiakone ausgedehnt. Seitdem besaß jeder der nun 18 Kardinaldiakone in Analogie zu den sechs (ursprünglich sieben) Kardinalbischöfen und 28 (ursprünglich 25) Kardinalpresbytern eine Diakonie. 1130 nahmen erstmals alle drei Ordines die Papstwahl vor. 4. Ausgestaltung

des Kollegiums

und Mitwirkung

an der

Kirchenleitung

Während die Bildung des Kardinalskollegiums in den ersten Jahrzehnten des 12. Jh. vorläufig abgeschlossen war, zog sich dessen Ausgestaltung noch durch das ganze Jahrhundert hin. Dies betraf insbesondere die Mitwirkung an der Kirchenleitung, die sich nunmehr im Konsistorium, der unter dem Vorsitz des Papstes tagenden Vollversammlung der in Rom anwesenden Kardinäle, vollzog. In seinen Anfängen in die Zeit Urbans II. zurückreichend, trat es allmählich ganz an die Stelle der römischen Synoden. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung unter —»Innozenz III. (1198-1216) trat es mehrmals wöchentlich zusammen. Dabei trafen die Päpste Entscheidungen in wichtigeren kirchlichen und politischen Angelegenheiten de fratrum nostrorum consilio, d. h. nach Anhörung der Kardinäle, deren Gesamtheit nun in Anspielung an die Antike als päpstlicher Senat verstanden wurde. Die hier behandelten Angelegenheiten betrafen im wesentlichen Entscheidungen in Glaubensfragen, wichtigen politischen Angelegenheiten, die Entsendung apostolischer Legaten und Vikare, die Errichtung von Bistümern, die Ein- und Absetzung von Bischöfen, die Erteilung von Klosterprivilegien, Angelegenheiten des Kirchenstaates und richterliche Entscheidungen. Seit dem 12. Jh. bürgerte sich die Unterscheidung in geheime und öffentliche Konsistorien ein. An den erstgenannten nahmen nur die Kardinäle teil, während zu den öffentlichen Konsistorien auch andere Persönlichkeiten eingeladen werden konnten. Seit Gregor VII. pflegten die Päpste Kardinäle als Legaten (seit -> Alexander III. legati a latere) mit politischen oder kirchlichen Aufgaben in die einzelnen Länder zu entsenden. Ihnen kam während der verschiedenen Schismen und in der Auseinandersetzung mit den weltlichen Herrschern eine wichtige Funktion zu. Außerdem übernahmen die Kardinäle die Leitung kurialer Behörden, der Kanzlei, der Pönitenziarie und später auch der Apostolischen Kammer. Mit den wachsenden Aufgaben des Kardinalskollegiums ging die Ausgestaltung seiner Organisation einher. An seine Spitze trat nun als Dekan der Bischof von Ostia, dem traditionell die Weihe des römischen Bischofs oblag. Die Kardinäle gewannen ferner Anteil an den Einkünften der Römischen Kirche, was seit dem 12. Jh. zur Errichtung einer gemeinsamen Kasse und Kammer führte. Seit dem 13. Jh. wurde sie vom jeweils für ein Jahr gewählten Kardinalkämmerer verwaltet. 5. Entstehung

des auswärtigen

Kardinalates

Das römische Kardinalat war aus dem stadtrömischen Klerus hervorgegangen. Dies setzte ursprünglich voraus, daß die Kardinäle dem Klerus von Rom angehörten bzw. in Rom residierten, wenn sie sich auch gelegentlich in päpstlicher Mission außerhalb Roms aufhielten. Seit der Mitte des 11. Jh. ernannten die Päpste jedoch in wachsender Zahl auch Äbte großer, meist italienischer Benediktinerabteien zu Kardinälen. Die größte Zahl von Kardinaläbten hat Monte Cassino gestellt. Die Päpste erstrebten dadurch nicht nur

Kardinal/Kardinalskollegium

631

eine Stärkung der Reformpartei im Kardinalskollegium, sondern sie wollten die führenden Abteien der Reformbewegung auch an sich binden. Die Äbte gingen nach der Inbesitznahme ihrer Titelkirchen in der Regel in ihre Abtei zurück. Infolgedessen nahmen sie an den Papstwahlen wie auch an der ordentlichen Kirchenleitung nur dann teil, wenn sie sich gerade in R o m aufhielten. Während bis Gregor VII. nur Äbte als auswärtige Kardinäle berufen wurden, erfolgte seitdem auch die Berufung auswärtiger Bischöfe in das Kardinalskollegium. Diese behielten ihre Bistümer nicht bei, während umgekehrt bis Alexander III. ( 1 1 5 9 - 1 1 8 1 ) die zum Bischof ernannten Kardinäle das Kardinalat aufgaben. Daraus geht hervor, daß bis in die 2. Hälfte des 12. J h . das Bischofsamt einen höheren Rang als das Kardinalat besaß. Seit Alexander III. kam dann vorübergehend die Praxis auf, daß die zu Kardinälen berufenen Bischöfe ihre Bistümer beibehielten und auch dort residierten. An gesamtkirchlichen Aufgaben nahmen sie dann allenfalls als päpstliche Legaten oder während ihres Aufenthaltes an der Kurie teil. Diese Praxis hat sich jedoch damals noch nicht durchgesetzt, denn nach Alexander III. behielten zwar die zum Kardinal erhobenen Bischöfe ihre auswärtigen Bistümer bei, doch hielten sie sich meist bei der Kurie auf. Insgesamt ging die Verbindung von Kardinalat und Bischofsamt nun wieder zurück, und die zu Bischöfen berufenen Kardinäle gaben ihre Titelkirchen häufig auf. Am Konsistorium nahmen sie nicht mehr teil. Seit der Mitte des 13. J h . verschwand das auswärtige Kardinalat vorübergehend ganz. 6. Blütezeit des

Kardinalskollegiums

Nachdem das Kardinalskollegium sich im 12. J h . formiert und den Vorrang des Kardinalates vor den Erzbischöfen und Bischöfen durchgesetzt hatte, erreichte es im 13. und 14. J h . den Höhepunkt seines Einflusses, obwohl es ihm nie gelang, das Konsistorium vom Beratungs- zum Entscheidungsforum umzuformen. Die Zahl seiner Mitglieder sank in dieser Epoche auf z. T. weniger als zehn ab. Der Grund dafür lag in oligarchischen Tendenzen, denn das Gewicht und auch die Einkünfte der einzelnen Kardinäle stiegen natürlich, je geringer ihre Zahl war. Seit der Mitte des 13. J h . gewann das Kollegium allmählich den Anspruch auf die Hälfte fast aller päpstlichen Einkünfte. Die Annaten, die Zehnten und einzelne andere Einkünfte blieben davon ausgenommen. M i t dem Einkommen und dem Ringen um Einfluß auf die Kirchenleitung hingen die extrem langen Vakanzen des 13. J h . zusammen. Auch die häufige Wahl von greisen Päpsten ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Diese Mißstände haben schließlich zur Einführung des Konklaves geführt. Das erste Konklave, d.h. die Einschließung der Wähler zur Erzwingung der schnelleren Wahl, fand 1241 in R o m statt. Die Päpste haben dagegen in zähem Ringen durchzusetzen gewußt, daß das Kollegium sich während der Vakanzen auf die unerläßlichsten Regierungsakte beschränkte. Der Einfluß der Kardinäle auf die Regierung der Kirche und ihre Teilhabe an deren Einkünften machten das Kardinalat auch nach dem Durchbruch der Reform für die römischen Adelsfamilien begehrenswert. Doch suchten nun auch die Herrscher und Staaten Einfluß auf die Berufung der Kardinäle zu gewinnen. Das betraf insbesondere Frankreich, den am frühesten entwickelten Nationalstaat. Andererseits kam es unter starken Papstpersönlichkeiten immer wieder zu harten Auseinandersetzungen. Alle bedeutenden Päpste haben im Grunde die Mitregierung der Kardinäle auszuschalten oder wenigstens zurückzudrängen versucht, deren finanzielle Privilegien aber nicht angetastet. Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen bildete der Pontifikat -»Bonifatius VIII. ( 1 2 9 4 - 1 3 0 3 ) . Sie endeten mit dem Sieg der französischen Partei, die die Übersiedlung der Kurie nach Frankreich und damit die weitgehende Französisierung des Kollegiums einleitete. Der wachsende Einfluß der Kardinäle zeigte sich nun in den aufkommenden Wahlkapitulationen (erstmals 1352), durch die sie ihre Privilegien und Mitwirkung bei der Kirchenleitung sichern und erweitern wollten, während die Päpste nach ihrer Wahl die Kapitulationen meist als ungültig erklärten.

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Kardinal/Kardinalskollegium

Den Höhepunkt ihrer Stellung erreichten die Kardinäle während des großen abendländischen Schismas (1378 - 1 4 1 7 ) , als das Papsttum einen Tiefpunkt seines Ansehens und Einflusses erreichte. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang, als die Wähler Urbans VI. (1378-1389) diesem nachträglich ihre Anerkennung entzogen, einen anderen Kandidaten wählten, der seinen Sitz wiederum in Avignon aufschlug, und so das Schisma eröffneten. Mit den zwei Päpsten kam es nun auch zur Bildung von zwei Kardinalskollegien. Deren gesteigerter Anspruch äußerte sich darin, daß sie in die nun üblichen Wahlkapitulationen eine Rücktrittsklausel für den Fall der Union aufnahmen, den jeweiligen Papst also nur noch als ihren Beauftragten ansahen. Da die Kardinäle jedoch nicht in der Lage waren, das Schisma zu überwinden, trat ganz gegen ihre Absicht der Konzilsgedanke in den Vordergrund. Auf dem Konzil von -»Pisa (1409) sprachen dann die Kardinäle zusammen mit der Synode die Absetzung der beiden Päpste aus, doch blieb die Wahl des neuen Papstes ihnen alleine vorbehalten. Da das Schisma dadurch aber noch verschlimmert wurde, ergriff Kaiser Sigmund die Initiative zum Konzil von -»Konstanz (1414-1418), dem die Überwindung des Schismas schließlich gelingen sollte. 7. Die Zeit der

Reformkonzilien

Das Kardinalat verdankte seinen Aufstieg dem mittelalterlichen Papsttum. Während der avignonesischen Zeit und während des Schismas hatte es jedoch seine Kompetenzen zu Lasten des Papsttums ausbauen können. Die weitere Entwicklung hat dann freilich gezeigt, daß der Niedergang des Papsttums letztlich auch das Kolleg gefährdete. In Konstanz wurden seine Mitglieder jedenfalls scharf angegriffen, da man sie für die lange Dauer des Schismas mitverantwortlich machte und in ihnen die schlimmsten Nutznießer des kurialen Fiskalismus sah. Obwohl es an einer anerkannten Theorie über die korporativen Rechte des Kollegs fehlte, wurde seine vornehmste Aufgabe, nämlich die Papstwahl, jedoch nicht prinzipiell in Frage gestellt. Es mußte sich in Konstanz freilich darin mit dem Konzil teilen. Die Hauptforderungen der Reformkonzilien von Konstanz und -»Basel wie auch zahlreiche zeitgenössische Reformschriften wandten sich gegen die Pfründenhäufung der Kardinäle. Sie betrafen ferner größere Sorgfalt bei der Auswahl der Kandidaten, die Internationalisierung des Kollegiums und schließlich seine Beteiligung an der Kirchenleitung. Dabei billigte man den Kardinälen, deren Zahl auf 24 beschränkt werden sollte, durchaus ein standesgemäßes Einkommen zu. Dieses sollte freilich nicht durch die verhaßten Servitien, sondern aus anderen Quellen aufgebracht werden. Die Internationalisierung und zugleich das Wiederaufkommen des auswärtigen Kardinalates hatte seit der Zeit des avignonesischen Papsttums große Fortschritte gemacht, doch überwogen im Kolleg französische und italienische Mitglieder. Außerdem hatte sich seit der gleichen Zeit allmählich das Institut der Kardinalprotektoren - wenn auch noch nicht dieser Terminus technicus - für bestimmte Nationen herausgebildet, während die Protektorate über bestimmte Orden bereits in den Anfang des 13. Jh. zurückreichten. Sie sind wegen der damit verbundenen Zahlungen und Interessenvertretungen im Kollegium lange Zeit geheimgehalten und heftig kritisiert worden. Erst zu Anfang des 16. Jh. erlangten sie offizielle Anerkennung. Die Mitwirkung des Kollegiums an der Kirchenleitung versuchte das Konzil von Basel in der Weise zu normieren, daß es die Regierungsgewalt des Papstes durch die Mitwirkung des Kollegiums konstitutionell beschränkte. Auch für -»Nikolaus von Kues bildete das Kolleg eine Repräsentanz der allgemeinen Kirche und eine Art permanenten Konzils. 8. Niedergang

in der

Renaissancezeit

Die Reformanliegen des 15. Jh. sind auf weitere Sicht nicht zum Durchbruch gekommen. Nachdem um die Mitte des 15. Jh. eine Zeitlang alle bedeutenden Nationen im Kardinalskollegium vertreten waren, errangen die Italiener unter Paul II. (1464-1471) wieder die absolute Mehrheit, und seit —»Sixtus IV. (1471-1484) wurde es dann vollends

Kardinal/Kardinalskollegium

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zur Domäne der Italiener, daneben in zweiter Linie auch der Franzosen und Spanier. Angehörige aus anderen Nationen zählte es nur noch vereinzelt. Die Reitalienisierung hing mit der Restauration des Papsttums in der zweiten Hälfte des 15. Jh., mit der Reorganisation des -» Kirchenstaates und der damit zusammenhängenden Einkommenssteigerung zusammen, die auch an die Kardinäle weitergegeben wurde, zumal seit Sixtus IV. die Kurie einem fast schrankenlosen Nepotismus öffnete. Damit ging eine Degeneration des Kollegiums einher, dessen Mitglieder nun nicht mehr den Orbis christianus repräsentierten. Für sie standen vielmehr Familien- und Finanzinteressen im Vordergrund. Unter den 34 von Sixtus IV. kreierten Kardinälen waren z.B. sechs Nepoten. In keiner Epoche haben weltliche Interessen und auswärtige Fürsten einen solchen Einfluß auf das Kollegium genommen wie im späten 15. und frühen 16. Jh. Infolgedessen degenerierte der Senat der Kirche zu einem Sammelbecken von Interessenvertretern. Das Mäzenatentum des Renaissancepapsttums mit seiner Bautätigkeit und Hofhaltung fand nun Nachahmung unter den Kardinälen und insbesondere unter den päpstlichen Nepoten und ihren Familien. Es kam nicht von ungefähr, daß sich die erst seit der Mitte des 15. Jh. nachweisbare Benutzung des Purpurs der Kardinalsgewandung erst jetzt voll durchsetzte. Entsprechend verlagerte sich die Zielsetzung der nicht nachlassenden Reformforderungen gegen den fürstlichen Aufwand der Kardinäle, gegen den Luxus der Hofhaltung, gegen Jagden und Schauspiele sowie den Prunk auf allen Gebieten, solange sich die Päpste einer durchgreifenden Reform verschlossen. Was die Kardinäle der Renaissancezeit an äußerem Glanz gewonnen hatten, das verdankten sie dem Papsttum, das nach der Wiedergewinnung des Kirchenstaates durch kein Konzil mehr bedroht war. Ganz im Gegensatz zu dieser wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung stand aber der kirchliche Einfluß der Kardinäle. Während Johannes von Tor quemada (1388-1468) noch wenige Jahrzehnte zuvor die unhaltbare These von der göttlichen Einsetzung des Kardinalates vertreten hatte, wurde nun deutlich, daß es eine Schöpfung des Papsttums war. Die bedeutenden Kardinäle des 16. Jh. verdankten ihre Bedeutung den päpstlichen Auftraggebern, und einer von ihnen, -»Paul III. (1534-1549), leitete, obwohl persönlich dem Lebensstil der Renaissance noch verhaftet, durch seine Kardinalskreationen eine Wende ein. Unter den von ihm Berufenen waren nämlich so viele Vertreter der Reformbewegung, daß diese, nachdem sie seit Sixtus IV. nur eine kleine Minderheit gestellt hatten, im Kollegium nunmehr zu einer einflußreichen Gruppe wurden. 9. Neuer Stellenwert

seit der Kurienreform

Sixtus V.

Seit Paul III. bildeten sich jene Formen heraus, unter denen die Kardinäle künftig in strenger Unterordnung unter den Papst und zugleich als dessen Beauftragte, also nicht mehr kraft eigenen Rechtes, an der Kirchenleitung mitarbeiten sollten. Es handelte sich um zunächst ad hoc, später aber auf Dauer eingerichtete Kardinalskongregationen, d. h. aus mehreren Kardinälen bestehende Kommissionen, denen bestimmte Verwaltungsund Gerichtssachen zur eigenständigen Behandlung zugewiesen wurden (-»Kurie). Zu einer dauerhaften Wende in der Geschichte des Kardinalates führten jedoch erst verschiedene Maßnahmen -»Sixtus V. (1585-1590). 1586 setzte er die Zahl der Kardinäle auf 70 fest (6 Bischöfe, 50 Priester, 14 Diakone), was schon an sich zu einer Bedeutungsminderung des einzelnen Kardinals führte. Er ordnete ferner an, daß künftig keine nahen Verwandten mehr gleichzeitig Kardinal sein dürften. Außerdem sollten die verschiedenen Nationen angemessen berücksichtigt werden. Gerade der letztgenannte Aspekt ist jedoch nur sehr eingeschränkt berücksichtigt worden, denn bis in die Zeit des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965; -»Vatikanum II) bildeten Italiener im Kollegium die Uberzahl. Seit dem 15. Jh. war freilich das Institut der sogenannten Kronkardinäle entstanden, die auf Vorschlag des Kaisers und später der Könige von Frankreich, Portugal und Spanien, der Republik Venedig und seit 1729 auch des Königs von Sardinien ins Kollegium berufen

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Kardinal/Kardinalskollegium

wurden. Sie waren als Vertrauensleute ihrer Herrscher bei der Kurie oft zugleich Nationalprotektoren. Besondere Bedeutung konnte ihnen im Konklave zukommen, wenn sie im Auftrag ihres Herrschers durch die sogenannte Exklusive Einfluß auf die Papstwahl zu nehmen suchten (seit 1904 verboten). 1587 ordnete Sixtus V. das Titelkirchenwesen neu, indem er entsprechend der größeren Zahl von Kardinälen eine Reihe neuer Titel schuf. Die für die Kardinäle am tiefsten einschneidende M a ß n a h m e erfolgte jedoch erst 1588 durch die Errichtung von 15 Kardinalskongregationen, davon 6 für den Kirchenstaat und 9 für geistliche Angelegenheiten. In sie wurde nunmehr der größte Teil der ordentlichen Verwaltung und Rechtssprechung verlagert, während die Bedeutung des Konsistoriums völlig in den Hintergrund trat. Während der Papst sich den Vorsitz der Inquisitionskongregation selbst vorbehielt, stand an der Spitze der übrigen Kongregationen, die man als Kollegialministerien bezeichnen kann, je ein Präfekt. Der Einfluß des einzelnen Kardinals hing u. a. davon ab, welche Positionen er gleichzeitig bekleidete. Unter den an der Kurie tätigen Kardinälen ragte seit dem 17. Jh. der Kardinalstaatssekretär heraus, der Leiter des Staatssekretariates, dessen Amt sich aus dem des Geheimsekretärs entwickelt hatte (-»-Kurie). Daneben gewann der Präfekt der 1622 gegründeten Propagandakongregation für die Missionsgebiete herausragende Bedeutung („roter Papst"). M a n kann also nicht sagen, daß das Kardinalat durch Sixtus V. seine Macht und seinen Glanz verloren habe. Im 17. Jh. erreichte es sogar an kultureller Ausstrahlungskraft und Prestige einen Höhepunkt. Das hat seinen Niederschlag u.a. in einer reichen Bautätigkeit und in einer zahlreichen Literatur über das Kardinalat gefunden. In der ihm durch Sixtus V. gegebenen Gestalt hat das Kardinalat sich über die Erschütterungen der Französischen Revolution hinaus bewährt. Für das 19. Jh. waren eine langsam fortschreitende Internationalisierung (1887 erster US-amerikanischer Kardinal) sowie die allmähliche Loslösung von der Adelsgesellschaft kennzeichnend. Z u m vollen Durchbruch kam die Internationalisierung allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg. Im übrigen hatten weder die Kurienreform Pius' X. von 1908 noch der CIC von 1917 die Grundlagen des Kardinalates berührt. Erst im Kontext des II. Vatikanischen Konzils kam es zu einschneidenden Änderungen. 10. Geltendes

Recht

Die heutige Rechtsstellung der Kardinäle ist in einer Reihe nachkonziliarer Erlasse und in den einschlägigen Bestimmungen des CIC 1983 (cc. 349-359) normiert. Danach sind sie die vornehmsten Berater des Papstes. Außerdem bekleiden einzelne Kardinäle Führungsämter in der Kurie. Das Konsistorium hat nur noch zeremonielle Bedeutung. Die Kardinäle bilden ein Kollegium, das in drei Rang-, nicht aber Weiheklassen eingeteilt ist. Die erste Klasse bilden die Kardinalbischöfe der sieben suburbikarischen Bistümer mit den Patriarchen der unierten Ostkirchen. Die letztgenannten heißen „Kardinäle der Hl. Kirche", alle anderen „Kardinäle der Hl. Römischen Kirche". Die Kardinalpriester erhalten bei ihrer Ernennung („Kreation") eine römische Titelkirche. Einige von ihnen sind an der Kurie, die Mehrzahl ist außerhalb Roms in der Leitung von Diözesen tätig. Die Kardinaldiakone sind wie die Kardinalbischöfe in der Kurie tätig und erhalten bei ihrer Ernennung eine Diakonie. Seit 1962 müssen alle Kardinäle die Bischofsweihe empfangen. Seit dem gleichen Jahr sind die Kardinalbischöfe nicht mehr die Ordinarien der suburbikarischen Bistümer. Bis ins 19. Jh. gab es dagegen noch verschiedentlich Kardinaldiakone, die nicht einmal die Priesterweihe empfangen hatten. Das Kardinalskolleg bildet eine juristische Person, deren Organe der von den Kardinalbischöfen aus ihrer Mitte gewählte Kardinaldekan und sein Stellvertreter sind. Bei der Ernennung der nunmehr 120 Kardinäle ist der Papst frei, doch ist er faktisch durch das Herkommen gehalten, die Inhaber bestimmter Bistümer und Kurialämter in das Kollegium zu berufen. Die Kreation der neuen Kardinäle erfolgt in der Regel öffentlich in einem Konsisto-

Karl V.

635

rium, doch kann der Papst sich aus kirchenpolitischen Gründen auch die Publikation vorbehalten (reservatio in pectore). Die Kardinäle sind zur Zusammenarbeit mit dem Papst verpflichtet. Diese kann entweder durch Übernahme eines Kurienamtes oder durch außerordentliche Mitarbeit erfolgen. Das Konsistorium kann öffentlich oder geheim sein. Öffentliche Konsistorien haben nur zeremonielle Bedeutung und sind auch für geladene Gäste zugänglich. Papst Johannes Paul II. hat in den letzten Jahren wiederholt außerordentliche Konsistorien zur Beratung wichtiger Fragen einberufen. Die ordentliche Mitwirkung der Kardinäle in der Kirchenleitung erfolgt in den verschiedenen Ämtern der römischen —> Kurie, doch müssen sie dem Papst nach Vollendung des 75. Lebensjahres ihren Verzicht anbieten. Mit Vollendung des 80. Lebensjahres verlieren sie ihr Kurienamt kraft Gesetzes. Das vornehmste Recht der Kardinäle bildet nach wie vor die Papstwahl, doch erlischt dieses Recht seit 1975 mit Vollendung des 80. Lebensjahres. Infolgedessen sind das Kardinalskollegium und das Papstwahlgremium nicht mehr identisch. Zu den Ehrenrechten der Kardinäle gehören die Präzedenz vor allen anderen kirchlichen Würdenträgern, die purpurfarbene Gewandung und der Titel „Eminenz". Der seit dem Spätmittelalter übliche „rote Hut" wird dagegen seit 1965 nicht mehr verliehen. Seitdem hat er nur noch heraldische Bedeutung. Literatur Giuseppe Alberigo, Cardinalato e Collegialità. Studi sull'ecclesiologia tra l'XI e il XIV secolo, Florenz 1969. - Carl G. Fürst, Cardinalis. Prolegomena zu einer Rechtsgesch. des röm. Kardinalskollegiums, München 1967. - Klaus Ganzer, Die Entwicklung des auswärtigen Kardinalates im hohen MA. Ein Beitr. zur Gesch. des Kardinalskollegiums v. 11. bis 13. Jh., Tübingen 1963. - Hubert Jedin, Vorschläge u. Entwürfe zur Kardinalsreform: R Q 43 (1935) 8 7 - 1 2 6 . - Peter Leisching: Josef Listi/ Hubertus Müller/Heribert Schmidtz (Hg.), Hb. des kath. Kirchenrechtes, Regensburg 1983, 277 - 2 8 1 . - Christoph Weber, Kardinäle u. Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaates, 2 Bde., Stuttgart 1978.

Erwin Gatz Karfreitag -* Feste und Feiertage, —> Leidensgeschichte Jesu Karibik, Kirchen in der -» Westindische Inseln Karl V., Kaiser (1500-1558)

(Quellen/Literatur S.642)

Am 24. Februar 1500 in Gent geboren, stand Karl, der älteste Sohn Philipps des Schönen, Herzogs von Burgund (1478-1506), und Juanas, einer Tochter des spanischen Königspaars Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, nach 19 Jahren als einer der mächtigsten Fürsten des Abendlandes an der Spitze eines Weltreiches. Von Geburt an stand er als Erbe der burgundischen Niederlande einschließlich der Franche Comté fest, die über seine Großmutter Maria, die Erbtochter Karls des Kühnen von Burgund und Gemahlin Kaiser Maximilians (-»Maximilian I.), an seinen Vater gelangt waren. Da seine Mutter Juana wegen des frühen Todes ihrer älteren Geschwister schon 1498 zur Erbin der Kronen Kastilien und Aragon aufgerückt war, war eine spätere Thronfolge Karls auch in den spanischen Reichen zu erwarten. Die Nachfolge in den Niederlanden ging unproblematisch vonstatten: Karl, der seine Jugend im Lande verbracht hatte - vornehmlich am Hofe seiner Tante, der Generalstatthalterin Margarete - übernahm bereits 1515 die Regierung, zunächst unter maßgebender Beratung seines Großkämmerers Chièvres (gest. 1520). Dagegen erhob sich in Spanien gegen die Thronfolge des landfremden Habsburgers heftiger Widerstand. Nach dem Tode Isabellas (1504) schloß Ferdinand von Aragon sogar eine neue Ehe mit der dem französischen Königshaus nahestehenden Germaine de Foix (1506); ein Sohn aus dieser Ehe hätte nach katalanischem Recht anstelle Juanas bzw. Karls die Reiche der Krone Aragon geerbt und so mit Sicherheit die habsburgische Thronfolge auch in Kastilien gefährdet. Der dynastische Zufall - der einzige Sohn der Germaine de Foix war nicht lebensfähig -entschied jedoch zugunsten des habsburgischen Erbrechts, und als Karl alsbald nach dem Tode König Ferdinands (1516) für sich das Mitkönigtum neben seiner schon frühzeitig in Geisteskrankheit

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verfallenen, aber nicht de jure für regierungsunfähig erklärten Mutter beanspruchte, konnte er auch diesen Anspruch durchsetzen (1517/18). Sein persönliches Erscheinen in Spanien wie die Unterstützung des einflußreichen Kardinals —»Ximenez de Cisneros, gaben dafür den Ausschlag. Rechtlich verfügte Karl zwar bis zum Tode seiner Mutter - erst 1555 - nicht über die alleinige Vollgewalt der spanischen Kronen; politische Bedeutung hatte dieser Vorbehalt indessen schon bald nicht mehr. Beim Tode Kaiser Maximilians Anfang 1519 erbte Karl zudem die österreichischen Erblande seines Großvaters; allerdings hatte Maximilians Testament eine Teilung dieser Ländermasse unter Karl und seinen um drei Jahre jüngeren Bruder Ferdinand (->Ferdinand I.) vorgesehen. Im Juni 1519 konnte Karl dann, nicht zuletzt dank der finanziellen Unterstützung Jakob -»Fuggers, gegen die Konkurrenz -•Franz'I. von Frankreich bei den Kurfürsten des Reichs seine Wahl zum deutschen König und Kaiser erreichen. In der Folge kam dazu die Eroberung weiter Teile Mittel- und Südamerikas, die der Krone Kastiliens unterstellt wurden. Beginnend mit der Eroberung des Aztekenreichs in Mexiko durch Hernán Cortés (1519-1521), gelangte bis um die Jahrhundertmitte ganz Mittelamerika sowie ein großer Teil des westlichen Südamerika von Venezuela im Norden bis Chile im Süden, am Rio de la Plata bis zum Atlantik hinüberreichend, unter spanische Herrschaft. Der in seiner Epoche einzigartigen Vereinigung der Herrschaft über so viele Reiche entsprach das herrscherliche Selbstbewußtsein des Kaisers, der sich durchaus als oberster, den anderen europäischen Monarchen an R a n g und Autorität übergeordneter weltlicher Herr der Christenheit und verantwortlicher advocatus ecclesiae verstand. Dieser Universalismus Karls V. gab seiner Herrschaft geistigen Halt und bestimmte zugleich, in mannigfacher Verschlingung mit seinen dynastischen Interessen, die konkreten Ziele seiner Politik; freilich erwuchsen daraus auch gewaltige Probleme, die er nur zum Teil zu lösen vermochte. Der Kaiserwahl im Juni 1519 folgte die Kaiserkrönung erst im Oktober 1520; die schwierigen innerspanischen Verhältnisse hatten es dem Kaiser nicht erlaubt, eher nach Deutschland zu reisen. Im Frühjahr 1521 hielt KarlV. dann in Worms seinen ersten Reichstag (—•Reichstage der Reformationszeit). Dabei kam es zugleich zur ersten Konfrontation mit der Reformation, zur einzigen persönlichen Begegnung auch mit Luther. Der Kaiser war nach Herkunft und Erziehung ein treuer Sohn der katholischen Kirche, und daß er es in Luther mit einem Ketzer zu tun hatte, war ihm nach dem vorangegangenen päpstlichen Bann nicht zweifelhaft. So setzte er mit Hilfe der katholischen Reichsstände die Reichsacht gegen Luther und dessen Anhänger durch. Die Exekution dieses - • W o r m s e r Edikts mußte er freilich den Reichsständen überlassen, die zumeist eine abwartende, z u m Teil sogar offen reformationsfreundliche Stellung bezogen. Im niederländischen Herrschaftsbereich Karls dagegen kam es alsbald zu harten Verfolgungen und ersten Martyrien v o n Anhängern Luthers. Bereits im Winter 1521/22 verließ der Kaiser das Reich und reiste über England nach Spanien zurück, w o der Aufstand der comuneros ( 1 5 2 0 - 1 5 2 2 ) die Abwesenheit des Herrschers v o m Lande als schwere Gefährdung seiner Herrschaft überhaupt erwiesen hatte. Erst bei seinem Abschied vom Reich einigte er sich auch endgültig mit seinem Bruder -»Ferdinand I. über die Verteilung des Erbes Maximilians I., und zwar in der Weise, daß er Ferdinand die gesamten österreichischen Erblande einschließlich des 1520 erworbenen Herzogtums -Confessio Tetrapolitana und gestattete auch nach deren Ablehnung durch die von katholischen Theologen ausgearbeitete Confutatio Vermittlungsverhandlungen zwischen den Glaubensparteien, entschied sich dann aber doch für die Bestätigung des Wormser Edikts und setzte einen entsprechenden Beschluß des Reichstags durch. Dessen Durchführung scheiterte jedoch wiederum - vor allem wegen des politischen Zusammenschlusses einer wachsenden Zahl protestantischer Reichsstände in dem 1531 gegründeten -»Schmalkaldischen Bund; überdies wurden die habsburgischen Kräfte durch die Auseinandersetzung mit Türken und Franzosen in Anspruch genommen. So sah sich der Kaiser im -»Nürnberger Anstand 1532 und im —»Frankfurter Anstand 1539 sowie auf dem Reichstag von Speyer 1544 gezwungen, den Protestanten auf der Basis des jeweiligen status quo vorläufige Duldung zu gewähren. Parallel dazu liefen die Bemühungen Karls V. bei den Päpsten um ein Reformkonzil. Bei Clemens VII. ohne Erfolg, führten diese Bemühungen bei -»Paul III. (1534-1549) im Jahr 1536 zur ersten Berufung eines Konzils nach Mantua; der Widerstand vor allem des französischen Königs machte eine Realisierung dieses Konzilsvorhabens jedoch unmöglich. Dieses vorläufige Scheitern der Konzilspläne des Kaisers war zugleich der Beginn einer vornehmlich auf theologische Vermittlung im Glaubensstreit setzenden Religionspolitik des Kaisers, die in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg (1540/41) (-»Religionsgespräche der Reformationszeit) kulminierte. Vor allem bei dem Regensburger Gespräch 1541 kamen sich unter der Verhandlungsführung Granvelles die Gesprächspartner in wichtigen Punkten des theologischen Dissenses sehr nahe; doch wurden die erzielten Kompromisse sowohl von Luther als auch von Rom abgelehnt. Das dadurch offenkundig gewordene Scheitern der Vermittlungspolitik des Kaisers veranlaßte ihn zur erneuten Verstärkung seiner Konzilsbemühungen; zugleich begann er, sich auf eine militärische Auseinandersetzung mit dem Schmalkaldischen Bund vorzubereiten, um durch dessen Zerschlagung die Protestanten leichter zur Unterwerfung unter das Konzil zu bewegen. Bis um die Mitte der 40er Jahre war allerdings wegen der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit Türken und Franzosen - ganz abgesehen von der noch ungelösten Konzilsfrage selbst - an eine Verwirklichung dieses Vorhabens nicht zu denken. Die Türkenabwehr in Ungarn überließ der Kaiser im wesentlichen seinem Bruder Ferdinand, der nach dem Tod des jungen Königs Ludwig bei Mohäcs (1526) die ungarische Thronfolge angetreten hatte, ohne freilich das Gegenkönigtum Johann Zapolyas von Siebenbürgen, der sich seinerseits 1528 der osmanischen Oberhoheit unterstellt hatte, wirklich ausschalten zu können. Selbst Ferdinands Bitten um die Hilfe der Reichsstände gegen die Türken fanden bei seinem kaiserlichen Bruder nur wenig Unterstützung; der Verlust eines großen Teils Ungarns an die Osmanen, vor allem in den

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Jahren 1541-1543, geht insofern auch auf das Konto Karls V. Mit größerem Engagement trat der Kaiser den Türken im Mittelmeerraum entgegen (-»Türkenkriege), wo die Seeherrschaft der Osmanen bzw. ihres Vasallen Chaireddin Barbarossa von Nordafrika aus die für die habsburgische Herrschaft lebenswichtige Verbindung zwischen Spanien und Italien bedrohte. Eine erfolgreiche Flottenexpedition gegen Tunis (1535) brachte dem Kaiser allerdings mehr politischen Prestigegewinn als eigentlich strategische Vorteile; der 1541 unternommene - wichtigere - Versuch, das Herrschaftszentrum Chaireddins in Algier zu erobern, endete sogar mit einem völligen Mißerfolg. Infolge ihrer Bündnisse mit den Franzosen konnten die Türken ihre Position im westlichen Mittelmeer aber noch verstärken. 1545 fanden sich die durch Auseinandersetzungen mit den Persern in Anspruch genommenen Osmanen jedoch zu einem Waffenstillstand in Ungarn wie im Mittelmeerraum bereit; 1547 folgte ein längerfristiger Friedensvertrag, der die Habsburger für einige Jahrzehnte vom akuten Expansionsdruck der Osmanen entlastete. In seinem Verhältnis zu Franz I. von Frankreich hatte Karl bald nach dem Frieden von Cambrai mit erneuten Revisionsversuchen des französischen Königs zu tun, der dafür das Bündnis mit den deutschen Protestanten, vor allem aber mit den Türken suchte. Nach einem vorbereitenden Abkommen mit Chaireddin Barbarossa (1534) kam 1536 eine französisch-türkische Offensivallianz gegen Karl V. zustande, aufgrund deren Franz I. sich stark genug fühlte, in zwei weiteren Kriegen 1536-1538 und noch einmal 1542-1544 den Kaiser herauszufordern. Bei den deutschen Protestanten, deren Mehrheit allenfalls ein Defensivbündnis mit Frankreich wünschte, fand Franzi, allerdings nur wenig Unterstützung: Ein förmliches Bündnisangebot des Franzosen wurde. 1535 abgelehnt, sein Bündnis mit den muslimischen Osmanen wirkte vollends abschreckend; 1544 leisteten die Protestanten dem Kaiser sogar eine ansehnliche Reichshilfe gegen Frankreich. Dagegen stärkte das türkische Bündnis die französische Position im Mittelmeer spürbar. Zu einem entscheidenden Vorteil für Franzi, langte es jedoch nicht: Der Friede von Crépy 1544 bestätigte im wesentlichen das Scheitern der französischen Revisionspolitik. Immerhin wurde eine Heirat des jüngeren französischen Königssohns Karl von Orléans mit einer habsburgischen Prinzessin in Aussicht genommen; das Paar sollte dann entweder die Niederlande oder aber Mailand bekommen. Der frühe Tod des Orléans im Oktober 1545 ließ diese Idee einer französischen Sekundogenitur jedoch gegenstandslos werden. Folgenreicher waren die religionspolitischen Geheimbestimmungen des Friedens, durch die der französische König sich dazu verpflichtete, den Kaiser in dessen Bemühungen um das Konzil und um eine Rückführung der deutschen Protestanten in den Schoß der Kirche zu unterstützen, notfalls auch mit den Waffen. Der Friede v o n Crépy 1544 und der Waffenstillstand mit den O s m a n e n 1545 machte d e m Kaiser den Rücken frei für eine entschiedene deutsche und Religionspolitik. Als 1545 endlich das Konzil in Trient (-»Tridentinum) zusammentrat und es Karl V. im - » S c h m a l kaldischen Krieg 1546/47 — im Bündnis mit d e m Papst, aber auch mit protestantischen Fürsten, vor allem H e r z o g - » M o r i t z von Sachsen - gelang, den Schmalkaldischen Bund zu zerschlagen, schien nach der Sicherung der politischen Präponderanz des Kaisers in Europa auch sein religionspolitisches Ziel einer wiedervereinten und von innen heraus reformierten Kirche z u m Greifen nah. D i e s e m H ö h e p u n k t der kaiserlichen Machtstellung folgte indes sehr bald eine Reihe von Rückschlägen, die die Grenzen der politischen Möglichkeiten des Kaisers in Deutschland und Europa, nicht zuletzt gegenüber der Kirche, deutlich aufzeigten. Zunächst verließ Papst Paul III. noch während des Schmalkaldischen Kriegs aus Sorge vor dem Ubergewicht Karls V. sein Kriegsbündnis mit dem Kaiser und verlegte kurz darauf sogar das Konzil aus dem zum Reich gehörenden Trient in das päpstliche Bologna; daß es Karl kaum gelingen würde, die Protestanten zur Unterwerfung unter ein derart offensichtlich vom Papst dominiertes Konzil zu bringen, war klar abzusehen. In der Tat erreichte der Kaiser im Oktober 1547 auf dem Reichstag zu Augsburg (1547/48) zwar die grundsätzliche Anerkennung eines Konzils durch die protestantischen Reichsstände, doch galt das nur für ein Konzil auf dem Boden des Reichs und überdies unter Bedingungen für die Zusammensetzung und das Verfahren des Konzils, die der Kaiser nur in mühsamen Formelkompromissen aufzufangen vermochte. An der Jahreswende 1547/48 stellte sich überdies heraus, daß Paul III. - in engem Einverständnis mit König Heinrich II. von Frankreich, dem Nachfolger des 1547 gestorbenen Franz' I. - definitiv nicht bereit war, das Konzil nach Trient zurückzuverlegen. Ohne deshalb grundsätzlich seine Konzilspolitik aufzugeben, entschloß sich der Kaiser jetzt zum Versuch einer von seiner eigenen Autorität getragenen vorläufigen Ordnung der Religionsverhältnisse in Deutschland. Das unter Mitarbeit humanistisch gesonnener Vermittlungstheologen entstandene Interim kam bei Wahrung der dogmatischen und Rechtsgrundlagen der katholischen Kirche den Protestanten in wichtigen Punkten kirchlicher Lehre und Praxis (Priesterehe, Laienkelch) entgegen und suchte gerade damit einer weiteren Entfremdung von der katholischen Kirche entgegenzu-

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wirken. Wegen des Widerstands der M e h r h e i t der katholischen R e i c h s s t ä n d e nicht als allgemeines Reichsgesetz, sondern nur als Sonderregelung für die protestantischen R e i c h s s t ä n d e verabschiedet (15. M a i 1548), wurde das Interim gerade deshalb von den Protestanten — abgesehen von theologischen Bedenken - als diskriminierend empfunden und verschärfte im Ergebnis die konfessionellen Gegensätze, statt sie zu mildern; die Durchsetzung des Interims gelang ohnehin nur im engeren politischen Einflußbereich der H a b s b u r g e r . Als Papst - » J u l i u s III. das Konzil dann überraschend zum M a i 1551 nach Trient zurückberief und auch die protestantischen Reichsstände dorthin eingeladen w u r d e n , führte die U n ü b e r b r ü c k b a r k e i t jener Gegensätze vollends zum Scheitern der kaiserlichen Religionspolitik. An eine gewaltsame Unterdrückung des deutschen Protestantismus aber w a r um so weniger zu denken, als Karl V. kurz darauf durch einen Bund protestantischer Reichsfürsten unter F ü h r u n g des Kurfürsten M o r i t z von Sachsen in arge Bedrängnis geriet. In dem Fürstenbund von 1552 k a m zum einen die wachsende reichsständische O p p o s i t i o n gegen das politische Übergewicht des Kaisers zum T r a g e n ; namentlich seit dem Versuch Karls, durch Gründung eines das ganze Reich umfassenden Bundes unter beherrschendem Einfluß des Kaisers die verfassungspolitischen G e w i c h t e im R e i c h grundlegend zu verschieben ( 1 5 4 7 / 4 8 ) , sahen viele Reichsstände ihre h e r k ö m m l i c h e L i b e r t ä t durch Karl V. bedroht. M i t der ständischen aber verband sich eine protestantisch-konfessionelle O p p o s i t i o n , die v o m Kaiser eine verbindliche und zeitlich unbegrenzte Duldung des evangelischen Bekenntnisses im R e i c h verlangte. Außenpolitisch durch ein Kriegsbündnis mit Heinrich II. von Frankreich abgesichert, dem man dafür die lothringischen Bischofsstädte M e t z , T o u l und Verdun preisgab, gelang es den aufständischen Fürsten im F r ü h j a h r 1552 binnen weniger W o c h e n , den größten Teil des R e i c h s unter ihre Kontrolle zu bringen; im M a i mußte der Kaiser von Innsbruck fluchtartig über den Brenner nach Villach ausweichen. Bei den von König Ferdinand als Vermittler und zugleich als Vertreter des Kaisers mit den protestantischen Fürsten geführten Friedensverhandlungen in Passau zeichneten sich bereits die Grundlinien des späteren Religionsfriedens a b . Die endgültige Fassung des Passauer Vertrags (August 1552) blieb hinter diesem Stand der Verhandlungen freilich weit zurück; vor allem wurde die Duldung der Protestanten wiederum nur befristet, bis zum nächsten R e i c h s t a g , zugesichert. Der G r u n d dafür lag im hartnäckigen W i d e r s t a n d Karls V., der eine reichsrechtliche Besiegelung der Kirchenspaltung und damit zugleich der konfessionellen Spaltung des R e i c h s für unerträglich hielt und überdies damit rechnete, seine militärische und politische Überlegenheit über Franzosen und Protestanten auf die D a u e r d o c h wieder zurückzugewinnen. Dieses politische Kalkül ging allerdings nicht auf. Z w a r k o n n t e der Kaiser noch einmal genug finanzielle und militärische Ressourcen mobilisieren, um bereits im H e r b s t 1552 eine Offensive gegen die Franzosen, namentlich zur R ü c k g e w i n n u n g der lothringischen Bischofsstädte, beginnen zu k ö n n e n ; aber der Feldzug blieb Anfang 1553 v o r M e t z stecken; der Kaiser mußte sich unter beträchtlichen Verlusten in die Niederlande zurückziehen.

N a c h dem Scheitern seiner Konzilspolitik in Trient und dem Fürstenkrieg in Deutschland war das Mißlingen des französischen Feldzuges der dritte empfindliche Schlag für KarlV. In seinen politischen Plänen weit zurückgeworfen, überdies von schmerzhaften Krankheiten gequält, zeigte der Kaiser erste Zeichen von Resignation - vor allem im Blick auf das Reich, dessen Regierung er immer mehr König Ferdinand überließ. Dieser politische Rückzug gerade aus dem R e i c h w a r um so wichtiger, als die habsburgischen Brüder wenige J a h r e zuvor über die Frage der künftigen T h r o n f o l g e im R e i c h in schwere S p a n n u n gen miteinander geraten w a r e n . Im M ä r z 1551 hatten Ferdinand und sein Sohn und N a c h f o l g e r M a x i m i l i a n ( - » M a x i m i l i a n II.) nur h ö c h s t unwillig dem Begehren des Kaisers e n t s p r o c h e n , dessen Sohn Philipp als N a c h f o l g e r Ferdinands auf dem Kaiserthron vorzusehen; seitdem h a t t e sich Ferdinand zunehmend von der Unterordnung unter die politischen Konzeptionen des Kaisers gelöst und w a r zu einer entschieden selbständigeren W a h r n e h m u n g des Interesses seiner E r b l a n d e und des R e i c h s übergegangen. Seit 1553 ließ Karl V. nun immer deutlicher e r k e n n e n , daß er - auch angesichts der im R e i c h e o h n e h i n verbreiteten Abneigung gegen die „spanische S u k z e s s i o n " — nicht auf dem Familienvertrag von 1551 beharrte. D a m i t fiel praktisch die Entscheidung für eine kontinuierliche T h r o n f o l g e der deutschen H a b s b u r g e r nach dem T o d e Karls; Philipp e r k a n n t e das 1 5 5 5 auch formal an. Andererseits eröffnete die H e i r a t Philipps mit der - katholischen - englischen Königin M a r i a 1554 für die spanische Linie der H a b s b u r g e r noch einmal ganz neue und gewaltige Perspektiven eines mittelmeerisch-atlantischen Weltreichs, dem gegenüber sogar das Kaisertum an Bedeutung zurücktrat. D a s Scheitern der hier sich eröffnenden weltpolitischen Aussichten durch den frühen und kinderlosen T o d M a r i a s (1558) hat K a r l V . nicht mehr erlebt. Seit 1 5 5 4 verdichtete sich der Wille des Kaisers, sich von der Regierung aller seiner Länder zurückzuziehen, um seine letzten L e b e n s j a h r e in der Abgeschiedenheit eines spanischen Landsitzes bei dem H i e r o n y m i t e n k l o s t e r Yuste zu verbringen. N o c h 1 5 5 4 t r a t er das Königreich N e a p e l an Philipp a b ; im S e p t e m b e r 1555 folgte die Übertragung der Niederlande, im J a n u a r 1 5 5 6 die Abtre-

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tung der gesamten spanischen Reiche einschließlich der Vizekönigreiche in der Neuen Welt. Die Übertragung des Kaisertums auf Ferdinand zog sich dagegen noch länger hin, zumal da Karl V. anstelle des puren Verzichts auf das Kaisertum zunächst an der Konzeption einer mehr oder minder weitgehenden Vollmacht für Ferdinand festhielt, die dem Bruder zwar die Verantwortung für die Reichspolitik aufbürden, dem Kaiser selbst aber - namentlich hinsichtlich der anstehenden religionspolitischen Entscheidungen - die Möglichkeit einer späteren Revision offenlassen sollte. Demgegenüber hielt Ferdinand aus guten politischen und rechtlichen Gründen an der Notwendigkeit einer eindeutigen Entscheidung fest und führte deshalb auch die Verhandlungen des Augsburger Reichstags von 1555, die zum Abschluß des Augsburger Religionsfriedens führten, im Namen des Kaisers - sehr gegen den Willen Karls V., der den Religionsfrieden nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte und noch im September 1555 sogar eine förmliche Revokation aller der römischen Kirche abträglichen Beschlüsse des Reichstags anordnete, ohne diese Revokation dann allerdings wirklich zu vollziehen. So verzögerte sich der verbindliche Rücktritt Karls von der Reichsregierung bis zu seiner Abreise nach Spanien im September 1556; mit der förmlichen Nachfolge im Kaisertum ließ sich Ferdinand seinerseits dann bis zum Frühjahr 1558 Zeit. Von Yuste aus hat Karl noch gelegentlich in das Getriebe der großen Politik eingegriffen, namentlich zur dynastischen Vorbereitung einer habsburgischen Thronfolge in Portugal; allmählich aber wurde es doch stiller um ihn. Er starb am 21. September 1558. KarlV. w a r unstreitig die bedeutendste politische Figur seines Jahrhunderts. Seine größte politische Leistung w a r die Behauptung und Festigung des ihm zugefallenen gewaltigen Erbes für das H a u s H a b s b u r g , insbesondere für dessen jetzt beginnende spanische Linie, für deren Vorherrschaft in E u r o p a er den Grund legte. Seine universalistischen Ansprüche dagegen konnte er im wesentlichen nicht durchsetzen. Weder im Verhältnis zu den anderen europäischen M o n a r c h e n der E p o c h e noch auch in dem mit M a r t i n Luther aufbrechenden Glaubensstreit konnte er seine kaiserliche Autorität entscheidend zur Geltung bringen. Sein bis zuletzt durchgehaltener Wille zur Erhaltung oder doch Wiederherstellung der kirchlichen Einheit, verbunden mit der nicht minder entschieden verfochtenen Forderung nach innerkirchlichen R e f o r m e n , weisen ihm trotz dieses Scheiterns auch in der Geschichte der Kirche einen hohen R a n g zu. Quellen Aktenstücke u. Briefe zur Gesch. Kaiser Karls V. Aus dem K . K . Haus-, Hof- u. Staatsarchive zu Wien, hg. v. Karl Lanz: Monumenta Habsburgica, hg. v. der Hist. Kommission der Kaiserlichen Akademie der Wiss., 11/1, Wien 1853 mit einer Einl. zum l . B d . (Wien 1857). - ARCEG I - V I , 1959-1974. - Beitr. zur Reichsgesch. 1 5 4 6 - 1 5 5 5 , bearb. v. August v. Druffel, München, I - I V 1 8 7 3 - 1 8 9 6 (Briefe u. Akten zur Gesch. des 16. Jh. mit bes. Rücksicht auf Bayerns Fürstenhaus, hg. v. der Hist. Kommission beiderkgl. Akademie der Wiss. 1 - 4 ) . —Briefe an Kaiser Karl V., geschrieben v. seinem Beichtvater in den Jahren 1530-1532, hg. v. 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Karl der Große

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Horst Rabe Karl der Große, König der Franken (768 -814; seit 800 römischer 1. Leben

2. Werk

3. Nachwirkung

Kaiser)

(Quellen/Literatur S. 648)

1. Leben Karl der Große wurde am 2.4.747 als ältester Sohn des damaligen Hausmeiers -»Pippin und seiner Ehefrau Bertrada geboren. Mit dem von K.F. Werner nachgewiesenen Geburtsjahr entfällt die frühere Annahme einer (damit auch vorehelichen) Geburt 742. Da der 751 zum König erhobene Pippin gemeinsam mit seinen Söhnen Karl und Karlmann am 28.7.754 in St. Denis von Papst Stephan III. die Königssalbung erhielt und der Frankenkönig seine Söhne zusätzlich an dem Vertragswerk mit dem Papst beteiligte, ist zwingend damit zu rechnen, daß Karl wie Karlmann sorgfältig auf ihre künftige Rolle als Könige vorbereitet und beide frühzeitig in eine Politik dynastischen Anspruchs eingebunden wurden. Nachrichten über die Erziehung beider Königssöhne liegen indes nicht vor. Wesentlich für das Verständnis von Karls späterer Offenheit in vielen Bereichen der Herrschafts- und Verwaltungspraxis, in kulturellen sowie speziell geistigen und geistlichen Belangen ist die Annahme einer breiten Erziehung, die weder militärische Tauglichkeit noch eine geistliche Ausrichtung einseitig berücksichtigte. Seinen Vater begleitete Karl auf Feldzügen 761 und 762, auch die Verwaltung einiger Grafschaften wurde ihm 763 anvertraut. Als Pippin am 24.9.768 starb, wurde sein Reich wie selbstverständlich unter seine Söhne Karl und Karlmann geteilt, Karl am 9.10. in Noyon und sein Bruder zeitgleich in Soissons zu Königen erhoben. Die Realteilung des Frankenreichs bewährte sich nicht. Als Karlmann bereits am 4. Dez. 771 verstarb, schaltete Karl jegliche Ansprüche seiner Neffen aus und vereinigte das Gesamtreich in seiner Hand. Seither glückten eindrucksvolle Erfolge: 774 die Unterwerfung der Langobarden, deren Königstitel Karl künftig in Personalunion trug; damit hängt die Betonung seiner Schutzherrschaft über Rom und den -•Kirchenstaat zusammen (rex Francorum et Langobardorum atque patricius Romanorum). Eine weitere Ausdehnung der fränkischen Oberherrschaft über das Herzogtum Benevent erfolgte erst 787. In spektakulären Feldzügen gegen die Awaren, die 796 vernichtend geschlagen wurden, erfolgte eine Ausweitung des Frankenreiches nach Süd-

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osten, während die innere Konsolidierung des Reiches erst nach der Unterwerfung Herzog Tassilos III. von Bayern und vor allem nach erfolgreicher Beendigung des —»Dreißigjährigen Krieges gegen die heidnischen Sachsen (Einhard) möglich wurde. Weitere Feldzüge und die Errichtung sogenannter Grenzmarken, vor allem gegenüber Dänen, Sorben, Awaren, gegenüber den spanischen Nachbarn und den Bretonen, sicherten ein Riesenreich, das von der Eider bis über Rom hinaus und von der Elbe bis zum Ebro reichte. Hier schließen Karls historische Rolle als pater Europae und das Kaisertum von 800 an. Auf drei Romfahrten hatte Karl schon lange vorher eine systematisch angelegte Rom- und Italienpolitik betrieben, und als Papst Leo III. im Sommer 799 auf den Paderborner Hoftag kam, um Hilfe gegen seine stadtrömischen Gegner zu erbitten, wurden die entscheidenden Pläne für Karls Übernahme der Kaiserwürde geschmiedet. Der Romzug im November/Dezember 800 sicherte Leo III. den Papststuhl, nachdem er sich feierlich durch einen Reinigungseid von den Vorwürfen seiner Gegner hatte befreien dürfen. Dem Frankenherrscher aber setzte der Papst am Weihnachtstag (25.12.800) die Kaiserkrone aufs Haupt, was nach des Karls-Biographen Einhard Angaben Karl nicht nur überraschte, sondern verärgerte. Der Grund dafür lag in einer Abweichung von der in Paderborn verabredeten Kaiserkonzeption, was Karl veranlaßte, künftig den Aachener Kaisergedanken immer stärker zu betonen. In dieser Konsequenz lag es auch, daß der greise Karl seinem Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen eigenhändig am 11.9.813 in der Aachener Pfalzkapelle die Kaiserkrone aufsetzte. Mit der alleinigen Nachfolge Ludwigs des Frommen nach dem Tod Karls des Großen am 28.1.814 hatte sich das Reichsteilungskonzept von 806 als nicht mehr notwendig erwiesen, denn die angesichts traditionellen Reichsteilungsbrauches zur Mitherrschaft vorgesehenen Brüder Ludwigs, die gleich ihm aus der Ehe mit der fränkischen Grafentochter Hildegard stammenden Karl und Pippin, waren bereits verstorben. Karl der Große hatte verschiedene Ehen geschlossen, die jedoch nicht alle kirchlich legitimiert waren, wobei gelegentlich nicht ganz deutlich wird, ob es sich um sogenannte Friedelehen nach fränkischem Recht handelt oder um Formen des Konkubinats. Schon bei Karls erster bekannter Frau Himiltrud ergeben sich solche Unklarheiten, wobei die Empörung des aus dieser Verbindung stammenden Pippin des Buckligen dadurch ebenso motiviert gewesen sein mag wie durch Mängel seiner Identität. Kinderlos blieb die von Karls Mutter vermittelte Ehe mit einer namentlich .unbekannten Tochter des Langöbardenkönigs Desiderius (769), die aus vermutlich denselben außenpolitischen Gründen 770/Anfang 771 mit der Verstoßung dieser Langobardin endete. Aus der 771 geschlossenen Ehe mit Hildegard stammten 4 Söhne und 5 Töchter, während aus den nach Hildegards Tod (783) mit (Fastrada, gest. 794; Liutgard, gest. 800) und ohne kirchliche Legitimation geschlossenen Verbindungen (Madelgard, Gersvind, Regina, Adallind) weitere 5 Töchter und 3 Söhne stammten. Mit politischen Gründen hängt es vor allem zusammen, daß Karl d. Gr. Eheschließungen seiner Töchter stets zu verhindern suchte, um den jeweiligen Schwiegersöhnen keine Thronanwartschaften einzuräumen: Ein modifizierter Erbanspruch der Töchter schien offenkundig gegeben zu sein. — Wie all seine Vorgänger führte Karl fast zeitlebens ein bewegtes Leben als „Reiseherrscher", von Pfalz zu Pfalz ziehend, wie es die wirtschaftlichen Gegebenheiten erforderten und das System unmittelbarer Herrschaftsausübung erzwang. Erst als die Gicht ihn stärker plagte, bevorzugte Karl wegen ihrer heißen Quellen die Pfalz Aachen, die prachtvoll ausgebaut wurde und im Winterhalbjahr die Funktion einer Residenz erhielt, während das Gesamtreich ohne eigentliche Hauptstadt blieb. In der Aachener Pfalzkapelle wurde Karl der Große bestattet, in seiner Ruhe durch —>Ottos III. frevelhafte Graböffnung gestört. Am 29.12.1165 ließ -»Friedrich I. seine Gebeine erheben und den ersten Frankenkaiser heiligsprechen. 2. Werk Karls Lebenswerk ist zutiefst verknüpft mit dem Kaisertum des Jahres 800, weil in diesem die fränkische Geschichte kulminierte. Auch die Großreichsbildung der Franken

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erreichte hier ihren Höhepunkt und zugleich die größte räumliche Ausdehnung. Das seit Ponthion 754 beschlossene Vertragswerk zwischen Papst und Frankenkönig bot eine wesentliche Plattform, während das mit Byzanz in zähen Verhandlungen seit 812 erreichte und 815 dann definitive Arrangement das westliche Kaisertum festigte, für das Karl in kluger Beschränkung die Kaisertitulatur ohne Nennung des römischen Volkes oder Reiches wählte: imperator Romanum gubernans imperium. Es ist deutlich erkennbar, daß Karl d. Gr. seit 800 die inneren Strukturen seines Reiches zu konsolidieren suchte. 802 verfügte er eine eidliche Treueverpflichtung aller freien Reichsangehörigen auf das nomett Caesaris (sog. Untertaneneid), fast gleichzeitig suchte eine breitgefächerte Satzungstätigkeit die Verfassungsverhältnisse im Reich zu ordnen und die Verwaltung zu straffen. Diese Kapitularien, also rechtliche Satzungen, deren Texte gemeinhin in Artikel {capitula) eingeteilt waren und deren sich der Herrscher bediente, um Maßnahmen der Gesetzgebung oder der Verwaltung bekannt zu machen, setzten einen unerhört hohen Grad von allgemeiner Schriftlichkeit und verschriftlichter Verwaltungs- und Regierungstätigkeit voraus, der ohne breiteste bildungsreformerische Grundlagen (—>Karolingische Renaissance) unvorstellbar bliebe. So aber konnte der Herrscher daran gehen, weiteste Bereiche des Königsguts zu ordnen und zu bessern (Capitulare de villis; Brevium exempla), Ansätze einer königlichen Wirtschaftspolitik zu entwickeln, die von allen fränkischen Königen stets respektierten Stammesrechte (Leges) schriftlich zu fixieren und gar zu erweitern {Capitularía legibus addenda). Die größten Probleme bot die Sozialverfassung. Infolge der ungeheuren Ausweitung des Frankenreiches waren die Freien durch militärische Dauerbelastungen überbeansprucht worden und allgemein verarmt. Die Umgestaltung des karolingischen Heerwesens von bislang dominantem Fußvolk zum Panzerreiterheer verschlang Unsummen und beschleunigte den Feudalisierungsprozeß: Immer mehr Freie wurden zu pauperes, bei immer weniger Angehörigen der auch wirtschaftskräftigen Führungsschicht konzentrierten sich Macht, Ansehen und Reichtum. Karls Versuche, den Pauperisierungsprozeß allergrößten Ausmaßes mit Hilfe einer Art Schutz- und Sozialgesetzgebung aufzuhalten, beeindrucken noch heute, schlugen jedoch fehl. Feudalisierung und damit zusammenhängende zentrifugale Tendenzen (-»Lehnswesen) wirkten sich so stark aus, daß spätestens ab 811 deutliche Auflösungstendenzen im Gesamtreich erkennbar werden (vgl. Ganshof). Machtpolitisch war der Zenit der fränkischen Großreichsbildung um 800 nur durch übergroße Anspannung aller militärischen Kräfte möglich gewesen; als die Spannung nachließ und eine gewisse Saturiertheit offenkundig wurde, zeigte sich das Bild einer riesigen Überdehnung, die sich auch mit modernsten Mitteln der Gesetzgebung, Verwaltung und Kontrolle {missi domm/ci/Königsboten) nicht kompensieren ließ. Da auch der Herrscher selbst müder wurde, gelang es ihm kaum mehr, das Gesamtreich wenigstens gewaltsam zusammenzuhalten. Insofern gilt das Urteil Nithards, eines Enkels Karls d. Gr., das er aus dem Abstand einer Generation fällte, für Karls Spätzeit nicht mehr uneingeschränkt: moderato terrore, d. h. mit gezügelter, doch furchtgebietender Strenge habe er die wilden und eisernen Herzen der Franken und Barbaren so gebändigt, daß sie offen in seinem Reiche nichts zu unternehmen wagten, als was mit dem allgemeinen Wohl und Besten sich vertrug (Nithard 1,1). Nicht nur der Vergleich mit der Macht Roms, die dieses nicht schaffte, unterstreicht, daß dem Herrscher über ein frühmittelalterliches Großreich kaum ein höheres Lob zuerkannt werden konnte. Besondere Aufmerksamkeit verdient Karls Verhältnis zur Kirche. An seiner persönlichen Frömmigkeit sind keine Zweifel erlaubt, eine Distanz gegenüber Klerus und Papsttum ist hingegen unverkennbar. Bereits die Sachsenkriege dienten vorrangig der Unterwerfung, die vielgerühmte Missionierung der heidnischen Bevölkerung (-•Sachsen) folgte immer erst dem siegreichen Schwert, auch die unmittelbar sich anschließende kirchliche Organisation diente mindestens gleichrangig der herrschaftlichen Konsolidierung des eroberten Landes. Die Einführung des verhaßten Kirchenzehnten (-»Abgaben, kirchliche) gehört in den gleichen Zusammenhang, was bereits Zeitgenossen wie -»Alkuin hart tadelten und was vermutlich bei der Unterwerfung und Missionierung der Awaren

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unterblieb. Von Dauer waren die angedeuteten Maßnahmen gleichwohl. Z u sehen sind sie auch im Zusammenhang mit dem offenkundigen Rückgriff des Herrschers auf die Bischöfe und Äbte seines Reiches für staatliche Belange. Ihr Reichsdienst wurde unter Karl systematisch institutionalisiert und schließlich für die eigene Herrschaft instrumentalisiert (F. Prinz). Die Doppelfunktion dieser Kleriker als geistliche Hirten und zugleich Inhaber großer, oft riesengroßer Grundherrschaftskomplexe bot solche Zugriffsmöglichkeiten, die sich Karl d. Gr. nicht entgehen ließ. Darüber hinaus griff er in nahezu ausschließlich kirchliche Organisationsfragen ein (Ausbau der Metropolitanverfassung), dominierte zahlreiche fränkische Synoden und engagierte sich gar persönlich in theologischen Fragen. Im sogenannten Bilderstreit (-»Bilder V/2) reagierte er heftig auf die griechische Bilderverehrung und ließ in den Libri Carolini 791 den Anspruch des angeblichen VII. Ökumenischen Konzils von ->Nicaea 787 bestreiten. Seine eigene fränkische Reichssynode von Frankfurt 794 gab sich allerdings ebenfalls mit zu hohem Anspruch als westlich-ökumenisches Reichskonzil aus, während Karls persönliche Rolle als Verteidiger des Glaubens und Wortführer der westlichen Kirche glaubhafter war. In der Frage des von Spanien ausgehenden Bemühens um einen Zusatz zum -»Nicaenokonstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis, wonach der Heilige Geist vom Vater und vom Sohne (filioque) ausgehe (vgl. TRE 12, 203, 20ff; —•Trinität), prononcierte sich Karl mit seinen fränkischen Hoftheologen ähnlich schroff, selbst gegenüber einem zurückhaltenderen Papsttum. In seinem politischen Verhältnis war Karl geprägt durch die Traditionsstränge fränkischen Stammesstolzes und Herrschaftsanspruches, durch die Gewißheit der von Gott gesetzten Herrschaftsaufgabe und vor allem nüchternen, an Realitäten orientierten Machtsinn der Karolinger. Gepaart waren diese Züge aber auch mit Elementen der Behutsamkeit, der Vorsicht und mit der Fähigkeit, warten zu können. Achtet man auf das geistig-kulturelle Leben an seinem Hof und über diesen hinaus, so kommen vielfältige geistige Interessen hinzu, ohne daß der Primat des Politischen im Denken und Handeln dieses Herrschers, den noch die Nachwelt als so anziehend empfand, je zurückzutreten schien. Etwas müßig erscheint der wissenschaftliche Streit um die Frage, ob dieser große Franke ein politisches Konzept hatte, einem Gesamtplan folgte. Die angedeuteten Schubkräfte seines Handelns und Wollens zielen in eine weniger anachronistisch anmutende Richtung. 3.

Nachwirkung

Karl ist bereits von Zeitgenossen verehrt und als „der Große" bezeichnet worden. Einen historiographischen Glücksfall stellt Einhards Vita Karoli Magni dar, die (nach 830) nicht ohne kritische Distanz geschrieben wurde. Doch schon in Notkers Gesta Karoli Magni (nach Dez. 883 geschrieben) erfolgte eine Trivialisierung dieses Karlsbildes, das in der Folge Gegenstand reichster Legendenbildung wurde. „Le souvenir et la légende de Charlemagne" (R. Folz) blieb nicht nur im römisch-deutschen Reich lebendig, sondern wirkte sich vor allem in Frankreich mit Karlskult und Karlstradition als ein das -» Königtum stabilisierender Faktor von Rang aus. Für das Reich und auch die Herausbildung der deutschen Nation erlangte die Verehrung Karls d . G r . dagegen keine entscheidende Bedeutung, zumal die Kanonisation Karls d . G r . auf Veranlassung Kaiser Friedrichs I. 1165 insofern „mißglückte", als der von Barbarossa bemühte Paschalis III. doch Gegenpapst blieb. Die entscheidende Entwicklung Karls d.Gr. zum Reichspatron war damit unterbrochen. Für fast alle großen und kleinen Dynastien innerhalb wie außerhalb des Reiches behielten hingegen genealogische, auf Karl verweisende Argumente noch jahrhundertelang überragende Bedeutung, wucherte das Andenken an ihn in vielen literarischen Formen. In historischer Sicht begegnet Karl vorzugsweise als Idealherrscher, als Ordner von Kirche und Staat, als Neubegründer des Imperium Romattum sowie als Kreuzfahrer und Heiliger. Auch das wissenschaftliche Karlsbild des 19. und 20. Jh. schwankt und bleibt von tiefgreifenden Erfahrungen mancher Generationen nicht unberührt. Nach dem 1. Weltkrieg zerbrach mit der weltgeschichtlichen Bedeutung Europas teilweise auch Karls

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universales Werk. Der Belgier H. Pirenne maß Karl jetzt zu seinen Ungunsten an Mohammed, der Franzose L. Halphen vermißte große Ideen, während seine Landsleute A. Kleinclausz und J. Calmette Karl als „chef de la chrétienté universelle" und „ h o m m e de l'humanité" bzw. als herausragenden, seine Grundsätze durchhaltenden Begründer Europas sahen. Im deutschsprachigen Raum wertete W. v. d. Steinen 1928 Karl gar als „den reinsten Christen, der gedacht werden kann", und nannte ihn „den normhaftesten Deutschen"; noch 1959 war er für ihn der „Stärkste seines Weltalters". Die negativen Verzerrungen durch das Geschichtsbild des Nationalsozialismus sollte man übergehen; als notwendig erwies sich 1935 die Feststellung deutscher Geschichtsforscher, daß Karl d. Gr. kein Deutscher, auch kein Franzose, sondern ein Franke war. In der euphorischen Aufbruchstimmung der europäischen Integrationspolitik feierte man Karl noch 1965 als „ersten Kaiser, der Europa zu vereinen wußte" (W. Braunfels: Vorwort des Aachener Ausstellungskatalogs IX) und übersah den dominant westeuropäischen Zustand beider verglichenen politischen Gebilde. Vergessen wurde dabei auch, daß gerade die Völker Ostmittel- und Osteuropas schon sehr früh in Karl d. Gr. ein verpflichtendes Vorbild gesehen und seinen Personennamen gar zum Königs- und Herrschertitel gemacht hatten: bulgarisch-fera/', serbokroatisch-krälj, tschechisch-fera/, altsorbisch-krol, polnisch-fe.ro/ bis hin zu russisch und ukrainisch koröl' (H.-D. Kahl). Sucht man nach einer Art Fazit des verwirrenden Kaleidoskops der Bilder und Wertungen, so bleibt die Feststellung, daß es einstweilen kein über die (allerdings hervorragend erarbeiteten) Fakten hinausreichendes gültiges Karlsbild gibt. Sollte jedoch der enorme Forschungsaufschwung, den die Aachener Karlsausstellung von 1965 verursachte, nicht allzu stark abflachen, müßte in absehbarer Zeit eine dem großen Frankenherrscher gewidmete Monographie möglich werden, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Quellen Engelbert Mühlbacher, Die Urkunden Pippins, Karlmanns u. Karls des Großen, 1906 (MGH. DK). - Capitularia regum Francorum 1, hg. v. Alfred Boretius, 1883 (MGH. Cap.). - Concilia aevi Carolini, hg. v. Albert Werminghoff, 1906 u. Libri Carolini, hg. v. Hubert Bastgen, 1924 (MGH. Conc 1 u. 2 Suppl.). - Einhardi Vita Karoli Magni, ed. O. Holder-Egger, 1911 (MGH. SRG 25).

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649

Karlstadt

N a c h k o m m e n Karls des Großen bis zum Jahr 1000 ( 1 . - 8 . Generation): Karl d . G r . IV, Düsseldorf 1967, 4 0 3 - 4 8 2 .

Reinhard Schneider Karll, Agnes -> Krankenpflege Karlsbader Beschlüsse -> Restauration Karlstadt, Andreas

Rudolff Bodenstein

1. Leben und Werk (Quellen/Literatur S. 655)

von

2. Übergreifende

(1486-1541)

Aspekte

seiner

Theologie

3. Nachwirkungen

1. Leben und Werk 1.1. Vorreformatorische Laufbahn. Andreas Bodenstein, 1486 geboren und aus kleinstädtischer bürgerlicher Führungsschicht in Karlstadt am Main stammend, wird nach Studienjahren in -»Erfurt (1499/1500-1503, baccalaureus artium 1502) und -»Köln (1503 - 0 5 ) in -» Wittenberg am 12. August 1505 magister artium. Als Dozent der Artistenfakultät in via Thomae bringt er 1507 die ersten Publikationen (De intentionibus und Distinctiones Thomistarum) heraus, in denen er sich bereits von seinen orthodox-thomistischen Kölner Lehrern abzusetzen und in Richtung Scotismus zu vermitteln beginnt. Gleichzeitig läßt sich die Rezeption frühhumanistischer Einflüsse beobachten. 1514 wird Karlstadt von einem Zeitgenossen als „Anhänger sowohl des Thomas als des Scotus" bezeichnet. 1510 empfängt er im kanonischen Mindestalter die Priesterweihe und schließt das Theologiestudium mit dem Doktorat ab. Obwohl er bald darauf (1511) mit dem Archidiakonat am Wittenberger Allerheiligenstift eine theologische Professur an der Universität (-»Wittenberg) übernimmt, setzt er gleichzeitig seine Ausbildung mit juristischen Studien fort. Während des Aufenthalts in Rom (ca. November 1515 bis Mai 1516), wo er Studien an der Sapienza mit einer Schreibertätigkeit an der Kurie verbindet, erwirbt er den Doktor beider Rechte an der Kurie. Aus dieser Laufbahn entspringt Karlstadts Idee einer engeren wissenschaftlichen Verbindung von Theologie und Jurisprudenz, die sich bereits 1514 in nicht erhaltenen Konkordanzen der beiden Rechte mit den theologischen Systemen des -» Thomas von Aquino und des —»Duns Scotus niedergeschlagen hatte. 1.2. Reformatorische Anfänge. Nach Wittenberg zurückgekehrt (Juni 1516), ist der Theologe Karlstadt mehr herausgefordert als der Jurist, nachdem -» Luther im September 1516 in der Disputation De viribus et voluntate hominis sine gratia seine neue biblischaugustinische Theologie vertrat. Zunächst widerspricht Karlstadt seinem Kollegen, vertieft sich jedoch alsbald selbst in -»Augustin, um sein erstes Urteil zu überprüfen. Am 26. April 1517 stellt er sich mit 152 Thesen De natura, lege et gratia an die Seite Luthers. Die Vorlesung über Augustins De spiritu et littera 1 5 1 7 - 1 9 markiert Karlstadts zeitweiligen Augustinismus. Für seine Neuorientierung waren neben dem Einfluß Luthers, des Augustinstudiums und der biblisch-mystischen Theologie des Johannes von -» Staupitz noch weitere Faktoren bedeutsam. Von starker langfristiger Wirkung war die 1517 beginnende Rezeption der -»Mystik Johann -»Taulers, die in Karlstadts umfangreichen Randbemerkungen (überwiegend 1517-19) zu dessen Predigten dokumentiert ist. Die Taulerlektüre steht zunächst im Rahmen der Wittenberger Predigttätigkeit Karlstadts, wie die einzige überlieferte Predigt aus jener Zeit, der Sermon am Lichtmeßtag 1518, belegt. Inhaltliche Schwerpunkte der Randbemerkungen sind eine Kreuzestheologie analog der Demutstheologie des jungen Luther, die mit der mystischen „Gelassenheit" verbunden ist, das Interesse am „Abgrund der Seele" als einem Ort lebendiger göttlicher -»Offenbarung und die Vorstellung einer Abtötung aller inneren Bilder auf dem Weg in den „Abgrund". Auch Einflüsse der italienischen -»Renaissance fließen in den theologischen Umbruch mit ein. 1517 stellt Karlstadt von den 900 Thesen Giovanni -»Pico della Mirando-

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las ausgerechnet die 13 Thesen, die 1487 in Rom verurteilt worden waren, mit antischolastischer Spitze erneut zur Disputation. Mit ihnen werden bereits in den Wittenberger reformatorischen Anfängen Themen wie die Bilderverehrung und die Deutung der Abendmahlsworte, die später bei Karlstadt so zentral werden, angeschnitten. Im Rahmen der Wittenberger Diskussionen um eine humanistische Studienreform versucht Karlstadt, anstelle der aristotelischen Philosophie in die Propädeutik des Theologen die Beschäftigung mit der Texthermeneutik der Jurisprudenz aufzunehmen. In den 406 Apologeticae conclusiones vom 9. Mai 1518 legt er dieses Programm vor. Im Mittelteil dieser Thesenreihe eröffnet Karlstadt den Streit mit Johann —»Eck, indem er dessen gegen Luthers 95 Thesen gerichtete Obelisci zum Anlaß nimmt, die These von der Unfähigkeit des menschlichen Willens (-»Wille/Willensfreiheit) zum Guten und von der Passivität des Menschen gegenüber dem Geschenk der —» Gnade zu verfechten. Auf diesem Hintergrund hält er zwischen Februar und Juni 1519 seine Vorlesung De impii iustiftcatione, die unseres Wissens erste systematisch-theologische Vorlesung der Wittenberger Reformation, die von dem kommentierenden Vorlesungsstil abweicht. Textbuch der Vorlesung war Karlstadts Epitome de impii iustificatione. Eck, der ein Exemplar dieser pastoral akzentuierten, unpolemischen Schrift vor der Leipziger Disputation glossiert hat (Staatsbibl. München: 4° Mor. 88 a ), meinte Differenzen zwischen Karlstadt und Luther herauszuhören und hielt eine Einigung mit Karlstadt noch für möglich. Auf der Leipziger Disputation (27.6.-15.7.1519) mit Eck beschränkte sich Karlstadt auf die Thematik Gnade und freier Wille, während Luther durch seine gegen Karlstadts Rat erfolgte Bestreitung des päpstlichen Primats das Hauptinteresse auf sich zog. Eck, der sich Karlstadt im Verlauf der Disputation ein Stück annäherte, war auch nach Leipzig bereit, die Debatte mit Karlstadt über den freien Willen an einer anderen Universität fortzusetzen und entscheiden zu lassen, während er Luther gegenüber in der Primatsfrage kompromißlos war. Karlstadt hielt sich seinerseits zum Thema Primat auf dem Hintergrund einer hergebrachten papsttreuen Einstellung bis 1519 betont zurück. Erst als Eck im September 1520 Karlstadts Name mit auf die gegen Luther erwirkte Bannandrohungsbulle setzt, vollzog Karlstadt den Bruch mit dem Papst, der ihm gleichzeitig den Bruch mit der Tradition und Frömmigkeit seines Elternhauses abverlangte, wie aus der an die Mutter gerichteten Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit hervorgeht. Mit der Leipziger Disputation wird nicht nur der Bruch zwischen Luther und Eck besiegelt, sondern auch die persönliche Entfremdung zwischen Luther und Karlstadt scheint sich bereits anzubahnen, wobei aus Anlaß der Disputation kollegiale Rivalitäten deutlicher sichtbar werden. Nach der Disputation wendet sich Karlstadt vom Kirchenväterstudium dem Schriftstudium zu und veröffentlicht im August 1520 angesichts erster Pläne für eine neue Bibelübersetzung seinen umfangreichen De canonicis scripturis libellus, eine frühe protestantische Einleitungsschrift zur gesamten Bibel, die bei der Behandlung historischer Fragen der Entstehung der biblischen Schriften weitgehend Hieronymus und Augustin zitiert. Bei Karlstadt, der etwa im Oktober 1519 -»Erasmus als omnium theologorum princeps bezeichnet, kommt hier auch seine humanistische Bildung zum Tragen. Seine Abgrenzung des alttestamentlichen —»Kanons im Anschluß an die hebräische Bibel (-»Apokryphen I) und die Übernahme des neutestamentlichen Kanons in seinem tradierten Umfang wurden Allgemeingut im Protestantismus. In der Kanonschrift wehrt sich Karlstadt bereits gegen Luthers Ablehnung des -»Jakobusbriefes. Neben der Kanonfrage war damit eine weitere Differenz zu Luther angestoßen: Indem der Streit mit Eck um die Unfähigkeit des menschlichen Willens zum Guten seit Frühjahr 1520 für Karlstadt zurücktritt, kann er jetzt die andere Seite, nämlich sein bleibendes Interesse an der -»Heiligung des Gerechtfertigten, entfalten. In dieser Zeit tritt neben die innerakademische Auseinandersetzung als zweiter Schwerpunkt von Karlstadts Wirken die an die Laien adressierte reformatorische Propaganda, beginnend schon im Frühjahr 1519 mit dem ersten gedruckten Bildflugblatt der reformatorischen Bewegung, dem „Himmel- und Höllenwagen", in dem die reformatorische Bestimmung des Verhältnisses von Gnade

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und freiem Willen unter Verwendung augustinischer und mystischer Symbolik visualisiert wird. 1.3. 'Wittenberger Bewegung 1521/22. Nach dem Wormser Reichstag will der Kurfürst Karlstadt am dänischen Hof unterbringen, während Luther auf der Wartburg geschützt wird. Doch kehrt Karlstadt bereits nach etwa zwei Wochen aus -»Kopenhagen (-»Dänemark) zurück (Juni 1521). In Wittenberg spricht Luther nicht Karlstadt, sondern ->Melanchthon als seinen Stellvertreter an. Auffallenderweise gibt es zwischen Luther und Karlstadt während der Wartburgzeit keinen Briefwechsel. Karlstadt konzentriert sich zunächst auf die literarische Bekämpfung des Priesterzölibats und der Mönchsgelübde. Einige von ihm gegen die Unverbrüchlichkeit der Mönchsgelübde aus dem Alten Testament vorgebrachten Argumente kritisiert Luther gegenüber Melanchthon, Spalatin und Amsdorf. Dennoch schließt sich auch Melanchthon Karlstadts Standpunkt an. Die Differenzen mit Luther drücken sich jetzt in einer unterschiedlichen -»Hermeneutik aus. Von nun an wird die Unterscheidung von Fleisch und -»Geist in einer eigentümlichen Verbindung von Literalismus und -»Spiritualismus ein Spezifikum von Karlstadts Theologie. Zwischen Melanchthon und Karlstadt besteht im Herbst 1521 ein gutes Verhältnis. Erst ab Dezember 1521 tritt Karlstadt an die Spitze der Wittenberger Reformbewegung, während Melanchthon angesichts der Gegenreaktion des Kurfürsten und der Eigendynamik der ausgelösten Bewegung verunsichert ist. Karlstadt läßt sich jetzt von der Laiengemeinde tragen. An Weihnachten 1521 feiert er die erste öffentliche evangelische Messe. Damit ist der entscheidende Durchbruch zur praktischen Kirchenreform erreicht. Am 19.1.1522 heiratet er Anna von Mochau aus Seegrehna, die etwa fünfzehnjährige verwaiste Tochter eines kurfürstlichen Veteranen. Am 24.1.1522 wird vom Wittenberger Rat eine Stadtordnung beschlossen, an deren Abfassung Karlstadt maßgeblich beteiligt ist. Kultisch-religiöse und soziale Reformen sind in ihr eng verbunden. Im weiteren Verlauf der Wittenberger Bewegung rückt die Bilderfrage (-»Bilder) in den Vordergrund. Karlstadt, der an der Bilderverehrung bereits seit Juli 1521 öffentlich Kritik geübt hat, drängt auf Durchführung der vom Rat beschlossenen Bilderbeseitigung in einer scharfen Predigt und in seiner Flugschrift Vom Abtun der Bilder vom 27.1.1522, die in kürzester Zeit mehrere Auflagen und große Verbreitung findet. Karlstadt wünscht zwar geordnete Bilderbeseitigung durch den Rat, seine kompromißlose Propaganda, in der er Christusbilder, Heiligenbilder und Kruzifixe als Sünde wider das erste Gebot brandmarkt, ist aber der letzte zündende Funke für einen Bildersturm in der Wittenberger Pfarrkirche. Der beim Erlaß der Stadtordnung übergangene Kurfürst, selbst von einem Reformen untersagenden Mandat des Reichsregiments vom 21.1.1522 bedrängt, versucht nun energisch, durch Verbot der Exekution der Stadtordnung und aller weiterer Reformen die Bewegung zu stoppen, hat darin aber nur teilweisen Erfolg, wobei sich Karlstadt unter den Theologen als der standhafteste erweist. Auf Initiative der kurfürstlichen Räte hin wird Karlstadt in seiner Predigttätigkeit beschnitten, um seinen starken Einfluß auf die Laienschaft zu unterbinden. 1.4. Der Dissident (1522 — 1529). Luther reagiert nach seiner Rückkehr von der Wartburg nach Ausweis der Invocavitpredigten auf die Wittenberger Bewegung auf zwei Ebenen: Auf der persönlichen Ebene macht er seinen Führungsanspruch als erstberufener Reformator geltend und legt den Maßstab an: „Also wolt ich eüch auch gerne haben wie mich" (WA 10/3,10,13 f). In der Konsequenz wird Karlstadt mit Hilfe einer universitären Pressezensur an den Rand gedrängt: Nachdem eine im Druck befindliche Schrift über die Messe konfisziert ist, kann er zunächst nicht mehr publizieren. Auf der theologischen Ebene rückt Luther die Forderung einer Schonung der Schwachen in den Vordergrund, denen kein Ärgernis durch die Reformen gegeben werden dürfe. Seine Antwort darauf wird Karlstadt erst im November 1524 in Basel veröffentlichen (Ob man gemach fahren und des Ärgernisses der Schwachen verschonen soll in Sachen, so Gottes Willen angehen): Für ihn liegt ein Ärgernis dort vor, wo der status quo nicht mit der Schrift übereinstimmt. Die Durchsetzung des göttlichen Rechts duldet keinen Aufschub.

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Nachdem Karlstadts öffentliche Tätigkeit nunmehr auf sein Lehramt an der Universität beschränkt ist, wird die Universität selbst zum Angriffspunkt seines Reformwillens: Unter scharfer Kritik an dem nach seinem Urteil von Titelsucht und Rivalitäten bestimmten akademischen Leben weigert er sich ab Februar 1523, weitere Promotionen vorzunehmen. Diese Haltung führt zu einer zeitweiligen Absage Karlstadts an die eigene akademische Karriere. Sie steht im Kontext einer nun breiten öffentlichen Entfaltung einer mystischen Theologie, u.a. in der großen Schrift Was gesagt ist: Sich gelassen (1523). Eine von Tauler her genährte spiritualistische Offenbarungslehre, die Karlstadt in Erwartung der negativen Reaktion des Wittenberger Lutherkreises in den Publikationen lange verdeckt, kommt am offensten zum Ausdruck in dem Dialogus... von dem greulichen und abgöttischen Mißbrauch des hochwürdigsten Sakraments Jesu Christi (Herbst 1524). Im Frühjahr 1523 erhält Karlstadt die Erlaubnis, die seinem Archidiakonat inkorporierte und statutengemäß durch einen Vikar verwaltete Pfarrei Orlamünde an der Saale für ein Jahr selbst zu versehen. Dort kann er nun sein Reformmodell vorübergehend ungehindert durchführen. Angesichts seines wieder steigenden Einflusses drängt die Universität im Sommer 1524 auf seine Rückkehr nach Wittenberg, doch wählt ihn seine Gemeinde daraufhin gegen obrigkeitlichen Willen zu ihrem Pfarrer. Am 22.7.1524 resigniert Karlstadt das Archidiakonat. Am 21.8.1524 kommt es in Jena zu einem fruchtlosen Gespräch zwischen Luther und Karlstadt, der am 24.8.1524 von seiner Orlamünder Gemeinde gegenüber Luther verteidigt wird. Im September 1524 wird er aus Sachsen ausgewiesen. Auf einer Reise durch Südwestdeutschland (Straßburg Oktober 1524, Zürich, Basel) nimmt er unter gleichzeitiger Meidung der etablierten reformatorischen Theologen Kontakt mit Täuferkreisen auf. In Basel bemühen sich Gerhard Westerburg und Felix Manz um die Drucklegung von Karlstadts Traktaten, darunter ein Dialog über die Kindertaufe sowie eine Schrift Von der lebendigen Stimm Gottes. Während die letztere verloren ist, hat Zorzin den Dialog zur Kindertaufe in einer anonymen Ausgabe des Jahres 1527 wieder aufgefunden. Karlstadt verwirft darin in Auseinandersetzung mit Luther die Säuglingstaufe, da er die Lehre von einem stellvertretenden -> Glauben (fides aliena) der Paten ablehnt. Die Forderung einer Wiedertaufe hat Karlstadt jedoch nie erhoben. In den fünf erhaltenen Abendmahlsschriften (-»Abendmahl III/3) verwirft Karlstadt Luthers Auffassung von der Realpräsenz Christi. Brot und Wein sind Zeichen für die geistliche Gegenwart Christi. Karlstadts exegetisches Argument, Jesus habe mit den Worten „Das ist mein Leib" auf seinen eigenen Leib hingewiesen, ist nicht von Karlstadt erfunden, vielmehr bereits seit dem 13. Jh. belegt. Im Kontext seiner Kreuzestheologie steht für Karlstadt bei der Abendmahlsfeier die Erinnerung an das Kreuz Jesu im Zentrum. Nach dem Weg über Heidelberg, Schweinfurt und Kitzingen nimmt Karlstadt im Dezember 1524 sein Standquartier in Rothenburg ob der Tauber, wo er sich trotz eines Ausweisungsbeschlusses des Rates bis Ende Mai 1525 halten kann und starken Einfluß auf die reformatorische Bewegung gewinnt. Karlstadt war mit —»Müntzer befreundet und 1522/23 auch von ihm beeinflußt worden. Doch rückte er schon 1523 in seiner Schrift Ursachen, daß Andreas Karlstadt ein Zeit still geschwiegen vorsichtig von Müntzers Offenbarungsverständnis ab. Im -»Bauernkrieg gerät Karlstadt zwischen die Fronten, da er einerseits trotz seiner eindeutigen Absage an die revolutionären Bestrebungen Müntzers (Juli 1524) von Luther öffentlich als Aufrührer gebrandmarkt wurde und andererseits die fränkische Bauernschaft zum Gewaltverzicht bewegen will. Die Flugschrift An die Versammlung gemeiner Bauernschaft stammt nicht von Karlstadt (Hoyer gegen Peters). Nach einem einwöchigen Aufenthalt bei seiner Mutter in Karlstadt (Pfingsten 1525) und gefahrvollen Fluchtwegen kann er schließlich sein Leben retten, indem er Luther gegenüber auf künftiges Schreiben, Predigen und Lesen verzichtet und als Gegenleistung in Luthers Haus heimlichen Unterschlupf findet (Juli 1525). Der von Luther Karlstadt abverlangte Widerruf seiner Abendmahlslehre (Erklärung wie Karlstadt seine Lehre von dem hochwürdigen Sakrament und andere achtet und geachtet haben will) ist ein erzwungener

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Kompromiß, der Zündstoff für weitere Auseinandersetzungen legt. Doch wird Karlstadt zunächst Asyl gewährt, beschränkt auf die nähere Umgebung Wittenbergs (Seegrehna ca. August 1525 bis Februar 1526; Bergwitz ca. Februar bis Dezember 1526; Kemberg ca. Dezember 1526 bis Februar 1529), wo er sich unter zunehmender Verarmung zunächst als Bauer, dann als Krämer über Wasser hält. Sein Einfluß ist jedoch noch nicht gebrochen. Unter großen Schwierigkeiten pflegt er Kontakte über Briefe und Besucher. Um diese Kontakte zu unterbinden, wird Karlstadts Asyl zunehmend zu einem Hausarrest gestaltet. Ein abgefangener Brief an -»Schwenckfeld offenbart seine unveränderten Überzeugungen in der Abendmahlsfrage. Die Forderung, öffentlich gegen ->Zwingli zu schreiben, lehnt er ab. Anfang 1529 entzieht er sich der drohenden Gefangensetzung durch Flucht. 1.5. Der reformierte Reformator (1529—1541). Karlstadt zieht zunächst nach Kiel. Dahin hatte ihn mittlerweile Melchior -»Hoffman gerufen zur Unterstützung auf der bevorstehenden Flensburger Disputation über das Abendmahl (April 1529). Doch wird Karlstadts Teilnahme verhindert. Den Bericht über die Disputation verfassen beide gemeinsam. Nach seiner Ausweisung aus Kiel (April 1529) und einem anschließenden Wanderpredigerdasein in Ostfriesland findet er etwa von August 1529 bis Januar 1530 bei dem Ritter Ulrich von Dornum Gelegenheit zu einem vorübergehend aussichtsreichen, von den Lutheranern aber unterdrückten reformatorischen Wirken im Gebiet um Oldersum südlich von Emden. Nach der Flucht aus Oldersum kommt Karlstadt auf Stellensuche über Straßburg und Basel nach Zürich, wo er mit Zwingiis Hilfe Diakon am Großmünster und Spitalseelsorger wird. In einer Vorrede (10.12.1530) zu Leo Juds Ausgabe von Zwingiis Philipperbriefvorlesung identifiziert sich Karlstadt vor der Öffentlichkeit mit der Zürcher Reformation. Etwa im August 1531 wird er als Verweser auf die Pfarrei nach Altstätten im Rheintal geholt. Doch kehrt er im Januar 1532 angesichts der Folgen der Schlacht von Kappel auf die alte Stelle nach Zürich zurück und betätigt sich in der Folgezeit neben seiner Predigttätigkeit als Lehrer an der Zürcher Prophezei. Die Auseinandersetzung mit den Wittenbergern beschäftigt Karlstadt in jenen Jahren auch literarisch weiter. Anfang 1530 hat er eine Entgegnung auf Melanchthons Sententiae veterum aliquot scriptorum de coena domini verfaßt, verzichtet jedoch auf die Veröffentlichung zugunsten einer Entgegnung ->Oekolampads. Eine im Juni 1532 fertige Antwort auf Luthers Sendschreiben an Albrecht von Preußen, in dem Luther Müntzers, Karlstadts und Zwingiis Schicksal als Strafe Gottes gedeutet hatte, läßt er auf Betreiben des Simon Grynäus in Basel ungedruckt. Ähnlich geht es mit einigen gegen Luther gerichteten Schriften über das Abendmahl, die Ende 1533 vorliegen. Im Zögern gegenüber einer Publikation dieser polemischen Schriften kündigt sich bereits der langsame Anschluß Karlstadts an die Vermittlungsbemühungen -»Bucers und an das stärkere Harmoniebedürfnis der Basier Kollegen an. In dieses Bemühen wird Karlstadt noch stärker eingebunden, nachdem er im Juni 1534 in Basel Professor des Alten Testaments und Pfarrer an St. Peter geworden ist. Die -*Wittenberger Konkordie, über die er sich als Mitglied einer Basler Delegation im Juli 1536 mit Bucer in Straßburg bespricht, hat er unterstützt. In Basel fällt ihm die Aufgabe zu, zusammen mit dem ihm befreundeten Juristen Bonifazius Amerbach die Universitätsreform durchzuführen, wobei er sogar einem Auftrag des Rats gemäß die Wiedereinführung der Promotionen und Disputationen in der theologischen Fakultät gegen den Widerstand seiner Kollegen durchsetzt. Er selbst gibt im Januar 1535 das Vorbild mit einer großen Antrittsdisputation, für die er in Thesenform (Axiomata disputationis) eine systematische Kurzdarstellung seiner Theologie verfaßt. Stärker denn je kommen nun seine humanistischen Interessen zur Entfaltung, verbunden mit einer Hochschätzung der Geschichts- und Naturwissenschaften, deren Kenntnis ihm eine unverzichtbare Voraussetzung für das Schriftverständnis ist. Entsprechend universal ist Karlstadts Lehrtätigkeit gestaltet: In Verbindung mit seinen exegetischen Vorlesungen unterrichtet er Hebräisch; er führt in die Dichtkunst ein, liest wieder über das weltliche Recht als auch über medizinische Gegenstände. Möglicherweise hätte ihm sein letztes geplantes Werk, eine alphabetische theologische Enzyklopädie (Loci communes sacrae scripturae),

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die Möglichkeit geboten, die vielfältigen Einflüsse, die er im L a u f seines Lebens rezipierte, in einem pansophischen Theologieverständnis zu integrieren. Da Karlstadt am 2 4 . 1 2 . 1 5 4 1 durch die Pest aus seinen Plänen gerissen wird, ist von dem letzten Werk nur das erste Stichwort abnegatio (Gelassenheit) auf uns g e k o m m e n . 2. Übergreifende

Aspekte

der Theologie

Karlstadts

Die Tatsache, daß Karlstadt auffallend häufig einmal vertretene Auffassungen wieder umstößt, hat ihm das Etikett der Sprunghaftigkeit eingebracht. Bei näherem Zusehen erkennt man übergreifende systematische Strukturen seines Denkens. Dies soll hier e x e m plarisch an Karlstadts Verständnis von imago und imago dei gezeigt werden. Karlstadt bekämpft die äußeren -»Bilder nicht deswegen, weil sie ihm nichts bedeuten, sondern wegen der hohen Realität, die er den inneren Bildern zumißt. Zwischen inneren und äußeren Bildern besteht ein dialektisches Verhältnis. Zum einen korrespondieren den inneren Bildern die äußeren Bilder als deren Zeichen. Zum anderen wirken die von außen kommenden Bilder auf die Seele des Menschen und gewinnen dort ihre eigentliche Realität. Das Bild hat dementsprechend eine starke pädagogische Wirkung, die Karlstadt sowohl 1519 das Bildflugblatt als Propagandamittel einsetzen als auch die als „Bücher der Laien" verstandenen Heiligenbilder verwerfen läßt. Die Bilderbeseitigung ist eine Hilfe bei dem wichtigeren und schwierigeren Lassen der inneren Bilder, die das darunter liegende —»-Bild Gottes verdecken. Bereits 1507 formuliert der philosophische Realist im Rahmen eines Analogieschlusses zum Erweis der Realität der Begriffe (secundae intentiones): „In creatura est imago et similitudo dei deum repraesentans...". Der Neuplatonismus der italienischen Renaissance, den Karlstadt über Pico und —•Reuchlin rezipierte, war geeignet, diesen Ansatz zu verstärken, und bei Augustin konnte Karlstadt seine Auffassung von der Gottebenbildlichkeit als dem Menschen einwohnender Gottesoffenbarung bestätigt sehen. Dieselben Argumente, die Karlstadt bereits in den Randbemerkungen zu Tauler für die Forderung nach „Entbildung" des „Grundes der Seele" von den darüber liegenden inneren Bildern notiert, tauchen später im Kampf gegen die äußeren religiösen Bilder wieder auf. Während seiner Schweizer Periode, in der sich Karlstadt intensiv mit der Gottebenbildlichkeit beschäftigt hat, machte er jene Gedanken in den Axiomata disputationis (1535) zum Zentrum seines theologischen Systems: Die Gottebenbildlichkeit, identifiziert mit dem mystischen Seelenfünklein, ist auch nach dem Fall nur beeinträchtigt, nicht zerstört. Sie ist - ähnlich wie die präexistente Erkenntnis, von der Karlstadt 1507 redet - Ursprung aller Wissenschaften, insbesondere ist in ihr und damit im Menschen der Wille Gottes niedergelegt; daher entspringen alle Gesetze und Rechte der imago dei. -»Sünde ist Gesetzlosigkeit und damit Entzweiung des Menschen mit seinem göttlichen Kern (ingenium deitatis). Die erste -»Rechtfertigung ist die Wiederherstellung der imago dei als imago Christi. Die zweite Rechtfertigung, die Heiligung, ist die Entfaltung der ins Herz geschriebenen imago bonae legis. Diese Entfaltung bedarf der Gelassenheit, die das Loslassen von äußeren und inneren Bildern zugleich bedeutet. Erst wenn Übereinstimmung mit dem Bild Gottes in der Tiefe der Seele erreicht ist, ist der Mensch in Übereinstimmung mit seinem wahren Wesen, wo „himmlische Ungelassenheit" (1523) allem Lassen ein Ende setzt. 3.

Nachwirkung

M i t etwa 7 5 bis 80 gedruckten reformatorischen Schriften in etwa 2 0 0 Ausgaben hat Karlstadt seine Zeitgenossen erreicht. D a ß er von Wittenberg nach Basel auf die Anfänge der verschiedensten reformatorischen Gruppen — Lutheraner, - » T ä u f e r , Spiritualisten und Schweizer R e f o r m a t o r e n - einwirkte, hat ihm einerseits einen breiten geistigen Einfluß verschafft, andererseits w a r ihm gerade wegen seines Frontwechsels im Endergebnis eine bleibende kirchenbildende Wirkung versagt. Nachhaltige Folgen für den Gesamtverlauf der Reformation hatte Karlstadts Kampf gegen die Bilder und gegen Luthers Abendmahlslehre. Die Bilderbeseitigung wurde alsbald ein äußeres Kennzeichen städtischer R e f o r m a t i o n , und dies auch in vielen Städten mit einem mehr lutherischen Reformationstyp. Die Abendmahlskontroverse mit Luther bekam über die Aufnahme und Weiterführung durch Zwingli eine kirchentrennende Dimension. Die Bewegung der zeitweise als Karlstadtianer bezeichneten Schüler und Anhänger Karlstadts hatte in den zwanziger J a h r e n nach 1523 ihren Höhepunkt. Die räumlichen Schwerpunkte von Karlstadts Einfluß lagen in Thüringen, Franken und in oberdeutschen Städten; sein Einfluß m a c h t e sich zeitweilig aber von Reval bis Ostfriesland und von Holstein bis T i r o l bemerkbar. In sozialer Hinsicht setzte sich die Anhängerschaft einer-

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seits entsprechend seiner eigenen sozialen Herkunft zunächst aus dem städtischen Besitzund Bildungsbürgertum zusammen, andererseits sprach er seit Orlamünde gezielt auch Handwerker- und Bauernkreise an, denen er sich als „neuer Lai" oder „Bruder Andres" als Identifikationsfigur anbot. Karlstadts zumindest äußere Anpassung an die konfessionelle Linie der Schweizer Städte beraubte die radikalen Karlstadtianer ihres Vorbilds, und für die Täufer war er mit diesem Schritt als möglicher Koalitionspartner ausgeschieden. Doch hatte sich die Visitation besonders in Thüringen noch in den dreißiger Jahren mit Karlstadtianern auseinanderzusetzen, und spätere polemische Schriften des Luthertums deuten darauf hin, daß diese erst nach Jahrzehnten von der Bildfläche verschwanden. Aber auch bedeutende Spiritualisten jener Zeit (->Hoffman, ->Denck, -»Franck, Schwenckfeld [—• Schwenckfeld/Schwenckfelder]) rezipierten karlstadtisches Gedankengut, vor allem aus seinen stärker mystisch geprägten Schriften der Jahre 1523-25, und vermittelten es in vielfältiger Weise weiter. Viele Anhänger Karlstadts scheinen den Weg der äußeren Anpassung und - das gilt teilweise auch für Karlstadt - inneren Emigration gegangen zu sein. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß Karlstadts aus dem Priestertum aller Gläubigen abgeleitete Praxis der bibellesenden Hausgemeinde mit dem Hausvater als geistlicher Autorität ein heimliches Überleben karlstadtischen Geistes, verbunden mit dem Erbe anderer reformatorischer Dissidenten, begünstigte. Es gibt Anzeichen, daß Karlstadts Schriften in lutherischen Territorien im Geheimen weiterhin gelesen wurden. Seit Anfang des 17. Jh. (1618) taucht seine Schrift Was gesagt ist: Sich gelassen unter den Werken Valentin Weigels auf, und gleichzeitig wird ein weiterer Traktat {Von Manigfaltigkeit des einfältigen einigen Willens Gottes) ohne Nennung des Autors zur Lektüre empfohlen. Achtzig Jahre später erfährt Karlstadt eine Rehabilitation im frühen -»Pietismus. Er wird hier geschätzt und gelesen. Gottfried -> Arnolds (1699) Würdigung Karlstadts als eines wahren Gottsuchers löst eine heftige Kontroverse aus, die auf orthodoxer Seite von Valentin Ernst Löscher angeführt wird. In dieser Kontroverse wiederholt sich der Streit zwischen Luther und Karlstadt, der selbst Anfang des 20. Jh. in der Auseinandersetzung um den historischen Karlstadt zwischen Hermann Barge (1905) als Karlstadtforscher und Karl -+ Müller (1907) als Lutherforscher eine Neuauflage erlebt. Erich Hertzsch (1932) hat durch einen systematischen Vergleich die sachliche Nähe zwischen Karlstadt und dem Pietismus herausgestellt. Quellen Die bekannten Quellen zur Biographie (s. u. Lit.: Barge; Karlstadt FS 1980) werden ergänzt durch ein Gedenkblatt, das aus Anlaß von Karlstadts Tod erschien: REVERENDVS IN CHRISTO D. ANdreas Botenstein Carolstadius, obijt . . ) anno aetatis suaequinquagesimoquinto , Basel o. J. [1541/42] (Einblattdruck; Stadt- u. UB. Bern: Hospinian 7). Das Blatt, aus dem sich das bislang unbekannte Geburtsjahr 1486 ergibt, enthält ein Portrait Karlstadts sowie Gedichte Heinrich Pantaleons u. Adam Bodensteins. Handschriftenproben: lat.: Liber decanorum. Das Dekanatsbuch der theol. Fakultät zu Wittenberg, Halle 1923, Bl. 2 1 " - 2 2 v u. ö. (spätgotische Kursive mit humanistischen Elementen); dt.: Georg Mentz, Hss. der Reformationszeit, Bonn 1912 (Tabulae in usum scholarum 5), Taf. 13 a (spätgotische Kursive); Karlstadt FS 1980, 46f (Kanzleischrift). Ein unvollständiges Verzeichnis der Karlstadtdrucke bieten Erich Freys/Hermann Barge, Verz. der gedr. Sehr, des Andreas Bodenstein v. Karlstadt: ZfB 21 (1904) 1 5 3 - 1 5 9 . 2 0 9 - 2 4 3 . 3 0 5 - 3 3 1 (Nachdr. Nieuwkoop 1965). - Alle bekannten Exemplare von Karlstadts Komm, zu Augustins De spiritu et littera (Freys/Barge Nr. 12) enthalten Nachschr. aus Karlstadts Vorl. (UB Clausthal-Zellerfeld, Calvörsche Bibl.: 5 an A211; LB Dessau: Georg. 1049a (4); National Library Edinburgh: Bibliotheca Lindesiana; UB Heidelberg: Sal. 78,2; Kgl. Bibl. Kopenhagen: 21.-245.-4°; Sutro Library San Francisco, California: 093.A92 v. Sutro, Nr. 9). - Die Epitome... De impij iustificatione, Leipzig 1519 (Freys/Barge Nr. 13) ist ein für Vorlesungszwecke hergestellter Druck. Karlstadts Arbeitsexemplar befindet sich in der UB München: 4° Theol. 5464,4, ein Exemplar mit studentischer Nachschr. in der UB Oslo: Lib. rar. 722. - Der Einblattholzschnitt „Himmel- u. Höllenwagen" v. Lukas Cranach d.Ä. mit Texten Karlstadts erschien in Leipzig bei Melchior Lotter d.Ä. 1519 in lat. u. dt. Fassung. Ein Fragment der lat. Ausg. ist abgebildet: Kunst der Reformationszeit, Berlin 1983, 356; die dt.

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Karlstadt

Ausg. bei M a x Geisberg, Der dt. Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des 16. Jh., München 1923-30, M a p p e XIII Nr. 13. - Loci tres . . . Tribulationis, Praedestinationis, & Orationis Theologici. Presbyteri Hallenses rogantur, vt veniarum suarum rationem e d a n t . . . , [Wittenberg: Nikolaus Schirlentz 1521] (nur Frgm., Bogen A - B , erhalten in Kirchenbibl. Eisleben: 221", entdeckt v. Oberkirchenrat Dr. Konrad von Rabenau, Berlin). Während die im Titel des vorgenannten Fragments angekündigte Schrift gegen den Ablaß in Halle verloren ist, stammt von Karlstadt eine dt. Schrift zum selben Thema, publiziert unter dem Pseudonym Lignacius Stürll: Gloße/ Des Hochgelarten/ yrleuchten/ Andechtigen/ vn Barmhertzigen/ ABLAS Der tzu Hall in Sachsen/ mit wunn vn freude außgeruffen [Wittenberg: Nikolaus Schirlentz 1521]. - Dyalogus. Von Frembdem glauben. Glauben der kirchen. Tauff der kinnder. Jetzundt new außgangen [Worms: Peter Schöffer d. J.] 1527. Editionen: Ernst Kahler, Karlstadt u. Augustin. Der Komm, des Andreas Bodenstein v. Karlstadt zu Augustins Sehr. De spiritu et litera [1517-1519], 1952 ( H M 19). - Der authentische Text der Leipziger Disputation (1519), hg. v. Otto Seitz, Berlin 1903. - Franziskanerdisputation 3./4.10.1519: WA 59, 688-691. - De canonicis scripturis libellus 1520: Karl August Credner, Z u r Gesch. des Kanons, Halle 1847, 291-414. - Appellation zu dem allerheyligisten gemeynen Concilio 1520: Bubenheimer, Consonantia (s.u. Lit.), 292-300. - Von abtuhung der Bylder/ Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll, 1522, hg. v. H a n s Lietzmann, 1911 (KIT 74); außerdem: Dt. Flugschr. zur Reformation (1520-1525), hg. v. Karl Simon, Stuttgart 1980 (Universal-Bibliothek 9995 [5]), 227-279. - Karlstadts Sehr, aus den Jahren 1523 - 25, ausgew. u. hg. v. Erich Hertzsch, 2 Bde., Halle 1956-1957 (Neudr. dt. Literaturwerke des 16. u. 17. Jh. 325). - Wes sich Doctor Andreas Bodenstein von Karlstadt mit Doctor Martino Luther beredet zu Jena 1524: WA 15, 323-347. - Erklärung wie Karlstadt seine Lehre von dem hochwürdigen Sakrament und andere achtet und geachtet haben will 1525: WA 18, 446-466. Von den Predigten ist nur wenig erschlossen. Gedruckte Predigten bei Freys/Barge (s.o. Karlstadtdrucke) Nr. 76.93.95.122.155. - Ferner: Sermon am Lichtmeßtag (2.2.) 1518: UnNachr 1703, 119-125. - Predigt am Michaelistag (29.9.) 1522: Ratsschulbibl. Zwickau: Msc. St. Roth Fase. KKKK I, X I V 7 ' - X V 2 r (entdeckt v. Hans-Peter Hasse, Dresden). - Auszug aus einer Zürcher Predigt bei Emil Egli: Aus Carlstadts Predigten in Zürich: Zwing. 1 (1897-1904) 9 4 - 9 6 . - Calvin Augustine Pater, Karlstadts Zürcher Abschiedspredigt über die Menschwerdung Christi [Juni 1534]: Zwing. 14 (1974) 1 - 1 6 . Die Thesenreihen sind zusammengestellt bei Barge (s.u. Lit.) I, 472-497. Davon ist Nr. 16 als nicht Karlstadt zugehörig zu streichen. - Ergänzungen: 13 Thesen Giovanni Pico della Mirandolas, v. Karlstadt 1517 in Wittenberg zur Disputation gestellt: Herzog August Bibl. Wolfenbüttel: Li 5530 (35, 585), Bl. 11'"". — De Christi incarnatione et humani generis reparatione, 13 Thesen vom 26.8.1519: WA 6, 26f u. Ernst Kahler, Nicht Luther, sondern Karlstadt: ZKG 82 (1971) 351-360. In locum Pauli ii. Corinth. epistolae ca. iii., 26 Thesen zur Lizentiatenpromotion Johannes Briesmanns vom 31.10.1521: Herzog August Bibl. Wolfenbüttel: Li 5530 (35,585), Bl. 5 r - 6 r . - De iubilaeo et anno remissionis, 10 Thesen ca. Januar 1522: Bubenheimer, Scandalum (s.u. Lit.), 333f. - 34 Thesen zur Lizentiatenpromotion Gottschalk Gröps vom 28.11.1522: Theodor Kolde, Wittenberger Disputationsthesen aus den Jahren 1516-1522: ZKG 11 (1889) 460-462. - Basler Thesenreihen 1535-40: Freys/Barge (s.o. Karlstadtdrucke) Nr. 153.154.156. Karlstadts Handexemplar von N r . 154 ( T h e m a t a . . . , Basel 1538) befindet sich in der UB Basel: LD H III 8 N r . 4 . Randbemerkungen: Zu Petrus Lombardus: Textus Sententiarum, Basel 1507, ULB Halle: Jg. 189, 2. Ex. (erworben 1508). - Z u Johannes Tauler: Sermones, Augsburg 1508, Predigerseminar Wittenberg: 2° H T h &91 (erworben 1517). Der Briefwechsel Karlstadts ist verstreut ediert. Teilsammlungen u.a.: Johann Gottfried Olearius, Scrinium antiquarium, Halle 1671, 1 - 8 5 . 1 8 1 - 1 9 9 ; Barge (s.u. Lit.) II, 544f.580-610; Heinrich Bullinger, Briefwechsel, Zürich 1973ff, Iff (s. Reg.). - Karlstadt an Hektor Pömer, Wittenberg 27.3.1522: Stadtbibl. Nürnberg: Autogr. 239. Literatur Hermann Barge, Andreas Bodenstein v. Karlstadt, 2 Bde., Leipzig 1905. - Ulrich Bubenheimer, Scandalum et ius divinum. Theol. u. rechtstheol. Probleme der ersten reformatorischen Innovationen in Wittenberg 1521/22: ZSRG.K 59 = 90 (1973) 263-342. - Ders., Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. 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Karmel

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graphie: Amtsblatt der Ev.-luth. Kirche in Thüringen 40 (1987) 6 0 - 6 2 . 6 5 - 6 8 . - Ders., Streit um das Bischofsamt in der Wittenberger Reformation 1521/22. Von der Auseinandersetzung mit den Bischöfen um Priesterehen u. den Ablaß in Halle zum Modell des ev. Gemeindebischofs, T. 1: ZSRG.K 73 = 104 (1987) 155 - 209. - Klaus Deppermann, Melchior Hoffman, Göttingen 1979. - Erich Hertzsch, Karlstadt u. seine Bedeutung für das Luthertum, Gotha 1932. - Siegfried Hoyer, Karlstadt - Verfasser der Flugschrift „An die Versammlung gemeiner Bauernschaft"?: Z G W 35 (1987) 1 2 8 - 1 3 7 . - Denis R. Janz, Luther and Late Medieval Thomism, Waterloo 1983,111 - 1 2 2 . - Volkmar Joestel, Wo wohnte Andreas Bodenstein in Wittenberg? Zu seinem 500. Geburtstag 1986: Schriftenr. der Staatl. Lutherhalle Wittenberg 3 (1987) 4 8 - 5 1 . - Andreas Bodenstein v. Karlstadt 1480-1541. FS der Stadt Karlstadt zum Jubiläumsjahr 1980, Karlstadt 1980. - Friedel Kriechbaum, Grundzüge der Theol. Karlstadts, 1967 (ThF 43). - Carter Lindberg, The Concept of the Eucharist According to Erasmus and Karlstadt: Les dissidents du XVI e siècle entre l'humanisme et le catholicisme, hg. v. Marc Lienhard, Baden-Baden 1983 (Bibliotheca dissidentium scripta et studia 1) 7 8 - 9 4 . - Sigrid Looß, Zu einigen Aspekten des Verhältnisses zw. Luther u. Karlstadt, vorwiegend darg. an Karlstadts Straßburgaufenthalt im Oktober 1524: Martin Luther. Leistung u. Erbe, Berlin 1986, 1 4 2 - 1 4 7 . - Karl Müller, Luther u. Karlstadt, Tübingen 1907. - Calvin Augustine Pater, Krit. Stellungnahme zu Luthers Karlstadt-Bild: ökumen. Erschließung Martin Luthers, Paderborn 1983, 2 5 0 - 2 5 8 . - Ders., Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. The Emergence of Lay Protestantism, Toronto 1984. - Ders., Lay Religion in the Program of Andreas Rudolff Bodenstein von Karlstadt: Leaders of the Reformation, London 1984, 9 9 - 1 3 3 . — Christian Peters, An die Versammlung gemeiner Bauernschaft (1525). Ein Vorschlag zur Verfasserfrage: ZBKG 54 (1985) 1 5 - 2 8 . James S. Preus, Carlstadt's Ordinaciones and Luther's Liberty. A Study of the Wittenberg Movement 1 5 2 1 - 2 2 , 1974 (HThS 26). - Ortwin Rudioff, Bonae litterae et Lutherus. Texte u. Unters, zu den Anfängen der Theol. des Bremer Reformators Jakob Propst, 1985 (HosEc 14). - Hans Peter Rüger, Karlstadt als Hebraist an der Univ. zu Wittenberg: ARG 75 (1984) 2 9 7 - 3 0 8 . - Ronald J . Sider, Andreas Bodenstein v. Karlstadt. The Development of His Thought 1 5 1 7 - 1 5 2 5 , 1 9 7 4 ( S M R T 11). - Heribert Smolinsky, Reformation u. Bildersturm. Hieronymus Emsers Sehr, gegen Karlstadt über die Bilderverehrung: Reformatio ecclesiae. FG Erwin Iserloh, Paderborn 1980, 4 2 7 - 4 4 0 . Wolfgang Trappe, Zw. Reformation u. Revolution - Karlstadt 1523/24: WZ(J). GS 32 (1983) 1 0 1 - 1 1 0 . - Alejandro Zorzin, Karlstadts ,Dialogus vom Tauff der Kinder' in einem anonymen Wormser Druck aus dem Jahr 1527. Ein Beitr. zur Karlstadtbibliogr.: ARG 79 (1988) 4 5 - 7 5 . Ulrich Bubenheimer

Karmel Der hebräische Begriff karmcel bedeutet ,Wald' (II R e g 1 9 , 2 3 / / J e s 3 7 , 2 4 ; Jes 1 0 , 1 8 ) , ,Obstbaumpflanzung' (Jes 2 9 , 1 7 ; 3 2 , 1 5 f; J e r 2 , 7 ; 4 , 2 6 ; M i 7 , 1 4 ) oder ,Weingarten' (Jes 1 6 , 1 0 ; Jer 4 8 , 3 3 ) . Entsprechende M e r k m a l e trägt der Karmel genannte Bergrücken, der von Haifa aus ca. 2 0 km in fast nordsüdlicher Richtung verläuft (arab. dschebel karmal oder dschebel mär 'eljäs [Berg des H e r r n Elia]). Im Alten Testament wird die üppige Vegetation des Karmel gepriesen (Jes 3 5 , 2 ; C a n t 7 , 6 ) , die den Vergleich mit L i b a n o n und Basan gestattet (Jes 3 3 , 9 ; J e r 5 0 , 1 9 ; N a h 1,4). Jer 4 6 , 1 8 setzt ihn in Parallele zum - > T a b o r , wohl wegen seiner isoliert zwischen Mittelmeer im N o r d e n , Kison- und Jesreelebene im Osten und Saronebene im Westen bis 5 5 2 m aufragenden H ö h e . Verfolgte fanden im Dickicht der Gipfel (Am 9,3) oder in den vielen Höhlen Zuflucht. Die Tradition kennt zwei Elia-Höhlen. Unsicher ist die E r w ä h n u n g des Karmel unter anderen N a m e n in ägyptischen Inschriften des 3. und 2. J t . ( A N E T 2 2 8 . 2 3 4 f ) . Ungewiß ist auch seine Zugehörigkeit zum Gebiet des Stammes Asser. J o s 1 9 , 2 6 nennt ihn nur als dessen Westgrenze. Immerhin scheint die N o t i z I Reg 1 8 , 3 0 b über die Wiederherstellung des zerstörten J a h w e a l t a r s auf d e m Karmel durch —»Elia vorauszusetzen, daß er vordem schon einmal zu Israel gehört hat, zwischenzeitlich im Besitz der benachbarten Phöniker w a r und unter A h a b wieder an Israel gelangte. Der Karmel w a r ein alter Götterberg. D a s Alte Testament bezeugt die Verehrung eines Baal auf dem Karmel für das 9. J h . v. C h r . M i t seinem Kultpersonal setzt sich Elia im Bemühen um die Restitution der Kulthoheit J a h w e s über das Karmel-Heiligtum auseinander (I R e g 1 8 , 1 9 - 4 0 ) . In der Küstenbeschreibung des Pseudo-Skylax ( 5 . / 4 . J h . v. Chr.)

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Karmeliter

begegnet der Karmel als „Heiliger Berg des Z e u s " (C. Müller, Geographi Graeci Minores I, Paris 1855, 79). Für den Anfang des 2. J h . n. Chr. bezeugen Tacitus (Historiae II, 78,3) und Sueton (De vita Caesarum VIII,5) die Verehrung des „Gottes Karmel". Einem „Zeus Heliopoleites Karmelos" ist ein im Museum des Eliasklosters befindlicher monumentaler Marmorfuß geweiht (ca. 200 n. Chr.). In dieser Zeit galt also der Gott Karmel als Erscheinungsform des Zeus von Heliopolis/Baalbek. Der Kult des Gottes Karmel hielt sich bis ins 5. J h . n. Chr. Die tempellose Kultstätte, den Schauplatz von I Reg 18, sucht die Tradition auf el-muhraka [Verbrennungsplatz] im Süden des Karmel (514 m). Wahrscheinlicher ist ein Standort an seiner Nordspitze beim Eliaskloster (170 m). Durch die Aufdeckung von Kulturresten und Bestattungen aus dem Mittleren und Jüngeren Paläolithikum in den Höhlen (besonders im wädi el-mughara [Tal der Höhlen]) seit 1928 hat der Karmel große Bedeutung für die Vorgeschichtsforschung gewonnen. Literatur Albrecht Alt, Das Gottesurteil auf dem Karmel: FS G. Beer, Stuttgart 1935, 1 - 1 8 = ders., KS II, München 3 1964, 135-149. - M. Avi-Yonah, Mount Carmel and the God of Baalbek: IEJ 2 (1952) 118-124. - Otto Eißfeldt, Der Gott Karmel, 1953 (SDAW.S 1953,1). - Kurt Galling, Der Gott Karmel u. die Ächtung der fremden Götter: Gesch. u. AT.FS A. Alt, Tübingen 1953, 105-125. - Dorothy A. E. Garrod/D. M. A. Bate u. T. McCown/A. Keith, The Stone Age of Mount Carmel at the Wady elMughara, 2 Bde., London 1937/1939. - Harold'Henry Rowley, Elijah on Mount Carmel: BJRL 43 (1960/1961) 190-219 = ders., Men of God. Studies in O T History and Prophecy, London/Edinburgh/Paris 1963, 37-65. Karl-Heinz Bernhardt

Karmeliter (Ordo Fratrum B.M.V. Carmelitarum Discalceatorum

de Monte [OCD])

Carmelo

[OCarm],

bzw.

Ordo

Fratrum

(Quellen/Literatur S. 662) Die Ursprünge der Karmeliter liegen im Dunkel. Sie dürften in Anwendung der Erkenntnisse von Herbert Grundmann (Grundmann 5 - 1 3 5 ) in jener religiösen Unrast des 12. J h . gründen, die für Kreuzzugsbegeisterung, Reformorden und frühe Ketzer gleichermaßen charakteristisch war. Die Alternative der neuen Orden stand in Spannung zu einer besitzenden, immer mächtiger werdenden Großkirche, die sie auch im herkömmlichen zönobitischen Feudalmönchtum verkörpert sahen. Von daher rührte u.a. eine Rückkehr zur eremitischen Tradition fast gleichzeitig zu den Gregorianischen Reformen. (In der Toscana Vallombrosa und Camaldoli, in Frankreich Molesme und Citeaux [-»Zisterzienser] und jene Eremitenkolonien in den savoyischen Alpen, die man später —»Kartäuser nannte.) Die ersten Karmeliter waren sowohl den Eremiten von Camaldoli als auch den kalabrischen „Kartäusern" verwandt (Knowles I, 196). Sie wurden von Berthold von Kalabrien (gest. 1195) als dem ersten namentlich bekannten Prior geleitet. Als der Augustiner Albert von Vercelli, Patriarch von Jerusalem, ihnen im Karmel-Gebirge um 1209 ihre erste Regel gab, verpflichtete er sie zu einem streng eremitischen Leben: „Jeder bleibe in seiner Zelle, Tag und Nacht, das Gesetz des Herrn betrachtend und im Gebet wachend". Die Lebensform änderte sich später, das ursprüngliche Ideal blieb als „ M e t a p h e r " (Frank 104) Ansporn für immer neue kontemplative Versuche und Reformen. Die Einzelzelle sollte den Vorrang vor dem Officium der liturgischen Gemeinschaft haben. Das Leben in der „ W ü s t e " war durch eine, wie man annahm, schon vorchristliche Tradition geheiligt, und das zurückgezogene Leben an den „Brunnen des Elias" von daher in seinem Sinn unbestritten. Neben dieser eremitischen Tradition zeichnete sich die Geschichte der Karmeliter durch ein zweites Charakteristikum aus, nämlich die ideelle Anknüpfung an die alttestamentliche Vorgabe der Prophetenschulen. -»Elia und -»Elisa wurden als Gründer und Ordensheilige verehrt und der —»Karmel zum biblisch geheilig-

Karmeliter

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ten und von den Kirchenvätern (Gregor von Nazianz: PG 21,599; Hieronymus: PL 22,583.1076; Augustinus: PL 40,1306; Cassiodor: PL 69,897; vgl. Mesters, Karmeliten 1366 f) gepriesenen heiligen Mönchsberg. Das Bedürfnis nach legendärer Aitiologie, um die im Lauf der Ordensgeschichte heftige Streitigkeiten entbrannten, stieg (vergleichbar den -»Augustiner Eremiten) mit den Schwierigkeiten, sich angesichts der berühmteren -»Franziskaner und —»Dominikaner gegen nicht immer wohlwollende Bischöfe durchzusetzen (Knowles 195 f). Die geistliche Motivation, die Jüngernachfolge des Neuen Testaments (-»Nachfolge Jesu) schon bei den Propheten des Alten Testaments gründen zu lassen, war theologisch durchaus möglich. Die Argumente für eine urchristliche wie vorchristliche Kontinuität der Mönchskolonie (z. B. McCaffrey 14-24) sind zwar einsichtig zu machen, aber nicht belegbar. Drittens ist für die Karmeliter eine weitere Eigentümlichkeit zu nennen, nämlich die Beziehung der Ordensgründung zu den heiligen Stätten. Der schon von den irischen Mönchen propagierte Gedanke der Peregrinatio wurde hier zu Sinnbild und Wirklichkeit. Die Karmeliter wurden zu Pilgern, die sich an den heiligen Stätten niederließen. Das dauerte im wesentlichen von der Mitte des 12. Jh. bis um 1240, da sich die Mönche wegen der Sarazenengefahr wieder nach Europa zurückzogen. In der Person Bertholds von Kalabrien, der aus französischem Kreuzzugsadel stammte, verbanden sich Klosterleben und Kreuzzugsbegeisterung seines Jahrhunderts. In diesem Sinne kann man auch seinen Orden aus ähnlichen Gründen wie die Geistlichen -»Ritterorden als Kreuzzugsorden bezeichnen. Die Idee der (oft kämpferischen) Pilgerfahrt ließ sich unschwer mit der Übung, sich Jesus an den heiligen Stätten kontemplierend vorzustellen, wie Bernhard von Clairvaux in seiner Templerschrift (1132/36) es bereits empfiehlt, in Einklang bringen. Auch spätere Ordensgründer von -»Franziskus bis -»Ignatius von Loyola werden wenigstens eine Zeitlang dieses Verlangen nach der großen Pilgerfahrt verspüren. Charakteristisch für die kirchliche Wirksamkeit des Ordens war eine ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit unter Beibehaltung ältester Traditionen, Ideale und Strukturen. Stärker als etwa das Franziskanertum oder die Gesellschaft Jesu (—>Jesuiten) stand er zunächst in einer vorgeformten Tradition. An Gemeinschaftsübungen gab es nach der ersten Regel vor 1209 nur die tägliche Messe und das wöchentliche Schuldkapitel. Im übrigen hielten sie in strenger Abgeschiedenheit Stillschweigen und —»Fasten unter einem von den Brüdern gewählten Prior (nicht Abt). Diese veränderte Form des Mönchtums ließ sich nach der Rückkehr der meisten Karmeliter um 1240 nach Zypern, Sizilien, Frankreich und England unschwer in die Lebensweise der neuentstandenen Bettelorden, namentlich der Dominikaner, umwandeln. Durch ihre Weise, das Armutsgelübde zu befolgen, waren sie nicht auf Landbesitz angewiesen. Die Stiftung eines Klosters für sie war wesentlich weniger aufwendig als die einer der klassischen Landabteien. Die Mendikanten konnten innerhalb der Ordensprovinz frei versetzt werden, was Mobilität und Bereicherung hinsichtlich des kirchlichen Einsatzes bedeuten konnte. Sie wurden zu den großen Stadtseelsorgern des Mittelalters. Diese Wandlung der Lebensform wurde für die Karmeliter durch eine zweite Regel endgültig verwirklicht. Der englische Generalprior Simon Stock (gest. 1265), der dies betrieben hatte, soll nach der Legende bis zur Ankunft der Ordensbrüder 1237 als Einsiedler in der Höhle eines Baumstammes und als Wanderprediger gelebt haben. Die Erinnerung an die Absonderlichkeit seines heiligen Lebens konnte seine Brüder das Übliche der neuen Regel vergessen lassen: Diese brachte eine Reihe von Erleichterungen hinsichtlich des Fleischverbotes und des Stillschweigens, beinhaltete eine stärkere Betonung des Gemeinschaftslebens (z.B. gemeinsamen Tisch), ermöglichte aber vor allem den Aufenthalt der Mönche in den Städten. Hier gründete die spannungsreiche Verbindung von kontemplativem Ideal und Leben einerseits und Apostolat andererseits, wie sie vor allem im Zeitalter der Weltmission für den Orden charakteristisch wurde. Den von den Ursprüngen her vergleichbaren -»Kartäusern war diese Verbindung von Kontemplation und Apostolat trotz ähnlicher Ansätze im späten Mittelalter nicht beschieden.

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Karmeliter

Die dritte Änderung der Regel wurde nicht 1432, sondern 1434/35 von Eugen IV. gewährt. Der Fleischgenuß wurde dreimal wöchentlich gestattet und Rekreation erlaubt (Heimbucher I, 59). Diese Milderung, die als Zugeständnis für die durch Pest ( 1 3 9 4 - 1 4 0 6 ) und Schisma ( 1 3 7 8 - 1 4 1 7 ) physisch wie moralisch geschwächten Konvente gedacht war, wurde später von den sogenannten unbeschuhten Karmelitern abgelehnt. Anders als viele regional begrenzte Gemeinschaften errang der Karmeliterorden schon im Mittelalter gesamtkirchliche Bedeutung. Seine Klöster gehörten zum Weichbild einer spätmittelalterlichen Stadt. 1348 besaß die deutsche Provinz bereits 35 Niederlassungen: die ältesten in Köln (1249), Würzburg (1250), Boppard (1265), Frankfurt (1270), Bamberg (1273), Augsburg (1274) etc. (vgl. Mesters, Karmeliten 1367). Nach Palästina und Sizilien hatte der Orden unter der Protektion englischer Kreuzfahrer auf den britischen Inseln ein besonderes Gewicht erlangt. Die Karmeliter waren ähnlich wie die übrigen Bettelorden durch ihre Stadtklöster auch an dem akademischen Leben der spätmittelalterlichen -»Universitäten beteiligt. Simon Stock förderte zielstrebig den Anschluß des Ordens an die Studien von Bologna, -•Paris, - » O x f o r d und - » C a m b r i d g e . Die Karmeliter stellten wie die übrigen Bettelorden bis in die Reformationszeit namhafte T h e o l o g e n . W i r finden den Orden immer wieder bei Universitätsneugründungen des späten Mittelalters (Bologna, - » W i e n , - » K ö l n , - » M a i n z , Trier; vgl. Mesters, Karmeliten 1367). Sie stellten vor allem eine gebildete Schicht auch geistlich kompetenter, promovierter Theologen, die sich für den diplomatischen Dienst, für H o f ä m t e r wie auch für Bischofsstühle eigneten (sofern für den Bischofsrang adelige Herkunft nicht erforderlich war). In England spielten sie, wohl auf Veranlassung des königlichen Beichtvaters T h o m a s - » N e t t e r ( 1 3 7 2 - 1 4 3 0 ) , eine entscheidende R o l l e bei der Bekämpfung -»Wyclifs und bei der Unterdrückung des Lollardentums. Wyclif hatte seinerseits die Bettelmönche und deren Seelsorgemethoden heftig angegriffen. Die Karmeliter erlangten durch eine eifrig geförderte Marienfrömmigkeit ( - » M a r i a ) eine große Beliebtheit beim Volk. M a n nannte sie die Liebfrauenbrüder. Durch die Verbreitung des Skapuliers erfaßten sie vor allem im späten Mittelalter unter dem Generalprior Johannes Soreth ( 1 4 5 1 - 1 4 7 1 ) interessierte Laien in einem eifrig gepflegten Bruderschaftswesen (—»Bruderschaften) und in der Dritt-Ordensbewegung (-»Tertiarier), die bis in die Gegenwart Quelle zahlreicher affilierter Kongregationen wurde. Soreth begründete auch den weiblichen Zweig des Ordens, den „ Z w e i t - O r d e n " (1452). Das war vergleichsweise spät, nachdem die Dominikaner schon seit den Tagen ihres Gründers die ihnen angegliederten Frauengemeinschaften betreut hatten. D a s Skapulier, das nach der Legende dem Simon Stock von M a r i a in einer Vision als Gnadenzeichen verliehen worden war (1251 in Cambridge, davon das Skapulierfest am 16. Juli), sollte, in stilisierter Form getragen, den Weltchristen Anteil an der Gebets- und Gnadengemeinschaft der Ordenschristen geben. Von zahlreichen Mitgliedern der Skapulierbruderschaften angenommen und von den meisten anderen Bettelorden (in jeweils rivalisierender Farbe) nachgeahmt, verband sich das Tragen des Skapuliers mit dem Verlangen spätmittelalterlicher Frömmigkeit nach einer guten Sterbestunde und mit dem Streben nach Sicherung des Heils, so daß es zusammen mit der Ablaßfrömmigkeit Gegenstand reformatorischer Kritik im 16. J h . wurde. Als M i t t e des 15. J h . die Regel gemildert und damit auch der Ordenscharakter etwas nivelliert worden war, setzten Reformbewegungen ein, die bis zum Ende des 16. J h . Orden und Gesamtkirche mächtige Impulse verliehen (aber auch 1593 zur Spaltung führten). Im wesentlichen ging es wie in allen Ordensreformen um eine Festigung der Zucht und um die Verwirklichung der dem Karmel eigenen, grundlegenden Beschaulichkeit. Als organisatorisches Mittel der Erneuerung bot sich, so wie in den monastischen Reformen des frühen und hohen Mittelalters, der Zusammenschluß zu Klosterverbänden an. Hier war in Italien die Kongregation von M a n t u a schon vor der Reformation durch hervorragende Prediger tätig. Sie umfaßte um 1600 50 Häuser mit 1000 Mitgliedern. Der Ordens-

Karmeliter

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general Johannes Soreth wirkte, von Lüttich und Moers ausgehend, in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland, parallel zu den Reformbewegungen, die von den Konzilien des 15. Jh. und zahlreichen monastischen Zentren (Windesheim, Bursfelde, Kastl, Melk) ausgingen. Im Zuge der Reformation gingen die sächsische und die böhmische Provinz völlig zugrunde, vier weitere deutsche Provinzen waren erheblich dezimiert. Gleichwohl betätigten sich noch Karmeliter als Kontroverstheologen (etwa bei den Religionsgesprächen, z.B. in Regensburg 1546 der spätere Kölner Weihbischof E. Billick), während sich der Augsburger Prior Johann Frosch mit mehreren Mitbrüdern der Reformation anschloß. Von den italienischen, spanischen und portugiesischen Provinzen ging jedoch eine mächtige Erneuerung aus, die die Zahl der Klöster verdoppelte und in —>Teresa von Avila (1515-1582) und -»Johannes vom Kreuz (1542-1591) Christen und Theologen hervorbrachte, die gesamtkirchliche Bedeutung erlangten. Die neue Reform der „unbeschuhten" Karmeliter (Discalceatorum), Wiedas Volk sie nannte, griff bewußt auf die Regel von 1247 zurück. Dem Verlangen nach einer neuen Observanz, nach verinnerlichter Lebensweise und neuer christlicher Geistigkeit waren bei beiden Reformen tiefgreifende religiöse Erfahrungen vorausgegangen. Der theologisch wie dichterisch genial begabte Johannes meinte zunächst in radikaler Zurückgezogenheit die seiner asketischen Art und seiner mystischen Begabung entsprechende Form zu finden. Die weltoffener geartete Teresa gewann ihn für ihre organisatorischen Pläne. Ihr war in langjähriger Krankheit eine gereifte Gotteserfahrung zuteil geworden, die es ihr ermöglichte, manch mißverstandenen Neuplatonismus innerhalb des Ordens als Irrweg zu erkennen und zu einer vollkommenen H a r m o n i e zwischen Leib und Seele, zwischen Menschlichem und Spirituellem zu gelangen. Teresa konnte auf 28 Jahre Erfahrung im Klosterleben zurückblicken, als sie 1562 S. José in Avila gründete. 1582 zählte man schon 15 Männer- und 17 Frauenklöster.

Dennoch stand die Reform von Anfang an im Zeichen heftigen Widerspruchs, ja der Verdächtigung, Verfolgung und physischer Mißhandlung. Sowohl die Vertreter der alten Observanz wie die Ordensleitung und auch die römische Kurie beargwöhnten zunächst den neuen Geist und die entsprechenden Bestrebungen. Es ist nicht uninteressant, daß eine der stärksten und wohl auch evangeliengemäßesten Kräfte der katholischen Reform, ohne die das katholische —• Barock kaum denkbar wäre, durch die Intervention der spanischen Krone (Philipp II.) gegenüber der Kurie (Gregor XIII.) durchgesetzt wurde. Teresa hatte das Glück, gelegentlich auch einflußreiche Theologen wie den Jesuitengeneral Francesco Borja als Fürsprecher zu haben. Es war nicht nur die Furcht vor dem Neuen, die ihr Gegnerschaft einbrachte, sondern auch das Phänomen der -»Mystik, dem das Lehramt immer reserviert gegenüberstand. 1593 trennten sich die Ordenszweige nach langjährigen Konflikten auch rechtlich, was in der Ordensgeschichte in dieser Schroffheit doch wohl etwas ungewöhnlich war. Beide Zweige entwickelten sich desungeachtet mit großer Vitalität. Der Schlüssel zur Erklärung ihrer inneren Lebenskraft ist zweifellos die mystische Tradition, die Leben und Lehre umfaßte, wie sie Johannes vom Kreuz einzigartig verkörpert hat. Etwas paradox, aber nicht von ungefähr wurden die Karmeliter beider Observanzen zu wichtigen Missionsorden der Neuzeit. Der Andalusier Thomas a Jesu (1564-1627) gehört zu den Begründern der -»Missionswissenschaften. Er war einer der eifrigsten Befürworter der Missionstätigkeit des Ordens und der Gründung der Kardinalskongregation zur Förderung der Missionen (S. Congregatio de Propaganda Fidei, 1622). Die erste Weltpriestergemeinschaft zur Heranbildung von Missionaren, das Pariser Missionsseminar (1620), wurde von Bernhard von der hl. Teresa begründet. Diese Bestrebungen kamen der römischen Kurie entgegen, die aus einer inneren Gesetzmäßigkeit heraus seit dem Trienter Konzil (-»Tridentinum) versuchen mußte, dem staatskirchlichen Missionsmonopol der spanischen und portugiesischen Krone eigene Kräfte entgegenzusetzen durch ein bislang noch nicht ausgeschöpftes Missionarspotential und durch Suche nach Missionsländern, in denen Spanier und Portugiesen noch

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Karmeliter

nicht Fuß gefaßt hatten (Lehmann 37). So übernahmen die Karmeliter in Persien (1600), Malabar (1620), Syrien (1627) und China (1696) Missionen. Die erste gedruckte Sanskritgrammatik stammt von dem niederösterreichischen Indienmissionar Paulinus vom hl. Bartholomäus ( 1 7 4 8 - 1 8 0 3 ) (Heimbucher I, 77ff.83). Theresa von Lisieux ( 1 8 7 3 - 1 8 9 7 ) sagt man eine hervorragende Missionstheologie nach, trotz ihres an äußeren Ereignissen armen Lebens. Beide Observanzen blühten bis zur -»Französischen Revolution und den antiklerikalen Säkularisationsmaßnahmen des 19. Jh. So zählte auch die alte Observanz Mitte des 18. J h . noch 15000 Mitglieder. Trotz der fast völligen Vernichtung des Ordens zu Beginn des 19. J h . erfuhr er in all seinen Zweigen eine beachtliche Wiederbelebung. 1959 zählten die Unbeschuhten ( O C D ) 4111 Mitglieder in 27 Provinzen und 360 Klöstern (Stand vom 3 1 . 1 2 . 1 9 7 7 : 3358 bei etwa gleichbleibender Zahl von Klöstern), die alte Observanz 2528 Mitglieder in 23 Provinzen mit 216 Klöstern. Die Karmelitinnen (OCD) wurden mit 710 Klöstern und 14000 Mitgliedern zum größten kontemplativen Orden der Kirche. Ihre Anziehungskraft blieb auch nach 1965 ungebrochen, als viele Orden einen drastischen Rückgang ihrer Mitglieder zu verzeichnen hatten (Stand vom 3 1 . 1 2 . 1 9 7 7 : 13128 bei 798 Klöstern). Die Karmelitinnen alter Observanz (OCarm) bleiben dagegen mit 4 4 Häusern fast ganz auf den spanischen und italienischen Raum beschränkt. 12 moderne Kongregationen für karitative Klosterfrauen fußen auf der Karmelitenregel und der Tradition des karmelitischen Tertiargedankens (Mesters, Geschichte 137 f). Die Karmeliter tragen den braunen Habit der Bettelmönche mit Skapulier und Kapuze, für feierliche Anlässe einen weißen Mantel. Daher erhielten sie in England die Bezeichnung White Friars. Die mystische Begabung vieler ihrer Mitglieder brachte ein hochstehendes mystisches Schrifttum und entsprechende Erbauungsliteratur hervor. Ihre Heiligen wie Teresa von Avila und Theresa von Lisieux, die Märtyrerinnen von Compiégne und Edith -»Stein wurden maßgeblich für die Gesamtkirche. Mit Theresa von Lisieux endigt möglicherweise der „synergetische Heiligentyp" (Huizinga) des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Sie war eine Verkörperung einer katholischen Konzeption des reformatorischen sola gratia. Quellen Acta Capitulorum Generalium Ordinis Fratrum B. V. Mariae de Monte Carmelo, hg. v. Gabriel Wessels, 2 Bde., Rom 2 1 9 1 4 - 1 9 3 4 . - BuCarm. - Monumenta histórica Carmelitana I, hg. v. Benedikt Zimmermann, Lerins 1905-1907. - Monumenta histórica Carmeli Teresiani, Documenta Primigenia, I (1560-1577), II (1578-1581), ed. Istituto Teresiano, Rom 1973.

Literatur Bibliographien: ABC. - BgCA. Alberto de la Virgen del Carmen, Historia de la Reforma Teresiana (1562-1962), Madrid 1968. Karl Suso Frank, Grundzüge der Gesch. des christl. Mönchtums, Darmstadt 1975. - Herbert Grundmann, Rel. Bewegungen im MA, Darmstadt 3 1970. - Max Heimbucher, Die Orden u. Kongregationen derkath. Kirche, Paderborn, II 3 1 9 6 5 , 5 4 - 9 5 (mit ausführlicher Bibliogr.).-Philipp Hofmeister, Art. Karmeliter u. Karmelitinnen: RGG 3 3 (1959) 1157-1158. - David Knowles, The Religious Orders in England, 2 Bde., Cambridge 1948 7 1979. - Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, Stuttgart 1980 (Christentum u. Gesellschaft 9). - Patrick Romaeus McCaffrey, The White Friars. An outline Carmelite History, Dublin 1926, Paderborn 1929. - Gondulf Mesters, Gesch. des Karmelitenordens, Mainz 1958. - Ders., Art. Karmeliten: LThK 2 5 (1960) 1 3 6 6 - 1 3 7 2 (Lit.). - Henri Peltier, Histoire du Carmel, Paris 1958. - Suitbert H. Siedl, Der Karmel. Skizze zu seiner Gesch. u. Geistigkeit: 300 Jahre Karmeliten in Linz, Linz 1974, 3 - 1 0 . - Joachim Smet, The Carmelites. A History of the Brothers of Our Lady of Mount Carmel, 2 Bde., Darien/Ill. 1975/76. - Ders./Ulrich Dobhan, Die Karmeliter. Eine Gesch. der Brüder U.L. Frau v. Berge Karmel. Von den Anfängen bis zum Konzil v. Trient, Freiburg/Wien/Basel 1981 ( = dt. Ubers, v. Bd. I des vorgenannten Werkes).

Gerhard B. Winkler

Karolingische Renaissance

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Karolingische Renaissance (Literatur S.666) Begriff und zugrundeliegendes Phänomen sind nicht unumstritten, zumal der Begriff Renaissance trotz mancher Kritik auch in jüngster Zeit häufig und gern verwendet wird: „karolingische" Renaissance, „ottonische" Renaissance, „islamische" Renaissance, „Renaissance des 12. J h . " usw., „Renaissances before the Renaissance", aber auch in spezieller Verkürzung: z.B. „karolingische R. der Arbeit" (Riehe, Le Goff). Gemeint ist vor allem eine erstaunliche geistig-kulturelle Blüte im Reich -»Karls des Großen, obwohl mancher diese Phase eher in die Frühzeit Ludwigs des Frommen (814-840), seines Sohnes und Nachfolgers, verlegt. Grundsätzlich verknüpft mit der Bezeichnung „karolingische Renaissance" ist die Bewertung des Gesamtphänomens, das dem Anspruch nach die Bedeutung der „eigentlichen" -»Renaissance erreichen müßte, die seit dem 14. Jh. von Italien aus auf Europa ausstrahlte. Ist das gerechtfertigt? Unstrittig kam es im Karlsreich zu einer reichen kulturellen und geistigen Entfaltung, die Karl d. Gr. selbst wohl eher gefördert als initiiert hat. Fast instinktiv scheint der Herrscher begriffen zu haben, daß seine eigene Herrschaft davon profitieren würde. Karls Biograph Einhard kleidet diesen Sachverhalt in die Worte, Karl habe sein Reich geschützt, vergrößert und zugleich „geschmückt" (talem eum in tuendo et ampliando simulque ornando regno fuisse constat-, c. 18). Ob ornare korrekt mit „schmücken" übersetzbar ist, mag Zweifel hervorrufen. Einhards Urteil bezeugt hingegen den Zusammenhang von Herrschaft und kulturellem Streben, weist auf eine Kulturpolitik Karls, die ihrerseits auf breite Zeitströmungen vertrauen mochte. Zusätzliches Motiv könnte die Erkenntnis des Herrschers gewesen sein, daß relevante Herrschaftsformen sich tunlichst mit kulturellem und geistigem Glanz präsentieren sollten. Ganz auffällig etwa gegenüber der Mitte des 8. Jh. ist das bis 820 anhaltende Aufblühen der Schriftkultur, die sich um zahlreiche Skriptorien an Domkirchen und in Klöstern gruppiert. Neben dem Hofskriptorium werden reichsweit 16 Schriftprovinzen (B. Bischoff) faßbar, die trotz regionaler Besonderheiten allmählich alle eine Schreibreform fördern, die zur Entwicklung der berühmten runden (oder karolingischen) Minuskel führt. Parallel hierzu wird eine gepflegtere Latinität erstrebt, entwickeln sich reiche Formen der -»Buchmalerei und des Buchschmucks, wird ein neues Bildungsideal propagiert, als dessen Kernelemente sprachliche Erneuerung, das Suchen nach „Authentizität" und gereinigten Texten sowie der Rückgriff auch auf antikes Bildungsgut (—»Antike und Christentum 4.1) ansprechbar sind. Dies wirkt sich vorrangig, jedoch nicht ausschließlich auf den weiten Feldern der Kirchenreform aus, denn es erfaßt auch volkstümliche Überlieferung und die Volkssprache selbst, wirkt sich sogar auf die Laienbildung aus, für die Karls Enkel Nithard, der Historiograph des Bürgerkrieges von 8 4 0 - 8 4 2 , ein überragendes Exempel bietet. Karls des Großen persönlichster Anteil ist zunächst in seinem Sendschreiben an Abt Baugulf von Fulda und seinen Konvent zu erkennen. Diese berühmte epistola de litteris colendis aus der Zeit zwischen 780 und 800 dokumentiert des Herrschers zielstrebiges Anliegen einer Schul- und Bildungsreform ähnlich eindrucksvoll wie die Carta de legationis edicto (sog. Admonitio generalis) von 789. Es war nur konsequent, daß der Hof selbst zum Ausstrahlungszentrum vielfältiger Art wurde. Dies gilt für die von B. Bischoff rekonstruierte Hofbibliothek Karls des Großen mit biblischen, patristischen und antik-klassischen Werken, es bezieht sich auf die Hofkapelle als Gesamtheit der zum Hofdienst verpflichteten Geistlichen, die über ihre Funktion als Herrschaftsinstrument par excellence hinaus auch reiche „bildungspolitische" Wirksamkeit entfaltete, und es gilt auch für den Kreis illustrer Persönlichkeiten, die der Herrscher an sich zu ziehen verstand. Gerade diese Dichter, Künstler und Gelehrten verliehen dem Karlshof nicht nur Ansehen und Glanz, sondern bereits wegen ihrer Herkunft aus vielen Ländern eine ungeahnte Ausstrahlung über die Grenzen des Frankenreiches hinaus. Vorrangig ist der Angelsachse -»Alkuin mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit zu nennen, daneben vor anderen der Ire Dungal, die Grammatiker Petrus von Pisa und Paulinus von Aquileja, der berühm-

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Karolingische Renaissance

te Langobarde Paulus Diaconus, der in der fränkischen Fremde zum überragenden Geschichtsschreiber seines eigenen Volkes reifte, außerdem der Westgote Theodulf (von Orleans), der fränkische Dichter Angilbert und etwa Einhard, der spätere Verfasser der berühmten Karlsvita. Erstaunlicherweise gab es auch außerhalb des Hofkreises überragende Gelehrte, beispielsweise die Theologen Felix von Urgel und Elipandus von Toledo, auch der sehr belesene —»-Agobard von Lyon ist schon für die Karlszeit zu nennen. Die unerläßliche Breitenwirkung der Bildungsreform trugen in allen Teilen des Reiches die Bischofskirchen und Klöster. Hier befanden sich die zahlreichen Skriptorien, wurden neben dem geistlichen Nachwuchs auch weltliche Angehörige des Adels unterrichtet. Für St. Gallen beispielsweise sind eine interne und eine zur Außenwelt geöffnete Schule gleichzeitig bezeugt. Thematischer Schwerpunkt waren in den Schreibschulen selbstverständlich biblische Texte und Schriften der Kirchenväter, daneben wurden aber auch Werke der alten (heidnischen) Klassiker abgeschrieben und für die Nachwelt bewahrt. Dieser Vorgang ist von ungeheurer Bedeutung, weil „die Erhaltung der weitaus meisten nichtchristlichen Texte des römischen Altertums der karolingischen Zeit zu verdanken ist" (P. Lehmann 114) und sogar die relativ wenigen antiken Handschriften zumeist von karolingischen Bibliotheken bewahrt worden sind. Ausdruck reicher kultureller Entfaltung ist schließlich die „prunkvolle Reichskunst" der Karlszeit, für die zunächst fast ausschließlich eine Auftragsgebundenheit durch den Herrscherhof erkennbar ist. Die karlischen Großbauten in Aachen, aber auch in den Pfalzen, wie insbesondere in Ingelheim, sind ihr herausragendster architektonischer Ausdruck; ähnliches Kunststreben zeigt sich vor allem in der Buchmalerei, im Buchschmuck und in der Gestaltung liturgischer Geräte. Ohnehin gehört die unter Pippin begonnene und dann von Karl dem Großen intensivierte liturgische Reform (C. Vogel) in den weiten Rahmen der karolingischen Kulturentwicklung. M i t der angestrebten Romanisierung der fast chaotischen Vielfalt franko-gallischer liturgischer Bräuche wurde nicht nur eine Vereinheitlichung zugunsten der römischen Liturgie gefördert (u.a. Ergänzung des Sacramentarium Gregorianum durch Alkuin), sondern durch die damit verknüpfte Eindämmung byzantinischen Einflusses auf die Kultausübung auch eine bemerkenswerte politische Zielsetzung verfolgt. Begriff und Bewertung: Nach erstem noch behutsamen Tasten durch H. Martin in seiner Histoire de France (1833) ist der von J . Michelet (1833) für das Kulturgeschehen des 15. und 16. J h . geprägte Begriff Renaissance von J . J . Ampere (1839) für die Zeit Karls des Großen übernommen worden und trotz mancher Bedenken und scharfer Kritik üblich geblieben: Karolingische Renaissance. Die Bezugnahme auf die „ g r o ß e " oder „eigentlic h e " Renaissance impliziert drei Grundannahmen: Einen Kontinuitätsbruch zwischen der antiken und der mittelalterlichen Kultur; die These von bewußter Übernahme und Nachahmung antiken Bildungsgutes als eines verpflichtenden Vorbildes und Erbes; schließlich die Entwicklung eines Bildungsideals, das mit einer Orientierung auf das historische Individuum und Aspekte der Einzelpersönlichkeit gewisse Ähnlichkeiten mit dem der Moderne aufweist. Schon die erste Annahme weist weit über ausschließlich geistesgeschichtliche Aspekte hinaus und wertet die Völkerwanderungszeit mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches als eine „gewaltige Kulturzäsur". Nur modifiziert, letztlich sogar verschärft wurde diese Grundüberzeugung durch die These von H. Pirenne, daß die Mittelmeerkultur im Westen den Einbruch der Germanen zwar überdauert habe, dann aber den Angriffen des Islam definitiv erlegen sei. A. Dopsch vor allem hat den Lehren von einem allgemeinen Kontinuitätsbruch zwischen Antike und Mittelalter mit wichtigen Arbeiten zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der vorkarolingischen Zeiten vehement widersprochen und seine Schülerin E. Patzelt (1923) die Konsequenz für die geistige Entwicklung der Karlszeit gezogen. Die Legende der „karolingischen Renaissance" lehnte sie scharf ab. Es handle sich um „eine willkürliche Konstruktion. Karl bleibt ,der Große' auch ohne diesen unechten S c h m u c k " (165.169). Damit war die Diskussion nicht beendet, zumal P. Lehmann 1954 in einem breiten Überblick „die karolingische Renaissance als

Karolingische Renaissance

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Wiederbelebung und Reform der Studien" auffaßte (135), den Begriff also wieder zu verwenden wagte. Ähnlich hatte kurz zuvor J. Fleckenstein die „Bildungsreform Karls des Großen" gewertet und als „Verwirklichung der norma rectitudinis" begriffen. Erst für die Ergebnisse als schönste Frucht dieser Bildungsreform will Fleckenstein übrigens die Bezeichnung „karolingische Renaissance" gelten lassen. Letztlich war ein Streben nach einheitlichen Normen angesprochen, das H. Liebeschütz gemeinsam mit der Suche „nach der echten Überlieferung" als Grundlage für Wesen und Grenzen eines „karolingischen Rationalismus" bezeichnete. Als Vorbild galten auch ihm angelsächsische und irische Missionare, die sich an einer schriftlichen, allgemein anerkannten Norm orientierten und gerade diese Schriftlichkeit als Fundament christlicher Religionsausübung unter Berücksichtigung ihrer textkritischen Tradition betrachteten. Eigentlicher Dreh- und Angelpunkt der Diskussion blieb aber doch die Person Karls des Großen, auch für die engagierte Stellungnahme von P. E. Schramm, der sich gegen überzogene Wertungen und den schier inflationistischen Gebrauch bedeutungsschwerer Begriffe wandte: Karl der Große: Denkart und Grundauffassungen. Die von ihm bewirkte ,Correctio' (nicht,Renaissance'). Grundprinzipien seiner Denkart seien ,Ordnung' und ,Richtigkeit' sowie, beide überwölbend, ,Wahrheit* gewesen - was richtig sei oder der rechten Ordnung entspreche, müsse mit der Wahrheit vereinbar sein: Ad recolendam veritatem sei es gegangen „bei der Wiederherstellung des authentischen Wortlauts der Bibel-, Liturgie- und Gesetzestexte, bei der Vertiefung des Wortverständnisses durch die Verbesserung des Unterrichts und beim Ausbau der Artes liberales, bei der Wiederherstellung der richtigen Orthographie und der Bereinigung der verwilderten Schriftformen, bei der Säuberung der Kunst von jenen ,nichtwahren' Gestalten, die im Widerspruch zur Bibel standen: ,Um die Wahrheit von neuem zu pflegen', die - so dürfen wir hinzusetzen - letztlich im Schöße Gottes ruht und um die sich zu bemühen daher eine religiöse Verpflichtung sowie eine moralische Aufgabe bedeutete" (336). W. von den Steinen empfand „den Verfall der geistigen Kultur im Abendland" vom 6. bis weit in das 8. Jh. hinein als tiefen Bruch, der kaum Platz für Kontinuitäten ließ. So sei nach leisen, bereits bei -»Bonifatius erkennbaren Ansätzen ein eigentlicher „Neubeginn" unter Karl dem Großen erfolgt. Zumindest im Klerus und in der Kunst habe er sich erstaunlich reich entfaltet und zu einer „spezifisch karolingischen Kultur" entwickelt, die Karl und die Seinen bewußt gewollt hätten - also keine Wiedergeburt, keine „genauere Wiederherstellung der Vergangenheit a limine". Auch für „Karl und die Dichter" ist ein solcher Neubeginn feststellbar, wenngleich er bereits in der 3. Dichtergeneration zu einem tragischen Rückgang geführt habe. Ohne die entsprechende Terminologie kommt beispielsweise D. Bullough in seiner beschreibenden Darstellung aus. In der beträchtlichen Niveausteigerung der lateinischen Sprache und ihrer reichen handschriftlichen Verbreitung sieht er den Maßstab für Karls „Reformen" und ihre bleibende Bedeutung. Etwas anders verhält sich schließlich auch P. Riehe, der bewußt nicht „auf den Gelehrtenstreit über den Begriff ,Renaissance*" eingeht, statt dessen diese karolingische Renaissance farbenreich schildert, und zwar von ihrem „bescheidenen Beginn unter Karl dem Großen" bis zur vollen Entfaltung unter seinen Nachfolgern. Aber die „Ausbreitung des karolingischen Kulturaufschwungs" erfolgte nicht flächendeckend und konzentrierte sich ausschließlich auf die Teilhabe geistlicher wie weltlicher Angehöriger der Adelsschicht. In der Bewertung der kulturellen Entwicklung nach Karls des Großen Tod ergeben sich auffällige Übereinstimmungen etwa mit R. McKitterick, die „the Flowering of the Carolingian Renaissance" weit in das 9. Jh. verlegt und mit Ludwigs des Frommen und vor allem Karls des Kahlen Herrschaft in engen Zusammenhang bringt. Darin äußert sich eine gewisse Forschungstendenz, die der Mitte und 2. Hälfte des 9. Jh. mehr Eigenständigkeit zuerkennt, also zunehmend die perspektivische Ausrichtung auf den Auflösungsprozeß des Karlsreiches zu reduzieren beginnt. Die so oft dominant auf Karl den Großen bezogene Renaissancevorstellung könnte in diesem Zusammenhang wahrhaftig als „karolingische Renaissance" im vollen Wortsinn verstanden werden. Recht eigenwillig ist schließlich W. Ullmanns Verständnis der karolingischen

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Kartäuser

Renaissance. Bei seinem Bemühen, das karolingische Herrschaftssystem zu rekonstruieren, setzt er bei dem Versuch der Karolinger an, die fränkische Gesellschaft durch eine kirchliche, auf das Bibelstudium zentrierte Bildungsreform zu erneuern. Dabei benutzt Ullmann die christliche Vorstellung von der Wiedergeburt des einzelnen durch die Taufe als Analogie d a f ü r , d a ß die fränkische Gesellschaft zu einem Gottesvolk ( p o p u l u s Dei bzw. christianus) wiedergeboren werden sollte. Diese R ü c k f ü h r u n g des umfassenderen Renaissancebegriffes auf die Taufvorstellung als christliche Wiedergeburt erscheint hingegen eher verwirrend als hilfreich. Die k n a p p angedeutete Diskussion um das Problem der karolingischen Renaissance ist noch längst nicht abgeschlossen. Insofern der fränkisch-gallischen Mischkultur des 5. und 6. Jh. neue Aufmerksamkeit gilt, mag der angenommene Kontinuitätsbruch zwischen Antike und Mittelalter sich auf die Zeit zwischen ca. 600 und 750 reduzieren, wobei die katastrophale Quellenarmut gerade dieser Periode vielfältiger Erklärung bedarf. Überhaupt wird m a n die an der Begriffsbildung orientierte Diskussion nicht losgelöst von allen G r u n d s t r u k t u r e n des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens führen dürfen. Für die Karlszeit erschwert das Fehlen einer modernen Geschichte des Herrschers selbst einstweilen noch die Beurteilung seiner Rolle. So ist nur ein Zwischenfazit mit der zweifelsfreien Feststellung möglich, d a ß die überaus rege Diskussion um die „karolingische Renaissance", um Kontinuitätsbruch oder Fortdauer wesentlicher Strukturen partiell förderlich w a r und reiche Erkenntnisse gebracht hat. Der Begriff selbst hingegen scheint trotz allem entbehrlich zu sein. Literatur Bernhard Bischoff, Die Hofbibliothek Karls des Großen: Karl d. Gr. (s.u.) II, 4 2 - 6 2 . - Ders., Panorama der Hss.überlieferung aus der Zeit Karls des Großen: Karl d.Gr. (s.u.) II, 233-254. Donald Bullough, The Age of Charlemagne, London 1965; dt.: Karl der Große u. seine Zeit, Wiesbaden 1966. - Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis, Freiburg 1953. - Karl der Große. Lebenswerk u. Nachleben, hg. v. Wolfgang Braunfels, II Das geistige Leben, Düsseldorf 1965; III Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965. - Paul Lehmann, Das Problem der karolingischen Renaissance: SSAM 1 (1954) 309-358, Nachdr.: ders., Erforschung des MA II, Stuttgart 1959, 109-138. - Hans Liebeschütz, Wesen u. Grenzen des karolingischen Rationalismus: AKuG 33 (1951) 17-44. - Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians, 751-987, London/New York 1983. - Erna Patzelt, Die karolingische Renaissance, Wien 1924, Nachdr. Graz 1965. - Renaissances before the Renaissance. Cultural Revivais of Late Antiquity and the MA, hg. v. Warren Treadgold, Stanford 1984. - Pierre Riche, La vie quotidienne dans l'empire Carolingien, Paris 1973; dt.: Die Welt der Karolinger, Stuttgart 1981. - Percy Ernst Schramm, Karl der Große: Denkart u. Grundauffassungen. Die von ihm bewirkte ,Correctio' (nicht .Renaissance'): H Z 198 (1964) 306-345, Überarb. Nachdr.: ders., Kaiser, Könige u. Päpste I, Stuttgart 1968,302-342. - Wolfram von den Steinen, Der Neubeginn: Karl d. Gr. (s.o.) II, 9 - 2 7 . - Walter Ullmann, The Carolingian Renaissance and the Idea of Kingship, London 1969. - Cyrille Vogel, La réforme cultuelle sous Pépin le Bref et sous Charlemagne, zusammen mit Erna Patzelt, Die karolingische Renaissance, Graz 1965. - Ders., La réforme liturgique sous Charlemagne: Karl d.Gr. (s.o.) II, 217-232.

Reinhard Schneider

Kartäuser 1. Der Ursprung des Kartäuserordens 2. Die Entwicklung des Kartäuserordens bis zur Reformationszeit 3. Die Kartäuser bis zur Französischen Revolution 4. Die Kartäuser in der modernen Welt 5. Kartäuserinnen 6. Kartäusische Baukunst (Quellen/Literatur S. 672).

1. Der Ursprung

des

Kartäuserordens

Bruno von Köln, der, o b w o h l wahrscheinlich nicht ordiniert, 1056 Domscholaster und 1075 erzbischöflicher Kanzler in Reims geworden w a r , fühlte sich zum Einsiedlerleben berufen. N a c h einem Versuch in Sèche-Fontaine in der N ä h e der Abtei Molesme ließ er

Kartäuser

667

sich unter der Obhut des Bischofs von Grenoble, Hugo von Chäteauneuf, im Gebirge der Grande Chartreuse nieder. Hier errichtete er im Frühsommer 1084 mit sechs Gefährten ohne jede Absicht einer neuen Ordensgründung die ursprüngliche Einsiedelei, la Chartreuse (Cartusia), als Mutterkloster des Kartäuserordens la Grande Chartreuse, die große Kartause, benannt. Sechs Jahre später mußte Bruno Chartreuse verlassen, um einer Einladung Papst -»Urbans II., eines seiner früheren Schüler, nach Rom Folge zu leisten. Dort erhielt er die Erlaubnis, sich nach Kalabrien zurückzuziehen, wo er in der Nähe von Serra San Bruno 1091 eine weitere Einsiedelei gründete, in der er am 6. Oktober 1101 verstarb. Diese kalabrische Gründung entwickelte sich unabhängig von der Großen Kartause und war 1193-1514 dem Zisterzienserorden angegliedert, bis sie dann von den Kartäusern zurückgewonnen wurde. Obwohl die Gemeinschaft von Chartreuse nach Brunos Fortgang zeitweise auseinanderfiel, erwies sie sich schließlich doch als dauerhafter als manch andere zeitgenössische Einsiedlergruppe. Unter ihrem fünften Prior Guigo (1109-1136), der mit Petrus Venerabilis und -»Bernhard von Clairvaux befreundet war, wurden 1121 - 1 1 2 7 die Consuetudines Cartusiae zusammengestellt. Sie waren an die Prioren von Portes, St. Sulpice und Meyriat gerichtet, die eine eingehende Beschreibung der in der Großen Kartause gehaltenen Ordnung erbeten hatten. Bruno hatte keine Regel verfaßt, doch die Consuetudines Cartusiae geben vermutlich mit aus der praktischen Erfahrung erwachsenen Abwandlungen seine Vorstellungen wieder. Obwohl für die streng beschaulichen, keinen Dienst außerhalb ihrer Niederlassungen versehenden Kartäuser das Hauptgewicht auf den eremitischen Zügen der Lebensgestaltung lag (s.dazu T R E 4,233,27ff), bezogen sie doch auch Momente gemeinschaftlichen Lebens ein. So wurden die Matutin, die Laudes und die Vesper in der Kirche gesungen, während die übrigen Hören (—»Stundengebet) in den Zellen gebetet wurden. Die Messe wurde anfänglich selten gefeiert, doch im 13. Jh. begann die Zahl der Messen und begangenen Festtage anzuwachsen. Das 20. Jh. erlebte dann wieder eine deutliche Rückwendung zu dem ursprünglichen Leitbild mit Betonung der Abgeschiedenheit. Eremitengemeinschaften wie die von Portes (1115) waren von der Großen Kartause unabhängig und unterstanden dem zuständigen Diözesanbischof. Die Consuetudines Cartusiae vermitteln ein eingehendes Bild der geübten Observanz mit wahrscheinlich aus Chaise-Dieu, -»Cluny und französischen Bistümern übernommenen und für die Bedürfnisse einer Eremitengemeinschaft ohne kirchenmusikalische Unterstützung vereinfachten liturgischen Bestimmungen, mit einer Beschreibung der mannigfachen Tätigkeiten der Laienbrüder, die ihre Aufenthaltsstätte zur Besorgung der Güterverwaltung und zur Abschirmung der Abgeschiedenheit der Mönche weiter talabwärts in der Correrie fanden, mit Hinweisen auf die Übung einer begrenzten, bescheidenen Gastfreundschaft und mit einem Lobpreis des eremitischen Lebens als wirksamen Weges der Suche nach Gott. Am 22.12.1133 wurden die Consuetudines Cartusiae von Papst Innozenz II. approbiert. Die ursprüngliche Kartause wurde am 30.1.1132 von einer Lawine zerstört und danach am heutigen Ort der Großen Kartause neu errichtet. Das erste, 1140 durch den Prior Anthelm (1139-1151) einberufene Generalkapitel signalisiert die Begründung des Ordens (-»Orden I). Die Diözesanbischöfe verzichteten auf ihre Jurisdiktion über diejenigen Häuser, deren Prioren das Kapitel besuchten. Es trat von 1155 bis zur Französischen Revolution jährlich zusammen, wurde 1837 wieder aufgenommen und tagt heute alle zwei Jahre. Beschlüsse wurden auf dem Generalkapitel vom Prior der Großen Kartause ex officio und einem Definitorengremium von acht einem jährlichen Wechsel unterliegenden Mitgliedern gefaßt. Auf diese Weise wurden alle einer Bestätigung bedürftigen Maßnahmen jeweils von einem neuen Definitorengremium ratifiziert. Seit dem zweiten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum II) sind alle anwesenden Prioren zur Beteiligung an der Legislative aufgerufen. Das Generalkapitel ernennt auch die Provinzialvisitatoren - 1301 bis 1442 wurde der Orden in achtzehn Provinzen gegliedert — für die alle zwei Jahre stattfindenden Visitationen. Die ausführende Gewalt super annutn liegt beim Prior der Großen Kartause, der erforderlichenfalls vier vom Generalka-

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Kartäuser

pitel benannte Prioren beiziehen kann. Alle Prioren - an Äbte ist im Orden nie gedacht worden - müssen auf dem Generalkapitel ihren Amtsverzicht anbieten. Auch wenn der Satz Cartusia numquam reformata quia numquam deformata [die Kartause wurde nie reformiert, weil sie nie deformiert war] sprichwörtlich ist, ist es über die Jahrhunderte hin doch zu zahlreichen Ergänzungen und Abwandlungen der Regel gekommen. Unter Anthelm wurden Ordnungen verabschiedet und 1170 die 48 Kapitel der Consuetudines Basilii ratifiziert. Wesentliche Abänderungen wurden in die Statuta Jancelini (1222) und in De Reformatione des Priors Bernhard (1248) aufgenommen. Das ursprüngliche Fasten mit Wasser und Brot wurde von drei Tagen auf einen Tag wöchentlich reduziert, und die Mönche kochten nicht mehr für sich allein. Die Prioren kamen unausweichlich in stärkere Berührung mit der Welt draußen; denn im 12. Jh. kam es zu 36 Neugründungen, von denen 28 im heutigen Frankreich lagen, während die übrigen über die Lombardei, Burgund, die Steiermark, Aragon und England verstreut waren. Hugo von Avalon beendete sein Leben, nachdem er Prokurator der Großen Kartause und Prior von Witham gewesen war, 1200 als Bischof von Lincoln. Andere Kartäuser wurden auf französische Bischofssitze erhoben, so auch Anthelm, der als Bischof von Belley starb. 2. Die Entwicklung

des Kartäuserordens

bis zur

Reformationszeit

Mitte des 13. Jh. mußte eine Auseinandersetzung innerhalb des Ordens über die vom Prior und von der Kommunität der Großen Kartause ausgeübte Vormachtstellung durch den Dominikanergeneral Humbert de Romanis geschlichtet werden, so daß es am 16.2.1255 zu einer einvernehmlichen Beilegung kam. 1271 wurden die Antiqua Statuta, eine Sammlung von Beschlüssen und Verordnungen, approbiert, durch die faktisch die Consuetudines Cartusiae aufgehoben wurden, 1368 wurden sie durch die Nova Statuta mit den im Laufe nahezu eines Jahrhunderts erfolgten Verordnungen des Generalkapitels ergänzt, und 1509 kam die Tertia Compilatio hinzu. 1510 wurden diese drei Sammlungen, die alle zugleich in Geltung waren, zusammen mit den Consuetudines Cartusiae von Amorbach in Basel gedruckt. Im 13. Jh. verlangsamte sich zwar die Ausbreitung des Ordens mit 31 Neugründungen ein wenig, doch im 14. Jh. stieg ihre Zahl auf 106, davon dreizehn in den Niederlanden, während sich im 15. Jh. mit 45 Neugründungen wieder ein Nachlassen bemerkbar machte. Allerdings wurde im 14. und 15. Jh. eine Anzahl von Niederlassungen auch im Umfeld von Städten angelegt. Das entsprang wohl einem Bedürfnis nach größerer Sicherheit wie auch der Absicht, Stifterwünschen zu entsprechen, doch mußte dabei das ursprüngliche Ideal entlegener Abgeschiedenheit inmitten einer Einöde mit streng begrenztem Eigengut ohne Besitz kirchlicher Benefizien (-»Beneficium) teilweise aufgegeben werden. In ähnlicher Weise ging man mit der Zeit von der ursprünglichen Beschränkung auf zwölf Mönche und den Prior sowie sechzehn Konversen ab und errichtete doppelte, in jüngerer Zeit sogar dreifache Kartausen wie Parkminster (Sussex) und Aula Dei (Saragossa). Mit Hilfe gedungener Kräfte, wobei man ursprünglich bemüht war, Frauen ganz von den kartäusischen Wüsteneien fernzuhalten, waren sechzehn kräftige Konversen sicherlich in der Lage, den Grund einer Kartause zu bewirtschaften; doch zwangsläufig mußten ältere Konversen abgelöst werden. Mit dem Rückgang der Berufung zur Laienbruderschaft wurde ein neuer Stand von Donati eingeführt, der in -»Armut, aber ohne -»Gelübde lebte. Bestrebungen von Konversen, in den Status von Mönchen einzurücken, wurden 1453, 1470 und erneut 1889 vom Generalkapitel unterbunden. Begrenzungen der Stückzahl des von den einzelnen Niederlassungen gehaltenen Viehs mußten steigender Kosten wegen geändert werden. Während des großen Schismas (-»Papsttum) war auch der Kartäuserorden in zwei Obödienzen zerfallen. Die große Kartause und die französischen Klöster folgten der Jurisdiktion der Päpste in Avignon, während viele andere Kartausen sich der römischen Obödienz verpflichtet sahen. Diese bestimmten schließlich Seitz (Zice) als die älteste zu ihnen gehörende Gründung zu ihrem Hauptkloster. Die Wiedervereinigung des Ordens

Kartäuser

669

wurde im wesentlichen durch den Generalprior der römischen Obödienz und ehemaligen Sekretär -» Katharinas von Siena, Stephan Maconi (gest. 1424), zuwege gebracht. Eine Reihe bedeutender geistlicher Schriftsteller läßt sich für das Mittelalter namhaft machen: Guigo II. (gest. 1193), Adam von Dryburgh (ca. 1150-1212), Guigo de Ponte (gest. 1297), Hugo von Balma (13. Jh.) und —»Ludolf von Sachsen, dessen berühmte Vita Christi -»Ignatius von Loyola, -»Teresa von Avila und François de -»Sales beeinflussen sollte. Im 15. Jh. faßte -»Dionysius der Kartäuser, der Freund des -»Nikolaus von Kues, das religiöse Wissen seiner Zeit in seinem umfangreichen Werk zusammen. Obwohl die Kartäuser als Schreiber Ansehen genossen, schlössen sie sich doch schnell dem Buchdruck auf. Das erste Buch, von dem bekannt ist, daß es vom Orden gedruckt wurde, erschien 1477 in Parma. Zu unterschiedlichen Zeiten besaßen fünfzehn Kartausen Druckereien. Eine größere Druckerei wurde im späten 19. Jh. im Kloster von Montreuil-sur-Mer eingerichtet. Obwohl Guigo in den Consuetudines Cartusiae XXVII die Bedeutung von Büchern betont hatte, waren die Kartäuser nie ein Gelehrtenorden, wenn auch die Kartausen von Basel und Köln in der Bewegung des —»Humanismus eine gewisse Rolle gespielt haben. 1437 warnte das Generalkapitel vor allzu intensiver Beschäftigung mit dem kanonischen Recht, 1462 vor der -»Astrologie, 1489 vor fruchtloser Ausdeutung von Weissagungen und 1380, 1470 sowie 1504 vor der -»Alchemie. Der Bologneser Prior Niccolö d'Albergati (1375-1443) wurde zum Kardinal erhoben und mit wichtigen päpstlichen Friedensmissionen betraut. 3. Die Kartäuser bis zur Französischen

Revolution

Während der durch die -»Reformation verursachten Umwälzungen gingen 39 Kartausen verloren, darunter neben der gesamten englischen Provinz insbesondere solche in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden; auf der anderen Seite allerdings erlebte das 16. Jh. auch fünfzehn Neugründungen, von denen sieben in Spanien und Portugal entstanden. Eine Reihe von Mönchen schlössen sich dem —»Luthertum oder der -»Kirche von England und anderwärts sich neu bildenden kirchlichen Gemeinschaften an, doch führte entschiedener Widerstand unter englischen und niederländischen Kartäusern auch zu Martyrien. Am Vorabend der Reformation zeichnete sich der Orden immer noch durch seine achtbare Observanz aus, und die Kartäuser waren der entstehenden Gesellschaft Jesu (-»Jesuiten) behilflich. Das 17. Jh. erlebte noch zwanzig Neugründungen, davon zwölf in Frankreich, doch im 18. Jh. gab es keinen weiteren Zuwachs mehr. Die Bereitschaft zu Stiftungen in einem zur Begründung einer Kartause erforderlichen Umfang war versiegt, und faktisch wurden alle späteren Gründungen auf Kosten des Ordens unter gelegentlicher Unterstützung durch Förderer durchgeführt. 1542 wurden die Werke von —»Erasmus verboten und den Mönchen nahegelegt, keine Zeit auf das Studium des Griechischen oder Hebräischen zu verschwenden. Aus der Kölner Kartause ging während des 16. Jh. eine Reihe hervorragender geistlicher Schriftsteller wie Johannes Justus Landsberg (Lanspergius, 1490-1539) und Laurentius Surius (1522-1578) hervor. 1582 wurde unter dem Ordensgeneral Bernard Carasse (1566-1586) die Nova Collectio Statuorum erlassen, die das Ordensrecht in Einklang mit den Vorschriften des Konzils von Trient (-»Tridentinum) brachte. Es wurde eine Aufteilung in Ordinarium und Statuten vorgenommen. Das Generalkapitel von 1567 führte das Amt eines Novizenmeisters ein, doch bis zur Französischen Revolution spielte auch weiterhin der Vikar des Priors für die Bildung der Novizen eine wesentliche Rolle. Antonio de Molina aus der Kartause Miraflores bei Burgos (gest. 1612) schrieb eine Instrucción de sacerdotes, die großen Einfluß auf die Priesterausbildung der nachtridentinischen Zeit ausübte. Im späten 17. Jh. wurde die Anlage der Großen Kartause nach dem achten großen Brand im Lauf ihrer Geschichte unter dem Prior Innocent Le Masson (1675-1703) wieder aufgebaut. Er war ein befähigter Verwalter wie ein geistlicher Schriftsteller von Rang und hat nicht nur die geschichtlichen Studien des Ordens gefördert, sondern ist auch dem

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Kartäuser

Jansenismus (-»Jansen/Jansenismus) entgegengetreten und hat dessen Ausbreitung auf den nordfranzösischen Raum begrenzt. Außerdem trat er in eine heftige Auseinandersetzung mit Armand Jean de Rance (1626-1700) von La Trappe (->Trappisten) über die ursprüngliche kartäusische Observanz ein. Mit dem Gang der Jahrhunderte wuchs sich das durch die Ausbreitung des Ordens bedingte Anschwellen der Zahl der Totenämter und Stifterfürbitten zu einer Last aus. Die anfänglich nur selten gefeierte Messe - über ein Jahrhundert lang gab es in jeder Kartause nur einen Altar - mußte nun gelegentlich dreimal als Konventsmesse neben Privatmessen zelebriert werden. 1775 und 1783 verfügte Kaiser Joseph II. die Aufhebung von 28 Kartausen in der Lombardei, Österreich und Flandern, da das kontemplative Mönchtum seiner Auffassung nach der Gesellschaft keinen nützlichen Dienst erwies (-+ Josephinismus). 1784 wurden die sechzehn spanischen Kartausen zu einer nicht mehr der Großen Kartause unterstellten Nationalkongregation zusammengeschlossen. Am Vorabend der -»Französischen Revolution zählte der Orden noch 126 Kartausen, doch faktisch alle wurden durch den gewaltsamen Umsturz der Revolution und der napoleonischen Herrschaft (-»Napoleonische Epoche) beseitigt. 51 Mönche erlitten das Martyrium. 4. Die Kartäuser in der modernen

Welt

Bei der Wiederherstellung des französischen Königtums (1815) verband sich eine kleine Gruppe von Kartäusern aus Part Dieu (Schweiz) mit anderen, die heimlich in Romans (Dauphine) zusammengeblieben waren, zur Wiedereröffnung der Großen Kartause (1816). Damit begann in Frankreich und anschließend in Italien eine Erneuerung des Ordens, die unter Jean Baptist Mortaize als Prior der Großen Kartause (1831-1863) an Stoßkraft gewann. Dagegen schloß eine antiklerikale Gesetzgebung 1834 die Klöster in Portugal, die die Französische Revolution überdauert hatten. Gleiches geschah 1835 in Spanien. Die italienischen Kartausen wurden 1868 aufgehoben, doch blieben einige Mönche als Kustoden. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts erlaubte ein religiösen Bestrebungen günstigeres Klima die Wiedereröffnung von Kartausen in Spanien, Italien, der Schweiz, England und Jugoslawien. Einige davon waren allerdings vornehmlich dazu eingerichtet worden, französische Kartäuser aufzunehmen, die durch eine 1903 zum Abschluß kommende staatliche Gesetzgebung der Vertreibung ausgesetzt waren. Die meisten französischen Kartausen wurden 1901 geräumt, doch die Mönche der Großen Kartause mußten 1903 mit Gewalt vertrieben werden. Sie ließen sich schließlich in der Kartause von Farneta (Lucca) nieder, von wo sie 1940 unter chaotischen Kriegsverhältnissen zurückkehrten. Einige französische Kartausen wie Montrieux (Var) und Selignac (Ain) waren bereits früher zurückgewonnen worden. Nach dem zweiten Weltkrieg mußte eine Reihe italienischer Kartausen wie Trisulti, Pavia, Florenz und Pisa aus Nachwuchsmangel geschlossen werden, während die deutsche Kartause aus städtischer Umgebung in Düsseldorf-Unterrath nach Marienau bei Bad Wurzach-Seibranz im Allgäu verlegt wurde. Für die Nonnen von Beauregard wurde ein neues Kloster in Reillanne (Alpes-de-Haute-Provence) errichtet, und die spanischen Nonnen aus italienischen Kartausen siedelten 1967 in das ehemalige Zisterzienserkloster von Benifaca (Castellon de la Plana) in Spanien über, während 1977 italienische Nonnen in Vedana (Venetien) an die Stelle der Mönche getreten sind. Eine Neugründung für Mönche, die erste in der Neuen Welt, entstand auf dem Mount Equinox in Vermont, und eine weitere ist in Südbrasilien im Aufbau. Nach einer Zeit außerordentlich geringen Zustroms nach dem zweiten Weltkrieg und dem zweiten Vatikanischen Konzil ist neuerdings wieder eine positive Entwicklung auszumachen. Die Ordenssatzungen wurden 1926 in den Statuta Ordinis Cartusiensis mit dem Codex Iuris Canonici von 1917 in Einklang gebracht. Eine tiefergreifende Überarbeitung in Gestalt der Statuta renovata Ordinis Cartusiensis (1971) und des Ordinarium (1975) wurde nach dem zweiten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum II) vorgenommen. Dabei wurde die strikte Trennung von Mönchen und Laienbrüdern in der Kirche aufgegeben und eine grundlegende Vereinfachung des liturgischen Kalenders sowie eine Reduktion

Kartäuser

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der im Laufe der Jahrhunderte immer zahlreicher gewordenen Offizien durchgeführt, um mehr Raum für die Zurückgezogenheit und das persönliche Gebet zu gewinnen. Die Matutin und Laudes indessen sind als nächtliche Offizien geblieben, während sie bis ins späte Mittelalter am frühen Morgen gebetet wurden. Der Zugang von Anwärtern reifen Alters aus anderen Orden entsprechend den Regeln des Übertritts zu einer strengeren Observanz, wie sie über die Jahrhunderte hinweg, zuweilen zum Schaden aller Beteiligten, in Geltung waren, wurde, von Ausnahmefällen abgesehen, erschwert. In jüngster Zeit haben die postum erschienenen geistlichen Schriften des ehemaligen Mönchs von Valsainte (Kanton Freiburg) und späteren Priors von Vedana (Venetien) Augustine Guillerand (1877-1945) beträchtliche Resonanz gefunden. 1975 hat sich eine Gruppe von vier französischen Kartäusern in Parisot (Montauban) niedergelassen und in dem Bestreben, die Armut und Schlichtheit der ersten Kartause wiederzugewinnen, einfache Hütten errichtet. Ihre Gründung ist indessen vom Orden nicht anerkannt worden. 5.

Kartäuserinnen

Zwischen 1140 und 1150 ersuchten die Nonnen von St. André de Ramières, die anscheinend bis dahin nach der Regel des ->Caesarius von Arles gelebt hatten, um ihre Angliederung an den Kartäuserorden. Der Prior der Kartause von Montrieux bei Toulon und später von Reposoir (Haute-Savoie) Johannes von Spanien (gest. 1160) paßte die kartäusischen Consuetudines für den Gebrauch der anschließend nach Prébayon in der Provence übersiedelnden Nonnen an. Danach kam es zu einer gewissen Verbreitung weiblicher Gründungen in abgelegenen Tälern der französischen und italienischen Alpen. Sie litten jedoch alle unter beschränkter Vermögensausstattung, und Kriege wie Seuchen führten zur Aufgabe einer Reihe von Klöstern, für die sich auch kein hinreichender Zustrom fand. 1271 trafen die Antiqua Statuta III c. X X X I V spezielle Regelungen für Nonnen. Die Priorin war für die Leitung ihres Klosters verantwortlich; es wurde aber erwartet, daß sie bei wichtigeren Angelegenheiten den Rat des Vikars, eines mit der geistlichen Anleitung der Nonnen betrauten Kartäusers, einholte. Kartäuserinnenklöster ähnelten doppelten Kartausen, sofern dem Vikar häufig ein oder mehrere Mönche zur Seite standen und Laienbrüder nicht nur diesen Mönchen zur Hand gingen, sondern auch bei der Bewirtschaftung des Grundbesitzes halfen. Die einsiedlerischen Momente der kartäusischen Lebensführung wurden für die Nonnen abgemildert. Anstelle einzelner kleiner Behausungen hatten sie abgetrennte Räume, und die Mahlzeiten wurden täglich im Refektorium eingenommen. Desgleichen war häufiger Gelegenheit zur Entspannung. Seit dem späten 13. Jh. ging die Entwicklung dahin, neue Gründungen an weniger entlegenen Orten zu errichten. Im Spätmittelalter waren einige Klöster so arm, daß die Nonnen Unterricht für junge Mädchen übernahmen. Das Generalkapitel bestand jedoch darauf, die Zahl der Nonnen den Einkünften entsprechend zu begrenzen. Die Religionskriege des 16. Jh. brachten weitere Bedrängnisse mit sich. Die Klöster von Prémol, Salettes, Gosnay und Brügge wurden geplündert. Der Jansenismus dagegen fand keinen Eingang, und Innocent Le Masson verfaßte für die Hand der Nonnen geistliche Schriften und einen Leitfaden für die Lebensführung. Das Kloster von Brügge wurde 1783 durch Joseph II. aufgehoben, alle anderen Klöster erloschen bis 1794 im Gefolge der Französischen Revolution. Die Priorin von Gosnay fand den Tod unter der Guillotine. Nach dem Wiedergewinn der Großen Kartause fand sich in Osier eine Gruppe von Nonnen zusammen, doch die Große Kartause verhalf ihnen zum Kauf von Beauregard (1822). Es folgte eine Reihe von Neugründungen: Montauban (1854), Notre Dame du Gard (1870); nach der antiklerikalen Gesetzgebung von 1 9 0 1 - 1 9 0 3 in Frankreich entstand Motta Grossa (Pinerolo, Italien), das die Nonnen von Montauban aufnahm, während die Nonnen von Notre Dame du Gard nach einem Aufenthalt in Belgien in die ehemalige Zisterzienserabtei von Nonenque zurückkehrten (1928). Obwohl in Beauregard die Nonnen blieben, wurde 1912 im Bistum Turin in einem ehemaligen Franziskanerkloster eine neue Niederlassung, S. Francesco, gegründet.

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Kartäuser

Im Gefolge des zweiten Vatikanischen Konzils erhielten die Nonnen erstmals eigene, von denen der M ö n c h e unterschiedene Statuten, die 1973 vom Generalkapitel approbiert wurden. Die Priorinnen wurden danach zu einem Kapitel versammelt, das seitdem jeweils im Anschluß an das Generalkapitel des Ordens insgesamt zusammentritt. In den letzten Jahren ist den Nonnen eine größere Abgeschiedenheit eingeräumt worden. Sie bewohnen nun, wo immer es möglich ist, Zellen für sich. Ihnen steht die Jungfrauenweihe zu, und als Diakonissen verlesen sie im Gottesdienst das Evangelium. Das literarische Wirken der Kartäuserinnen ist nicht bemerkenswert gewesen; doch haben immerhin die Priorin von Poletiens Marguerite d'Oingt (gest. 1310) und Anne Griffon von Gosnay (gest. 1641) mystische Schriften verfaßt. 6. Kartäusische

Baukunst

Einen kartäusischen Baustil schlechthin hat es nie gegeben. Die Grundelemente des kartäusischen Klosterbauplans (-»Kloster), etwa der große Kreuzgang, der den Zugang zu den als kleine Einzelhäuser angelegten Zellen der M ö n c h e eröffnet, sowie der Komplex der Konventsgebäude mit der Klosterkirche, wurden dem verfügbaren Baugrund entsprechend ausgestaltet. Schmale Gebirgstäler schränkten hier die Entfaltungsmöglichkeiten zwangsläufig ein, während städtische Kartausen wie etwa Vauvert (Paris) bereits 1257, Neapel, Koblenz, Straßburg, Köln, Bologna, Florenz, Lucca, Freiburg im Breisgau, Würzburg, London, Hull, Coventry, Bern, Sevilla, Basel, Ferrara, R o m und Evora sich freizügiger entfalten konnten. Die anfängliche, häufig sich auf Holzbauten beschränkende Schlichtheit und Einfachheit gab einer dauerhafteren Bauweise Raum. Architektonische Schmuckstücke wie El Paular (Kastilien), Pavia, Miraflores und Jerez de la Frontera stammen aus dem 14. und 15. J h . Im Zeitalter des - » B a r o c k folgte der Orden der zeitgenössischen Baugesinnung. Infolge einer Ironie der Geschichte liegen heute einige der noch vom Orden betriebenen Kartausen in der Nähe städtischer Zentren: Lucca, Montalegre (Barcelona), Miraflores (Burgos), Jerez de la Frontera, Evora, Aula Dei (Saragossa). Insgesamt zählt man etwa 273 Gründungen. Die in den frühen Jahrhunderten zur Absicherung einer größeren Abgeschiedenheit der M ö n c h e angelegten, vom Prokurator und den Laienbrüdern bewohnten Correries wurden faktisch 1679 endgültig aufgegeben. In den meisten Niederlassungen waren die Brüder schon einige Jahrhunderte früher in die eigentliche Kartause übergesiedelt. Quellen Bernard Bligny, Recueil de plus anciens actes de la Grande Chartreuse (1086-1196), Grenoble 1958. - Clemens Bohic (gest. 1621), Chronica ordinis cartusiensis, Tournai, 11911, II 1912; Parkminster, III 1922, IV 1954. - James Hogg/Michael Sargent (Hg.), The Chartaeof the Carthusian General Chapter, 1 9 8 2 - 1 9 8 7 (ACar 100 1 - 1 3 ) . - Charles Le Couteulx, Annales ordinis cartusiensis, 8 Bde., Montreuil-sur-Mer 1887-1891. - Innocent Le Masson, Annales Ordinis Cartusiensis I, La Correrie 1687. - Ders., Disciplina Ordinis Cartusiensis, Montreuil-sur-Mer 1894. - Nicolas Molin (gest. 1638), Historia cartusiana, 3 Bde., Tournai 1 9 0 3 - 1 9 0 6 . - Leo Le Vasseur (gest. 1693), Ephemerides Ordinis Cartusiensis, 5 Bde., Montreuil-sur-Mer 1890-1893. - Georg Schwengel (1697-1766), Werke, 20 Bde., 1 9 8 1 - 1 9 8 4 (ACar 90). -Benedetto Tromby, Storia critico-chronologica-diplomatica del Patriarca S. Brunone e del suo Ordine Cartusiano, 10 Bde., Neapel 1773-1779, Nachdr. in 22 Bdn., 1981-1983 (ACar 84).

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Kasualien

673

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674 1. Begriff

Kasualien und

Verständnis

1.1. Als Kasualien oder als Amtshandlungen werden die liturgisch geordneten kirchlichen Handlungen mit A u s n a h m e des sonntäglichen Gottesdienstes bezeichnet. Im Unterschied zum Gottesdienst werden die kasuellen Feiern nicht an regelmäßig wiederkehrenden D a t e n des Kalender- oder Kirchenjahres, sondern aus einem bestimmten Anlaß abgehalten. Sie beziehen sich auf eine einmalige und einzigartige Situation (Kasus) im Leben des einzelnen Christen oder im Lebenszusammenhang der christlichen Gemeinschaft. Die Praktische Theologie der Gegenwart verwendet den Begriff der Kasualien häufig in einem engen Sinne. Er umfaßt die Übergangsriten (rites de passage) im Ablauf des menschlichen Lebenszyklus. Die durch den Eintritt ins Erwachsenenalter, die Begründung einer ehelichen Lebensgemeinschaft, die Geburt eines Kindes und den Tod eines Lebenspartners initiierten Lebensphasen und deren Verknüpfung zum Lebenszyklus werden in der Konfirmation, der Trauung, der Taufe und der Bestattung rituell begangen. Im weiteren Sinne des Begriffs gehören zu den Kasualien auch besondere gottesdienstliche Akte (Abendmahl und Beichte, die Ordination zum geistlichen Amt und die Installation eines Pfarrers oder einer Pfarrerin in ein Gemeindeamt oder in einen übergemeindlichen Pfarrdienst) sowie die verschiedensten Weihehandlungen (Einweihung eines Friedhofs oder einer Kirche; früher auch eines Schulhauses usw., vgl. Graff I 2 1937, 400ff). Die Vielfalt der kasuellen Feiern, ihre unterschiedlichen Anlässe und die geschichtliche wie lebensgeschichtliche Einmaligkeit jeder einzelnen Handlung ließen eine umfassende Theorie der Amtshandlungen von jeher als schwierig erscheinen. W ä h r e n d die einzelnen Amtshandlungen im Z u s a m m e n h a n g liturgischer, homiletischer und poimenischer Erörterungen eingehend bearbeitet wurden, beschränken sich die Versuche, die Kasualien als einen in sich geschlossenen und gegenüber anderen F o r m e n kirchlicher Lebenspraxis selbständigen Z u s a m m e n h a n g religiösen Handelns und religiösen Erlebens zu begreifen, zumeist auf Prolegomena ( G r a b 22). Sowohl die Tradition der Praktischen Theologie als auch deren gegenwärtige Ausführungen verzichten dazuhin häufig auf eine strenge Systematisierung der unterschiedlichen Handlungen und verwenden zu ihrer Bezeichnung Sammelbegriffe, die unter den einzelnen Kasualien lediglich einen losen Z u s a m m e n h a n g herstellen, auf eine präzise Bestimmung ihrer gemeinsamen Charakteristika aber verzichten (Schulz 106, Mezger, Amtshandlungen 2 1 9 6 3 , 39ff). In der Wissenschaftsgeschichte der Praktischen Theologie werden die Kasualien erst spät zu einem eigenen Thema. Der innere Zusammenhang der verschiedenen kirchlichen Handlungen wird zuerst in der Homiletik formuliert, die Kasualrede als eine gegenüber der sonntäglichen Predigt selbständige Gattung religiöser Rede begriffen (Rössler, Grundriß 199; Schleiermacher 321). Im Zusammenhang von Beichte und Sterbevorbereitung finden auch poimenische Aspekte der Kasualien Beachtung. Für die vornehmlich an der Person des Amtsträgers interessierten pastoraltheologischen Theorien erübrigt sich eine selbständige Theorie der Kasualien; denn im Gegensatz zu Predigt und Seelsorge verlangt der Vollzug der rituellen Handlungen keine eigene wissenschaftliche Berufskompetenz des Pfarrers. Erst in den Systemen der Praktischen Theologie, die die kirchliche Praxis in ihrem ganzen Umfang zum Gegenstand wissenschaftlichen Verstehens machen, wird der innere Zusammenhang der verschiedenen kasuellen Handlungen theoretisch auf den Begriff gebracht (Nitzsch, W. Otto, Meuß). Die spezifische Bedeutung der Kasualien wird zum einen in ihrer gemeinschaftsstiftenden Funktion (Nitzsch II, 2 1860,394; Achelis 1,191; Haack 16), zum anderen in dem für den neuzeitlichen Protestantismus konstitutiven Zusammenhang von Religion und Subjektivität gesehen (Meuß 3 3 - 4 3 ; Haack 13). In der G e g e n w a r t führte die Erkenntnis ihres hohen Stellenwertes für die volkskirchliche F r ö m m i g k e i t (Wie stabil ist die Kirche? 2 3 3 ; B o o s - N ü n n i n g 84ff) zur Forderung einer „integralen A m t s h a n d l u n g s p r a x i s " ( M a t t h e s 111) und einer entsprechenden wissenschaftlichen T h e o r i e . U m die „Stellenlosigkeit der Kasualien in der Praktischen T h e o l o g i e " (Seitz, Kasualpraxis 4 8 ) zu überwinden und die Kasualien als spezifische F o r m e n gelebter Religion begreifen zu können, bedarf es einer gegenüber den übrigen Teildisziplinen der Praktischen T h e o l o g i e selbständigen, aber mit ihr organisch verbundenen T h e o rie der Kasualien.

Kasualien

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1.2.1. Die Praktische Theologie behandelt die Kasualien gewöhnlich im Zusammenhang der Liturgik. Sie unterscheidet sie vom Gottesdienst und unterteilt die kasuellen Akte in Sakramentshandlungen und Benediktionshandlungen (Achelis I, 426 ff.509 ff; -•Benediktionen). Diese Unterscheidung wird auch in der römisch-katholischen Sakramentslehre vorgenommen. Dort sind die Benediktionen wie die -»Exorzismen den -•Sakramentalien (sacramenta minora) zuzurechnen. Sie sind nicht wie die Sakramente unmittelbar von Christus, sondern von der hierarchisch verfaßten Kirche kraft göttlicher Vollmacht eingesetzt. Im Gegensatz zu den Sakramenten werden sie nicht nur Personen, sondern auch Dingen appliziert. Die Sakramentalien wirken wie die Sakramente nicht nur ex opere operante, sondern auch ex opere operato und können wie sie nur von geweihten Priestern vollzogen werden. Die Sakramentalien unterteilen sich in Beschwörungen (exorcismi), Segnungen (benedictiones) und Weihungen (consecrationes). Exorzismus und Benediktion sind immer miteinander verbunden. Sie bilden die reinigende und die heiligende Seite der Handlung. Von den Personalbenediktionen, die einen bleibenden Habitus bewirken, sind solche Benediktionen zu unterscheiden, die eine forma gratiae actualis für einen vorübergehenden Zweck und Zustand zur Folge haben. Eine besondere Klasse von Realbenediktionen bilden schließlich die Konsekrationen, durch die Dinge dem Bereich des Profanen entzogen und für den göttlichen Kultus geweiht werden (CIC 114, 1147-1153; vgl. Vaticanum II, Konst. „Sacrosanctum Concilium" 5 9 - 8 2 ) . Nach evangelischem Verständnis kann nur Gott allein effektiv segnen. „Alles menschliche Segnen ist nichts anderes als Fürbitte zu Gott um Erteilung seines Segens, und die Erhörung dieser Fürbitte, also der Effekt des menschlichen Segnens, ist denselben göttlichen Gesetzen wie die Gebetserhörung überhaupt unterworfen" (Achelis I, 511 f). Zwischen der liturgischen und der außerliturgischen, der kirchlichen und der privaten Segnung wird kein Unterschied gemacht. Schließlich können nur Personen mit Gottes Geist und Gnade gesegnet werden. Realbenediktionen, durch die Dinge mit übernatürlichen Kräften begabt werden, werden von der Reformation verworfen. Die Benediktion von sachlichen Objekten meint deren Aussonderung lediglich zu ihrem kultischen Gebrauch. Sie geschieht per metonymiam: Zwar werden bei der Segnung die in Gebrauch zu nehmenden Sachen benannt, doch sind die Personen gemeint, die mit den Dingen umgehen (Smend 112ff). Vor allem im Zusammenhang des ökumenischen Gesprächs wird allerdings auch in der evangelischen Theologie die „Sakramentalität" der wichtigsten Kasualien hervorgehoben. Die Taufe gilt dann als das „evangelische Amtshandlungssakrament" und „Basissakrament", auf dem die übrigen Kasualien als „Tauffolgehandlungen" aufbauen (vgl. Nüchtern 519). Ein „unterschwelliger Sakramentalisierungsprozeß" führt zu einer breiten Ausgestaltung der Kasualien und zu einem „Zuwachs von Übergabe- und Symbolriten" (Schulz 108). Mitunter werden dann der Konfirmationsspruch, der Trauring oder die dreimal auf den Sarg geworfene Erde als der sakramentalen Materie vergleichbare rituelle Objekte begriffen, denen jeweils eine besondere Vollzugsformel entspricht (ebd. 110). 1.2.2. Wie die regelmäßigen sonntäglichen Gottesdienste, so sind auch die Kasualien Feiern der christlichen Gemeinschaft. In der Praktischen Theologie wird stets der öffentliche Charakter der Kasualien hervorgehoben (Nitzsch II, 394; Achelis I, 190) und der Grundsatz festgehalten, „daß jede Amtshandlung wohl eine Feier für einen einzelnen ist, aber stets in der Gemeinschaft stattfindet" (Haack 16). Wird die Kasualgemeinde mit der gottesdienstlichen Gemeinde gleichgesetzt, dann sind die Amtshandlungen - mit Ausnahme von Krankenabendmahl und Nottaufe - als Gottesdienste aus besonderem Anlaß zu begreifen und entsprechend zu begehen (VELKD Agende III; vgl. Seitz, Kasualpraxis; Jenssen; Bastian). Gerade die Amtshandlungen, die traditionellerweise in der Form eines Gottesdienstes begangen werden (-»Trauung, -»Taufe und -»Konfirmation), sind aber in einem zweiten sozialen Kontext verwurzelt: sie sind Feiern der Familie (Meuß 60; Spiegel, Bedürfnisse). Wird die Familie als das „Subjekt" (Albertz 204) der Kasualien begriffen, dann bilden Trauung, Taufe und Konfirmation eine zusammengehörende Gruppe von

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Ritualen, die sich um das häusliche und familiäre Leben gruppieren. Besondere Bedeutung gewinnt die kirchliche Trauung, die „das bürgerliche Lebensideal des Protestantismus, das im Familienleben gipfelt, zu festlichem Ausdruck bringt". Der „innere Zusammenhang von Gemeinde und Familie gibt der Handlung erst vollen Sinn und Wert" (Smend 95). Im Rahmen der verschiedenen auf den Lebenszyklus eines Menschen bezogenen Begehungen wird die Trauung zur „primäre(n) Amtshandlung" (Spiegel, ebd. 217), an die Taufe und Konfirmation der Kinder lebensgeschichtlich anschließen. Der Zusammenhang von Gemeinde und Familie wird in verschiedenen Reformkonzeptionen zur Geltung gebracht. R. Bohren plädiert dafür, die Kasualien in die im urchristlichen Sinne begriffene Hausgemeinschaft zu verlegen und dem pater familiae eine eigene religiöse wie pädagogische Funktion zuzuweisen. Als „Kirche für die Welt" gewinne die „Hauskirche" missionarische Bedeutung (Bohren, Kasualpraxis 30ff). Eine „neue Konzeption für Taufe und Amtshandlungen in den amerikanischen lutherischen Kirchen" mit dem Titel „Kirche als Familie" entwirft auf dem Hintergrund des kirchlichen Lebens in den USA ein liturgisches Programm für die Kasualien, in dem die Gemeinde nach dem Modell der Familie gedacht wird (Brand). In der evangelischen Kirche der Bundesrepublik werden zunehmend die Taufe, aber auch Trauung und Konfirmation als Familiengottesdienste gefeiert (Ahuis 34). 1.2.3. In der neueren praktisch-theologischen Diskussion wurden theoretische Konzeptionen der Kasualien entwickelt, die die Amtshandlungen nicht aus ihrer Zuordnung zu den Sakramenten und zum Gottesdienst, sondern aus der Gegenüberstellung von gottesdienstlicher und kasueller Frömmigkeit zu verstehen suchen. Die Kasualien werden als kirchliche Rituale verstanden, deren Bedeutung für die volkskirchliche Frömmigkeit sich aus der Struktur und der Funktion der Handlungen selbst herleitet (Neidhart; Daiber; Spiegel, Bedürfnisse). Das aus der rituellen Dimension religiöser Erfahrung gewonnene Verständnis der Kasualien verdankt sich Erkenntnissen empirischer Untersuchungen der Kirchenverbundenheit (Wie stabil ist die Kirche?; Was wird aus der Kirche?) und deren theoretischer Analyse (Matthes; Lukatis; P. Krusche, Pfarrer 179), nimmt aber gleichzeitig Momente der praktisch-theologischen Tradition auf. Schon C.I. Nitzsch systematisiert die Kasualien nicht nach dogmatischen oder kirchenrechtlichen Kriterien, sondern entsprechend ihrer liturgischen Funktion; er unterscheidet Handlungen der „Communion", der „Initiation" und der „Benediction" (II; §344, vgl. I, §42; ähnlich Meuß 31 f) und stellt die Grundfunktionen der rituellen Begehungen heraus. E. Meuß charakterisiert die Kasualien als „die gottesdienstlichen Handlungen von individueller Beziehung". In der Praktischen Theologie der Gegenwart werden beide Erkenntnisse - die selbständige Bedeutung ritueller Handlungen und die Verbindung der rituellen Frömmigkeitspraxis mit der Subjektivität - zu Prämissen einer Theorie der Kasualien, die sich religions- und sozialwissenschaftlicher Kategorien bedient, um die Eigenart der für die Volkskirche typischen Kasualienfrömmigkeit (Jetter, Kasus 220 f; Gräb 26) zu beschreiben und zu verstehen. Anders als im 19. Jh. wird nun aber eine differenzierte Analyse verschiedener Typen der Kirchlichkeit vorgenommen (Ansätze bei Niebergall, Wie predigen...? I, 100ff). Demnach haben sich in der Volkskirche zwei unterschiedliche Typen von kirchlichem Teilnahmeverhalten herausgebildet: das alltagszyklische und das lebenszyklische (Cornehl, Frömmigkeit 388; weitere Differenzierungen bei Rau). Die „Verankerung" (Matthes 83) der Kasualien in Frömmigkeit und Kirchlichkeit erfolgt nicht im Zusammenhang der organisierten Kirche (Jetter ebd.; Rendtorff 82; Boos-Nünning 78ff; vgl. Achelis I, 515ff), sondern innerhalb der Biographie des einzelnen. Der gesellschaftlich normierte Lebenszyklus wird durch seine subjektive Verarbeitung und Aneignung zur individuellen Lebensgeschichte (Matthes 88 f). Dieser Umformung der Zeiterfahrung dienen die rituellen Begehungen des Lebenszyklus wie deren individualisierte Deutung in der Kasualrede und im Kasualgespräch. Die Kasualien werden insgesamt als kirchlich institutionalisierte Formen gesellschaft-

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licher R i t u a l e begriffen, die in den typischen K r i s e n des natürlichen L e b e n s a b l a u f s (Riess) F o r m e n der B e w ä l t i g u n g zur Verfügung stellen ( R ö s s l e r , Vernunft). Ihren Sinn gewinnt eine m e n s c h l i c h e L e b e n s g e s c h i c h t e freilich nicht schon d u r c h ihre rituelle „ H e i l i g u n g " (Drehsen, Heiligung 101 ff), sondern erst durch die T r a n s z e n d i e r u n g ihrer natürlichen wie geschichtlichen Grenzen in d e m „rechtfertigenden G l a u b e n ( s ) an J e s u s C h r i s t u s " ( G r a b 38).

2. Entstehung und

Entwicklung

2.1. R e l i g i o n s p h ä n o m e n o l o g i s c h sind die Kasualien der rituellen D i m e n s i o n der Religion zuzuordnen. D a s R i t u a l bildet die G r u n d f o r m religiösen H a n d e l n s in primitiven wie in k o m p l e x e n Gesellschaften ( D ü r k h e i m ; M a l i n o w s k i ; van der L e e u w ) . D e r r a t i o n a l e Z w e c k der jeweiligen H a n d l u n g (der A b s c h l u ß einer E h e , die A u f n a h m e eines Kindes in die G e m e i n s c h a f t , die D e k l a r a t i o n eines Kindes z u m E r w a c h s e n e n , die Beisetzung eines Verstorbenen) wird von einer breitausgebauten rituellen D r a m a t u r g i e und von vielfältiger S y m b o l i k überlagert. E l e m e n t e der F r u c h t b a r k e i t s s y m b o l i k (z. B . B l u m e n ) finden sich in allen K a s u a l i e n . D e n Reinigungsriten sind die T a u f e , der M u t t e r s e g e n und die a u f die Bestattung folgende Askese der T r a u e r zuzurechnen (vgl. H a a c k 2 5 f ) . D i e anläßlich der Kasualien praktizierten Speiserituale sind in ihrer gegenwärtigen Gestalt zwar deutlich von der als explizit religiös begriffenen rituellen H a n d l u n g g e t r e n n t , gleichwohl a b e r fester Bestandteil der religiösen Inszenierung des p r o f a n e n L e b e n s geblieben. Im Z u s a m m e n h a n g des rituellen Brauchtums w e r d e n , zumal bei T r a u u n g und Bestattung, P r a k t i k e n der - » M a g i e und des A b w e h r z a u b e r s ausgeführt (Zulliger 1 9 7 f f ) . Ü b e r haupt b e w a h r t das V o l k s b r a u c h t u m vielfältige M o m e n t e gesellschaftlicher und kultureller E n t w i c k l u n g s s t a d i e n , die d e m von R a t i o n a l i t ä t b e s t i m m t e n M o d e r n i t ä t s b e w u ß t s e i n als ü b e r w u n d e n gelten, g l e i c h w o h l lebendig blieben und so die erlebte G e g e n w a r t mit ihrer nicht m e h r rational e r i n n e r b a r e n G e n e s e verbinden. 2.2. Die historische Entwicklung der einzelnen Kasualien im Zusammenhang der vom Christentum geprägten Gesellschaften und Kulturkreise verlief unterschiedlich und vielfältig. Während sich das Tauf- und Trauritual zunehmend vereinheitlichte, werden bei der Bestattung verschiedene rituelle Formen (Erdbestattung, Feuerbestattung, Seebestattung) praktiziert. Insgesamt sind im Zuge der Rationalisierung der Lebenswelt in der Neuzeit einerseits Tendenzen zur Sublimierung der rituellen Praktiken, andererseits (zumal in der Folge der Verstädterung) ein Verlust an Vielfalt der Symbolik und des Brauchtums zu verzeichnen. Eine zunehmende Kommerzialisierung der religiösen Handlungen ist vor allem im Bestattungsbrauchtum in den USA zu beobachten (Berger/Lieban). 2.3. N a c h einer allerdings von Kategorien der M o d e r n e geleiteten Analyse der Volksf r ö m m i g k e i t treten s c h o n in der Religion Israels „offizielle R e l i g i o n " und „ P r i v a t f r ö m m i g k e i t " auseinander (Albertz). N a m e n s g e b u n g , B e s c h n e i d u n g , E n t w ö h n u n g , H o c h z e i t und B e g r ä b n i s sind nicht Bestandteile des priesterlichen Kultes; sie werden vielmehr in der Familie praktiziert. In der urchristlichen R e l i g i o n s p r a x i s wird das H a u s „ z u m neuen gottesdienstlichen Z e n t r u m an Stelle von T e m p e l und S y n a g o g e " ( T R E 1 4 , 3 1 , 2 9 f ) . In der Feier von T a u f e und A b e n d m a h l werden die sozialen Beziehungen im H a u s religiös begangen. F o r m e n der rituellen R e i n i g u n g und Heiligung des H a u s e s blieben in der r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n und der o r t h o d o x e n K i r c h e e r h a l t e n ( - » H a u s III). In der geschichtlichen E n t w i c k l u n g der römisch-katholischen K i r c h e werden die m i t dem T a g e s - , J a h r e s und Lebenszyklus verbundenen Begehungen breit entfaltet. Z u m a l in der Z e i t n a c h dem T r i d e n t i n u m wird die Pflege der V o l k s f r ö m m i g k e i t mit N a c h d r u c k gefördert (Hubensteiner 2 4 1 ff). E i n engmaschiges Netz von Festen und Begehungen ordnet den A b l a u f des alltäglichen L e b e n s . In der evangelischen K i r c h e und T h e o l o g i e blieb die Einstellung zu den rituellen F o r men der F r ö m m i g k e i t und deren B e w e r t u n g bis in die G e g e n w a r t zwiespältig. D i e Reformation reduzierte die Anzahl der S a k r a m e n t e und w a n d t e sich ü b e r h a u p t kritisch gegen die ausufernde rituelle Praxis der r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n K i r c h e . D i e kritische Einstellung gegenüber den veräußerlichten und objektivierten F o r m e n des religiösen L e b e n s w u r d e

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zum Charakteristikum neuzeitlicher protestantischer Lebenshaltung (Weber 165ff). Die Kritik am Ritual wird zu einem die theologischen Epochen wie Positionen übergreifenden Moment evangelischer Theologie. Sie findet sich in besonderer Zuspitzung sowohl in der liberalen wie in der dialektischen Theologie (Harnack 142 ff; Niebergall, Kasualrede; Vogel, Predigtaufgabe). In der Epoche des protestantischen Bürgertums erlebten die Kasualien freilich gerade eine Zeit besonderer Blüte und Hochschätzung. Sie verdankt sich der in der Reformation festgehaltenen aristotelischen Idee der Oikonomia (Schwab 258 ff; Riehl) und dem mit dem christlichen Glauben in Verbindung gesetzten Humanitätsideal, aus dem Luther die Bestattung begründet (Luther, WA 44, 203,16-19; TRE 5,749ff; Steck, Speculum 271 ff). Schon seit dem 16. Jh. werden Trauungen und Taufen, zunächst nur in Ausnahmefällen und aufgrund eines gegen eine Gebühr gewährten Dispenses, gelegentlich im Pfarrhaus, häufiger aber im Privathaus abgehalten (Graff 1,309.325.335 ff; Diehl, Geschichte 289ff.319ff; Tholuck 156ff; Drews 198), bis die Feier der Kasualien im erweiterten Familienkreis in der Zeit der Aufklärung zur bürgerlichen Konvention wird (TRE 14,63,48 f). öffentliche Konfirmationsfeiern sind in manchen lutherischen Landeskirchen bis ins 19. Jh. unbekannt (Graff 1,313). Die Auffassung, daß Taufe, Konfirmation und Trauung keine öffentlichen Gottesdienste, sondern familiäre Feiern darstellen, wird in der evangelischen Theologie ebenso dokumentiert wie kritisiert. Die Hochschätzung von Taufe, Trauung und kirchlicher Bestattung, vor allem aber der Konfirmation im Protestantismus des ausgehenden 19. Jh. belegen die kirchlichen Statistiken (Drews 78 ff; Schian 92 ff; Wurster 101 ff; Ludwig 110 ff. - Für die EKD 1984: 238388 Taufen [ = 77% eines Jahrgangs], 93231 Trauungen [ = 4 5 % der standesamtlichen Eheschließungen], 330825 [= 93 % aller Bestattungen]). 3. Bedeutung und Gestalt 3.1.1. Im Zusammenhang der volkskirchlich verfaßten Kirche wie in der bürgerlichen Gesellschaft kommt den Kasualien konstitutive Bedeutung zu. Sie sind die allgemeingültigen Grundformen des gemeinschaftlichen religiösen Handelns wie die öffentlichen Ausdrucksformen persönlicher Frömmigkeit. Die Kasualien vermitteln deshalb einerseits zwischen den unterschiedlichen Formen gegenwärtiger Kirchlichkeit, andererseits zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre der Gesellschaft (vgl. Habermas 60ff). Im Unterschied zu anderen Formen sozial verfaßter Religion (Gottesdienstbesuch, Mitgliedschaft in kirchlichen Kreisen) begründen sich die Kasualien nicht aus spezifischen Momenten kirchlicher Gesinnung und Einstellung, sondern aus der für die Gesellschaft wie für den einzelnen konstitutiven Bedeutung der Religion (vgl. Rössler, Vernunft). Die Teilnahme an den Kasualien ist daher für alle Mitglieder der Volkskirche verbindlich und bedarf keiner außerhalb der Zugehörigkeit zu Gesellschaft und Kirche begründeten Motivation. Die Kasualien sind Begehungen grundlegender Institutionen der Gesellschaft: der Ehe, der Familie, der Verwandtschaft, der Lebensalter und schließlich der Beziehung, in der die Lebenden zu den Verstorbenen stehen. Die elementaren Formen des sozialen Lebens werden in den Kasualien lebenspraktisch verwirklicht und symbolisch abgebildet. Wie eine Gesellschaft ihre Toten achtet, welchen Wert sie den Kindern beimißt, wie sie die verschiedenen sozialen Altersklassen einander zuordnet und wie sie selbst auf den Institutionen von Ehe und Familie aufbaut, wird in der Bestattung, der Taufe, der Konfirmation und der Trauung in symbolischer Verdichtung zur Anschauung gebracht. In der Struktur der jeweiligen Kasualgemeinde kommen die Grundformen gesellschaftlicher Ordnung sichtbar und erlebbar zum Ausdruck. Die verschiedenen Typen von Gemeinschaftsformen, die anläßlich der Kasualien erkennbar werden, sind reale Reproduktionen, sinnbildliche Verdichtungen und modellhafte Typisierungen der sozialen Lebenswelt eines Menschen. Sie ordnet sich bei der kirchlichen Trauung nach dem dualen Prinzip der Gegenüberstellung zweier Verwandtschaftssysteme (vgl. Parsons), als deren

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Repräsentanten die beiden Ehepartner agieren; Gesten des Tausches bestimmen die rituelle Handlung. - Anläßlich einer Bestattung versammelt sich die Lebenswelt eines Menschen nach dem Modell der konzentrischen Kreise um seinen Sarg; die Entfernung eines Teilnehmers vom Zentrum der Handlung versinnbildlicht seine soziale Nähe oder Distanz zum Verstorbenen. — Bei der Taufe tritt eine Kernfamilie der gottesdienstlichen Gemeinde gegenüber, bei der Konfirmation die Altersklasse der Jugendlichen den Erwachsenen. Wie die statischen Prinzipien der Gesellschaftsordnung, so stellen die Kasualien auch die dynamischen Momente des gesellschaftlichen Lebens real und in symbolischer Verdichtung dar (Fischer 111 f). Im Ablauf der religiösen Zeremonie begehen die Akteure des Rituals signifikante Schwellen zwischen verschiedenen sozial verfaßten Lebensstadien und gesellschaftlichen Status. Soziale Prozesse von langer Dauer, wie der Prozeß der Eheschließung (Berger/Kellner; Fischer 78ff; Thilo, Ehe), des Erwachsenwerdens und der Gründung einer Familie, werden in der Trauung, der Konfirmation und der Taufe in zeitlicher Verdichtung sinnbildlich reproduziert. Wie die Kasualien einen Menschen den verschiedenen institutionellen Sektoren seiner sozialen Lebenswelt zuordnen, so strukturieren sie zugleich den Ablauf seines Lebens nach gesellschaftlich festgelegten Gesetzmäßigkeiten. Die soziale Dynamik eines Lebenslaufs - die Logik der Altersstufen, der verschiedenen Status und der voneinander abgegrenzten Lebenswelten - steht dem einzelnen ebensowenig zur Disposition wie seine sozialen Zuordnungen und seine gesellschaftlichen Bewertungen. In den Kasualien wird die allgemeine Gültigkeit von Lebensstadien und Lebenseinstellungen und damit der soziale Sinn einer Biographie dokumentiert (Rössler, Grundriß 206). 3.1.2. Obwohl sich in den Kasualien die ritualisierte Ordnung des sozialen wie individuellen Lebens ausdrückt, werden die rituellen Begehungen von Lebenswirklichkeit als unverwechselbare Szenen des subjektiven Erlebens wahrgenommen. Das Ritual kennt keine unbeteiligten Zuschauer; es nimmt jeden mit außerordentlicher Intensität in Anspruch. Denn die lebensgeschichtliche Einmaligkeit von Situation und Handlung überzeugt den einzelnen nicht nur von der Gleichförmigkeit menschlicher Lebensabläufe, sondern in dialektischer Umkehr der Erlebnisrichtung auch von der Einzigartigkeit subjektiver Lebensgestaltung. Deshalb wird die rituelle Handlung trotz ihrer ständigen Wiederholbarkeit als geschichtlich einmalig und nicht wiederholbar erlebt. Nicht nur das Erleben der Hauptakteure, auch die Anteilnahme der zugleich mittelbar wie unmittelbar Betroffenen ist gänzlich subjektiv, unverwechselbar und unübertragbar. Die Darstellung der sozialen Beziehungen, die alle Teilnehmer an den Kasualien untereinander verbinden, und deren Umstellung im Fortgang der rituellen Handlung überzeugt den einzelnen davon, daß er nicht in den aktuell vorfindlichen Lebensverhältnissen, nicht in den sozialen Bewertungen seiner Person und nicht in den Rollen aufgeht, die ihm die Gesellschaft zuweist und die er im Zusammenhang der rituellen Szene zu spielen hat. Die in den lebensgeschichtlichen Ritualen eröffneten und zugleich auch realisierten neuen Lebensformen stehen sinnbildlich für die prinzipielle Offenheit der geschichtlich begriffenen Lebenswirklichkeit für zukünftige Entwicklungen. Die symbolische Wahrnehmung von Lebensraum und Lebenszeit transzendiert die Grenzen menschlicher Lebensmöglichkeit und bringt damit den religiösen Sinn der rituellen Begehung zur Geltung. Die kirchlichen Amtshandlungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer religiösen Bedeutung nicht prinzipiell von solchen Ritualen, die nicht im Rahmen der kirchlichen Institution, sondern im Zusammenhang anderer institutioneller Lebenssphären, gewöhnlich in der privaten Lebenswelt, begangen werden. Im Zusammenhang der vielfältigen rituellen Inszenierungen des individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens kommt den kirchlichen Ritualen aber eine herausragende Bedeutung zu. Sie sind die zugleich kirchlichen wie öffentlichen Initiationsrituale für private Frömmigkeitspraktiken. So schließt sich an die Taufe die religiöse Begehung von Geburts- und Namenstagen an, an die kirchliche Trauung die Feier der Wiederholung des Hochzeitstages (Pittkowski/Cornehl

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209 f), an die Bestattung die Konvention des Grabbesuches und der damit verbundenen Andacht am Grabe (Ariès, Studien 51 ). In der Verbindung von öffentlicher und privater Frömmigkeitspraxis wird der Zusammenhang von Kirche und Haus, von gesellschaftlicher und individueller Bedeutung der Religion lebenspraktisch verwirklicht. Darin kommt die integrierende Bedeutung der Religion zur Geltung. 3.2. Die Kasualien folgen in der Regel einem dreigliedrigen Schema. A. van Gennep (Übergangsriten 387; vgl. Fischer 111; Ahuis 126 f) hat aufgrund ethnologischer Forschungen in primitiven Gesellschaften eine typische Sequenz der Passageriten herausgearbeitet (s. T R E 16,156,37—157,6). Der rituelle Handlungsablauf beginnt mit Trennungsriten (rites de séparation), findet in den Riten der Zwischenstufe (rites de marge) seinen Höhepunkt und wird mit Aufnahmeriten (rites d'agrégation) abgeschlossen. Für die Trauung und die Bestattung, die beiden rituell besonders deutlich ausgearbeiteten und mit einer Fülle von Brauchtum umgebenen lebensgeschichtlichen Rituale, läßt sich dieses Verlaufsschema auch in der gegenwärtigen Praxis nachweisen. Das Gesamtritual beginnt mit Trennungsriten im Haus, verdichtet sich in der Kirche oder auf dem Friedhof und endet schließlich mit der Feier im Kreise von Familie und Verwandtschaft. Im Mittelpunkt der Kasualien steht eine rituelle Kernszene, in der das der Begehung zugrunde liegende Geschehen dramatisch inszeniert und durch eine herausragende Handlung symbolisch dargestellt wird. Die symbolische Handlung wird vom Pfarrer an den Betroffenen in Gegenwart der in besonderer Weise an dem Geschehen Beteiligten vollzogen. Die rituelle Kernszene - die Segnung des Ehepaares am Traualter, die Taufhandlung am Taufstein, die Einsegnung eines Konfirmanden und die Versenkung des Sarges werden von Worten und Gesten des Segnens begleitet (Schulz 115 ff; Rössler, Vernunft 50f; Ahuis 147ff. 173ff). In der Segnungshandlung konzentriert sich der Sinn der religiösen Begehung individueller Lebensgeschichte (Grab). Die menschliche Lebensgeschichte wird als Gottes Geschichte mit den Menschen dargestellt. Biblische Lesungen und Gebete rahmen die Kernszene. Sie dienen der Begründung der Handlung, dem Zuspruch an die Betroffenen und der Paränese, in der die religiöse Handlung mit der ethischen Alltagspraxis verknüpft wird (Schulz 109ff). Das rituelle Handeln und die ritualisierte Sprache entlasten den einzelnen davon, in Krisensituationen seiner Lebensgeschichte eigene Formen der Bewältigung entwickeln zu müssen (Rössler, Vernunft 39ff). Sie festigen durch ihre ständige Wiederholung die Erinnerung an die biographische Schlüsselsituation und machen die Kasualien zu identitätsstiftenden Szenen der erlebten und erinnerten Biographie. In den voll ausgebauten kirchlichen Ritualen findet sich schließlich noch die Prozession (der Brautzug, der Leichenzug, der Einzug der Konfirmanden), durch die in symbolischer Versinnlichung der Charakter der Kasualien als Passageriten zur Darstellung kommt. 4. Die

Kasualrede

4.1. Die Kasualrede ist nicht nur ein unverzichtbarer Bestandteil aller Kasualien. Sie ist vielmehr deren „Herzstück" (Grün 312) und in ihrer heutigen Form „eine Frucht des Protestantismus" (Uhlhorn 15). Die Kasualrede ist in der Reformation als Kritik „an den selbstwirksam gedachten Ritualen" im „Interesse lebendigen Glaubens" entstanden (Jetter, Kasus 217; vgl. Josuttis, Beerdigung 196). Sie hat sich in der Folgezeit zwar im Zusammenhang des kulturellen Wandels der rituellen Formen, aber auch ihnen gegenüber selbständig entwickelt. Mehr als die gottesdienstliche Predigt ist die Kasualrede von der im Ritus dargestellten Situation und von deren subjektiver Konturierung charakterisiert. Ritus und Rede ergänzen sich aber auch. Während vor allem der -»Dialektischen Theologie verpflichtete Kritiker der Kasualien die Selbständigkeit der Kasualrede gegenüber deren situativen Bedingungen hervorheben und sich gegen eine Verfremdung der homiletischen Verkündigung durch Ritus und Brauchtum wenden (Bohren, Kasualpraxis 24; Vogel, Preditaufgabe 214), wird die Ansprache in der Tradition der Praktischen Theo-

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logie zumeist als ein organisches Element der Kasualien selbst angesehen (Schleiermacher 312ff; W. O t t o 2 9 8 f f ; Palmer 2 8 9 f f ; Trillhaas, Predigtlehre 162ff; H a a c k 19; Dehn 18; Rössler, Grundriß 2 0 9 f). Die Kasualrede wird gerade durch den Vollzug des Rituals notwendig; denn die auf den Ritus, die jeweilig einzigartige Situation und den ihr zugrunde liegenden Bibeltext bezogene Rede deutet das Ritual. Die spezifisch christliche oder sogar konfessionelle Deutung der rituellen Praktiken m a c h t die Kasualien als F o r m e n christlicher Gemeinschaftspraxis verstehbar und damit gegenüber den Praktiken anderer Religionsgemeinschaften unverwechselbar. Das interpretatorische Interesse der Kasualrede gilt ebenso dem vieldeutigen Verständnis der den einzelnen Kasualien zugrunde liegenden Institutionen. Dogmatische und ethische M o m e n t e des evangelischen Glaubensverständnisses verbinden sich in den verschiedenen Kasualreden in unterschiedlicher Modifikation. W ä h rend die Bestattungsansprache vorwiegend durch ihren „persönlich-solidarischen" Stil charakterisiert ist, sind Taufansprachen mehr dogmatisch konturiert; die T r a u a n s p r a c h e vermittelt dagegen einen eher „ w e l t l i c h e n " Eindruck, der sich aus dem ethischen Kontext der Situation ergibt (Predigt bei Taufe, T r a u u n g und Begräbnis 63ff). 4.2. Die Anfänge der Kasualrede liegen in der Reformationszeit. Vorreformatorische Taufagenden kennen lediglich eine kurze Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und das Ave Maria zu lehren (Uhlhorn 15). Für die Trauungen sehen auch die Kirchenordnungen der Reformationszeit nicht immer eine Ansprache vor, ordnen aber zum Teil einen Gottesdienst am Tage nach der Eheschließung an, in dem eine Predigt über den Ehestand gehalten werden soll (z.B. EKO 5,438f.428). Die Vermahnungen bei Taufe, Trauung und Ordination sind agendarische Stücke, die allenfalls in ganz geringem Maße „ad presentes casus zu accomodiren" sind (vgl. Uhlhorn 16). Der Sinn dieser Vermahnungen besteht darin, die an den Kasualien teilnehmende Gemeinde auf die Handlung vorzubereiten, deren Bedeutung zu erläutern und damit die persönliche Anteilnahme an der Handlung zu ermöglichen. Das Motiv der Rede ist ein pädagogisches (ebd. 17). Freie Reden sind in den Kirchenordnungen dagegen bei der Konfirmation, der Installation und vor allem bei der Bestattung vorgesehen (ebd.; -»Leichenrede). Mit der Trennung von Gemeindegottesdienst und Kasualien in der Zeit der Aufklärung wandelt sich die Kasualrede. Sie verliert den allgemeinen, dogmatischen wie liturgischen Charakter und wird zur freien Rede. Die ethische Verpflichtung zur christlichen Lebensführung wird zum Leitmotiv der Kasualrede bei Taufe, Konfirmation und Trauung; die Bestattungsrede nimmt wieder die Form der antiken Gedächtnisrede an (Beispiele bei Uhlhorn 20ff). In den Vordergrund rückt das seelsorgerliche Interesse an den persönlich Betroffenen (Schleiermacher 321 ff; Palmer 289ff). Vor allem in den Trau- und Bestattungsreden nehmen biographische Passagen breiten Raum ein. Die religiöse Rhetorik der Barockzeit verbindet sich mit dem bürgerlichen Interesse an der Biographie (-»Autobiographie). Die Praktische Theologie des 19. Jh. trägt dieser Entwicklung Rechnung. So sieht etwa Christian Palmer in der Individualisierung der Kasualrede deren protestantisches wie neuzeitliches Charakteristikum (290). Um die Wende zum 20. Jh. wird dann allerdings die Kritik an der subjektiven Beliebigkeit der Kasualrede allgemeingültig. Gleichzeitig erfährt auch das Verhältnis von Text und kasueller Rede eine neue Bewertung. Während Schleiermacher einen eigens der Kasualrede zugrundegelegten Bibeltext für entbehrlich hält („Der Text ist in der Handlung", 325), sieht Palmer im biblischen Text das „Medium" zwischen der Objektivität der Liturgie und der Subjektivität der Situation (290). Als reine Textpredigt schließlich verstehen die Kasualrede H. Vogel (Predigtaufgabe) und M . Seitz (Predigt 27). 5. Das

Kasualgespräch

Die Kasualgespräche, die anläßlich der lebensgeschichtlichen Rituale geführt werden, stehen in engem Z u s a m m e n h a n g mit dem liturgischen Ablauf der Kasualien und mit der Kasualrede. Sie dienen zum einen der Einführung in den Sinn und den daraus resultierenden Ablauf des Rituals und haben insofern informativen (Rössler, Grundriß 2 0 8 ) und lehrhaften (Thilo, Seelsorge 110) C h a r a k t e r . Sie verdeutlichen die ethischen Implikationen der den Kasualien zugrunde liegenden Institutionen und deren Deutung in den kirchlichen Lebensordnungen. Dem vermeintlichen Zerfall der gesellschaftlichen Institutionen und der entsprechenden kirchlichen Obligationen versucht die Kirche durch eine

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Ausweitung der Kasualgespräche und die Wiedereinführung von Eheseminaren und Taufunterricht zu begegnen. Zum anderen sind Kasualgespräche Explorationsgespräche (Groeger 166). Sie dokumentieren den Gesprächspartnern die Einzigartigkeit der Situation und erläutern dem Pfarrer die besonderen individuellen Konturen des Kasus, aufgrund derer er die Kasualrede entwirft. Die biographische Charakteristik der zu begehenden Lebenssituation wird in einem vielschichtigen Gesprächsprozeß gemeinsam erarbeitet. Sie verdichtet sich in der öffentlichen Darstellung der individuellen Situation, in der Kasualrede. Die enge Verbindung zwischen Kasualgespräch und ritueller Handlung verleiht schließlich den Kasualien selbst eine seelsorgerliche Dimension (Niebergall, Kasualrede 3 1917, 22ff; Haack 19ff). Umgekehrt finden symbolische und rituelle Elemente Eingang in das seelsorgerliche Gespräch (Scharfenberg/Kämpfer). Wie die öffentlichen kirchlichen Symbolhandlungen private Rituale initiieren, so begründen auch die Kasualgespräche spezifisch seelsorgerliche Gesprächsprozesse. Seelsorgegespräche über Eheprobleme und Erziehungsfragen sowie die kontinuierliche seelsorgerliche Begleitung des individuellen Trauerprozesses beruhen auf den Kasualgesprächen, in denen die Seelsorge des Pfarrers ihre grundlegende institutionelle Fassung erhält. Im Zusammenhang der neueren Seelsorgebewegung ist auch hinsichtlich der Kasualgespräche eine Entwicklung „von der Lehrverkündigung hin zur Lebensdeutung" zu beobachten (Thilo, Seelsorge 110). Sie betrifft vor allem die Seelsorgegespräche vor und nach der Bestattung. Im Taufgespräch treten dagegen vor allem kirchlich-dogmatische, im Traugespräch ethische Fragen der Lebensführung in den Vordergrund. 6. Kirchenrechtliche

Aspekte

Obwohl der Pfarrer im Zusammenhang der Amtshandlungen am häufigsten mit kirchenrechtlichen Fragen zu tun und auch kirchenrechtliche Entscheidungen zu treffen hat, ist das Recht der Amtshandlungen bisher weder wissenschaftlich dargestellt und begründet noch hinsichtlich seiner gesetzgeberischen Ausgestaltung systematisiert worden (Stein, Vorbemerkungen 231; vgl. Maurer 230.239). In den Ordnungen des kirchlichen Lebens werden allerdings die drei grundlegenden Rechtsprobleme der Kasualien sowohl nach pastoraltheologischen als auch nach kirchenrechtlichen Prinzipien geregelt: die Bedingungen, unter denen Amtshandlungen gewährt werden, die Zuständigkeit für die Entscheidung der Gewährung und die Zuständigkeit für den liturgischen Vollzug der Kasualien.

Der für die Kirchenmitglieder bestehenden Pflicht zur Inanspruchnahme der kirchlichen Amtshandlungen (Ordnung des kirchlichen Lebens der VELKD I, 3; VII, 2) entspricht umgekehrt das Recht auf Gewährung der Amtshandlungen. Dieses Recht wird grundsätzlich nur den Kirchenmitgliedern zugesprochen und auch für sie an bestimmte Bedingungen geknüpft. So behält sich die Kirche den Aufschub der Taufe oder die Versagung von Taufe, Trauung und Bestattung aus Gründen der Kirchenzucht vor (ebd. XII, 4). Nach dem Verständnis der kirchlichen Lebensordnungen sind Akte der ->Kirchenzucht allerdings nicht als Formen der Bestrafung zu verstehen, sondern als Verdeutlichung der mit den Amtshandlungen eingegangenen ethischen und religiösen Verpflichtungen. Die neueren Lebensordnungen lassen allerdings zunehmend Ausnahmen von den rechtlichen Festlegungen zu oder regeln - wie vor allem bei der Trauung Geschiedener - das rechtliche Verfahren zur Gewährung der entsprechenden Amtshandlungen positiv. Die Entscheidungskompetenz für die im Rahmen der Lebensordnungen zu treffenden Regelungen liegt weitgehend beim Pfarrer. Wie groß sein Ermessensspielraum sein soll, ist allerdings strittig. 2 Während H. Dombois (I 1969,841) die Zuständigkeit des einzelnen Pfarrers unmittelbar aus seiner Ordination ableitet, geht M. Mezger (Amtshandlungen 199) von einer Mitverantwortung der Gemeindeältesten in strittigen Fällen aus. Die kirchlichen Lebensordnungen wiederum lassen dem Pfarrer die für die Seelsorge notwendige Freiheit, sehen aber im Interesse der Rechtsgleichheit und der Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft die Delegation von strittigen Entscheidungen an die Dekane bzw. an den Landeskirchenrat vor. Die Zuständigkeit für den liturgischen Vollzug der Kasualien liegt grundsätzlich beim Pfarrer der

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jeweiligen Ortsgemeinde. Ihm ist die cura animarum und damit das Kanzelrecht (Wendt, Kanzelrecht) übertragen. D e m entspricht von Seiten der Gemeindeglieder der „ P f a r r z w a n g " als staatsrechtliche U m f o r m u n g des kanonischen Parochialzwangs (Preuß. Allg. Landrecht II, 11 § 1 8 ) . In der evangelischen Kirche der G e g e n w a r t , zumal nach der Abschaffung der für die Amtshandlungen zu entrichtenden Stolgebühren, k o m m t der Bindung des Gemeindemitglieds an seinen Pfarrer vorwiegend seelsorgerliche Bedeutung zu (Niebergall, Kasualrede 5 0 f f ; Palmer 2 9 0 f ) . D a a b e r gerade seelsorgerliche M o t i v e zur Wahl eines anderen als des zuständigen Ortspfarrers führen k ö n n e n , ist der Pfarrzwang in der evangelischen Kirche nahezu aufgehoben. D e r zuständige Pfarrer m u ß allerdings einen Entlassungsschein, das Dimissoriale, ausstellen. D e r Begriff meint im R a h m e n des k a n o n i schen R e c h t s ursprünglich die Übertragung der Ausübung des bischöflichen O r d i n a t i o n s r e c h t s auf einen anderen Amtsträger ( C I C 9 5 5 - 9 6 7 ) . Z u r Abhaltung von Kasualien im Bereich einer anderen Gemeinde bedarf es, von Ausnahmen abgesehen, der vorherigen Z u s t i m m u n g des für diese G e m e i n de zuständigen Pfarrers (Vischer 36). In N o t f ä l l e n , insbesondere bei T o d e s g e f a h r , ist jeder Pfarrer zu Amtshandlungen berechtigt und verpflichtet. Die N o t t a u f e kann jeder Christ vollziehen ( O r d n u n g des kirchl. Lebens d. V E L K D I, 5).

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Katechetik

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Wolfgang Steck Kasuistik -» Moraltheologie Katechet

Katechetik, —> Kirchliche Berufe

Katechetik 1. Epochen der Katechetik 2. Geschichtliche Voraussetzungen der Katechetik 2.1. De catechesi 2.2. Die institutiones catecheticae 2.3. Das katechetische Verfahren 2.4. Die katechetische Theologie und die Dogmatik 2.5. Die Sokratik bei Mosheim 3. Die wissenschaftliche Katechetik 3.1. Johann Friedrich Christoph Graeffe 3.2. Von Graeffe bis Schwarz 3.3. Die Katechetik in der Pastoraltheologie und der Praktischen Theologie 4. Die kirchliche Katechetik 4.1. Der Katechismus 4.2. Die Katechisation 4.3. Katechetik und Erziehung 4.4. Katechetik und Pädagogik 4.5. Das Ziel der Mündigkeit 4.6. Der Katechumenat 5. Die Katechetik neben der Religionspädagogik 5.1. Die erziehende Katechetik 5.2. Die katholische Katechetik 5.3. Die Ausläufer der evangelischen Katechetik 6. Die Katechetik als Aufgabe 6.1. Bleibende Fragestellungen der Katechetik 6.2. Gemeindepädagogik und Katechetik (Literatur S.706)

1. Epochen

der

Katechetik

Die Katechetik ist eine historische Erscheinung. Ihre Form ist eine Frucht der späten Aufklärung in Deutschland. Am Ende des 18. Jh. hat sie eine erste Blütezeit. Im 19. Jh. ist sie im Rahmen der Praktischen Theologie zur kirchlichen Katechetik umgebaut worden. Ohne diesen Rahmen zu verlassen, hat sie sich seit Ende des 19. Jh. als Erziehungslehre akzentuiert. Ihre wissenschaftliche Kontinuität ist auf evangelischer Seite in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg aufgelöst. Das traditionelle Arbeitsfeld wird von Religionspädagogik bzw. Gemeindepädagogik übernommen. Geschichtlich ausgearbeitete Fragestellungen und Reflexionshorizonte der Katechetik sind dabei vernachlässigt worden. Die immer wieder assoziierte Etymologie zu katecheo „Von oben herab tönen" tut ein übriges, um die Katechetik pauschal hierarchischem Kirchentum zuzuordnen. Die folgende Darstellung wird der Katechetik am besten gerecht, wenn sie historisch verfährt. Die literarische Form der Katechetik ist das Lehrbuch, das die im 18. Jh. eingebürgerten katechetischen Lehrveranstaltungen an den Universitäten begleitet hat. Es macht vom Substantiv Katechetik erstmals programmatisch Gebrauch. Die Katechetik systematisiert die Regeln des Katechisierens und begründet sie wissenschaftlich. Beim Katechisieren entwickeln leitende Lehrerfragen und folgende Schülerantworten in fortlaufendem Wechsel den zu unterrichtenden Sachverhalt schrittweise aufeinander aufbauend vom Vermögen der Lernenden her. Die Wurzeln der Katechetik reichen nach ihrem Selbstverständnis in die Alte Kirche

Katechetik

687

und darüber hinaus bis Sokrates. Während Sokrates erst im 18. Jh. als Vorbild des Unterrichts entdeckt wird, wirken die Unterrichtstradition der Alten Kirche, die Ausbildung der Katechismen und die ersten Ansätze zur Darstellung des kirchlichen Unterrichts seit der Reformation kontinuierlich auf den geschichtlichen Weg zur Katechetik ein. Die Geschichte des altkirchlichen Katechumenats, die Geschichte des Katechismus bis zum Ende des 18. Jhs. sowie die Überlegungen zur Katechese im 16. und 17. Jh. gehören in die Vorgeschichte der Katechetik. 2. Geschichtliche

Voraussetzungen

der

Katechetik

Die Formen, die seit dem Ende des 16. Jh. die Katechetik vorbereitet haben, sind die Abhandlung De catechesi und Lehrbücher, die ihr Selbstverständnis durch das Adjektiv catechetica ausweisen: institutiones catecheticae, historia catechetica, theologia catechetica. Auch die Methodologien zur Katechisierkunst aus dem 18. Jh. gehören hierher. Im folgenden werden diese Formen an ausgewählten Beispielen vorgestellt. 2.1. De catechesi. Die Catechesis Puerilis Philipp Melanchthons, die Johannes Brenz 1540 herausgegeben hat, enthält auch eine kurzgefaßte Antwort auf die Frage „Was heißt Catechesis?" Die Frage nimmt zu ihrem Gegenstand Distanz ein, definiert ihn und begibt sich auf den Weg zu einer „Theorie". Nach dem Sprachgebrauch der Zeit kann Catechesis mit „Catechismus Das ist, ein Kinderlehre" gleichgesetzt werden ( C X X X I X ) . Catechesis meint den Vorgang der Unterweisung. Auch „Katechismus" ist noch nicht auf seine Bedeutung als Buch eingegrenzt. Wie in der Alten Kirche, in der eigene „Catechisten" das Amt gehabt hätten, „die Kinder und Jungen zu unterweisen, ehe denn sie getauft würden", heiße Catechesis „Eine erste Unterweisung, in welcher kürtzlich geleret und fürgeben wird die Summa des gantzen Evangelii" (90). Mit dem Katechismusinhalt ist nach Melanchthon eine eigene Methode verknüpft: „Die Catechisten... gaben nicht allein die rechte Lehr für, sondern forderten auch wider von den Zuhörern dasjenig, so sie inen fürgeben hatten." Das Zurückfordern der Lehre ist die Prüfung des Zuhörers. So „kan man mercken, was ein ider verstehe und können diejenigen, so da irren, vermanet und rechtschaffen unterwiesen werden" (90 f). Adressaten sind die Unverständigen und Groben, wie die „rüdes" bei Augustin jetzt interpretiert werden. Die altkirchliche Tradition und die offenkundige Nützlichkeit reichen aus, um die Catechesis zu begründen.

In einem Traktat De Catechesi führt Andreas -»Hyperius die durch Melanchthon vorgegebene Linie weiter aus. Der Befund aus der Alten Kirche ist Maßstab. Er soll dazu anregen, die Catechesis wieder einzuführen oder - wo sie schon eingeführt ist - mit größerer Sorgfalt auszuüben (437). In 5 Kapiteln beschreibt er 1. das Wesen der Catechesis von ihrem Ursprung her, 2. das Amt des Katecheten, 3. den Lehrbestand, der zu überliefern ist, 4. die Unterrichtsmethode und 5. die Pflichten der Katechumenen. 200 Jahre später könnte diese Gliederung Grundriß einer Katechetik sein. Hyperius ist von solchen Ansprüchen weit entfernt. Zum Wesen der Catechesis gehört ihre Mündlichkeit (437 ff). Mündlich hat Gott selbst durch den hl. Geist die hl. Väter gelehrt, bevor die Lehre - verstreut genug - in den hl. Schriften Niederschlag fand. In der Mündlichkeit steckt eine latente Energie, die die Zuhörerschaft in ihren Bann zieht. Inhalt und Umfang der doctrina catechistica ist biblisch durch Hebr 6,1 f vorgegeben: „ . . . Grund zu legen (1) mit der Buße von toten Werken und (2) mit dem Glauben an Gott, (3) mit der Lehre von Waschungen (sc. von der Taufe, ergänzt durch Abendmahl und (4) Lehre) und (5) Handauflegung und (6) Auferstehung der Toten und (7) ewigem Gericht" (463ff). Der nachträglichen Vermittlung dieses Kanons mit dem Katechismusstoff eignet ein pragmatischer Zug (482 ff). Für die Methodik des Unterrichts ist Augustins De catechizandis rudibus wichtig. Von hier aus sprengt Hyperius den durch das Katechismusverhör gesetzten engen Rahmen auf: „ . . . Das Dargelegte von den Zuhörern zurückzufordern, war in der Alten Kirche nicht üblich" (490 f). Die inneren Schwierigkeiten der humanistisch-antiquarischen Methode zeigen sich im letzten Kapitel. Die gewissenhaft gesammelten Väterzitate über die Pflichten der Katechumenen sind wegen der Kindertaufe überholt. Sie haben lediglich den moralischen Sinn, daß unsere Knaben, Jünglinge und Erwachsenen sehen, mit welcher

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Katechetik

geistigen Bereitschaft die Katechumenen einst herangekommen sind, die Anfangsgründe der Religion zu lernen" (509).

2.2. Die institutiones catecheticae. Die institutiones catecheticae des Konrad Dieterich sind im 17. Jh. zum wichtigsten katechetischen Lehrbuch geworden. Von der Erstauflage 1613 bis ins 18. Jh. hinein werden unzählige Auflagen, Bearbeitungen, Auszüge und Kommentierungen, auch Befehdungen von katholischer Seite und dann wieder Verteidigungen aus dem eigenen Lager, schließlich auch eine Übersetzung ins Deutsche registriert (G. Langemack, 3. Teil, 1740, 8ff). Aus einem Abstand von mehr als 120 Jahren heißt es: Dieterich habe „so bald er zu Giessen die Jugend zu informiren angefangen... sich bemühet die Lehre des Catechismi, als das lauterste Honig seinen Discipuln in succum et sanguinem aufrichtig beyzubringen. Deswegen er die güldene Catechismuslehre, welche Lutherus in seinem kleinem Catechismo fürgeschrieben, ihnen nicht nur erkläret, sondern auch zu völliger Erläuterung aus demselben seine institutiones catecheticas denen Erwachsenen fürnehmlich zu Nutz geschrieben" (a.a.O. 9). Die Institutiones unterrichten diejenigen, die wissen sollen, was sie mit dem Katechismus gelernt haben. Sie bringen die im Katechismus enthaltene Lehre in einen schulmäßigen Zusammenhang, indem sie die grundlegenden Definitionen erklären, theologische Grundannahmen mit Einwürfen konfrontieren, durch deren Widerlegung erläutern und schließlich durch Väterzitate untermauern. Dieterich bildet mit seinem Buch den orthodoxen Schulbetrieb ab. Für das Studium an der Artistenfakultät hat er noch weitere Institutiones herausgebracht. Seine Definition von Catechesis bewegt sich in geläufigen Bahnen: „eine kurze und durchsichtige Unterweisung der noch Ungebildeten (rudiores) in der Grundlage der Religion, des Glaubens und des christlichen Lebens, zusammengestellt aus prophetischen und apostolischen Schriften" (1618,1). Der Catechesis dienen die institutiones so, daß sie auf die jeweiligen Fragen kurze Antworten geben, denen dann kursiviert lange Anmerkungen folgen, in denen sich die Gelehrsamkeit ausbreitet. Die Quelle der institutiones ist die inspirierte hl. Schrift, die die Stücke des Katechismus umfaßt und legitimiert. Der Katechismus ist Bestandteil der hl. Schrift und ihr Lehrprinzip. Solange der Inhalt der katechetischen Unterweisung unmittelbar aus der inspirierten Schrift abgeleitet ist, gibt es für eine Theorie des Unterrichts weder Notwendigkeit noch Raum. Die hl. Schrift ist als geordnete Lehre mit dem Unterricht identisch.

2.3. Das katechetische Verfahren. Das neue Unterrichts- und Erziehungsverständnis um die Wende zum 18. Jh. hat auch den Anfängerunterricht im Christentum verändert. Erziehung wird als Möglichkeit verstanden, den Menschen zu formen und den Willen als Fähigkeit zu wahrer Menschlichkeit auszubilden (Locke). Die pädagogische Methode, die den Willen des Lernenden als Zentrum seines Menschseins erreicht und nach Plan auszubilden erlaubt, ist das Katechisieren. Das Katechismusverhör wird jetzt von einem Verfahren abgelöst, das durch die Folge der sich schrittweise aufbauenden Lehrerfragen den Unterrichtsgegenstand ,zergliedert', die Lernenden durch die von ihnen geforderten Antworten in die Entfaltung des Gegenstandes nach der Logik der Sache aktiv einstellt und durch Repetition dafür sorgt, daß das Verfahren wie die Inhalte aufgenommen und angeeignet werden. Der -»Pietismus —>Speners und —»Franckes ist auch als eine pädagogische Bewegung zu interpretieren, die durch die Methode des Katechisierens Modernität beanspruchte. 2.3.1. Die Professionalisierung der Katechese. An die Nahtstelle zwischen Katechismusverhör und Katechisation führt eine Szene, die der von Spener beeinflußte Christoph Matthäus Seidel (1708) als Gespräch ausgestaltet hat. Diese Form ist bedeutungsvoll. Die Auffassung von katechetischer Praxis vermittelt sich durch die Darstellung dieser Praxis. Eine Witwe bringt ihre Tochter, ein Handwerker seinen Sohn zum Prediger, damit er sie für die Zulassung zum hl. Abendmahl prüfe. Beide hatten ihre Kinder den Katechismus gelehrt. Der Prediger ist mißtrauisch: „Ihr habt euren Kinde Worte beygebracht, ohne Verstand und Krafft" (19). Im Verhör kann das Mädchen zwar den Katechismustext auswendig hersagen, muß aber auf die einfachsten Fragen passen. Die Tochter, schließ-

Katechetik

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lieh verzweifelt: „Meine Mutter hat mich so nicht gefraget." Prediger: „Wärst du ins Examen (sc. zur öffentlichen Katechisation durch den Prediger) gekommen, so würdest du den Verstand der erlernten Worte auch vernommen h a b e n . . . " . Die Witwe: „Wir sind einfältige Leute, die das nicht verstehen" (31 f). Mit der neuen Methode ist die Professionalisierung des Unterrichtens verbunden. Sie nimmt den Eltern die Katechismuslehre aus der Hand und weist sie theologischen Spezialisten zu. Die Mittel der Katechisation führt Seidel im 2. Teil des Gesprächs vor. Nach den Regeln der Fragekunst wird der Sohn planmäßig zu Tränen der Reue darüber gebracht, daß er — entgegen seiner ersten Aussage — eben doch „ein böser Mensch" (36) sei, der „zeitlichen Tod und ewige Verdammniß" (42) verdient habe. Der Leser gewinnt die Einsicht, daß allein die Katechisation zum Verständnis des Christentums befähige. Die Laien kämpfen dabei um ihre Kinder, die sie als Arbeitskräfte brauchen: „Da geht aber viel Zeit drauf, wir brauchen unsere Kinder nöthiger" (55), wendet der Vater ein. Aber was vermag er gegen das Argument: „Eure Kinder sind geistlich kranck. Unwissenheit und Boßheit ist eine Kranckheit zum ewigen T o d e " (56)? 2.3.2. Die Schulung des Katecheten. Professionalisierung heißt Schulung in der Handhabung von Methoden. Die Katechisation bedingt einen Unterricht vom richtigen Unterrichten. Die bedeutendste Methodologie hat Johann Jakob - • R a m b a c h erstmals 1722 veröffentlicht: Der wohl-unterrichtete Catechet, auf knappstem Raum eine Anweisung zum richtigen Verhalten bei der Katechisation. Dem Kapitel: „Von den Fragen, Von den Antworten" gehen 2 Kapitel „Von dem Catecheten, Von den Catechumenen" voran. An letzteren interessieren besonders die Altersstufen. Der Katechet besitzt neben den natürlichen auch geistliche Gaben: „Göttliche Weisheit", um in die tiefste Einfalt hinabzusteigen, „Eine rechte Erkänntniß Göttl. Warheiten", „Eine brünstige Liebe des Herrn Jesu und der durch sein Blut erkauften L ä m m l e i n . . . " (29ff). Daraus folgen für den Katecheten Pflichten, z. B. sich „durch hinlängliche meditation" vorzubereiten, damit er dadurch „die materie bey sich wieder erneure, ihr einen rechten Geschmack abgewinne, und also mit einem warmen Hertzen zur Catechisation komme". Die geistliche Erfahrung des Katecheten ist den Fragen nach dem methodischen Verhalten vorgeordnet. 2.4. Die katechetische Theologie und die Dogmatik. Johann Friedrich König bestimmt in seiner Dogmatik (1664) nach der Unterscheidung von natürlicher und offenbarter Theologie letztere durch die Distinktion: aus unmittelbarer - aus mittelbarer Erleuchtung. Offenbarte Theologie aus mittelbarer Erleuchtung kommt als theologia catechetica und als theologia acroamatica vor. Die erste ist die „rohere" Theologie, die in allen Christen zu finden ist (die „Anfangsgründe des Glaubens", „die Milch", Hebr 5,12f; 6,1; I Kor 3,2). Die zweite ist die Theologie der Doktoren und Prediger (§ 23). König faßt seine Aufgabe so, daß er die katechetische Theologie auf sich beruhen lassen kann. Wenn der wortgewaltige Johann Gerhard Meuschen später „von der Theologia Catechetica fast durchgehendes altissimum silentium" registriert, reagiert er auf eine eingebürgerte Unzuständigkeitserklärung der Dogmatik. Ihm geht es um den Methodus Catechizandi, den er für noch wichtiger hält als Übungen im Predigen (944 f). 2.4.1. Die catechetische Theologie als Gattung. Den für die catechetische Theologie abgesteckten Rahmen füllt eine eigene literarische Gattung aus. In üblicher Unterscheidung von der acroamatischen Theologie nennt Johann Christoph Koecher seine katechetische Theologie „Milchtheologie, ingleichen Kindertheologie" (Einleitung 4). Sie lehrt „denienigen Theil der theologischen Wissenschaft, oder die Art dieselbe vorzutragen, welche sich sonderlich für die Unwissenden und Einfältigen schicket" (6). Lehre im Katechismus und katechetische Theologie fallen somit ineins. Dagegen wendet sich Johann Franz -»Buddeus in seiner aus dem Nachlaß herausgegebenen Catechetischen Theologie, der wohl ausgereiftesten Frucht von diesem Stamm. Die ersten Grundwahrheiten des Christentums ergeben eine „catfechetische Erkenntnis", nicht aber eine Theologie. Für letztere ist die folgerichtig aufgebaute Darstellung konstitutiv (31). Die Hauptbegriffe müssen definiert, erklärt und durch Schriftbeweise begrün-

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Katechetik

det werden, („ohne dadurch die Gründe der Vernunft wegzulassen" 32). Die katechetische Theologie stellt „nicht allein die unentbehrlichsten und ersten Glaubenswahrheiten" (28 f) dar, sondern enthält alle Glaubens- und Sittenlehren in sich, weil sie sonst nicht zureichend Theologie wäre. Buddeus legt seiner Catechetischen Theologie den Katechismus zugrunde und geht damit von einem Ordnungsschema aus, das die Katechumenen kennen. Die Themen der Lehre bringt er in besonderen Abhandlungen in diesen Grundriß ein. Buddeus entwickelt ein Handbuch der christlichen Lehre, für den Christen, „der zum guten Gebrauch seines Verstandes gekommen ist" und nun Genaueres wissen will. Die katechetische Theologie ist vom Bedarf des gebildeten Laien her gedacht, ohne den Begriff der Theologie zu ermäßigen. Sie bewegt sich zugleich auf der Ebene, auf der sich Lehrer und Prediger vorbereiten. Sie können aus diesem Buch „so viel gleichsam auf einmal schöpfen und übersehen... als zu ihrem Unterricht nöthig seyn wird" (34). Die Vorbereitung vollzieht sich am dogmatischen Inhalt.

2.4.2. Die katechetische Historie. Parallel zur katechetischen Theologie und wieder als Teil von ihr wird katechetische Historie dargestellt. Gregorius Langemack versteht sie als „Gesammlete Nachrichten". Im Aufbau seiner beiden ersten Bände, die bis in die Reformationszeit reichen, schimmert die Gliederung des Stoffes nach Jahrhunderten durch: sozusagen Stralsunder catechetische Centurien. Der dritte posthum edierte Teil gliedert nach Gattungen. Johann Christoph Koecher läßt auf seine katechetische Theologie katechetische Geschichten einzelner Kirchen folgen (1753,1756,1768). Kein Geringerer als Johann Georg -•Walch steuert für die katechetische Theologie von Buddeus eine „Einleitung in die catechetische Historie" bei. Er sichert damit eine offene Flanke im Werk des Buddeus und bestätigt, daß das geschichtliche Bewußtsein als Dimension katechetischer Theologie zu verstehen ist (Bibliographie zur historia catechetica bei Foertsch 6). 2.5. Die Sokratik bei Mosheim. Als letzter der konstitutiven Faktoren, unter denen die Katechetik entstehen konnte, ist die Sokratik zu nennen. Als den wahren Lehrer der Catechisation ruft Johann Lorenz -»Mosheim 1734 den Sokrates aus. Die Gottseligkeit des Menschen, so Mosheim, hänge oft davon ab, was er erkannt hat, also vom Unterricht, den er genossen hat. Folglich sei der zu konstatierende Verfall der Gottseligkeit auch auf den Jugendunterricht zurückzuführen. Viele Lehrer verwalteten die Catechisation übel, wenn sie überhaupt deren Beschaffenheit erkannt hätten (486 f). So lange ein Schüler „seinen Verstand nicht zu brauchen und mit demselben das begriffene recht einzusehen und sich gleichsam zuzueignen weis, so lange ist seine Wissenschaft ein fremdes Gut, das eigentlich seinem Lehrer zugehöret, und von einem jeden, der etwas Witz und Geschicklichkeit hat, geraubet werden kan" (488). Hier hilft Sokrates/Mosheim: „Ich bin d a s , . . . was meine Mutter ist... eine Hebamme... Ich verrichte eben dieses Amt an dem Verstände der Menschen, und suche sie dahin zu bringen, daß die Kinder ihres Geistes, die Begriffe ihrer Seelen, vollkommen und glücklich gebohren... werden" (488). Die Maieutik dient der selbsttätigen Bildung der Begriffe; die sinnliche Wahrnehmung ist dabei vorausgesetzt.

Sokrates hatte erwachsene Schüler, die er nicht als Unwissende ansprechen durfte. So nahm er „selbst die Person eines Schülers, der gerne lernen will, und gab denen, die er unterrichten wollte, die Person eines Lehrers, von dem er Unterricht hoffete" (489). Dieser Rollentausch macht das Wesen der Catechisation aus. Gleichwohl behält der Meister die Regie fest in der Hand und verfährt so natürlich, daß die Schüler die Catechisation als „ein vernünftiges und ordentliches Gespräch" empfinden. Mag der Lehrer mit immer neuen Fragen unermüdlich arbeiten: „Er nimmt weg, was überflüssig ist. Er ersetzet das, was mangelt... Er schleifet, beschneidet, versetzet, bessert so lange", bis die Begriffe schließlich mit der „Natur der Sache" übereinstimmen. Für den Schüler geben sich diese Fragen harmlos. Er „darf sich nie bedenken, noch seinen Verstand anstrecken". Die Antwort liegt schon in der Frage (490). Mit rokokohafter Leichtigkeit tänzelt dieser Schüler der Klarheit seiner Begriffe entgegen. Der tändelnde Zug der sokratischen Catechisation ist von Anfang an in ihr angelegt. Noch ist ihre Widersprüchlichkeit unter der

Katechetik

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Begeisterung über den wiederentdeckten natürlichen, vernünftigen und selbsttätig zu beschreitenden Lernweg verdeckt. 3. Die wissenschaftliche

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3.1. Johann Friedrich Christoph Graeffe. Nach 1790 liegt der Buchtitel „Katechetik" gleichsam in der Luft. Seine Bedeutungen reichen von einer anspruchslosen Anweisung für Kinderlehrer (H. Th.L. Schnorr) bis zum Handbuch mit wissenschaftlichem Anspruch. Graeffe ist nicht der erste, der diesen Titel verwendet, wohl aber sein eifrigster Propagandist. Zwischen 1792 und 1803 trägt er seine „Katechetik" auf vier verschiedenen Ebenen vor: 1792 als populärwissenschaftliche Abhandlung (für Studenten), 1795-1799 als dreibändiges Lehrbuch, 1796 als Grundriß „zum Gebrauche akademischer Vorlesungen" und 1803 schließlich zwischen „Homiletik" und „Volkspädagogik" als Kapitel einer Pastoraltheologie. Graeffe verbindet unterrichtspraktische Wirksamkeit mit wissenschaftlichem Anspruch. Bereits Johann Peter Miller habe (1778) der Katechetik einen „objectiv-praktischen" Charakter gegeben, indem er die Regeln des Katechisierens in ihrem inneren Zusammenhang entwickelte und zugleich durch Beispiele angab, wie sie gebraucht werden. Graeffes Katechetik „ist eine wissenschaftliche Unterweisung, wie man den Unterricht in den Religionswahrheiten vermittelst Frage und Antwort so fortzuführen und einzurichten habe, daß die Anfänger und Ungeübten im Christenthume ihren Verstand mit den nöthigen Kenntnissen erweitert und geschärft, und das Herz zur tugendhaften Gesinnung gebildet fühlen" (Die Katechetik nach ihren wesentlichsten Forderungen betrachtet, III, 15). Die Ausrichtung auf Verstand und Herz ergibt sich aus dem Wesen der Religion. Sie ist „das Werk einer mit Ueberzeugung begleiteten Erkenntniß"; folglich geht es darum, die Religionslehren „deutlich sich zu denken, und sie als Wahrheiten zu erkennen". Weil Religion ferner eine himmlische Führerin durchs Leben ist, sollen die Religionslehren so vorgetragen werden, „daß sie in das Herz und in die würklichen Empfindungen der Katechumenen übergehen" (a.a.O. 10). Graeffe hält sich - mit spürbarem Widerwillen - an den „nun festgesetzten Sprachgebrauch", nach dem Katechisationen der Religion gelten. Die Systematik seiner Katechetik treibt ihn aber über diese Grenze hinaus. Zunächst erwägt er, die Katechisationen nach ihren Gattungen zu erheben: in der Schule, „auf der Pfarre mit den Confirmanden" bis hin zu „Katechisationen bei Kranken, und Missethätern" (a.a.O. 17). Sein Interesse gilt jedoch dem „Allgemeinen", „Gemeinschaftlichen" (a.a.O. 19). Nur in Konzentration auf die „notwendigsten Grundsätze der Katechisation" erscheint ihm die zu erstrebende Vollständigkeit eines Systems herleitbar. So abstrahiert Graeffe nicht nur von den Gattungen der Katechisation, sondern de facto auch von den Religionslehren als ihren Inhalten, relativiert sie zum Exemplifikationsbereich und intendiert eine allgemeine katechetische Unterrichtslehre. Der Sache nach umgreift seine Katechetik jeden Unterricht in Frage und Antwort, Kopfrechnen und Sprachlehre eingeschlossen. Graeffe will die Unterrichtsfähigkeit überhaupt stärken (vgl. Die Pastoraltheologie, X X V ) . Eben darin bewährt sich der Wissenschaftscharakter der neuen Katechetik. Die zu unterrichtenden Personen sind Kinder oder ihnen „ i m ungeübten Denken und Erkennen gleiche" Erwachsene, die weder im Abstrahieren geschult noch fähig sind, „einen beständig in eins fortrollenden Vortrag zu umfassen". Daraus leitet sich zwingend das Vorgehen in Frage und A n t w o r t ab (Die Katechetik nach ihren wesentlichsten Forderungen betrachtet III, 11 f). Der frühere Landpastor achtet sorgfältig auf die sprachlichen Voraussetzungen der zu Katechisierenden (ebd. II). Im Elementarunterricht ist bei den sinnlichen Eindrücken anzusetzen und von da aus zur Begriffsbildung fortzuschreiten. Auf diesem Hintergrund rezipiert Graeffe das sokratische Verfahren (vgl. ebd. I) mit Modifikationen. Weil die Begriffsbildung an sinnlichen Eindrücken, Erlebnissen und Gefühlen ermöglicht, mit diesen umzugehen und ihnen Dauer zu verleihen, leistet die Katechisation einen Beitrag zur allgemeinen Glückseligkeit. Wie die Pädagogik durch Erziehung so löst die Katechetik durch Unterricht die Frage, wie „ d a s Kind und der Jüngling dahin gebracht wird, das, was sein Endzweck ist, sich auch zu seinem Endzweck zu m a c h e n " (Rezension zu Carl D a u b 3 4 6 ) .

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Das Streben nach theoretischer Allgemeinheit und das Sich-Einlassen auf die lernenden Personen vermitteln sich in der Rezeption ->Kants. Ihr eignet aus der Sicht der Nachgeborenen ein naiver Zug, weil sie die Kant'sche Kritik zum Grundriß eines Lernverfahrens macht. Graeffe bezieht von hier seinen wissenschaftlichen Elan. Die Einteilung der Katechetik in drei Hauptteile, die sich, aufeinander aufbauend, „auf die ursprüngliche Beschaffenheit des Erkenntnißvermögens", „des Gefühlsvermögens" und auf das „Begehrungsvermögen" beziehen (Die Pastoraltheologie) und daraus die katechetischen Regeln ableiten lassen, gibt ihm Anschluß an das Wahrheitsbewußtsein seiner Zeit. Der junge Karl —»Daub, der es wagt, eine Katechetik im Anschluß an Kants Metaphysik der Sitten nach drei entwicklungspsychologisch aufeinander aufbauenden Stufen (1) der Mitteilung der Rechtsbegriffe, (2) der Tugendbegriffe und (3) der Religionsbegriffe zu gliedern (und dabei ebenfalls mit Kant Katechisation im Gegensatz zur entwickelnden Sokratik auf reproduktive Gedächtnisleistungen bezieht), wird in Graeffes Katechetischem Journal (7 [1806] 3 3 6 - 3 4 5 ) vernichtend rezensiert. 3.2. Von Graeffe bis Schwarz. Mit Graeffes Werk ist „die Katechetik" etabliert; es spiegelt ihre Aufnahme in den Kanon der theologischen Fächer. Graeffe propagiert das Studium der Katechetik als Endzweck des Theologiestudiums; er drängt darauf, die Studienzeit für dieses Fach auszuweiten: Hier erst lerne der Student, seine Bücherweisheit der Wirklichkeit auszusetzen (Vollständiges Lehrbuch, VIIIff). Sein Göttinger Kollege G. J. Planck verbannt daraufhin pointiert die Wissenschaften, die zur angewandten Theologie gehören, in den Anhang seiner Enzyklopädie (593-607). Die Katechetik wird auch in den aufblühenden Schullehrerseminaren gelehrt. Das Lehrbuch von G.F. Dinter hat von 1800 bis 1829 sieben Auflagen erfahren. Katechetik ist die Wissenschaft, „die mich lehrt, wie ich Katechisiren soll". Weil in den Bürger- und Landschulen der Religionsunterricht am wichtigsten sei, müsse die Anweisung zum Katechisieren ihn vorzüglich berücksichtigen (Die vorzüglichsten Regeln 1). Das Lehrbuch der Katechetik von H. Müller, aus der Lehrerausbildung in Kiel erwachsen, signalisiert, daß noch 1816 Katechisation und Religionslehre nicht identisch sind. Die Ausbildung des Lehrers für den Religionsunterricht ist zugleich die hohe Schule für den Unterricht in Frage und Antwort überhaupt. Ebenso Ernst Thierbach (Handbuch der Katechetik, 1. Aufl. 1 8 2 2 / 2 3 ) : Dem 1. Teil seiner „Anweisung zur Erwerbung der Fertigkeit im Katechisiren", der sich dem Religionsunterricht widmet, folgt ein 2. Teil, der die katechetische Lehrart überhaupt darstellt. Thierbachs besonderer Beitrag liegt darin, daß er den Unterricht im Katechisieren selber als einen gestuften Unterricht vom Leichteren zum Schwereren begreift (Lehrbuch der Katechetik).

Auch im katholischen Bereich wird das Lehrbuch der Katechetik rezipiert. Es baut auf der klassischen Methodenlehre von Michael Ignatius Schmidt (Methodus) auf und löst sie ab. In der Kantrezeption ist Samuel Traugott Mückes Versuch eines Lehrbuches der Katechetik am weitesten gegangen. In der Verbindung von theoretischem Anspruch und praktischer Verwendbarkeit unterstellt sich Ignatz Mertian ähnlichen Bedingungen wie Graeffe. Vorsichtig begrenzt er die Möglichkeiten der Sokratik, die als analytische Methode erst mit der synthetischen zusammen die Kunst des Katechisierens ergebe. „Zu den Lehren, welche nach socratischer Art nicht entwickelt werden können, gehören vorzüglich jene Glaubenssätze, die wir deßwegen Mysterien nennen, weil sie der Menschenvernunft ihre dunkle Seite darbieten" (75). In welchem Maß der neue Titel einer Katechetik inzwischen zwingend geworden ist, führt Friedrich Heinrich Christian Schwarz vor Augen. Als Pfarrer hatte er 1793 über Religiosität, was sie seyn soll, und wodurch sie befördert wird geschrieben. Als Heidelberger Professor nennt er die (erweiterte) Neuauflage dieses Buches (1818) Katechetik. Das Vorwort gibt über die Revision nach 25 Jahren Rechenschaft. Der Abkehr von Kant entspricht die Hinwendung zur Geschichte als dem Wurzelboden für Idee und Erfahrung (X).

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Graeffe wird jetzt aus großem Abstand gesehen (80); seine Katechetik sei „zum popularisierten Vortrag von mehreren Haupttheilen der Kantischen Kritik geworden" (198 f). Zu Graeffes Zeit sei die Katechetik von ungebührlichem Vertrauen in die Kunstlehre getragen gewesen. Nach der Kritik durch Pestalozzi habe erst F. W. Wolfrath der Katechisierkunst den angemessen relativierten Platz angewiesen (80). Schwarz hatte schon 1808 der Katechetik als Methodenlehre den Wissenschaftscharakter abgesprochen. Besser werde der Begriff für die Lehre vom Religionsunterricht verwandt (76 ff). Nun definiert er Katechetik als „Anweisung, wie man auf die beste Weise die Kinder in die Religion, insbesondere in die christliche einführen möge" (1 f). Er erfaßt diese Religion organisch vom „Wesen des Christenthums" her. Für seine Katechetik als „Lehre von der ersten Bildung zur christlichen Gottseligkeit" (2) ist die Methode von Frage und Antwort nicht länger konstitutiv. Der Nutzen der Katechisierkunst wird auf die Ausbildung des Erkenntnisvermögens beschränkt; das Katechisieren der Begriffe führt allenfalls zur Religion hin, erreicht sie selbst jedoch nicht. Schwarz veranschlagt jetzt zwischen schulischem Religionsunterricht und kirchlichem Konfirmandenunterricht einen qualitativen Unterschied. Seine Katechetik ordnet sich bewußt der Praktischen Theologie zu und bildet dadurch eine Brücke zur kirchlichen Katechetik'. 3.3. Die Katechetik in der Pastoraltheologie und der Praktischen Theologie. Homiletik, Pastoralwissenschaft (1. Aufl.: Pastoralanweisung) und Liturgik heißt der 2. Teil einer Pastoraltheologie von August Hermann Niemeyer. In den ersten Auflagen 1790 und 1794 fehlt die „Katechetik" im Titel. Später, sicher in der 6. Auflage 1827, ist sie im Titel nachgetragen. Eine Pastoraltheologie, die Katechetik nicht als konstitutiven Bestandteil ausweist, ist nun nicht mehr denkbar. Der Leiter der Francke'schen Stiftungen in Halle hatte die Katechetik ursprünglich nicht vergessen. Vielmehr gehörte sie für ihn selbstverständlich zur Homiletik: Sofern sich der „Religionsunterricht" durch Predigten vollzog, war ihm die Homiletik zugeordnet. „Sofern er aber mehr Unterhaltung... durch Frage und Antwort war", gehörte er zur Katechetik (2. Aufl. 1794, 18). Aufgrund derselben Zuordnung hat Niemeyers Kollege Johann August Noesselt etwa gleichzeitig „Homiletik und Katechetik" zwar programmatisch zu einer Einheit verbunden; in der Durchführung ist die Katechetik jedoch von der Homiletik absorbiert, so daß sie bloßer Titel geblieben ist: Noch ist die neue Disziplin ein Postulat. Als Zwillingsschwester der Homiletik kann die Katechetik nicht in toto in die Pastoraltheologie rezipiert werden. Einerseits bleibt im Blick auf den Prediger der Elementarunterricht in der ersten Jugend ausgeklammert, obwohl dieser sich — nach Niemeyer - in Frage und Antwort vollzieht. Andererseits ist die allgemeine Katechetik ein Bestandteil der Pädagogik (2. Aufl. 202 f, 6. Aufl. 227 f), von der sich „der christliche Religionslehrer", also der Geistliche, entlastet sehen darf. Für seinen Bedarf wird eine reduzierte Katechetik zurechtgeschnitten; Niemeyer nennt sie „Prediger-Katechetik". Sie stellte die Nutzanwendung der allgemeinen Katechetik für die Geistlichen dar und bildete das Gegenstück zur wenig späteren Schulmeisterkatechetik. Die Predigerkatechetik zielt auf die Situationen, in denen der Prediger als Katechet unterrichtet und für die er Regeln braucht: die Vorbereitung der Katechumenen auf das hl. Abendmahl, das katechetische Durcharbeiten gehörter Predigten und Katechisationen über die vornehmsten Lehren des Christentums. Solcher Unterricht geschieht prinzipiell in Frage und Antwort. „Nur selten" (1828: „nur abwechselnd") soll sich der Prediger der akroamatischen Lehrart bedienen.

Die „Predigerkatechetik" ist das Verbindungsglied, durch das der Begriff der Katechetik - noch festgelegt auf die Kunst des Katechisierens, zugleich aber die Lehre von der gesamten Unterrichtstätigkeit des Geistlichen - in das System der Pastoraltheologie Eingang findet. Ludwig Hüffel hat für die Prediger-Katechetik dann bald in der katechetischen Unterrichtsform einen „Nebenbegriff" gesehen, den er, wie Schwarz, vom Hauptbegriff einer „Wissenschaft vom Unterricht der Jugend in den Lehren des Christenthums" abgehoben wissen wollte (394 f).

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Das Interesse der werdenden —»-Praktischen Theologie, die nach Schleiermacher Ergebnisse aus der philosophischen und historischen Theologie auf Kirchendienst und -regiment anwendet, gilt zunächst den katechetischen Verfahren und unterstellt diese den leitenden Ideen von Kirche und den geschichtlichen Bedingungen des Unterrichts (vgl. Kurze Darstellung, 1. Aufl. 1811). Unter diesen Prinzipien wird aus der Katechisation das Kunstwerk eines lebendigen Gesprächs, das die Religion zur Darstellung bringt und zu dem jeder Beteiligte je nach seiner Empfänglichkeit eine individuelle Beziehung findet. Die „ H a u p t k u n s t " der Gesprächsführung besteht darin, „jedem seinen rechten Theil zu bescheiden". Die für die bisherige Katechetik formgebende Alternative zwischen der ,obsoleten' akrcamatischen und der ,modernen' erotematischen Methode wird von —>Schleiermacher dialektisch aufgehoben: Dem Religionsunterricht eignet nach dem didaktischen auch ein paränetisches Moment, das die fortlaufende Rede des Geistlichen erfordert. Die reine dialogische Form, in der der jeweils antwortende Schüler den Verlauf des Gesprächs bestimmt, hemmt dem Geistlichen „eigentlich seine religiöse Erregung". Er muß notwendigerweise „an gewissen Punkten ausbrechen und das Gleichgewicht in der (gemeinschaftlich-lebendigen) Darstellung (der Religion) wieder herstellen" (Die Praktische Theologie, 363-372). Durch das lebendige Kunstwerk des Gesprächs hat Schleiermacher die von Graeffe herkommende Katechetik aufgelöst und das eigene böse Urteil von 1799 (Uber die Religion, 3. Rede, 139), Unterricht in der Religion sei „ein abgeschmacktes und sinnleeres Wort", in ein neues Verständnis von Religionsunterricht überführt. Indem die Katechetik der Praktischen Theologie integriert wird, erhält sie gegenüber der Pädagogik, die der allgemeinen Ethik zugewiesen ist, prinzipielle Selbständigkeit. Z w a r geht sie „auf die Pädagogik als Kunstlehre zurück" und setzt diese voraus; ihre Aufgaben werden „aber doch in Bezug auf das religiöse Gebiet auch besonders bestimmt". Dabei ist der N a m e der Katechetik willkürlich gesetzt, er ist „von einer zufälligen Form der unmittelbaren Ausübung hergenommen, mithin für den ganzen Umfang der Aufgabe zu beschränkt" (1830, 291). Philipp -»Marheineke hat auf den Begriff der Katechetik überhaupt verzichtet und ihn durch „Die Bildung der Gemeinde oder der Jugendunterricht" (§280-322) ersetzt. Die Praktische Theologie entwickelt nicht die hergebrachte Katechetik weiter, sondern bildet eine binnenkirchliche Bildungs- oder Unterrichtslehre aus. Diese wird in der Folge dann doch wieder Katechetik genannt, wie auch Marheineke selbst weiterhin von der „Katechese" spricht. Unbefangen sieht er sie durch das Fragen des Lehrers bestimmt, das jedoch nur „eine andere Form der Lehre" sei, die ihrerseits wiederum Lehre im strikten Sinn voraussetze. „ O h n e vorhergegangene Lehre fragen zu wollen" (kehrt er Schleiermachers Reihenfolge um) „ist die Charlatanerie der neueren Zeit gewesen" (§316). 4. Die kirchliche

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Keiner spricht es deutlicher aus als Johann Baptist Hirscher: „Der feindliche Andrang [sc. gegen die katholische Kirche] ist ungeheuer; nur dadurch, daß wir uns der Jugend bemächtigen, und dieselbe durch einen ungemeinen Aufwand von M ü h e und Zeit im christkatholischen Glauben fest gründen, und heiligen, werden wir die Völker glücklich durch den aufgeregten Sturm hindurchführen; zugleich aber auch uns selbst vor dem Untergange retten" (Katechetik X - X I V ) . Hirscher meint, dieser Punkt sei ihm wachsend klarer geworden. Die wissenschaftliche Katechetik wird zur Sicherung der Kirche gebraucht; sie befähigt die Geistlichkeit, die Jugend an die Kirche zu binden. Sie ist Ausdruck eines verunsicherten Kirchentums, das in Gestalt der Praktischen Theologie Wissenschaft als Theorie seines Handelns einfordert. Daraus ergibt s i c h - g e r a d e für Hirscher — eine Auffassung von Theologie, die Wissenschaftlichkeit und Lebenstüchtigkeit in sich vereint. Seine Katechetik will für den katechetischen Unterricht Anschaulichkeit und Volksnähe und trägt darin einen antidogmatistischen Akzent. Indem er die katechetische

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Verwaltung des Wortes mit dessen Vollzug in Kult und christlichem Leben vermittelt, wird die Katechetik zu einer Theorie der Jugendseelsorge insgesamt. Hirscher erhält von evangelischer Seite gebührende Anerkennung. Lorenz Kraußold und Christian ->Palmer folgen ihm mit eigenen Katechetiken. Carl Immanuel -•Nitzsch bearbeitet die Katechetik ausführlich in seiner Praktischen Theologie, durch Carl Adolph Gerhard v. -»-Zezschwitz wird „das System der Katechetik" literarisch monumentalisiert. Diese Arbeiten, die ihre Aufrisse aneinander diskutieren, haben der „kirchlichen Katechetik" (wie Palmer sie rubriziert) ihre Form gegeben und das Verständnis von Katechetik bis heute bestimmt. Die Merkmale der neuen Katechetik faßt Palmer rückblickend in vier Punkten zusammen: Sie wird (1) „das Wesen der Katechese aus dem Wesen und Leben der Kirche ableiten" und damit ihren praktisch-theologischen Charakter bewähren; (2) wird sie „die beiden Hauptseiten der katechetischen A u f g a b e . . . feststellen": die Unterweisung durch die Kirche und die Erziehung, sofern sie ebenfalls von der Kirche wahrgenommen wird, z. B. durch den Gottesdienst der Gemeinde; (3) ist die katechetische Lehrart darzustellen und der Lehrinhalt zu entwickeln, gestuft nach den geschichtlichen, biblischen und den am Katechismus orientierten dogmatisch-ethischen Stoffen; (4) die Katechetik wird „die Einführung der Katechumenen in das Leben der Gemeinde... ins Licht setzen müssen" (Katechetik 892). 4.1. Der ->Katechismus. Mit der Orientierung am kirchlichen Lehrstoff handelt sich die kirchliche Katechetik die Katechismusfrage ein. 1790 hatte Niemeyer den Katechismus zu den Hindernissen der Katechisation gezählt (die Bemerkung ist 1828 gestrichen). Nun versteht Hirscher seine Katechetik als einen „Beitrag zur Theorie eines christkatholischen Katechismus"; er hat selber den Freiburger Diözesankatechismus ausgearbeitet. In Palmers Katechetik nimmt der Abschnitt über den Katechismus (Kleindruck eingerechnet) fast die Hälfte des Buches ein und integriert in sich eine didaktisch weiterentwickelte katechetische Theologie, an der Kraußold (2. Aufl. 1880, 46) das unterrichtsmethodische Erbe der alten Katechetik vermißt. Dafür hat Kraußold den Vorwurf zu tragen, er habe den eigentlichen Vorteil des evangelischen Katecheten viel zu wenig genutzt, „nämlich daß er den Zögling unmittelbar in die Schrift einführen darf, und daß er an Luthers Katechismus eine Basis für die . . . Lehrentwicklung besitzt" (Palmer, Encyclopädie des ges. Erziehungs- u. Unterrichtswesens 891 f). Das Verhältnis zum Kleinen Katechismus Luthers spiegelt das konfessionelle Bewußtsein. „Wer einmal die Glaubenseinheit mit den Reformatoren aufgegeben hat, der kann in unsern Tagen sich nicht mehr mit der Illusion tragen, als könnte er doch noch ein Glied der evangelischen Kirche seyn, und als könnte nach den Bedürfnissen der Zeit ein neuer Katechismus gemacht werden, der evangelisch wäre, ohne die Lehren der evangelischen Kirche festzuhalten" (Ev. Katechetik 300). Beglückt registriert Palmer: „Die Stimmen für Luthers Katechismus mehren sich auf eine höchst erfreuliche Weise" (ebd.), sie „sind nicht mehr zu zählen" (Ev. Katechetik 249); er repräsentiert den Katechumenen die Lehre der Kirche. Der Katechismus steht für zusammenhängende Lehre, die die Fähigkeit zur Schriftauslegung beim Katechumenen voraussetzt, in sich aufnimmt und ihr neuen, „höheren Schwung" verleiht; sie bildet einen lebendigen Organismus, in dem sich die einzelnen Teile wechselseitig bedingen. Sie wird für das ganze Leben des Kindes zum natürlichen „Mittelpunkt aller Religionserkenntniß"; sie kann sich erweitern, findet aber immer wieder zum Elementaren zurück. Darüber hinaus entspricht die Form des Katechismus dem katechetischen Zweck (vgl. Anselm 160). Lehrerfrage und Schülerantwort geben „das Gemeinsame des Gesprächs" vor, so daß sich darin die „Verständigung des Kindes über dieses sein eigenes Bekenntniß" vollziehen kann (Palmer, Ev. Katechetik 296f.310.318f).

Auch bei C.I. -»Nitzsch dient der Konfirmandenunterricht einer „Grundlegung der christlichen Erkenntniss, durch welche sich das christliche Leben vermittelt". Sein wesentlicher Zielpunkt ist die „Erziehung der unmündigen Gemeine zur wahren Communion Christi", d.h. zur „Hereinbildung in das Reich Gottes" und zur „Ausbildung zum

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selbstbewußten Theilnehmen am kirchlichen Leben." Die Vorstellung vom seiner selbst bewußten Christen begründet und begrenzt den katechetischen Stoff. Die christliche Selbständigkeit verlangt Erkenntnis der „Gründe des ganzen Offenbarungs- und Heilsglaubens" und impliziert die Erziehung zum Bibelleser. Dafür sucht die Katechetik nach einem Stoffplan in Gestalt eines „Systems biblischer Hauptstücke" und ermittelt ein Gerüst von katechetischer Lehre, für das Nitzsch selber den Aufriß einer „Lehre vom Reiche Gottes" vorschlägt. Nitzsch geht nicht vom Katechismus aus, sondern fragt von seiner Funktion auf ihn zurück. In Luthers Kleinem Katechismus liegen „mehr Baustoffe vor, als daß es ein Bau wäre"; der ->Heidelberger Katechismus stellt ein in sich geschlossenes System dar, das nur im ganzen angenommen oder verworfen, jedenfalls nicht gebessert werden kann. Die „Urkatechismen der Reformation" stellen die Frage nach zeitgemäßen Änderungen; sie erscheinen ja selber „in einer Aneignungsform" „mit einem Mehr oder Minder von Auslegungen". In weiterer Auslegungsarbeit werden sich die beiden Konfessionen aufeinander zu bewegen, bis „Gott einen Mann berufen und segnen" wird, „der aus Einem Gusse ein christliches evangelisches Volksbuch ans Licht bringt". Die Katechetik Nitzschs befindet sich in Schleiermacherscher Tradition selber auf einem Weg vom „Urkatechismus" zum Katechismus der Zeit (Praktische Theologie 168-213). 4.2. Die Katechisation. Der Gegenstand der Katechisation ist der kanonische Text aus Bibel und Bekenntnis. Der kirchenamtliche Charakter der Katechisation und die kanonische Textgrundlage bedingen sich wechselseitig. Die besondere Art dieser Texte liegt, nach Palmer, darin, daß sich dem Lernenden „ein Stück Leben" einpflanzt, indem er sich den Textinhalt aneignet. Vermittler dieses Lebens ist der Lehrer, der nach eigener Meditation, in der ihm der Buchstabe Geist wird, „den Gehalt für den Schüler so zu Tage fördert und auseinanderlegt, daß auch dieser nach Maßgabe seiner geistigen Kraft sich denselben aneigne" und in sein Leben mitnehmen kann. Dem fachgerechten „Entwickeln", das in der Dinterschen Schule auf das begriffliche „Zergliedern" des Stoffes folgt und dem Denkvermögen des Kindes gilt, entspricht bei Palmer eine zweistufige Entwicklung des Textes, dessen „zunächst objectiv entwickelte Wahrheit dann bis hinein in das Menschenherz" fortentwickelt wird (Palmer, Encyclopädie des ges. Erziehungs- und Unterrichtswesens 894ff.898). Die Ausschließlichkeit des Frageverfahrens ist überwunden. V. Zezschwitz stellt fest: „Das erotematische Verfahren für sich das Katechetische zu nennen, ist Willkür nach Sprachgebrauch und sachlicher Vorlage" (Bd. 2/2,1,3). Die Enge der somatischen Katechisation ist durch eine Methodenvielfalt ersetzt, die neben der Bibellektüre z. B. auch Kartenlesen und Bildkatechese einbezieht. Die erotematische Unterrichtsform wird systematisch zu einer „Formenlehre des katechetischen Entwicklungsverfahrens" ausgebaut (Bd. 2/2,2, Cap. 7). 4.3. Katechetik und Erziehung. Die Katechetik, die die „Erziehung der unmündigen Gemeine" entwirft, kann sich nach den Erfahrungen mit dem Rationalismus nicht auf eine „Restauration des christlichen Unterrichts" (so Nitzsch, Urkundenbuch II) beschränken, sondern muß Erziehungsaufgaben mit bedenken. Den „katechetischen Hausunterricht" in der Familie und den religiösen Elementarunterricht in der Schule setzt sie dabei voraus (a.a.O., 198f); so kann sich die pfarramtliche Katechetik weiterhin vom traditionellen Bereich der Katechisation Jugendlicher definieren lassen. Aber auch im Unterricht selber werden erzieherische Komponenten gesehen; er erzieht, indem er in den Gottesdienst einübt (Palmer) oder indem die Beteiligten selber eine „katechetische Gemeine" darstellen, die zur Ausübung des christlichen Bekenntnisses erzieht (a. a. 0 . 1 7 4 f). Mit fortschreitender Erkenntnis wirkt der Unterricht auch an kirchlicher Erziehung mit, weil das Kindes- und Jugendalter „viel ungehinderter vom Wissen zum Glauben" komme, als spätere Altersstufen; die „Erkenntniß des Evangeliums" ist überhaupt eine lebendige, und im Wissen vermittelt sich ein Wollen, so daß im Wirkungskreis von Wort und Gemeinde zum christlichen Selbstbewußtsein tatsächlich auch erzogen werden kann (a.a.O. 172 ff). Bei alledem ist Erziehung kirchliche Erziehung. Die vernünftige Erziehung ist „zu-

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gleich die religiöse, in ihrer vollen Bestimmtheit die christliche, in ihrer Vermittlung die kirchliche" (Nitzsch, a. a. 0 . 1 6 8 ) . Die Katechetik setzt die ihr entsprechende Erziehungslehre implizit mit und drängt darauf, sie von ihren Prämissen als Pädagogik zu entfalten. Die „evangelische Pädagogik" ist faktisch eine Konsequenz aus der Katechetik und leitet wie diese ihre Prinzipien aus dem Wesen der Kirche ab. Es ist dieser Zusammenhang, der die Katechetik gegenüber pädagogischem Denken immunisiert hat, so daß sie sich je länger je mehr als kirchliche Unterrichtslehre aus der Schule zurückzog, „ihren" kirchlichen Unterricht allein verwaltete und seiner Degeneration zu einer pädagogischen Sonderwirklichkeit nichts entgegenzusetzen hatte. 4.4. Katechetik und Pädagogik. Ein redaktionsgeschichtlicher Vorgang zeigt, wie die Pädagogik aus der Katechetik erwächst. In der ersten Auflage seiner Katechetik schickt Palmer den Hauptteilen „ D i e Unterweisung in der kirchlichen L e h r e " und „ D i e Erziehung zum kirchlichen L e b e n " einen ersten Teil voraus: „ D a s Kind und die R e l i g i o n " . Er behandelt darin „ D i e religiöse A n l a g e " , „ D i e o b j e k t i v e R e l i g i o n " und deren „ V e r m i t t l u n g " , modern gesprochen die kirchliche Sozialisation. D i e 3 . Auflage der Katechetik hat diese M a t e r i e herausgenommen und der Pädagogik zugewiesen, weil es sich dabei um eine Voraussetzung der Katechetik handle (vgl. Anselm 2 3 , A n m . 10).

Für Palmer ist Pädagogik „nur auf christlichem Boden möglich, da erst das Christenthum den Menschen als Menschen in seinem unendlichen Werthe zum Gegenstande der Erziehung macht" (4. Aufl. 1869,10). Die Pädagogik hat keine eigene „selbständige wissenschaftliche Basis", sondern muß sich ihre Fundamente von Anthropologie und Ethik legen lassen, so daß sie entweder philosophisch oder theologisch (als drittes kommt noch hinzu: historisch) betrieben werden muß. „Je gründlicher und wahrer beide verfahren, umso gewisser werden sie in allen Dingen zusammentreffen müssen" (78 f). Die „evangelische P ä d a g o g i k " versteht Palmer ais einen Teil der Praktischen T h e o l o g i e , näherhin der Seelsorge, so daß Katechetik und Pädagogik kompatibel bleiben: Beide wirken an der christlichen Bildung mit. Freilich geht die Pädagogik weit „über das rein K i r c h l i c h e " hinaus, weil sie sich „ m i t Dingen wie Schreiben und R e c h n e n zu befassen h a t " (85 f). D a h e r ist die Pädagogik nur „ein A u s l ä u f e r " (1. Aufl. 6 9 „eine H i l f s w i s s e n s c h a f t " , „ a p p e n d i x " , vgl. Anselm 58) der Praktischen T h e o l o g i e „in ein G e b i e t allgemein menschlicher T h ä t i g k e i t h i n e i n " . A b e r sie geht „ m i t N o t h w e n digkeit aus dem specifisch kirchlichen Leben h e r v o r " und „ d a r f auch nicht an der G r ä n z e , w o dieses sich vom allgemein M e n s c h l i c h e n scheidet, abgeschnitten werden, da gerade an diesem P u n c t . . . das specifisch Kirchliche und das allgemein M e n s c h l i c h e gar keinen Gegensatz mehr b i l d e n . . . " (86).

Dieses Kirchenverständnis ist dem Wirklichkeitsverständnis zeitgenössischer liberaler Schulpädagogik, die sich dagegen auf Schwarz und Schleiermacher beruft, nicht nachvollziehbar. Palmer liefert sich der Kritik -»Diesterwegs aus, der nur noch die Unversöhnlichkeit einer wissenschaftlichen Pädagogik und einer partikularen Kirchenlehre zu konstatieren weiß. 4.5. Das Ziel der Mündigkeit. Bereits Schleiermacher hatte der Katechetik ins Stammbuch geschrieben, daß die „Einigung über den Anfangspunkt und Endpunkt" des katechetischen Geschäfts für die Katechetik von konstitutiver Bedeutung sei (Kurze Darstellung § 292). Indem die Katechetik die Mündigkeit des Christen als ihr Ziel angibt, wirken das Kirchenverständnis und die normative Kraft des faktischen Abschlusses durch die Konfirmation wechselseitig aufeinander ein; die bürgerlich-rechtliche Plausibilität von Mündigkeit und die Konfirmationshandlung werden miteinander in Einklang gebracht (-> Konfirmation). Die Erörterung bei Nitzsch über das Konfirmationsalter zeigt, wie sich die Zielvorstellung von Mündigkeit als selbstbewußter Teilhabe am kirchlichen Leben in der R e a l i t ä t verflüchtigt: Die Bildungsfähigkeit der Jugend wie „ ö k o n o m i s c h e und technische B e s t i m m u n g e n " , die für späteren Unterricht keinen R a u m m e h r lassen, fordern „einen Alterstermin, nach welchem eben auch R e i f e und Unreife verhältnißmäßig zu messen s i n d " . Es ist nur eine Frage der Z w e c k m ä ß i g k e i t , o b der abschließende Unterricht „in die Z e i t des heißeren Trieblebens oder in die noch ruhigere Vorzeit desselben" fallen soll. Das Postulat der M ü n d i g k e i t greift in diesen Erwägungen nicht (Praktische T h e o l o g i e 169 f).

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Soweit ich sehe, beschreibt Palmer das Ziel des Unterrichts erst in späteren Auflagen mit dem Begriff der Mündigkeit; er schließt ihn an der Stelle an, wo 1844 (1. Aufl. 39f) die Heranbildung der Jugend zur Gemeinde entwickelt wird. Treten „das subjektive Bewußtseyn und Wollen" im Unterrichteten mit der objektiven „Wirkung des Geistes... von der Kirche h e r " dergestalt in eine Wechselwirkung, daß sich eine Gleichgewichtslage zwischen dem subjektiven und dem objektiven Moment ausbalanciert, so ist damit ein Zustand erreicht, an dem der Einzelne bewußt an der Gemeinde teilhat und sich die Gemeinde über die Einzelnen erbaut: Mündigkeit. Dem Punkt, an dem das Wissen von dem durch die Taufe gesetzten und in der Kirche wirksamen christlichen Geist in einer gewissen Totalität überschaut und angeeignet ist und zum eigenen Wollen wird, entspricht nach außen hin das feierliche Ablegen des christlichen Bekenntnisses in der Konfirmation (4. Aufl. 1856, 51 f). Palmer kann mit dieser Konstruktion sowohl die (nach v. Zezschwitz römisch-katholische) Forderung nach einem lebenslangen Katechumenat abweisen als auch darauf verzichten, den Lehrinhalt quantitativ festzulegen. Die mit dem Akt des Bekenntnisses erlangte geistliche „Volljährigkeit" besteht formal in der selbständigen Gliedschaft zur Kirche, die inhaltlich durch das Recht zu einem nur durch das Gewissen geregelten Gebrauch von Gottesdienst, Sakramentsfeier und Seelsorge bestimmt ist (1875, 67, nach Exeler 71): eine Mündigkeit, der das Feld für verantwortliche Entscheidung fehlt. 4.6. Der -*•Katechumenat. V. Zezschwitz' „System der Katechetik" bringt eine der „Lebensfunctionen der Kirche selbst" zur Darstellung. „Das Leben der Kirche muß uns . . . Lehrmeister sein und obenan ihre Praxis in den gesündesten, lebenskräftigsten Perioden" (I, 5f). Die katechetische Lebensfunktion der Kirche ist der Katechumenat, und die Katechetik begreift sich als seine Theorie. V. Zezschwitz macht sich anheischig nachzuweisen, daß es „im Wesen der Kirche liegt, einen Katechumenat zu haben". Er darf „nie blos als Zeiterscheinung betrachtet werden". Näherhin resultiert er (1) aus der sichtbaren „Gemeinschaftsform der Kirche", die eine „Aufnahme zur Bekenntnißgemeinde" als äußerlich zu vollziehenden Akt bedingt; (2) aus dem Charakter der Kirche als einer „Vermittlerin der Heilsmittel des Christenthums", durch die die Seelen in den Heilsstand eingepflanzt werden; und (3) aus dem „Wesen der Kirche als Heilsanstalt", die die Gnadenmittel zu verwalten hat und damit - (1) und (2) zur Synthese bringend - „als menschliche Gemeinschaft und als Verwalterin der Gnadenmittel in Eins handelt" (82.ff). Der Katechumenat nimmt sich derer an, die die Aufnahme in die Kirche begehren und führt sie durch Mittel der Lehre und Erziehung dahin, daß sie „in ein directes Verhältniß zu den der Kirche anvertrauten Heilsmitteln gesetzt werden" und ihre „Aufnahme zur vollen gliedlichen Gemeinschaft der Kirche zugleich Einpflanzung in den vollen Heilsstand eines Christen sei" (80). Das setzt voraus, daß die Aufnahme begehrt wird. Dieses Begehren wird durch Mission erweckt, die damit der Katechetik als praktisch-theologische Disziplin vorangestellt ist. Als Sakrament der Initiation bildet die Taufe „Inhalt, Stützpunkt und geistigen Ausgangspunkt des Katechumenats". O b die Taufe dem Katechumenat folgt oder vorangeht, verschlägt wenig. Im einen Fall wirkt sie ideell, im andern materiell auf den Katechumenat ein. In der Differenz zwischen Kirchengliedschaft und vollem Heilsstand, die den Katechumenat zwingend macht, wird die Taufe als „Pflanzung" verstanden, die „nachfolgendes Wachsthum" und „Bewährung zur völligen Reife" bedingt, so gewiß wiederum „das Wesen der Heilsgemeinschaft" mit ihr gegeben ist (255ff).

Der Katechumenat ist geschichtlich weiterzuentwickeln. So soll dem „Mangel an lebendiger und bewußter Kirchengliedschaft der großen Menge" dadurch begegnet werden, daß die Verleihung der Mündigkeit von der Zulassung zum Abendmahl zeitlich getrennt wird. Selbst wenn die Zulassung zur Kommunion nicht bei allen Katechumenen zum Bekenntnis führen sollte, müßte die Kirche imstande sein, beide Gruppen zu tragen, ohne einem gnostischen Vollkommenheitsideal zu verfallen (687 f). V. Zezschwitz weiß, daß der Unkirchlichkeit, zumal in den Städten, mit solchen Vorschlägen schwerlich beizukommen ist. „Auch bei der größten Treue, bei der möglichsten

Katechetik

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Vermehrung geistlicher Kräfte, läßt sich da kaum auf kurze Zeiten ein Wall zur Abdämmung des Stromes der Unkirchlichkeit aufwerfen. . . . den Strom, wo er einmal reißend dahinfluthet, [kann] mit den Mitteln ordnungsgemäßer Amtstreue niemand mehr aufhalten" (693). Ein Echo auf Hirschers Appell aus dem Abstand von 30 Jahren! 5. Die Katechetik

neben der

Religionspädagogik.

5.1. Die erziehende Katechetik. Von Hirscher bis v. Zezschwitz hat die „kirchliche Katechetik" ihre geschichtliche Form gefunden. Ihr Ort innerhalb der Praktischen Theologie, ihr Problembestand und ihr Arbeitsfeld bleiben von nun an auf evangelischer Seite konstant. Das schließt Entwicklungen innerhalb dieses Rahmens nicht aus. Mehr und mehr wird unter dem Einfluß des Herbartianismus die Aufgabe der kirchlichen Erziehung als das Umgreifende angesetzt, in das der Unterricht als Mittel eingeordnet wird. Charakteristisch ist Die Lehre von der kirchlichen Erziehung nach evangelischen Grundsätzen von Eugen Sachsse (1897). Im Aufbau sind die Kapitel über den Stoff, die Form und die Organisation des Unterrichts durch Erörterungen von Themen der Erziehung breit gerahmt. Wenn Ernst Christian Achelis (II, 2. Aufl. 1898) die Komponenten der Erziehung zugunsten von Unterricht formal zurücktreten läßt, so ist zu beachten, daß hier der Unterricht selbst durch die sogenannte „genetische Methode", die von den äußeren und inneren Anschauungen und ihren Wirkungen ausgeht, als erziehender Unterricht gedacht ist. Die Identifikation von Erziehung und Unterricht ist gegenüber der kirchlichen Katechetik neu und entspricht der Weiterentwicklung der Unterrichtsdoktrin Herbarts durch Tuiskon Ziller. Noch Johannes Meyer und Emil Pfennigsdorf (Praktische Theologie) überschreiben in ihren Praktischen Theologien die katechetischen Teile mit „Kirchliche Jugenderziehung". Die Bezeichnung „Katechetik" figuriert hier nur noch als Klammerzusatz und tritt auch sonst mehr und mehr zurück. Noch wird der Schulunterricht mitbedacht, freilich nur der Religionsunterricht und da im wesentlichen der der Volksschule, der auf dem Weg zur Konfirmation einen wichtigen Lernort darstellt. Es gehört zu den traditionellen Aufgaben der Katechetik, den Lehrstoff zwischen Lehrer und Pfarrer aufzuteilen (vgl. Sachsse 381 ff). Noch Martin Schians Praktische Theologie (2. Aufl. 1928) behält den Blick auf die Schule bei und thematisiert „Die evangelische Kirche und die Schulerziehung"; nach den kirchlichen Unterrichtsformen bespricht er aber die „Sonderfragen des Religionsunterrichts" eher anhangsweise.

Sensibel für das Verhältnis von Kirche und Schule ist Friedrich -»-Niebergall. Zwar verzichtet er in den Kapitelüberschriften seiner Praktischen Theologie wie auf die traditionellen Bezeichnungen Homiletik und Poimenik so auch auf Katechetik. Im Text wird jedoch deutlich, daß er Katechetik nicht nur als historische Bezeichnung versteht, sondern mit Schleiermacher darunter „die Theorie einer Lebensfunktion der Kirche" erfassen will (II, 253 f). „In zwei Säulen steigt die religiöse Unterweisung und Erziehung auf; es ist einmal die der staatlichen Schule und dann die der Kirche". Die Fortsetzung zeigt, daß von der Katechetik her gesehen, die traditionellen Zuordnungen gestört sind: „ . . . wobei unerörtert bleibe, in welchem Maße hier und dort die erste Art auch von der Kirche abhängig sei" (II, 325). Damit bleibt ebenfalls unerörtert, inwiefern es die Katechetik sein kann, die den schulischen Religionsunterricht theoretisch erfaßt. Dieser Unterricht steht unter dem Vorbehalt eines „noch": „Es ist doch etwas ganz Großes, daß noch in allen deutschen Schulen christlicher Religionsunterricht erteilt wird" (II, 350). In der Literatur haben sich die Reflexion von schulischem Religionsunterricht und kirchlichem Unterricht seit Beginn des Jahrhunderts auseinanderentwickelt. Niebergall schaut auf eine dreißigjährige Tradition zurück, in der das Verhältnis von Religionsunterricht in der Kirche und in der Schule in wechselnden Zuordnungen durchgespielt worden ist (II, 255). Nach Niebergall dient die Schule der Kultur, von der auch die Religion als geschichtlich vorgegebenes und entwickeltes Christentum ein Teil ist. Dagegen steht: „Kirche will für Kirche erziehen" und dabei „religiöses Leben von einer gewissen Selbständigkeit und Eigenart pflanzen und pflegen" (II, 256). Der Begriff der Religionspäd-

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agogik fällt in diesem Zusammenhang nicht. Aber es deutet sich an, daß Niebergall um den Preis konzeptioneller Unscharfen noch einmal zusammenbinden will, was sich de facto getrennt hat: Die Religionspädagogik hat sich als „undogmatische" Kulturwissenschaft gegenüber der kirchlichen Katechetik selbständig gemacht. Die gemeinsame Zielsetzung liberaler Persönlichkeitsbildung, der die Praktische Theologie insgesamt zur Erziehungslehre wird, sowie die Ausrichtung an der religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise mögen es erleichtert haben, die Divergenzen weniger stark zu gewichten. Die sich abzeichnende Beschränkung der Katechetik auf den kirchlichen Bereich ist nicht dazu angetan, das Verhältnis zur zeitgenössischen Pädagogik zu intensivieren. Pädagogisch lebt der gelehrte Eugen Sachsse aus der eigenen kirchlich-katechetischen Tradition. Salzmann, Pestalozzi, Kant und pauschal die Herbart'sche Schule sind für Achelis die Bezugsgrößen. Niebergalls Dictum „Es gibt im allgemeinen mehr Lehrer, die sich theologisch, als Pfarrer, die sich pädagogisch bilden und weiterbilden"(II, 258), gilt auch für die theologischen Theoretiker der Katechetik. D a s Verhältnis zur R e f o r m p ä d a g o g i k mag das verdeutlichen. Sie k o m m t als Arbeitsschule in den Blick. D e r hier aufgeschlossene Niebergall sieht das Prinzip der Selbsttätigkeit von vornherein in seiner Erziehung zur Persönlichkeit aufgehoben. D e r gelobte Grundsatz „ I m Tun n i m m t man auf und gewinnt innerste Berührung mit den D i n g e n " (II, 3 1 2 ) durchbricht die vorgegebenen F o r m a l s t u fen des Unterrichts jedoch nicht. Dasselbe Argument, das 150 J a h r e zuvor gegen die S o k r a t i k e r ins Feld geführt wurde, dient bei Schian auch der Relativierung der Arbeitsschule: „ D e r Religionsunterricht hat es mit Stoffen zu tun, die ebensowenig, wie sie aus den Kindern h e r a u s g e f r a g t . . . von ihnen selbst erfragt werden k ö n n e n " (377, ähnlich Pfennigsdorf 3 1 8 ) . S o werden die alten Problemstellungen weitergeschleppt: „ D i e Benutzung des G e d ä c h t n i s s e s " , „ A k r o a m a t i s c h e s Verfahren und Fragev e r f a h r e n " (Schian 3 7 6 ) .

5.2. Die katholische Katechetik. Bereits Hirschers Katechetik hatte zum Programm erhoben, Unterricht um Erziehung zu erweitern. Das „katechetische Wort" forderte die Einlösung durch „dessen Vollzug in Cult und Disciplin" (4. Aufl. 1840, 6). Das war ekklesiologisch gedacht; die in der Taufe geschenkten Gaben werden unterrichtlich entfaltet und mit einer Erziehung zum in der Liebe tätigen Glauben verschränkt. Hinter Anton Grafs berühmtem Satz von 1841 „Wer das Ziel will, muß auch alle Mittel wollen, die zum Ziel führen", stand eine Gesamtschau vom Wesen der Kirche, die in ihren Lebensäußerungen der Katechese Vollzugsformen vorgibt, durch die der Laie die Teilhabe an der Auferbauung der Kirche eröffnet bekommt (vgl. Exeler, Wesen und Aufgabe 130). Adolf Exeler und Hans Schilling haben beschrieben, wie in der 2. Hälfte des 19. Jh. dieser ekklesiologische Ansatz der katholischen Katechetik destruiert worden ist. Analog zur Entwicklung auf evangelischer Seite stand am Ende die herbartianische Pädagogik mit ihrer Abzielung auf religiös-sittliche Persönlichkeitsbildung (Exeler, a . a . O . 137ff; Schilling 29ff). Die „Pädagogisierung der Katechetik" (Schilling 29) führt um die Jahrhundertwende zum Programm der „Münchener Methode", die unter dem Einfluß von Otto Willmann einen Schub von psychologisch-methodischer Modernisierung mit sich bringt. Durch sie wird die vorherrschende Textanalyse mit den Stufen der propositio, explicatio und applicatio abgelöst. Jetzt empfiehlt „die synthetische Methode" den Dreischritt von Anschauen - Denken — Tun. Die Katechese geht nicht mehr deduktiv vom Katechismussatz aus, sondern entwickelt ihn in Zusammenarbeit von Lernenden und Lehrenden induktiv aus dem veranschaulichten Lebenszusammenhang. Damit öffnet sich die Katechese auch thematischen Lehreinheiten; für ihre Gestaltung beruft sie sich auf die Prinzipien des Erlebnis- und Spontaneitätsprinzips (vgl. G. Fischer). Die textsynthetische Methode ist in gleicher Weise auf Kirche und Schule bezogen. In psychologischer und didaktischer Hinsicht nimmt sie für sich wissenschaftliche Grundlegung in Anspruch. In ähnlicher Konstellation hatte sich auf evangelischer Seite neben der Katechetik die Religionspädagogik verselbständigt. Die katholische Reform versteht sich als Methodenlehre und empfindet ihre Integration in den Gesamtzusammenhang von Kirche und Theologie weniger problematisch. Sie hält an den Bezeichnungen Katechet, Katechese und

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Katechetik fest. Es erscheint nur als ein Zwischenspiel, daß Joseph Göttler, einer der Protagonisten der Münchener Methode, 1923 eine Religions- und Moralpädagogik herausgibt, die er als Grundriß einer zeitgemäßen Katechetik verstanden wissen will. Gefolgt sind ihm in der Gleichsetzung von Reformkatechetik und Religionspädagogik nur wenige (vgl. Schilling 80f). Für Göttler steht die Religionspädagogik zwischen Pädagogik und Pastoraltheologie; die Z u o r d nung hängt von der Selbstauslegung der Bezugsdisziplinen ab. Entfaltet die Pastoraltheologie ihre psychologischen Grundlagen, kann sie die „ T h e o r i e der religiös-sittlichen Jugendbildung" in sich aufnehmen. Begreift andererseits die Pädagogik die T h e o r i e der Erziehung auf der Basis katholischer Weltanschauung, dann stehen Pädagogik und Katechetik „ a u f dem gleichen methodischen Standp u n k t " und „letztere könnte ersterer unbedenklich eingebaut w e r d e n " (2). Die christliche Erziehungswissenschaft gewährt der als Religionspädagogik interpretierten Katechetik gegenüber der Theologie eigenen Spielraum (vgl. Schilling 8 0 und passim).

Das Verhältnis der Religions-Pädagogik zur Katechetik beschäftigt die katholischen Katechetiker bis heute. In Auseinandersetzung mit Göttler hat Linus Bopp (8) seine Katechetik zwischen einer Religionspädagogik, die er pädagogisch orientiert sieht, und der Seelsorgewissenschaft angesiedelt. „Sie empfängt von beiden Seiten, sie dient beiden Seiten." Als Religions- und Moralpädagogik verstanden würde die Katechetik zu weit geraten; sie müßte z.B. die religiös-sittliche Familienerziehung mit einbeziehen. Andererseits wäre dieses Verständnis auch zu eng, weil der liturgisch-seelsorgerliche Dienst der Katechetik unter religionspädagogischem Vorzeichen nivelliert wäre. Schilling diagnostiziert eine „Zwitterstellung, die Bopp der Katechetik zumutet" (88). Er selber will Religionspädagogik als Zweig der umfassenden, praktisch-theologisch bestimmten Katechetik verstehen. Während die Katechetik „unter dem kerygmatisch-ecclesiologischen Grundaspekt" die gesamte Glaubensunterweisung reflektiert, spezialisiert sich die Religionspädagogik, ebenfalls im Auftrag der Kirche, auf jene Wirklichkeit, die auch von den Erziehungswissenschaften bearbeitet wird (360f). Die Gegenposition dazu hat Hubertus Halbfas 1973 formuliert, indem er die Religionspädagogik der empirisch-kritischen Religionswissenschaft verpflichtet sieht. Die kirchliche Katechese soll demgegenüber von der theologischen Katechetik begleitet werden. Als Antwort auf Halbfas hat Exeler (Gemeindekatechese) der Katechetik einen Platz innerhalb der Religionspädagogik zugewiesen. Demgegenüber faßt Wolfgang Nastainczyk (Katechese 72ff, vgl. Formalkatechetik) die Katechetik wieder strikt als genuin theologische Disziplin. „Ihr Gegenstand ist christliches Lehren und Lernen in ausschließlich kirchlicher Verantwortung in allen Lebensphasen, Bildungseinrichtungen und Formen" (vgl. U. Hemel 111 ff). Solche Überlegungen haben die Katechetiken selbst nur am Rande berührt. Übereinstimmung herrscht über die Kirchlichkeit der Katechetik. „Kirchliche Religions- und Moralpädagogik" definiert Josef Andreas Jungmann mit Seitenblick auf Göttler (2). Im Zusammenhang mit der von ihm mit initiierten „Verkündigungstheologie" rückt er vom Begriff des Religionsunterrichts ab und ersetzt ihn durch „religiöse Unterweisung", um die Erziehungsaufgabe der Katechese festzuhalten. Der Aufbau seines Buches spiegelt in klassischer Konzentration die Wissenschaftstradition der Disziplin: Geschichte der Katechese, Katechet und Kind, die katechetische Aufgabe (Lehre und Erziehung; Liturgie und religiöses Leben; Biblische Geschichte; Katechismus), Umsetzung der Aufgabe in den Lehrplan, allgemeine und spezielle Methodenlehre. Rudolf Peil und Wolfgang Nastainczyk (Formalkatechetik) akzentuieren innerhalb derselben Grundstruktur. Wenn Halbfas - entsprechend dem Titel Fundamentalkatechetik - versucht, eine „Begründung des Religionsunterrichts aus der religiösen Dimension der Wirklichkeit" zu geben (13), dann arbeitet er religionspädagogisch und ordnet die christliche Verkündigung in eine allgemein-„religiöse Mitteilung" ein. Das ist das lang erprobte (und radikalisierte) Zusammenspiel einer pädagogisch normierten (jetzt emanzipatorisch gewandten) Erziehungslehre mit entsprechend interpretierter christlicher Überlieferung. Das Programm einer „anthropologisch gewendeten" Theologie, die erst als solche „in religiöser Erzie-

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hung und Bildung wirksam" wird (Erich Feifei), kann in diesem Zusammenhang auch als ein Instrument verstanden werden, das den Anstoß von Halbfas rezipieren läßt. Es hängt mit der Grundlagenproblematik der Religionspädagogik zusammen, daß in neuerer Zeit auch von katholischer Seite ein umfassender Entwurf einer Katechetik nicht mehr vorgelegt worden ist. 5.3. Die Ausläufer der evangelischen Katechetik. Die letzten evangelischen Unterrichtslehren, die sich explizit als „Katechetik" verstehen, wurzeln mit ihren Vorläufern in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Kontext Praktischer Theologie benutzt Leonhard —»Fendt den Begriff für „Kirchliche Unterrichtslehre" unbefangen (1. Aufl. 1935, 2. Aufl. 1951). Helmuth Schreiner gibt dem katechetischen Teil seiner Evangelischen Pädagogik und Katechetik den identifizierenden Klammerzusatz „Religions-Pädagogik". Oskar Hammelsbeck verzichtet auf den Begriff ganz, obwohl Der kirchliche Unterricht (1. Aufl. 1939, 2. Aufl. 1947) eine Katechetik darstellt. Für Walter Uhsadel ist die „alte" Katechetik bereits nach der Jahrhundertwende von der Religionspädagogik abgelöst worden (6). Selbst Helmuth Kittel, der doch 1946 „nie wieder Religionsunterricht" gewollt hatte, weist die theologisch-pädagogischen Probleme, „die sich aus der Existenz des Evangeliums von Jesus Christus in der heutigen Welt ergeben", einer „Evangelischen Religionspädagogik" zu (1). Die Auflösung von Begriff und Form der Katechetik ist voll im Gang. „Katecheten" sind bald nur noch kirchlich ausgebildete Laienkräfte für den Religionsunterricht; „Katechese" ist der Entwurf einer Unterrichtsstunde für ein kirchliches Examen. Die Problematik der letzten Katechetiken stellt sich am Verhältnis zur -»Pädagogik dar. In der Fassung von 1935 (vgl. auch Grundriß 249 f) liest sich Fendts Entwurf nahezu als Kapitulation der Disziplin. Sein pädagogisches Gegenüber ist die nationalpolitische Erziehung Ernst Kriecks. Indem die Kirche, interpretiert als „Wort- und Sakraments-Volksgemeinschaft vom Heiligen Geiste her", „ihre Glieder zur Reife in der Kirchengliedschaft" erzieht, stellt sie für die nationalpolitische Erziehung zugleich „eine Art ,Erziehungs-Christentum'" heraus, menschlich-erziehliche und nationalpolitisch-erziehliche Momente, die von der nationalpolitischen Erziehung in ihren Institutionen ausgenützt werden sollen „wie es ja tatsächlich in den Staatsschulen in den meisten Fällen auch bisher geschah und ohnehin auch in Zukunft geschehen wird". Weil die Kirche „innerhalb der deutschen Volksgemeinschaft besteht", muß sie ihr bereitstellen, was sie „für ihr Anliegen direkt verwenden kann". Wenn in der Staatsschule auch durch den Religionsunterricht nationalpolitisch erzogen wird, „darf die Kirche nicht in Ohnmacht fallen" (14f). Pädagogik und Katechetik sind nach dem Schema der neulutherischen Zwei-Reiche-Lehre aufeinander bezogen. Die Erziehung ist dem Reich der Welt preisgegeben. Der kirchliche Unterricht bleibt strikt darauf verwiesen, nachzuzeichnen, „was Gott tut in der Gemeinde durch Wort und Sakrament hindurch" (22). Was im Reich der Welt aus dem kirchlichen Unterricht gemacht wird, steht nicht in seiner Hand. Der Staatsschule wird aber die Forderung auferlegt, sich „aktiv zur Kirche hin offen" zu halten (15), damit das „Erziehungs-Christentum" (sc. des Gesetzes) nicht als das ganze (sc. reformatorische) Christentum mißverstanden wird. So gilt für das völkisch-volkskirchliche System im Ganzen: „Nationalpolitische Erziehung mit Verkündigung, kirchliche Verkündigung mit Erziehung" (17). Gegenüber der Pädagogik ist diese Katechetik zu keiner kritischen Unterscheidung fähig.

Helmuth Schreiner konzipiert 1959 als Grundlage für die Katechetik bzw. Religionspädagogik eine von vornherein evangelische Pädagogik. Dabei nimmt er seine Pädagogik aus Glauben von 1930 und 1931 in großen Passagen wieder auf. Die biblische Begründung der evangelischen Pädagogik und ihre Verortung im evangelischen Christentum macht sie zur Alternative zu idealistischer und materialistischer Pädagogik, weil sie „Schuld und Sünde, Schlechtigkeit und Begrenztheit unseres menschlichen Seins" erfaßt und in ihnen eine „Wahrheitsunruhe" sieht, „die uns fragend und betend über das hinaustreibt, was wir und unsere Welt vermögen" (26). Die evangelische Pädagogik versteht sich als Reflexion kirchlichen Erziehungshandelns, dessen Reichweite sich am soziologisch erfaßbaren „Erziehungsumschluß" durch die vorgegebenen Erziehungsmächte in Gesellschaft und Kirche bestimmt. Unterricht und Erziehung verdanken sich beide dem Bezug auf das Wort

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Gottes und bedingen sich wechselseitig. Auch zwischen der evangelischen Unterweisung der Kirche und dem Religionsunterricht der Schule besteht kein grundsätzlicher Unterschied; beide sind derselben theologischen Inhaltlichkeit, Weltoffenheit und dem pädagogischen Sachverstand verpflichtet. Schreiners Lehrbuch ist auf evangelischer Seite das letzte, das „Katechetik" im Titel führt. Es hat die Auflösung der kirchlichen Katechetik gleichsam dokumentiert. Wenn die Katechetik auch Religions-Pädagogik genannt werden kann, braucht es sie nicht mehr. Wenn beide einer kirchlichen Erziehungslehre korrelieren, die die inhaltlichen Entscheidungen trifft und in das gelebte Christentum einführt, fällt die Katechetik auf die alte Methodenlehre zurück. Schreiner befindet sich mit seiner Katechetik auf dem Weg zu einer „Gemeindepädagogik", weil er eine bereichsspezifische kirchliche Pädagogik mit entsprechender unterrichtlicher Methodologie zusammenbindet. 6. Die Katechetik

als

Aufgabe

6.1. Bleibende Fragestellungen der Katechetik. Die Katechetik ist eine historische Erscheinung. Gleichwohl kann sie sich dem Nachdenken über die pädagogischen Aktivitäten in der Kirche gegenwärtig machen und Fragestellungen wie Konsequenzen aus ihrer Geschichte einbringen. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf drei Punkte. a) Vor aller Katechetik liegt die theologische Entscheidung, den Zugang zur Kirche von außen her durch einen von der Kirche selbst veranstalteten Unterricht offenzuhalten. Augustin hat die Aufgabe dem Mittelalter und der Reformation anschaulich vor Augen gestellt; durch die Kindertaufe wurde sie lediglich modifiziert. Mit dem Katechismus als Unterricht und Buch nahmen die Kirchen der Reformation diese Aufgabe wahr. Die Frage, wie sich die Kirche unterrichtlich darstellt, wirkt auf sie selbst zurück: Luthers Katechismen sind Bekenntnisschriften geworden. Die Kirche muß zu ihrer katechetischen Selbstfestlegung stehen und sich durch sie normieren lassen. Indem die Katechetik das Erbe dieser Fragestellung antritt, bringt sie sich in den Streit um das Selbstverständnis der Kirche, um die Ausgestaltung ihrer Lehre und um die Angemessenheiten ihrer Lebensformen ein. Die Katechetik hat sich auf ihrem geschichtlichen Weg als praktisch-theologische Disziplin konstituiert. b) Das Unterrichtsverständnis des kirchlichen Unterrichts wurde immer wieder neuen geschichtlichen Bedingungen ausgesetzt. Die Aufgabe, Kirche zu unterrichten, bedingt pädagogische Kritik und Innovation. Ihren wissenschaftlichen Charakter verdankt die Katechetik ursprünglich der Rückbindung an eine kritische Philosophie. Das legt sie darauf fest, sich unter allgemeinen Postulaten der Vernunft nachvollziehbar zu halten. Ihr Verständnis von Unterricht entfaltet sich nach zwei Seiten: Einmal insistiert sie darauf, daß der Unterricht ihre Inhalte in vernunftgeleiteten Verfahren erschließt. Auch wenn ihr aufklärerisch-sokratisches Potential bald relativiert worden ist, stellt sie doch den Anspruch an sich selbst, ihre Verfahren transparent zu halten und den zu Unterrichtenden zu wachsender Mündigkeit, speziell zu kirchlicher (und darin eingeschlossen: religiöser) Selbständigkeit zu verhelfen. Mündigkeit würde sich verflüchtigen, wenn sie nicht ausgesprochen wird; sie bedarf eines markierten Anfangs. Z u m andern: In ihren unterrichtlichen Verfahren muß die Katechetik ihren kirchlichen Inhalten gerecht werden. Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit stehen die geschichtlichen Konzeptionen der Katechetik in Aufklärung und kirchlicher Restauration in unaufhebbarer Spannung zueinander. Geschichtlich überholte Unterrichtskonzeptionen, die den Lernenden nicht von ihren eigenen Voraussetzungen aus einen Zuwachs an Freiheit gewähren, muß die Katechetik abstreifen, um sich neuen pädagogischen Entwicklungen zu stellen. Und zugleich gilt: Ein Unterricht, dessen Verfahren nicht die Kirche an ihrer Inhaltlichkeit entfaltet, ist katechetisch verfehlt. Die katechetische Theologie, die in der Vorgeschichte der Katechetik ausgebildet worden ist, hat die Katechetik als Aufgabenstellung ständig begleitet.

c) Wie die Praktische Theologie insgesamt, so ließ sich auch die Katechetik zum Instrument eines herrschenden Kirchentums und seiner Idealisierungen machen. Das Programm der „kirchlichen Katechetik" und die herbartianischen Synthesen von Unter-

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rieht und Erziehung sind hier nicht pauschal anzuklagen; jeder Unterricht im Christentum hat auch einen kirchlichen Charakter und von jedem Unterricht gehen Wirkungen der Erziehung aus. Die spezifische Gefährdung der Katechetik lag in der ständigen Versuchung, sich auf den Arbeitsbereich des vorfindlichen Kirchentums zurückzuziehen, sich von ihm die biblische Botschaft domestizieren zu lassen und die Verhaltensweisen ihm anzupassen. Sich auf die Geschichte der Katechetik einzulassen, fordert die Selbstprüfung, inwieweit der Unterricht der Kirche das vorfindliche Kirchentum in seiner vorläufigen Gestalt durchschaut, es für die kritische Teilhabe öffnet und auf das Reich Gottes hin transzendiert. 6.2. Gemeindepädagogik und Katechetik. In die Lücke, die die Katechetik hinterlassen hatte, trat zunächst die ->Religionspädagogik ein, die ihre seit 1968 für schulisches Lernen entworfenen Vermittlungen von »Religion und Lebenswelt auf die Kirche zu übertragen versuchte. In dieser „religionspädagogischen" Perspektive waren weite kirchliche Praxisfelder und spezifische Inhalte ausgeblendet. Dagegen wird nun eine „Gemeindepädagogik" ausgerufen (Enno Rosenboom, Gottfried Adam). Analog zu anderen bereichsspezifischen „Feld"-Pädagogiken erhält sie die Aufgabe, „Gemeinde" pädagogisch zu interpretieren und ihre pädagogischen Arbeitsbereiche konzeptionell zu koordinieren. Natürlich wird der Begriff der Gemeinde auf biblische und dogmatische Bestimmungen bezogen (Rosenboom: EvErz 26,30), dennoch tendiert die Gemeindepädagogik dahin, die Gemeinde als faktischen Lebenszusammenhang vorauszusetzen, um alsbald ihre pädagogischen Funktionen durchzuklären und zu verbessern. Eine Auseinandersetzung mit der Katechetik ist kaum geführt worden. Ein Zusammenhang mit der Praktischen Theologie hat sich konzeptionell nicht ausgewirkt. So war der Gemeindebegriff zunächst überwiegend kirchentümlich (Rosenboom) oder dogmatisch (Adam) angelegt. Eine Erinnerung etwa an Hammelsbeck, der „die gemeindeschwache Christenheit von heute" in ihrer „Indolenz", kurz: den Umstand, „daß die Gemeinde nicht da ist" (9.11.100), in seine Theoriebildung einbeziehen konnte, wäre kaum verstanden worden. Die Kontinuität mit der katechetischen Wissenschaftstradition ist abgerissen. Die Gemeindepädagogik versteht sich - auch als Unterdisziplin einer erweiterten Religionspädagogik - als Pädagogik. Der jeweils veranschlagte Lernbegriff kann unkontrolliert auf den Kirchenbegriff durchschlagen. In programmatischen „Empfehlungen zur Gemeindepädagogik" hat die Kammer der E K D für Bildung und Erziehung 1982 ihren Begriff des Lernens ( „ Z u s a m m e n h a n g von Leben, Glauben und L e r n e n " ) paradigmatisch in eine Vorstellung von der Kirche umgesetzt, die sich aus selbstbestimmten Gruppen von unten her aufbaut und in der Menschen darauf dringen, ihrem Glauben Ausdruck zu geben und ihrer christlichen Verantwortung Gestalt zu verleihen. Die gesuchte Unmittelbarkeit des Lebens droht hier den evangelischen Glaubensbegriff aufzusaugen, die Differenz zwischen Glauben und gemeindegemäßem Verhalten verwischt sich. Die Gemeindepädagogik läuft Gefahr, daß das von ihr entworfene Bild von Kirche die fortschrittlichen Methoden ihrer privilegierten Gruppen euphorisch spiegelt.

Eine Alternative zu diesen Anfängen der Gemeindepädagogik entwickelt unter Bedingungen der D D R Jürgen Henkys. Auch er anerkennt die gemeindepädagogische Fragestellung, widersteht aber dem Sog zu ihrer Verselbständigung und nimmt sie in die Konstitution seiner Katechetik mit auf. „Die Katechetik hat den gegenwärtigen kirchlichen Dienst im Blick auf alle jene pädagogisch erheblichen Handlungen, Einrichtungen und Beziehungen zu erörtern, die dafür entscheidend sind, daß Menschen sich in das Leben der Kirche eingliedern, als Christen selbständig werden und überhaupt am Glaubensgespräch teilhaben können" (30). Damit ist die Frage nach dem Zugang zur Kirche festgehalten. Der Katechumenat - institutionell von einer bestimmten Altersstufe längst abgelöst - hat in der Mündigkeit des Christen sein Ziel, was wiederum von der Kirche verlangt, am Inhalt, der Mündigkeit ausmacht, diese Mündigkeit zu ermöglichen. Die Religionspädagogik wird jetzt der Katechetik als Fragestellung dialektisch zugeordnet: „Sie ist die anthropologische Seite der Katechetik, die Katechetik der theologische Ort der

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Religionspädagogik" (32). Die Grundaufgabe, „das kirchlich verfaßte Christentum und das christlich zu hinterfragende Kirchentum" (31) aufeinander zu beziehen, ist die bestimmende Struktur der praktisch-theologisch eingebundenen Katechetik. K.E. Nipkows differenzierter Entwurf zur Grundlegung einer Gemeindepädagogik nimmt einen letztlich reformpädagogischen Lernbegriff („gemeinsam leben und glauben lernen") auf. Das bedeutet eine Erweiterung des Unterrichts um produktive, auch die Generationen übergreifende Sozialformen des strukturierten Gemeinschaftslebens. Nipkow arbeitet dabei religionspädagogisch: das Glauben tendiert zur Unmittelbarkeit eines aufweisbaren (individuellen und gemeindlichen) Lebensvollzugs. Im Rückbezug auf eine ältere Arbeit aus der DDR kommt auch bei ihm am Rande die katechetische Frage nach dem Zugang „zum ,Geschehen Kirche', nämlich zum christlichen Glauben als deren Grund" (D. Reiher, Nipkow 251) in den Blick. Nipkow überführt die Frage nicht in Erwägungen zu Inhalt und Gestalt des Evangeliums, das - theologisch gesehen - allein den Zugang eröffnen müßte, sondern er fragt (mit Reiher) religionspädagogisch nach dem „Zugangswillen", der zu wecken ist. Es erinnert an v. Zezschwitz, wenn nun auch Nipkow auf Mission anspielt, die vor der Wirksamkeit der Gemeindepädagogik zu veranschlagen wäre: Im Miteinander der Christen erscheint die Kirche personalisiert und motiviert gleichsam vor-pädagogisch. Das ist freilich nur noch einmal der Verweis auf die Synthese von Leben und Lernen in der Reformpädagogik. Einer von ihr her bestimmten Religionspädagogik kann sich der Zugang zum Leben nur durch das Leben, der Zugang zur Gemeinde nur durch die Gemeinde ergeben. Im Blick auf die christliche Kirche w ä r e das durchaus eine richtige, dennoch nur die halbe Auskunft, weil sie theologisch zu kurz greift. Nur eine Gemeinde, die die Differenz zwischen ihrem Leben und dem Kirchesein von vornherein ausweist und damit zeigt, w e m sie sich verdankt, eröffnet den Zugang zu ihr legitim. Denn nur so ermöglicht sie den potentiellen und tatsächlichen Schwestern und Brüdern die Freiheit des Glaubens, der nicht auf ein Leben der Gemeinde festlegt, sondern auf den jenseits von ihr liegenden Grund, dem sie sich verdankt. Es ist reizvoll, mit diesem Gedanken jetzt katechetisch weiter zu spielen. Diese Differenz ausweisen bedeutet ein Unterrichten und Lehren. Ohne solchen Unterricht w ä r e ja eine kirchliche Sozialisation weder pädagogisch noch theologisch zu verantworten. Die Anfänger im Christentum und solche, die es vielleicht g a r nicht werden wollen, lernen — katechetisch gesehen - die Frage nach ihrem in ihrer Lebenswelt wirksamen Glauben zu stellen, diese Frage an die erahnten Formen des Evangeliums zu richten und an rudimentären Resten früheren Evangeliums, vielleicht an biblischen Texten, zu bearbeiten. Wenn an dieser Stelle jetzt das reformpädagogische Lernen in das katechetische Konstrukt aufgenommen wird, ergibt sich das Programm, R a u m für lebendiges Lernen zu schaffen, in dem die Lernenden selbst das Evangelium für die Lernenden - und damit für die ganze Gemeinde, die sich ihres Grundes immer unsicher ist, — hörbar, sichtbar, greifbar und überhaupt sinnfällig machen und unterrichtlich-probeweise verantworten. Noch ein kurzes Stück sei dieser katechetische Faden weitergesponnen. Nun wird deutlich, was evangelisch-christlich Mündigkeit heute heißen kann. Die Gemeinde selbst ist darauf angewiesen, daß die Anfänger im Christentum mündig werden, weil sie sie als selbständige Mitarbeiter am Evangelium braucht. M ü n d i g sein heißt, Verantwortung für das Nicht-Glauben-Können der Brüder und Schwestern zu tragen. Jeder, der sich solcher Lern-Arbeit auf Gestaltung des Evangeliums hin entzieht, entzieht der Gemeinde letztlich Möglichkeiten, an denen Glauben entstehen kann. Und umgekehrt besteht die Vermutung: Weil die Gemeinde wenig von möglichem Glauben weiß, braucht sie auch ihre Anfänger n i c h t . . . Unter der theologischen Rückfrage nach der Gemeinde geht die religionspädagogische Arbeitsweise in die katechetische über, wie die katechetische unter der Frage nach dem gelebten Leben in die religionspädagogische. Es ist eine reizvolle Aufgabe, Nipkows Entwurf daraufhin durchzusehen, w o sich solche Übergänge anbieten oder w o sie gar

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i m m a n e n t vollzogen sind. A n den R ä n d e r n der G e m e i n d e p ä d a g o g i k wird deutlich, d a ß sie theologisch nicht umhin k a n n , sich auf die abgelöste K a t e c h e t i k wieder zu beziehen, m ö g l i c h e r w e i s e sich selbst als Katechetik neu zu g e w i n n e n . Literatur Das Literaturverzeichnis konzentriert sich auf die Gattung der Katechetik; hier intendiert es Vollständigkeit. Für die Vorgeschichte der Katechetik dokumentiert es die im Artikel selbst getroffene Auswahl. Quellenangaben haben Priorität vor Sekundärliteratur, die nur soweit herangezogen ist, als sie sich mit der Gattung der Katechetik befaßt. Lexikon-Artikel (chronologisch): Christian Palmer, Art. Katechese, Katechetik, Katechumenen: R E 7 (1857) 4 4 1 - 4 5 4 . - D e r s . , Art. Katechetik: Encyklopädie des ges. Erziehungs- u. Unterrichtswesens 3 (1862) 8 8 9 - 8 9 2 . - Ders., Art. Katechisiren: ebd. 8 9 2 - 9 0 4 . - Ders., Art. Katechetik: Theol. Universal-Lexikon 1 (1874) 457. - Gerhard v. Zezschwitz, Art. Katechetik incl. Katechumenat, Katechismus, Katechese: RE 7 (1880) 5 6 8 - 6 0 5 . - Friedrich Justus Knecht, Art. Katechetik: KL 2 7 (1891) 2 6 4 - 2 8 8 . - Wilhelm Rein, Art. Katechetik: EHP 4 (1897) 1 7 - 4 9 . - Eugen Sachsse, Art. Katechese, Katechetik: R E 3 10 (1901) 1 2 1 - 1 2 9 . - Cornelius Krieg, Art. Katechetik: KHL (1912) 3 2 4 - 3 2 6 . - Friedrich Niebergall, Art. Katechetik: R G G 3 (1912) 9 7 4 - 9 8 2 . - Hermann Faber, Art. Katechetik: R G G 2 3 (1929) 6 4 8 - 6 5 3 . - K. Frasch, Art. Katechetik: CKL 1 (1937) 1036f. - W. Esken, Art. Katechetik: EKL 2 (1958) 5 5 5 - 5 6 1 . - Hans-Werner Surkau, Art. Katechetik: R G G 3 3 (1959) 1 1 7 5 - 1 1 7 8 . - W . Croce, Art. Katechetik: LThK 2 6 (1961) 3 5 - 3 7 . - J a c q u e s Audinet, Art. Katechese, Katechismus, Katechetik: SM 2 (1968) 1054-1064. - Edgar Josef Korherr/Gottfried Hierzenberger (Hg.), Prakt. Wb. der Religionspädagogik u. Katechetik, Wien 2 1978. Wolfgang Nastainczyk/Martin Stallmann, Art. Katechetik: LPäd (F) 2 (1970) 3 9 4 - 3 9 6 . - Erich Feifei, Glaube u. Erziehung: Hb. pädagogischer Grundbegriffe 1 (1970) 5 3 7 - 5 9 8 . 2.1. De catechesi: Aurelius Augustinus, De catechizandis rudibus. Hg. v. Gustav Krüger, 3 1934 (SQS l.Ser.), unv. Nachdr. Frankfurt/M. 1968. — Petrus Busaeus, Opus catechisticum, Köln 1577. Andreas Hyperius, De catechesi. Postum in Andreae Hyperii varia opuscula Theologica..., Basel 1570. - Ders., Die Homiletik u. die Katechetik. Ubers, v. E. Chr. Achelis u. E. Sachsse, Berlin 1901. Philipp Melanchthon, Sehr, zur Prakt. Theol., T. I: Katechetische Sehr. Hg. v. F. 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Das katechetische Verfahren: Eckhard Johann Böcler, Anleitung zum Katechisiren, 2 Bde., Rostock 1784. - Johann Georg Eccard, Catechesis Theotisca, Hannover 1713. - Karl G. Hofmann, Methodus Catechetica, Chemnitz 1776. - Johann Peter Miller, Anweisung zur Katechisirkunst oder zu Religionsgesprächen, Leipzig 1778. - Johann Jacob Rambach, Der wohl-unterrichtete Catechet, d.i. Deutlicher Unterricht Wie man der Jugend Auf die allerleichteste Art Den Grund der Christi. Lehre beybringen könne, darinnen Die wichtigsten Vortheile, die bey dem Catechisiren in acht zu nehmen sind treulich entdeckt werden, Jena 1722 (zit. nach 6 1730). - Johann Georg Rosenmüller, Anweisung zum Katechisiren, Gießen 1783. - Christoph Matthäus Seidel, Eine deutliche Anweisung zum rechten Catechisiren, Stendal/Gardeleben 1708 (zit. nach 3 1717). - Ignatius Weitenauer, Apparatus eloquentiae catecheticae, libri VI, quibus historiae 1500 continentur, Augsburg 1775. 2.4. Die katechetische Theologie: Johann Franciscus Buddeus, Catechetische Theol. Aus dessen hinterlassenen Hs. nebst Johann Georg Walchs D. Einl. in die catechetische Historie, ausgearbeitet u. hg. v. M.Johann Friedrich Frisch, 2 Theyle, Jena 1752. - Paul Jacob Förtsch, Kurzer Entwurf der Catechetischen Theol., zum Gebrauch academischer Vorl., Göttingen 1758 (6ff Bibliogr. zur historia catechetica). - Valentinus Frommen, Theologia catechetica, in qua articuli christianae religionis, juxta Seriem Capitum Catecheticorum methodice disponuntur..., Wittenbergae 1654. - Johann Christoph Koecher, Bibliotheca Theologiae, Symbolicae et Catecheticae, itemque Liturgica, concinno ordine disposita, variisque observationibus Theologicis et Litterariis instrueta atque illustrata, pars altera, Jena 1769 (Bibliogr.). - Ders., Einl. in die Catechetische Theol. u. Unterweissung welche zugleich an Statt einer auserlesenen Catechetischen Bibliothec dienen kan, Jena 1752. - Ders., Catechetische Gesch. der Päbstischen Kirche..., Jena 1753. - Ders., Catechetische Gesch. der Ref.

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Kirche..., Jena 1756. - Ders., Catechetische Gesch. der Waldenser, Böhmischen Brüder, Griechen, Socinianer, Mennoniten u. anderer Secten und Religionspartheyen..., Jena 1768. - Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica synoptice tractata, Wittenberg 1655 (zit. nach Leipzig/Rostock 1 1 1703). - Gregorius Langemack, Historiae Catecheticae oder Gesammleter Nachrichten zu Einer Catechetischen Historie, Erster Theil, Stralsund 1729, Anderer Theil, Greifswald u. Stralsund 1733, Dritter Theil, mit einer Vorrede v. Johann Wilhelm Löper, Stralsund 1740. Johann Gerhard Meuschen, Christi. Bedencken, v. der Reformation Der Universitäten u. Schulen, Einem Zur Wiederaufrichtung des verfallenen Christenthums Nöthigem u. dienlichem Mittel, Angebunden u. durchgehend paginiert mit: ders., Eröfnete Bahn Des wahren Christenthums..., Frankfurt/M. 1716. - G. J. Pauli, Entwurf einer catechetischen oder populairen Theol. zu öffentlichen Vorl., Halle 1778. -Balthasar Rhauer, Theologia catechetica, Stralsund 1657 (mir nicht verfügbar). - Petrus Wittfeld, Theologia catechetica, Münster/W. 1656 (mir nicht zugänglich). 2.5. Die Sokratik bei Mosheim: Christoph Bizer, Der wohl-unterrichtete Student um 1800. Das Amt des Pfarrers in der Göttinger theol. Lehre: Theol. in Göttingen, Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Bernd Moeller, Göttingen 1987 (Göttinger Univ. Sehr. Ser. A: Sehr. 1), 111-135. - Johann Lorenz Mosheim, Sitten-Lehre der Hl. Schrift, 1. Theil, Helmstedt 1734 3 1742 (hier verwendet). - Ders., Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen..., hg. postum v. Chr.E. v. Windheim, Helmstedt 1756. - Martin Schian, Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung, Breslau 1900. 3.1. Johann Friedrich Christoph Graeffe: Carl Daub, Lb. der Katechetik, Frankfurt/M. 1801. Johann Friedrich Christoph Graeffe (Hg.), Die Katechetik nach ihren wesentlichsten Forderungen betrachtet: Neuestes Katechetisches Magazin zur Beförderung des katechetischen Studiums, Göttingen, I—III 1 7 8 9 - 1 7 9 2 . - D e r s . (Hg.), Katechetisches Journal, Göttingen 1793, Hannover 1795-1797, Celle 1798/99. - Ders. (Hg.), Neues Journal der Katechetik u. Pädagogik, 1 (Göttingen 1793) bis- 7 (Celle 1801 u. 1806). - Ders., Vollst. Lb. der allg. Katechetik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauche akademischer Vorl., Göttingen, I—III 1795-1799. - Ders., Grundriß der allg. Katechetik nach Kantischen Grundsätzen nebst einem kurzen Abriß der Gesch. der Katechetik v. dem entferntesten Alterthume bis auf unsere Zeiten, Göttingen 1796. - Ders., Die Pastoraltheol. nach ihrem ganzen Umfange. 1. Hälfte enthaltend Homiletik, Katechetik, Volkspädagogik u. Liturgik, Göttingen 1803. - Ders., Rezension zu Carl Daub, Lb. der Katechetik. Neues Journal der Katechetik (s. o.) 7 (1806) 336-358. - Johann G. Holzapfel, Katechetisches Lb., Schmalkalden 1779. - Georg Heinrich Lang, Katechetisches Magazin, Nördlingen 1781-1784. - Ders., Neues katechetisches Magazin, Erlangen 1784/1787-1791. - Gottfried Leberecht Masius, Zergliederungskunst u. Katechetik in Praxi, durch deren Gebrauch jeder Schulmeister bei Examen bestehen kann, Kothen, I—III 1787. Johann Wilhelm Schmid, Katechetisches Hb. zum Gebrauch für akademische Vorl., Jena, I—III 1791. - Heinrich Theodor Ludwig Schnorr, Katechetik. Anweisung für Kinderlehrer, Göttingen 1793. Wolfgang Schulz, Die Institutionalisierung der Katechetik an den dt. Univ. unter dem Einfluß der Sokratik - dargelegt am Beispiel J. F. C. Gräffe, Diss. theol. Göttingen 1979. - Johann Ernst Werner, Bibl. Katechetik für Schullehrer, Informatoren etc., Erfurt, I 1788, II 1791. 3.2. Von Graeffe bis Schwarz: Anonymus, Regeln der Katechetik, als Leitfaden beim Unterricht künftiger Lehrer in Bürger- u. Landschulen, Jena 2 1806. - Johann Christoph Friedrich Baumgarten, Katechisirkunst, 2 Bde., Cöthen 1 8 0 3 - 1 8 0 6 . - P . O . Boisen, Katechetik, Kopenhagen 1803 (mir nicht verfügbar). — Carsten Carstensen, Hb. der Katechetik, mit besonderer Hinsicht auf den katechetischen Religionsunterricht. Ein Commentar über H. Müllers Lb. der Katechetik, Altona, I 1821, II 1823. - Gustav Friedrich Dinter, Die vorzüglichsten Regeln der Katechetik, als Leitfaden beim Unterrichte künftiger Lehrer in Bürger- u. Landschulen, nebst kurzgefaßter Glaubens- u. Sittenlehre, Neustadt 1800: Sämmtl. Sehr. II/l, Neustadt a.O. 1841. - Ders., Die vorzüglichen Regeln der Pädagogik u. Methodik u. Schulmeisterklugheit, Neustadt a. O. 1827. - Ders., Sämmtl. Sehr. 2. Abt., Katechetische Werke I - X V I , Neustadt a.O. 1843-1847. - Johann Ignatius Felbiger, Vorlesungen über die Kunst zu Katechisiren, Sagan 1775. - Leopold Friedl, Katechetik oder theoretisch-prakt. Anweisung zum Katechisiren, nach einer dem Fassungsvermögen der Kinder... angemessenen Methode, Brünn 1805. - Bernhard Galura, Grundsätze der sokratischen Katechisirmethode. Eine Einl. in den Katechismus nach Sokratischer Methode, f. kath. Eltern u. Lehrer, Augsburg 1793. - Leonhard Johann Melchior, Prakt. Hb. der Katechetik, Wien 1826. - Ignatz Mertian, Theoret. u. pract. Lb. der Katechetik, Breslau 1800. - Samuel Traugott Mücke, Versuch eines Lb. der Katechetik, Breslau 1802. - Heinrich Müller, Lb. der Katechetik mit bes. Hinsicht auf den katechetischen Religionsunterricht, Altona 1816. - Bernhard Overberg, Christkath. Religionshb., 2 Bde., Münster 1804 3 1827 7 1854. - Gottlieb Jacob Planck, Einl. in die Theol. Wiss., Zweyter Theil, Leipzig 1795. Hermann Friedrich Römpler, Katechetik oder Erziehung zu kirchl. Mündigkeit - eine mittelbare Kunst. Allerhand Fremdes u. Eigenes, zur Jahrhundertfeier des 1. Vogtländischen Schul-LehrerSeminariums zusammengestellt, Plauen 1910. - Johann Michael Sailer, Vorl. aus der Pastoraltheol., München, I u. II 1788. - Johann Georg Schlosser, Katechetik f. den Bürger u. Landmann, Coburg

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1801. - Michael Ignatius Schmidt, Methodus tradendi prima elementa religionis, sive catechizandi, Bamberg 1769. - Ders., Der Katechist nach seinen Eigenschaften u. Pflichten, oder die rechte Weise, die ersten Gründe der Rel. zu lehren. Aus dem Lat. übers, v. Benedikt Strauch, Bamberg 1772. Florian Schmil, Theoret.-pract. Grundsätze der Katechetik, f. angehende Religionslehrer, Neisse 1805. - Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Erziehungslehre, Leipzig, III/2 1808. - Ders., Religiosität, was sie seyn soll u. wodurch sie befördert wird, Gießen 1793 = Katechetik oder Lehre v. der Bildung u. dem Unterricht der Jugend für das Christenthum, Gießen 2 1818. - Anton Gottfried Steiner, Allg. Katechetik. Versuch einer Theorie der katechetischen Dialogik. Zum Gebrauch einer Vorl. für Studierende, 2 T., Breslau 1802. - Ernst Thierbach, Hb. der Katechetik oder Anweisung, das Katechisiren auf eine gründliche u. sichere Weise zu lernen, 2 Bde., Frankenhausen 1822/1823. Ders., Die Katechisirkunst, eine theoretisch-prakt. Anl. zur Erwerbung der Fertigkeit im Katechisiren, Nordhausen, Erster Theil 1826, Zweiter Theil 1827. - Ders., Lb. der Katechetik. Zum Unterrichte über dies. u. zur Selbstbelehrung, Hannover 1830. - Ders., Hb. der Katechetik oder Anweisung zur Erwerbung der Fertigkeit im Katechisiren, Sondershausen, I u. II 1837. - Albrecht Wachler, Katechetik f. Volksschullehrer, Breslau 1843. - Vitus Anton Winter, Rel.-sittliche Katechetik, Landshut 1811. -Friedrich Wilhelm Wolfrath, Versuch eines Lb. der allg. Catechetik u. Didactik, als Vorbereitung auf die rel. moralische, zum Gebrauche f. academische Vorl., Lemgo 1807. - Ders., Versuch eines Lb. der rel.-moralischen Catechetik u. Didactik, f. academische Vorl., Lemgo 1808. 3.3. Die Katechetik in der Pastoraltheologie und der Praktischen Theologie: Ludwig Hüffell, Ueber das Wesen u. den Beruf des ev.-christl. Geistlichen. Ein Hb. der pract. Theol. in ihrem ganzen Umfange, Erster Theil, Gießen 2 1830. - Philipp Marheineke, Entwurf der prakt. Theol., Berlin 1837. -August H. Niemeyer, Hb. fürchristl. Religionslehrer, 2Theile, Halle 2 1794: T. 1, Populäre u. prakt. Theol. oder Materialien des christl. Volksunterrichts; T. 2, Homiletik, Pastoralwiss. u. Liturgik ( 6 1827: Homiletik, Katechetik, Pastoralwiss. u. Liturgik). - Ders., Über Katechetik u. katechetische Übungen, Halle 1789. - Johann August Nösselt, Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Halle, I—III 1786 2 1791. -Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des Theol. Studiums (1811), Heinrich Scholz (Hg.), Kritische Ausg., 1910 (QGP 10). - Ders., Die Prakt. Theol. nach den Grundsätzen der ev. Kirche. Hg. v. J. Frerichs (Friedrich Schleiermachers SW, 1. Abt. Zur Theol., 13. Bd.), Berlin 1850. - Ders., Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799 3 1821 = SW Abt. 1, hg. v. Carl Schwarz, Leipzig, I 1868. 4. Die kirchliche Katechetik: Helmut Anselm, Religionspädagogik im System spekulativer Theol. Unters, zum Werk Christian Palmers als Beitr. zur religionspädagogischen Theoriebildung der Gegenwart, München 1982 (Münchner Univ. Sehr., FB Ev. Theol., Münchner Monogr. zur hist. u. syst. Theol. 8). - Franz Bläcker, Johann Baptist v. Hirscher u. seine Katechismen in zeit- u. geistesgesch. Zusammenhange. Ein Beitr. zur Katechismusfrage der Gegenwart. UTS 6 (1953). W. J.G. Curtmann, Elementarische Katechetik, mit Anwendung auf den kleinen Lutherischen Kat., Darmstadt 1858. - Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, Rez, v. Christian Palmer, F,v. Pädagogik: Rheinische Bl. f. Erziehung u. Unterricht, N.F. 1 (1853): ders., Nachdr. SW. Hg. v. Robert Alt u.a., 1. Abt.,X. Hg. v.Ruth Hohendorf, Berlin (DDR) 1969, 427-449. - Anton Graf, Krit. Darst. des gegenwärtigen Zustandes der Prakt. Theol., Tübingen 1841. - Augustinus Gruber, Katechetische Vorl. über des hl. 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Katechetik - Grundsätze der Erziehung, des Unterrichts u. ihrer Gesch. nach Niemeyer und Ruhkopf, Marburg 1832. - Lorenz Kraußold, Katechetik, Erlangen 1843, 2. Aufl.: ders., Die Katechetik. Für Schule u. Kirche, Erlangen 1880. - Andreas Müller, Lb. der Katechetik oder Anl. zur Katechisirkunst, Würzburg 1838 2 1840. - Carl Immanuel Nitzsch, Prakt. Theol., II/l. Abt.: Der Dienst am Wort oder die kirchl. Rede u. der kirchl. Unterricht, ein Lb. der Homiletik u. Katechetik, Bonn 1848 2 1860. - Ders., Urkundenbuch der Ev. Union, mit Erläuterungen hg., Bonn 1853. - Alois Karl Ohler, Lb. der Erziehung u. des Unterrichts. Eine syst. Darst. des ges. kath. Volksschulwesens f. Geistliche u. Lehrer, Mainz 1861 10 1884. - Christian Palmer, Ev. Katechetik, Stuttgart 1844 4 1856 (hier verwendet) 6 1875. - Ders., Ev. Pädagogik, Stuttgart 1853 5 1882. - Carl Adolf Gerhard v. Zezschwitz, System der christl.-kirchl. Katechetik, 2 Bde., Leipzig 1863-1869 2 1872-1874,1 Der Katechumenat oder die kirchl. Erziehung nach Theorie und Geschichte (1863); II Die Lehre v. kirchl. Unterricht nach Stoff u. Methode, 1. Abt. Der Katechismus oder der kirchl.-

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katechetische Unterricht nach seinem Stoff (1864), 2. Abt. Die Katechese oder der kirchl.katechetische Unterricht nach seiner Methode (1869). - Ders., Lb. der Pädagogik, Leipzig 1882. 5.3. Die erziehende Katechetik: Ernst Christian Achelis, Prakt. Theol., 2 Bde., Freiburg 1890: Bd. 1: Einl. Die Lehre von der Kirche und ihren Ämtern. Katechetik. Homiletik. Poimenik. - Karl Buchrucker, Grundlinien der kirchl. Katechetik, Berlin 1889. - Carl Clemen, Quellenbuch zur Prakt. Theol ,11 Quellen zur Lehre v. Religionsunterricht (Katechetik), Gießen 1910. - Johannes Gottschick, Homiletik u. Katechetik. Hg. v. R. Geiges, Tübingen 1908. - Alfred Krauss, Lb. der Prakt. Theol., II Katechetik. Pastoraltheol., Freiburg/Leipzig 1893. - Cornelius Krieg, Wiss. der Seelenleitung. Eine Pastoraltheol. in vier Büchern, 2. Buch: Katechetik oder Wiss. vom kirchl. Katechumenate, Freiburg/B. 1907. - Robert Kübel, Katechetik, Stuttgart 1877. - Johannes Meyer, Grundriß der Prakt. 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Katechismus I. Protestantische Kirchen 1/1. Historisch (bis 1945) 1/2. Gegenwart II. Römisch-katholische Kirche III. Orthodoxe Kirche IV. Konfessionskundlich/Ökumenisch

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I. Protestantische Kirchen 1/1. Historisch (bis 1945) 1. Vorgeschichte: Begriff und Stoff 2. Entstehung und Funktion der Katechismen Luthers 3. Zur Theologie des Kleinen Katechismus 4. Die Katechismusentwicklung neben Luther und außerhalb des Luthertums 5. Bearbeitungen des Kleinen Katechismus nach Luther 6. Der Katechismus zur Zeit des Pietismus und der Aufklärung 7. Der Katechismus seit dem 19. Jahrhundert (Bibliographie/Quellen/Literatur S. 721) 1. Vorgeschichte:

Begriff und

Stoff

M i t „Katechismus" wird in der christlichen Tradition einmal der Vorgang des Taufunterrichts, dann der Stoff desselben und schließlich das den Stoff enthaltende Buch bezeichnet. Im ersteren Sinn (schon bei Tertullian, Adv. M a r c . IV,29) wendet Augustin den Begriff auf Johannes den Täufer und Philippus (Act 8) an (De fide et op. VI, 13) und expliziert ihn als die dem Taufgeschehen vorausliegende mündliche Unterweisung (De cat. rud.). Nachdem sich die Kindertaufe durchgesetzt hat (-»Taufe), wird der Begriff auf die dem Taufakt vorgeordneten liturgischen Akte bezogen. Allmählich unterscheidet man den -»Exorzismus am Täufling und den eigentlichen Katechismus, bei dem den Paten anstelle des Kindes in entsprechenden Frageakten Glaubensbekenntnis und Vaterunser tradiert werden mit der Verpflichtung, sie dem Kind später weiterzugeben. Luther greift auf diesen Sprachgebrauch zurück, wenn er schreibt: „Catechismus aber heyst eyne Unterricht, damit man die heyden, so Christen werden wollen, leret und weyset, was sie gleuben, thun, lassen und wissen sollen ym Christenthum" (WA 1 9 , 7 6 , 2 - 5 ; vgl. auch 30/111,567,19-21). Dieser Sprachgebrauch im Sinn eines nachgeholten Taufunterrichts an

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schon als Kinder Getauften und damit der christlichen Unterweisung in der Form von Frage und Antwort überhaupt setzt sich in der Reformationszeit durch. Im zweiten Sinn meint „Katechismus" den Stoff, der der Katechumenen-Belehrung seit der Zeit der Alten Kirche zugrunde liegt (-»Katechumenat I), dort allerdings noch nicht unter dieser Bezeichnung. Den Begriff des verbum abbreviatum als einer Art von Zusammenfassung des Glaubens gebraucht bereits Augustin (De spir. et litt. 36 u.ö.) gemäß Rom 9,28 für das Taufbekenntnis, das Doppelgebot und das Vaterunser unter Rückgriff auf der Unterweisung dienende Abschnitte in der Didache, im Hirt des Hermas bzw. auf formelartige Sätze im Neuen Testament selbst und paränetische Weisungen in den Briefen (Rom 6,17; Phil 2 , 2 - 1 1 u.a.). Die Vermutung eines einheitlichen Katechismus in der Urchristenheit ist aber nicht gerechtfertigt. Der Dekalog, von Augustin zuerst herangezogen, um das Doppelgebot zu entfalten (Peters, Die theologische Konzeption 342), wird erst nach der Synode von Trier 1227 im Zusammenhang der Beichtpraxis populär (Röthlisberger 792). Mittelalterliche Stoff-Wucherung, in der sich auch die Sakramente in einfacher Aufzählung finden, wird im 15. Jh. auf Credo, Vaterunser, Dekalog und Ave-Maria als für das Beichtexamen relevanten Stoff beschränkt. Luther nimmt bewußt die Tradition auf und stellt fest, daß das Papsttum mit den drei alten Lehrstoffen formal den „rechten Katechismus" beibehalten habe (WA 26,147,15-18), täuscht sich aber in der Annahme, daß die Stoffe von Anbeginn gleich geblieben seien (WA 19,76; vgl. BSLK 554, 2 6 - 3 0 ) . Die Fünfzahl der Teile, die drei alten Patenstücke mit Taufe und Abendmahl, ist seit 1525 belegt. Durch die Neuerung des Abendmahl-Verhörs 1523 werden die Sakramente zum Schlüssel für den Frage-Katechismus; sie gewinnen zugleich konkrete Bedeutung in der Auseinandersetzung mit den Schwärmern. Gemäß der (vermeintlich) altkirchlichen Tradition, an die Luther sich auch im Wortlaut hält (vgl. Peters, Die theologische Konzeption 343), bleibt der Titel „Hauptstück" den ersten drei Stücken vorbehalten (vgl. Meyer 81); er ist damit als durch die Tradition geprägter Begriff gekennzeichnet. Die anderen Stoffe bezeichnet Luther einfach als „Stücke", die fehlende historische Begründung ersetzt er durch Heranziehung biblischer Texte. Dieses Vorgehen gewährt ein gewisses Offenbleiben und räumt die grundsätzliche Möglichkeit der Erweiterung ein. So tritt noch 1529 im Anhang „Eine kurtze weise zu beichten" (WA 30,1,343) und im Wittenberger Druck von 1531 statt dessen zwischen Taufe und Abendmahl das „Lehrstück von der Beichte" (BSLK 517: „Wie man die Einfältigen soll lehren beichten") hinzu. Erst im Verlauf des Jahrhunderts wird die Beichtanleitung in Nord- und Süddeutschland unterschiedlich ausgebaut zu einem „Lehrstück vom Amt der Schlüssel und der Beichte". Auch hinsichtlich des Anhangs läßt Luther sich von vorreformatorischem Material bestimmen (vgl. Fraas 14 f). Aus der schriftlichen Fixierung der Wechselrede (Luthers Brief an Hausmann vom 2. Februar 1525: WA.B 3,431) einerseits und der Zusammenstellung des Stoffes andererseits ergibt sich schließlich drittens der N a m e für das Stoff und Wechselrede verbindende Buch. Die ersten vergleichbaren Bücher - allerdings noch nicht unter dieser Bezeichnung — im Dienst des nachgeholten Taufunterrichts entstammen dem 8./9. Jh., der erste Frage-Katechismus im engeren Sinn dem 11. Jh. Unter den Vorreformatoren stehen die Böhmischen Brüder mit ihrem Jugendkatechumenat und dem diesem dienenden Katechismus von 1502 an hervorragender Stelle (vgl. v. Zezschwitz; Müller). Der erste Unterricht zum christlichen Glauben unter dem ausdrücklichen Titel „Katechismus" ist im Jahr 1528 von Andreas Althamer verfaßt. Mit dem Erscheinen der beiden Katechismen Luthers 1529 setzt sich der Name „Katechismus" für das Katechumenenbuch durch. 2. Entstehung

und Funktion der Katechismen

Luthers

Durch Luthers Aufforderung in der Vorrede zur Deutschen Messe 1526 hervorgerufen, entstehen in den Jahren vor 1529 bereits ca. dreißig Katechismusarbeiten. Trotz des jeweils selbständigen Charakters ist der Einfluß des Reformators schon spürbar (Betonung der Rechtfertigungslehre, personales Verständnis des Glaubens als Vertrauen auf

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Katechismus 1/1

die in Christus erschienene Gnade, Hochschätzung der Schrift). Für Luthers eigene Katechismen ist ein dreifacher Motivationszusammenhang geltend zu machen: a) Luthers Katechismen gehen unmittelbar aus seiner Predigttätigkeit hervor. Die allgemeine Kenntnis des Katechismusstoffs ist zu Luthers Zeiten sehr gering. Bereits im Jahr 1516 eröffnet er darum eine Predigtreihe über die Gebote, ganz in der mittelalterlichen Tradition (vgl. Peters, Die theologische Konzeption 342). Nach Beendigung dieser fährt er in der Fastenzeit 1517 mit der Auslegung des Vaterunsers fort, und mit den bedeutsamen Fastenpredigten von 1523 führt er die jährlichen ->Katechismuspredigten ein. Noch 1528 predigt er dreimal über den gesamten Katechismusstoff. Diese drei Predigtreihen bilden die unmittelbare materiale Grundlage für den KIKat. Dessen elementare Gestalt ist wohl damit zu erklären, daß Luther den Stoff mehrmals durchmeditiert hat, ein Verdichtungsprozeß, dem auch die Katechismus-Lieder entspringen. b) Neben der Predigttätigkeit ist die seelsorgerliche Wurzel zu nennen. Im Sinn der ersten der 95 Thesen will Luther eine neue Beicht-Anleitung geben. Sie soll die mittelalterlichen Tugend- und Lasterkataloge ausscheiden und den Dekalog dadurch zu seiner vollen Geltung bringen, daß alle Sünden auf die Selbstsucht und alle Tugenden auf die Gottes- und Nächstenliebe zurückgeführt werden. Diese Beichtanleitung erscheint 1518 unter dem Titel Kurze Erklärung der Zehn Gebote. 1519 folgt eine entsprechende Auslegung des Vaterunsers, 1520 die des Credo, zusammen herausgegeben unterdem Titel Eyn kurcz form der zeeben gepott. D.M.L. Eyn kurcz form des Glaubens. Eyn kurcz form deß Vatter vnszers (WA 7,204-229). Die praktisch-seelsorgerliche Ausrichtung wird im Eingang der Kurzen Form sichtbar: „ D a n drey dingk seyn nott eynem menschen zu wissen, das er selig werden muge: D a s erst, das er wisse, was er thun und lassen soll. Z u m andernn, wen er nu sieht, das er es nit thun noch lassen kan a u ß seynen krefften, das er wisse, wo erß nehmen und suchen unnd finden soll, damit er dasselb thun und lassen muge. Z u m dritenn, das er wisse, wie er es suchen und holen s o l l " ( W A 7 , 2 0 4 , 1 3 - 1 8 ) .

c) Mit der Neueinrichtung des Katechismus-Verhörs nach den Wittenberger Unruhen von 1521/22 tritt der dritte Anstoß zu den Katechismen zutage: das Bemühen um Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Die Visitationen von 1528 ergeben ein verheerendes Bild. An dem von Melanchthon verfaßten Unterricht der Visitatoren wirkt Luther mit und weist im Vorwort auf die Notwendigkeit der Katechismuspredigten und der Unterweisung im Katechismus durch die Schulen bzw. die Küster hin (vgl. Meyer 52). Die Kenntnis der Katechismusstücke und der Einsetzungsworte beider Sakramente wird zur Voraussetzung für die Zulassung zum Abendmahl (vgl. Reu 15). Damit ist im Grunde auch die Fragemethode festgeschrieben, wie Luther sie in der Vorrede zur Deutschen Messe fordert (WA 19,76). Luther denkt nicht an das Memorieren des Wortlauts der Erklärungen, sondern an ein freies Gespräch, für das er mit seinen Formulierungen nur ein Beispiel geben will. In diesem Sinn geht der KIKat im 16. Jh. allgemein in die Kirchenund Schulordnungen ein (vgl. Vormbaum, Sehling). Im Januar 1529 erscheinen die ersten Tafel-Drucke des KlKat, im April folgt der Deutsche, später, nach Drucklegung des Kleinen, der Große Katechismus genannt, unmittelbar danach der Kleine als Buch. Weitere Ausgaben und Nachdrucke folgen. Die ersten beiden Auflagen sind im Wittenberger Original nicht erhalten (vgl. Reu 24f). Die zweite Wittenberger Ausgabe vom 13.6.1529 enthält als Erweiterung im Sinn eines Andachtsbuchs bereits Bilder, Lieder, Psalmen, Teile der Liturgie (vgl. Fraas 62). Die letzte Redaktion durch Luther selbst von 1531 bildet die Grundlage des Textes in WA 30/l,239ff (zum Verhältnis von Kleinem und Großem Katechismus vgl. Meyer 57 ff; Albrecht: WA 30/1,484 ff; Reu 16.23). Der Katechismus spielt nunmehr zunehmend eine Rolle im Gottesdienst als Predigtgrundlage in der Spannung zwischen dem Text und Luthers exemplarischer Auslegung sowie im gesamten Gemeindeleben (Katechismusrezitationen, wie sie in der Wittenberger Kirchenordnung bereits 1533 angeordnet werden; Explorationen vor dem Abendmahl;

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Patenschafts- und Eheexamina). Kirchliche und häusliche Praxis machen ihn gleichermaßen zum Gottesdienstbuch und zum privaten Andachtsbuch. 3. Zur Theologie

des Kleinen

Katechismus

Luther bezeichnet den Katechismus als Laienbibel (WA 30/1,27; WA.TR 5,581) und spricht ihm damit die Vollständigkeit zu, die für die heilige Schrift gilt: In den drei Stücken (Credo, Vaterunser, Dekalog) sei „für war alles, was in der schrifft stett und ymer geprediget werden mag, auch alles, was eym Christen nott ist zu wissen, grundlich und überflüssig begriffen" (WA 7,204,8-11). Diese Vollständigkeit ist nicht explizit zu verstehen; ein dogmatisches Lehrbuch oder eine Laiendogmatik soll Luthers Katechismus gerade nicht sein - darin unterscheidet er sich wesentlich von den nachfolgenden katholischen Katechismen (vgl. Raab 15 f) wie auch von einem großen Teil seiner späteren Bearbeitungen. Umstritten ist in der Katechismusforschung die Frage, ob die Abfolge der Hauptstücke Ausdruck eines systematischtheologischen Programms sei. In dem zitierten Abschnitt aus der Kurzen Form von 1520 (vgl. o. S. 712) erweckt Luther jedenfalls diesen Eindruck, und auch A. Peters weist darauf hin: „Die feste Reihenfolge Dekalog - Credo - Herrengebet hat Luther schon 1520 mit einer Begründung untermauert; diese lautet: Der Dekalog zeige einem jeden, ,was er thun und lassen soll' (WA 7,204,14f), dadurch lehre er ihn, seine Krankheit und Sünde zu erkennen. Ist dies erfolgt, so zeige der Glaube dem Bußfertigen, ,wo erß nehmen und suchen unnd finden soll'; er lehre ihn also, ,wo er die ertzney, die gnaden, finden sol' (WA 7,204,16f.26). Das Vaterunser schließlich zeige ihm, ,wie er es suchen und holen soll', wie er die Gnade ,begeren, holen und zu sich bringen soll'" (WA 7, 204, 18; 205,1); (Peters, Die Theologie der Katechismen 15). Der gleiche Gedanke wird an den Nahtstellen im GrKat angedeutet (BSLK 6 4 6 , 1 5 - 1 9 ; 662,17-34). Ein anderer Versuch, den Stoff zu systematisieren, liegt in der Deutseben Messe 1526 vor (WA 19,77): Luther gliedert hier, wie schon in seiner Freiheitsschrift, in Glauben und Liebe und bietet damit die Modell-Struktur für die reformatorische Bekenntnisentwicklung. Schon die Verschiedenheit der Ansätze legt den Gedanken nahe, daß Luther kein verpflichtendes System aufbauen will. Er nennt die Hauptstücke in anderen Zusammenhängen immer wieder in anderer Reihenfolge. Von den systematisch orientierten Forschern des vorigen Jahrhunderts (v. Zezschwitz, Harnack und noch Meyer) ist stärker der Systemcharakter im Sinn des Heilswegs betont worden, während die pädagogisch orientierten Denkansätze der neueren Zeit (Fror, Fraas, aber auch schon Nitzsch, Bachmann, vgl. Fraas 27) die Hauptstücke als jeweils geschlossene Darstellung des christlichen Glaubens unter verschiedener Akzentsetzung sehen wollen (vgl. Peters, Die theologische Konzeption 346 f). Das Gestaltungsprinzip Luthers dürfte tatsächlich im didaktischen bzw. seelsorgerlichen Bereich liegen, was ihn auf bestimmte theologische Themen, theoretische und kontroverstheologische Fragen verzichten läßt (bei den Sakramenten ist die doppelte Frontstellung gegen Rom und gegen die Schwärmer indirekt herauszuhören). Die Mitte des Katechismus ist die in Christus offenbare Gnade Gottes.

Von der Beantwortung der Frage nach dem Aufbauprinzip hängt die andere nach der Deutung des Dekalogs ab. Im Sinn des Heilswegs gilt der Dekalog als Propädeutik (v. Zezschwitz) und wird als Gesetz den anderen Hauptstücken, dem Evangelium, entgegengestellt. Im anderen Sinn gelten alle Hauptstücke gleichermaßen als Mittel der Sündenerkenntnis und Träger der Verheißung. In diesem von der mittelalterlichen Beichttradition her tradierten Sinn hat Luther sein Verständnis des Dekalogs (in Auseinandersetzung mit den Antinomern) nach und nach entfaltet und situativ unterschiedlich akzentuiert (Fraas 33; vgl. dazu, unter der Dialektik von -»Gesetz und Evangelium, neben den skandinavischen Luther-Forschern vor allem Joest, Peters, Ebeling). Nachdem die Terminologie von dem usus legis auf Luther nicht anwendbar ist, bleibt immerhin folgendes feststellbar: Der KIKat einschließlich des Dekalogs spricht den Getauften und damit den simul peccatoret iustus an. Der Getaufte lebt in der menschlichen Gemeinschaft und ist deren Gesetzen unterworfen. Im bürgerlichen Sinn, im sensus externus, gilt der Dekalog im Taufunterricht den pueri-, hier hat die Strafandrohung ihren Platz (WA 11,31). Auch die minde-

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ren Motive führen zu dem höheren Ziel, daß der Wille Gottes geschieht (vgl. Modalsli 116). Den Eingang zu den Geboten versteht Luther als promissio (WA.TR 3,109), so daß das erste Gebot „im Licht des Prologs" verstanden werden muß, den Luther in mittelalterlicher Tradition wegläßt (vgl. Meyer 176). Die Zusage Gottes an den Menschen schließt die Aufforderung zum Glauben und zur Liebe ein, die verheißene Willenserklärung Gottes ist zugleich Beanspruchung. So radikalisiert Luther die Bedeutung des Dekalogs im Gegensatz zum spätantik-mittelalterlichen Moralismus, indem er alle Gebote vom ersten ableitet und dieses zur Grundlage des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott überhaupt macht. Damit bedarf es auch der mittelalterlichen Stofferweiterung nicht mehr: Das erste Gebot allein umfaßt schon den gesamten Gotteswillen; die ständige Wiederholung des „fürchten und lieben" in den Gebotserklärungen des KIKat weist auf das erste Gebot als Zentralgebot und Grundlage der späteren Konkretisierung des Gotteswillens hin. Der Christ erfährt unter dem Doppelaspekt des homo peccator et iustus den Anspruch Gottes als Gesetz oder als Evangelium. Beides hat seine Einheit im „paradoxalen Bewegungszusammenhang des einen Handelns Gottes" (Joest 48): Der Wille Gottes konkretisiert sich in der jeweiligen Beziehung. Trifft der Dekalog auf den Sünder, wird er ihm zum Sündenspiegel (so ausschließlich v. Zezschwitz, Harnack) - trifft er auf den Menschen als Gerechtfertigten, ist er ihm Maßstab des christlichen Gehorsams und Ordnung des neuen Lebens (so schon Albrecht, Hardeland, Kaftan). Indem Luther in seinen Erklärungen zum Dekalog von dem „du sollst" in das „wir sollen" übergeht, bringt er zum Ausdruck, daß das Erfüllen der Gebote die gehorsame Antwort auf das soteriologische Handeln Gottes ist (vgl. Krusche 324f). Im Zusammenhang mit der Haustafel wird der KIKat zum Übungsbuch für gelebten Glauben. Das Credo gliedert Luther im Gegensatz zum Mittelalter (noch Brenz und Lachmann teilen den Stoff in zwölf Artikel) nach der Trinität. Die Klammer bildet die Einheit des göttlichen Heilshandelns. In diesem grundsätzlich soteriologischen Ansatz liegt die Bedeutung der Auslegung Luthers, die sich in der Dialektik von extra nos und pro nobis, von fides quae creditur und fides qua creditur sowohl einer objektivistischen wie einer subjektivistischen Deutung verwehrt (vgl. Fraas 51 f). So verzichtet Luther auf Aussagen über das Sein Gottes und beschränkt sich auf die Darstellung von Gottes Zuwendung zum Menschen: „Sol ein Gott sein, so mus Er jemands Gott sein" (WA 16,42,25). Ebenso spricht Luther vom Menschen nicht als von „ihm", sondern von „sich" und setzt damit konkrete Glaubensaussage gegen abstrakte Lehre (vgl. Gloege 26). In der Beziehung auf Gott wird die Gottesfrage sofort zur Frage nach dem gnädigen Gott. Wenn Luther einmal den ersten Artikel, ein andermal den zweiten als höchsten bezeichnet (vgl. Meyer 534ff), so ist das aus dem jeweiligen Gedankenzusammenhang zu verstehen; letztlich ist ihm im KIKat überall die Mitte des Heilsgeschehens gegenwärtig: der in Christus manifeste Versöhnungswille Gottes. So mag man im Hinblick auf den ersten Artikel im Zusammenhang mit dem Dekalog von einer „Vorhalle" des eigentlichen Christuszentrums sprechen, wie denn andererseits der dritte Artikel zusammen mit dem Vaterunser eine relativ eigenständige Auslegung von Amt und Werk des Gottesgeistes darstellt (vgl. Peters, Die theologische Konzeption 344). Dennoch ist es erst der Erlöser, der in Gott den Vater sehen läßt und der das Vaterunser gelehrt hat, und doch wird mit den Worten „ohn all mein Verdienst und Würdigkeit" schon im ersten Artikel auf die Vergebung angespielt. Die Vaterunser-Auslegung wiederum, als „Kristallisationskern" der geistlichen Erkenntnisse Luthers, betont zusammen mit den Anleitungen zu den Tageszeit-Gebeten den Zusammenhang zwischen Rechtfertigung, Gebet und Gottes Schöpfer- und Erlöserwirken (vgl. Peters: Luth. Theol. u. Kirche 1979,69). Die Erklärung der Sakramente schließlich kreist in gleicher Weise um die Vergebung. So behält auch die Beichte für Luther eine so hohe Bedeutung, weil in der Absolution das an den Sünder ergehende Wort des göttlichen Freispruchs laut wird. Man mag aber feststellen, daß Einzelaussagen Luthers im KlKat die Tendenz haben, sich gegenüber dem Christuszentrum zu verselbständigen, was eine gewisse Anfälligkeit für Fehldeutungen

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impliziert; darum ist Peters' Votum (Die theologische Konzeption 340) zu beachten, daß die theologische Interpretation des KIKat nicht von der des Großen getrennt bzw. nicht aus dem Kontext der Theologie Luthers herausgelöst werden dürfe. 4. Die Katechismusentwicklung

neben Luther und außerhalb des

Luthertums

Luthers Katechismen von 1529 bilden einen Brennpunkt in der Geschichte des christlichen Katechismus von ökumenischer Tragweite; in ihnen erscheint die Tradition radikalisiert und elementarisiert, während die weitere Entwicklung auseinanderläuft. Die reformierte Katechismusgeschichte seit Zwingiis Kurzer christlicher Unterweisung (1523) wird in Zürich von Jud und Bullinger, in Straßburg von Capito, Bucer, Zell, in Ostfriesland von Laski und vom Emdener Katechismus, in Genf von Calvin (1537, 1541/42) geprägt. Die reformierten Bestrebungen konzentrieren sich im -»Heidelberger Katechismus (1563). Seit Altings Pfälzer Kirchengeschichte nahm man für diesen Zacharias -»Ursinus und Kaspar -»Olevian als Autoren an; seit 1928 wird ein Gemeinschaftswerk vermutet, bei dem Olevian als Verfasser ausscheidet und die Beteiligung von Ursinus vorerst ungeklärt bleibt (vgl. Jacobs 59; Coenen; Neuser 177 ff). Der HeidKat geht von der trinitarisch orientierten Frage nach dem „einigen Trost im Leben und Sterben" aus und gliedert den Stoff in des Menschen Elend, des Menschen Erlösung und die Dankbarkeit. Am Anfang steht das Liebesgebot, während der Dekalog im dritten Teil als das Gesetz des neuen Lebens behandelt wird. Der HeidKat folgt der reformierten Tendenz zum Lehrbuch und schränkt damit seine Möglichkeiten selbst ein. Von der -»Dordrechter Synode 1618 wird er zur Bekenntnisschrift der Reformierten Kirche erklärt, wobei aber die reformierten Kirchen außerhalb Deutschlands ihre Katechismen beibehalten. Im Einflußbereich Luthers ist die Entwicklung zunächst offen. Luther will lediglich ein Beispiel geben. Dementsprechend gehen die Zeitgenossen zunächst eigene Wege, so daß „in einer jeden Pfarr ein sonderer Brauch" herrscht (Marbach 1576, vgl. Reu 1,18). Als eigenständig innerhalb der breiten Streuung erweisen sich der kleine und große Katechismus von J. -»Brenz, beide etwa gleichzeitig (vgl. Reu 1,283ff). Unter dem Eindruck der Arbeiten Luthers läßt Brenz jedoch beide fallen und gibt 1535 einen weiteren Katechismus heraus, der für die Folgezeit Bedeutung erlangt (Grundlage des Württembergischen Landeskatechismus 1536; seine Einleitungsfragen werden Vorbild für viele spätere exponierte Katechismen) und dessen Aufbau mit dem Spannungsbogen von der Taufe zum Abendmahl später vielfach mit den Erklärungen Luthers verbunden wird (vgl. Fraas 55, Anm. 13). Eine gewisse eigenständige Bedeutung erlangt auch Melanchthons Catechesis puerilis 1540 (vgl. Hahn 65). Daneben stehen Arbeiten von Chytraeus, Judex, Rhegius, Trotzendorf u.a. 5. Bearbeitungen

des Kleinen Katechismus

nach

Luther

Unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Kirchenspaltung und des sich konstituierenden Konfessionskirchentums gewinnt der Katechismus Öffentlichkeitsbedeutung im kirchenrechtlichen Sinn, womit aber andererseits eine Verengung der ursprünglich intendierten Weite verbunden ist. Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutet die Herstellung einer engeren Beziehung zwischen Katechismus und Schrift. Löhner macht 1544 den konsequenten Versuch, alle Teile des Katechismus mit biblischem Material zu bereichern (vgl. Reu 1,627ff). Konsequent setzt Johannes Musaeus in seinem Katechismusexamen von Thorn 1568 diese Tendenz fort, indem er jeweils auf die Fragestücke Luthers die seinen folgen läßt „mit wichtigen Sprüchen vnd Exempeln aus der Bibel bekräftiget für diejenigen, die da lust haben, den Sachen weiter nachzudenken vnd durch solche richtige handleitung in den weiten Rosengarten der Bibel geführet werden vnd da selbst nach aller lust jhrer Seelen sich zu ergätzen vnd zu erquicken" (vgl. Reu 1/3/2/1, 27ff). In letzter Konsequenz dieser Entwicklung, allerdings nur vereinzelt gezogen, wird die volle Gleichsetzung zwischen Katechismus und Schrift proklamiert. Der Katechismus gilt nun nicht mehr als „Summe

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und Auszug" der Schrift; er wird selbst als „heilig" und „göttlich" bezeichnet (vgl. Sehling I, 422). Das Bestreben, die Bedeutung des Katechismus mehr und mehr der Schrift anzunähern, korrespondiert mit dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Angesichts der zum Teil verunsichernden Offenheit der Katechismusarbeiten kommt zumeist ein verständliches didaktisches Bedürfnis nach Vereinheitlichung auf: „Die Erfahrung bezeugt, was große Verhinderung und nachteil es bißher In unseren kirchen bei der Jugendt gebracht hat, die Ungleichheit des Catechismi, daß schier ieder Pfarrer seinem gutdünken nach Im einen Catechismum gestellt" (Marbach, vgl. Reu 1,10, Anm.2). Den Streitigkeiten auch innerhalb des reformatorischen Lagers gegenüber entspricht es zugleich einem kirchlich-praktischen Bedürfnis, die Fülle möglicher Lehraussagen auf eine kirchlich approbierte Lehrmeinung zu reduzieren. Melanchthon hatte schon 1540 in der Vorrede zu seiner Catechesis puerilis auf die Notwendigkeit hingewiesen,,,... pueros ad unam, simplicem et stmilem doctrinae formam adsuefieri" (CR 23,115). Fortbestehende Offenheit beschränkt sich im wesentlichen - entsprechend der territorialen Reformationsgeschichte - auf Territorien mit wechselndem Konfessionsstand wie Württemberg und Straßburg. In Hessen herrscht eine Mischform aus Luthers Katechismus und den „Fragstücken", die dem Konfirmandenexamen der Hessischen Kirchenordnung entnommen sind. In den anderen Gebieten setzt sich überwiegend der Katechismus Luthers sehr schnell durch. Schließlich sind es die Auseinandersetzungen zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten und die allmähliche Konsolidierung des Luthertums gegenüber dem Katholizismus, die ein Bestreben nach Lehreindeutigkeit verständlich machen. Im Streit mit den Philippisten (-»Kryptocalvinisten) heben die ->Gnesiolutheraner immer stärker die Bedeutung Luthers heraus. Emotionale Verehrung Luthers, die sich besonders nach seinem Tod verbreitet (man stattet den Katechismus mit einem Lutherbild aus), andererseits die Erkenntnis, daß Luther im Konsens mit der Schrift und den altkatholischen Symbolen stehe, führen zu einer ständigen Bedeutungssteigerung, die schließlich in der Aufnahme des KIKat in das ->Konkordienbuch 1580 gipfelt (vgl. T R E 5,489,27ff). Mit der Aufwertung zur Bekenntnisschrift ist der Katechismus Luthers im Höchstmaß autorisiert und institutionalisiert. Neben das emotionale und das innerkirchliche Motiv seiner Hochschätzung tritt nun als entscheidendes das kirchenrechtliche bzw. kirchenpolitische. Die Aufnahme in das Konkordienbuch bedeutet aber zugleich die Einleitung einer gewissen Erstarrung. Nicht nur der Katechismusstoff, sondern auch der Wortlaut der Erklärungen Luthers ist nun kanonisiert und damit für unveränderlich erklärt. Damit drängt Luthers Katechismus die anderen Typen endgültig zurück: Aus dem Exempel ist eine Norm geworden. Die Kanonisierung faßt die breite Strömung früherer katechismusartiger Schriften zusammen in einen Brennpunkt, der aber zugleich den Ausgangspunkt für eine neue Streuung katechetischer Arbeiten bildet, denn die Norm ist nun selbst erklärungsbedürftig. Hier ist das weite Feld der exponierten Katechismen angesprochen, das die folgende Zeit bestimmt. Als erste Katechismen dieser Art gelten bereits - neben Andreas Osianders Nürnberger Kinderpredigten von 1532 und der ebenso auf Predigtbasis stehenden Arbeit von Caspar Aquila 1538 (-»Katechismuspredigt) - die Bearbeitungen von Spangenberg 1541, Löhner 1544, Mörlin 1547 und Tettelbach 1568. Die Motive, die zum exponierten Katechismus führen, sind das Bedürfnis nach Aktualisierung und Applizierung und nach genauer und vollständiger Kenntnis der konfessionell differenzierten Lehre, dem Luthers bibelbezogene Elementarisierung nicht genügen kann. Diese Entwicklung tritt damit in eigenartigen Widerspruch zu Luthers ursprünglicher Intention. Beispielhaft für die ausgeführte Erklärung von Luthers Katechismus sind die Nürnberger Kinderpredigten (vgl. R e u I, 4 3 1 . 4 6 2 f f ) . Sie wollen anfänglich nur Ad-hoc-Auslegungen sein, entwickeln

K a t e c h i s m u s 1/1

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sich im Laufe der Zeit aber zu einem feststehenden Auslegungstyp des Katechismus, werden vielfach aufgelegt, von neuem herausgegeben und in verschiedene Kirchenordnungen aufgenommen. In Nürnberg war ein Heftchen in Gebrauch, das den Text der Hauptstücke in der Form des KlKat bot, um als Ausgangspunkt der Predigt die Kinder zuvor mit dem Predigttext vertraut machen zu können. Die Erklärung Luthers stellt dabei den Zielpunkt der Predigt dar, d. h. sie wird selbst als vorbildliche Auslegung des Textes verstanden. Unter dem Z e i c h e n des K l K a t als Bekenntnisschrift entsteht nun aber das verhängnisvolle Bedürfnis, den K a t e c h i s m u s s t o f f zu vervollständigen. M e l a n c h t h o n , der den K l K a t nahezu totschweigt (im G e g e n s a t z zu B u g e n h a g e n , der als sein V o r k ä m p f e r auftritt, vgl. M e y e r 4 9 1 f), w ü n s c h t bereits frühzeitig in einem G u t a c h t e n für Z w e i b r ü c k e n einen ausführlicheren K a t e c h i s m u s (vgl. R e u 1,189). D a m i t k o m m t das lehrhaft-schulische E l e m e n t stärker ins Spiel, das jetzt, a m Ausgang des J a h r h u n d e r t s und unter dem Z e i c h e n der geschehenen E n t w i c k l u n g , volle G e l t u n g erhält. Gleichzeitig wird die T e n d e n z deutlich, sämtliche Lehrstreitigkeiten im K a t e c h i s m u s ihren Niederschlag finden zu lassen (Opitz verzeichnet 1583 einen umfassenden K e t z e r k a t a l o g , vgl. R e u 1 / 2 , 4 5 3 ) . I m M i t t e l p u n k t des Interesses steht in der zweiten H ä l f t e des 16. J h . die doctrina. D i e T h e o l o g i e der Katechism u s b e a r b e i t u n g stellt sich besonders nach 1 5 8 0 d a r a u f ein. D e r K a t e c h i s m u s ist die kurze F o r m der Lehre, nach der alle L e h r e gerichtet werden k a n n . Intellektualisierung und objektivierende B e t r a c h t u n g s w e i s e gehen H a n d in H a n d . Seit 1 5 8 0 b e m ü h t m a n sich, im K a m p f gegen die drei F r o n t e n , den Kryptocalvinismus ( - > K r y p t o c a l v i n i s t e n ) mit dem Calvinismus im H i n t e r g r u n d , die A n t i n o m e r ( - » G e s e t z ) und den ,Papismus', den Lehrgeh a l t der - » K o n k o r d i e n f o r m e l vollständig in den K a t e c h i s m u s einzuarbeiten. In den einzelnen strittigen Punkten folgt m a n L u t h e r , indem man die T h e o r i e n der e x t r e m e n —»Gnesiolutheraner e b e n s o ausscheidet wie die der e x t r e m e n Philippisten. Beide Parteien w i r k e n nur hinsichtlich der d o g m a t i s c h e n Auseinandersetzungen i m einzelnen, sonst aber nicht eigentlich b e s t i m m e n d auf die Gestaltung des K a t e c h i s m u s ein. So weitet sich der K a t e c h i s m u s zum theologischen System bzw. zum d o g m a t i s c h e n L e h r b u c h . B e s o n d e r s aufschlußreich ist das Schicksal der Catechesis des David - » C h y t r a e u s , die in ihren einzelnen späteren B e a r b e i t u n g e n durch sachliche U m g e s t a l t u n g und Unterscheidung von G r o ß - und Kleindruck allmählich zu einem d o g m a t i s c h e n K o m p e n d i u m ausgebaut wird (vgl. auch S c h r ö d e r s S t r e i t k a t e c h i s m u s 1 6 0 2 , F r a a s 9 7 , A n m . 3). Von einem häuslichk i r c h l i c h e n , selbst von einem schulischen C h a r a k t e r dieser K a t e c h i s m e n k a n n keine R e d e m e h r sein. E h e r wären ihre S p r a c h e und ihr Denkstil als juridisch zu bezeichnen: D i e scholastische G e s t a l t dieser Arbeiten läßt die G l a u b e n s l e h r e n als kirchliche R e c h t s s ä t z e erscheinen, deren Ü b e r t r e t u n g es zunächst zu definieren und dadurch zu verhindern gilt. Gelegentlich zeigt sich a b e r auch eine R ü c k k e h r zum reinen W o r t s i n n (vgl. den T o r g a u ischen oder W e i m a r e r K a t e c h i s m u s , beide um 1 5 9 5 , den von Sötefleisch u m 1 5 9 0 usw.). D a r i n liegt eine jeweilige R e k r e a t i o n s m ö g l i c h k e i t , die a u c h in der weiteren G e s c h i c h t e des K a t e c h i s m u s nach jeder E n t f r e m d u n g des T e x t e s bzw. der ursprünglichen Intention n e u aktualisiert werden k a n n . D a s Bewußtsein der Z e i t g e n o s s e n wird j e d o c h von der intellektualistischen Sicherstellung der Lehreinheit geprägt. D i e d o g m a t i s c h e n Gliederungen und Begriffe werden selbst dort noch tradiert, w o die G e s a m t k o n z e p t i o n sich längst gewandelt h a t : D e r f o r m a l e R a t i o n a l i s m u s m ü n d e t schließlich in die A u f k l ä r u n g ein. Neben die Dogmatisierungstendenz tritt das Bedürfnis nach Applikation und die zunehmende Notwendigkeit der Verständnisfrage. Angesichts der Fixierung des Wortlautes als offiziellen Textes kann das Einüben und Gewöhnen in den Katechismus als eine Anleitung zum kirchlichen Leben nicht anders als durch Einüben eben dieses Wortlautes geschehen. Damit beginnt das stupide Einprägen von Inhalten unter festen Formulierungen, was später als Memoriermechanismus gebrandmarkt wird. Die Schulordnungen in der zweiten Hälfte des 16. Jh. fühlen sich veranlaßt, darauf zu dringen, daß zum Auswendiglernen eine verständlich machende Erklärung hinzutreten müsse. Zunächst werden noch im Rahmen psychologisch-methodischer Erwägungen freie Formulierung und freie Kinderantworten, Freiheit in den Fragen und sinngemäße (nicht wörtliche) Auslegung gefordert. Der nächste Schritt ist die Ausarbeitung dieser Zweitinterpretation zum feststehenden Text: Man emp-

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findet das Bedürfnis, durch weitere zergliedernde Fragen den Inhalt des Katechismus den Katechumenen näher zu bringen. Das führt zu einem entsprechenden Anschwellen des Lernstoffes, weil nun auch die neuen Erklärungen auswendig gelernt werden. Sie gestalten sich als Einleitungs-, Uberleitungs- und Erläuterungsfragen, dogmatische (Definitions-), auf die Bibel sowie gelegentlich schon (im Vorgriff auf den Pietismus) auf das Glaubensleben bezogene Fragen. Die didaktische Situation ist allerdings problematisch; bereits im 16. J h . reißt die Unsitte ein und greift dann weiter um sich, daß dem Küster das Einpauken des Stoffes überlassen bleibt. Der Pfarrer beschränkt sich darauf, das Gelernte vor dem ersten Abendmahlsgang der Kinder abzufragen. Zeitgenossen kritisieren das oberflächliche Lernen, da bei den Schülern das Gelernte nicht selten zu absurden Kombinationen verschmilzt (vgl. Fraas 99). Andere Versuche bestehen darin, verschiedene Lehrgänge für die einzelnen Altersstufen zu erarbeiten und aneinanderzureihen. So wird der Katechismus in den Schulbetrieb integriert. Eigenartige Blüten dieses Prozesses sind z.B. hebräische Ubersetzungen oder Lindemanns Bearbeitung für Lateinschulen (Gotha 1583, lateinisch und deutsch, mit Einleitungs-, Ubergangsund Ergänzungsfragen; vgl. Reu 1/2,77). Auch poetisierende Bearbeitungen dienen dem ausschließlichen Schulgebrauch, sei es, daß der Katechismus in Verse gefaßt oder zu einer Schulkomödie verarbeitet wird (Reu 1/2,86, Texte Nr. 43).

Insgesamt bezeichnet der exponierte Katechismus den Sieg des orthodoxen Systems. Seine kirchenpolitische Bedeutung schließt die Schmälerung der theologisch-didaktischen Offenheit ein. Der Höhepunkt des normativen Anspruchs markiert zugleich dessen Niedergang. Indem der freie Umgang des Hausvaters mit dem Katechismus als Hausbuch verlorengeht, indem die wörtlich fixierte Erklärung Luthers zum Lernstoff wird und indem sich zugleich die methodischen Möglichkeiten auf das Rezitieren und Memorieren beschränken, wächst die Gefahr der Veräußerlichung. Der exponierte Katechismus bringt nicht die Einheit von Lehre und Leben, sondern nur die Einheit in der Lehre. Das bloße Lernen befähigt den Laien aber keineswegs, Lehre bzw. Bekenntnis zu verstehen und zu beurteilen. Der Katechismus verliert an Würdigkeit und Bedeutung. Die theoretische, gedrängte, abstrakte Gestalt des exponierten Katechismus war nicht dazu angetan, dem kirchlichen und gesellschaftlichen Verfall entgegenzuwirken, den der -»Dreißigjährige Krieg dann mit sich brachte. 6. Der Katechismus

zur Zeit des Pietismus und der

Aufklärung

Unter dem Einfluß der Reformorthodoxie kommt es zu einer Neubelebung des exponierten Katechismus. Die historische Situation nach dem Krieg verstärkt das Bedürfnis, die Tragfähigkeit der Lehre zu bedenken und dem Volk nahezubringen. Der Bestand der Gemeinden ist den Reformern ebenso wichtig wie die Lebenshilfe für den einzelnen. Auffällig ist, daß die Initiative vielfach von Laien ausgeht: Herzog Ernst der Fromme von Sachsen-Gotha, im Kreis seiner Ratgeber Veit Ludwig Seckendorf, veranlassen den Gothaischen Katechismus (Glassius 1642), der später August Hermann -»-Francke und Johann Anastasius Freylinghausen beeinflußt. Im Auftrag Herzog Christian Ludwigs von Celle schreibt Walter 1652 den Cellischen Katechismus unter Gesenius' Einfluß (vgl. Ehrenfeuchter 82ff). Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen veranlaßt den schon im Geist Philipp Jakob —»Speners verfaßten Dresdner Kreuzkatechismus von Carpzov, Luzius und Kühn 1688. Das Bewußtsein wächst, daß der Katechismus und der Katechismusunterricht Sache der Gemeinde sind. Im Sinn einer gewissen Privatisierung wird erneut an die Hausväter und Hausmütter appelliert (vgl. Fraas 103, Anm. 34). Damit bricht die Zeit der amtlichen exponierten Katechismen oder Landeskatechismen an, die den Grundsatz cuius regio, eius religio auf katechetischem Gebiet verwirklichen. Das konfessionelle Zeitalter bedeutet eine Profilierung des Katechismus im Sinn der öffentlichen Bekenntnisorientierung auch der Erziehung, bedingt aber damit eine Bindung an das konfessionelle Kirchentum, mit dem die Begrenzung der Reichweite des Katechismus vorprogrammiert ist. Die wirkliche Anerkennung des allgemeinen Priestertums „der Laien" im Vollsinn bringt erst der Pietismus. An der Grenze zum Pietismus vertritt Großgebauer in direktem Zusammenhang mit der Neubelebung der Katechese das allgemeine Priestertum. Dessen pietistisches Verständnis impliziert aber einen gewissen Subjektivismus und damit die Auflösung des Katechismus als Bekenntnisnorm.

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Im Pietismus tritt der gesamte Stoff unter die Aspekte des Nutzens, des Trostes und der Vermahnung, wobei die jeweilige Frage nach Lehre und Trost eine erneute Erweiterung des Lernstoffes bedeutet (so ganz deutlich beim Dresdner Kreuzkatechismus). Neben den Katechismus als Volksbzw. Hausbuch treten reine Erbauungskatechismen, Lebens-, Gebets-, Prüfe-, Trostkatechismen, Katechismen für Kranke, für Zuchthäusler usw. mit jeweils gesonderter Zugabe.

Damit steht die Entwicklung an einem Wendepunkt. Der Katechismus ist längst zu einer historischen Größe geworden, über die man nicht ohne weiteres hinweggehen kann. Die Bearbeitungen, die dem jeweiligen Zeitgeist zur Geltung verhelfen, führen zu Stoffund Aspektanhäufungen. Mit der aufkommenden Eigenbedeutung methodischer Fragen wird die Substanz gefährdet. Aber auch die innere Entwicklung, die zwischen objektivem und subjektivem Pol, zwischen fides quae creditur und fides qua creditur pendelt, neigt infolge des einseitig betonten Interesses an der rechten Lehre einerseits, an der rechten Frömmigkeit andererseits zum Auseinanderfallen der Aspekte. Die quantitative Anhäufung des Stoffes ist nichts anderes als Ausdruck dieses Zerfalls. Andererseits ist für diese Zeit eine enge Beziehung zur Bibel charakteristisch. Spener fordert, „daß die heilige Schrift nicht aus dem Catechismo, sondern der Catechismus aus der Schrift gemacht und gelernt werden müsse" (1643, Zuschrift). Das bedeutet gegenüber der Orthodoxie eine Rückkehr zum reformatorischen Grundsatz, daß der Katechismus eine Anleitung sei, mit der Schrift umzugehen. Die Zergliederungsmethode (Höhepunkt dieser Entwicklung ist Löseckes Zergliederter Katechismus 1758) dient der -»Orthodoxie zur Feiststellung der Lehre (vgl. Maukisch 172ff), dem Pietismus zur persönlichen Zuwendung des Stoffes, leitet aber durch ihren formal-rationalen Charakter auch schon zur Aufklärung über. Der aus dem Zeitalter der -»Aufklärung hervorgehende Katechismus löst den orthodoxen und den pietistischen nicht einfach ab, sondern tritt neben die anderen. Erst mit der Neologie um 1750 wird die Tradition überhaupt am neu gewonnenen Vernunftmaßstab gemessen und infolgedessen zum größten Teil verworfen bzw. umgestaltet. Hierbei zeigt der Katechismus sein Beharrungsvermögen: So rasch sich theologische Veränderungen in den jeweiligen Katechismusbearbeitungen oder auch Neuschöpfungen niederschlagen, so widerstandsfähig sind andererseits die offiziellen, kirchlich legitimierten Katechismen. Die Ehrfurcht vor dem Überkommenen läßt wohl ständige Aspekt- und Stofferweiterungen zu, vermeidet es aber, tradiertes Gut abzuwerfen. Hier zeigt sich, daß die Kontinuität kirchlicher Verkündigung gerade im Katechismus eine kräftige Stütze besitzt. Mit der Aufklärung gerät der Katechismus in die Krise des konfessionellen Kirchentums selbst. Seit er als symbolisches Buch gilt, ist die Stellung des einzelnen zur Kirche mit der Stellung zum Katechismus aufs engste verknüpft. Es ist nur konsequent, wenn Johann Bernhard Basedow nicht mehr nur die christlichen Bekenntnisse und Katechismen ablehnt, sondern sich von der lutherischen Kirche überhaupt lossagt (vgl. Schmitt 69). Demgegenüber können die Verteidiger des Katechismus die Einzelargumente ohne Schwierigkeit ad absurdum führen. Ein Neologe wie Johann Salomo -»Semler (Historische Abhandlungen 1760) vermag dem individuellen Extremismus kirchliches Bewußtsein entgegenzusetzen und der kirchlichen Bedeutung des Katechismus gerecht zu werden. Im Jahr 1767 fordert ein Gremium angesehener Berliner Laien auf dem Wege einer Preisaufgabe die Schaffung eines neuen Katechismus. Gerade in diesem Zusammenhang werden die Schwierigkeiten einer Neuschöpfung deutlich und führen zu dem Argument, daß der alte doch wenigstens nicht schaden könne (vgl. Fraas 146). So entstehen denn zunächst neue Katechismen unter „Hinweisung", nach „Anleitung", nach dem Leitfaden des KlKat. Es solle jeder auf der Grundlage des KIKat im Sinne Luthers seinen eigenen Weg suchen (vgl. Schmid 93). Schließlich entstehen völlig freie Katechismen (zum Teil mit dem Luther-Text im Anhang), so der Schleswig-Holsteinsche Landeskatechismus von Cramer 1785, der Pommersche von Schlegel 1784, der Braunschweig-Lüneburger 1791, der Hannoversche 1791 (für die Folgezeit weitverbreitet, bearbeitet, kommentiert) und unzählige Privatschriften. Neben den Eingriffen und Umgestaltungen im Blick auf

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den Stoff endet die Emanzipation der katechetischen Methode um 1820 bei der formalisierten sokratischen Methodik. Es entstehen nun Frage-Katechismen, die stoffunabhängig auf der sokratischen Entwicklungsfrage beruhen (Gesundheits-, Ackerbaukatechismen usw.). 7. Der Katechismus

seit dem 19.

Jahrhundert

Im Laufe des 19. Jh. gewinnen mit der kirchlichen Erneuerung -»Katechetik und Katechismus ihre kirchliche Bestimmung zurück. Die von Preußen ausgehenden Unionstendenzen (-» Unionen, Kirchliche; -» Unionsbestrebungen) führen zum Bemühen um einen Unionskatechismus (der erste einer Reihe praktischer Versuche stammt von Krummacher 1821). In diesem Zusammenhang wächst die Beschäftigung mit der Katechismusgeschichte. Das Interesse am KIKat selbst ist an das Wiedererwachen des spezifisch konfessionellen Bewußtseins gebunden, wie es die neulutherische Orthodoxie nach 1830 entwickelt. Der Katechismus gehört sowohl im Hinblick auf den Stoff als auch auf den Vorgang des Tradierens zum Wesen der Kirche. Hand in Hand gehen Neudrucke (Löhe, Petri, Wichern) mit historischen Untersuchungen über den Urtext, Abweichungen und Veränderungen (vgl. Veesenmeyer, Mönckeberg, Harnack, Ehrenfeuchter). Auf diese Weise wird der KIKat in unverfälschter Gestalt in das kirchliche Bewußtsein zurückgeführt. Bezeichnend für das Bemühen um den ursprünglichen Geist des Reformators (so die Interpretation durch Heranziehung anderer Lutherschriften bei Kähler 1849) ist die Bedeutung, die den lange Zeit verschütteten Vorreden Luthers jetzt zukommt. Seit etwa 1850 ist in allen lutherischen Landeskirchen der KIKat wieder in seine alten Rechte eingesetzt. Das neugewonnene konfessionelle Selbstverständnis (wichtig ist die Wirkung der Erlanger Theologie auf die Katechetik durch Kraußold, v. Zezschwitz, Harnack) läßt den Katechismus betont zum Kirchenbuch, zum Bekenntnisbuch, zum Ausdruck des Gemeindeglaubens werden, mindert aber damit seine Bedeutung für die Schule. Ferdinand Cohrs urteilt zutreffend: „Mit dem Aufhören der Bekenntnisschule wird auch Luthers Katechismus aus der Schule entfernt sein" (Vierhundert Jahre 83). Noch ist das Rückzugsgefecht in Gang. Der Bekenntnischarakter des Katechismus verweist ihn nach dem an Kulturstufen orientierten Lehrplan der Herbartianer (J.F. -»Herbart) in ein späteres Alter, in den Konfirmandenunterricht, in die Zuständigkeit des Pfarrers. Unter dem Einfluß der Methodendiskussion wird er für den Schulunterricht zur historischen Urkunde herabgestuft. Das Jubiläums-Jahr 1929 war erneuter Anlaß für historische Forschungen (Reu, Cohrs, vorher schon Albrecht). Mit Meyers Historischem Kommentar beginnt die wissenschaftliche Einzelexegese des Textes. Die Einigungsbestrebungen zwischen den Landeskirchen, die Kritik an der sprachlichen Gestalt und die Frage nach der historischen Urgestalt führen zum Bemühen um Textrevision, getragen von der Eisenacher Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen seit 1852 (vgl. Calinich). Das umstritten bleibende Ergebnis von 1884 stützt sich auf den Text von 1542. 1931 wird eine neue Fassung verabschiedet, die an den Text von 1529 anknüpft, sich aber wiederum nicht durchsetzen kann. 1951 beschließt die Generalsynode der VELKD eine Fassung auf der Grundlage des Konkordienbuchs, dem sich die EKU zunächst widersetzt. Gemeinsame Beratungen (1954) führen zur Übereinstimmung wenigstens in den fünf Hauptstücken auf Grund beiderseitiger Konzessionen. Ein gemeinsamer Druck erfolgt 1958; die Spannung zwischen historischen und praktischen Interessen bleibt aber bestehen (zur Geschichte der Textrevision vgl. Prater/Brunner; Aland). Inhaltlich führt der Kirchenkampf (-»Nationalsozialismus und Kirchen) mit seinem Streben nach vertiefter individueller Religiosität zur Wiedergewinnung des Katechismus als praktischen Lehrbuchs „für den Gebrauch in Familie und Gemeinde" (vgl. Trillhaas 1935), also sowohl als Haus- wie auch als Kirchenbuchs. Er soll in das Leben der Gemeinde einüben, das Wahrheitsgut der Kirche tradieren und hat seinen Ort zwischen Taufe und Predigtgottesdienst.

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A u c h d e r a n d e r e m ö g l i c h e W e g w i r d m i t A r b e i t e n , d i e sich völlig v o m K l K a t l ö s e n (Bonhoeffer/Hildebrandt, Dittmer, A s m u s s e n u.a.), begangen. Diesen Versuchen wird e n t g e g e n g e h a l t e n , d a ß ein n e u e r , d e r c h a r i s m a t i s c h e n A r t L u t h e r s v e r g l e i c h b a r e r K a t e c h i s m u s n i c h t e i n f a c h „ m a c h b a r " sei. So s c h l i e ß t sich d i e M e h r z a h l d e r A u t o r e n d o c h e n g a n die T r a d i t i o n a n (Schieder, T r i l l h a a s , S e e b a ß , E c k s t e i n u . a . ) . I m a l l g e m e i n e n neigen die I n t e r p r e t e n d e s K l K a t d a z u , d i e K o n t i n u i t ä t m i t L u t h e r zu b e t o n e n u n d d i e W e i t e r f ü h r u n g als eine A r t v o n E n t f a l t u n g d e s s e n a n z u s e h e n , w a s bei L u t h e r i m K e i m v o r h a n d e n ist. „ I m G r u n d e " , stellt S c h m i d t 1946 n a c h t r ä g l i c h f e s t , „ist es d o c h b e s c h ä m e n d sich e i n z u g e s t e h e n , d a ß m i t d e m K l K a t allein d e r K a m p f g e g e n d i e D e u t s c h e n C h r i s t e n h ä t t e b e s t a n d e n w e r d e n k ö n n e n " (84). D a s ist a l l e r d i n g s n u r b e d i n g t r i c h t i g , s o f e r n isolierte T e x t a b s c h n i t te des K l e i n e n K a t e c h i s m u s e n t s p r e c h e n d e n F e h l i n t e r p r e t a t i o n e n d u r c h a u s o f f e n s t e h e n ; a b e r es ist b e z e i c h n e n d f ü r d i e n a c h 1945 h e r r s c h e n d e T e n d e n z , w e n n P r a t e r (vgl. P r a t e r / B r u n n e r 26) t r e f f e n d b e s c h r e i b t : „ W i r h a b e n u n t e r S c h m e r z e n g e l e r n t , d a ß es besser w ä r e , w e n n w i r u n s selber u n d u n s e r e g a n z e a u s d e n F u g e n g e r a t e n e G e g e n w a r t d u r c h d e n K a t e c h i s m u s ä n d e r n ließen als u m g e k e h r t . W i r s t e h e n g a n z b e s c h e i d e n als L e r n e n d e v o r d e m K a t e c h i s m u s u n d j e d e r R e v i s i o n s ü b e r m u t ist u n s v e r g a n g e n " . Bibliographie Hans-Jürgen Fraas, Katechismustradition. 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Katechismus 1/1

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K a t e c h i s m u s 1/2

723

1/2. G e g e n w a r t 1. Begriff und Funktion tur S. 727) 1. Begriff

und

2. Die Entwicklung nach 1945

3. Probleme und Aufgaben

(Litera-

Funktion

M i t der T a u f p r a x i s ist der K i r c h e die K a t e c h i s m u s a u f g a b e u n a b w e i s b a r gestellt. D e n n im umfassenden Sinn ist , K a t e c h i s m u s ' terminus technicus für „ T a u f u n t e r r i c h t " ( s . o . S. 7 1 0 , 3 8 ff). E n t s p r e c h e n d d o g m a t i s c h e m und konfessionellem T a u f v e r s t ä n d n i s und entsprechend unterschiedlicher T a u f p r a x i s ( P r o b l e m a t i k der Säuglingstaufe; - » T a u f e ) differenziert sich die K a t e c h i s m u s a u f g a b e . D i e n o r m a t i v - t h e o l o g i s c h e Begriffsbestimmung ist für p r a k tisch-theologische R e f l e x i o n , die handlungsleitende G e s i c h t s p u n k t e mit im Auge h a t , allein a b e r nicht zureichend. E l e m e n t a r e r T a u f u n t e r r i c h t mit dem Ziel der individuellen Z u s t i m m u n g zum T a u f a k t meint nicht nur ein Vermittlungsgeschehen, sondern einen Aneignungsvorgang in einer k o n k r e t e n Situation unter b e s t i m m t e n V o r g a b e n . K o n v e r g e n z und Divergenz zwischen Vermittlung und Aneignung sind p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h zu analysieren mit dem Z i e l , H a n d l u n g s p e r s p e k t i v e n , gegebenenfalls H a n d l u n g s a l t e r n a t i v e n , herauszustellen. In der T r a d i t i o n ist die Vermittlungsaufgabe fast ausschließlich unter dem Aspekt normativer Inhalte bedacht worden. D a s Aneignungsproblem wurde, wenn überhaupt, als f o r m a l e s o d e r m e t h o d i s c h e s P r o b l e m v o m inhaltlichen a b g e k o p p e l t und n a c h g e o r d n e t . Es ist d a r u m kein Z u f a l l , d a ß u m g a n g s s p r a c h l i c h K a t e c h i s m u s meist mit e i n e m „ B u c h " , im p r o t e s t a n t i s c h e n H o r i z o n t mit d e m zum n o r m a t i v e n L e h r t e x t gewordenen K I K a t Luthers identifiziert wurde. D i e inhaltliche Auslegungstradition des KIKat liegt dementsprechend glänzend aufgearbeitet vor (Fraas), die soziale W i r k u n g s g e s c h i c h t e dagegen kaum. Von der wirkungsgeschichtlichen D o m i n a n z einer einseitig a m n o r m a t i v e n Inhalt orientierten K a t e c h i s m u s t r a d i t i o n k a n n nicht abgesehen w e r d e n , weil sie bis heute - häufig als negativ besetzte Vorurteilsstruktur - n a c h w i r k t . Auszugehen ist zunächst von d e m weiten Katechismusbegriff, d e m altkirchlichen Verständnis des K a t e c h i s m u s als mündlicher T a u f u n t e r w e i s u n g i n n e r h a l b einer G e m e i n d e m i t d e m Z i e l , d a ß der T a u f b e w e r b e r in die G e m e i n d e a u f g e n o m m e n wird, in das Bek e n n t n i s e i n s t i m m t und an der E u c h a r i s t i e Anteil b e k o m m t . G e g e n ü b e r der spätmittelalterlichen F u n k t i o n s z u w e i s u n g des K a t e c h i s m u s als B e i c h t unterweisung öffnete L u t h e r wieder den H o r i z o n t und k o n z i p i e r t e seine beiden Katechism e n so, d a ß ihnen eine bis d a h i n ungeahnte Funktionsvielfalt zuwachsen k o n n t e : And a c h t s b u c h für den einzelnen, Agende für die H a u s g e m e i n d e , Fibel und K i n d e r b u c h , L e h r t r a k t a t und poetische E l e m e n t a r f o r m für die mündliche T r a d i t i o n , Lesehilfe für die H e i l i g e Schrift usw. Plaziert für alltägliche Verwendungssituationen in H a u s (in der Einheit von W o h n - und P r o d u k t i o n s g e m e i n s c h a f t ) , Schule und G e m e i n d e (in der Einheit von „ b ü r g e r l i c h e r und kirchlicher G e m e i n d e " ) strukturierte L u t h e r s K a t e c h i s m u s (besonders d a s „ H a n d b ü c h l e i n " , der K I K a t ) personale K o m m u n i k a t i o n ( H a u s a n d a c h t und H a u s u n t e r r i c h t ) , m o t i v i e r t e bzw. stimulierte Bildung (in H a u s und S c h u l e ) , e r s c h l o ß neue F o r m e n „ l o k a l e r Ö f f e n t l i c h k e i t " und p r o j e k t i e r t e neue V e r a n t w o r t l i c h k e i t e n (Priestertum aller G l ä u b i g e n als Zielperspektive). L u t h e r s KIKat war nicht nur ein „ M e d i e n e r e i g n i s " (vgl. Weyrauchs Analyse der Auflagenzahlen), sondern deklinierte die T a u f v e r a n t w o r t u n g des einzelnen wie der G e m e i n d e individuell und sozial durch und wollte so grundleg e n d und erneuernd w i r k e n . W i e attraktiv L u t h e r s K a t e c h i s m u s k o n z e p t i o n w i r k t e , zeigt die g r o ß e Z a h l der N a c h a h m u n g e n auch jenseits des kirchlichen H o r i z o n t s . , K a t e c h i s m u s ' wird bis ins 19. J h . t e r m i n u s t e c h n i c u s für e l e m e n t a r e A u f k l ä r u n g . V o m „ G e s u n d h e i t s k a t e c h i s m u s " ( C h . F . F a u s t 1752) bis zum „ R e v o l u t i o n s k a t e c h i s m u s " ( B a k u n i n 1 8 6 9 ) , v o m „ K a t e c h i s m u s der

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Katechismus 1/2

Deutschen" (H. v. Kleist 1809) bis zum „catéchisme positiviste" eines Comte (1852) lassen sich Nachahmungen finden, die an Luthers Katechismuskonzeption faktisch anknüpfen. Die Handhabung der Rolle, die dem KlKat als obrigkeitlich kontrollierter lutherischer Bekenntnisschrift zufiel, hat die emanzipativen Aspekte der geschilderten Funktionsvielfalt einseitig verändert: Aus dem elementar-christlichen Handbüchlein für jedermann mit seinen Impulsen zur Befreiung des Gewissens und zur Übernahme von Verantwortung konnte auch die obrigkeitliche Zuchtrute werden. Nach dem Funktionswandel des Katechismus zu fragen, bedeutet also im gegenwärtigen Horizont sowohl nach der Funktionsvielfalt bzw. den Funktionsverlusten wie auch nach den Verwertungs- und Nutzungsinteressen zu fragen. 2. Die Entwicklung

nach 1945

2.1. Restauration. Der Kirchenkampf (-»-Nationalsozialismus und Kirchen) hatte die Bedeutung des elementaren christlichen Unterrichts vor Auge geführt. Symptomatisch ist, daß ->Bonhoeffer (zusammen mit Hildebrandt) 1931 und 1936 Katechismusentwürfe vorlegt, die den gemeindlichen —•Katechumenat erneuern sollten. Überlegungen zur Erneuerung des Gemeindekatechumenats spielten darum in der ersten Phase des Wiederaufbaus eine grundlegende Rolle. Von der Zielvorstellung der „bekennenden Gemeinde" ausgehend, sollten die Kinder und Jugendlichen im Konfirmandenunterricht dazu vorbereitet werden, „junge", und „bekennende" Gemeinde zu sein. Dementsprechend wurde der Katechismusunterricht verstanden als Auslegung des Bekenntnisses. Als normative Gestalt dieser Auslegung stand der KlKat Luthers vor Augen. „Bekennen" in diesem Sinne hieß: Kenntnis und Zustimmung zum Bekenntnis der Kirche. Von diesem Ausgangspunkt aus ist es zu verstehen, daß in der ersten Phase nach 1945 die Erneuerung des Katechismusunterrichts sich reduzierte auf die Frage, welche Textgrundlage dem Katechismusunterricht zugrundegelegt werden sollte. Das Interesse an der Lehrnorm sog die pädagogischen Fragen in sich auf: Die didaktische Fragestellung wurde nicht eigens thematisiert. Die Identifikation zwischen Erwachsenenkatechumenat und Jugendkatechumenat im bekenntnisorientierten Katechismusunterricht, die Identifikation von Katechismus und Konfirmandenunterichtsplan wurde nicht eigens reflektiert. Kirchliche Kommissionen wurden eingesetzt mit der Aufgabe, Luthers KlKat neu herauszugeben. Die Revision von Luthers KlKat in seiner sprachlichen Gestalt war das Ziel. Das offizielle Erscheinen des revidierten Katechismus (1958) markiert aber in der Praxis schon fast das Ende der Restaurationsphase. Rückblickend ist zu sagen, daß (1.) auch der Katechismusunterricht ein Spiegelbild der allgemeinen Restaurationsbemühungen dieser Zeit war, daß (2.) die religionspädagogische Konzeption der „Evangelischen Unterweisung" als Pendant diesen Katechismusunterricht auch legitimierte, daß (3.) die Orientierung am Ideal der „bekennenden Gemeinde" mit dem Bekenntnisbegriff der Orthodoxie arbeitet und deren Definition der fides als „notitia" „assensus" und „fiducia" zum methodologischen Muster des Katechismusunterrichtes wird: 1. Kenntnisnahme, 2. Zustimmung, 3. Vertrauensbildung. In diesem Dreischritt ist der Katechismusunterricht weithin durchgeführt worden. Das belegen die Unterrichtshilfen. Anfang der sechziger Jahre geriet, ähnlich wie in der Schule, der Konfirmanden- und Katechismusunterricht in eine praktische Krise: Die praktisch-theologische Focussierung auf die bekenntnisorientierte Vermittlung hatte die Bedingungen individueller Aneignung nicht eigens thematisiert. Die katechetische Theoriebildung war auf diese Krise nicht vorbereitet. Sie mußte hilflos reagieren, da das Aneignungsproblem kategorial nicht erfaßt war. Aneignung aber, zum formalen Akt der Übernahme von Tradition degeneriert, mußte in dem Moment in die Krise geraten, wo die Plausibilität der Bildungstradition im gesamtgesellschaftlichen Kontext massiv in Frage gestellt wurde.

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2.2. Neuorientierung (1965-1975). Symptomatisch für den Ubergang in eine neue Entwicklungsphase ist H. Jetters Untersuchung Erneuerung des Katechismus-Unterrichts (1965). Hier wird das „Problem eines fixierten Katechismus" ausführlich erörtert und das Modell eines „Konfirmandenwerkbuchs" vorgestellt, das durch „Werkheft" bzw. „Arbeitsheft" ergänzt wird. Das Modell des „Werkbuches" reagiert einmal auf neue Unterrichtsversuche (z.B. an Hand von ,Lose-Blattsammlungen'), zum anderen vermittelt es mit der Tradition: Luthers KIKat bleibt Teil des Werkbuches. Insofern steht auch dieser Neueinsatz in der Tradition der exponierten Katechismen (s.o. 1/1). Aber der Werkbuchteil will in seinen das Unterrichtsgespräch stimulierenden und strukturierenden Themen von der Situation der Jugendlichen selbst ausgehen. Konsequenterweise ist darum das „ W e r k b u c h " eine „Ergänzungsmappe" und als unabgeschlossenes Arbeitsprojekt zu denken, das sich erst im Laufe des Unterrichtsgeschehens fortentwickelt. Die Praxis der sechziger Jahre führt zu vielen Neuansätzen des Konfirmandenunterrichts, der auch konzeptionell als „Konfirmandenarbeit" neu verstanden wird. Durch Erprobung entsteht ein Pluralismus von Inhalten (vornehmlich religiöse Aspekte der Sozialisation in thematisch-problemorientierter Zuspitzung), Formen (Freizeiten, Praktika, Blockseminare, Kurse etc.), Methoden (Abkehr vom „Frontalunterricht", Betonung von Gruppenarbeit, Projektarbeit etc.), Medien („kreative" Medien, aber auch neue Kommunikationsmittel). Dieser Pluralismus wirkte, je nach Standort, bedrohlich und befreiend zugleich: Innovative Phantasie führte zu neuer Identifikation und Intensität, mit der dieser Arbeitszweig vielerorts neu entdeckt wurde. Der Zusammenhang zwischen Konfirmandenarbeit und Jugendarbeit und damit die Kooperation zwischen den entsprechenden „Fachkräften" kam neu in Gang. Bedrohlich wirkte diese Entwicklung mancherorts, weil klassische Katechismusstoffe und Merkmale des „Allgemein-Christlichen" in der Praxis oft zurücktraten (Bibelkenntnis, Glaubensbekenntnis, klassisches Liedgut). Rückblickend ist deutlich zu sehen, wie stark auch diese Entwicklung an übergreifenden Prozessen Teil hatte: 1. An der Kritik an restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit. 2. An der „empirischen Wende" in der Pädagogik/Erziehungswissenschaft. 3. An der Bildungsreform mit ihrer wissenschafts- und handlungsorientierten Curriculumrevision (Strukturplan des dt. Bildungsrates 1970; Bildungsgesamtplan 1973). Vor diesem Hintergrund entwickeln sich Postulate, die in der Praxis des Katechismus- und Konfirmandenunterrichts zunehmend eingeklagt werden: a) Der Ruf nach praktischen Handlungsvollzügen als Verifikationserweis der Unterrichtsintention (Praktika, Projekte, Aktionen). b) Die veränderte, partnerschaftliche Lehrerrolle mit dem Ziel, „selbstbestimmte und selbstorganisierte Lehr-Lernprozesse" anzuregen. c) Der neue gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit eines horizontal geschichteten Bildungssystems mit fließenden Übergängen (Life-long-learning-system) führt zur Aufwertung bisher vernachlässigter Bereiche, besonders der Vorschulerziehung und der Erwachsenenbildung. Der Ruf nach einem lebensbegleitenden kirchlichen Bildungssystem als Pendent zum staatlichen wird laut und damit auch die Frage, ob der „Katechismusunterricht" in der „puberalen Ablösungsphase" des bisherigen Konfirmandenalters seinen angemessenen Ort habe. Auf der anderen Seite wird durch die Neubetonung des lebenslangen Lernens die Frage nach dem inhaltlichen Kontinuum innerhalb des Prozesses dringlich. Die Fragen nach den „Bildungszielen", nach dem „Sinn" von Qualifikationsanstrengungen und ihrer gesellschaftlichen Dotierung tauchen spätestens dann unabweisbar auf, wenn z.B. wirtschaftliche oder ökologische Krisen die gesellschaftliche Dotierung nicht mehr einlösen, die die Qualifikationszertifikate lange Zeit versprachen. 2.3. Integration nach 1975. Die Phase der „Neuorientierung" hatte den Schwerpunkt ihrer Anstrengung auf die „Aneignungsproblematik" gelegt und die Frage nach der „Vermittlung des Elementar-christlichen" wesentlich von diesem Ausgangspunkt aus bedacht. Damit reagierte sie antithetisch auf Defizite der bekenntnisorientierten Entwicklungsphase nach 1945. Der sich entwickelnde Pluralismus war so lange konstruktiv, als er

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- theologisch gesprochen - den Taufunterricht wieder als Aufgabe der Gemeinde in Erinnerung brachte und isolierte Fixierungen (z. B. ausschließliche Orientierung am Pastor als Repräsentanten der Kirche) aufbrach. Er kann zum Problem werden, wenn die wiedergewonnene Vielstimmigkeit des gemeindlichen Gesprächs verlassen wird zugunsten einer ausschließlichen Orientierung an den Sozialisationsproblemen der jeweiligen „Zielgruppe". Gesucht wird also eine gleichgewichtige Integration von „Situation und Tradition" (E. Lange), damit die Gemeinde als „Ökumene vor Ort", als „Lerngemeinschaft" sich ihrer Taufverantwortung vergewissert und sie konstruktiv wahrnimmt. Nachdem der holländische Erwachsenenkatechismus mit seinem heilsgeschichtlichbiblischen Ansatz für den katholischen Bereich Reformimpulse des II. Vatikanums bündelte (1968), wurde auch von protestantischer Seite aus die Arbeit an neuen Katechismen mit integrativem Konzept offiziell vorangetrieben. Symptomatisch erscheint dabei, daß zunächst „Erwachsenenkatechismen" erarbeitet werden. So erschienen im Auftrag der VELKD: 1975 der „Evangelische Erwachsenenkatechismus" 1979 der „Gemeindekatechismus" 1981 ein Jugendkatechismus („Leben entdecken") 1984 ein „Katechismus für Kinder" („Erzähl mir vom Glauben"). Parallel dazu verläuft die Entwicklung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der D D R : 1975 „Erwachsenenkatechismus" („Aufschlüsse - ein Glaubensbuch") 1977 „Jugendkatechismus" („Ich möchte Leben haben - Fragen und Antworten") 1982 „Kinderkatechismus" A („Wir sind nicht allein - Ein Buch für Eltern mit kleinen Kindern") 1982 „Kinderkatechismus" B („Wir freuen uns. Ein Buch für sieben- bis achtjährige Kinder")

Neben diesen offiziösen Arbeiten erschien eine Fülle von „Privatkatechismen", ohne daß - wie bei einigen offiziösen Texten - der Terminus „Katechismus" expressis verbis auftaucht. Bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit gibt es bei den erwähnten Werken typische Ubereinstimmungen: (a) Die Katechismusversuche sind zielgruppenorientiert. (b) Sie sind von Autorengruppen verfaßt, (c) Sie folgen erziehungswissenschaftlich reflektierten didaktischen Modellen. (d) Sie sind „in ökumenischem Geist" geschrieben, d.h. das konfessionelle Moment tritt zurück zu Gunsten des Gemeinchristlichen, (e) Sie bemühen sich um eine Integration situativer und biblisch-theologischer Aspekte im Sinne einer Korrelation, (f) „Bekenntnisorientierung" und „Handlungsorientierung" treten als ausschließliche Dominanten zurück, bleiben aber beide Zielvorgaben, (g) Die neuen Katechismen gehen über die Thematik der fünf Hauptstücke hinaus, berücksichtigen sie aber zumeist, (h) Der KIKat wird als exemplarisches Modell der Auslegungstradition biblischer Texte gewürdigt und - in unterschiedlichen Graden — zitiert bzw. integriert. Zusammenfassend kann man sagen: Die „Katechismusfamilie" und die „Privatkatechismen" vergegenwärtigen die christliche Tradition als Sinnangebot und Orientierungshilfe im gegenwärtigen Gesprächshorizont. Über die Eignung und Nutzung dieser Katechismen in der Praxis liegen noch keine gesicherten Daten vor. Die Verbreitung dieser Texte (besonders noch für das Konfirmandenbuch Leben entdecken) sagt allein noch nichts über ihre Wirkung. Neben den „offiziösen" Katechismusbüchern belegt die Fülle der veröffentlichten „Privatkatechismen" das ungebrochene Interesse an der Katechismusthematik, aber auch das unlösbare Problem, mit einem theologisch fundierten, didaktisch reflektierten und plausiblen Handbuch den Taufunterricht in der Gemeinde zu strukturieren. Innerhalb des gegebenen Pluralismus, und trotz verschiedener theologischer Standorte, zeigen sich aber immer wieder bestimmte Aufbauschemata: (a) die Orientierung an den Hauptstücken (z.B. Zink/Röhricht und Lohff), (b) an klassischen theologischen Topoi (z.B. Sölle/Steffensky), (c) am kirchlichen Leben, (d) an typischen Problemen der Sozialisation, (e) an Mischformen (z.B. Pioch).

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Diese Aufbauschemata sind mehrheitlich in der Tradition der Katechismusentwicklung nachweisbar. Loci und Topoi als Gliederungsgesichtspunkte verweisen auf elementare Orte bzw. spezifische Situationen, in denen der Glaube als Begegung, die unverfügbar bleibt, gestiftet wird und sich zu bewähren hat. Damit ist die Grenze, aber auch die Weite aller Katechismusarbeit angedeutet.

3. Probleme und

Aufgaben

Luthers Katechismuskonzeption mit ihrer theologischen Konzentration auf die „Hauptstücke" des christlichen Glaubens und ihrer produktiven Verortung und Verankerung in elementaren sozialen Lebensformen bleibt normativer Modellfall. Angesichts grundlegend veränderter gesellschaftlicher Strukturen und angesichts kontroverser theologischer Fragen (Problematik der Kindertaufe, Legitimität der —• Volkskirche) ist nicht zu erwarten, daß ein genialer Katechismusentwurf heute eine ähnlich konstruktive Kraft entfalten würde wie Luthers Katechismen in der Frühzeit der Reformation. Vor der Idee eines „Weltkatechismus", die im katholischen Horizont neu diskutiert wird, ist vielmehr auch ausdrücklich zu warnen: Das Problem einer normativen Vergesetzlichung der Lehrtradition ist vielmehr eine Grundgefahr aller Katechismusarbeit. Die Vielfalt und Differenziertheit der Katechismusentwürfe ist darum nicht zu beklagen, sondern zu begrüßen. Umgekehrt ist die Forderung nach theologischer Konzentration auf elementare biblisch-theologische Themen und Aspekte und ihrer Verortung in elementaren individuellen und sozialen Situationen berechtigt, damit die kritische und konstruktive Kraft des Elementar-christlichen für die Gegenwart wirksam bleibt. Der Themenkanon der „Hauptstücke" bleibt unabdingbar. Es deutet manches darauf hin, daß eine Orientierung an den Sakramenten Taufe und Abendmahl als korrelativen sozialen und theologischen Bezugspunkten eine noch unentfaltete, elementar zentrierende, zugleich kritische und konstruktive Kraft entfalten könnte. Denn unabhängig von der Frage nach der Legitimität der Kindertaufe bleibt die „Tauferinnerung" eine lebenslange Aufgabe und Chance in den Wachstumskrisen der Biographie und berücksichtigt die in den sechziger Jahren eingeklagte Forderung nach sozialisationsbegleitender Auslegung und Aneignung des Glaubens. Unabhängig von der Kontinuität bzw. Diskontinuität von sozialen Lebensmustern (Familie, Wohngemeinschaft, Nachbarschaft, Vereinsleben etc.) bleibt die eucharistische Gemeinschaft kritisches und konstruktives Stimulans auch für die Erneuerung der jeweiligen sozialen Muster. Taufe und Abendmahl sind selbst symbolisch verdichtete Elementarsituationen. Sie sind Kristallisationspunkte für die konstruktive Spannung zwischen gedeuteter Tradition und gegenwärtiger Erfahrung, zwischen individuellem Erleben und sozialem Handeln, zwischen Leiblichkeit und Spiritualität, zwischen passivem Empfangen und aktivem Weitergeben usw. Die neuere kontroverstheologische Sakramentsdiskussion (Lima) läßt obendrein hoffen, daß die Katechismusdiskussion ein bleibender Ort für das ökumenische Gespräch ist. Nimmt man „Vermittlung" und „Aneignung" als gleichberechtigte Pole der Katechismusarbeit ernst, wird der Taufunterricht in der Gemeinde als O r t aufgewertet, von dessen Praxisreflexion schon immer theologische Innovationen ausgegangen sind und noch heute ausgehen können. Literatur Wolfgang Armbrüster, Dein Glaube ist wie ein Baum. Ein Jugendkatechismus, Offenbach 1984. Hans Asmussen, Christi. Lehre anstatt eines Katechismus, B e r l i n / H a m b u r g 1968. - Oswald Bayer, Sokratische Katechetik? Der Streit um den KlKat in der Aufklärung, darg. an der Rezeption durch J o h a n n Georg H a m a n n : P T h 7 3 (1984) 3 9 4 - 4 1 3 . - Annegret B e n z / J ü r g e n Karasch/Wolfgang Grünberg, Trend u. Tradition - Lernen im Konfirmandenunterricht: P T h 7 0 (1981) 2 7 5 - 2 8 9 . - ö k u m . Bibliogr. Religionsunterricht, Religionspädagogik, Christi. Erziehung. Hg. v. Wilhelm F. Kasch, Paderborn 1976. - J ö r g Bode, Ein jeder lern' seine L e k t i o n . . . Neue Konfirmandenbücher u. Katechismus-Entwürfe: P T h 73 (1984) 4 1 4 - 4 2 6 . - Dietrich Bonhoeffer, Zweiter Katechismus-Versuch: ders.,

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Katechismus 1/2

GS III, München i960, 335-367. - Ders./Franz Hildebrandt, Glaubst du, so hast du. Versuch eines Luth. Katechismus: Dietrich Bonhoeffer, GS III, München 1960, 248-257. - Die Botschaft Jesu im Isolotto. Der Katechismus des Don Mazzi, Mainz/München 1969. - Jan Carlquist/Henrik Ivarsson/F. Christian Trebing, Wem kann ich glauben? Kursprogramm für den kirchl. Unterricht, Hammersbach 1979. - Norbert Copray, Jesus nachfolgen - ein Kursbuch des Glaubens, Düsseldorf 1986. - Roland Degen, Katechismusrevision! - Katechismusrevision?: Die Christenlehre 36 (1983) 3 - 1 0 . - E l e m e n t a r i s i e r u n g theol. Inhalte u. Methoden. Abschlußbericht-Ergebnisseder Unters. 2, hg. v. Comenius-Institut, Münster 1977. - Erzähl mir v. Glauben. Ein Katechismus für Kinder, Gütersloh/Lahr 1984. - Gotthardt Frühsorge, Luthers KIKat u. die ,Hausväterliteratur'. Zur Traditionsbildung luth. Lehre v. ,Haus' in der Frühen Neuzeit: PTh 73 (1984) 380-393. - Die zehn Gebote. Eine Reihe mit Gedanken u. Texten, 4 Bde., Stuttgart 1986. - Glaube konkret. Katechismushefte, Vellmar 3 o . J . - Glaubensverkündigung f ü r Erwachsene. Dt. Ausg. des Holl. Katechismus, Nijmwegen/Utrecht 1968. - Wolfgang Grünberg, Bildung u. Frömmigkeit. Zur Gesch. der Hb. unter bes. Berücksichtigung v. Luthers Enchiridion v. 1529: PTh 73 (1984) 354-367. - Ders., Lernen im Rhythmus des Alltags. Luthers KlKat nach 451 Jahren. Anmerk. zu einem theol.-pädagogischen Konzept: PTh 70 (1981) 259-274. - Ders., Luthers KIKat - ein Volksbuch? Gesch., Ort u. Bedeutung der Katechismuskonzeption für Haus, Kirche u. Schule: Wenn Theologie praktisch w i r d . . . , Stuttgart 1983, 3 6 - 5 1 . - Friedhardt Gutsche/Hans Bernhard Kaufmann, Durchblicken. Nicht nur ein Jugendkatechismus, Wuppertal 1988. - Peter Hauptmann, Die Katechismen der russ.-orth. Kirche. Entstehungsgesch. u. Lehrgehalt, Göttingen 1971. - Günter Hegele, Argumente zum Glauben. Ein Arbeitsbuch über Funktionswert u. Praxis des kirchl. 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Lehre nach der Ordnung des KIKat Dr. Martin Luthers, Bielefeld 1984. - Alfred Teipel, Die Katechismusfrage. Z u r Vermittlung v. Theol. u. Didaktik aus rel.-pädagogischer Sicht, Freiburg 1983. - M a x Thurian, Gemeinsam Glauben - gemeinsam Handeln. Ein ökum. Katechismus, Mainz 1967. - Tradierungskrise des Glaubens, München 1987. - Erdmann Weyrauch, Luthers KIKat als öffentliche Handelsware. Z u Entstehung, Druck u. Verbreitung aus der Sicht des Buchhistorikers : PTh 73 (1984) 368-379. - Eberhard Winkler, Der KIKat nach 450 Jahren: Die Christenlehre 32 (1979) 227-232. - Wir sind nicht allein. Ein Buch für Eltern mit kleinen Kindern, Berlin/DDR 1981.

Wolfgang Grünberg

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Katechismus II II. Römisch-katholische Kirche

1. Begriff und Bezeichnungen 2. Die Geschichte des Katechismus von 1533 bis 1986 innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums 3. Das Katechismusproblem (Quellen/Literatur S. 7 3 5 )

1. Begriff und Bezeichnungen Das Wort Katechismus (von griech. KüTrjxWK — Lehre, Unterricht) als Bezeichnung für das Buch, welches bei der religiösen Unterweisung in Kirche und Elternhaus - später auch in der Schule - als Leitfaden dient, wird katholischerseits erstmals 1535 von Georg -•Witzel gewählt, und dieser Buchtitel setzt sich im Verlauf der 2. Hälfte des 16. Jh. allmählich durch, während gleichzeitig noch andere Bezeichnungen für das Handbuch der katholischen Glaubens- und Sittenkatechese Verwendung finden, wie z.B. doctrina, institutio, catechesis, summa, Uber und compendium. Je nach dem Adressaten dieses Handbuches der Katechese unterscheidet man zwischen einem Lehrbuch für die Bildungsvermittler (Katecheten) und einem Lernbuch für die Bildungsempfänger (Katechumenen), zwischen einem Kinder-/Jugend- und einem Erwachsenen-Katechismus bzw. einem Katechismus für die Lehrer, Laien und Priester. Ein Missionskatechismus berücksichtigt als Unterrichtsbuch der Erstkatechisation die besondere Situation der bisherigen Anhänger einer nichtchristlichen Religion, während der Konvertitenkatechismus für die zur katholischen Kirche übergetretenen Mitglieder einer anderen christlichen Konfession gedacht ist. Als Kontroverskatechismus bezeichnet man ein Handbuch, das aus der Abwehrhaltung gegen eine andere Konfession die von dieser in Frage gestellten Lehrpunkte nicht nur verteidigt, sondern in den Vordergrund stellt. Hingegen meidet ein ökumenisch ausgerichteter Katechismus jede Form der Kontroverse, ohne dabei auf eine ausgewogene Darstellung der entscheidenden Lehrpunkte der eigenen Konfession zu verzichten. Nach der unterschiedlichen Form der Darstellung in diesem Unterrichtsbuch spricht man von einem Lehrstück- oder Fragstück- (Frage- und Antwort-) Katechismus. Auch der Ort der katechetischen Unterweisung prägt diesen Leitfaden entweder als Haus-, Gemeinde- oder Schul-Katechismus. Je nach dem Verpflichtungsgrad und Geltungsbereich eines Katechismus wird zwischen einem Privat- oder Diözesan-, Landes- und WeltKatechismus unterschieden. Die beiden letzteren werden auch als Einheitskatechismen bezeichnet. 2. Die Geschichte des Katechismus deutschen Sprachraums

von 1533 bis 1986 innerhalb

und außerhalb

des

2.1. 16. Jahrhundert. Während der Reformationszeit erschienen im deutschen Sprachraum zahlreiche und bedeutende Katechismen. -»Erasmus von Rotterdam schrieb während seines Aufenthaltes zu Freiburg i.B. seine Dilucida et pia explanatio (Basel 1533). Georg Witzel, von 1525 bis 1531 ein Anhänger Martin -»Luthers und seit 1533 katholischer Prediger in Eisleben, veröffentlichte seinen Catechismus Ecclesiae (Leipzig 1535), welcher zahlreiche Auflagen erlebte. Vom selben Autor sind: Quaestiones Catecheticae (Mainz 1540), Catechisticum examen (Mainz 1541), Catechismus (Mainz 1542) sowie Newer und Kurtzer Catechismus (Köln 1560). Der Dominikaner und Kontroverstheologe Johannes Dietenberger (ca. 1475-1537) gab 1537 in Mainz als letztes seiner Werke einen Catechismus heraus. Von Johann —»Gropper stammen drei Katechismen: Enchiridion (Köln 1538), Capita institutionis (Köln 1546) und Institutio Catholica (Köln 1550). Ersterer gilt als das bedeutendste dogmatische Werk der vortridentinischen Zeit, das sich mit den Lehren der Reformatoren auseinandersetzt. Friedrich ->Nausea verfaßte als Bischof von Wien den Catechismus catholicus (Köln 1543), und von Jacob Schöpper d.Ä. (1512/16-1554), einem Seelsorger am Dortmunder Gymnasium, sind der Catechismus brevis et catholicus (Dortmund 1548) und eine Institutionis Christianae Summa (Köln 1555). Der spanische Dominikaner Pedro de ->Soto schrieb ebenfalls zwei Katechismen, einen größeren, die Institutionis Christianae libri (Augsburg 1548), und einen kleineren,

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Katechismus II

das Compendium doctrinae catholicae (Ingolstadt 1549). Von Michael Heiding stammen die beiden Katechismen, die Institutio (Mainz 1549) und die Brevis institutio (Mainz 1549), welche aus seinen von 1542 bis 1544 im Mainzer Dom gehaltenen Predigten hervorgegangen sind und vor allem von Matthias -»Flacius angegriffen wurden. Der Dominikaner Johann —>Fabri ist der zunächst anonyme Autor von Ain christenlicher Catechismus (Augsburg [1551]). Die von Stanislaus -»Hosius als Bischof von Ermland veröffentlichte Confessio fidei catholicae (Krakau 1552/53), welche zu seinen Lebzeiten 30 Auflagen und Übersetzungen hatte, bildet den Abschluß der katholischen Enchiridien-Literatur vor Canisius und dem Catechismus Romanus. Von dem Jesuiten Peter -»Canisius, der durch seine Lehr- und Predigttätigkeit für die katholische Erneuerung wirkte, gibt es drei Katechismen, die zu Lebzeiten des Autors 233 Auflagen erhielten: die Summa doctrinae christianae (Wien 1555), der sog. Catechismus minimus (Ingolstadt 1556) und der sog. Catechismus minor seu Parvus Catechismus catholicorum (Köln 1558). Ersterer wurde durch kaiserliches Edikt in ganz Österreich eingeführt und ist für Studenten der Theologie gedacht, der zweite für Kinder und letzterer, welcher durch mehr als zwei Jahrhunderte in Deutschland die Katechese bestimmte und als „Canisi" sprichwörtlich wurde, für Mittelschüler. Der Humanist Johannes Monheim (1509-1564) ist Verfasser eines auf erasmischer Grundlage aufgebauten Catechismus (Düsseldorf 1560), der sich z. T. bis in den Wortlaut an die Institutio des Johannes —» Calvin und an dessen Genfer Katechismus anlehnt, was dem Autor den Vorwurf calvinistischer Häresien einbrachte. Des Franziskaners und Kontroverstheologen Conrad Clinge (1483/84-1556) Catechismus catholicus (Köln 1562) wurde wegen seiner Lehre von der doppelten -»Gerechtigkeit zusammen mit allen seinen Schriften indiziert. Julius -»Pflug, der letzte katholische Bischof von Naumburg-Zeitz, schrieb die Institutio christiani hominis (Köln 1562). Von größerer Bedeutung für die Geschichte des katholischen Katechismus ist der aufgrund eines Beschlusses des -»Tridentinums verfaßte und unter dem Papst -»Pius V. im Jahr 1566 in Rom herausgegebene Catechismus ad Parochos, der seit der Dillinger Ausgabe von 1567 auch den erweiterten Titel ->Catechismus Romanus trägt und 1568 erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Aufgrund der Forderung des Trienter Konzils nach Belehrung des Volkes (Sess. V de reformatione c. 2), insbesondere der Kinder (Sess. XXIV de ref. c. 4), in den Anfangsgründen des Glaubens und im Gehorsam gegen Gott erfuhr die für die Erwachsenen bestimmte Kirchenkatechese oder Christenlehre - meist am Sonntagnachmittag - eine bedeutende Intensivierung, wobei der Katechismus als Buch die seit dem Spätmittelalter bekannte Katechismus-Tafel ablöste. Seit 1560 entstanden Christenlehr-Bruderschaften, die sich um die Hauskatechese und die dabei als Lehrerhandbuch verwendeten Katechismen verdient machten. In Italien verfaßte der 1535 als Laie zum Kardinal ernannte Gasparo -»Contarmi eine Katechesis (Florenz 1553), und der Dominikaner Leonardo de Marinis (1509-1573) schrieb als Administrator des Bistums Mantua 1555 einen Catechismus für diese Diözese. Vom Jesuiten Roberto -»Bellarmini stammen zwei Katechismen, der kleinere: Dottrina cristiana breve (Rom 1597) und der größere für Katecheten: Dichiarazione più copiosa (Rom 1598). Von diesen im Auftrag von Papst Clemens VIII. herausgegebenen Katechismen erlebte der kleinere, der von der Propaganda-Kongregation für die katholischen Missionen vorgeschrieben war, 400 Auflagen und wurde in 56 Sprachen und Dialekte übersetzt. In Frankreich wurden die beiden Katechismen des Jesuiten Edmond Auger (1530—1591) berühmt, der größere Catechisme et sommaire (Lyon 1563) ist für das Volk und der kleinere Petit Catechisme et sommaire (Paris 1568) für die Jugend gedacht. Wie Canisius in seinen Katechismen insbesondere der lutherischen Lehre entgegentrat, so wollte Auger der Lehre Calvins begegnen, indem er im Text oft Wort für Wort dessen zweiten Genfer Katechismus folgt.

Katechismus II

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In den Niederlanden veröffentlichte Wilhelm (Damasus) Lindanus (1525-1588), der spätere Bischof von Roermond, De cleyne Catechismus (Antwerpen 1566), und der Bischof von Herzogenbusch, Franciscus Sonnius (1506/7-1576), schrieb zwei Katechismen: Formula cbristiana (Antwerpen 1560) und Examen militiae Christianae (Herzogenbusch 1570). Von Jan Hessels (1522-1566) erschien ein Catechismus (Antwerpen 1566), und auch Augustin Hunnäus ist Autor eines Catechismus catholicus (Antwerpen 1570). Aus Spanien sind zu nennen: Martin Pérez de Ayala (1503/4-1566), der als Bischof von Cádiz einen Catecismo (Pavia 1552) und als Erzbischof von Valencia einen weiteren Catecismo verfaßte. Der Dominikaner und Erzbischof von Toledo, Bartolomé de Carranza (1503-1576), ein eifriger Reformer und Konsultor der -»Inquisition, wurde insbesondere wegen seiner reformatorischen Lehre von der -»Rechtfertigung in den 1558 in Antwerpen gedruckten Commentarios sobre el Catecismo Cristiano des Luthertums verdächtigt. Sein Katechismus, der erste in spanischer Sprache, kam auf den Index, und der Autor selbst wurde von der spanischen Inquisition 17 Jahre lang in Untersuchungshaft gehalten. Z u erwähnen sind auch die beiden Dominikaner Domingo de ->Soto und Luis de Granada (1504—1588), ersterer mit dem Catecismo (Salamanca 1563) und letzterer mit der Introducción (Salamanca 1582), sowie die beiden Jesuiten Jerónimo G. Ripalda (1535-1618) und Gaspar Astete (1537-1601), die je einen Privatkatechismus unter dem Titel Doctrina cristiana (Burgos 1591 bzw. Madrid 1599) herausgaben, welche bis ins 20. Jh. in Spanien in Gebrauch blieben. In Portugal erschien der durch den Erzbischof von Braga, Bartholomäus de Martyribus (1514-1590), verfaßte Catecismo (Lissabon 1562). Für die Mission in Mexiko schrieb der spanische Franziskaner Alonso Molina (1511 — 1584) einen Catecismo major und einen Catecismo minor (1546), die beide zahlreiche Auflagen erfuhren. 2.2. 17./18. Jahrhundert. Im Frankreich des 17. Jh. entstanden die ersten Diözesankatechismen. So erschien u.a. der Catéchisme ou Doctrine chrétienne (Paris 1675), ein Katechismus der Bischöfe von Angers, La Rochelle und Luçon, der sog. Katechismus der drei Heinriche, weil jeder der drei Bischöfe Henri hieß. Auch der Wortführer des —>Gallikanismus, Jacques-Bénigne -»Bossuet, gab als Bischof von Meaux für seine Diözese einen Catéchisme (Paris 1687) heraus. Zu den französischen Diözesankatechismen des 18. Jh. zählen u. a. die Instructions générales, der sog. Katechismus von Montpellier (Paris 1702), den der Oratorianer François Aimé Pouget (1666-1723) im Auftrag des Bischofs Colbert schrieb. Ein Privatkatechismus ist der zweibändige Grand Catéchisme historique (Paris 1683) des Kirchenhistorikers Claude Fleury (1640-1723). Dieser 1728 indizierte erste sog. „historische Katechismus", der seit 1750 in deutscher Übersetzung weit verbreitet war, gilt als Vorläufer der katholischen Schulbibel und gehört zu den bedeutendsten Lehrbuchschöpfungen. Die im 17./18. Jh. aufkommenden historischen Katechismen rückten von den apologetischen Katechismen des 16. Jh. ab, teilten den Lehrstoff in gleiche Lektionen auf und berücksichtigten das Fassungsvermögen der Adressaten. Im deutschen Sprachraum begannen sich seit der Mitte des 17. Jh. die ChristenlehrBruderschaften auszubreiten, und es entstanden für die Hand der Laienkatecheten, den Altersstufen der Kinder entsprechend, abgestufte Katechismen. Die Hauskatechese blieb die Grundlage der religiösen Unterweisung bis mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der damit verbundenen Schulkatechese gegen Ende des 18. Jh. diese, zusammen mit der Kirchenkatechese, an Bedeutung verlor. Die für die Schulkatechese verfaßten (Lesebuch-)Katechismen der Schüler knüpften an deren Erfahrungswelt an, berücksichtigten deren Auffassungsvermögen und waren zusammen mit der jetzt entstehenden „Biblischen Geschichte" Grundlage der Katechese. Der Jesuit Ignaz Parhammer (1715-1786) ist Autor eines dreiteiligen, von Fleury inspirierten Historischen Katechismus (Tyrnau 1750/52), und von Benedikt Strauch (1724-1803), dem Prior des Augustiner-Chorherrenstiftes Sagan und Begründer des biblischen Schulunterrichts, stammen ein Römisch-katholischer Katechismus für die 2.

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Katechismus II

Klasse (Sagan 1765) und einer für die 3. Klasse (Sagan 1766). Dieser erste schlesische sog. Saganer Schulkatechismus wurde durch Johann Ignaz von Felbiger bearbeitet (Sagan 1768). Der Katechismus mit Fragen und Antworten zum Gebrauch in den KaiserlichKöniglichen Staaten Österreichs erschien 1777 in Wien. Um zwischen Aufklärung und kirchlichem Geist einen Ausgleich herbeizuführen, verfaßte der Subregens des Bamberger Seminars, Johann Friedrich Batz (1770-1807), für die Schüler ein Lehrbuch der christkatholischen Religion (Bamberg 1799). In Lateinamerika und in den Ländern der Mission entstanden während des 17. Jh. zahlreiche, von Ordensangehörigen verfaßte Missionskatechismen, so z.B. der von dem Jesuiten und Indianermissionar Antoine de Araujo (1566-1632) für Brasilien gedachte Catecismo (Lissabon 1618), welcher in viele amerikanische Sprachen übersetzt wurde. 2.3. 19. Jahrhundert. In Frankreich verordnete Kaiser Napoleon I. eine für alle Bistümer des französischen Reiches einheitliche Katechese, wofür der Catéchisme à l'usage de toutes les Eglises de l'empire français (Paris 1806) eingeführt wurde. Dieser sog. „Napoleonische Einheitskatechismus", eine Bearbeitung des Katechismus von Bossuet, gelangte z. Zt. der -> Napoleonischen Epoche auch im Westen Deutschlands zu großem Ansehen. Der Bischof von Orléans, Félix-Antoine-Philibert Dupanloup (1802-1878), der die Aussöhnung der katholischen Kirche mit der modernen Welt suchte, gab Le Catéchisme chrétien (Paris/Orléans 1865) heraus. Im Deutschland zur Zeit der -»Romantik verfaßte Johann Christoph von Schmid (1768-1854) einen Katechismus der christkatholischen Religion (München 1836) für das Bistum Augsburg. In den norddeutschen Diözesen war der von Bernhard Heinrich Overberg (1754-1826) publizierte Katechismus der christkatholischen Lehre (Münster [1804]) bis gegen Ende des 19. Jh. ( 1 0 4 1900) im Gebrauch. Von Bernhard Galura (1764-1856), dem späteren Bischof von Brixen, stammt ein Kurzer Katechismus (Augsburg 1807), und der Benediktiner Ägidius Jais (1750-1822) schrieb den viel umstrittenen Katechismus des christkatholischen Glaubens (Würzburg 1807). Der von Franz Stapf verfaßte Katechismus der christkatholischen Religion (Bamberg 1812) blieb bis 1850 Diözesankatechismus für Bamberg, obwohl dieser bereits 1825 indiziert worden war. In der Erzdiözese Freiburg war der im Jahr 1842 erschienene biblische Katechismus der christkatholischen Religion von Johann Baptist Hirscher für fast drei Jahrzehnte eingeführt. Erster Rottenburger Diözesankatechismus war von 1848 bis 1887 der von Ignaz Schuster (1813-1869) herausgegebene Katechismus der katholischen Religion (Freiburg 1844; rev. 1850). Im Auftrag des Erzbischofs von München-Freising, Karl August Graf von Reisach, schrieb der Jesuit Joseph Deharbe (1800-1871) einen zunächst anonym erschienenen Katholischen Katechismus (Regensburg 1847). Diesem sog. „mittleren Katechismus" folgten ein Kleiner Katholischer Katechismus (Regensburg 1847) und ein Großer Katholischer Katechismus (1853). Diese unter dem Einfluß der Neuscholastik und der Lernschule verfaßten Deharbschen Katechismen erlangten in vielen Auflagen und 15 Ubersetzungen fast ein Jahrhundert lang Weltgeltung. Nachdem in den USA das 3. Plenarkonzil von Baltimore 1884 die Einführung eines Katechismus beschlossen hatte, wurde seit 1885 der sog. Baltimore Catechism für die meisten nordamerikanischen Diözesen eingeführt. Auch in der Schweiz, in Portugal und England erschienen Diözesankatechismen. In den Ländern der Mission entstanden im 19. Jh. zahlreiche Missionskatechismen. Der auf dem Vatikanum I überlegte Plan, einen für die gesamte römisch-katholische Kirche bestimmten Weltkatechismus herauszugeben, der den kleinen Bellarminschen Katechismus zur Grundlage haben sollte, konnte nicht mehr verwirklicht werden. 2.4. 20. Jahrhundert. In Deutschland revidierte der Jesuit Jakob Linden (1853-1915) den mittleren Deharbschen Katechismus (1900), der 1909/13 in den meisten süddeutschen Bistümern - außer Augsburg und Rottenburg - als Diözesankatechismus eingeführt wurde. Eine weitere Revision erfuhr der Deharbsche Katechismus durch den Jesuiten Theodor Mönnichs (1866—1957). Dieser Katholische Katechismus von 1925 wurde in fast allen

Katechismus II

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reichsdeutschen Diözesen - außer Freiburg und Rottenburg - als sog. „Einheitskatechismus" benutzt. Der im Auftrag der deutschen Bischöfe von Klemens Tilmann (1904-1984) und Franz Schreibmayer (1907-1985) erarbeitete Katholische Katechismus der Bistümer Deutschlands von 1955, der die Tradition der im frühen 20. Jh. erschienenen Lehrstückkatechismen von Heinrich Stieglitz (1868-1920) und Wilhelm Pichler (1862-1938) fortsetzt, fand mit seinen 29 Übersetzungen zunächst weltweite Verbreitung, wurde aber schon bald von anderen Katechismen wieder abgelöst. Im Jahr 1978 veröffentlichten Andreas Baur und Wilhelm Plöger für die Diözesen Augsburg und Essen den Katechismus Botschaft des Glaubens, und im Jahr 1979 folgte der von Gottfried Bitter und anderen verfaßte Katechismus Grundriß des Glaubens. Seit Juni 1985 liegt der im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Katholische Erwachsenen-Katechismus mit dem Untertitel „Das Glaubensbekenntnis der Kirche" vor, dem in einigen Jahren ein zweiter Katechismus-Teil mit der kirchlichen Sittenlehre folgen soll (s.u. S . 7 3 4 , 1 5 - 1 9 . 2 8 - 4 0 ; 735,22-27). In den Niederlanden erschien im Oktober 1966 De nieuwe Katechismus, der sog. „Holländische Erwachsenen-Katechismus", welcher im Auftrag der holländischen Bischöfe durch das Höhere Katechetische Institut in Nijmegen erarbeitet wurde und weltweite Verbreitung fand (s.u. S . 7 3 4 , 2 0 - 2 4 . 4 1 - 5 0 ; 735,16-21). Für Frankreich war der von Camille Quinet und André Boyer verfaßte Catéchisme à l'usage des diocèses de France (1940) als Lehrstück- und Einheitskatechismus von großer Bedeutung. In Italien galten die beiden im Auftrag von Papst —»Pius X . herausgegebenen katechetischen Handbücher Compendio della dottrina cristiana (Rom 1905) und Catechismo della dottrina cristiana (Rom 1912) nur für die Kirchenprovinz Rom, obwohl sie auf Wunsch des Papstes der gesamten katholischen Kirche als Weltkatechismus dienen sollten. Auch der Catechismus catholicus (Rom 1930), der das Arbeitsergebnis einer von Papst -»Benedikt XV. eingesetzten Kommission unter Vorsitz des Kardinalstaatssekretärs Pietro Gasparri (1852-1934) darstellt, war als Weltkatechismus gedacht. Im Juni 1986 hat Papst Johannes Paul II. einer „Katechismuskommission" aus zwölf Kardinälen und Bischöfen unter Vorsitz von Joseph Kardinal Ratzinger den Auftrag erteilt, bis zum Jahr 1990 einen für die gesamte katholische Kirche verbindlichen Katechismus auszuarbeiten. Der Vorschlag, einen nachkonziliaren Weltkatechismus herauszugeben, in dem die Ergebnisse des -> Vatikanum II verdeutlicht werden, war im Herbst 1985 im Vatikan von der Sondersynode der katholischen Bischöfe gemacht worden, die sich mit der Lage der Kirche zwanzig Jahre nach Abschluß des Konzils befaßt hatte. 3. Das

Katechismusproblem

Im Verlauf der 450-jährigen Geschichte hat bisher trotz vielfacher Bemühungen keiner der überaus zahlreichen Katechismen in der römisch-katholischen Kirche eine vergleichbare allgemeine Anerkennung und bleibende Geltung erlangt wie der Große und Kleine Katechismus Martin Luthers in den lutherischen Kirchen oder der -»Heidelberger Katechismus in den reformierten Kirchen. In dem Umstand, daß die Erwartungen und Ansprüche an einen allgemeingültigen Katechismus im Wandel der Zeiten und Verhältnisse immer größer geblieben sind, als diesen von den jeweils vorliegenden Katechismen entsprochen wurde, liegt das Katechismusproblem begründet, dessen Mehrdimensionalität aber auch Kriterien für die Beschaffenheit eines Katechismus aufzeigt. 3.1. Inhalt. Als sachgemäßes Lehrbuch des christlichen Glaubens und Lebens orientiert sich der Katechismus mit seinen Inhalten (katechetischer Lehrstoff) an der -»Theologie als Fachwissenschaft mit ihren Disziplinen. Seine vollständige und zugleich zusammenfassende Darstellung der christlichen Lehre folgt entweder dem Verlauf der (Heils-) Geschichte oder der Systematik, und hier vor allem im Anschluß an die katechetischen

734

Katechismus II

H a u p t s t ü c k e wie -»Vaterunser (Paternoster), Glaubensbekenntnis ( C r e d o / S y m b o lum), Z e h n Gebote (-»Dekalog) u . a . , so wie diese bereits in der frühen Kirche u n d auch im Mittelalter Gegenstand der Katechese, des „ m ü n d l i c h e n " Katechismus, waren. 3.2. Gliederung. Die Auswahl und Anordnung der sog. katechetischen Formeln/Formulare und damit zugleich die Gliederung des katechetischen Lehrstoffs variieren in den verschiedenen Katechismen. So bot z.B. Erasmus als Auswahl und Reihenfolge: Symbolum, Dekalog und Paternoster, während z. B. der Catecbismus Romanus zusätzlich die - • S a k r a m e n t e als weiteres Hauptstück nach dem Symbolum einfügte. In der erasmischen Anordnung ließ Auger hinwiederum die Sakramente dem Paternoster folgen, so d a ß er dieselbe Reihenfolge wie der zweite Genfer Katechismus Calvins erhielt. Der bei Canisius vorherrschenden Anordnung liegen fünfzehn H a u p t s t ü c k e zugrunde: Glauben (Glaubensbekenntnis), H o f f n u n g (Gebet), Liebe (Gebote), Sakramente und Gerechtigkeit (Sünden- und Tugendreihen). Diese Reihenfolge der Hauptstücke, die bereits bei Witzel gegeben ist, findet sich später auch bei Bellarmini. Der Katholische Erwachsenen-Katechismus ( = KEK) entfaltet die kirchliche Glaubenslehre am -»Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis, wobei er in den Artikel über Taufe und Sündenvergebung die sieben Sakramente einfügt. A n h a n d welchen Formulars die katholische Sittenlehre in dem noch ausstehenden 2. Katechismusteil einmal dargestellt sein wird, ist noch nicht bekannt. Der Holländische Erwachsenen-Katechismus ( = HEK) mit seinem geschichtlich/ heilsgeschichtlichen A u f b a u vermeidet dagegen eine Trennung zwischen Glaubens- und Sittenlehre, und da seinen Ausführungen kein katechetisches Formular zugrundeliegt, stehen z.B. die Sakramente nicht als G r u p p e zusammen, sondern finden ihre jeweilige Einordnung dort, w o sie im menschlichen Lebenslauf gewöhnlich ihren Platz haben. 3.3. Ökumenische Konfession. Die in der kirchlichen Erwachsenenkatechese sowie im schulischen Religionsunterricht verwendeten Katechismen bedürfen heute als autoritative Schriften des römisch-katholischen Bekenntnisses der oberhirtlichen Approbation. So hat z.B. der Apostolische Stuhl am 22.12.1984 die Herausgabe des KEK gemäß can. 775 § 2 CIC genehmigt, eine Bestätigung d a f ü r , d a ß der Glaube der Kirche „vollständig und verläßlich" dargestellt ist, was der Hauptverfasser des KEK, Walter Kasper, als „ M u t t e r Kirche im Originalton" bezeichnet hat. Selbst wenn dieser Katechismus besonderes Gewicht auf jene Lehrpunkte legt, die zwischen den westlichen Kirchen kontrovers sind, wie -»Rechtfertigung, Eucharistie (-»Abendmahl), Amtsverständnis ( - » A m t / Ämter/Amtsverständnis) und -»Heiligenverehrung, so zeigt er doch - im Gegensatz zu einem Kontroverskatechismus - eine ökumenische Ausrichtung, da er von den die Konfessionen verbindenden Grundlagen ausgeht und ökumenische Gesprächsergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte berücksichtigt. Der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg hat mit einem von den katholischen Bischöfen erbetenen ökumenischen Gutachten bei der Abfassung des KEK Hilfe geleistet, und Formulierungen des Evangelischen Erwachsenenkatechismus wurden im Wortlaut ü b e r n o m m e n . Auch der H E K , der in seinem Buchtitel nicht das Adjektiv „ k a t h o l i s c h " verwendet, zeigt eine ökumenische Ausrichtung. In ihm wird mit der evangelischen Theologie ein ständiger, indirekter Dialog geführt, und die R e f o r m a t i o n wird darin vor allem positiv gesehen. Dieser von den holländischen Bischöfen seinerzeit nachdrücklich empfohlene HEK hat einerseits weltweit eine positive Resonanz gefunden, aber andererseits auch eine scharfe Opposition hervorgerufen, welche die Vollständigkeit und Korrektheit der katholischen Lehrtradition vor allem in sieben Punkten vermißt. Z u diesen sog. „ 7 H a u p t s ü n d e n " des HEK zählen die Ausführungen über die Jungfräulichkeit Marias, Erbsünde, Eucharistie, Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Glaubenslehre, Geburtenregelung, Unsterblichkeit der Seele und Engel. 3.4. Form. Was die Form der Darstellung betrifft, so spricht der Frage- und Antwortkatechismus (z.T. mit eingeschaltetem „fraglosen" Text) die abstrakte Sprache der Definitionen. Nicht selten

735

K a t e c h i s m u s II

wird die Frage dem Schüler zugeteilt, entweder als F r a g e an den Lehrer, z. B. bei Bellarmini, oder als Frage an die Mitschüler zu gegenseitigem Abfragen. A u f diese Weise wird der Lehrstoff zum M e m o rierstoff, der im Laufe der Katechismusgeschichte i m m e r stärker angewachsen ist. S o weist z . B . der Katechismus von Schuster ca. 9 0 0 Fragen und A n t w o r t e n auf. Im Gegensatz dazu bieten die Katechismen von Overberg, G a l u r a und Hirscher den Lehrstoff mehr in zusammenhängender, entwikkelnd-erzählender F o r m und in anschaulicher Sprache. Der Lehrstück-Katechismus gliedert den Lehrstoff in thematische Einheiten (z.T. mit M e r k s ä t zen) und bringt ihn innerhalb derselben in freier, z u s a m m e n h ä n g e n d e r Darstellung, wie schon W i t zel, G r o p p e r und S o t o , aber auch Fleury, Pouget und Strauch. D e r sog. „ G r ü n e K a t e c h i s m u s " von 1955 enthält 136 Lehrstücke in Verbindung mit 2 4 8 M e r k s ä t z e n . 3 . 5 . Adressat.

S o w o h l d e r E r w a c h s e n e n - w i e d e r S c h u l - u n d J u g e n d k a t e c h i s m u s bie-

ten e n t s p r e c h e n d ihrer F u n k t i o n s b e s t i m m u n g h e u t e den für die betreffenden Altersstufen w i c h t i g e n L e h r s t o f f in e i n e r d e m E r f a h r u n g s h o r i z o n t u n d d e r S p r a c h e n t w i c k l u n g A d r e s s a t e n a n g e m e s s e n e n F o r m , w i e es d i e H u m a n - u n d

der

Gesellschaftswissenschaften

(Anthropologie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie u.a.) nahelegen. D e r H E K z . B . s e t z t bei d e r g e g e n w ä r t i g e n S i t u a t i o n d e s M e n s c h e n a n m i t s e i n e n aktuellen F r a g e n und P r o b l e m e n . E r beginnt i m ersten Teil m i t d e m M e n s c h e n a u f der S u c h e n a c h G o t t und endet im fünften Teil m i t G o t t a u f der S u c h e n a c h d e m M e n s c h e n . D a die W e l t d e s G l a u b e n s u n d die W e l t d e s A l l t a g s n u r e i n e , u n t r e n n b a r e W e l t u n d d i e I n k a r n a t i o n G o t t e s d i e u m g r e i f e n d e E i n h e i t b e i d e r ist, g e h t d e r H E K i n d u k t i v v o r , s e t z t bei d e r i r d i s c h e n W i r k l i c h k e i t a n u n d w e i s t in i h r die c h r i s t o l o g i s c h e D i m e n s i o n a u f . Im K E K , dessen p r i m ä r e Z i e l g r u p p e die M u l t i p l i k a t o r e n im P r o z e ß der G l a u b e n s w e i t e r g a b e s i n d , s t e h e n d i e b e i d e n G r u n d f r a g e n „ W e r ist G o t t ? W e r ist d e r M e n s c h ? "

am

Anfang. Hierbei k o m m e n zwei Prinzipien der Glaubensdarstellung zur Geltung:

das

t h e o z e n t r i s c h e , d a s s t ä r k e r d i e G o t t e s f r a g e stellt, u n d d a s a n t h r o p o z e n t r i s c h e , d a s v o n der Sinnfrage des M e n s c h e n ausgeht. Als A n t w o r t a u f diese F r a g e n wird das G l a u b e n s b e kenntnis der Kirche entfaltet. E i n d i e s e n b e i d e n E r w a c h s e n e n k a t e c h i s m e n in i h r e r G e s a m t k o n z e p t i o n g l e i c h w e r t i g e r K a t e c h i s m u s für d i e H a n d d e r S c h ü l e r o d e r J u g e n d l i c h e n liegt g e g e n w ä r t i g n i c h t v o r . Quellen Christoph M o u f a n g (Hg.), Kath. Katechismen des 16. J h . in dt. Sprache, M a i n z 1881, N a c h d r . Hildesheim 1964. Literatur P. B a h l m a n n , Deutschlands k a t h . Katechismen bis zum E n d e des 16. J h . , M ü n s t e r 1894. - G e r hard J . Bellinger, Katechismus-Tafel v. 1451 aus der L a m b e r t i - K i r c h e in Hildesheim: Stadt im Wandel, hg. v. C o r d M e c k s e p e r , Stuttgart, I 1985, 603 f. - B e n k t - E r i k B e n k t s o n , D o g m a als D r a m a . D e r holl. Katechismus v. einem sch wed. T h e o l o g e n gelesen, Stuttgart 1976. - G ü n t e r Biemer, Verantwortung für einen Katechismus. Postulate in G e s c h . u. G e g e n w a r t : Religionsunterricht an höheren Schulen 23 (1980) 4 0 - 4 7 . - W i l h e l m Busch, Der Weg des dt. k a t h . Katechismus v. D e h a r b e bis zum Einheitskatechismus, Freiburg i . B . 1936. - J e a n - C l a u d e D h o t e l , Les origines du Catéchisme moderne. D'après les premiers manuels imprimés en F r a n c e , Paris 1967. - Ingo E . Dollinger u. a . , Katechismus u. Konzil, Gräfelfing 3 1 9 8 1 . - J o s e f D r e i ß e n , D i a g n o s e des H o l l . Katechismus, Freiburg i . B . 1 9 6 8 . - E r i c h Feifei u . a . (Hg.), K a t e c h i s m u s - J a ? - N e i n - W i e ? Drei Diskussionsbeitr., Köln 1 9 8 2 . J o h a n n e s Hofinger, G e s c h . des Katechismus in Österreich v. Canisius bis zur G e g e n w a r t , Innsbruck/Leipzig 1937. - Ders., Art. Katechismus: L T h K 2 6 (1961) 4 5 - 5 0 . - Walter Kasper (Hg.), Einf. in den Kath. E r w a c h s e n e n k a t e c h i s m u s , D ü s s e l d o r f 2 1 9 8 5 . - E. M a n g e n o t , Art. Catéchisme: D T h C II/2 (1932) 1 9 1 2 - 1 9 6 8 . - J . M a l o t a u x , Histoire du C a t é c h i s m e dans les Pays-Bas, R e n a i x 1906. - Erhard M e u e l e r , Katechismus u. C u r r i c u l u m , Düsseldorf 1972. - Karl R a a b , D a s Katechismusproblem in der kath. Kirche, Freiburg i . B . 1934. - R e p o r t über den H o l l . Katechismus. D o k u mente, Berichte, Kritik, Freiburg i . B . 1969. - S. R o m b o u t s , Katechismus en Katechese, T i l b u r g 1934. - J o h a n n S c h m i t t , D e r K a m p f um den Katechismus in der Aufklärungsperiode Deutschlands, M ü n chen 1935. - Alfred Teipel, Die Katechismusfrage. Z u r Vermittlung v. T h e o l . u. D i d a k t i k aus religionspädagogischer Sicht, Freiburg i. B . u. a. 1983. - F r a n z - X a v e r T h a l h o f e r , E n t w i c k l u n g des k a t h . Katechismus in Deutschland v. Canisius bis D e h a r b e , Freiburg i . B . 1899. - Bernhard Truffer, D a s material-kerygmatische Anliegen in der Katechetik der G e g e n w a r t . Z u r G e s c h . der inneren Stoffge-

736

Katechismus III

staltung des Lehrstück-Katechismus, Freiburg i . B . 1963. - Friedrich Trzaskalik, Stud. zur G e s c h . u. Vermittlung des k a t h . Katechismus in Deutschland, K ö l n / W i e n 1984. - Franz Michel W i l l a m , Der Lehrstück-Katechismus als ein Träger der katechetischen Erneuerung, Freiburg i . B . 1949.

Gerhard J. Bellinger III. Orthodoxe Kirche 1. Die Grundlegung im 17. J a h r h u n d e r t 2. Die Entwicklung im 18. J a h r h u n d e r t 3. Die Vollendung im 19. J a h r h u n d e r t 4 . Ein Nachspiel im 2 0 . J a h r h u n d e r t (Literatur S. 738)

1. Die Grundlegung im 17.

Jahrhundert

In der orthodoxen Christenheit beginnt die Geschichte des Katechismus als kirchlicherseits verordnete Zusammenfassung der wichtigsten Glaubenslehren für Unterrichtszwecke im Grunde erst mit der Confessio Orthodoxa des Kiever Metropoliten Petrus Mogilas (1596-1646). Sie besteht aus insgesamt 261 Fragestücken und gliedert sich den Leitbegriffen Glaube (Nicaeno-Constantinopolitanum), Hoffnung (Vaterunser, Seligpreisungen) und Liebe (Tugendlehre, Dekalog) folgend in drei Teile. Ihrem äußeren Aufbau nach ein Katechismus, ließe sie sich angesichts des scholastischen Gepräges ihrer ausführlichen Antworten auf die meist nur kurzen Fragen freilich auch den Lehrbüchern der Dogmatik zurechnen. In jedem Falle aber hat sie die orthodoxe Katechismusliteratur des 18. und 19. Jh. immer wieder angeregt und weithin auch geprägt. Außerdem ist Petrus Mogilas selbst noch als Verfasser eines KIKat hervorgetreten, den er 1645 in polnischer wie in ukrainischer Sprache drucken ließ. Nicht von ungefähr liegen die Anfänge der orthodoxen Katechismustradition im Grenzsaum zur abendländischen Christenheit. Mit weiten Teilen des ostslawischen Siedlungsgebiets stand Kiev damals noch unter polnischer Herrschaft, so daß sich die Orthodoxe Kirche hier immer wieder der Werbung für die Union mit Rom zu erwehren hatte. Als moldauischer Fürstensohn mußte sich Petrus Mogilas aber auch durch die Calvinisierungsversuche ungarischer Magnaten unter den Rumänen Siebenbürgens im 16. und 17. Jh. beunruhigt fühlen. Zur Behauptung gegenüber anderen Konfessionen, die Katechismen besaßen, waren auch in der Orthodoxen Kirche Katechismen nötig. In lateinischer Sprache entworfen, wurde die Confessio Orthodoxa auf einer Theologenkonferenz in Ia§i im Herbst 1642 von Meletios Syrigos (gest. 1664) revidiert und ins Griechische übersetzt. In dieser Fassung ließ sie Patriarch Parthenios I. von Konstantinopel am 11. März 1643 von einer Synode bestätigen. Mit ihm haben die Patriarchen von Alexandrien, Antiochien und Jerusalem, neun weitere griechische Hierarchen sowie 13 Amtsträger von der „Großen Kirche" zu Konstantinopel das Bestätigungsdekret unterschrieben. Kein anderer Katechismus ist jemals wieder auf derart breiter Grundlage von vergleichbarer Bedeutung für die Gesamtorthodoxie autorisiert worden. Eine kirchenslawisch-russische Übersetzung wurde in Moskau 1696 erstmals gedruckt. Sie liegt der Übertragung ins Deutsche durch den Arzt und Naturwissenschaftler Johann Leonhard Frisch (1666-1743) zugrunde: Uber Symbolicus Russorum Oder Der Grössere Catechismus der Russen Welchen auch die gantze Griechische Kirche angenommen hat (Frankfurt und Leipzig 1727). Dem Erstdruck der von Radu Greceanu besorgten Übersetzung der Confessio Orthodoxa ins Rumänische 1691 in Buzäu folgten nicht weniger als 16 weitere Auflagen, und auch im Vorwort zum neuen Katechismus der Rumänisch-Orthodoxen Kirche von 1952 knüpfte Patriarch Iustinian (Marina; 1901-1977) ausdrücklich an diese Tradition an. 2. Die Entwicklung

im 18.

Jahrhundert

Einen Neuansatz in der russischen Katechismusliteratur bezeichnet die Knabenfibel (Pervoe ucenie otrokom) des Erzbischofs Feofan Prokopovic (1675/81-1736) aus dem Jahre 1720, von der 1724 bereits die 12. Auflage gedruckt wurde. Hier geht es im Einklang mit den Zielen der Kirchenreform Peters d. Gr. vor allem um die Anhebung des religiösen Grundwissens im Kirchenvolk. So ist im Nachwort zu lesen:

Katechismus III

737

„All dies über das Gesetz Gottes, über das Gebet des Herrn, über das Symbol des orthodoxen Glaubens und über die neun Seligkeiten ist als kurze Auslegung geschrieben, der Erstbelehrung von kleinen Knaben wegen ohne Beweise aus der hl. S c h r i f t . . . Wenn aber jemand Zweifel hat an diesen Auslegungen, der wisse, daß es ein anderes Büchlein geben wird, in sich aller hier niedergelegten Auffassungen klare Beweise und Zeugnisse von den hll. Schriften enthaltend . . . "

Feofan, der protestantischen Anliegen gegenüber eine gewisse Offenheit erkennen läßt, während Petrus Mogilas, dessen Confessio Orthodoxa in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jh. wiederholt nachgedruckt wurde, eher zu Anleihen beim römischen Katholizismus geneigt war, rechnete also durchaus mit theologisch begründetem Widerspruch und wollte darum noch eine Art von Großem Katechismus folgen lassen. Dazu ist es jedoch nicht mehr gekommen. Der Widerspruch, den Fürst Dimitrij Konstantinovic Kantemir (1673-1723) alsbald erhob, richtete sich indessen nicht gegen Feofans Theologie, sondern gegen den Katechismusstoff als solchen. Er wollte im Elementarunterricht orthodoxem Herkommen gemäß das Auswendiglernen kirchlicher Gebete vorgeordnet wissen - und hat sich damit auf die Dauer schließlich auch durchgesetzt. Der preußische Gesandte Gustav Frhr. v. Mardefeld war von Feofans Katechismus freilich derart begeistert, daß er ihn sogleich ins Deutsche übersetzen ließ (1721). Katholikos Anton I. (Prinz Tceimuraz; 1720-1788) aber schrieb 1757 nach den in Rußland angetroffenen Vorbildern einen Katechismus für den Schulunterricht in georgischer Sprache. Den von Feofan eingeschlagenen Weg setzte alsdann der Moskauer Metropolit Piaton (Levsin; 1737-1812) mit Erfolg fort. Aus dem Unterricht, den er noch als Priestermönch dem späteren Kaiser Paul zu erteilen hatte, erwuchs ein Lehrbuch, das er 1765 unter dem Titel Orthodoxe Lehre (Pravoslavnoe Ucenie) erscheinen ließ. Hier entfallen auf die natürliche Gotteserkenntnis 18, auf den Glauben an das Evangelium (Nicaeno-Constantinopolitanum) 42 und auf das Gesetz Gottes (Dekalog und Vaterunser) 16 Paragraphen, denen jeweils zum Auswendiglernen geeignete Leitsätze vorangestellt sind. Auszüge daraus, wie den Kurzen Katechismus (Kratkij katichizis) für den „Unterricht kleiner Kinder" von 1773 oder den Kurzgefaßten Katechismus (Sokrascennyj katichizis) für den „Unterricht der Knaben" und einen weiteren für „Priester und Kirchendiener" von 1775, hat Piaton dann wieder in Fragestücke gegliedert. Ebenfalls Auszüge aus Piatons Orthodoxer Lehre stellen die seit 1782 als Kurzgefaßter und seit 1783 auch als Ausführlicher Katechismus (Prostrannyj katichizis) erscheinenden Ausgaben „für den Unterricht der Jugend" dar, die auf den Pädagogen Fedor Ivanovic Jankovic-de-Mirievo (1741-1814) zurückgehen. Doch auch die Orthodoxe Lehre selbst hat als Katechismus gedient—sogar im deutschen Luthertum, wo die 1770 in Riga in zwei Auflagen gedruckte Übersetzung (Rechtgläubige Lehre oder kurzer Auszug der christlichen Theologie) großen Anklang fand. So ließ Superintendent Georg Heinrich Lang in Trochtelfingen am Palmsonntag 1778 bei der Konfirmation Sätze daraus aufsagen (Die Memoiren des Ritters von Lang. 1764-1835. Hg. v. H. Hausherr, Stuttgart 1957, 27). Machten die nachfolgenden Übersetzungen ins Lateinische (1774), Französische (1776) und Englische (1814) Piatons Orthodoxe Lehre weltweit bekannt, so sicherten ihr die ins Griechische (1786), Rumänische (1839) und Bulgarische (1844) den Einfluß auf die Gesamtorthodoxie. Die 1805 erschienene griechische Übersetzung des Ausführlichen Katechismus nach Piaton wurde im Auftrag der Hl. Synode der Kirche von Griechenland 1851 und 1857 erneut aufgelegt und auch in den Alten Patriarchaten des Ostens benutzt. 3. Die Vollendung im 19.

Jahrhundert

In weitgehender Abkehr von den von Feofan und Piaton eingeschlagenen Wegen und Wiederannäherung an die Grundsätze eines Petrus Mogilas ist schließlich der Moskauer Metropolit Filaret (Drozdov; 1782-1867) zum Schöpfer der beiden klassischen Gestaltungen des orthodoxen Katechismus geworden, die sich zumindest für den russischen Bereich als endgültig erweisen sollten: durch seinen Ausführlichen Christlichen Katechismus der Orthodoxen Katholischen Ostkirche (Prostrannyj christianskij katichizis prauoslavnyja kafoliceskija vostocnyja Cerkvi), in der Urfassung seit 1823, in erster Umar-

738

Katechismus IV

beitung seit 1828 und in der Endgestalt seit 1839 herausgegeben (unter wiederholter Veränderung des Titels), sowie durch seinen Kurzen Katechismus von 1824, nach Voranstellung einer Einführung in die Biblische Geschichte seit 1827 mit dem Obertitel Anfangsgründe der christlichen Lehre (Nacatki christianskago ucenija) versehen. Hatte es der Kurze Katechismus bis 1858 schon auf 97 Auflagen gebracht, so lag der deutschen Ubersetzung des „Ausführlichen" durch Heinrich Blumenthal (Frankfurt a.M. 1872) immerhin bereits dessen 59. Auflage von 1866 zugrunde. Schon 1840 war eine Übersetzung ins Deutsche erschienen, die 1887 erneut aufgelegt wurde. In rascher Folge wurden noch in den vierziger Jahren Übersetzungen ins Griechische, Rumänische, Polnische, Georgische, Finnische, Englische und Arabische veröffentlicht. Für die russische Orthodoxie aber gewann Filarets ausführlicher Katechismus nahezu den Charakter einer Bekenntnisschrift. So soll ihn der Kiever Metropolit Filaret (Amfiteatrov; 1779-1857) jede Woche einmal zur Selbstprüfung durchgelesen haben, ob sich das eigene Denken auch fest an die Grenzen der Orthodoxie halte. Dagegen empfand ihn Vladimir Solov'ev (1853-1900) als „vorsintflutlich". Dem auf verschiedenen Religionslehrerversammlungen geäußerten Wunsch nach einem Katechismus, der „von westlicher Scholastik freier" wäre, suchte Metropolit Antonij (Chrapovickij; 1863-1936) 1919 durch eine entsprechende Bearbeitung von Filarets Katechismus nachzukommen, vermochte jedoch die Einführung seines 1924 gedruckten Versuchs eines Christlichen Orthodoxen Katechismus (Opyt Christianskago Pravoslavnago Katichizisa) selbst in der Russisch-Orthodoxen Auslandskirche als deren Ersthierarch nicht durchzusetzen. Von ihr wurde vielmehr noch 1961 Filarets Katechismus in Jordanville, N. Y., nachgedruckt. 4. Ein Nachspiel

im 20.

Jahrhundert

Der 1940 zunächst in tschechischer Sprache erschienene Orthodoxe Katechismus (Pravoslavny Katechismus) stellt insofern einen Sonderfall dar, als ihn Bischof Gorazd (Pavlik; 1879-1942) vor allem für Gemeinden verfaßt hat, die gleich ihm 1924 aus der reformkatholischen „Tschechoslowakischen Kirche" in die Orthodoxe Kirche übergetreten waren. Daß hier trotz Anlehnung an Filarets Vorbild vieles mit mehr didaktischem Geschick vermittelt wird, macht die Stärke dieses Katechismus aus, der seit 1954 auch in russischer Übersetzung vorliegt, in seinem Gebrauch aber vorerst noch auf die autokephale Orthodoxe Kirche in der CSSR beschränkt zu bleiben scheint. Literatur Peter Hauptmann, Die Katechismen der Russ.-orth. Kirche. Entstehungsgesch. u. Lehrgehalt, 1971 (KO.M9) (Quellen u. Lit.). - Ders., Petrus Mogilas: Klassiker der Theol. I, München 1981, 378-391. - Ernst Christoph Suttner, Rumänische Katechismen: KO 16 (1973) 127-137. - Michael Tarchnisvili, Gesch. der kirchl. georgischen Lit., 1955 (StT 185).

Peter Hauptmann IV. Konfessionskundlich/Ökumenisch 1. Die Hauptkatechismen der Konfessionen 2. Von den Konfessionskatechismen der Kirchen zu einem ökumenischen Basiskatechismus aller Christen (Quellen/Literatur S. 743)

1. Die Hauptkatechismen

der

Konfessionen

Aus der fast unübersehbaren Zahl der seit der Reformation in den verschiedenen christlichen Kirchen benutzten Katechismen sollen stellvertretend die sog. Hauptkatechismen genannt werden, welche über größere Zeiträume und Landesgrenzen hinweg für einzelne ->Konfessionen eine eminente Bedeutung erlangt haben und z.T. sogar zu ihren offiziellen Bekenntnisschriften gezählt werden. 1.1. Lutherische Kirchen. Aus den im Jahre 1528 gehaltenen Katechismuspredigten sind die beiden Katechismen Martin Luthers erwachsen. Der GrKat mit dem Titel Deudsch Catechismus

Katechismus IV

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(Wittenberg 1529) ist ein Predigthandbuch für den Unterricht der Kinder und Einfältigen und behandelt in der Form lehrstückhafter Darstellung die fünf „Hauptstücke": Dekalog, Apostolisches Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Taufe und Abendmahl (mit Beichte). Der KIKat mit dem Titel Enchiridion. Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarrherrn und Prediger (Wittenberg 1529) bringt in 44 nichtnumerierten Fragen und Antworten ebenfalls die fünf Hauptstücke: Dekalog (Frage 1-12), Apostolisches Glaubensbekenntnis (Frage 13-15), Vaterunser (Frage 16-28), Taufsakrament (Frage 29-35) mit Beichte (Frage 36-39) und Altarsakrament (Frage 40-44). In den Lutherischen Kirchen gehören diese beiden Katechismen zu den bekanntesten Bekenntnisschriften. 1.2. Reformierte Kirchen. Von Johannes Calvin stammt der sog. Genfer Katechismus, eine gemeinsame Bezeichnung für zwei ganz verschiedene Katechismen. Der erstere mit dem Titel Instruction et Confession de foy dont on use en l'Eglise de Genéve (Genf 1537) ist ein dogmatisches Kompendium, ein Auszug aus seiner Institutio, mit nachfolgendem Glaubensbekenntnis, auf das sich die Genfer Bürgerschaft eidlich verpflichten mußte. In 33 nichtnumerierten Kapiteln erscheinen in der Reihenfolge: Dekalog (Kap. 8), Apostolisches Glaubensbekenntnis (Kap. 20), Vaterunser (Kap. 24) und -»Sakramente (Kap. 26-29). Ein zweites, von Johannes Calvin nach seiner Rückkehr aus Straßburg verfaßtes Handbuch Le catéchisme de l'EGLISE DE GEN EVE: c'est ä diré le Formulaire d'instruire les enfants en la Chrestienté: faict en maniere de dialogue, oü le Ministre interrogue, & l'enfant respond (Genf 1542) ist für Lehrer und Erwachsene gedacht. In ihm wird die Anordnung seines 1. GenfKat durch die neue Reihenfolge: Apostolisches Glaubensbekenntnis (Frage 1-130), Dekalog (Frage 131-232), Vaterunser (Frage 233 - 295) und Sakramente (Frage 296-373) ersetzt. Der in Form von 373 Fragen und Antworten abgefaßte Katechismus ist zum Zweck der Katechismuspredigt später in 55 Abschnitte (Sonntage) gegliedert worden. In der lateinischen Übersetzung aus dem Jahr 1545 hat er in den Reformierten Kirchen den Charakter einer Bekenntnisschrift erhalten. Der im Auftrag Friedrichs III., Kurfürst von der Pfalz (1559—1576), von einer Theologenkommission erstellte Catechismus Oder Christlicher Vnderricht wie der in Kirchen vnd Schulen der Churfürstlichen Pfaltz getrieben wirdt (Heidelberg 1563 2 1563 3 1563), der sog. Heidelberger Katechismus, gilt als der bedeutendste der Reformierten Kirchen und zählt zu ihren Bekenntnisschriften. Dieser für Pfarrer und Lehrer gedachte Katechismus besteht aus 128, seit der 2. Auflage aus 129 nichtnumerierten Fragen und Antworten, die seit 1573 durchnumeriert und später zum Zweck der Katechismuspredigt auf 52 Sonntage aufgeteilt sind. Die Anordnung des Inhalts ist dreigeteilt: „Von des Menschen Elend" (Doppelgebot der Liebe; Frage 3-11), „Von des Menschen Erlösung" (Apostolisches Glaubensbekenntnis mit den Sakramenten; Frage 12-85) und „Von der Dankbarkeyt" (Dekalog und Vaterunser; Frage 86-129). 1.3. Kirche von England. Die -»Kirche von England gebraucht den auf Anordnung Eduards VI., Königs von England (1547-1553), im Jahre 1553 zuerst erschienenen sog. Church Catechism, der 1572 revidiert wurde, im -*Book of Common Prayer seit 1662 vor der Ordnung der Konfirmation steht und den Titel führt: A Catechism that is to say an Instruction to be learned of every person before he be brought to be confirmed by the Bishop. Der in 25 nichtnumerierten Fragen bzw. Aufforderungen und Antworten abgefaßte Katechismus ist gegliedert in: Apostolisches Glaubensbekenntnis (Frage 5 - 6 ) , Dekalog (Frage 7 - 1 1 ) , Vaterunser (Frage 12-13) und Sakramente (Frage 14-25). Dieser in der offiziellen Agende stehende Katechismus gilt als Bekenntnis und Liturgie zugleich. 1.4. Kömisch-Katholische Kirche. Auf Drängen Kaiser -»Ferdinands I. gab Peter —»Canisius die Summa doctrinae christianae ... in usum christianae pueritiae (Wien 1555), den sog. Größeren (vortridentinischen) Katechismus heraus, dessen Einführung der Kaiser in seinen Ländern - unter Ausschluß aller anderen Katechismen - schon 1554 verordnet hatte. Dieser für Studenten gedachte Katechismus umfaßt mit 213 Fragen und Antworten zwei Hauptteile: Der 1. Teil „Von der christlichen Weisheit" bringt vier Hauptstücke: den Glauben mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis (Frage 3 - 2 1 ) , die Hoffnung mit dem Vaterunser und dem Ave Maria (Frage 22-37), die Liebe mit dem Dekalog und den Kirchengeboten (Frage 3 8 - 7 5 ) sowie die Sakramente (Frage 76-129). Der 2.Teil „Von der christlichen Gerechtigkeit" bietet u.a. die vier Kardinaltugenden, die Gaben und Früchte des Heiligen Geistes, die Seligpreisungen und die -*Consilia evangelica (Frage 130-213). Die dem —•Tridentinum angepaßte und erweiterte Auflage des sog. Größeren (nachtridentinischen) Katechismus (Köln 1566) enthält nun 222 Fragen und Antworten. Das canisische Katechismusmonopol hatte Ferdinand I. durch sein Edikt von 1560 erneuert und auf die inzwischen erschienenen beiden anderen Katechismen des Canisius - den sog. Kleinsten Katechismus für Kinder (Ingolstadt 1556) mit 59 Fragen und Antworten sowie den sog. Kleineren Katechismus für Mittelschüler (Köln 1558) mit 124 Fragen und Antworten - ausgedehnt. Für die Römisch-katholische Kirche gleichfalls von großer Bedeutung ist der aufgrund eines Dekrets des Trienter Konzils verfaßte und auf Anordnung von Papst -»Pius V. im Jahre 1566 in Rom herausgegebene sog. -•Catechismus Romanus, der in lehrstückhafter Form vier Hauptstücke bringt: Apostolisches Glaubensbekenntnis, Sakramente, Dekalog und Vaterunser. Diesem für die Pfarrer

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bestimmten Handbuch der Unterweisung wurde zum Zweck der Katechismuspredigt seit 1581 oftmals ein Anhang beigefügt, in dem der Inhalt auf alle Sonntage des Jahres aufgeteilt ist. 1.5. Orthodoxe Kirchen (s.o. S.736-738). Zu den Bekenntnisschriften der -»Orthodoxen Kirchen gehört die von Petrus Mogila(s) (1596-1646), dem Metropoliten von Kiew (seit 1633), verfaßte Confessio Orthodoxa (1640), deren von Melitios Syrigos (gest. 1664) im Jahre 1642 revidierte und ins Neugriechische übersetzte Ausgabe von 1643 durch den russischen und griechischen Patriarchen der orthodoxen Kirchen approbiert und 1721 von Zar Peter d. Gr. (1682-1725) in die russische Kirchenordnung aufgenommen wurde. Peter Lewschin (1737-1812), mit dem Mönchs- und Bischofsnamen Piaton, Metropolit von Moskau (seit 1787), verfaßte als Erzieher und Lehrer des russischen Thronfolgers Paul Petrowitz, des späteren Zaren Paul I. (1796-1801), für eben diesen einen Katechismus unter dem Titel Pravoslavnoe Uchenie ... (St. Petersburg 1765): „Orthodoxe Lehre oder Abriß der christlichen Theologie" (Piaton). Ebenfalls drei Teile - wie die beiden vorgenannten Katechismen - weist das Hauptwerk des Wasilij Michailowitsch (Drozdow) Philaret (1782-1867), des Metropoliten von Moskau (seit 1821), auf. Dieser erste für ganz Rußland gültige Prostrannyj Christianskij Katichizis ... (St. Petersburg 1823): „Christlicher Katechismus der Orthodoxen Katholischen östlichen Griechisch-Russischen Kirche" (Philaret) behandelt in 610 nichtnumerierten Fragen und Antworten 1. den „Glauben an Gott" (320 Fragen) mit dem Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis 2. die „Hoffnung auf Gott" (95 Fragen) mit dem Vaterunser und den Seligpreisungen und 3. die „Liebe zu Gott" (127 Fragen) mit dem Dekalog. Für die slawischen Orthodoxen gilt er als quasisymbolische Schrift. 1.6. Presbyterianer. Die in Westminster tagende Synode, die Westminster-Assembly (16431647), hat den nach ihr benannten sog. Assembly-Katechismus bzw. Westminster-Katechismus erarbeitet, der 1648 auch vom Parlament gebilligt wurde. Es handelt sich dabei um einen zweifachen Katechismus: 1. The Humble Advice ... concerning a /arger Catechism (London 1647) mit 196 fortlaufenden Fragen und Antworten über Glaubenslehren (Frage 6 - 9 0 ) und Pflichtenlehren (Frage 9 1 - 1 9 6 ) mit Dekalog (Frage 98-148), Sakramente (Frage 161-177) und Vaterunser (Frage 186-196). 2. The Humble Advice... concerning a shorter Catechism (London 1647) mit 107 fortlaufenden Fragen und Antworten, wobei zunächst - wie im AssemblyGrKat - Glaubenslehren behandelt werden, ohne diesen ausdrücklich das Apostolische Glaubensbekenntnis zugrunde zu legen, dann der Dekalog (Frage 4 1 - 8 1 ) , die Sakramente (Frage 9 1 - 9 7 ) und das Vaterunser (Frage 99-107). Am Ende stehen zusammengefaßt nochmal der Wortlaut des Dekalogs (Ex 20) und des Vaterunsers sowie jetzt auch der Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. In Verbindung mit der Westminsterconfession (—•Westminster/Westminsterconfession) haben beide Katechismen bei den —•Presbyterianern symbolisches Ansehen erlangt. 1.7. Methodistische Kirchen. Zu den von der Generalkonferenz und von den Bischöfen der -•Methodistischen Kirchen genehmigten Katechismen gehört The Standard Catechism of the Methodist Episcopal Church and the Methodist Episcopal Church, South (New York 1905). Dieser Katechismus bietet 128 Fragen und Antworten in fünf Abschnitten: 1. Wesen der christlichen Religion (Frage 1-26), 2. Dekalog (Frage 2 7 - 5 2 ) , 3. Seligpreisungen (Frage 5 3 - 7 2 ) , 4. Vaterunser (Frage 73 - 9 0 ) und 5. Schrift, Dreieinigkeit, Kirche (mit Apostolischem Glaubensbekenntnis), Sakramente und Heilsweg (Frage 9 1 - 1 2 8 ) . 1.8. Altkatholische Landeskirchen. Der vom Synodalrat der Christkatholischen Kirche der Schweiz herausgegebene Christkatholische Katechismus (Allschwil 1972) ist einer der amtlichen Katechismen der Altkatholischen Landeskirchen (-• Altkatholizismus). In 371 Fragen und Antworten bietet er drei Teile: 1. Vom Glauben (Apostolisches Glaubensbekenntnis; Frage 1 - 1 2 3 ) mit einem Anhang „Von der christ-katholischen Kirche" (Frage 124-142) und „Von der ökumenischen Bewegung" (Frage 143-149). 2. Von den Geboten Gottes (Dekalog, Liebesgebot, Seligpreisungen; Frage 1 - 9 2 ) und 3. Von den Gnadenmitteln Gottes (Wort, Sakramente, Vaterunser; Frage 1-130). 2. Von den Konfessionskatechismen chismus aller Christen

der Kirchen

zu einem ökumenischen

Basiskate-

2.1. Anzahl und Anordnung der katechetischen Hauptstücke. Die vorgenannten 17 Konfessionskatechismen bieten eine unterschiedliche Anzahl an katechetischen „Stükken", die zwischen drei und fünfzehn variieren. Jedoch bringen fast alle (mindestens) die drei „Hauptstücke": Symbolum, Dekalog und Vaterunser, wobei, wenn die Sakramente hinzukommen, letztere entweder innerhalb des Symbolums, in Verbindung mit dem Lehrsatz entweder vom Heiligen Geist oder von Taufe und Vergebung der Sünden, bzw. nach dem Symbolum oder im Anschluß an das Vaterunser oder nach dem Dekalog zur Darstellung gelangen. Diese Hauptstücke bilden entweder das Gliederungsprinzip des

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Katechismus (2. GenfKat), oder sie werden innerhalb der Gesamtdarstellung an der ihnen zukommenden Stelle eingeordnet (1. GenfKat). Für die Anordnung der drei katechetischen Hauptstücke gibt es sechs verschiedene Möglichkeiten. Die von den Hauptkatechismen der meisten Konfessionen gewählte Reihenfolge ist die von Symbolum, Dekalog und Vaterunser. Sie entspricht der bei Paulus am häufigsten erscheinenden dreigliedrigen Formel von Glaube, Liebe und Hoffnung (I Thess 1,3; 5,8; Rom 1 2 , 6 - 1 2 ; Kol l , 4 f ) . Diese Anordnungsfolge hatten bereits die Kinderfragen (1502/23) der -»-Böhmischen Brüder, die Interrogacions (1524) der -»Waldenser, der Catechismus (1528) des Andreas Althamer (vor 1500-1538), der „als erstes Buch den Titel Katechismus" ( R G G 3 3, 1183) trägt, die Fragstück (1529) des Johannes -»Brenz, der Kinderbericht (1527) des Johannes -»Oekolampad sowie die Erklärung (1534) des Martin -»Bucer, aber auch die Explanatio (1533) des Desiderius -»Erasmus, der Catechismus (1543) des Friedrich -»Nausea, der Catechismus (1551) des Johann -»Fabri und die Institutio (1562) des Julius -»Pflug. Die zweite mögliche Reihenfolge ist die von Symbolum, Vaterunser und Dekalog. Sie hat ebenfalls bei Paulus (I Kor 13,13; Rom 5 , 1 - 5 ) eine Entsprechung in der formelhaften Dreiheit von Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese Anordnungsfolge zeigen außer Canisius, Mogila und Philaret auch die Fragestücke (1528) des Johann -»Agricola, die Underweysung (1528) des Konrad -»Sam, der Catechismus (1537) des Martin Bucer und vor allem die römisch-katholischen Katechismen, wie der Catechismus (1535) des Georg -»Witzel, das Enchiridion (1538) des Johann -»Gropper, die Libri (1548) des Pedro de -»Soto, die Institutio (1549) des Michael ->Heiding, die Confessio (1552/53) des Stanislaus -»Hosius und die Dottrina (1597) des Roberto -»Bellarmini. Die dritte Möglichkeit der Aufeinanderfolge von Dekalog, Symbolum und Vaterunser, die gleichfalls bei Paulus (I Kor 13,7) ihre Entsprechung in der Gruppierung von Liebe, Glaube und Hoffnung hat, wird in dem Johannes -»Bugenhagen zugeschriebenen Bökeschen (1525) gewählt und ist ebenso die Abfolge in den lutherischen Katechismen, der sich Johannes Calvin (1. GenfKat) zunächst angeschlossen hatte, sowie des Emdener Katechismus (1554). Für die vierte mögliche Anordnung von Dekalog, Vaterunser und Symbolum, für die es in Eph 4 , 2 - 5 wiederum die Entsprechung von Liebe, Hoffnung und Glaube gibt, entschieden sich der AssemblyGrKat und KIKat sowie der Standard Catechism ofthe Methodist... Church, aber auch der Züricher Tafelkatechismus (1525) und die Elementa pietatis (1527) des Johann Agricola. Die fünfte Möglichkeit der Abfolge von Vaterunser, Symbolum und Dekalog bieten der Hildesheimer Tafelkatechismus (1451), der Reichenhaller Tafelkatechismus (1521/26) und das Enchiridion (1523) des Philipp -»Melanchthon sowie des Johannes Bader (ca. 1487-1545) Gesprächsbüchlein (1526), das als „der erste wirkliche Katechismus der evangelischen Kirchen" (RGG 3 1, 840) bezeichnet wird. Die sechste und letzte mögliche Anordnung der drei Hauptstücke (Vaterunser, Dekalog und Symbolum) hat keiner der Hauptkatechismen der Konfessionen gewählt. Wie die vorgenannten Beispiele zeigen, ist keine der fünf gewählten Reihenfolgen der H a u p t s t ü c k e typisch für eine bestimmte Konfession. Es lassen sich höchstens Präferenzen feststellen. D a s gilt auch für die von J o h a n n e s Calvin v o r g e n o m m e n e Änderung der Abfolge im 2. GenfKat gegenüber der im 1. GenfKat. 2 . 2 . Textgrundlage und Gliederung für Glaubensbekenntnis, Dekalog und Vaterunser. In den Katechismen der o r t h o d o x e n Kirchen wird für das H a u p t s t ü c k des Symbolums der T e x t des Nicäno-Konstantinopolitanums zugrundegelegt und in 12 Artikel eingeteilt. Die Katechismen der anderen Kirchen hingegen bringen das Apostolische Glaubensbekenntnis, das der AssemblyKIKat ohne jede Einteilung, die römisch-katholischen Katechismen zwölfgeteilt und alle übrigen dreigeteilt bringen, mit A u s n a h m e von J o h a n nes Calvin, der im 1. GenfKat eine Neunteilung und im 2. GenfKat. eine Vierteilung v o r g e n o m m e n hat. Der T e x t des biblischen Dekalogs ( E x 2 0 , 2 - 1 7 ; Dtn 5 , 6 - 2 1 ) wird entweder vollständig und wörtlich gebracht (1. GenfKat und 2. GenfKat; H e i d K a t ; C h u r c h C a t e c h i s m ; Catechismus R o m a n u s ) oder aber in der seit dem 13. J h . abgekürzten und umgearbeiteten F o r m (GrKat und KIKat; CanisiusKat). Die Art der Einteilung und folglich die Numerierung des Dekalogs wird unterschiedlich gehandhabt. In den Katechismen der reformierten, o r t h o d o x e n und altkatholischen Kirchen zählen - in Anlehnung an - » P h i l o und —> Josephus Flavius - die V. 2 f als erstes, die V. 4 - 6 als zweites und der V. 17 als zehntes G e b o t . Dies gilt auch für die Katechismen der anglikanischen und presbyterianischen

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Kirchen, nur daß der V. 2 von ihnen als Einleitung zum 1. Gebot (V. 3) verstanden wird. Im Standard Catechism der methodistischen Kirchen fehlt zudem der V. 2. Hingegen zählen die römisch-katholischen Katechismen - in Anlehnung an -> Augustin - die V. 3 - 6 und die lutherischen Katechismen den V. 3 (das Bilderverbot fehlt) als erstes Gebot, und beide Konfessionen zählen den V. 17 a als neuntes sowie den V. 17 b als zehntes Gebot. Während der V. 2 in den römisch-katholischen als Einleitung erscheint, fehlt dieser in den lutherischen Katechismen. Infolge der unterschiedlichen Einteilung und Numerierung des Dekalogs gehören zur ersten Tafel die ersten vier bzw. drei und zur zweiten Tafel die übrigen sechs bzw. sieben Gebote. Als Textgrundlage des Vaterunsers gilt bei allen Konfessionen die Fassung Mt 6,9 bc—13. Den Zusatz „Denn dein ist das Reich" als Abschluß bieten die reformierten, presbyterianischen und methodistischen, ferner die orthodoxen und altkatholischen Katechismen. Abgesehen vom Church Catechism, der den Text ohne jede Einteilung bringt, zählen die reformierten, presbyterianischen und methodistischen Katechismen den V. 13 als sechste Bitte, wohingegen alle übrigen Katechismen den V. 13 a als sechste und den V. 13 b als siebte Bitte verstehen. Der V. 9 b wird von allen - mit Ausnahme von Canisius' Kleinstem und Kleinerem Katechismus - als einleitende Anrede aufgefaßt. In dem die Sakramente betreffenden Hauptstück bestehen die größten Unterschiede. Während die Katechismen der lutherischen, reformierten, anglikanischen, presbyterianischen und methodistischen Kirchen nur die Taufe und das Abendmahl (Herrenmahl/ Altarsakrament) behandeln, bringen die der römisch-katholischen, altkatholischen und orthodoxen Kirchen sieben Sakramente (Mysterien). Dabei wählen die beiden zuerst genannten die Reihenfolge: Taufe, Firmung, Eucharistie (Abendmahl), Buße, Krankensalbung, Priesterweihe und Ehe. Die orthodoxen Katechismen aber behandeln die „Gebetsölung" am Schluß. Darüber hinaus stellt Mogila die Priesterweihe vor die Buße. 2.3. Die ökumenische Dimension der Katechismen. Die vorgenannten Hauptkatechismen spiegeln das Selbstverständnis ihrer jeweiligen Konfession wider. Als Konfessionskatechismen „definieren" sie, was Handeln und Glauben ist. Fast immer geschieht diese Bestimmung in Form von Fragen und Antworten, seltener in lehrstückhafter, beschreibender Aussage. Definition als genaue Bestimmung und Grenzziehung bedeutet nicht nur Abgrenzung des Lehrinhalts, mit dem sich die jeweiligen Konfessionsangehörigen identifizieren können, sondern auch Ausgrenzung dessen, was und wer nicht gemeint ist. Gegenüber näher verwandten Konfessionen verläuft eine solche konfessionelle Abgrenzung weniger deutlich als zu ferner stehenden, z. B. im HeidKat zum lutherischen einerseits und zum römisch-katholischen Bekenntnis andererseits. Eine polemische Ausgrenzung zeigen die Kontroverskatechismen, in denen die zwischen den Konfessionen umstrittenen Lehrfragen im Vordergrund stehen, z.B. der Controverskatechismus (1723; zuletzt 1931) des Johann Jakob Scheffmacher SJ (1668—1733). Seit der Reformationszeit haben einige Konfessionen gegenseitig sogar eine (Katechismus-) -*Zensur verhängt. Zuletzt wurde im Jahre 1876 der im Auftrag der altkatholischen Synode herausgegebene Katholische Katechismus (1870) von der römisch-katholischen Kirche indiziert. Für einen Konfessionswechsel war der von Bernhard van Acken SJ bearbeitete Konvertitenkatechismus ( 1 7 1964) gedacht. Die Katechismusgeschichte zeigt aber auch - im Gegensatz zu einer konfessionellen Ab- oder Ausgrenzung - das interkonfessionelle Miteinander. So verzichten einige Katechismen auf eine besondere Herausstellung ihrer konfessionellen Sonderlehren und unterstreichen so weit wie möglich das Gemeinsame und Verbindende mit einer näher verwandten Konfession, z. B. der HeidKat gegenüber dem lutherischen und der Catechismus Romanus gegenüber dem orthodoxen Bekenntnis. Manchmal werden Konfessionskatechismen sogar von verschiedenen Konfessionen gemeinsam benutzt, z. B. wird der AssemblyKIKat der Presbyterianer auch von den Independenten (-»Kongregationalismus) gebraucht. In den aus einer Vereinigung reformierter und lutherischer Kirchen

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hervorgegangenen ->Unierten Kirchen sind die reformatorischen, symbolischen Katechismen z. T. zu Unionskatechismen vereinigt, z. B. der Katechismus für die Evangelische Landeskirche in Baden ( 4 1 1987; s. T R E 5,100,48ff; 102,19). Die -> Ökumene, die die vielen christlichen Konfessionen zu einer sie umfassenden, größeren Einheit führen will, sollte auch in der katechetischen Unterweisung und Erziehung als einer ökumenischen ihren Ausdruck finden. Dies würde bedeuten: a) Die traditionellen Hauptkatechismen, die zu den Bekenntnisschriften gerechnet werden und heute noch als Grundlage der katechetischen Unterweisung dienen, erhalten für die in ihnen enthaltenen polemischen Passagen, die zwar von ihrer Entstehungsgeschichte her verständlich sind, aber heute einer ökumenischen Zusammenarbeit hindernd im Wege stehen, ergänzte und korrigierte und somit umfassendere und vertiefte Anmerkungen, die auch jenseits der eigenen Konfession und damit zugleich in der ganzen Ökumene verstanden werden. Dies gilt z.B. für die 80. Frage im HeidKat. b) Alle neuen Konfessionskatechismen reden, unbeschadet dessen, daß sie - zur Wahrung der eigenen konfessionellen Identität - die Lehraussagen ihrer Kirche ohne Abstriche oder Verzicht auf die für wesentlich erachteten Lehren vertreten, mit Respekt von den anderen Kirchen. So könnte vor der Veröffentlichung eines Konfessionskatechismus ein Sachverständiger einer anderen Konfession um eine gutachtliche Stellungnahme gebeten werden, wie dies z. B. beim Katholischen Erwachsenen-Katechismus (1985) geschehen ist. c) Als Ergänzung zur konfessionellen Unterweisung auf der Grundlage von Konfessionskatechismen tritt eine ökumenische Unterweisung auf der Grundlage eines von allen Konfessionen benutzbaren Basiskatechismus hinzu. Dieser ökumenische Basiskatechismus enthält diejenigen „Stücke", die den Christen gemeinsam sind: den neutestamentlichen Text der -»Bergpredigt (Mt 5,1-8,1 a), jene katechismusartig ausgestaltete Jüngerunterweisung mit den 80 Logien Jesu, in deren Mitte das Vaterunser plaziert ist, ferner das Lehrgespräch Jesu mit einem Gesetzeslehrer über das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,34-40) zusammen mit dem alttestamentlichen Dekalog (Ex 20,2-17; Dtn 5,6-21) sowie das aus dem jesuanischen Auftrag zu Lehre und Taufe „auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" (Mt 28,19 f) entstandene Symbolum in der Form des Apostolischen oder/und des Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses. Ein solcher ökumenischer Basiskatechismus enthält somit die allen Hauptkatechismen der Konfessionen gemeinsamen drei „Hauptstücke", und zwar in der bisher noch nicht gewählten 6. Reihenfolge (Vaterunser, Dekalog, Symbolum), jedoch ohne jede Unterteilung oder Numerierung der Bitten, Gebote und Artikel, durch die sich die Konfessionen z. T. erheblich voneinander unterscheiden. Dieser Basiskatechismus, der mit der Bibel als Quelle und Norm der Einheit sowie mit dem Bezug auf das trinitarische Bekenntnis der Basisformel des ökumenischen Rates der Kirchen von 1961 entspricht (s. TRE 13,435,1 ff), ist zugleich ein Abbild der Christenheit als einer im Einigungsprozeß wachsenden Bewegung des gemeinsamen Gebets (Vaterunser), Handelns (Dekalog und Liebesgebot) und Glaubens (Symbolum). Die vielen verschiedenen Konfessionskatechismen in Verbindung mit dem einen ökumenischen Basiskatechismus sind Zeichen dafür, daß Konfessionen und Ökumene keine einander ausschließenden Alternativen bilden, sondern daß einerseits die vielen Konfessionen Ausdruck der Ökumene sind, wie andererseits die Ökumene sich in der legitimen Vielgestalt der Konfessionen darstellt. Quellen Zu 1.1.: BSLK 1 0 1986 (Luthers GrKat u. KIKat), 4 9 9 - 7 3 3 . Zu 1.2.: BSRK 1903/1987 (HeidKat), 6 8 2 - 7 2 0 . - B S K O R K 1938/1985 (HeidKat), 1 4 8 - 1 8 1 . - C R 1863ff/1964 (1. G e n f K a t ) , X X I I , 2 5 - 7 4 ; (2. GenfKat) VI, 1 - 1 6 0 . - BSRK 1903/1987 (2. GenfKat), 1 1 7 - 1 5 3 . Zu 1.3.: CConf, Abt. 17,1 (ChurchCat), 243 - 2 4 9 . - BSRK 1903/1987 (ChurchCat), 5 2 2 - 5 2 5 . Zu 1.4.: J . T . L . Danz, Libri symbolici ecclesiae romano-catholicae, Weimar 1836 (CatRom), 3 4 5 - 8 1 0 . - Frid. Guil. Streitwolf/R. E. Klener, Libri symbolici ecclesiae catholicae, Göttingen 2 1846 (CatRom), 1 , 1 0 1 - 7 1 2 . - Fridericus Streicher (Hg.), S. Petri Canisii doctoris ecclesiae Catechismi Latini et Germanici,

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R o m / M ü n c h e n 1 9 3 3 , 1 , 1 - 2 7 1 . Zu 1.5.: J o n Michalcescu (Hg.), Die Bekenntnisse u. die wichtigsten Glaubenszeugnisse der griech.-Orient. Kirche, Leipzig 1904 (ConfOrth), 2 2 - 1 2 2 . Zu 1.6.: C C o n f , Abt. 18 (AssGrKat u. KIKat), 1 5 8 - 2 4 3 . - BSRK 1 9 0 3 / 1 9 8 7 (AssGrKat u. KIKat), 6 1 2 - 6 5 2 . Zu 1.7.: C C o n f , Abt. 20,1 (StandCat), 6 8 9 - 7 1 9 .

Literatur Karl Barth, Das Vaterunser nach den Katechismen der Reformation, Zürich 1965. - Gerhard Bellinger, Der Catechismus R o m a n u s u. die Reformation, 1970 (KKTS 27), Nachdr. Hildesheim 1987. - Henry Fischer, Art. Stammkatechismus: L T h K 2 9 (1964) 1007 f. - Hanfried Krüger, ö k u m . Katechismus, Frankfurt 8 1 9 8 5 . - „ Ö k u m e n i k " , H . 10: C o n c ( D ) 13 (1977) 4 9 3 - 533. - H u g o Röthlisberger, Kirche a m Sinai. Die Zehn Gebote in der christl. Unterweisung, 1965 (SDGSTh 19). - M a x Thurian, Gemeinsam glauben - Gemeinsam handeln. Ein ökum. Katechismus, Mainz/Gütersloh 1 9 6 7 . - W o l f g a n g Trillhaas, Das apostolische Glaubensbekenntnis, Gesch., Text, Auslegung, Witten 1953.

Gerhard J. Bellinger Katechismuspredigt 1. Sprachgebrauch, Eigenart, Forschungsstand 2. Vorgeschichte 3. Luther 4. Die Katechismuspredigt in den evangelischen Kirchenordnungen 5. Erste Ausbreitung und Konsolidierung (1525-1625) 6. Das Jahrhundert der „ g r o ß e n " Katechismuspredigten 7. Z u r Katechismuspredigt in den reformierten Kirchen 8. Die Aufklärung und das Ende der Katechismuspredigt 9. Die Dauerhaftigkeit der Hauptstücke und die offenen Gegenwartsfragen (Quellen und Literatur jeweils zu den einzelnen Abschnitten)

1. Sprachgebrauch,

Eigenart,

Forschungsstand

Das Wort Katechismuspredigt ist in der Reformationszeit gebräuchlich geworden. Es benennt Einzel-, häufiger Reihenpredigten, die den Katechismus oder Stücke aus ihm darlegen wollen. Auch deren Niederschrift oder Buchform kann gemeint sein samt der Institution, die man für sie eingeführt hat, selbst wenn dort nicht immer gepredigt wurde. Volkstümlich kann schon das Vorlesen oder Rezitieren „den Katechismus predigen" heißen, gleichviel ob dies Prediger oder Küster in Kirchen, Lehrer in Schulen oder Eltern zu Hause tun oder ob sich Kinder dabei wechselseitig abfragen. Kirchliche Katechisation jeder Art ist gemeint, wenn die Kirchenordnungen mahnen, Kinder und Alte, Schüler, Gesinde, Eltern und Lehrer sollten sich „zu den Katechismuspredigten halten"; das Geraische Ministerium hofft, mit Hilfe seines Manuale Catecheticum würden selbst wenig geeignete Schulmeister oder Hausväter „bey ihren lieben Kindern, Gesinde, Schülern... nützliche Catechismusprediger geben" (Fiedler 144). 1.1. Als homiletische Gattung läßt sich die Katechismuspredigt nicht exakt definieren. Mit der Bibel verglichen, ist der -»Katechismus ein leicht überschaubarer Text. Seine häufige Wiederholung wie die strenge Herrschaft der amtlichen Kirchenlehre läßt eine Predigt nach Schema erwarten. Dennoch ist die Art, wie man mit diesem Textkomplex umgeht, sehr verschieden, wird dies im Laufe der Zeit immer mehr. Es macht einen großen Unterschied, ob man ihn als ganzen würdigen, das Zusammenspiel seiner Teile erwägen oder die Einzelheiten erklären will; ob man sich zwei Wochen, zwei Monate oder ein Jahr dafür Zeit nehmen kann. Auch ist das theologische Gewicht, der Erklärungsbedarf und das homiletische Klima in jedem Hauptstück verschieden. Man kann sie vom biblischen Hintergrund her oder als Bausteine kirchlicher Lehre behandeln. Auch gibt es neben der regelmäßigen Einrichtung kasuelle Anlässe, bei denen die Katechismuspredigt nicht als solche, sondern ganz als Bestandteil des kirchlichen Vorgangs empfunden wird, wie bei Tauf- oder Abendmahlsfeiern oder manchen Festen des Kirchenjahrs. Öffentliche, innergemeindliche oder persönliche Lehrkonflikte, sektiererische Behauptungen oder ein widersprechendes Zeitgefühl, aber auch allgemeine Notstände können nach ihnen verlangen. Rein formal kann die Predigt die Katechismusstücke als Einstieg, als Gliederungshilfe oder Zusammenfassung verwenden, sie von Wort zu Wort auslegen oder bloß an-

Katechismuspredigt

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klingen lassen, auf dort zitierte Bibelworte zurückgreifen oder sie von unerwarteten Stellen aus überraschend beleuchten. Der Prediger kann damit Erwachsenenbildung betreiben oder einen Paragraphen der Schuldogmatik vortragen wollen und beides konfessionell-kontrovers oder ökumenisch-versöhnlich versuchen. Selbst w o man nur Lebensfragen im Sinn des Katechismus bespricht und ihn selbst gar nicht erwähnt, kann dies eine Katechismuspredigt ergeben. Häufig hat m a n den Haustafelanhang gepredigt, noch öfter die Predigt in den dort aufgeführten Bereichen des kirchlichen, politischen oder häuslichen Lebens konkretisiert. Oft hat m a n auch über den M o r g e n - , Abend- und Tischsegen gepredigt, über Kirchengebete wie die Litanei, Kirchengesänge wie das Tedeum, hat Psalmen, biblische Weisheitsschriften, selbst Redensarten des Volksmunds mit ausgelegt: Die Geschichte illustriert dies alles sehr bunt. Und je mehr m a n den Katechismus mit Einzelfragen zu Hunderten „ e x p o n i e r t e " , desto mehr v e r s c h w a m m e n dabei die Grenzen zur Predigt: „ . . . all w o wären gute Sachen (zu finden), nach denen man seine Predigten könte anstellen", kommentiert ein Kenner derartige Katechismen (Fiedler 3 9 7 , der dabei an die Praxis catechetica des M a r t i n Caselius aus dem benachbarten Altenburg denkt). So läßt sich die Katechismuspredigt nur in offenen Grenzen beschreiben. 1.2. In der Forschung ist sie genauso ins Abseits geraten wie in der Praxis und seit deren Verfall weder monographisch noch lexikographisch bearbeitet worden. Ältere Darstellungen zur Katechismusgeschichte und viele Bibliographien sind inzwischen selber zu Raritäten geworden. Besonders gilt dies von einem Werk aus dem Jahr 1689, das an die Spitze gestellt zu werden verdient. Es ist Der erleuchtete Catechismusprediger des eben genannten Archidiakons Caspar Fiedler aus Rochlitz: Ein Literaturbericht, der fast modernen Erwartungen genügt und so etwas wie die einzige Monographie zum Thema darstellt. Das Buch beschreibt den Katechismusgebrauch in der „Haußkirche", in Kirchen und Schulen, und in den Katechismuspredigten. Es gibt gute Beispiele für die bildhaften Leitvorstellungen, die dafür gebräuchlich sind, weist auf die Unabgeschlossenheit der ganzen Gattung hin, druckt für die erste Phase 70 lutherische und 38 reformierte Titel aus dem Elenchus Scriptorum Ecclesiasticorum des Paulus Bolduanus - vermutlich des Wittenberger Professors Balduin - ab und ergänzt diese Liste für die spätere Zeit durch weitere 100, selbst aufgesammelte Titel. Fiedlers erleuchteter Catechismusprediger will wie die altkirchlichen Katecheten auch seine Leser zu „Erleuchteten/Phootizomenoi" machen. Konfessionell zeigt Fiedler sich maßvoll: „was gut ist/behält man/was undienlich/läst man an seinem o r t " (396). Das Buch beweist, wie wenig die Katechismuspredigt sich aus der Katechismusgeschichte herauslösen läßt und wie sehr sie dennoch besondere Behandlung verlangt. Die Standardbücher zur Katechismus- und Predigtgeschichte erwähnen das Stichwort und führen einige Verfassernamen an, manche werden auch in den Nachschlagewerken genannt. Es scheint, daß man sich in der Katechismus- und Predigtgeschichte weder über die Zuständigkeit für eine nähere Nachfrage noch darüber einigen konnte, ob diese sich lohne. Die seltenen detaillierten Notizen über Katechismuspredigten betreffen nur einzelne Autoren; ein Gesamtbild wird bisher schmerzlich vermißt. Um es zu erstellen, wäre eine gute Ubersicht über die Katechismus-, Predigt-, Kirchen- und Konfessionsgeschichte samt ihren kulturellen, oft auch lokalgeschichtlichen Hintergründen erforderlich, dazu Sammlerfleiß, Finderglück sowie liebevolle Versenkung in zahlreiche wenig bekannte Predigerindividualitäten. Quellen

und

Literatur

Eine vollständige Quellenerfassung ist nicht möglich. Bibliographien: Heinrich Simon van Alpen, Gesch. u. Literatur des HeidKat, Frankfurt/M. 1800. - Paulus Bolduanus (Balduin), Bibliotheca Theologica, Jena 1614. - Johann Franz Buddeus, Kurze Historia catechetica, Leipzig 1713 2 1726 [als Anhang zu Joh. Martin Schamelius, Vindiciae catecheticae]. - Joh. Christoph Dorn, Bibliotheca theologica-critica, Frankfurt/Leipzig 1721. - Georg Draud, Bibliotheca Classica, Frankfurt 1625. - Joh. Albert Fabricius, Centifolium Lutheranum, Hamburg 1728. - Jac. Wilhelm Feuerlin, Bibliotheca Symbolica Evangelica Lutherana P. II, Appendix II, Nürnberg 1768. - Caspar Fiedler, Der erleuchtete Catechismus-Prediger, Leipzig 1689 (über ihn: Werner Jetter, Der erleuchtete Catechismus-Prediger. Erinnerung an ein abgegangenes ev. Bildungsinstrument: Reiner Preul u.a. (Hg.), Glaube - Bildung - Aufklärung, Gütersloh 1988 (im Druck).-Paul Jacob Förtsch, Theologia Catechetica, Göttingen 1758.-Valentin Fromm, Theologia catechetica, Wittenberg 1654. - Walter Henß, Der HeidKat im konfessionspolitischen Kräftespiel seiner Frühzeit. Hist.-bibliogr. Einf., Zürich 1983. - Joh. Christoph Koecher, Einl. in die catechetische Theol. u. Unterweisung, Jena 1752. - D e r s . , Catechetische Gesch. der Päpstl. Kirche, Jena 1753; . . . der Reformierten Kirche (1756), der Waldenser u s w . . . . (1768). - Gregorius Langemack, Historia

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Katechismuspredigt

catechetica, Stralsund, 11728, II 1733, III 1740. - Michael Lilienthal, Theol.-Homiletischer Archivarius, Königsberg, II 1749. - Martin Lipenius, Bibliotheca Realis Theologica, 2 Bde., Frankfurt 1685, Nachdr. Hildesheim 1969 u. 1973. - Johann Michael Reu (Hg.), Quellen zur Gesch. des kirchl. Unterrichts in der ev. Kirche Deutschlands zw. 1530 u. 1600, eingel., hg. u. zusammenfassend darg. 10 Bde., Gütersloh 1 9 0 6 - 1 9 3 5 [nur beiläufige Notizen zur Katechismuspredigt]. - Martin Rößler, Bibliogr. der dt. Liedpredigt, Nieuwkoop 1976 (Bibliotheca Humanistica et Reformatorica 19). Ders., Die Liedpredigt. Gesch. einer Predigtgattung, Göttingen 1 9 7 6 , 1 3 1 - 1 5 4 . - J o h . Georg Walch, Introductio in libros ecclesiae Symbolicos, Jena 1732. - Christian Friedr. Wilisch, Sylloge Auctorum Catecheticorum, Altenburg 1718 [320 Titel], - Christoph Heinr. Zeibich, Weimarer CatechismusHistorie, Weimar 1727. Zu 1.2.: Wilhelm Beste, Die bedeutendsten Kanzelredner . . . v. Luther bis Spener, Leipzig, 1 1856, II 1858, III 1886. - Klaas Dijk, De Catechismus-Preek in har Verscheidenheit, Franeker o. J . (1963?). - Friedrich Ehrenfeuchter, Zur Gesch. des Katechismus mit bes. Berücksichtigung der Hannoverschen Landeskirche, Göttingen 1857. - Hans-Jürgen Fraas, Katechismustradition. Luthers KIKat in Kirche u. Schule, 1971 (APTh 7). - Otto Frenzel, Zur Katechetischen Unterweisung im Zeitalter der Reformation u. Orth., Leipzig 1915. - Ders., Zur katechetischen Unterweisung im 17. u. 18. J h . , Leipzig 1920. - Friederike Fricke, Luthers KIKat in seiner Einwirkung auf die katechetische Lit. des Reformationsjh., Göttingen 1898. - Geffcken, s. Quellen/Lit. zu 2. - Heinrich Graffmann, Erklärung des HeidKat in Predigt u. Unterricht des 1 6 . - 1 8 . Jh.: Lothar Coenen (Hg.), Hb. zum HeidKat, Neukirchen 1963, 6 3 - 7 7 . - Werner Jentsch, Einl. zu Bd. II/l u. II/2: Philipp Jacob Spener, Sehr., hg. v. Erich Beyreuther, Neudr. Hildesheim/New York 1982. - Bruno Jordahn, KatechismusGottesdienst im Reformationsjh.: Luther 30 (1959) 6 4 - 7 7 . - Karl Heinrich Kelber, Gesch. der Katechismuspredigt: E L K Z 4 (1950) 1 8 1 - 1 8 3 . 2 0 0 - 2 0 3 . - Ders., Katechismuspredigten: Korrespondenzbl. für die ev.-luth. Geistlichen in Bayern 54 (1929) 25 - 2 8 . 5 0 - 5 1 . 5 8 - 6 0 [weitere Lit. unter Stichwort Katechismusjubiläum ebd. im Inhaltsverzeichnis]. - August Nebe, Zur Gesch. der Predigt, 3 Bde., Wiesbaden 1879, bes. III, 332ff. - Eugen Sachsse, Die Lehre v. der Erziehung nach ev. Grundsätzen, Berlin 1857. - Martin Schian, Orth. u. Pietismus im Kampf um die Predigt, Gießen 1912. - Ders., Art. Predigt, Gesch. der christl.: R E 3 15 (1904) 6 2 3 - 7 4 7 . - Martin Schmidt, Katechismus u. Kirche: Z d Z 6 (1952) 3 7 0 - 3 7 7 . - Ders., Die Abendmahlspredigten des Johann Mathesius: EARBL 11/12 (1973/74) 1 4 - 3 4 . - Schneyer, s. Quellen/Lit. zu 2. - Phil. Heinr. Schuler, Gesch. der Veränderungen des Geschmacks im Predigen, Halle 1792. - Ders., Gesch. des katechetischen Religionsunterrichts unter den Protestanten..., Halle 1802. - Hermann Steinlein, Zur Frühgesch. der Katechismuspredigt: Korrespondenzbl. für die ev.-luth. Geistlichen in Bayern 54 (1929) 51. - August Tholuck, Vorgesch. des Rationalismus. Das kirchl. Leben des 17. Jh., 1. u. 2 Abt. [hier Abschn. über den „Katechetischen Kultus"], Berlin 1861/1862. - Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard u. Georg Calixt, 1961 (BHTh 30). - Christoph Weismann, Die Katechismen des Johannes Brenz, 3 Bde., Berlin 1988. - Gerhard v. Zezschwitz, System der christl.-kirchl. Katechetik, 2 Bde., Leipzig 1 8 6 3 - 1 8 7 2 .

2.

Vorgeschichte

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In ihrer Vorgeschichte lassen sich Katechismuslehre und -predigt nicht trennen. Zuerst mußte man die geeigneten Kurztexte für die Einführung in den christlichen Glauben und die Einübung in christliches Leben finden, feststellen, erproben und einbürgern. Daran waren Lehrer und Prediger meist in Personalunion mitbeteiligt. Einiges hat sich rasch in Liturgie und Lehre gefestigt, doch zur kirchenamtlichen Festschreibung eines Katechis45 musgrundstocks kam es noch nicht. Bis zur Ausbreitung des Buchdrucks fiel es vor allem den Volkspredigern zu, den kirchlichen Common-sense in Lehre und Ordnungen vor dem Volk zu vertreten.

Das Kardinalproblem hat schon im Neuen Testament bildhaften Ausdruck gefunden: „Milch habe ich euch zu trinken gegeben, nicht feste Speise" (I Kor 3,2; Hebr 5, 12f). Milch und feste Speise 50 ließen sich nicht auf Katechese und Predigt verteilen. Die Spannung blieb beiden gemeinsam. Denn Elementarunterweisung sollte für Anfänger verständlich sein und doch alle wichtigen Elemente des Christseins umfassen; kindliche Schonkost, und zugleich eiserne Ration für Leben und Sterben: diese „ M i l c h " entspringt im Land der Verheißung (Luthers Osterpredigt 1528: WA 27, 120). Und so ist denn auch die Metapher der Milch in der bilderreichen Geschichte der Katechismuspredigt nach 55 allen Seiten durchgespielt worden und die Spannung, die sich darin ausdrückt, das Doppelgesicht der Katechismuspredigt geblieben.

2.1. Die ersten Katechismuspredigten erklären die Stufen des —»Katechumenats, die nach Uber- und Wiedergabe von Vaterunser und Credo, nach Abschwörung und Be-

Katechismuspredigt

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kenntnis zur Taufe hinführen. Die Praxis verfuhr eher dialogisch; man zeichnete nur besondere Stufen durch Predigten aus, und die (geschriebene) Predigtform hat dann vor allem der literarischen Weitergabe zu dienen. Doch auch beim Katechisieren erfolgten die Mitteilungen autoritativ und gehen auf kindliches Verständnis nirgendwo ein. Nicht nur einem —•Tertullian galt der wohlunterrichtete Taufpate als Prototyp eines Christen. Vom österlichen Tauftermin her faßten aber die Katechesenreihen schon sehr früh an den Wochentagen der vorösterlichen Fastenzeit Fuß. A m bekanntesten sind die 23 Taufkatechesen des -+ Cyrillus von Jerusalem (um 3 5 0 ) geworden, von denen fünf die Bewerber allgemein vorbereiten, 13 ins Apostolikum einführen und die letzten fünf den soeben Neugetauften bis zum Weißen Sonntag Taufe, Firmung, Eucharistie und die Gottesdienstformen erklären. Katechetische Sermone über Vaterunser und Credo, Taufe und Eucharistie finden sich bei vielen Kirchenvätern, bei Augustin erstmals auch Dekalog-Katechesen.

2.2. Als sich der Schwerpunkt der abendländischen Entwicklung mehr nach Norden verschob, hat —»Karl der Große Vaterunser und Credo zum christlichen Mindestwissen erklärt und besonders die Predigt als Hauptinstrument religiöser Volkserziehung gefördert. Seit 1215 obligat, wurde die Ohrenbeichte dann zu einem neuen Ansatzpunkt einer Wissens- und Gewissensprüfung, die einst zur Taufbelehrung gehörte. Und so trat jetzt der Dekalog als Beichtspiegel offiziell zum Grundstock des Katechismuswissens hinzu. Außer Taufbewerbern und Erstkommunikanten wurde jetzt immer mehr das ganze kirchliche Publikum zum Adressaten der Katechismusbelehrung, und seit Thomas von Aquin befaßten sich auch die Schultheologen mehr mit dem Dekalog. Am energischsten nahmen sich aber die mit der Volksmoral unmittelbar konfrontierten Volksprediger seiner an, und ihre Bemühungen schlugen besonders „zu Buch"; man konnte sich bald wie in einem Spiegelkabinett von Tugend-, Laster- und Gewissensspiegeln, Spiegeln des Christenmenschen, des Sünders, des Laien, der Kirche, des Glaubens, des Ehelebens bewegen und sich in Spiegeln von Beispielen und Geboten auf Herz und Nieren erforschen - so griff der Frankfurter Kaplan Johann Wolf in seinem Beichtbüchlein 1478, von so vielen Spiegeln verwirrt, doch lieber wieder auf den Dekalog zurück. Denn außer Traktaten zur Hebung der Volksmoral schössen jetzt auch die Hilfsbücher für die Predigt üppig ins Kraut: Dispositionen, Florilegien, Promptuarien, Beispielsammlungen, Alphabete, eine homiletische „Vorratskammer" mit dem ernst gemeinten Titel Dormi secure und, 36mal aufgelegt, die Sermones des „Discipulus" des Johannes Herolt aus Nürnberg: ein Genre dickleibiger Bände, die alle den Predigten aufhelfen, sie aber auch nivellieren konnten; ähnlich wie es 200 Jahre später der Katechismuspredigt erging. Da waren, neben den Perikopen der Sonntagsmesse und den Postillen für diese, sogenannte sermones communes über Glaubens-, Moral- und Zeitfragen aufgekommen; dazu „Standespredigten", die sich wie in -»Gregors des Großen Regula pastoralis bestimmten Hörergruppen zuwandten, aber fast nur der einen Leitfrage folgten, welches Maß an Vollkommenheit und welche Gefahren man im jeweiligen Stand zu gewärtigen habe. Schon Caesarius von Arles hat die Jungfrauen, Witwen und Ehefrauen als drei „Stände" ins Auge gefaßt und ihnen, nach Jesu Gleichnis abgestuft, 100-, 60- und 30fältige Früchte versprochen. Dieses im Grund klösterlich gedachte Vollkommenheitsstreben blieb auch für die auf weitere Adressatengruppen ausgreifenden 100 sermones ad diversos status des Humbert de Romanis bestimmend; man darf diese „Standespredigten" deshalb nicht mit den evangelischen Haustafelpredigten verwechseln. Nicht hier sind die spätmittelalterlichen Vorläufer der Katechismuspredigt zu finden, sondern bei Männern wie Johannes -»Gerson mit seinem Opus tripartitum (de praeceptis decalogi, de confessione, de arte moriendi) und besonders bei den berühmten Volkspredigern, die schon Katechismusthemen im modus laicalis sive pastoralis behandeln, Berthold von Regensburg, -»Geiler von Kaysersberg, Heinrich von Frimar, Nicolaus von Dinkelsbühl und natürlich auch —»Savonarola. Ja, sie begann jetzt zu einer geordneten kirchlichen Sitte zu werden: 1281 hat die Synode von Lambeth sie vom englischen Klerus viermal jährlich erwartet; 1447

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Katechismuspredigt

wurde sie in Eichstätt, 1491 in Bamberg vom Diözesan-Klerus wenigstens einmal im Jahre verlangt. Daß Luther und Mathesius unter dem Papsttum nie eine Katechismuspredigt zu hören bekamen, trifft sicherlich zu; selten war sie gewiß. Doch darf man nach alledem diese Feststellung nicht unbesehen für alle Gebiete und Zeitabschnitte verallgemeinern. Quellen und

Literatur

Paul Bahlmann, Deutschlands kath. Katechismen bis zum Ende des 16. Jh., Münster 1894. Ferdinand Cohrs, Z u r Katechese am Ende des M A : Z P r T h 2 0 (1898) 1 8 9 - 3 0 9 . - Rudolf Cruel, Gesch. der dt. Predigt im M A , Detmold 1879, N a c h d r . Hildesheim 1955. - Johannes Geffcken, Der Bilder-Catechismus des 15. Jh., Leipzig 1855. - Heinrich Graffmann, Unterricht im HeidKat, N e u k i r c h e n / M ö r s , III 1958, 6 0 0 - 643. - Joseph Michael Heer, Ein Karolingischer Missionskatechismus, Freiburg i.Br. 1911 (Bibl. u. patristische Forschungen 1 ) . - H e i n r i c h Holtzmann, Die Katechese im M A : Z P r T h 20,(1898) 1 - 1 8 . 1 1 7 - 1 3 0 . - P a u l Rentschka, Die Dekalog-Katechese des hl. Augustinus, Kempten 1905. - J o h . Baptist Schneyer, Gesch. der kath. Predigt, Freiburg i.Br. 1968.

3. Luther Luther hat dem -»Katechismus die überzeugendste Buchgestalt und eine Ordnung gegeben, die ihn zum festen Bestandteil der kirchlichen Praxis und zum Werkzeug ihrer religiösen Durchdringung gemacht hat. 1516/17 hat er sonntagnachmittags über die Zehn Gebote gepredigt und dies, das Vaterunser, das Credo und zunächst auch das Ave Maria hinzunehmend, 1519 und 1522 nachmittags, 1523 in der Frühmette wiederholt, jeweils zur Fastenzeit. Weil er die Wittenberger Prediger einbeziehen wollte, Jonas und Agricola, dann Fröschel und Bugenhagen, brauchte man eine Predigtordnung. Man wird diese Bugenhagen zu danken haben, einem der Hauptinitiatoren evangelischer Kirchenordnungen, in denen dann überall Luthers Katechismus einen zentralen Platz erhielt; 1552 konnte Bugenhagen selbst sagen, er habe ihn jetzt schon zum 50. Male gepredigt. Drei seiner Wittenberger Predigtreihen (von 1525, 1532 und 1534) sind aus lateinischer Nachschrift 1909 bzw. 1920 veröffentlicht worden. Fröschel hat seine in 15 Jahren auch „bey Leben . . . Lutheri" gehaltenen, von Bugenhagen gelobten Katechismuspredigten 1559 von Amberg aus zum Druck gebracht; sie stellen einen zweiten, an den Loci orientierten Typus von Katechismuspredigten dar und erinnern damit an Fröscheis Verhältnis zu seinem Lehrer Melanchthon und zugleich daran, daß auch dieser - am liebsten im Hörsaal und literarisch - um Glauben und Bildung und deshalb auch sehr um den Katechismus bemüht war. Nach der Wittenberger Ordnung sollte man viermal im Jahr in den Quatemberzeiten 14 Tage lang nachmittags 2 Uhr in acht Predigten jeweils den ganzen Katechismus behandeln. Luther hat dies am 1. Advent 1528 als schon gewohnte Ordnung vorausgesetzt, als er die dritte seiner Predigtreihen über den Katechismus ankündigte, in denen er in jenem Jahr den abwesenden Bugenhagen vertrat. Diese drei von ihm auf elf bzw. zehn Predigten ausgeweiteten Reihen haben reformationsgeschichtliche Bedeutung erlangt. Sie sind, z.T. wörtlich, zum Grundstein für den GrKat geworden und haben damit auch den Abschluß der Arbeit am KlKat entscheidend gefördert. An den regelmäßigen Katechismuspredigten in Wittenberg hat sich Luther dann nicht mehr beteiligt: er brauchte die dortigen Prediger nicht mehr zu vertreten. Als er 1529 sonntagnachmittags in seinen Predigten über das 5. Buch Mose auf den Dekalog zu sprechen kam, sagte er gleich, dies geschehe jetzt ausführlicher, außerhalb der viermal jährlich angeordneten Reihen (WA 28,510.598). Auswärts hat er 1533 vor dem Torgauer Hof dreimal über den 2. Artikel, besonders die Höllenfahrt Christi, gepredigt (WA 37, 35ff), 1537 in einem Schmalkaldener Haus über alle drei Glaubensartikel (WA 45, 11 ff), 1540 anläßlich der Taufe Bernhards von Anhalt zweimal über die Taufe (WA 49, 111 ff). Am Gründonnerstag legten sich Predigten über das Abendmahl ohnehin nahe. Der Streit um die mißdeutete oder verachtete Taufe hat ihn besonders beschäftigt, so daß es noch einmal zu vier Predigtreihen darüber kam. Aber bei diesen ist er im Rahmen des Kirchenjahres geblieben und hat sich auch an die Sonntagvormittagsgottesdienste gehalten: Da er

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das Erscheinungsfest am liebsten als Tauftag Jesu verstand, hat er 1532 die darauffolgenden vier, 1534 die nächsten sechs, 1538 desgleichen und 1539 noch einmal drei Sonntage dazu verwendet. Am GrKat wie an den voraufgehenden drei Predigtreihen fallen die knappe Behandlung des Credo und die sehr ausführliche des 4. Gebotes besonders auf. In allen drei Reihen wird dem Credo nur eine Predigt gewidmet, so viel wie dem Abendmahl oder der Taufe. Der Grund ist eindeutig: Luther sah im Apostolikum eine Zusammenfassung der ganzen biblischen Gottesgeschichte, und weil die Feste des Kirchenjahrs deren Stationen ganz regelmäßig in Erinnerung bringen, könne man bei diesen Gelegenheiten auch einmal eine „schärfere" Predigt über die betreffenden Glaubensartikel halten und, wie er sagt, „dem Feste sein recht thun und das Evangelium lassen anstehen" (WA 41, 270). Möglich sei auch, meint er einmal (WA 47,697), den 12 Artikeln des Apostolikums je einen Monat zuzuteilen und daraus einen Predigtkalender fürs ganze Jahr zu machen, dann stünde jeder Predigt ein Stück des Credo voran und der Katechismus würde das ganze Jahr hindurch gepredigt. Das Kirchenjahr läßt also Luther im Katechismus beim Credo knapp bleiben - im Grunde ein Bekenntnis dazu, daß für alle Predigtarten nur eine Aufgabe gilt: das Evangelium zu be~ 'ugen; daß Lehre im rechten Glauben jederzeit not tut und der Unterschied zwischen I'erikopen- und Katechismustexten daran grundsätzlich nichts ändert. Im Dekalog, der fast die Hälfte des Katechismus ausmacht, nimmt nicht das sachlich eindeutig führende erste Gebot, sondern das vierte den meisten Raum ein. Man lastet an dieser Stelle Luther meist das zeitübliche patriarchalische Denken an. In Wirklichkeit meldet sich hier seine vielleicht tiefste, im Zentrum des Glaubens verwurzelte Grunderfahrung zu Wort. Das 4. Gebot spricht als erstes der 2. Tafel unser mitmenschliches Leben an, und zwar an seiner Quelle, dort, wo es uns geschenkt wird. Und gerade an jener Quelle ist jene Grunderfahrung zu machen: Gottes wahres Sein steht im Geben und wird in seinen Gaben erfahren. Diese Grunderfahrung hat sich in der Geschichte Jesu ganz einzigartig verkörpert und schließt für Luther die ganze biblische Gottesgeschichte auf. Sie gilt dem Gott, der, gebend und vergebend, als „der Herr, dein Gott", als „unser Vater im Himmel", als „allmächtiger Schöpfer" „wie im Himmel, also auch auf Erden" erfahren, erkannt und bekannt werden will, weil er dies ist. Diese Gotteserfahrung soll der Katechismus mit seinem fünffachen Echo weiterbezeugen. In ihr werden die Gebote zu Ortsbeschreibungen göttlichen Gebens und zum Spiegel des Bösen, durch das wir dies immer wieder verderben. Sie macht aus dem Credo eine dreifache Ermutigung, im gegebenen Leben trotz allem das Geschenk des Schöpfers, im Widerfahrnis seiner vergebenden Liebe die große Befreiung, in dem daraus entspringenden Geist die Gewähr welterneuernder Hoffnung zu sehen. Sie macht das Gebet zur Seele unseres Umgangs mit Gott, mit der Welt und mit allen Geschöpfen, die Taufe zum unzerbrechlichen Siegel der berufenden Gnade in unserer Lebensgeschichte, und das Abendmahl zur zeichen- und leibhaften Stärkung für einen Weg, auf dem die Gerufenen und Beschenkten zugleich die Zeichen ihres Sterbens wie die Zeichen seines erschienenen Lebens an ihrem Leibe tragen. Für solche Erfahrung werden Morgen-, Abend- und Tischsegen zur Einübung in den Alltagsempfang seiner Gaben, wird das „Gemeine Kirchengebet" zur Hilfe, diese Gaben in der ganzen Weite und Bedrängnis des Lebens gemeinsam zu suchen und festzuhalten. Und schließlich fließt dann dies alles in den Haustafeln zum Bild einer Lebensannahme und -bemühung zusammen, die Gott und dem eigenen frommen Ich nicht mit selbsterwählten frommen Leistungen imponieren, sondern lernen will, gerade in dem uns vor-, mit- und aufgegebenen Lebenszuschnitt Gottes Gaben zu ehren; seine Vor- und Aufgaben auch unter den Schatten, die sie überall werfen, in ihrer wahren Würde zu sehen und sie dann aber auch gerade auf diese Würde hin gewissenhaft, darum auch kritisch, nüchtern und dankbar wahrzunehmen. Es ist diese gerade vom 4. Gebot her so anschaulich gewordene Erfahrung, derentwegen Luthers Katechismus kein theologisches Schulbuch, sondern ein „religiöser Primär-

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Katechismuspredigt

text" (Bayer 7) geworden ist, in dem nicht bloß über den Glauben gelehrt wird, sondern sich dieser mit eigener Stimme aussprechen kann. Darum fordert er zur Predigt heraus, erträgt sie nicht nur, sondern kann sie auch inspirieren. In einer Vorlesungsbemerkung zu Ps 127,3 hat Luther jene Erfahrung wohl am persönlichsten nachformuliert: „Ecce es Doctor, Theologus, paterfamilias, schreib drann: ,Dedit'.. Et nullam aliarn mercedem a te requirit, quam ut agnoscas" [Sieh, du bist Doctor, Theolog und Hausvater geworden: schreib dran: Der Herr hat's gegeben . . . und er will auch keinen anderen Dank dazu von dir haben, als daß du's anerkennst"] (WA 40/3,251; 1532/33). Dies ist Luthers Katechismuspredigt in nuce, ihre religiöse Quintessenz, gleich einfach wie unerschöpflich für jeden. Im Katechismus hat Luther die ältesten Stücke christlicher Lehre, von Überwachsungen freigemacht, zu neuer Einheit zusammengefügt: das Kernstück der Gottesgebote; die Summe der biblischen Gottesgeschichte vom ersten bis zum jüngsten Gottestag; das Herzstück biblischen Betens; die zwei in der Geschichte Christi verankerten, tief ins Christenleben eingreifenden, durch die Vergebungserfahrung miteinander verbundenen Sakramente. Er hat sie zusammengedacht und am Ende fast prosaisch in einem Bild evangelischer Bürger-, Haus-, Berufs- und Alltagsfrömmigkeit aufgefangen, dem allem aber zugleich bewußt eine eindrucksvolle Doppelgestalt gegeben. In dieser sind die zwei Hauptformen der Katechismuspraxis einander zugeordnet: Das Lernbuch in Frage und Antwort steht neben dem Lesebuch, der Mustervorlage der Katechismuspredigt. Diese (größere) Predigt braucht ihren (kleineren) Text, und auch der (kleinere) Text braucht seine (größere) Predigt. Die angelernten Sätze sollen nicht zum hergebeteten Wissen verkümmern, ihr Zusammenhang nicht zu einem Heilsweg-Schema verhärten. Sie sollen einander helfen, daß die Erfahrung, der sie das Wort reden, nicht in ihren Worten erstarrt. In dieser zu lernenden und zu lehrenden Doppelgestalt haben Luthers Katechismen das evangelische Glaubensbewußtsein und seine Sprache geformt und lange durch seine Geschichte begleitet. Quellen und

Literatur

Otto Albrecht, Vorbemerkungen zu beiden Katechismen: WA 3 0 / 1 4 2 6 - 4 7 4 . - Ders., Neue Katechismusstud.: ThStKr 80 (1907) 7 1 - 1 0 6 . 4 3 4 - 4 6 6 . 5 6 4 - 6 0 8 ; 81 (1908) 5 4 2 - 5 7 6 ; 82 (1909) 7 8 - 1 2 0 . 5 9 2 - 6 1 6 . - Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986. - Wilhelm Bornemann, zum Verständnis u. Gebrauch des luth. Katechismus: ZPrTh 17 (1895) 1 - 3 3 . - G e o r g Buchwald, Die Entstehung der Katechismen Luthers u. die Grundlage des GrKat, Leipzig 1894. - Ferdinand Cohrs, Die Ev. Katechismusversuche vor Luthers Enchiridion, 5 Bde., 1900-1902, Repr. Hildesheim 1978 (MGP 20 - 2 3 . 3 9 ) . - Friederike Fricke, Die Laien-Biblia: ZPrTh 21 (1899) 2 2 9 - 2 4 5 . - Johannes Gottschick, Luther als Katechet, Gießen 1883. - Johann Meyer, Hist. Komm, zu Luthers KlKat, Gütersloh 1929.

4. Die Katechismuspredigt

in den evangelischen

Kirchenordnungen

-•Katechismen und —• Kirchenordnungen sind im Zuge der Reformation Hand in Hand eingeführt worden; an beiden läßt sich deren Festigung in den einzelnen Herrschaftsgebieten ablesen. Überall wurde dort der Katechismus als Norm zur Weitergabe des Glaubens wie als hilfreiche Form seiner Aneignung dringend gebraucht. Luthers Katechismen sollten als Prototypen dienen, als Anreiz und Beispiel, nicht als Kirchengesetz. „Ordnung ist ein äußerlich Ding, sie sei so gut sie will, so kann sie in Mißbrauch geraten. Aller Ordnungen Leben, Würde, Kraft und Tugend ist der rechte Brauch, sonst gilt und taugt sie gar nicht", hatte er selbst in der Deutschen Messe geschrieben (WA 19, 113). So ist gelegentlich der Katechismus selber für die Einführung von Kirchenordnungen bedeutsam geworden. „Ist aufs erste im Gottesdienst... ein guter Catechismus von nöten" (WA 19, 79). Die Kirchenordnungen sollten ihn in die geschützten Gewohnheiten des ganzen bürgerlichen Gemeinwesens einbetten, sowohl als Stück der öffentlichen Religionsausübung wie als Teil der häuslichen Frömmigkeitspraxis. Ohne Predigten über den

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Katechismus wären die Kirchenordnungen mit ihren Rubriken zu Katechismuspredigt und -Unterricht aber kaum einzuführen gewesen; nichts konnte sein öffentliches Ansehen so sehr vermehren wie eine Predigt darüber. Diese auch noch zu dokumentieren, dazu gab es, wie es scheint, anfänglich weder Zeit noch Neigung. Zunächst galt es einfach, den Ordnungsrahmen zu schaffen für eine geregelte Praxis, die man sich wohl am zutreffendsten als eine Verbindung oder Mischung von Predigt und Lehrgespräch vorstellen mag. Die Ordnung dafür sah etwa folgendes vor: Neben das Vorsagen (und stille Mitsprechen) der Hauptstücke im Vormittagsgottesdienst, das es schon vor der Reformation da und dort gab und bei dem es in manchen Orten 150 J a h r e lang blieb, trat eine einstündige Katechismusübung am Sonntagnachmittag, in der Regel um 14 Uhr. Dazu a m Sonntag früh die M e t t e um 5 oder 6 Uhr, in der für das Gesinde außer dem Katechismus auch noch das Sonntagsevangelium vorgelesen und summarisch erklärt werden sollte. W o es wochentags Frühmetten gab, sollte man eine davon dem Katechismus widmen, konnte aber für die Schüler auch eine spätere Stunde wählen. In größeren Orten wurde es Brauch, auch an einem Wochentag nachmittags den Katechismus für Erwachsene auszulegen; diesem Brauch hat man dann später die mehrbändigen Ausgaben von Katechismuspredigten zu verdanken. Im Einflußbereich der Bugenhagenschen Ordnungen, aber auch darüber hinaus hat man gerne das Wittenberger Modell besonderer Katechismuswochen übernommen und viermal im J a h r an je vier Nachmittagen zwei Wochen lang über den ganzen Katechismus gepredigt, vielleicht auch nur zweimal im J a h r und dann je drei bis vier Wochen; an kleinen Orten wenigstens jährlich einmal; dies hat dann später zu den vielen Buchausgaben mit jeweils 8 oder 16 Katechismuspredigten geführt.

Gleich die erste Frucht solcher Kirchenordnungen ist zu einem besonderen Glücksfall der Katechismuspredigt geworden: Andreas —> Oslanders 22 Nürnberger Kinderpredigten, 1531 von den dortigen Predigern in der Praxis getestet und 1533 in vollem Wortlaut von der Brandenburg-Nürnbergischen Kirchenordnung übernommen. Sprachlich vorbildlich, für die Prediger handlich in Einzelpredigten aufgeteilt, führen sie jeweils geschickt auf Luthers Erklärungen hin und haben ihre rasche und weite Verbreitung durchaus verdient. Durch sie ist übrigens das (schon von J . Hefentreger erwogene) Hauptstück von den Schlüsseln des Himmelreichs in den Katechismus gekommen. Osiander konnte sich mit der Forderung, die Absolution nur als Privatabsolution zu vollziehen, in Nürnberg nicht durchsetzen. Deswegen wollte er das Schlüsselamt wenigstens im Katechismus fest verankern. Mit den Nürnberger Kinderpredigten und Luthers GrKat zusammen schien der Bedarf an Katechismuspredigten einstweilen gedeckt: Man empfahl ihren Gebrauch, ja man machte ihn an einigen Orten sogar verbindlich. Eigenständige Katechismuspredigten traten daneben kaum in Erscheinung. Denn im Interesse der Kirchenordnungen lag es vor allem, erst einmal einen lehramtlich festgestellten Katechismus einzuführen, wenn möglich in ortsnaher Fassung, die das Selbständigkeitsbedürfnis der Gebietsherrn und ihrer Theologen befriedigen konnte. Dem pastoralen Interesse war es hauptsächlich um ein leicht abfragbares Glaubenswissen fürs Beichtverhör und die Abendmahlserstzulassung zu tun. Immerhin war so ein Rahmen geschaffen, der nicht bloß Gelegenheit bot, den vorgeschriebenen Katechismus in welcher Form auch immer zu treiben, sondern der dazu verpflichtete, dies jetzt regelmäßig zu tun. Er schrieb auch zwingend vor, sich an den eingeführten Wortlaut zu halten. Doch führte dies nur dazu, daß man nun den verbindlichen Wortlaut durch einführende oder differenzierende Fragen dem Verständnis näherzubringen versuchte oder mit dem festliegenden Text die bewegliche Predigt verband, teils um ihn ausführlicher in sich selbst zu erklären, teils auch, um ihn konkreter an die Erlebniswelt der Hörer heranzuführen, so wie diese nun einmal von den örtlichen, zeitlichen oder allgemeinen Faktoren, von den Eigenarten des Predigers und vom Zusammenleben der Gemeinde mit ihm bestimmt war. In diesem Ordnungsrahmen konnten sich Katechismen und Katechismuspredigten eigentlich nur immer mehr aufeinander zu entwickeln: Die Katechismen enthielten ja Fragen - und vermehrten sie noch —, die auch die Predigten aufgreifen mußten. Und ihre zu lernenden Antworten hörten sich gerade im Kindermund häufig wie kleine Predigten an, zumal in jener Zeit die religiöse Sprache fast völlig von Liturgie und Predigt her

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Katechismuspredigt

vorgeprägt war. Je mehr man die Katechismen „exponierte", desto mehr konnten sie fragweise unterbrochenen Predigten gleichen, wie man dies auch am Beispiel des Caspar Huberinus aus Augsburg und seinem vorzüglichen „kleinen" Katechismus von 1544 mit den umfangreichen Kinderantworten auf die 275 (!) Fragen des Vaters ablesen kann. Darüber hinaus waren ja die fast ausschließlich von Theologen und Predigern abgefaßten Katechismen nicht selten gerade für ihre eigenen Amtskollegen geschrieben, weil es völlig von diesen abhing, ob und wie ihre Weitergabe gelang. Ihnen hat z.B. der besonders an Lehraufgaben interessierte Erasmus Sarcerius seinen Katechismus von 1537 schon in der Überschrift zugedacht. Und wenn Urbanus Rhegius sich beim Apostolikum schon 1523 der alten Einteilung in 12 Glaubensartikel bediente, dann war und blieb diese Einteilung, jedenfalls für Reihenpredigten darüber, immer besonders bequem und darum lange Zeit für die Katechismuspredigten fast die stehende Regel. Daß Luther von solcher apostolischer Einzelautorisierung nichts hielt und persönlich hier die Dreiteilung vorzog, weil er sich vermutlich jene dreifältige, dynamische Gottesgeschichte nicht durch ein statisches Nebeneinander gleichrangiger Lehrsätze zudecken lassen wollte, hat jedenfalls nicht zu einem grundsätzlichen Einspruch dagegen von seiner Seite geführt. Zunächst hat das von den Kirchenordnungen insgesamt so drastisch erhöhte Predigtpensum, zu dem ja noch eine biblische Wochenpredigt hinzukam, allen evangelischen Predigern zugemutet, sich an der Kirchenpostille und anderen vorbildlichen Predigtsammlungen und Predigtanleitungen, die in Hülle und Fülle erschienen, wie auch am Katechismus, wo nicht in die Predigtkunst überhaupt, so immerhin in die evangelische Art und Schätzung der Predigt einzuüben. Die Kirchenordnungen boten dazu nicht nur den regelnden Rahmen an, sondern nötigten dazu, ihn zu gebrauchen. Der Katechismuspredigt wuchs dabei eine bezeichnende Sonderaufgabe zu. Sie sollte das neue Glaubensverständnis lehrmäßig vertreten und biblisch begründen, wie dies auch für jede sonstige Predigt galt, aber sie sollte darüber hinaus eben die im Katechismus vorformulierten Kriterien dazu gebrauchen, ja fast schulmäßig einprägen helfen und ihre Hörer befähigen, diese gleichfalls dazu zu verwenden. Denn noch immer galt es, diese altneue Lehre gegen die gängigen altgläubigen Mißdeutungen wie gegen die verführerischen schwärmerischen Fehlsteuerungen abzuschirmen und das evangelische Selbstbewußtsein zu bestärken. Das führte zwangsläufig dazu, zumal das -»Interim den Streit um die Lehre erhitzte, daß viel, oft allzuviel Theologie und Theologenstreit in die Predigten eindrang, die Unterscheidungslehren vorherrschend wurden, das Abgrenzungsbedürfnis zum Verwerfungseifer anschwoll und dies alles im Laienhorizont oft noch gröber geriet. Und doch hat gerade das Interim auch wieder deutlich gemacht, als es so vielen Predigern zeitweilig den Weg auf die Kanzeln versperrte und sie teilweise als Katecheten Unterschlupf finden ließ, wieviel gerade auf solche im Katechismus gut unterwiesene Laien ankam, die die theologischen Gewissensentscheidungen ihrer Prediger mittragen und wenigstens in ihrem christlichen Elternamt in die Lücke treten konnten, so daß das vielberufene „Priestertum aller Gläubigen" nicht bloß ein stolzes Programm blieb, sondern öffentlich und auch häuslich Farbe bekam. Insgesamt haben also die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jh. nicht nur, dem eigenen Ordnungsverlangen folgend, die Katechismuspraxis schulmeisterlich reglementiert, sondern auch das Verlangen nach der Katechismuspredigt verstärkt. Denn wenn evangelisches Christenleben zu guter Letzt so verwechselbar in einem guten Hausstand, in bürgerlichem Wohlverhalten, in gewissenhafter Berufstreue und einem ganz aufs Gemeinwohl ausgerichteten weltlichen Leben aufging und die innere Glaubensgewißheit allein das entscheidende und unterscheidende Christliche sein sollte, dann mußte sich ja die Frage nach den äußeren Folgen solcher inneren Glaubensgewißheit, nach dem „Bete" neben dem „Arbeite" stellen. Und je stabiler der Lernkatechismus das Gedächtnis des Glaubens machen würde, desto mehr mußte es dann zur Hauptaufgabe der Katechismuspredigt werden, das Gewissen des Glaubens persönlich sensibel zu halten und öffentlich immer sensibler zu machen für die Grundfragen christlichen Handelns und Leidens,

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menschlichen Lebens und menschlicher Lebensverfehlung; desto dringlicher mußte dann das Zusammenspiel zwischen Text und Predigt, zwischen dem Kleinen und dem Großen Katechismus werden, das Luther so instinktsicher zur spannungsvollen Mitgift evangelischer Kirchenordnung gemacht hat. Denn erst in solchem Zusammenspiel wird der Katechismus nicht nur als kleine Bibel, Dogmatik und Kirchenkunde für Laien wirksam, sondern zu dem, was er eigentlich sein oder werden sollte: zu einer zeitnahen und beweglichen Agende für den Gottesdienst des Glaubens im Alltag der Welt. Quellen/Literatur Heinrich Holtzmann, Über einige Straßburger Katechismen aus der Reformationszeit: ZPrTh 17 (1895) 112-123.265-266. - Aemilius Ludwig Richter, Die Ev. KO des 16. Jh., 2 Bde., Weimar 1846. Emil Sehling (Hg.), Die ev. KO des XVI. Jh., Tübingen u . a . 1902-1963; bes. XI, 2 0 6 - 2 7 9 [Nürnberger Kinderpredigten]. - Heinrich Westermayer, Die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenvisitation u. KO, Erlangen 1894.

5. Erste Ausbreitung

und Konsolidierung

(1525-1625)

Den Kirchenordnungen war es um die äußere, den Katechismen um die innere Verfassung des neuen Kirchenwesens zu tun. Um diese durchzusetzen, war eine breitgefächerte und beharrliche Anstrengung nötig, die sich auf die öffentlichen wie auf die häuslichen Sitten, auf die Schulstuben und auf die Rathäuser richtete und sozusagen der Strategie der Haustafel folgte. Dabei mußte nach Lage der Dinge die Predigt vorangehen, und die Theologie ihr in die Hände arbeiten. Sieht man die Auswahl lateinischer Titel vor sich — David —»Chytraeus' Catechesis, Stephans Rudimenta fidei, Wigands Explicationes, Hemmings Quaestiones, Pappus' Hypotypoosis, Martinis Paedagogia, Reudens Disputationes, Bilsteins Institutio, Eccards lsagoge —, dann wird anschaulich, wie sehr jetzt Prediger wie lehrende Theologen die Katechismusthematik mit- oder füreinander bedenken, bis hin zur homiletischen Besprechung der Katechismuspredigt als solcher (V. Strigel 1584) und zur Einreihung in die Lehre von den Amtspflichten, wo sie P. Tarnow 1624 zur Vorbedingung jeder Seelsorge und zur Pflicht aller Amtsränge erklärt. Unter deutschen Titeln rücken zugleich Katechismusübungen, -schulen und -examina mit einer sehr weiten Vorstellung von „Katechismuspredigt" zusammen, ob man an Others innlaytung, Mechlers Sieben-Wochen-Kurse in Erfurt, Aemylius' Summa in den 5 Stücken, Musaeus' Catechistisch Examen, Georg Walthers Hauptartikel oder das Handbüchlein und den wohlgegründten Bericht des M a r tin -»Chemnitz im Corpus Julium (-*Kirchenordnungen) denkt. BeiD. Knauxdorff kann 1575 sogar der Buchtitel sagen: „ . . . in 16 Sermonen, durch Frag und Antwort", und noch 1617 verwendet Johann Arndt dieselbe Überschrift: Catechismuspredigten in Frag und Antwort. Daneben kommt man mit der Katechismuspredigt jetzt auch ins Haus, wobei natürlich das Pfarrhaus vorangeht. Beispiele dafür sind Hegendorffers Conciones domesticae 1538, oder die für seine fünf Söhne und fünf Töchter als Vermächtnis geschriebene Haußkirche des Andreas Fabricius, die man mit Recht zu den schönsten Früchten solcher Buchgattung zählt. Weitere treffliche Arbeiten treten jetzt auch von Laien hinzu, wie zur Bestätigung des zornigen Ausspruchs eines Andreas Schupp aus Braunschweig: „Layen sind keine Gense und Geistlose Menschen!" Dazu gehören Georg Rhaws Kinderglaube, die Haußkirche des Arztes Johann Wittich oder der Bericht und Rechenschafft des Johann von Münster, späteren Amtmanns zu Wied, mit seiner Vorrede „vom rechten Ampte des Haußpredigers". Wie sehr man den Katechismus jetzt sozusagen überallhin mitnehmen will, zeigt auch der Brauch, in der üblichen Sonntagspredigt gleich anzugeben, zu welchem Katechismusstück dieser Text mit seiner Lehre gehöre: In Musaeus' Postillen findet man „ein jeglich Euangelion an seine statt im Catechismo gesetzt" (Vorrede), und für seine Epistelerklärungen versichert er, daß er sich „der einfältigen Wahrheit/nach dem Richtscheidt des C a t e c h i s m i . . . beflissen" habe (Musaeus, Außlegung, Vorrede). Von den vielen sprachli-

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chen Anklängen an den Katechismus gar nicht zu reden, die besonders auch „Kinderpostillen" wie die des Veit Dietrich oder Christoph Fischer zu Begleiterscheinungen der Katechismuspredigten machen, obwohl sie ja nur die Evangelientexte auslegen. Beim „Austeilen des Neuen J a h r s " auf der Kanzel verfährt Veit Dietrich ganz in üblicher Weise, wenn er seine Gratulationen als Haustafelparaphrase in Wunschform präsentiert. Fragt man nach der treibenden Kraft dieser breiten, Generationen übergreifenden Arbeit am Katechismus, dann dürfte die schlichteste Antwort auch die treffendste sein: Es war die Freude darüber, wie überzeugend dort das Evangelium zu Gehör kam. Diese Erfahrung war der innerste Antrieb für die sich in rascher Folge vermehrende Katechismuspredigt; man darf dies über den Verhärtungen theologischer Rechthaberei in jenen Jahren nicht übersehen. Die zentrale Frage, wie der Inhalt einer Evangeliumspredigt gestaltet und vermittelt werden sollte, fand an den Katechismen Anleitung und Antwort. Weil man überzeugt war, daß der Katechismus eben dies hervorragend gebe, sollte er intensiv und extensiv getrieben und eingeprägt werden und wurde nun auf Luthers Spuren immer öfter zum wichtigen Text und Helfer der Predigt. Solcher Überzeugung entspringen die großen Katechismuserklärungen, wie der auf Predigten zurückgehende Catechismus pia et utili explicatione illustratus (1551) des Johannes Brenz mit seinen vielen, auch deutschen Auflagen. Dieselbe Überzeugung steht hinter der frühen, vielgelesenen Homiletik des Urbanus -»Rhegius, „wie man fürsichtiglich vnd ohn ergernis reden s o l . . . " , die nicht für die ängstliche Predigt, sondern für den Vorrang der Sache vor der Polemik plädiert und deshalb auf ihre selber gestellte Frage sachgemäß, mit Predigtentwürfen und einem Katechismuswort an deren Spitze antwortet. Predigten dokumentiert man leichter als Katechesen; darum stellen die Katechismuspredigten in der breiten Katechismustradition ein herausragendes Kontingent. Und wie vor allem die Visitationen nach Katechismen verlangt hatten, so gewann für die Katechismuspredigt nun das Amt des Superintendenten an Bedeutung: Er sollte durch seine Amtswürde das Ansehen der neuen Einrichtung steigern, den Pfarrern mit gutem Beispiel vorangehen, auch ihnen ein solches möglichst gedruckt in die Hand geben; die meisten Autoren der Katechismuspredigt übten ein kirchliches Aufsichtsamt aus. Zur Erstellung solcher Predigtbeispiele boten die Jahrgangsreihen wie die besonderen Katechismuswochen (in Halle evangelium longurn bzw. breve genannt) die beste Gelegenheit. Die ersteren, zahlenmäßig im Vorsprung, konnten von Wort zu Wort vorgehen; die anderen, auf den Spuren der Bugenhagenschen Kirchenordnungen, mußten es überblicksweise oder in der Perspektive einzelner Themen oder loci versuchen. Dabei gibt es 200 Jahre lang kaum einen Band, der nicht, wie es hieß, auf vielfaches Verlangen erschienen wäre; ein beinahe zeitloser Topos der Gattung Predigtbuch. Ihre Beliebtheit erklärt sich wohl daraus, daß man neben der Monotonie der immer gleichen Predigttexte am Sonntagmorgen fast nur noch von Wochenpredigten neue Themen erhoffen konnte. Die nirgends fehlende Widmung an Standespersonen, deren Gattinnen oder Gruppen der Ehrbarkeit samt den kollegialen Empfehlungsgedichten sollte der Werbung dienen und eine allgemeine Aufwertung dieser Einrichtung erwirken. Vermutlich gingen die Hauptwirkungen der Katechismuspredigt von den unbekannten und ungedruckten Predigern aus, doch geben markante Einzelgestalten dem homiletischen Alltag einigen Glanz. Jacob Schenk, Visitator in Freiberg, hat „den Reigen eröffnet" (Reu, 1/2,1, 90f), als er seine Predigten, mit den zehn Geboten beginnend und nach Hauptstücken getrennt, 1541 und 1542 erscheinen ließ. Ganz auf Luthers Spuren hat sich in Joachimsthal „der alte Herr Johann Mathesius" bewegt, mit seinen hinterlassenen 52 Katechismuspredigten (7 über das 4. Gebot), 1554 gehalten, und den 16 Abendmahlspredigten; mit dem Katechismuslob in der 6. seiner Predigten über Luthers Leben und seiner ganz dem 2. Artikel nacherzählten Geschichte Christi; die Haustafelpredigt hat er durch 25 Hausgebete und ein Lehrgedicht über die „Oeconomia" ersetzt. Der Mansfelder Cyriacus Spangenberg ist außer durch 63 Katechismus- und Haustafelpredigten (1564) vor allem durch seine Cithara Lutheri mit 77 Liedpredigten, darunter 28 über Katechismus-

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lieder, berühmt g e w o r d e n . Aus J o a c h i m s t h a l s t a m m t auch Christoph Fischer (Vischer), Superintendent in Schmalkalden, Meiningen, zuletzt in Celle; außer 5 3 Katechismus-, 17 Haustafel- und 8 Abendmahlspredigten hat er u. a. auch solche über die liturgisch wichtigen vier neutestamentlichen H y m n e n und einen T r a k t a t über die Erziehung von Fürstenkindern hinterlassen. Im übrigen findet m a n fast alle wichtigen N a m e n der zeitgenössischen Predigtgeschichte bei den Katechismuspredigern wieder: Wer dort eine eigene Handschrift besitzt, zeigt diese auch hier, und der Wandel der Stilmerkmale und des „ G e s c h m a c k s im P r e d i g e n " trifft beide ganz gleich, einerlei ob man nach Brenzens Art biographisch mit der Taufe einsetzt und bei den „Schlüsseln des H i m m e l r e i c h s " endet oder sich Luthers Aufriß anschließt. Die „ K a t e c h i s m u s w o c h e n " veranlaßten häufig dazu, den erwarteten Überblick unter einprägsame Leitfiguren zu stellen, die schon 1666 gesammelt besprochen wurden (G. Bernstein) und sich lange hielten. N o c h um 1 8 5 0 m a c h t Fr. Ahlfeld d a v o n G e b r a u c h . Doch muß man hauptsächlich auf einige Nebenlinien hinweisen, die für die Entwicklung der ganzen Gattung, z.T. auch über die erste Phase hinaus, kennzeichnend blieben. Da ist vor allem die Rolle der Haustafel, die immer mehr mit dem Katechismus verschmilzt und das Feld seiner alltäglichen, öffentlichen wie häuslichen Anwendung absteckt. So Ägidius -»Hunnius, Friedrich Fischer aus Bautzen, Paul Nicander aus Halle, der nach dem frühen Tod seines Bruders die fehlenden Haustafelpredigten nachbringt, oder Friedrich Roth in Eisleben mit 17 Katechismuspredigten, einer Hauspostille als Kinderexamen, einem Hausmütter-ABC, zwei Predigten über Kinderzucht und einer Geschichte der Susanna, „wo sie hingehöre im Catechismo". Auch viele Predigten über den Ehestand zählen dazu, Hieronymus Mencels 74 Hochzeitspredigten ebenso wie die ihnen angefügte „Gebetsordnung nach den Stücken des Hl. Catechismi" oder sein Mustergebet für die Seelsorger, das ganz der Ordnung der Haustafel folgt. Mit der Haustafelfrömmigkeit am nächsten verwandt erscheint die biblische Weisheitsliteratur: Friedrich Roth hat 132 Predigten über das Buch Sirach gehalten, Conrad Dieterich den Institutiones Catecheticae zweimal zwei Predigtbände in Folio über den Prediger Salomo und das Buch Weisheit folgen lassen. Auch Peter Glaser hat 1572 alle 3 Bücher Salomos „unter 150 Titel und Locos nach den Tugenden und Lastern der zehen Gebote zusammen gezogen". Eine andere Nebenlinie hat Nikolaus —»Seinecker neben seinen zu einer paedagogia christiana umgeschriebenen Katechismuspredigten begründet, als er bestimmte Psalmen fest mit den Katechismushauptstücken verband. Unter dem Titel Catechismus Davids ist daraus eine Tradition geworden, die A. Fabricius in seine Hauskirche, M . Bischoff erweiternd in seinen kleinen Katechismus übernahm, die Melchior Sax in Predigten über den 34. Psalm variierte und Cornelius Becker auf den Reim brachte: „Laß Dauid seyn ein Mann/der Catechismum predigen kan". Am breitesten hat Heinrich Heshus diese Linie in seiner Psalmocatechesis ausgezogen, indem er den Hauptstücken und jeder der 60 mit Psalmzitaten überfüllten Predigten einen Leitpsalm voranstellt; eine Manier, die aber auf ihre Weise Katechismus und Bibel, Gebet und Lehre ineinander aufgehen lassen möchte. Die Liedpredigt ist ein weiterer Nebenstrang, der auch das Große Kirchengebet, Tedeum wie Litanei einbezieht. Die Linie verläuft von Cyriacus Spangenberg her über Henricus Decimator, Nicanders Güldenes Kleinod (Teil 1 und 3) und die Homiliae hymnodicae des M . Crusius (53 Liederklärungen, von ihm nach Vorlagen Lauterbachs 1598/99 griechisch erstellt und 100 Jahre später in Arnstadt lateinisch erschienen, darin 8 Catechismuslieder und eine Litaneipredigt Hafenreffers) bis zu Heinrich Georg Götze und Erdmann Neumeister, von denen sie besonders dicht mit der Katechismuspredigt verflochten wurde. Es gibt auch einen Brenzisch-Schwäbischen Strang. Zu ihm zählen 25 Katechismuspredigten von neun Tübinger Predigern, die M . Crusius als Auswahl aus hunderten griechisch und lateinisch nachgeschriebenen Tübinger Predigten in seiner Civitas Coelestis vorgestellt hat. Dazu gehören, um ein paar Vertreter zu nennen, die zwei Lauinger Zehner-Reihen Jakob -»Andreaes, die Eßlinger Jahrgangsreihe des älteren Lucas Osiander, samt Haustafel, und des Mömpelgarter Superintendenten Caspar Lutz Catechetischer Echo, die ihren Katechismus-Erzvater Brenz wohl an Volkstümlichkeit, aber schwerlich an theologischem Format übertreffen. Man darf dabei Ulm nicht übergehen, wo Straßburgische, Brenzische und oberdeutsche Einflüsse auf Katechismen (Konrad Sam), Schulen (Konrad Dieterich) und Prediger (Ludwig Rabus) einwirken; in einem Rekapitulationsregister vermutlich ungedruckter Predigten findet man einen Rabus vorschwebenden „geistlichen Bauplan": 41 Katechismuspredigten legen das Fundament, 12 Predigten gegen die Hauptlaster dienen der Trümmerbeseitigung, 83 Lehrpredigten zu allen Loci vollenden den Bau. Keine bloße Seitenlinie, sondern ein gelegentlich überbordender, wenn auch zeitbedingter Wesenszug der Katechismuspredigt ist allerdings die konfessionelle Polemik, die sich zuweilen vom

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Calvinismus noch verwerfungsfreudiger absetzen kann als von Rom. So hat Polycarp Leyser drei Achter-Reihen von Katechismuspredigten über Calvinismus, Katholizismus und Christianismus gehalten, und zwar der evangelischen Buße das wahre Christentum vorbehalten, sich aber im Streit nicht besonders bußfertig gezeigt. Auch bei Artomedes in Königsberg kontrastiert die anticalvinische Polemik zuweilen eigenartig mit seiner freundlichen Rücksicht auf die frierenden Kinder, die sie anhören müssen. Doch während Daniel Cramer seine „vernünfftige, lautere Milch des Catechismi Lutheri" mit 100 Streitfragen gegen die Calvinisten würzt, gibt es auch die erklärte Bereitschaft eines Drabitius, sich bei den strittigen Fragen der Confessio Augustana in seinen Predigten nicht nur um Verständlichkeit, sondern auch um Verständigung zu bemühen. Andererseits sollte die Empfehlung aus dem Jahre 1599, Luthers Katechismus mit 20 Fragen aus dem „Heidelberger" zu erläutern, der beabsichtigten Calvinisierung Anhalts dienen. Daß die Katechismuspredigt auch Kirchenkunde im engeren Sinne betreiben konnte, zeigt Heinrich Salmuth, wenn er die Leipziger Kirchenordnung mitauslegt, oder Caspar Stiller, wenn er sich ausführlich über die Anstandsregeln bei der Kelchkommunion äußert. Und daß mit den Erwartungen an die Katechismuspredigt auch die Zahl der Exempelbücher und Nachschlagewerke (Hondorf/ Sturm, Lonicer, Zacharias Praetorius) ebenso wie das Angebot gesammelter Dispositionen (Chr. Barbarossa, Balth. Müller) zunimmt und daß in den meisten Bänden die Register für den Praxisgebrauch viel Sorgfalt erfahren, ist begreiflich. Auch gibt es natürlich Prediger, die sich auf ein einzelnes Hauptstück beschränken oder besonders auf ein vernachlässigtes Lehrstück konzentrieren, etwa den Artikel von den letzten Dingen (Siegfr. Saccus Vom ewigen Leben, Ph. Nicolais Frewdenspiegel, Joh. Mylmanns Himmlisches Frewdenpanckett). Wenn Andreas Pangratius aus Hof mit seinen 177 „rhetorisch ausgearbeiteten", von seinem Schwager Cottmann postum abgeschlossenen Katechismuspredigten in fünf Bänden am liebsten eine Postille ersetzen möchte, so hat er damit zwar nicht den Schritt in die Vormittagspredigt geschafft, dies wohl auch gar nicht gewollt, aber äußerlich eine Größenordnung erreicht, die sonst nur für die kommende Phase kennzeichnend ist. Stärker in die Zukunft scheint Gregor Strigenitz zu weisen, wenn er aus theologischen und didaktischen Gründen die Katechismuslehrstücke erzählerisch in der evangelischen Geschichte verankert (im Gang nach Emmaus oder im Ostermahl Christi am See Genezareth), oder wenn er beginnt, eine Predigtreihe über das Gewissen zu halten.

Nicht jede Katechismuspredigt, die gedruckt erschien, ist theologisch oder homiletisch bemerkenswert. Darin, daß man nicht die Fülle aller Texte sichten und auswerten kann, hat Gerhard von Zezschwitz völlig recht. Daß dies „eine nach den Proben auch sehr wertlose Aufgabe w ä r e " , dieses Vorurteil bedarf jedoch der Berichtigung. Denn es ist dem Ernst, Fleiß und Einfallsreichtum dieser ersten Generationen gelungen, in einem Jahrhundert einen neuen Typ evangelischer Christlichkeit auf sichere Füße zu stellen. Dazu hat die durchschnittliche Katechismuspredigt mehr beigetragen als die neben oder in ihr versammelte rabies theologorum. Ihre erste Phase geht mit zwei Spitzenwerken zu Ende: Das eine ist die Hinterlassenschaft des Valerius Herberger, des Predigers am „Kripplein Christi", der Notkirche von Fraustadt. Seine fast zu bilderreiche und doch herzanrührende Rhetorik umkreist beharrlich den Katechismus: Die sechs Hauptstücke sind ihm Stationen eines „Denkrings", der über die rechte Heiligung nachdenken hilft - so in den 593 Meditationen seiner Magnalia Dei. In der Evangelischen wie der Epistolischen Herzpostille hat er die Themen und Paraphrasen aller Hauptstücke untergebracht. Die Predigt zur Ratswahl oder zum Reformationsfest wird zum Katechismusprogramm, die Beerdigung einer alten Schulmeisterin zur Katechismusfeier, das Buch Sirach zum Katechismus-Hausbuch; und in seine Trauerbinden flicht er einen „Katechismus für K r a n k e " mit ein. Das andere, noch wirksamere Werk sind Johann Arndts Katechismuspredigten: ein Jahrgang mit 60 Predigten, dem noch vier Wochenreihen angehängt sind; alle durch ihre Exordien, Fragen, Gliederungen auch zu Predigthilfen bestimmt; homogener Bestandteil eines weitgespannten, unaufgeregten, der Frage nach dem „wahren Christentum" verpflichteten Gesamtwerks. Katechesen und Katechismuspredigten sind als Sitte dauernd stützungsbedürftig geblieben, von Routine und Formalisierung bedroht; darüber hinaus waren die Schatten der Glaubensprüfung und Disziplinierung aus ihnen nur schwer zu verbannen. Es hat auch nicht an peinlichen Sanktionen gefehlt: von Geldbußen, Kirchenzuchtmaßnahmen, Haftandrohung für Eltern, die ihre Kinder hartnäckig fernhielten, bis zur verweigerten Armensuppe, wenn man nicht zum Katechismus erschien. Damit hatten Herbergers erbauli-

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ches und Arndts eher schulmäßiges W e r k n i c h t s im Sinn. D a ß der G l a u b e kein b l o ß e s Schulwissen bleibe und G e m ü t wie L e b e n s e r f a h r u n g n i c h t in einem vergitterten Lehrgebäude unter rechtgläubigen F o r m e l n v e r k ü m m e r e , d a r a n w a r ihnen v o r allem gelegen, und d a m i t w a r auch das T h e m a der k o m m e n d e n Phase gestellt. A m W e r k dieser beiden so temperamentsverschiedenen A u t o r e n , an H e r b e r g e r s ü b e r s c h w e n g l i c h e r wie an Arndts ruhiger S p r a c h e läßt sich ablesen, w a s die Katechismuspredigt in ihrer ersten E p o c h e tatsächlich erreicht h a t : Eingebettet in G e b e t und Weisheit der Bibel als Q u e l l h o r i z o n t , ist der K a t e c h i s m u s zum M e d i u m der evangelischen G l a u b e n s s p r a c h e g e w o r d e n . E r ist durch Predigt und Lehre, G e b e t und G e s a n g in die K ö p f e und H e r z e n , in die öffentliche wie in die intime F r ö m m i g k e i t s s p r a c h e eingedrungen und hat entscheidend dazu geholfen, das protestantische C h r i s t e n t u m s p r a c h m ü n d i g werden zu lassen. Quellen

und

Literatur

Georg Aerailius (Oraler), Enchiridion . . . Summa aus den fünff Stücken . . . dem gemeinen Man und einfeltigen Pfarrern zum besten..., Stolberg 1557. - Johann Agricola, Eine Christi. Kinderzucht, Eisleben 1527. - Jacob Andrea, Drey u. dreissig Predigten v. den fürnembsten Spaltungen . . . aus den sechs Hauptstücken, Tübingen 1558. - Ders., Einfeitiger bericht/wie ain yeder Christ antworten soll auß seinem Catechismo/warumb er nit mehr zu der Meß gehe..., Tübingen 1558. - Ders., Zehen Predigten v. den sechs Hauptstücken Christi. L e h r . . . zu La wgingen 1560, Tübingen 1562. - Fürstenthum Anhalt, Katechismus für die christl. Jugend, 1596. - Caspar Aquila, Des kleinen Catechismi Erklerung..., Erfurt 1540. - Johann Arndt, Der gantze Catechismus . . . in sechzig Predigten (1617) . . . Darnach kürzer In acht Predigten Zwey unterschiedliche mahl . . . Item: Die Hauß-Tafel..., Leipzig/Görlitz 1735 u. ö. - Sebastian Artomedes, Acht Predigten von dem Hochw. Abendmahl . . . zu Königsberg, Leipzig 1605. - Ders., . . . Erklerung des hl. Catechismi sampt der Haußtafel..., Leipzig 1605 [97 postum hg. Predigten], - Peter Artopaeus, Postilla . . . una cum Catechismi scholiis, Basel 1550. - Johann Assum, Sieben Abendmahlspredigten, Nürnberg 1612. - Ders., Spiegel Deß Erkendtnuß Gottes u. Christi..., Frankfurt 1590. - Johann Aumann [Sulingen], Je ler.ger, Je lieber..., Magdeburg 1597. - Christoph Barbarossa, Dispositiones Catecheticae, Hamburg 1595, Goslar 1611/1618. - Melchior Bischoff [Eißfeld], Der kleine Catechismus samt Fragstücken..., Leipzig 1599. - Johannes Brenz, Catechismus pia et utili Explicatione illustratus, Frankfurt 1552 u. ö. [auf Predigten zurückgehend]. - Ders., Predigten des Johannes Brenz, hg. v. Ernst Bizer, Stuttgart 1955. Augustinus Brunnius, Zwölff Predigten vber die zwölff Artickel deß Christi. Glaubens..., Frankfurt 1594. - Johann Bugenhagen, Katechismuspredigten 1525 u. 1532, hg. v. Georg Buchwald, 1909 (QDGR 9). - Ders., Katechismuspredigten vom Jahre 1534, eingel. u. hg. v. Georg Buchwald: ARG 17 (1920) 9 2 - 1 0 4 . - Andreas Celichius, Heuptartickel Christi. Lere, Leipzig 1599. - Martin Chemnitz, Handbüchlein christl. Lehre; Ders., Wohlgegründter Bericht: beides im Corpus Doctrinae Julium, 1576. - David Chytraeus, Catechesis, Rostock 1554. - Ders., Regula vitae, Wittenberg 1555 2 1556, Frankfurt 3 1582. - Antonius Corvinus, Alle fürneme Artickel . . . Gebets weise gesteh . . . , Frankfurt 1554 2 1556. - Ders., Expositio..., Wittenberg 1537. - Daniel Cramer, De distinguendo Decalogo, Wittenberg 1598. - Ders., Vernünfftige, lautere Milch . . . in X Predigten, Stettin 1621 2 1635. - Adam Crato, Christi. Schulpredigten, Magdeburg 1585. - Joachim Cruciger,... ein vierfaches Kräntzlein der Frommen . . . in 8 Predigten, Wittenberg 1624. - Martin Crusius, Civitas Coelestis..., Tübingen 1578. - Ders., Homiliae Hymnodicae [1598f], Arnstadt 1705. - Henricus Decimator, Catechismi Predigten . . . Sampt Morgen-, Abend- u. Tisch-Segen u. der gantzen HaußTafel [47 u. 16 Predigten], Mühlhausen 1594. - Ders., Litania, d. i. Gemein Gebet Christi. Kirchen . . . Und das Te Deum laudamus..., Magdeburg 1615 [fortlaufende Erläuterungen]. - Conrad Dieterich, Anführung zum Catechismo, wie man dem . . . recht unter Augen sehen, erwegen u. lernen soll, Frankfurt 1616. - Ders., Buch der Weisheit, aus dem Catechismo dargethan..., Ulm, 11627, II 1632. Ders., Ecclesiastes, 2 Bde., Ulm 1642, Nürnberg 1664. - Ders., Epitome [Kurzfassung zum Schulgebrauch], (lat.) Gießen 1615, (dt.) Gießen 1627, Ulm 1642. - Ders., Institutiones Catecheticae, Gießen 1613, (dt.) Frankfurt 1688, Neudr. 1834. - Veit Dietrich, Kinderpostille, Nürnberg 1546, Frankfurt 1548, neu hg. v. Johann Tobias Müller, Stuttgart 1845 (Evangelien- u. Passionsgesch. mit vielen Anspielungen auf Katechismus u. Haustafel). - Laurentius Drabitius, Confessio Augustana... in etlichen Predigten, Leipzig 1594. - Paul Eber, Catechismus Predigten... Sampt seinem newen Jars Gebet Anno 1562, Wittenberg 1577 [11 Predigten]. - Ders., Erklerung der Definition oder Beschreibung G o t t e s . . . durch den seligen M a n . . . Phil. Melanchthonem... Christi, außgelegt u. in Elff predigten verfasset..., postum Magdeburg 1588. - Heinrich Eccard, Isagoge in Catechismum..., Jena 1613. - Hermann Ewald, Christi. Catechismus u. Kinderlehr, wie die in Hessen getrieben wird, in 12 Predigten, Marburg 1612, Schmalkalden 1612. - Andreas Fabricius, Die Hauskirche . . . wie ein Hausvater . . . daheime sein Heufflein zu Gottes Wort u. dem lieben Catechismo reitzen s o l . . . ,

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Eisleben 1586. - David Ferchel [Jüterbogk], Remora spiritualis... wie ein Geistlicher Kämpfer den Zorn Gottes auffhalten... m ö g e . . . inn Erklerung deß H. Vatter unsers..., Frankfurt 1604. - Christoph Fischer, Christi. Auslegung . . . der Haustaffel, Ulssen 1576 [17 Predigten]. — Ders., Fünff Heuptstücke . . . geprediget, Leipzig 1573 [52 Predigten]. - Ders., Kinderpostille, Schmalkalden 1595. - Ders., Die vier freudenreiche Meistergeseng . . . (gepredigt 1567), Ulssen 1588. - Friedrich Fischer (Bautzen), Decalogus . . . in 38 Predigten, Wittenberg 1610. - Ders., Mysterio-Didascalia, Wittenberg 1611 [Sakramente]. - Ders., Oratio Dominica . . . in 15 Predigten, Wittenberg 1611. - Ders., Symbolum Apostolicum . . . in 30 Predigten, Wittenberg 1609. - Ders., Paedagogia Christiana . . . in 20 Predigten . . . , Wittenberg 1613 [Haustafel usw.], - Joh. Förster, Lutherisch Catechismus Schul in 5 Predigten, Wittenberg 1609. - Chilian Friederich, Kurtze Erklärung der 5 Predigten..., Magdeburg 1567 [aus Quatemberpredigten herv.geg.]. - Christian Friederich, Geistl. Handbüchlein, In welchem . . . die 6 Hauptstücke . . . bekrefftiget werden..., Leipzig 1590. - Sebastian Fröschel, Catechismus, wie der in der Kirchen zu Witteberg nu viel jar auch bey leben . . . Lutheri ist gepredigt worden..., Wittenberg 1559, Amberg 2 1560. - Nicolaus Gallus, Catechismus Predigsweise gestelt..., Regensburg 1554 [28 Predigten], - Johann Garcaeus, Von wahrhafftigem Gebrauch des Catechismi, Magdeburg 1566 [6 Predigten]. - Joachim Gifftheil, Haußbibel fürnemster Lahr . . . in Fragstücklin verfasset..., Pforzheim/Straßburg 1580. - Johann Gigas, Catechismuspredigten, Frankfurt/O. 1578 [24 Predigten, 15 über den Dekalog]. - Ders., Von der hl. Tauffe zwo kurtze Predigten, Stettin 1570. Petrus Glaser, Der gantze Text der dreyen Bücher Salomonis . . . Unter 150 T i t e l . . . nach den fügenden vnd lästern der Zehen Gebot zusammen gezogen..., Leipzig 1572. — Ders., Das Vater vnser außgelegt vnd in Gebet stückweiß geordnet, Leipzig 1571. - Caspar Gräter, Catechesis... zu lieben Göttlich geschrifft... wie derselbigen Abbreuiatur zu lesen sey..., Heilbronn 1528 2 1530. - Alexius Grosse, Einfältige Weise die 10 G e b o t e . . . täglich... zu betrachten, Wittenberg 1548. - Johannes Gryphius, Hb. über die 6 Hauptstück... aus den hl. Vätern, Basel 1570. - Johannes Hauber, Wegweiser der Layen in 15 Predigten [aus Biberach], Tübingen 1610 2 1620. - Johannes Hefentreger, Katechismusordnung mit Haustafel für Waldeck, Waldeck 1533 [nicht gedr.; vgl. Reu III, 1 . 2 , 1 0 8 4 f (s.o. Quellen zu 1)]. - Christoph Hegendorfer, Conciones Domesticae, Magdeburg 1538. — Esaja Heidenreich, Warer Christen Gebetsspiegel . . . Vnter allerley Creutz . . . sampt . . . Auslegung des hl. Vater vnsers, Leipzig 1574, Eisleben 2 1596 [14 Predigten]. - Nicolaus Hemming, Quaestiones Catecheticae, Kopenhagen 1560. - Ders., Weg des Lebens, Frankfurt 1582. - Georg Heniken, Außlegung des Vater unsers, Wittenberg 1534. - Anton Herfort, Drey gute Predigten v. H. Abendmal..., Frankfurt/O. 1578. - Jacob Herrenschmidt, Dormi secure oder Drey Predigten über Luthers SchlaffSeegen, Wittenberg 1611. - Ders., Litania evangelica, Neujahrspredigt, Nördlingen 1654. - Heinrich Heßhusen [Superintendent in Hildesheim], Psalmocatechesis, 2 Bde., Leipzig 1594. - Tilemann Heßhusius, Sechs Predigten v. Gesetz Gottes, Lauingen 1568. - Ders., Vier Predigten v. Abendmahl, Jena 1573. - Heinrich Homelius, Enchiridion... für die gemeinen Pfarherr u. Prediger..., Magdeburg 1591. - Hortulus animae ev. (1520), Faks. Ausg., hg. v. Ferdinand Cohrs, Leipzig 1927. Andreas Hondorff/Wenzel Sturm, Promptuarium exemplorum . . . nach Ordnung der hl. Zehen Gebot Gottes..., Leipzig/Eißleben 1597. - Caspar Huberinus, GrKat 1543, KIKat, Augsburg 1544. Ders., Mancherley Form zu predigen v. den vornehmsten Stücken, so in der Christi. Kirchen täglich getrieben werden sollen, Nürnberg 1565. - Ders., Vierzig kurtze Predigten über den Catechismum für die Hausväter, Nürnberg 1566. -Egydius Hunnius, Catechismus oder Kinderlehre..., Frankfurt 1576 2 1586 [35 Predigten], - Ders., Christi. Haußtafel..., Marburg 1586 [12 Predigten]. - Leonardus Jacobi [Calbe], Parvus Catechismus..., Leipzig 1552. - Paul Jenisch, Zehen Predigten v. der Kinderzucht, Leipzig 1616. - Ders., Seelenschatz, Leipzig 8 1616. - Christoph Irenaeus, Auslegung der Articul unsers Christi. Glaubens..., Eisleben 1562. - Joh. Kauffmann, Opusculum Catecheticum, d.i. Catechismus Predigten gerichtet auff einen Christi. Ritter, Leipzig 1605. - Daniel Knauxdorff, Ein sehr nützliches u. tröstliches Handtbüchlein... in Sechtzehen Sermon durch Frag u. Antwort, Mülhausen 1575. - Jakob Lachkern, Kurtze u. nützliche Betrachtung der 6 S t ü c k e . . . , Nürnberg 1568. - Joh. Langer, Außlegung des h. Vater unsers, Coburg 1549. - Polycarp Leyser, 8 Bußpredigten nach Ordnung des Catechismi, Dresden 1599 = zusammen hg. unter dem Titel Christianismus, Papismus & C a l u i n i s m u s . . D r e s d e n 1602. - Ders., 8 Catechismuspredigten... in welchen Stücken die Caluinisten mit uns streitig sind, Leipzig 1596. - Ders., 8 Catechismuspredigten über ev./röm. Streitsachen, Dresden 1599. - Wenceslaus Linck, Eine heilsame L e h r e . . . durch die 7 Seligkeiten als 7 Seulen des geistl. Baues..., Nürnberg 1519. - Ders., Wie man . . . die Kranken trösten möge durchs Vaterunser, Zehen Gebot u. Artickel des Glaubens samt Nutzunge der Sakrament, Nürnberg 1529. Phil. Lonicer, Theatrum Historicum s. Promptuarium (nach den 10 Geboten), Frankfurt 1598. Kaspar Lutz, Catechismus-Kleinot..., Mömpelgart 1591 [Sammelwerk, u.a. mit J . Andreaes Katechismuspredigten]. - Ders., Christi. E c h o . . . nach den sechs stucken in Frag und Antwort..., Straßburg 1586 [aus Katechismuspredigten in Lustnau u. Merklingen]. - Ders., Christi. Blumgärtlein... nach den Gebotten Gottes außgetheilet, Mömpelgart 1592. - Ders., Ein Euangelisch vnd Cathechetisch Gespräch... zum Abendmal..., Mömpelgart 1588. - Ders., Welt Spiegel... Gesprächs weise

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[zwischen Z a c h a r i a s u. Christoph] f ü r g e s t e l l e t . . . mit Haußtäffelein u. allg. K i r c h e n g e b e t . . . , M ö r a pelgart o . J . - G e o r g M a j o r , Dreizehn Predigten v. den fürnehmsten F e s t e n . . . , Wittenberg 1563. Lucas M a r t i n i , E p i t o m e Religionis C h r i s t i a n i . . . , Helmstedt 1589. - Ders., Paedagogia Christiana, Leipzig 1601. - J o h a n n M a t h e s i u s , B e k a n d t n u ß V o m H . A b e n d m a h l . . . inn sechzehen P r e d i g t . . . , N ü r n b e r g 1585. - Ders., Historien v. . . . Luthers A n f a n g , Lehre, L e b e n . . . 1565, Nürnberg 1585. Ders., Katechismus, d. i. T r o s t r e i c h e u. Nützliche Auslegung . . . inn S. J o a c h i m s t h a l . . . S a m p t . . . schönen h a u ß g e b e t t l e i n . . . , Leipzig 1586 [52 Predigten]. - Egydius M e c h l e r , Catechismus, W i t t e n berg 1561 [7-Wochen-Kurs in Erfurt]. - David M e d e r , Fragstücke, Leipzig 1595, Nürnberg 1612 [nach den Nürnberger Kinderpredigten]. - H i e r o n y m u s M e n c e l , Die fünff H e u p t s t ü c k . . . S a m p t A b e n d / M o r g e n / u . Tischgebetlein Item der H a u ß t a f f e l . . . , Eißleben 1593 [74 Predigten]. - M a r t i n M i r u s , Predigten v. A b e n d m a h l , Leipzig 1588. - J o a c h i m M ö r l i n , D e r kleine Catechismus L u t h e r i . . . für die G e m e i n zu G ö t t i n g e n . . . , Göttingen 1547. - Ders., Postilla oder summarische Erinnerung bei den sonntäglichen Jahresevangelien u. C a t e c h i s m i , postum Erfurt 1587. - Ambrosius M o i b a n u s , Catechismus auff zehen A r t i c k e l . . . , Wittenberg 1535. - J o h a n v. M ü n s t e r , Ber. u. R e c h e n s c h a f f t . . . auff dem hause V o r t h l a g e . . . V n n d mit dem Haußgesind d a s e l b s t . . . , Bremen 1590. M i t Vorr. v. rechten A m p t e eines Haußpredigers, H a n a u 2 1 5 9 9 . - B a l t h a s a r M ü l l e r , Dispositiones c o n c i o n u m super Catechismum L u t h e r i . . . Item super t a b u l a m O e c o n o m i c a m , Leipzig 1607. - Simon M u s a e u s , Außlegung aller Episteln, F r a n k f u r t 1585. - D e r s . , Catechistisch E x a m e n . . . , T h o r n 1569. - Ders., Postilla d. i. Außlegung der Evangelien, Frankfurt 1583. - Ders., Predigten v. hl. A b e n d m a h l , Ursel 1 5 6 8 . - Andreas M u s c u l u s , Catechismus, In kurtz Gebetbüchlein v e r f a s s e t . . . , Erfurt 1565 (Frankfurt 1565?). - Ders., Catechismus, K i n d e r p r e d i g t . . . der Stadt N ü r n b e r g . . . S a m p t Summarien vber alle stuck des C a t e c h i s m i , F r a n k f u r t 1566. - G e o r g M y l i u s , E x p l i c a t i o Augustanae Confessionis, J e n a 1 6 0 4 . - J o h a n n e s M y l m a n n , 12 Panckettpredigten [über die „letzten D i n g e " ] , Leipzig 1604. - N i c o laus Nicander, 16 Predigten über den C a t e c h i s m u m Lutheri, darinnen das 1. u. 3 . Stück gesangsweise, die andern 3 nach den 7 Umbständen [Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, q u o m o d o , q u a n d o ] erkleret werden, Halle 1599. - Paul N i c a n d e r , Außlegung der Haußtaffel in 13 Predigten, H a l l e 1598. - Philipp N i c o l a i , Auslegung der H a u p t s t ü c k . . . , F r a n k f u r t 1604. - Ders., Frewden Spiegel deß ewigen L e b e n s . . . , Frankfurt 1599. - H i e r o n y m u s Opitz, E x a m e n L a i c u m , Bischoffswerda 1 5 8 3 . Andreas Osiander, Kinderpredigten der Brandenburg-Nürnbergischen K O 1533: E K O 11 (1961) 2 0 6 - 2 7 9 . - Andreas Osiander [Kanzler in T ü b i n g e n ] , C o m m u n i k a n t e n b ü c h l e i n (1587), T ü b i n g e n 1590. - Lucas Osiander, 5 0 Predigten über den Catechismus [aus Eßlingen], T ü b i n g e n 1600 2 1 6 0 2 . D e r s . , 15 Predigten über die Haußtaffel, T ü b i n g e n 1610. - D e r s . , 8 Predigten über das Vater unser [an Bauernpostille angebunden], T ü b i n g e n 1601 2 1 6 0 9 . - B a l t h a s a r O s t e n , Apparatus Catecheticus practicus: Statuta curiae coelestis [40 Dekalog-Predigten]; S y m b o l u m militis Christiani [37 C r e d o Predigten]; A r m a t u r a militis Christiani [21 Vaterunser-Predigten]; Investitura regni Caelestis [11 Tauf-Predigten]; Regimen Ecclesiasticum [4 Predigten über die Schlüsselgewalt]; R e f e c t o r i u m viventium et morientium [8 Abendmahls-Predigten], Leipzig 1617. - J a c o b O t h e r , Ein kurtze i n n l e y t u n g . . . , Eßlingen 1532. - Ders. (Hg.), Geilers v. Kaisersberg Predigten über die oratio dominica [vor 1513]. - Andreas Pangratius [Superintendent in H o f ; M i t H g . S a l o m o n C o t t m a n aus Kitzingen], Christi. Catechismi-Predigten . . . nach R h e t o r i s c h e r Disposition . . . Beneben auch gründlicher Anzeigung, welcher Gestalt solche Predigten an statt einer Postill das gantze J a r vber mit einem sonderlichen L o c o C o m m u n i können fruchtbarlich gebraucht w e r d e n . . . , 5 T . , Frankfurt 1604 [177 Predigten], - J o h a n n Pappus, Eine christl. Predigt v. dem A m p t , Tugenden u. Wahl eines Christi. Bischoffs, F r a n k f u r t 1592. - D e r s . , Hypotypoosis D o c t r i n a e Christianae, Straßburg 1619. - G e o r g Pasor, Paedagogus C h r i s t i a n u s . . . , H e r b o r n 1614. - M o s e s Pflacher, C a t e c h i s m u s . . . in zwen T h e i l verfaßt [11 u. 4 0 Pr. über die Brenzschen Fragstücke], postum T ü b i n g e n 1599. - J o h . Pistorius, Catechismi expositio, H a m b u r g 1550. - Z a c h a r i a s Praetorius [Eisleben], Sacer T h e s a u r u s . . . darinnen . . . der gantze Catechismus, Euangelia u. Episteln . . . Sprüch, Historien u. E x e m p e l altes u. newes T e s t a m e n t s neben etlichen . . . Psalmen Dauids . . . erkläret, F r a n k f u r t 2 1 5 7 7 . —Ders., Sylva P a s t o r u m , darinn 64 C a t e c h i s m i - P r e d i g t e n . . . , M a g d e b u r g 1576. - Ludwig R a b u s [Superintendent in U l m ] , 2 Recapitulationspredigten über den Verstand der 6 H a u p t s t ü c k e , u. über 9 H a u p t = Laster, Ulm 1560, Straßburg 1578. - J o h a n n M i c h a e l R e u (Hg.), Quellen ( s . o . unter 1 ) . - A m b r o s i u s R e u d e n , C a t e c h e sis T h e o l o g i c a , H a m b u r g 1590. - G e o r g R h a w , Kinderglaube, Wittenberg 1 5 3 9 [für seine T ö c h t e r ] , Urbanus R h e g i u s , Erclerung der z w ö l f artickel Christiichs g l a u b e n s . . . , Augsburg 1523. - Ders., F o r m u l a e caute loquendi W i t t e n b e r g 1535; dt.: W i e man fürsichtiglich und ohn ergernis reden sol von den fürnemesten Artikeln Christlicher Lehr/für die jungen einfeltigen Prediger, W i t t e n b e r g 1 5 3 6 . - M a t t h i a s R i t t e r , 2 7 Predigten v. H . A b e n d m a l , F r a n k f u r t 1584. - F r a n c . R o s e n t r i t t , . . . kurtze S u m m a u. E r k l ä r u n g . . . , W i t t e n b e r g 1587. - B a r t h o l o m e u s R o s i n u s , Kurtze Fragen vnnd a n t w o r t . . . , Regensburg 1 5 8 1 . - Friedrich R o t h , Aller Christi. H a u s m ü t t e r A B C , Erfurt 1589. - D e r s . , D a s B u c h J e s u s Sirach . . . Die Geistl. Z u c h t . . . In 132 Predigten . . . auff die Lere des . . . Catechismi gerichtet, Eißleben 1586. - Ders., Historia Susannae, w o sie hin gehöre in unserm C a t e c h i s m o , Eisleben 1581. D e r s . , 17 Predigten über den kleinen C a t e c h i s m u m . . . , Leipzig 1581. - Heinrich R o t h , Catechismi

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Predigt, Erfurt 1573 [1. T. 2 0 , 2 . T. 14 Predigten, Haustafel u. Ps 131]. -Sigfrid Saccus, Ordentliche u. tröstliche erklerung des letzt Artickels unsres Christi. Glaubens Vom Ewigen Leben, in 20 Predigten..., Magdeburg 1594. - Michael Sax, Dauids Catechismus, d.i. 6 Predigten über den 34. Psalm, Darin der gantze Catechismus . . . erkleret wird . . . , Magdeburg 1601. - Ders., 20 Nütze Predigt über die Hl. Zehen G e b o t . . . , Magdeburg 1604. - Heinrich Salmuth, Catechismus . . . samt der Leipziger KO in 30 Predigten erkläret, Leipzig 1581. - Ders., Erklärung der Hauß Taffei in 15 Predigten, Leipzig 1584. - Konrad Sam, Christenliche vnderweysung . . . geprediget zu Ulm, Ulm 1528 2 1536, Augsburg 3 1540. - Erasmus Sarcerius, Catechismus . . . in usum praedicatorum, Marburg 1537 [9 Aufl., dt. 1550], - Caspar Sauter, Der Kinder Gottes Bibliotheca . . . das heylige Vatter unser..., Frankfurt 1593. - Jacob Schenk, Auslegung des Christi. Glaubens - Das Hl. Vaterunser Von den hl. Sacramenten der Tauffe u. des Leibs u. Bluts Jhesu Christi, sämtl. Leipzig 1542. - Ders., Predigten über den Dekalog in 5 Abt., Leipzig 1541. - Zacharias Schilter, Disputationes in Theologiam Catecheticam, Leipzig 1602. — Ders., Exetasis fidelis . . . Catecheseos..., Leipzig 1607. - Joachim Schröder, Bede-Bökelin aver de Hußtafel, Rostock 1554. - Nicolaus Selneccer, Kleiner Catechismus in kurze gesänge gebracht, Celle 1572. - Ders., Paedagogiae Christianae . . . tres partes, Frankfurt 1568; dt.: Unterweisung in der christl. Lehr nach Ordnung des Kinderkatechismi . . . am kursächsischen Hofe gepredigt, Frankfurt 1569. - Johann Georg Sigwart, 11 Predigten v. den Vornemesten . . . Lastern . . . samt . . . entgegengesetzten Tugenten..., Tübingen 1603. - Ders., Das Vatter vnser in etlichen [9] Predigten ausgelegt, Tübingen 1611 [aus Wochenpredigten über Mt]. - Ders., 14 Predigten v. H. Abendmal..., Tübingen 1601. - Cyriacus Spangenberg, Cythara Lutheri, 4 T., I/II Fest- u. Psalmlieder, 1569, III u. IV Catechismuslieder u. 4 andere Gesänge, Anhang 6 Predigten zur Passion „Durch Adams F a l l . . . " , 1570. - Ders., Predigten über die 5 Hauptstücke, Morgen-, Abend-, Tischsegen, Haustafel [auch als Sonderdr. in 13 Predigten erschienen], nach den 12 Art. des Apostolicums [auch Athanasianum, Nicaenum u. Tedeum] 1555 gehalten, Erfurt 1564 2 1568. - Cyriacus u. Johannes Spangenberg, Tabulae, Basel 1563 [206 Pentateuch, 65 Evangelien, 59 Epistel, 23 zu Heiligentagen, 75 zum Catechismus]. - Johann Spangenberg, Der große Catechismus u. Kinderlehr..., Leipzig 1542. - Ders., Margarita theologica..., Wittenberg 1549. - Georg Stampelius, 8 Catechismus Predigten, Lübeck 1615. - Georg Stenebergk, Catechismus vor die eintfoldigen Prediger, Hardegessen 1545. - Henricus Stephan, Rudimenta fidei, 1563. - Caspar Stiller, Freistadt, Erklärung des kleinen Catechismi... in 59 Predigten, Leipzig 1615. - Victorinus Strigel, Enchiridion theologicum, Bremen 1584. - Gregor Strigenitz, Christus convivator, Leipzig 1600 [23 Predigten über Joh. 21], Ders., Conscientia . . . 31 Wochenpredigten . . . zu Weymar,Magdeburg 1596.-Ders.,Eylff Predigten v. hochw. Abendmahl, Leipzig 1612. - Ders., Gründtliche Eyntheilung der H. Zehen G e b o t t . . . , Frankfurt 1585. - Ders., 22 Predigten v. der Reise der Emauntischen Jünger, Jena 1587. - Paul Tarnow, De Sacrosancto Ministerio libri tres [darin 1.2 c. 3 q. 2: de Catechismo sive lacte Christianorum...], Rostock 1624. - Valentin Trotzendorff, Catechesis Scholae Goltpergensis, Wittenberg 1558. - Ders., Methodi Doctrinae Catecheticae, Görlitz 1570. - Michael Uranius (Himmel), Grundveste deß H. Catechismi aus H. Sehr., Leipzig 1587. - Wolfgang Waldner, Eine Christi. Haußlehre..., Erfurt 1568. - Georg Waither, Außlegung der fünff Hauptstücke..., Leipzig 1580. Ders., Regulae Vitae Christianae . . . Ordine Decalogi . . . concinnatae, Wittenberg 1572. - Hieronymus Weiler, De officio ecclesiastico, politico et oeconomico..., Nürnberg 1552. - Johann Westermann, Eyn christlyke vthleginge der teyn gebodde, Des gelouens Vnd Vader vnses . . . yn der vasten gepreket, Lippstadt 1524. - Johann Wigand, Methodus Doctrinae Christi, Magdeburg 1559. - Ders., Catechisticae explicationes, Straßburg 1576. - Jodocus Willich, Totius Catecheseos Christianae Expositio . . . et Tabulae..., Frankfurt 1551. - Johann Wittich, Kurtze Hauspostille oder Kinder Examen für Christi. Haußväter..., Leipzig 1591. - Fabian Zeisold, Der kleine Catechismus . . . Reimu. Gesangsweise, Leipzig 1618.

6. Das Jahrhundert

der „großen"

Katechismuspredigten

A u c h in den nächsten 100 J a h r e n wurden viele Katechismuspredigten gehalten und gedruckt. A m stärksten fallen einige mehrbändige Sammlungen ins Gewicht, die, schon von ihren Verfassern als M u s t e r s a m m l u n g e n gedacht, für diesen Z e i t r a u m repräsentativ sind. Sie gehen auf geschlossene oder kombinierte Jahresreihen zurück; ein Drittel ents t a m m t den Katechismuswochen. Schwerpunktmäßig gehören sie etwa zu gleichen Teilen den Jahren zwischen 1 6 3 0 und 1 6 5 5 , vor und nach dem E n d e des -»Dreißigjährigen Krieges, sowie zwischen 1 6 7 5 und 1700, zuletzt zwischen 1 7 2 0 und 1745 an, in denen es um ihre Wiederbefestigung, ihre Behauptung und schließlich ihre Verteidigung ging. Von den Verfassern sind wenige, und diese aus anderen Gründen, bekannter g e w o r d e n ; die meisten N a m e n sind s a m t ihren Büchern inzwischen in den Bibliotheken verblichen.

Katechismuspredigt

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Ist die Zeit der „großen" Katechismuspredigten auch eine große Zeit der Katechismuspredigt gewesen? Denkt man an die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, dann beeindruckt, wie beharrlich man sie in den verschonten und in den bedrängten Gebieten durchhielt und wie rasch man sie in den verwüsteten Landesteilen wieder aufnahm. Die Sitte war fest, die Glaubenssprache selbstverständlich geworden. Man hatte die Katechismuspredigten auch in den Jahren der Kriegsbedrängnis gebraucht und benötigte sie für den inneren Wiederaufbau erst recht; so nahmen sie unauffällig wie immer, aber in der ganzen Breite ihrer Möglichkeiten alsbald ihren Fortgang. Dies läßt sich kaum besser veranschaulichen als an dem Augsburger Pfarrerssohn Georg Albrecht, der bei der kaiserlichen Besetzung der Stadt 1629 seine dortige Kanzel verlor, im schwäbischen Zufluchtsort Gaildorf als Superintendent wirkte und in gleicher Eigenschaft 1641 nach Nördlingen berufen wurde. Er hat seinen in einem Seuchenjahr dezimierten Augsburgern die damals gehaltenen zehn Predigten über evangelische Buße und zwölf neue aus Gaildorf über den ersten Vers(!) des Liedes „Wenn mein Stündlein vorhanden ist" zugeeignet, sich am neuen Ort mit 59 Predigten über die Litanei zeitgemäß eingeführt, dann auch die fünf Hauptstücke an Hand der fünf Finger, einem beliebten Leitbild, erklärt; den Leuten vermutlich in einer Gebotsreihe über die Sünde des Fluchens die Leviten gelesen („ich rede nehmlich von allhiesigem orth"!) und daraus einen Traktat für alle Häuser gemacht, ein Fluch-ABC, das, von einem andern erweitert, 60 Jahre später noch einmal erschien. Dazu kamen auch 39 Predigten über das Kapitel von den letzten Dingen, mit dem Blick auf die ewige Höllenpein. In Nördlingen hat seine Einführungspredigt die Confessio Augustana zum Thema, zum Lob seiner Heimat und der vier anderen Reichsstädte, die, wie Nördlingen, ihr unverändert die Treue hielten. In Erinnerung an die Schlacht bei Nördlingen hält er 38 Predigten über die Auferstehung der Toten, legt zur Wiedereinführung der Privatbeichte das mitgebrachte Haller Beichtformular in zwölf Predigten aus und hält 162 Predigten über die drei Stände der Haustafel, vor allem die Obrigkeit, die, ohne zu weit zu greifen, auch Kirche und Hausstand mitzuschützen habe. Er belehrt über den Katechismus in fünf Predigten nach den fünf Sinnen; man hört von 38 Vaterunserpredigten. Schließlich macht er, im Ruhestand, aus 57 Predigten über die Letzten Dinge ein Erbauungsbuch, das auf 1096 Seiten Lehr- und Gewissensfragen behandelt, die mit Sterbefällen und der Christenhoffnung zusammenhängen.

Insgesamt setzten sich sämtliche Stränge der Arbeit am Katechismus und mit diesem fort. Es gab Predigten über Luthers Morgen- und Abendsegen (N. Hartkopf). Friedrich Heuppels vielgebrauchte Catechismus-Hausschul aus Straßburg sowie Kinderkatechismen und -postillen für Eltern zur Vorbereitung auf Gottesdienste und Feste (Chr. Langhans) ließen „die wohleingerichtete Haußkirche" als wichtigen Ort „schrifftmäßiger Erklärung aller und jeder Glaubensartikel" (J.Chr. Förster 1728) im Auge behalten. Selbst die „charitativen" Katechismuspredigten für die Almosenempfänger fanden weiterhin statt (G. Phil. Morl, Nürnberg). Auch an den Katechismen wurde weitergearbeitet - nicht an Neuentwürfen, denn seit dem —>Konkordienbuch stand der lutherische Grundtext fest, wohl aber an seiner Gebrauchsgestalt für die Zeitgenossen, und die war oft strittig genug. J. Gesenius und Sal. Glass können als Beispiele dienen, die 735 Fragen in Cyr. Höfers 24stündigem Himmelsweg und erst recht die 1281 Fragen in -»Speners Einfältiger Erklärung von 1677 zugleich andeuten, wie weit man da mit den Fragen über den zu erklärenden Grundtext hinauswuchs. Auch die zünftige theologische Lehre zog mit, freilich jetzt eher methodisch als inhaltlich. In den Institutionen fürs Theologiestudium werden Aphorismen und Paragraphen der theologia catechetica aus- und Katechismuserklärungen eingearbeitet (J. Fecht), wird historisches (Budde) und patristisches (Alardus) Material eingefügt. Der Haupttrend geht auf unmittelbare Praxishilfe. Dem dienen die Predigten, Tabellen (L. Bacmeister), Dispositionen (Sam. Dietrich, Sam. Ben. Carpzow); Gottfried Olearius sammelt 700 Dispositionen aller in 23 Jahren von ihm und seinen Kollegen in Halle gehaltenen Katechismuspredigten; wenn der gelehrte Mann seiner Seelenerquickung aus dem Gebet aller Gebete als Anhang eine „Erzehlung von (252!) alten und neuen Lehrern, welche das Vaterunser erklärt haben", anfügt, hat er sie damit aber wohl eher belastet als wirklich erquicklich gemacht. Promptuarien, Exempelbücher, Informatorien, Katechismusbibliotheken und -lexika können hinter dem Sammlerfleiß den inneren Spannungsabfall der theologischen Arbeit nicht verbergen, den man fast klas-

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sisch am wortreichen Untertitel der Lehrreichen Oratorischen Schatzkammer des Chr. Weidling von 1701 ablesen könnte, der hauptsächlich namhafte Autoren der gegenwärtigen Phase ausschreibt. Dahinter vollzieht sich die vielleicht folgenreichste innere Umgewichtung der ganzen Epoche: Wollten vorher die theologischen Katechismuserklärungen zeigen, wie gut dieser die biblische Wahrheit erfasse und wie sach- und schriftgemäß er die evangelische Botschaft bezeuge, ja wie gut selbst der Psalter Davids „den Catechismum predigen kann", so will man jetzt zum „Schrifftkern" (A. Wirth) vordringen, von den Formeln der Lehre zum biblischen Wortlaut fortschreiten, vom Katechismus, seinem eigensten Impuls folgend und diesen doch gleichzeitig entkräftend, zur Bibel aufsteigen. Die Spannung von Bibel und Lehre, die die Suche nach der Stimme des Evangeliums am Leben und an der Zeit halten soll, löst sich in einen Stufenweg auf, der von der Kindermilch des Katechismus über die feste Erwachsenenkost biblischer Lehre zu einem Christenstand emporführt, der sich ganz in der ganzen Bibel zu Hause fühlen kann und schließlich auch „ohne Buch Ruhe in Gott" findet, wie Calvör 1691 das verbreitete Dreistufenschema darlegt. Doch wenn an die Stelle des verpönten, bloß „hergebeteten" Katechismuswissens ein zwar gepriesenes, aber vielleicht auch eben „hergesagtes" Bibelwissen gesetzt und statt der Glaubenslehren die Bibel selbst dogmatisiert wird, bleibt der Gewinn problematisch. Jedenfalls kommt unter dem so „erhöhten" Ziel dem Katechismus deutlich eine verminderte Rolle zu: Aus dem (religiösen) Medium der evangelischen Glaubenssprache für alle wird ein (schulmäßiges) Kleinkompendium der kirchlichen Glaubenslehre für Anfänger. Eine bloße Anfängerlehre hat allerdings Joh. Konrad Dannhauer im Katechismus nicht finden mögen. Dazu war seine zehnteilige Catechismus-Milch in fünf Quartbänden nicht angetan. Der Straßburger Professor hat diese Arbeit 1634 begonnen, sie in der beschwerlichen Zeit sonntagnachmittags 2 Uhr entsagungsvoll durchgehalten und die 492 Predigten bis auf die letzten zwei Teile persönlich für den Druck überarbeitet. Sie haben theologischen Rang und sind auch homiletisch nicht monoton. Der 2. Tafel der - biblisch gezählten - Gebote (Straßburger Zählung, vgl. dazu Bucer 3 6 - 3 9 ) , in der er auch auf Fragen des Krieges eingeht, schickt er Predigten über die Nächstenliebe voraus. Das 4. Gebot bleibt dort etwas knapper, weil sich an den Dekalog, auch aus Gründen der Bearbeitung, sogleich die Haustafel anschließt, in die eine zusätzliche Predigtreihe über den Traumdeuter Josef als Bild eines evangelischen Predigers einleitet, so wie in den 1. Artikel eine Reihe über den Pilgerstand Jakobs als Bild der conditio humana; das Vaterunser eröffnen neun Lektionen über die Betkunst, zur Taufe zieht er Joh 19,34 und die Geschichte von Maria und Martha, zum Abendmahl den 23. Psalm, zur Schlüsselgewalt den verlorenen Sohn und zum Abschluß den 19. Psalm mit heran. Beim 2. und 3. Artikel bricht er eine kräftige Lanze für die streitbare Lehrarbeit der Theologie - man dürfe über strittige Heilsfragen nicht „hinüberhüpffen wie der Hahn über heiße Kohlen" (Catechismus-Milch, T. 5, Bericht vom einfältigen Glauben, 3.S.), entlarvt auf 152 Seiten den von manchen empfohlenen Rückzug auf den biblischen „Wortlaut" als Scheineinigung und verteidigt mit Bezug auf das Nicaenum ein „heilsames Wachsthumb der Christlichen Glaubenslehre", auch wenn dies zu „Neuerungen" führe. So steht sein Werk auf hohem Niveau, vor einem Auditorium, das man sich als eine eher kleine Auslese von einflußreichen Liebhabern vorstellen muß. Die Katechismuspredigt ist als populäre Predigtgattung konzipiert; doch hätte sie ohne hochrangige Ausnahmeerscheinungen ihre weittragenden Wirkungen schwerlich erreicht.

Entfaltung der Glaubenslehre bleibt weiterhin ein bedeutender Strang, unabhängig davon, wie man das Verhältnis von Katechismus und Bibel definiert. Taufe und Abendmahl verlangen nach Lehre, wenn man sich nicht mit Schönrednereien begnügt. Da wären sehr viele Predigten und Reihen zu nennen, doch ist die Zahl dieser Anlässe so groß und zugleich die Zahl der möglichen Argumente so begrenzt, daß eine Autorenliste wenig sinnvoll erscheint. Daneben gibt es beim Augsburger Prediger Joh. Rößler (Rosatus) einen Ansatz zu Lehrpredigten über das Athanasianum, schon 1600, der aber nur wenige Nachahmer findet. Dagegen hat die Säkularfeier der Confessio Augustana (-»Augsburger Bekenntnis) und der Streit um diese eine dauerhaftere Nebenlinie der Katechismuspredigten entstehen lassen, für die mindestens Balth. Meissner und Jac. Stenger als Beispiele zu nennen sind, und vorausgreifend mag man daran erinnern, daß zum nächsten Jubiläum Johann Gustav Reinbeck in Cölln a.d. Spree (wie nachher dann auch sein

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Fortsetzer Israel Gottlieb Cantz) in vielen Predigtbetrachtungen und Paragraphen dieses Bekenntnis ausgelegt und dabei versichert hat, „ d a ß die Vernunft nicht nötig habe, sich dawider zu e m p ö r e n " . Erwartungsgemäß sind solche Lehrpredigten immer wieder von konfessioneller Polemik begleitet; doch nach der Erschöpfung des Dreißigjährigen Krieges wirken solche Ansätze eher als Pflichtübungen und Nachhutgefechte. Das innerprotestantisch meist moderate Verhalten der Reformierten und die veränderten Schwerpunkte des Pietismus sind zu spüren. Der Spenerfreund Johann Ludwig Hartmann in Rothenburg zitiert in seinem auch für die Katechisationen ergiebigen Pastorale Evangelicum von 1678 unbefangen —»Hyperius und Zepper und kann auch die reformierte Besuchsordnung vorbildlich finden. In seinem Pastorale bietet Joh. Ludwig Hartmann Entscheidungshilfen - Decisiones - für mehr als 800 casus conscientiae an: Gewissens-, Glaubens-, Zweifels- und Streitfragen, wie sie in Krieg und Frieden, Verfolgung oder Ruhezeiten anfallen können. Damit hat er das zweite Problemfeld benannt, auf dem sich die Katechismuspredigt in ihrer zweiten Phase weiterentwickeln sollte. Von Anfang an und erst recht in der Rolle, die ihm die Reformation zuwies, hat der Katechismus immer sowohl Einweisung in die Bibel als auch Unterrichtung des christlichen Gewissens sein wollen. Der Glaube in der Obhut der Bibel, das Gewissen in der Obhut des Glaubens, und beides als Ausdruck der Freiheit, Gott allein über und in allen Dingen zu fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen, ohne Gängelung durch kirchliche oder selbsterwählte Vollkommenheitsmuster: Wie groß war der Spielraum der hier dem Gewissen angebotenen und zugemuteten Freiheit? Man hatte die Lehr- und Bibelfragen immer differenzierter „exponiert"; jetzt waren jene Gewissensfragen an der Reihe, die sich im kirchlichen, politischen und häuslichen Leben angesammelt und im Interim unseligen Angedenkens so bedrohlich verschärft hatten. Auch hier fragte man nach Entscheidungshilfen, stand man vor Verständigungsaufgaben. So hat Wilhelm Alardus 1620 seine Seelen-Apotheke für 70 „Fälle" verfaßt, und der kriegsvertriebene Arnold Mengering unter Brotsorgen in seiner mit Kindern und Gesinde geteilten Studierstube (Museum hieß man sie damals) außer seinem Kriegsbelial mit dem Soldatenkatechismus ein scrutinium conscientiae catechisticum mit 24 Kapiteln geschrieben. In Altdorf entstand Georg Königs Buch über 127 Gewissensfälle, die er anhand der Hauptstücke des Katechismus gesammelt und geordnet hatte; 57 allein mit Hilfe der Haustafel und mit dem Ziel, zum rechten Gebrauch der Freiheit zu helfen auch gegen die Tyrannei der Gewohnheit, und den Katechismus nicht zum Gefängniswärter des Glaubens, zum Anlaß für Kirchentrennungen oder zur Plage für Skrupulanten zu machen. Und so sind dann auch die 412 Wochenpredigten des Geislinger Diakons Jakob Bauller gemeint: „verdeckte" Katechismuspredigten, die den Katechismus in seiner Ulmer (Straßburg-Brenzischen) Fassung voraussetzen, wo immer sie in je 104 Predigten, also zwei Jahrgängen, unter biblischen Texten Laster und Tugenden gegen Gott, uns selbst und unsere Nächsten als Fugienda und Facienda aufspüren und in 204 „Kreuz- und Trostpredigten" von den Patienda reden, die uns an den Stücken des Katechismus und den Bitten der Litanei bewußt werden, für die wir dort aber auch die rechten Hilfen angeboten bekommen. Traditioneller bleiben die drei anderen Ulmer Repräsentanten der „großen" Katechismuspredigt: Samuel Edel, Pfarrer an der besonders für die Katechismuspredigt bestimmten Ulmer Dreifaltigkeitskirche in seinem etwas kompilatorisch angelegten Thesaurus Catecheticus - 196 Predigten, zwölfteilig in vier Bänden untergebracht. Daneben die 137 Predigten eher dörflichen Zuschnitts aus der Feder des Kuchheimer Pfarrers Bonifacius Stöltzlin, der seine dreibändige Katechismushand aber durchaus als Mustersammlung verstand und in einem zusätzlichen vierten Register die 96 hier mitverhandelten Gewissensfragen zusammenstellt für den Weitergebrauch. Und schließlich 1702 die Christliche Katechismusübung des Ulmer Münsterpfarrers Joh. Heinr. Weihenmaier, der fünfmal „in etlichen 100 Predigten den ganzen Catechismum hinausgepredigt" hat und jetzt den letzten Jahrgang von 68 Predigten seinen Beichtkindern widmet; in seinen besonders vielen Zitaten kommen Luther, Joh. -»Gerhard, Joh. -»Arndt, Chr. Scriver, Ph. J . Spener, Stöltzlin sowie reformierte Autoren zu Wort. Unter Christian Scrivers Schriften gibt es nur einen schmalen Band mit 7 Katechismuspredigten, die er 1658 in Stendal bei den dort üblichen Katechismuswochen gehalten hat, die wegen des Leitbilds v o m Goldschatz Goldpredigten heißen und bis 1861 i m m e r wieder nachgedruckt wurden. Es w a r sein stark v o m Katechismus geprägter fünfbändiger Seelenschatz, der ihm und damit auch seinen Katechismuspredigten einen N a m e n gem a c h t hat. E r erinnert d a r a n , daß die Entwicklung von Buchdruck und Bildung jetzt die Erbauungsbücher mehr und mehr die Stelle der häuslichen Katechisationen einnehmen ließ. Dies bekräftigt zugleich, daß m a n den Katechismus dank seiner Sprache nicht nur als Lehrbuch, sondern in Lektüre und Predigt auch als Meditationstext gebraucht hat. Cas-

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par Finck hat ihn schon 1615 als frühe Stufe in die wohlgeordneten Frömmigkeitsübungen seiner 11 Exercitia Pietatis eingebaut. Und vor allem die vielen Vaterunserpredigten haben diese - von Joh. Gerhardt besonders hochgehaltene - Linie immer wieder belebt. Erst recht kam Ph. J. -»Speners Bedeutung nicht von seinen 100 Kurtzen Catechismuspredigten in Frankfurt 1689 her, haben diese vielmehr umgekehrt von ihr profitiert. Er ist in ihnen - mit seiner eigenen Handschrift - vor allem Fortsetzer einer Tradition, die er wiederbeleben, aber nicht umprägen wollte. Er hat sie, als Vorpredigten, in den Vormittagsgottesdienst verlegt, um mehr Erwachsene für die mittäglichen Katechisationen zu interessieren. Solche Predigtverdoppelung, durch die Spener auch sonst der Einengung auf die Perikopen abhelfen wollte, ließ sich nicht verallgemeinern. Das Bedeutsamste ist wohl das Bekenntnis zum Katechismus als Text wie als Institution gewesen, das er damit zum Ausdruck gebracht hat. Denn da gab es ja nicht nur die Warnungen fanatischer Erzlutheraner vor dem „verführerischen, betrüglichen Katechismus" und dem „tödlichen Gift" dieses „bösen Mannes" sowie die schon alte Einsicht, daß Katechismus und Predigt methodisch ein schwieriges Paar sind, ein enger Flaschenhals, über den ein Wolkenbruch niederprasselt, wie ein von Scriver gebrauchtes Bild meinte. Da hatte sich auch die - besonders bei Joachim Lange stark ausgeprägte - Abneigung gegen die Schulhomiletik mit der gegen die Zwangsjacke des Katechismuslernens verbunden und in Gottfried Arnold ihren prominentesten Wortführer gefunden (Kirchen- und Ketzerhistorie T. 2, B. 2 cap. 11). Es hatte Gewicht, wenn Spener hier Stellung bezog und Scriver den Katechismus als „Glaubensübung (auch) für wiedergebohrene Christen" empfahl, in einer Zeit, in der Caspar Schade dem Wunsch nach einem vollkommeneren, eindeutigen Christentum mit der Frage „Was fehlt mir noch?" schlagkräftigen Ausdruck verlieh. Mitten in den Widerspruch zwischen dem öffentlichen Ansehen der Katechismus„feste", die man in Halle halbjährlich je für 4 Wochen in vollen Kirchen beging, und zwischen der herben Kritik an diesem zeitgenössischen „Christentum ä la mode" führen die 22 bzw. 33 Thematischen Predigten, die Andreas Chr. Schubart dort aus mehreren Jahrgängen zu den 2 Bänden der Geistlichen Catechismuslust 1670 und des Weg(s) zur Vollkommenheit 1680 zusammengestellt hat, in denen er das 4. Gebot mit Nachdruck als einen „geistlichen Schuldbrief" nicht nur für die „Unteren", sondern auch für die „Oberen" verstanden wissen wollte. Sie erinnern ein wenig an die berühmt gewordene Bußpredigt Balthasar Schupps in Hamburg über die Sonntagsheiligung, zu der er sich in der überfüllten Kirche nur mühsam den Weg durch die Menge (und auch durch den Branntweingeruch!) auf die Kanzel hatte bahnen können. Wie im Spätmittelalter schon hat man den Dekalog vorzugsweise zur Bußpredigt gebraucht und einen Moses informans oder auch detonans gerne als den „mit dem göttlichen Gesetz donnernden Catechismusprediger" (Sperling, Cober) auftreten lassen. Die Katechismuspredigten der Superintendenten August Pfeiffer und seines Nachfolgers Georg Heinrich Götze in Lübeck, wo sich von Bugenhagens Zeit her die Tradition der Katechismuswochen als besonders kräftig erwies, erscheinen wie eine abschließende Summe dieser Epoche; als wollten sie mit ihrem Einfallsreichtum und in ihrer barocken Sprache noch einmal zeigen, daß der Katechismus wie ein Hauptschlüssel alle Türen zur kirchlichen Praxis aufschließen könne. Predigt, Unterricht, Lied und Gebet, das Bilderbuch biblischer Geschichten, der Umgang mit Schwermütigen, aber auch Gesundheitsund Rechtspflege und manche anderen Bereiche des öffentlichen Lebens werden als Assoziationen alltäglicher Lebenserfahrung didaktisch herangezogen. Die Bemühung, eine erlahmende Sitte anziehender zu gestalten, wird deutlich. Die Überdehnung der Bilder, der gleichnishafte Bibelgebrauch, die Schematisierung der Schwermutsfälle: da geschieht oft des Guten zuviel, auch wenn durch den Katechismus- und Bibelgebrauch einer so methodisierten Seelsorge der christliche Inhalt nicht gänzlich entschwindet. Allzuleicht kann man bei all den registrierten Gewissens„fällen" in die Fallen der Kasuistik geraten, und sein Gebrauch als Vielzweckinstrument formalisiert auch den Katechismus selber bedenklich. Aber wenn man bei der an Bachs Kantatentexte erinnernden Sprache den

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„Wandel des Geschmacks im Predigen" hinreichend in Rechnung stellt, bleibt doch wesentlich mehr als der bloße Wunsch nach rhetorischer Abwechslung übrig. Man erfährt in den postumen Ausgaben späterer Predigten Pfeiffers, wie dieser seine Wochenpredigten über das 1. Buch M o s e so aufgeteilt hat, daß die Geschichte Adams eine Lehr-, die Noahs eine Büß-, die Abrahams eine Kreuz- und Geduld-, Isaaks eine Ehe- und Haus-, J a k o b s eine Gewissens- und Josephs eine Tugendschule darstellen sollten. Dieser von Pfeiffer großenteils noch verwirklichte Plan gibt deutlich als treibende Kraft den Wunsch zu erkennen, Glauben und Alltag, Bibel- und Weltfrömmigkeit zu integrieren. Tatsächlich sind sie ein interessanter Summierungsversuch, alle Predigtarten der Zeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Katechismus- und Bibel-, Bekenntnis- und Beispielpredigten, Text-, T h e m a - und Reihenpredigten, Stände- und Gewissenspredigten, Lehr-, Büß- und Tugendpredigten, regelmäßige und kasuelle, Erzähl- und Gesprächspredigten, Diskurse und Meditationen werden hier miteinander verwoben unter dem Leitbild der Schule; jener „Schule", in der wir durch Erörterung und Erfahrung von unseren menschlichen Lehrern und von unserem göttlichen Lehrer ins allgemeine Christentum eingewiesen und im persönlichen Christentum eingeübt werden. M a n kann dem Gespür für Lebensnähe, dem Fleiß, der Bildung und der frommen Freude am Wort bei diesen redegewaltigen Katechismuspredigern den Respekt nicht versagen. Der Professor, Hauptpastor, Pommersche Generalsuperintendent und Oberkirchenrath Ihro Kgl. Majestät in Schweden, Johann Friedrich Mayer, spiegelt viele dieser Bestrebungen, manchmal durch konfessionelle Polemik verschärft, in seinem Werk wider; er versucht, sie pastoraltheologisch in seinem Museum Ministri Ecclesiae [Studierstube des Kirchendieners] aufzuarbeiten und auch zu den dort mitgeteilten 18 Katechismuspredigten eine homiletische Theorie zu formulieren. Erdmann Neumeisters Hamburger Freitagspredigten (je 52 in 8 über 1000 Seiten starken Bänden) erreichen im Umfang noch einmal Dannhauersche Maße. Und so entschlossen wie ihre orthodoxe Lehrgestalt hat Neumeister in ihnen auch die Einrichtung der Katechismuspredigt wie in einem letzten Aufbäumen verteidigen wollen. Er hat den sechs Predigtreihen über die Hauptstücke und die Haustafel eine gleiche über die Augustana und, ganz originell, auch eine solche über die rechte Lehre vom Glauben (nach 52 Bibelstellen) hinzugefügt. Doch verdankt auch er seinen Namen nicht diesen Predigten, sondern seinen Gesangbuchliedern. Der besondere Reiz dieser Bände liegt darin, daß und wie er 28 Lieder, das Tedeum und die Litanei versweise als Vorpredigten, Exordien oder Einschaltungen in diese Reihen miteingebaut hat. Und hier wird noch einmal ein Merkmal dieser 2. Phase besonders anschaulich: Während in der 1. Phase die Katechismuslieder vor allem helfen sollten, ihn selbst den Gemütern einzuprägen, kann man jetzt an ihnen und den vielen anderen Liedpredigten sehen, wie weit der Katechismus als Medium neuer Glaubenssprache verinnerlicht und zur frommen Herzenssprache geworden ist: Man kann jetzt die Katechismusfrömmigkeit ohne das Geländer seiner Begriffe so wie alles, „was dem Höchsten klingt", frei „aus dem Herzen rinnen" und gerade so auch wieder dem Katechismus zugutekommen lassen. Auch Avenarius hat im „Liederkatechismus" aus 28 Chorälen Exordien für die Katechismuspredigt gemacht.

So bietet die Katechismuspredigt in dieser Phase ein buntes und etwas zwiespältiges Bild. Dieser vergessene Flügel der Predigtgeschichte hält, so scheint es, die vielleicht originelleren homiletischen Leistungen der Epoche und interessantes Material auch zum Vergleich mit der zeitgleichen katholischen Predigt bereit. D a ß sich niemand mit dieser sonn- und werktäglichen Nebenpredigt einen Namen gemacht hat, sagt wenig über ihre tatsächlichen Wirkungen aus - die Vergeßlichkeit der Geschichte ist nicht immer gerecht. Das herzanrührendste Dokument dieser vergessenen Gattung sind die CatechismusWohlthaten des Pfarrer-Poeten Martin Rinckart geworden: 50 Lieder des auch der poetischen Kunstlehre mächtigen Archidiakons aus Eilenburg, der in anspruchslosen, aber singbaren Reimen, auf vier „Gedenkringe" aufgeteilt, die ganze Geschichte der Stadt, ihrer Kirchen und Brände, ihrer Pfarrer, seinen Katechismusunterricht an Gemeinde und Schülern über 28 Jahre hinweg und die 15 wechselnden üblen Kriegsjahre von 1 6 3 1 - 1 6 4 5 hautnah miterleben läßt; ein Dokument bruchloser Verschmelzung kirchlichen Lehrens, pastoraler Bemühung und evangelischen Glaubens mit dem zeitgenössischen Lebensgeschick.

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Quellen und Literatur Wilhelm Alardus, Praxis Catechismi Oder Christgläubiger Seelen Brautschmuck ... Mit ... Gebeten . . . u. . . . mit bequemen Exordiis zu den Catechismus Predigten, Leipzig 1627. — Ders., Seelen-Apoteck . . . auff mehr denn siebentzigerley schweres Anliegen, Leipzig 1620. - Georg Albrecht, Beichtspiegel,... 12 Predigten zum schönen Beichtformular aus dem Hällischen Catechismo, Nördlingen 1642. - Ders., Bibl. Buß-Altar . . . Zehen Predigten . . . zu Augspurg, Tübingen 1629. Ders., Catechismus-Hand, Abh. des Catechismi nach den fünff Fingern ..., Schwäbisch Hall 1645. Ders., Dulce Amarum . . . v. Tod u. Absterben des Menschen in 57 Predigten, Nürnberg 3 1662. Ders., Ewiges Ach u. Weh! ... v. der ewigen Höllenpein . . . 39 Predigten, Vorr. 1642, Nördlingen 1648. - Ders., Fluch-ABC . . . etliche Predigten . . . darvon/was Fluchen für eine schreckliche Sünde sey ..., Vorr. 1638, Dreßden 2 1700. - Ders., Geistl. Kirchen-Wach . . . Ordinationspredigt mit Ordinationsakt ... zu Geildorff ..., Augsburg 1632. - Ders., Hierarchia Politica, Der Stand Weltlicher Obrigkeit, Vorr. 1647, Ulm 1657 [erwähnt 35 Wochenpredigten über den geistlichen, 75 über den häuslichen Stand]. - Ders., Judaeus Conversus et Baptizatus . . . Taufe eines v. Gott im Gefängnis wunderbar bekehrten Juden in Gaildorf . . . [mit Katechese u. Predigt], Schwäbisch Hall 1624. Ders., Litania . . . Erklärung Deß gemeinen Kirchen-Gebetts . . . in 59 . . . Predigten ..., lat. Vorr. 1631, Nördlingen 1647. - Ders., Meletä Thanatou, Seelige Sterb-Kunst . . . auß dem ersten Versicul deß Sterbgesangs/Wann mein Stündlein vorhanden i s t . . . in 12 . . . Predigten, Nördlingen 1649. - Ders., Physiologia Christiana 5 Predigten, . . . die 5 Hauptstück . . . den 5 Sinnen verglichen, Ulm 1645. Ders., Surgite m o r t u i . . . Von Aufferstehung der Todten, 38 Predigten in Nördlingen 1645, Augspurg 1669. - Ders., Trias Magnalium, darunter „Jubilate . . . Von der Augsburgischen Confession, u. Salvete . . . Grüß euch Gott liebe Nördlinger . . . im Jahr großer Gedult/1641 Gehalten, Nördlingen 1641. - Gottfried Arnold, Geistl. Gestalt eines Ev. Lehrers, Halle 1704. - Ders., Theologia experimentalis . . . Geistl. Erfahrungslehre ... Von denen vornehmsten Stücken Lebendigen Christenthums, Frankfurt 1714 2 1735. - Ders., Unpartheyische Kirchen- u. Ketzer-Historie, Frankfurt 1729, Neudr. Hildesheim 1967. - Ders., Wahre Abb. der ersten Christen, Frankfurt 1696. - Johann Avenarius, Ev. Liederkatechismus . . . 28 Exordien in Dispositionen . . . die christl. Lehre nach den 6 Hauptstücken durch erbauliche Lieder erläutert, Frankfurt/Leipzig 1714 [gepredigt 1707]. - Reinhard Bakius, Expositio Catechismi minoris, Magdeburg 1621. - Lucas Bakmeister, Skiagraphia s. Analysis Catechismi in 21 Tabb., Rostock 1667. - Johann Guilelmus Baierus, Compendium theologiae positivae, Leipzig 1750 [mit Kurzauslegungen zu Dekalog u. Haustafel]. - Ders., De Informatione Catechetica Aphorismi [zu Luthers Catechismusvorreden], Frankfurt/Leipzig 1698. - Joh. Baudewin, Institutio Catechetica, I Schlecht u. recht [mit Katechismuslehren], II Die kluge Einfalt [mit Schriftbelegen], Stralsund 1685 3 1699. - H a n n ß - J a c o b Bauller, Florirender Tugend-Garten, Vorr. 1684, Ulm 1697. Ders., Hell-polirterLaster-Spiegel, Ulm 1681.-Ders., Hertz- u. Schmertzen- linderndes Freuden-Oel . . . 204 Creutz- u. Trost-Predigten, Frankfurt/Augsburg 1687. - Hermann Becker, Conciones Catecheticae [58 Predigten], Frankfurt 1684. - Georg Bernstein, Catechismus-Figuren erkläret, Leipzig 1662. - Johann Binchius, Catechismus Psalmodicus [95 Predigten über alle Verse der 9 CatechismusLieder], Frankfurt 1657. - Barthold Botsaccus [Superintendent in Braunschweig, Prof. in Kopenhagen], Commonitorium Triplex . . . De Fugiendo Papismo [mit 7 Katechismuspredigten], Frankfurt/ Leipzig 1702. - Ders., Geistliche Kaufmannschaft [8 Katechismuspredigten], Braunschweig 1696. Johann Botsaccus [aus Herford, später Danzig], Promptuarium Ällegoriarum Sacrarum ..., Vorr. 1657, Frankfurt/Lübeck 1668. - Ders., Erklärung des Catechismi in Predigten, Danzig 1676. - Johann Jacob Breithaupt, Gründtlich u. deutlich erkl. Catechismus Lutheri vor Erwachsene, Frankfurt 1717. - Martin Bucers Katechismen aus den Jahren 1534, 1537, 1543, hg. v. Robert Stupperich, Gütersloh 1987 (Martini Buceri Opera Omnia, Series I. Dt. Sehr. 6,3). - Johann Franciscus Buddeus, Erbauliche Gedancken v. Predigten . . . wie es in den Nachmittagspredigten des Sonntags ... soll gehalten werden, Jena 1724. - Ders., Kurze historia catechetica [Anhang zu Martin Schamelius Vindiciae catecheticae], Leipzig 2 1726. - Eucharius Buzon, ... des Herrn David Gigas CatechismusÜbung, ... auff dem Lande durchgehends zu gebrauchen v o r o r d n e t . . . , Stralsund 1700. - Abraham Calov, Catechismus Lutheri v. Frag zu Frag . . . erkläret, Wittenberg 1658/1671. - Sethus Calvisius, Christi. Catechismus-Artickels-Predigten in genere ..., Quedlinburg 1647 [Fiedler, s. o. zu 1., nennt v. ihm: Catechismus-Paradiß-Gärtlein 1641, Isaacs-Brünnlein des lebendigen Wassers, „fünff Worte" über die Himmelsleiter Jacobs, Catechismus-Tisch- u. Gastgebot]. - Kaspar Calvör, Güldenes Klee-Blat. Catechismus-Milch - Speise der Starcken - Gebahnter Weg zu der Ruhe in Gott Oder Andacht ohn Buch, Claußthal 1691. - Johann Benedict Carpzow, Isagoge in libros ... symbolicos, hg. v. Johannes Olearius (IV u. V Katechismen), Leipzig 1665. - Samuel Benedict Carpzow, Dispositiones aus dem Collegio Catechetico [nach Fiedler 394, s.o. zu 1, in Wittenberg diktiert, aber nicht erschienen]. - Martin Caselius, Praxis catechetica, für Christ-liebende Hauß-Väter u. Hauß-Mütter, Jena 1646. - Gottlieb Cober, Der mit dem Gesetz Donnernde Catechismus-Prediger Im Cabinet, Frankfurt/Leipzig 1725. - Johann Conrad Dannhauer, Catechismus-Milch oder Erklärung des christl. Catechismi, 10 T., Straßburg 1642-1657 (1666,1671). - Anonymus [Gottfried Dexel?], Deli-

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ciae catecheticae oder Catechetische Ergötzlichkeiten, Dresden/Leipzig 1701. - Samuel Dietrich, Cornu Copiae Dispositionum Homileticarum [c. 4: 25 Dispositionen zu Katechismuspredigten], Stockholm/Hamburg 1687 2 1702. - David Dimpel, Jesus-Catechismus-Predigten anhand des Liedes „Meinen Jesum laß ich nicht", Wittenberg 1668. - Adam Dögen, Catechismusmilch, Lübeck 1644, 1647, 1655. - Eberhard Ebius, Christ-bibl. Catechismus-Schul, Hamburg 1680. - Samuel Edel, Thesaurus Catecheticus in 12 T., Ulm 1641-1654. - Tobias Eißler, Bedenken v. der Kinder-Lehre oder Catechisation, 1728. - Johann Fecht, Instructio Pastoralis, Rostock 1717, 1728. - Conrad Feuerlein, Catechismus-Garten . . . in 16 Predigten, Nürnberg 1679. - Caspar Finck, Eilff Predigten v Abendmal ..., Gießen 1615. - Ders., Güldenes Kleinodt, 9 Vaterunser Predigten, Gießen 1611. - Ders., Pietatis exercitia, 1 1 . . . nützliche Übungen der Gottseligkeit, Gießen 1615.-Ders., Vademecum, d.i. Geistliches Hand- u. Reißbüchlein [Spruchbuch über 31 Glaubensartikel], Gießen 1617, Coburg 14 1682. - Joh. Christian Förster, Die wohl eingerichtete Haus-Kirche, oder schriftmäßige Erklärung aller u. jeder Glaubensartickel, durch die gantze Theol. in Frag u. Antwort abgefasset, Liegnitz 1728. - August Hermann Francke, 16 Catechismus-Predigten, Halle 1726 [dazu Martin Schmidt, s.u.]. Johann Georg Francke, Poetische Kindertheol., Göttingen 1745. - Johann Anastasius Freylinghausen, Catechismus-Predigten [16 aus den Catechismuswochen 1726-1733, durch 5 weitere ergänzt], Halle 1734. - Ders., Öffentliches Jubel-Zeugniß . . . zum Augustana-Jubiläum in 8 thematischen Bibelpredigten, Halle 1730. - Johann Gerhard, Frommer Herzen Geistl. Kleinod [mit Katechismusu. Litaney-Erklärung], Lüneburg 1634 u. ö. - Justus Gesenius, Kleine Catechismus-Schule, Lüneburg 1633 [durch Lucas Pestorf zum dreistufigen Güldenen Kleeblatt vermehrt, s.o. Calvör 1691], Johann Geusius, Catechismus-Lob . . . in etlichen Predigten, Jena 1645. - Salomon Glassius, HaußKirch-Büchlein, Gotha 1664. - Ders., Kurtzer Begriff der Christi. Lehr, Gotha 1644. - Georg Heinrich Götze, Viele Reihen v. je 8 Katechismuspredigten, z.T. einzeln, z.T. noch einmal oder auch ausschließlich in seiner postumen Catechismus-Bibliothec (s.u., im folgenden abgekürzt CB) erschienen, darunter in chronologischer Reihenfolge des Erscheinungsdatums: Ders., Regenten-Catechismus, Lübeck/Leipzig 1705. - Ders., Schiffer-Catechismus, Leipzig 1707. - Ders., Catechismus Famulitii [Gesindekatechismus], Lübeck 1709 u. CB. - Ders., Catechismus historialis, Lübeck 1710. - Ders., Weiber-Catechismus, Lübeck 1712 u. CB. - Ders., Wittwen-Catechismus, Lübeck 1712 u. CB. - Ders., Catechismus der Flüchtigen, Lübeck 1713 u. CB. - Ders., Catechismus in Symbolis, Lübeck 1713 u. CB. - Ders., Kleiner Lieder-Katechismus, Lübeck 1714 (?). - Ders., Der schlafende Simon, Lübeck 1715 (?) u. CB. - Ders., VDMIAE, Gottes Wort bleibt ewig, Lübeck 1717 u. CB. Ders., Miracula Catechismi Lutheri, Lübeck 1717 u. CB. - Ders., Zeit u. Ewigkeit [mit dem Lied Auf meinen lieben Gott...], Leipzig/Lübeck 1719 u. CB. - Ders., Catechismus-Bibliothec, hg. v. Christian Götze, Leipzig/Budissin 1722. Dort neben den schon genannten und bezeichneten (nach Gregor Langemack, s.o. zu 1) folgende Katechismus-Reihen von je 8 Predigten: Der Catechismus Josephs, des Pflegevaters Jesu Christi; Die Einigkeit als der Stadt Lübeck Bestes; Gottes Schutz, nach Anleitung etlicher Sprüche an den Stadt-Thoren; Die gefährliche Judas-Bruderschafft; Catechetische Prüfung der Mennonistischen Lehre; Catechetische Buß-Stimme; Friedens-Catechismus; Der ehrbare Christen-Wandel nach dem Exempel des Joseph von Arimathia; Waysen-Catechismus; Der gekreuzigte Christus auß der Passions-Geschichte; Der Josephs-Catechismus aus dem Leben des Patriarchen; Der Jesus-Catechismus; Der Beder-Catechismus; Der wachende Simon Petri, aus dessen beyden Episteln; Der Adler-Catechismus; Der Jerusalems-Berg; Jona auf dem Meer, ein Reise-Catechismus; Das Danck-Opffer derer Gläubigen; Die seelige Catechismus-Stunde; Das böse Stündlein; „Der alte Gott lebet noch"; Kurze Betrachtung über den kleinen Catechismum Lutheri; Hirten-Catechismus; Das danckbare Kind Gottes; Der Oelberg der Christen; Erbauliche Beichtfragen. - Matthaeus Grosser, Tröstlicher Krieges Catechismus [mit Bußteil u. Trostteil], Wittenberg 1637. - Friedrich Andreas Hallbauer, Unterricht zur Klugheit, erbaulich zu predigen [mit Stichwort Catechismuspredigt], Jena 1723/1728. - Nicolaus Hartkopff, 10 Predigten über den Abend- u. Morgensegen, Hamburg 1628. - Johann Ludwig Hartmann, Pastorale Evangelicum (1678), Nürnberg 1697. - Joh. Reinhard Hedinger, Erklärter Katechismus Lutheri, Stuttgart 1701. - Ambrosius Henning, Catechismuspostille, Erklärung des Catechismi nebst der Haußtafel in 41 Predigten, Frankfurt 1691. - Johann Hertzogs Catechismus-Predigten in 8 T., Leipzig 1650. - Joh. Friedrich Heuppel, Christi. Hauß-Schul, Straßburg 1641. - Joh. Andreas Hiltebrand, 7 Catechismus Predigten, Frankfurt/Oder 1705. - Heinrich Hoeck, Katechet. Licht u. Recht oder Erklärung u. Anwendung des Catechismi Lutheri, H a m b u r g 1737. - Joh. Cyriacus Höfer, Himmelsweg, d. i. wie ein Kind in 24 Stunden lernen kann, wie es solle der Hölle entgehen u. selig werden, Leipzig 1646 u.ö. - Nicolaus Hunnius, Erklärung des C a t e c h i s m i . . . in 12 Predigten, Lübeck 1627. - Ders., Epitome Credendorum, Lübeck 1628. - T h o m a s Ittig, [29] Catechismus-Predigten... zu St.Nicolai in Leipzig, Altenburg 1728. Ernst Kestner, De Catechisatione Domestica ex principiis juris, H a m b u r g 1703. - Georg König, Casus Conscientiae, Qui ex sex capitibus doctrinae Catecheticae una cum Tabula Oeconomica subinde solent occurrere, eruti et decisi, Altdorff 1654. - Christian Friedrich Krause, Catechismusprediger-Schatz, Dresden/Leipzig 1717. - Polycarp Kunad, Catechetischer Christen-Schmuck . . . in

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100 Catechismus-Predigten, Dreßden 1705. - Joachim Lange, Oratoria Sacra ab artis homileticae vanitate repurgata, Frankfurt/Leipzig 1707. - Christian Langhans, Kinder-Postilla, Königsberg 1709. - Johann Lassen, Handleitung zur Seligkeit, Hamburg 1677. - Johann Christoph Lehmann, Pentas Catechetica oder fünffmahl disponierter Catechismus, Bautzen 1691. - Carol Lincke, Informatorium Catecheticum in 67 Predigten, Freyberg 1649. - Andreas Lonner, Catechismus-Übung in 17 Predigten, Hamburg 1648. - Petrus Lossius, Der Geistl. Pilgrim . . . aus den 6 Hauptstücken . . . u. der Haußtafel in 57 Predigten, Leipzig 1674. - Joachim Lütkemann, Corpus Doctrinae Catecheticae, Lüneburg 1673. - Joh. Friedrich Mayer, Betendes Kind Gottes, 13 Predigten über das Vaterunser, Leipzig 1714. - Ders., Gedencks Greiffswald!, Hamburg 1712. - Ders., Museum ministri ecclesiae I, Leipzig 1718. - Ders., Papistischer Catechismus, Cölln 1717. - Ders., Das schwer angefochtene . . . Kind Gottes . . . wider solche schwermuth gestärket..., Leipzig 1708. - Arnold Mengering, Catechismus Patriarchalis, Altenburg 1635. - Ders., Kriegs-Belial d. i. Soldatenteuffel, darin cap. 27 SoldatenCatechismus . . . wie böse Soldaten insgemein das contrarium glaubten, Altenburg 1638. - Ders., Scrutinium Conscientiae Catecheticum, Frankfurt/Leipzig 1642 4 1687. - Balthasar Meisner, Predigten über das edle theure Buch der Augspurgischen Confession, postum in 3 T . u. mit einem Anh., Frankfurt 1658 [ca. 100 Predigten]. - Gustav Philipp Morl, 26 Catechismus-Predigten zu Nutzen derer, die in Nürnberg das Stadt-Almosen genießen, Nürnberg 1705. - Joachim Mülberger, Gottes Ehr durch Kinderlehr, in 22 Predigten, Nürnberg 1680. - Heinrich Müller, Gräber der Heiligen, Hamburg 1685 [darin, nach Fiedler 364 (s. Lit. zu 1) Katechismuspredigt zu I Kor 14 über „Meinen ( = 1. Gebot) Jesum ( = Credo) laß ( = Gebet) ich ( = Taufe) nicht ( = Absolution u. Abendmahl)"]. - Caspar Friedrich Nachtenhöfer, Vergiliae sive Pleiades sacrae, h. e. dispositiones methodicae septies variatae, secundum quas Evangelia dominicalia et festivalia . . . coetui proposuit . . . Quibus accesserunt Ternae eaeque noviter inventae Dispositiones Catecheseos Lutheri . . . pro concionibus vespertinis, quibus 1676, 1677 Sc 1678 usus est, Leipzig 1679 [1. Aufl. ohne Katechismus-Dispositionen, Leipzig 1665]. - Erdmann Neumeister, Der allerheiligste Glaube . . . in der . . . Augspurgischen Confession, Hamburg 1723. - Ders., Erkenntnis des einigen Gottes in drey Personen in 52 Predigten über das Apostolicum, Hamburg 1746. - Ders., Das Geistl. Räuchwerk Oder die Lehre v. Gebeth, Hamburg 1735. - Ders., Gottgefälliger Berufs- u. Christenwandel, 52 Predigten über Morgen-, Abend- u. Tischgebete u. Haustafel, Hamburg 1748. - Ders., Die Lehre v. Gesetze Gottes, v. den 10 Geboten, Hamburg 1737. - Ders., Die Lehre v. Glauben, 52 Predigten nach 52 Bibelworten über den Glauben, Hamburg 1 7 3 5 . - D e r s . , Tisch des Herrn in Predigten überl. Cor. X I . 2 3 - 3 2 , . . . zugleich... unterschiedliche Lieder erkläret (samt) Balthasar Bebeiii Bericht v. der Messe, Hamburg 1722. Ders., Das Wasserbad im Wort, Hamburg 1731. - Nürnberger Kinderbüchlein (darin der KIKat in 52 Lectionen . . . erklärt wird), Nürnberg 1628. - Gottfried Olearius, Dispositiones der 700 in 23 Jahren zweimal jährlich gehaltenen Katechismuspredigten, Halle 1678. - Ders., Seelen-Erquickung aus dem . . . Vatter unser . . . , Nürnberg 1669. - Johann Olearius, Christi. Bet-Schule, Leipzig 1678. - Ders., Christi. Geduld-Schule, Leipzig 1668. - Ders., Christi. Tugend-Schule, Nürnberg 1670. - Ders., Geistl. Gedenck-Kunst, Halle 1656. - Ders., Geistl. Hb. der Kinder Gottes . . . Sammt Gründlicher Anleitung, wie man . . . die Hl. Schrift [täglich], die Sonntags-Evangelia [wöchentlich], den Catechismum [monatlich] neben andern Symbolischen Büchern [vierteljährlich] erbaulich betrachten könne . . . , Leipzig 1668. - Ders., Wittwer-, Wittwen- u. Waysen-Trost, Leipzig 1714 (postum). - Johann Adam Osiander, Dispositionen zum Württembergischen Katechismus, Tübingen 1674. - Ders., Kurze Dispositionen zum Katechismus Luthers samt den Haustafeln, Tübingen 1683. - August Pfeiffer, Predigten [je 8] aus Lübecker Katechismus-Wochen [in chronologischer Reihenfolge des Erscheinungsdatums]: ders., Besserung des heutigen Christenthums, Lübeck/Rostock 1693. - Ders., Theologia Medica-Catechetica Oder Geistl. Krancken-Kur, Lübeck/Leipzig 1693. - Ders., Theologia Juridica-Catechetica Oder der geistl. Rechts-Handel, Lübeck 1700. - Ders., Lucta Carnis et Spiritus, Lübeck/Leipzig 1700. - Ders., Antipapismus gnäsioos demonstratus, Berlin 1702. - Ders-, Cithara Lutheri [über 5 Katechismuslieder], Lübeck 1709. - Ders., Catechismus in Prosa et Ligata, Lübeck 1709. - Ders., Catechismus Typicus [Vorbilder aus dem A T ] , Lübeck 1718. - Ders., Harmonia Catechetico-Evangelica, Rostock/Neubrandenburg 1722. - Ders., Harmonia Catechetico-Epistolica, Rostock 1723; außerdem weitere Predigten u. Lehrschr.: ders., Einfältiger . . . Bauer-Glaube . . . in einer . . . Predigt . . . aus dem Catechismo . . . , Meißen 1678. - Ders., Ev. Augapfel [Predigten über die CA], Leipzig 1685. - Ders., Apostol. Christen-Schule [Thematische Epistelpredigten], Lübeck 1685. - Ders., Magnalia Christi über Jesum in effigie, in Originali, u. als Hierarchum in allen drey Hauptständen, Leipzig 1685. - Ders., Antimelancholicus, I . . . Promptuarium Consolationum [in 60 Kap., jedes als Dreiergespräch zw. dem Melancholicus, dem leidigen sowie dem freudigen Tröster, samt Inhaltsverzeichnis in Kurzversen des Caspar Fiedler], Leipzig 1694; II . . . Promptuarium Paracleticum, „Creutz-, Gedult- u. Trost-Schule" [nach der Abrahamgesch., in 50 Kap. als Dreiergespräch zw. dem Sorgenvollen, dem Sorglosen u. Sorgenbrecher], Leipzig 1698. - Ders., Schola Theologica-Didactica-Casistica [!] Oder Lehr- u. Gewissens-Schule . . . , [nach der Jakobsgesch. aus einer Leipziger u. einer Nürnberger Predigtreihe], Lübeck 1717. - Ders., Nuptialia oder

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Haus- u. Eheschul [in 39 Predigten über das Leben Isaaks], Nürnberg 1722. - Ders., Tugend- u. Sitten-Schule [nach dem Exempel Josephs, nebst locis moralibus], Lübeck 1724. - Ders., Ev. Christen-Schule . . . darin nach kurtzer Auslegung des Textes aus jedem Euangelio ein bes. GlaubensArticul gezogen, Leipzig 1710. - Ders., Betrübtes . . . Aber auch Getröstetes . . . Kind Gottes [16 Festandachten], Lübeck 1726. - Ders., Luthertum vor Luthern, Dresden 4 1717. - Ders., Antichiliasmus [Streitschr. gegen Elias Praetorius alias Christian Hoburg], Lübeck 2 1 7 2 9 . - S t e p h a n Praetorius, Geistl. Schatzkammer der Gläubigen, bearb. v. Johann Arndt; neu bearb. v. Martin Statius, Lüneburg 1666. - Johann J a c o b Rambach, Erbauliche Betrachtungen über den Katechismus Luthers [sonntags nach dem Gottesdienst im Waisenhaus zu Halle gehalten], Frankfurt 1737. - Ders., Der wohl informierte Catechet, Jena 1722. - J a c o b Reichmann, Collegium Concionatorium, T. IV, Plauen 1684. - Johann Gustav Reinbeck, Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene . . . Göttliche Wahrheiten, T. 1 - 9 , Berlin/Leipzig 1 7 3 1 - 1 7 4 7 . - Dietrich Reinkingk, Bibl. Policey . . . Auff die drey Haupt-Stände [319 Axiome in 3 Büchern], Frankfurt s 1701. - Martin Rinckart, Catechismus-Wolthaten Vnd Catechismus-Lieder Geschickt vnd Gesangsweise gesetzet, Leipzig 1645. — Johann Caspar Schade, Christi. Hauß-Kirche, Leipzig 1702. - Ders., Geistl. Schatzkästlein u. Güldenes ABC . . . Nach den dreyen Articuln des Glaubens, Leipzig 1702. - Ders., Was fehlet mir noch? Beantwortung nach Ordnung u. Anleitung des Catechismi, Leipzig 1689. - Christoph Scheibler, Aurifodina Theologica [u. a. auch Catechismus nebst Hauß-Taffel in vielen Predigten], Frankfurt 1664. - Samuel Schelwig, Catechismus-Reinigung, Danzig 1684, Osnabrück 1712. Caspar Schmidt, Astrologia Catechetica oder Stern-Catechismus [nach Gen 15,5] in 8 Predigten, Wittenberg 1661, 1676. - Christoph Schmidt, Fax Catechetica, Catechismus-Fackel in 6 Predigten, Gießen 1660. - Martin Schmidt, August Hermann Franckes Katechismuspredigten: LuJ 33 (1966) 8 8 - 1 1 7 . - Leonhard Schneyder, Geistl. Rüstkammer, 7 Predigten über den Catechismum, Leipzig 1655. - Joh. Conrad Schragmüller, Dulce-Amarum, Das Bitter-süsse Christenthum, Gespräch zwischen Crucian u. Christian . . . auf allerley Fälle [52 casus conscientiae], Durlach 1677. - Andreas Christoph Schubart, Geistl. Catechismus-Lust, 22 Thematische Predigten, Halle 1670. - Ders., Weg zur Vollkommenheit, 33 Thematische Predigten, Halle 1680. - Balthasar Schupp, Gedenk daran, Hamburg! Katechismus-Predigt v. dem 3. Gebot am Freitag nach Mariä Heimsuchung in der Kirche S. Jakob in Hamburg gehalten, beigedr. bei Wilhelm Beste (s.o. Lit. zu 1.2), III, (204) 2 1 0 - 232. - Joh. Christoph Schwedler, Bibl. Spruch-Historien-Catechismus [mit Catechismus-Lexikon, -Bibel u. Postille]..., Zittau 1719. - Christian Scriver, Christi. Seelenschatz in Predigten über die ganze ev. Glaubens- u. Sittenlehre, 5 Bde., Magdeburg 1 6 7 5 - 1 6 9 2 , zuletzt Stuttgart 1 2 1 8 4 1 . - Ders., 7 „Goldpredigten" (Chrysologia catechetica), Stendal 1658, zuletzt Stuttgart 1861. - Michael Siricius, Zwantzig Predigten über den Christi. Glauben, Güstrow 1673. - Valentin Sittig, Schrifftvester Glaubensgrund, Merseburg 1669. - Philipp J a k o b Spener, Einfältige Erklärung der christl. Lehr nach der Ordnung des kleinen Catechismi..., Frankfurt 1677, Nachdr. Hildesheim 1982. - Ders., Catechismustabellen, 1683; mit Joh. Georg Pritius Einleitungstabellen in Frag u. Antwort verfasset durch Joh. Friedrich Starck, Frankfurt 1725. - Ders., Kurtze Catechismuspredigten [100], Darinnen die fünff Hauptstück auß dem Catechismo Und die Hauß-Taffel Samt den Fest-Materien/Einfältig erkläret werden, Frankfurt 1689. - Paul Sperling [Superintendent in Leisnig], Moses informans . . . Betrachtung . . . vieler Tugenden . . . in den zehn Geboten, Leipzig 1705. - Ders., Moses detonans . . . Betrachtung vieler Laster, wider welche Moses in seinen zehn Geboten gewaltig donnert, Leipzig 1703. - Andreas Steiner, Trinarium sacrum . . . wie ein Christ jhme seinen Catechismum wol könne einbilden . . . , Leipzig 1623. — Nicolaus Stenger, Grund-Feste der Augspurgischen Confession . . . in [dreimal?] 62 Predigten, Mittwochs als „Gewissens-Predigten" gehalten, Erfurt 1649, 1652,1654. J a c o b Stöcker, Elenchus Catecheticus Antipapisticus [99 Predigten], Jena 1634. - Bonifacius Stöltzlin, Catechismus-Hand Das ist Ordenliche/einfältige u. Schrifftmässige Erklärung des kl. Catechismi . . ./Der Sechs Hauptstukken/der Hauß-Tafel/des Underichts für die Communikanten/vnd der Kinder-Gebetlein [137 Predigten in 3 Bdn.], Ulm 1666ff. - Johann Strahl, Sylva Catechetica [80 Predigten], Wittenberg 1655. - Conr. Friedrich Stresow, Haußpostille für die Landleute oder Catechismus in den Sonn- u. Festtags-Evangelien (Register, wie man die Katechismus-Lehre . . . mit Hilfe dieser Predigten behandeln könne), Flensburg 1750. - Samuel Christian Thomae, Vernünfftige lautere Milch des hl. Catechismi in 10 Predigten, Braunschweig 1705. - Nathanael Tilesius, CatechismusPredigten, Breslau 1638. - Caspar Titius, Theol. Exempelbuch, vf. 1638, Leipzig 1684. - Tobias Wagner, Siebenfältiger Ehehalten [ = Gesinde-] Teuffel-Predigt aus dem Evangelio Lk 16 v. untrewen Haußhalter . . . , Ulm 1651. - Christian Weidling, Lehrreiche Oratorische Schatz-Kammer..., Leipzig 1701. - J o h . Heinrich Weihenmaier, Christi. 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770 7. Zur Katechismuspredigt

Katechismuspredigt in den reformierten

Kirchen

Der -»Heidelberger Katechismus, 1563 von Kurfürst Friedrich III. in der Kurpfalz eingeführt, konnte auf schweizerischen Vorgängern wie auf 34 Jahren Katechismuserfahrung in den lutherischen Territorialkirchen aufbauen, die den Katechismus inzwischen als lern- und lehrbares Handbuch samt den zugehörigen Lehrgesprächen, Predigten und Prüfungen zum Gemeingut reformatorischer Kirchenordnung gemacht hatten. Seine offizielle vierte Fassung hatte die Kurpfälzer Ordnung in 52 Sonntage eingeteilt und ihr damit das Jahresprogramm für die Katechismuspredigt gleich mit in die Wiege gelegt, zusammen mit einer Lektionsordnung für den Sonntagvormittagsgottesdienst, nach der er dort an neun bzw. mit den Haustafelsprüchen zusammen an zehn Sonntagen hintereinander, jährlich also fünfmal der Gemeinde ganz vorgelesen werden sollte, ohne dadurch die biblische Schriftlesung zu verdrängen. Die Sonntagseinteilung weist auf Calvins Genfer Katechismus von 1545 zurück, der 1563 erstmals deutsch in Heidelberg erschienen war und für 363 Fragen 55 Sonntage vorsah; auch -»-Oekolampad hatte seinen Kinderbericht schon 1534 in 53 Sonntage eingeteilt. Die Haustafel wurde dem vorher eine Zeitlang gebräuchlichen Brenzschen Katechismus entnommen; sie ist von Balthasar Copius in seinen Katechismuspredigten später etwas aus- und umgebaut worden. So begann mit dem HeidKat zusammen auch gleich der Traditionsstrom der Predigten über ihn. Als ihn die Synode in Dordrecht 1618 (—•Dordrechter Synode) zur reformierten Lehrnorm erhob, hat sie auch die Katechismuspredigt am Sonntagnachmittag für alle Prediger bei Strafe verbindlich gemacht, selbst wenn nur die Pfarrfamilie teilnehmen würde. Diese Übung ist nach dem Dreißigjährigen Krieg noch 100 Jahre lang weitergegangen. Z u den lutherischen Katechismuspredigten gibt es viele Entsprechungen. Auf beiden Seiten haben sich Prediger, aber auch theologische Lehrer, intensiv damit beschäftigt, oft in Personalunion; die Grenze zwischen theologischer Erklärung und Predigt, für die diese ja fast immer bestimmt war, ist nicht scharf zu ziehen. Auch die Grenze zwischen der Lehrform und der Gebetsform ist durchlässig, wie man an der Einfältigen Erklärung und dem Gebetbüchlein des Heidelberger Hofpredigers Joh. Willing 1568 sehen kann. Vor allem aber liegt beiden gleich viel am Ineinandergreifen der katechetischen Bemühungen in Kirche, Haus und Schule, wobei die letztere eher im Schlepptau der Kirchen erscheint. Auch in Dordrecht hat man 1619 ausdrücklich auf „Prediger, Älteste, Vorleser und Krankenbesucher" hingewiesen, um die Aufgabe durch die vier Ämter auf die Schaltern der ganzen Gemeinde zu legen, und schon —»Beza hat deren geordnete visitatio domestica darauf angesetzt. Ob freilich Petrus de Witte ernsthaft hoffen konnte, die jungen Leute könnten sonntagnachmittags nach der Predigt statt Spiel und Scherz „in lauter Liebe und Lust zur Wahrheit seine gedruckten Catechyzatien" nachlesen wollen? Schließlich ist auch die Ausdifferenzierung der Katechismen in immer mehr Unterfragen ein beiden Seiten gemeinsamer Zug. H. Altings Catechismusunterricht des Pfalzgrafen Friedrich V. ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel geworden (1606/08). Einige typische Unterschiede lassen sich leicht erkennen. Der äußerlich auffallendste hängt mit der Zusammensetzung der reformierten Kirchen zusammen: Sie haben schon früh nicht nur oberdeutsche und niederrheinische, sondern auch französische, holländische und englische Gebiete umfaßt. Dies erklärt die größere Zahl lateinisch, z. T. im oder fürs Exil geschriebener Werke: M a n wollte nicht die Bildungsgrenzen aufzeigen, sondern Sprachbarrieren überbrücken. Die stets fließende Grenze zwischen gelehrter und erbaulicher Absicht ist dadurch noch schwerer zu treffen. Das andere Merkmal ist innersprachlicher Art. Luther hatte fürs Lernbüchlein und fürs Lesebuch zwei Modelle entworfen: Die Predigt trat zum Katechismus als ein Instrument seiner Weitervermittlung hinzu und hat damit zugleich seinen Rang als Primärtext evangelischen Glaubenszeugnisses bekräftigt. Der HeidKat schlägt nach Anlage, Sprachart und Themen einen Mittelweg ein: Er hat zwar Passagen von frömmigkeitsbildender Sprachkraft; seine erste Frage ist wie Luthers Erklärung zum 2. Glaubensartikel in viele

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Predigten eingegangen. Aber er will auch fehlende Themen ergänzen und zu strittigen Fragen unmittelbar Stellung nehmen. So gibt er nicht nur mehr zu lernen auf, sondern wirkt auch in seiner Sprache eher lehrhaft und tendiert in sich selber zur Predigt. Die vielen angeführten, bald auch ausgedruckten Bibelstellen unterstreichen nur diesen Eindruck. Katechismuswochen mit gedrängten Betrachtungen der Katechismus-Systematik und ihres Zusammenspiels begegnen nicht, obwohl manche dort geläufigen Bilder durchaus gebraucht werden. Stattdessen finden sich Katechismuspredigten übers Jahr hin, in einem Kirchenwesen, das auch am Sonntagmorgen fortlaufende Bibeltexte mehr liebt als die Perikopen und das zu den „Festfragen" und Festbegehungen ein eher unterkühltes Verhältnis besitzt und sich auf der ganzen Linie fast radikal-humanistisch von den Vorprägungen überkommener Frömmigkeit freimachen will. Man geht jährlich auf vier Abendmahlsfeiern zurück und bekommt so die Prüfung der Kommunikanten und ein Stück Kirchendisziplin besser in den Griff. Man läßt die Strukturen des Meßgottesdienstes weit hinter sich und holt auch bei den tief eingewurzelten Geboten Wortlaut und Zählung der Bibel wieder hervor (seit dem Zürcher Wandkatechismus 1525). Hier drängt alles um so stärker zur Predigt. Von zweierlei Typen reformierter Katechismuspredigt zu sprechen, bleibt sachlich ohne Bedeutung. Denn ob die Katechismuspredigt sich wie bei Copius einen Bibeltext voranstellt oder ob sie wie schon bei -»Zwingli und noch bei Mieg textlos erscheint: Der Katechismus bietet zu jedem Stück genügend biblische Texte an und wirkt auch ohne solche hinreichend biblisch begründet. Freilich ist auch die reformierte Katechismuspredigt an ihre didaktischen Schranken gestoßen: „Eine Katechismuslehre ist besser als fünf Predigten", war 1733 beim Bremer Kirchen- und Schulmann Heinrich Bernhard Meyer zu lesen; eine Einsicht, der man auch sonst von Luther bis Scriver häufig Ausdruck verliehen hatte. Im übrigen lag das Parademodell reformierter Katechismuspredigt dem HeidKat schon 14 Jahre voraus: in den - textlosen - fünf Dekaden Heinrich —»Bullingers 1549/1551, die man später sein Hausbuch genannt hat. Bleiben zwei Merkmale, die sich auch ohne speziellere Nachforschung an der reformierten Katechismuspredigt erkennen lassen, soweit man diese als eine typische Erscheinung ansehen darf. Das eine betrifft die konfessionelle Wachsamkeit, die sie sich auferlegt sah. Dabei war die förmliche Abgrenzung gegenüber der verlassenen römischen Kirche eine Frage ohne Alternative, je nach Lage von einer tiefen, unterschwelligen Abneigung gegen den Heilsanspruch einer Anstalt getragen, die über Verfolgung und Unterdrückung der Protestanten ihre segnende Hand hielt. Andererseits ist die Bemühung unverkennbar, soweit nicht örtliche Zuspitzungen die Szene verstellen, die vom Katechismus mitangesprochenen strittigen Punkte der Lehre und Praxis von der Prädestination über die christologischen Hintergründe der Abendmahlslehre in den Artikeln von der Höllen- und Himmelfahrt Christi bis zur Tauf-, Beicht- und Bußpraxis und zur praktischen Kirchenordnung so weit als möglich vom kirchentrennenden Pathos freizuhalten. Man hält an der Erinnerung des gemeinsamen reformatorischen Aufbruchs fest und ebenso an dem Grundkonsens über die Autorität der Heiligen Schrift und über die Rechtfertigungslehre. Dabei mag nicht selten der Wunsch mitsprechen, als Seitenflügel zur öffentlich anerkannten lutherischen Kirche so auch reichsrechtlich etwas stabileren Boden unter die Füße des eigenen Kirchenwesens zu bekommen. Solche etwas versöhnlichere konfessionelle Haltung, in der man sich ja mit dem „philippistischen" Flügel der Lutheraner schnell traf, nur auf die verständliche Friedensliebe der Minoritäten zurückzuführen, würde ihrer inneren Einstellung gewiß nicht gerecht; dafür sprechen die Proben ihrer Leidensbereitschaft eine zu deutliche Sprache. Auch sind hier weniger „Gewissensfälle" zu registrieren (Aisted und Amesius): Die konfessionelle Zurückhaltung konnte sich mäßigend, die Kirchendisziplin praktisch regulierend auswirken. Als letzte Besonderheit kann man vielleicht in den Auslegungen zum 5. (lutherisch: 4.) Gebot eine veränderte politische Sensibilität sich andeuten sehen, etwa schon in Bullingers Dekaden. Daß obrigkeitliche Fürsorge für die Religion nicht zum Glaubenszwang

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ausarten darf, wird ebenso deutlich gesagt, wie man bei der christlichen G e h o r s a m s pflicht gegen die Obrigkeit a u c h mit N a c h d r u c k deren Schutz- und Gerechtigkeitspflichten gegen die Untertanen und Bedürftigen erörtert und M o n a r c h i e n , Aristokratien und Demokratien vor der Gefahr w a r n t , zur Tyrannei zu entarten. Auch das kirchliche Hirt e n a m t d a r f sich nicht als H e r r s c h a f t s a m t fühlen, muß sich vor der Versuchung hüten, zu einer maiestas paedagogica werden zu wollen, wie Coccejus dies ausgedrückt h a t ; dabei wird nicht nur an das römische Gegenüber gedacht. An sich sind die N u a n c e n gegenüber den Stimmen im lutherischen L a g e r gering. Auch dort ist in der Fürstenerziehung die F r a g e vorstellbar, die H . Alting seinem Kurprinzen zudenkt: o b er, wenn er als Christ leben wolle, auch sich v o m Prediger warnen und von verkehrten Wegen zurückrufen lasse. M a n m u ß dabei nicht an bekannte Theokratiegelüste denken: Das politische Schicksal hat den reformierten Kirchen meist das L o s der ecclesia pressa zum K o n t e x t g e m a c h t , in dem solche Andeutungen brisant werden konnten. Vermutlich könnte nur der Einblick in holländische Katechismuspredigten aus den Zeiten der Glaubenskämpfe den Nachweis erbringen, wie weit m a n mit solch neuer politischer Sensibilität zu gehen und zu denken v e r m o c h t e . D o c h schon das N a c h d e n k e n darüber nicht in der Studierstube, sondern unter dem einfachen Predigtvolk m o c h t e im Ansatz für das politische Bewußtsein folgenreich werden. Wenn B. Copius einem Predigtband die Bibelworte aus Lk 9 , 6 2 , M t 2 4 , 1 3 und 1 0 , 1 6 voranstellt von dem M a n n , der mit der H a n d a m Pflug nicht zurücksehen darf, bis ans E n d e ausharren m u ß und die Klugheit der Schlangen mit der Einfalt der Tauben verbinden solle, dann ist dies keine biblische Verzierung, sondern ein genauer Spiegel der politischen L a g e seiner Kirche. Auch die reformierte Katechismuspredigt hat im deutschen Sprachraum bislang wenig Beachtung gefunden. Die Bibliographien (Koecher, Lipenius, H. Simon van Alpen) halten viele Titel bereit, W. Henß hat neuerdings einige anregend vorgestellt, H. Graffmann die Entwicklung in etwa skizziert und W. Hollweg Wichtiges für die Vorgeschichte zusammengetragen. Doch eine zureichende wissenschaftliche Gesamtdarstellung wird schmerzlich vermißt. Quellen Ruardus Acronius, Enarratio catechetica, qua Quaestiones Catechismi... explicantur, Schiedam 1606. - Joh. Henricus Alstedius, Methodus SS. 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u. Antwort . . . in fünff u. funfftzig Sontagen . . . , Heidelberg 1563. - Ders., Predigten über den Dekalog [erwähnt als Teil seiner Predigten über das Dtn u. auszugsweise besprochen v. Alfred Krauß, Calvin als Prediger: ZPrTh 6 (1884) 2 2 5 - 2 5 8 ] . - Johannes Coccejus, Op.. VI, Catechesis Religionis Christianae, Commentarius in Catechesin Heydelbergensem, postum hg. v. H. Coccejus, Amsterdam 1673, Löwen 1671, Franeker 1684. - Paulus Colonius, Dispositiones Catecheticae, Hardervik 1663. - Balthasar Copius, Vier u. fünffzig Predigten vber den . . . Heydelbergischen . . . Catechismum . . . Item die Haußtafel. Mit vielen Sprüchen der Schrifft gemehret/u. in eine richtige Ordnung gebracht . . . , Neustadt a . d . H . 1594 (Vorr. 1585). - Jacobus a Cruce, Schat der Christelyke Ziele. 64 Predicatien over den Catechismus, Amsterdam 1671. - Johannes Cüchlin, Disputationes über den Heidelberger Catechismus, Genf 1612. - Heinrich van Diest, Conciones Catecheticae in LII Dom. Cat. 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dem Niederländ. verdeutscht durch Johann Heuppel, Hanau 1604. - Christoph Pezel, Refutatio Catechismi Jesuitici, P. I u. II, Neustadt 1599. - Johannes Pincierus, Catechesis Religionis Christianae . . . paraphrasis poetica, Siegen 1597. - Johann Piscator, Explicatio Catecheseos Heidelbergensis, hg. v. Philipp Ludwig Piscator, Herborn 1622. - Ders., Expositio . . . Catecheseos, Herborn 1603. Hermann Ravensperger, Tirocinium sacrum . . . 2 T.: Didactica-elenchtica, Groningen 1615. - Quirinus Reuter, Catechesis . . . explicata, Heidelberg 1585. - Ders., Libellus compendiarius . . . secundum methodum Catecheseos Palatinae. - Johann Rudolf Rodolphi, Der Pfälzer Catechismus zum Besten seiner Zuhörer eri., lat. Bern 1697, hg. v. Franz Halma, Franeker 1 7 0 5 . - J e a n Jacques Saurin, Abrégé de la théologie et de la morale Chrétienne en forme de catéchisme, Amsterdam 1722; dt.: Begriff der christl. Glaubens- u. Sittenlehre in katechetischer Form durch Christian Fürchtegott Geliert, Chemnitz 1749. - Reinhold Schalde, Predigten über den HeidKat, Danzig/Leipzig 1754. - Christian Schotanus, Partitiones Theologicae seu Ars Ursino-Amesiana in Catechesin Palatino-Belgicam, Franeker 1665. - Caspar Sibelius, Meditationes Catecheticae, Amsterdam 1616, 1646, 1649; Deventer 1 6 4 6 - 1 6 5 0 . - Bernardus Smytegelt, Des Christen enige troost in leven en sterven of verklaring van de Heidelbergse Catechismus, Middelburg 1739, Nachdr. Houtent 1986. - Georg Spindler, Zwo u. fünfftzig Predigten Vber den Heidelbergischen Catechismum . . . sampt einem Examine [für die] so ihre Kinder tauffen lassen, zum H. Nachtmal gehen oder in den Ehestand sich begeben wollen . . . , Amberg 1597. - Christoph Staehelin, Catechetischer Hauß-Schatz oder Erklärung des Heidelberger Catechismi, St. Gallen 1724, Basel 1724-1728, 3 1737. - Salomon van TU, Homiliae Catecheticae, Utrecht 1714. - Zacharias Ursinus/David Paraeus, Explicationum catecheticarum opus absolutum, Neustadt 1600, Frankfurt 1603, Genf 1608; als Corpus doctrinae . . . recognitum, . . . emendatius et auctius, Heidelberg 1612. - Joachim Wendland, Catechesis Heidelbergensis, Bremen 1623. - Joh. Paul Widder, Erbauliche Betrachtungen über die in dem Heidelberger Catechismo enthaltene göttl. Wahrheiten u. Glaubenslehren, aus Vernunft u. Sehr, zu einem gottseeligen Leben hergenommen, Frankfurt 1753. - Johann Willing, Einfältige Erklärung der Zehen Geboten Gottes/der zwölff artickeln . . . usw. auch der Hochheiligen Sacramenten/sampt andern Christenlichen Gebetten . . . , Heidelberg 1568/69. - Petrus de Witte, Catechetisches Kleynod . . . in die Hochdt. Spraache übers, durch Joh. Thomae, Hanau 1661. - Felix Wyss, Tigurini Catechismi Analysis [in je 262 Thesen u. Antithesen; darin als Zugabe eine Iconomachia u. Iconologia (42ff)], Hanau 1653, Zürich 1676. Wilhelm Zepper, De politia Ecclesiastica, 3 Bücher, darin 1. II, c. 7 De ratione catechizandi pueros [Z. baut die Haustafel zu einer (politischen) KO um]. - Johann Zwick, Katechetische Sehr.: F, Cohrs IV, 6 7 - 1 4 1 , s.o. Lit. zu 3. - Huldrych Zwingli, Leerbiechlein, lat. Basel 1523, dt. Augsburg 1524, dt. Zürich 1526, Neudr. Erfurt 1844. - Ders., Predigten über das Apostolikum, Bern 1528. Literatur Karl Barth, Die christl. Lehre nach dem HeidKat, München 1949. - Ders., Einf. in den HeidKat, 1960 (ThSt [B] 63). - Hermann Dalton, Der HeidKat als Bekenntnis- u. Erbauungsbuch, Wiesbaden 1870. - Klaas Dijk, Catechismus-Preek, s.o. Lit. zu 1.2. - Walter Henß, s.o. Lit. zu 1.2. - Walter Hollweg, Heinrich Bullingers Hausbuch, 1956 (BGLRK 8). - Ders., Neue Unters, zur Gesch. u. Lehre des HeidKat, 1. Folge, 1961 (BGLRK 13), 2. Folge, 1968 (BGLRK 28). - August Lang, Der HeidKat u. vier verwandte Katechismen, Leipzig 1907, Nachdr. Darmstadt 1967. - Carl Pestalozzi, Heinrich Bullinger, Leben u. ausgew. Sehr., Elberfeld 1858. - Karl Heinrich Sack, Eine Charakteristik des HeidKat: ThStKr 36 (1863) 2 1 3 - 2 2 6 . - Carl Sudhoff, Theol. Hb. zur Auslegung des HeidKat, Frankfurt/Erlangen 1862.

8. Die Aufklärung

und das Ende

der

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In ihrer E n d p h a s e spiegelt die Katechismuspredigt die Krise des Katechismusgeb r a u c h s in der A u f k l ä r u n g wider; sie n i m m t diese fast s c h o n vorweg. Als a m t l i c h e E i n richtung hatte sie den Anspruch des K a t e c h i s m u s auf öffentliches G e h ö r m i t v e r k ö r p e r t , ihm solches G e h ö r freilich nur sehr eingeschränkt zu verschaffen v e r m o c h t . D e n n W o chen* oder N a c h m i t t a g s p r e d i g t e n k o n n t e n sich nie mit dem Ansehen des G o t t e s d i e n s t e s a m S o n n t a g v o r m i t t a g messen. Ihre e r w a c h s e n e n Z u h ö r e r k a m e n aus spezifischen G r ü n den und G r u p p e n : aus familiärem oder k i r c h l i c h e m Pflichtgefühl, von A m t s wegen, a u s Altersneugier, o d e r weil m a n sich mit d e m Prediger t h e o l o g i s c h oder persönlich verbunden w u ß t e . I m g a n z e n m a g es schon fast s y m b o l i s c h erscheinen, d a ß die dem Alltag besonders z u g e w a n d t e Katechismuspredigt in diesem selbst i m m e r weniger R a u m u n d Widerhall fand. Viel trug dazu freilich ihre eigene G r u n d s p a n n u n g bei: J e mehr m a n sich auf die

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Kinder einstellte, desto mehr nahm das Interesse der Erwachsenen ab, und je weniger Erwachsene zu solchen Veranstaltungen kamen, desto mehr wurde die Predigt für diese zu einem Problem. In erster Linie hat somit die Katechismuspraxis selber das Ende der Katechismuspredigt herbeigeführt. Ursprünglich für Kinder und Einfältige entworfen, aber theologisch so gefüllt und sprachlich so gelungen, daß Luther gerne sein Leben lang Schüler des Katechismus sein wollte, wurde diese elementare Herzensfibel für den denkenden, betenden und sich im Leben einübenden Glauben aus einem M e d i u m evangelischer Glaubenssprache mehr und mehr zu einem Kompendium konfessioneller Glaubensbelehrung, und schließlich begann man, in diesem Leitfaden nur noch die Elementarstufe für den Aufstieg des Christen zur vollen Bibel- und Glaubensmündigkeit zu sehen. J e mehr aber die Schüler als seine Hauptadressaten erschienen, desto näher legte es sich, vor allem an deren kindliche Altersstufen zu denken. Im kirchlichen Bewußtsein blieb so der Katechismus am Ende fast nur noch als Kinder- und Schülerlernbuch präsent. Während dieser Entwicklungen waren die ganze Zeit über viele mit den verschiedensten Absichten um ihn bemüht. M a n wollte ihn entweder dogmatisch auffüllen oder noch kindgemäßer gestalten. M a n mochte sich ihn bald lebens- und gewissensnäher, bald noch erbaulicher wünschen. Oder man wollte ihn immer ausführlicher mit der Bibel begründen, mit ihr überhöhen, ja ihn am liebsten ganz durch sie ersetzen. Fast jeder konnte sich dabei auf eines seiner ureigensten Ziele berufen. Wenn der Katechismus erst Sprachfibel w a r , dann Glaubenslehre und schließlich nur noch Lernbüchlein wurde, dann wurde er immer das, was seiner Zeit jeweils am nötigsten war und am besten erreichbar erschien. In solcher Entwicklung wurde die Katechismuspredigt als erstes entbehrlich. Ihr Wegfall kann aber dann bloß unterstreichen, welchen Gesichts- und Gewichtsverlust der Katechismus als ganzer bei einer solchen Entwicklung erlitt. N o r m a l e Verschleißerscheinungen traten hinzu. J e forcierter man ihn praktizierte, desto rascher mußte er sich verbrauchen. Die Sanktionen, die den Besuch der Veranstaltungen sichern sollten, waren am Ende so unwirksam wie unangemessen. „Katechismush o c h z e i t e n " , die das sich abfragende Kinderpaar zu Hauptdarstellern erhoben, blieben dörfliche Unsitten ohne positiven Ertrag. Nicht nur die Katechismuspredigt wurde den H ö r e r n (wie den Predigern selber) zu viel. War 1715 in Dresden noch ein Mühsamer, doch erbaulicher Catecheta von J . J . Danutus erschienen, so hatte sich Götze in Lübeck schon deftiger mit dem offenen Spott über „Schwarzmäntel und Katechismusknechte oder - g e c k e n " herumzuschlagen. Immer mehr nahm die Kritik an einer Unterrichtspraxis zu, bei der „mit Catechismus, Confirmandenbüchlein, Communicantenbüchlein usw. alles in einem Triebrad um Eine Axe, nehmlich die 6 Hauptstücke des Catechismus heruml ä u f t " und dem Katecheten die Kunst abverlangt, „an dunkle, unfruchtbare Sätze gesunde Ideen anzureihen und mit geschärftem Blick die practische Seite derselben aufzuhellen", wie P h . H . Schuler (Beschreibung 7 2 / 8 1 ) als Anonymus 1791 die Lage „freymüthig, nec temere nec timide" dargestellt hat. In Württemberg hatte man noch 1668 die Katechismuspredigt amtlich eingeschärft und auch den Brenzschen Katechismus mit einer Sonntagseinteilung versehen. Aber schon 1698 wurde dann angeordnet, anstelle des Kanzelsermons ganz zum freien, fragweisen Lehrgespräch überzugehen. Dies wurde zum unfeierlichen Schlußdatum für die Katechismuspredigt in Württemberg. In anderen Kirchengebieten, man denke an Lübeck und Hamburg, hielt sie sich länger, kam aber nach 1750 fast überall zum Erliegen. M a n trifft noch auf Nachzügler (G. L. Seiz im Stuttgarter Waisenhaus oder S. M o r l und G . W. Panzer in Nürnberg); aber w o man den Katechismus noch weiter verteidigt ( J . F r . Barth) o d e r bearbeitet (Seb. Schütz, Conr. Lufft, Sam. Ebert), gilt dies nur noch selten der Predigt. Aufmerksamkeit hätte sicher —>Oetingers Historisch Moralischer Vorrath von Catechetischen Unterweisungen ... von 1762 bei den Pfarrern verdient, denen er zuged a c h t war: Er paraphrasiert darin die Gebote für die Kindheitsstufen, zieht für die Hausväter die Sprüche Salomos vermehrt mit heran, indem er z . B . deren erste Kapitel in G e b e t e für Anfänger verwandelt. Alter Übung folgend, erklärt er das Vaterunser mit

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Psalmen, baut biblische Lebensläufe alphabetisch mit ein, umgibt auch die Geschichte Jesu mit solchen. Er stellt den 3. Artikel besonders heraus, nimmt die Sakramente als Mittel, bei denen die Verständigen sich unter das Äußere beugen, die Unverständigen aber gerade daran sich zum Innerlich-Unsichtbaren erheben lernen, und will schließlich den ganzen Katechismus anhand einer Exempelbibel noch einmal repetieren: eine umfassende Sammlung, in der sich die alten Traditionen mit den neuen Erfahrungen mischen, einer Zeit zugedacht, in der „kein religiöser Streit, sondern die Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit Gottes" alles beherrscht. In seinem Vorwort hat Oetinger in katechismusdürrer Zeit auf den Punkt gebracht, was einen gelungenen Katechismus ausmachen müßte: „Die Weisheit auf der Gasse, die Schickungen Gottes, und der Geist, der durch das Wort gereicht wird, müssen zusammen ein einig Werk des Geistes in der Seele der Lehrenden ausmachen" (2) - der Wunsch nach jener Zusammenfassung und Öffnung zum Leben, wie sie einst Luther (mit seinem: „schreib daran: Dedit...") gelungen war. Leider hat dieser einsame Rufer seinen „Catechetischen Vorrath" durch Umfang und Originalität selber der allgemeineren Weiterverwendung entzogen. Im verbreiteten Rückgang kirchlicher Sitten, der auch die Wochenpredigten zu kleinen Bibelstunden zusammenschrumpfen ließ, wurde die Katechismuspredigt um so weniger vermißt, als ja die sonntäglichen Katechisationen fortbestanden, Restbestand einer gesellschaftlich abgestützten religiösen Erziehung, für Jugendliche erst bis zum 25., dann zum 20. und zum 18. Lebensjahre verbindlich, aber wohl kaum so erzwingbar. In manchen Gebieten trat ihnen eine von den Schulen ermöglichte „Wochenkinderlehre" an die Seite, die sich in Württemberg, 1739 eingeführt, samt ihrem Kinderlehrbuch mit 559 Fragen und über 2000 Bibelstellen als ungemein haltbar erwies, auch bei Erwachsenen Interesse finden konnte (Palmers Katechetik zeichnet ein freundliches Bild), aber nach dem 1. Weltkrieg so hoffnungslos antiquiert wie ihr Lehrbuch erschien. Inzwischen hatte sich auch der Sprachgebrauch vielsagend verändert. Während noch Habelgans seine Catechetische Bibel 1711 ihre Geschichten in der Katechismusabfolge erschließen ließ, dachte Johann Jacob Rambach im wesentlichen an die Lehrmethode, wenn er für die sonntägliche Katechisation am liebsten eine „katechetische" Wiederholung der Vormittagspredigt vorsehen wollte. Der Katechismus war und blieb insgesamt auf dem Rückzug. Beim frühen —»Zinzendorf trifft man noch manche Bemühung darum an. Er weiß, wieviel mühsamer diese Arbeit für das kindliche Verständnis ist als „alles schwülstige Geschwätz menschlicher Weisheit". Er hat Reden über das Vaterunser gehalten, über den Zweiten Glaubensartikel, Fragstücke zu den Zehn Geboten zusammengestellt und 21 Predigt-Discurse über die Augustana herausgegeben, da er sich mit der Brüderunität (->Brüderunität/Brüdergemeine) ausdrücklich dieser Konfession in ihrer unveränderten Form anschließen wollte. Dennoch wird man beachten müssen, daß er bei seinen Katechismusentwürfen für die Brüdergemeinen zuletzt dann doch die drei Hauptstücke wegließ. Auch in seinen späten 85 Kinderandachten aus Barby finden sich neben dem Vaterunser keine Katechismusanklänge mehr, behielt die überquellende Herzenssprache seiner persönlichen Frömmigkeit ganz die Oberhand. Noch blieben manche Erinnerungen an die einstigen Katechismuspredigten sozusagen im Raum stehen. Vor allem gab es den nicht überall eingehaltenen Brauch, zum Beginn eines neuen Jahrgangs der Kinder lehre am Ende des Kirchenjahrs sonntagvormittags eine „Katechismuspredigt" zu halten, wie man im Sommer zum Beginn eines neuen Schuljahres auch eine „Schulpredigt" hielt und um den 25. Juni der Übergabe der Augustana gedachte. (Beispiele dafür finden sich mehrfach in Burks Evangelischem Fingerzeig-, in Christian Palmers zwölfbändigem Sammelwerk von Kasualreden ist allerdings nur eine einzige „Katechismuspredigt" zu finden, die im wesentlichen auf eine Ermahnung zum Besuch der Kinderlehre hinausläuft [IV, Nr. 5, Stuttgart 1843].) Doch waren dies kaum mehr als Pflichtaufgaben, in deren Appellen sich nur die Schwäche der Sitte verriet. Denn inzwischen hatte die Autorität des Katechismus längst ihren entscheidenden Stoß durch das heraufziehende Denken der -»Aufklärung erhalten. Er galt jeder Form

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religiöser Fremdbestimmung. —»Kant protestierte vehement dagegen, daß ein Buch für die Leute Verstand, ein Seelsorger für sie Gewissen haben und ein Prediger sagen sollte: Räsonniert nicht, sondern glaubt. Er erklärte es zur entehrendsten aller Unmündigkeiten, gerade religiöse Wahrheiten nur aus zweiter Hand zu übernehmen. Dieses Aufklärungspathos konnte den Widerstand gegen jeden „ S y m b o l z w a n g " nur bestärken (Bretschneider), nach einer Phase, in der ein Katechismusprediger wie A. Pfeiffer bei Amtsübernahme seiner Gemeinde erzählte, er habe nun schon zum 7. M a l das Konkordienbuch unterschrieben. In der Abneigung gegen jede vorformulierte Gängelung des persönlichen Glaubens stand auch -> Schleiermacher keineswegs allein mit der Meinung, der Katechismus sei nur für solche einfältigen Pfarrer gut, die es nach den Bildungsanforderungen der Zeit eigentlich gar nicht mehr geben dürfe. Das galt nicht nur einer religiösen Bevormundung, die man als unangemessen empfand. Dahinter stand auch die Einsicht, daß die veränderten Fragen der Zeit weit über die geschichtlich-partikulären S t a m m - M u s t e r des herkömmlichen theologischen Denkens ins Universell-Menschliche hinauswiesen und der Katechismus dafür keine angemessene Antwort bereitzuhalten schien. Die Predigt stand ja weiterhin vor der alten Aufgabe, der die Katechismuspredigt hatte abhelfen wollen: das Denken des Glaubens mit seinen biblischen Quellen, seinen Überlieferungsformen und den Grundproblemen und Zeitfragen menschlichen Lebens zu versöhnen, die Glaubenswahrheiten zu vertreten und deren Lebenswert zu behaupten. Aber man mochte dem Katechismus die überzeugenden Antworten darauf immer weniger zutrauen. J o h a n n Lorenz von -»-Mosheims Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre Jesu wollten die neue Aufgabe annehmen und zugleich zeigen, w o man jetzt dafür die „apostolische M i l c h " , die „ersten Buchstaben der göttlichen L e h r e " zu finden gedachte, auch wenn Mosheim zugleich den letzten englischen Katechismusprediger des vergangenen Jahrhunderts, den langjährigen Londoner „Dienstagsprediger" J o h n Tillotson favorisierte und dessen Darlegungen über die Hauptstücke des christlichen Glaubens und die Religion als die wichtigste Angelegenheit der Menschen den deutschen Lesern vermitteln wollte. Andere wie Fr. V. Reinhard wollten durch anschauliche Themenfülle aus dem Alltagsleben das Zutrauen zur Bibel bei denen bestärken, die sich auch in der gebildeten Gemeinde nicht zu religiösen Selbstdenkern zu entwickeln vermochten; wieder andere auf ihre Weise „die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen R e l i g i o n " begreiflich machen ( - » R e i m a r u s ) , die Erinnerungen an ihre beruhigenden Grundsätze verbreiten (Reche), den Glauben und die kirchlichen Pflichten einschärfen, dem Familienleben zur Tugend und häuslichen Zufriedenheit helfen (Ribbeck) oder denkende Christen katechetisch mit unterhaltenden Exempeln bei der „Vermehrung ihrer Überzeugungen, Tugenden und Gemüthsruhe" begleiten (Miller), falls sie nicht vorzogen, abseits von solchen Bemühungen biblisch wie eh und je zum wahren Christentum aufzumuntern (Brastberger). Bei allen blieben die alten Katechismen ganz auf der Seite; es wurde zur „Preisaufgab e " , nach neuen zu suchen (Berlin 1767). Die Aufklärung hatte, so schien es, das Hauptziel des Katechismus sich zu eigen gemacht: den mündigen, selbstdenkenden, seinen Glauben auch selbst verantwortenden Christen heranzubilden, freilich in der Faszination und mit dem R i s i k o einer Autonomie, die zur Selbständigkeit führen wie in Eigenmächtigkeit enden konnte. Da mochte man gerne das Augsburger Bekenntnis weiterhin feiern, freilich mehr die Tat als die Lehren: Auf diesen Unterschied legt auch Schleiermacher in seinen zehn Sonntagspredigten vor und nach dem 25. Juni 1830 großen Wert, und wurde dann doch, selbst als „ R e f o r m i e r t e r " , dem Geist der Lehren in dieser Konfession souveräner gerecht als viele streitbare Vorgänger. Dennoch hat gerade in dieser Epoche der Katechismus noch ein wichtiges letztes Kapitel der Geschichte der Katechismuspredigt mitgeschrieben, allerdings in einer fast undurchschaut gebliebenen M e t a m o r p h o s e . 1818 hat -> Schleiermacher Neun Predigten über den christlichen Hausstand gehalten, die 1820 lind 1825 erschienen. In der Sache war diese Thematik keine Ausnahmeerscheinung: Die Predigt der späteren Aufklärung hatte

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sie schon über ein Menschenalter fleißig gepflegt (ausführliche Belege bei Krause). Schleiermacher vermeidet jede Erinnerung an den Katechismus, an die Haustafel und deren wichtige Rolle in der Geschichte der Katechismuspredigt. Überhaupt scheint der vordergründige Eindruck hausbackener Moral für das Verhalten von Kleinbürgern in Haus und Gemeinwesen auch der Predigtgeschichte den Blick auf die Herkunft des Themas und die Qualität seiner Bearbeitung etwas verdeckt zu haben. In Wirklichkeit hat hier die Katechismustradition in einer ganz ins Anonyme zurückgenommenen Verwandlung ihr eigenes Weiterleben besorgt: Hier ist die alte Haustafelfrömmigkeit der Katechismen als verinnerlichter Codex evangelisch-religiöser Glaubensmoral noch einmal federführend geworden. An einer besonderen Stelle hat sie sich übrigens sogar einmal ausdrücklich auf Luthers Katechismus zurückführen wollen: als ihn Johann Gottfried -*Herder in Weimar zu „erklären" unternahm. Er hat darin freilich den Haustafelanhang durch 12 Lebensregeln nach eigener Bauart ersetzt. Die innige Verflechtung solcher „Haustafelfrömmigkeit" mit einem zentralen Interesse des evangelischen Glaubens, ja - man muß das noch deutlicher unterstreichen - deren Einschätzung als Ort eigener, „religiöser" Glaubens- und Gotteserfahrungen und nicht nur als Gelegenheit zur Einübung evangelischer Glaubensmoral hat seit Luther keiner mehr so deutlich ausgesprochen wie dies Schleiermacher, freilich in seinen Begriffen, tat. Er wolle, sagt er gleich am Anfang seiner Predigten über den Hausstand, die festlose Zeit des kirchlichen Jahres jetzt einmal dazu verwenden, „das Hauptgewebe unserer Lebensverhältnisse zu überschauen, da wir diesem doch nur zu gerne die Schuld an unsrem abnehmenden frommen Gefühl", „unserer Unstätigkeit und Flüchtigkeit" zuschrieben; aber „im Spiegel des göttlichen Wortes betrachtet" könnten sie uns gerade nicht „von der Gemeinschaft mit Gott und mit dem Erlöser abziehen" (Predigten über den christl. Hausstand 1 f), vielmehr sollten alle Segnungen der christlichen Frömmigkeit dort Wurzel fassen und sich überallhin ausbreiten. Schleiermacher will also ausdrücklich jeder Absonderung unserer religiösen Glaubens- und Erfahrungswelt von unserer alltäglichen Lebenswelt und dessen Hauptgewebe widersprechen. In der siebten seiner Augustanapredigten unterstreicht er dies noch einmal: Wir müßten, sagt er dort, die Veränderungen, die von der Reformation eingeleitet wurden, schon deshalb „segnen", weil sie dem Priesteramt den Schein einer besonderen eigentlichen Heiligkeit genommen und eine falsche Einschätzung „der Bestandtheile des menschlichen L e b e n s " beendet haben, so daß wir die Pflichten des Hausstandes und des Bürgertums nicht länger als bloße, sich selbst überlassene Notbehelfe ansehen, sondern in ihrer vollen christlichen Würde annehmen dürften. Diese letzte, kaum beachtete Bastion in der Geschichte der Katechismuspredigt drückt so noch einmal eine ihrer ursprünglichsten Absichten aus: evangelische Glaubenserfahrung und Glaubensbezeugung nicht zum frommen Sondererlebnis oder zum bloßen Sonntagswerk werden, sondern beides gerade im Alltagsleben zu Wort kommen zu lassen und zum Bewußtsein und zur Geltung zu bringen. So hat eines der wichtigsten Erbstücke der Katechismuspredigt in Schleiermachers Predigtwerk noch einmal einen besonders bedeutenden Ausdruck gefunden. Das verwehrt jede vordergründige Verkennung dieser Thematik. In den Haustafeln wird keine Gartenlaube als Hort beschaulicher Häuslichkeit, Heimat der Vaterlandsliebe und Quelle beruflicher Selbstbestätigung erbaulich betrachtet. Im „Hauptgewebe unserer Lebensverhältnisse" geben sich vielmehr alle die spannungs- und widerspruchsvollen Tendenzen der Theologie jener Jahrzehnte ein Stelldichein. Da geht es ebensowohl um natürliche Religion und Sittlichkeit wie um geschichtliche Offenbarung, um private Frömmigkeit wie um öffentliche Moral, um Christen- und Bürgerpflichten. Da kommen unter der scheinbaren Idylle der Häuslichkeit und der Bürgerlichkeit der theologische Tiefgang menschlicher Lebensverhältnisse und die Bewährung christlicher Glaubensfreiheit in einer Weite in Sicht, hinter der manches zeitgenössische Pendant wie Carl Friedrich ->Bahrdts Moral für alle Stände fast im wesenlosen Scheine verblaßt. Da hat der Streit der Aufklärung nicht nur um die Religion der Ver-

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nunft, sondern auch und vor allem um die Vernunft der Religion seinen besonders kritischen „Sitz im Leben", seinen bevorzugten Schauplatz bekommen. Quellen und

Literatur

Johann Nicolaus Anton, Auslegung des Dreßdener Catechismus, Leipzig 1767. - Carl Friedrich Bahrdt, Catechismus der natürlichen Religion, Halle 1790. - Ders., Moral für alle Stände, 2 Bde., Vorr. v. A. Teller, Berlin 4 1797. - Johann Friedrich Bahrdt, Gründliche Vertheidigung . . . insonderheit . . . des Luth. Catechismi, Leipzig 1759. - Johannes Bischof, Katechetische Erklärung der 6 Hauptstücke des Brenzischen Katechismus in mehr als 12000 Fragen u. Antworten, Stuttgart 1749. Johann Rudolph Gottlieb Beyer, Hb. für Kinder u. Kinderlehrer über den Katechismus Luthers, Leipzig 1784-1787. - Ders., Predigten über Sprüchwörter in Verbindung mit den Sonn- u. Festtagsevangelien, Erfurt 1800 f. - Immanuel Gottlob Brastberger, Ev. Zeugnisse der Wahrheit zur Aufmunterung im wahren Christentum, Reutlingen 1785 85 1883. - Ders., Ordnung des Heils, Nürtingen 1760, Reutlingen 1856. - Karl Gottlieb Bretschneider, Die Unzulässigkeit des Symbolzwangs in der ev. 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1801-1812. - Conrad Gottlieb Ribbeck, Magazin neuer Fest- u. Casualpredigten . . . u. kleinerer Amtsvorträge, T. 1 u. 2., Magdeburg 2 1803. - Ders., Predigten für Familien zur Beförderung häuslicher Tugend u. Zufriedenheit, 3. Sammlung, Magdeburg 1798-1800. - Gottlieb Schlegel, Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Theol. u. Religion ..., Greifswald 1799. - Ders., Katechismus der christl. Lehre, Stralsund 1794. - Friedrich Schleiermacher, Predigten in Bezug auf die Feier der Ubergabe der Augsburgischen Confession. Sechste Sammlung, Reutlingen 1835. - Ders., Predigten über den christl. Hausstand, Vierte Sammlung, neue, nach der vollst, u. unv. 3. Berliner Original-Ausg. gedr. Aufl., Reutlingen 1835. - Sebastian Schütz, Ordnung des Heils, nach den 5 Hauptstücken . . . in 52 Examinibus . . . , 1746, Leipzig 1773. - Philipp Heinrich Schuler [Anonymus], Freymüthige Beschreibung des Neuesten Kirchl. Zustands im Herzogthum Wirtemberg, mit Beylagen, Frankfurt/Leipzig 1791. - Georg Leonhard Seiz, Vorbild der heilsamen Lehre für Kinder u. Kindlichgesinnte in 84 über die gewöhnliche Sonn- u. Feyertagstexte . . . gerichteten Catechismuspredigten, postum Stuttgart 1763, Tübingen 2 1773 3 1783. - Volckmar Daniel Spörl, Vollständige Pastoral Theol. aus den fürnehmsten Kirchen- u. Landesordnungen ..., T. III Von der Catechisation, Nürnberg 1764. - Christoph Starcke, Ordnung des Heils, In Tabellen . . . f ü r Studirende . . . Als auch für Einfältige . . . , Leipzig 1745. - Christian Stock, Homiletisches Reallexikon oder Reicher Vorrath ..., Jena 1733 4 1749 [Stichwort „Catechismus"]. - Johann Tillotson, Auserlesene Predigten aus dem Engl, übers. Mit einer Vorr. Herrn Abt Mosheims . . . in 8 T., Helmstädt 1739. - Hertzogthum Württemberg, Fürstliche Ordnung wegen Conformität der Kirchen-Ceremonien, Stuttgart 1668. Württembergische Kinderlehre = Johann Conrad Zeller, Auszug der Catechistischen Unterweisung zur Seligkeit u. Johann Heinrich Schellenbauer, Uber den Brentzischen Catechismum. Samt eingerückten Fragen u. Antworten auß dem kleinen C a t e c h i s m o . . . Lutheri 1682. - Nikolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf, Ein u. zwanzig Discurse über die Augspurgische Confession, 1747/1748: ders., Hauptschr., hg. v. Erich Beyreuther/Gerhard Meyer, Neudr. Hildesheim VI 1963. - Ders., Kleinere Schrifften . . . in verschiedenen Nachlesen . . . , Frankfurt 1740, in der 3. Sammlung: Kurtze Fragstücke aus den zehen Geboten; in der 10. Sammlung: Des Grafen v. Zinzendorff lautere Milch der Lehre v. Jesu Christo . . . , 1723. - Ders., Probe eines Lehrbüchelgens vor die Brüdergemeinen . . . , Büdingen/Altona 1740. - Ders., Reden an die Kinder, Barby 1761: ders., Hauptschr., hg. v. Erich Beyreuther/Gerhard Meyer, ErgBd. VI Neudr. Hildesheim, 1965. 9. Die Dauerhaftigkeit

der Hauptstücke

und die offenen

Gegenwartsfragen

D i e w e i t e r e E n t w i c k l u n g d e r K a t e c h i s m u s p r e d i g t n a c h i h r e m E n d e als r e g u l ä r e k i r c h l i c h e E i n r i c h t u n g ist — ä u ß e r l i c h b e t r a c h t e t — d i e G e s c h i c h t e i h r e s Z e r f a l l s . Sie h a t n i c h t k u r z e r h a n d a u f g e h ö r t . Sie k o n n t e n i c h t s t e r b e n , weil d i e ihr z u g e d a c h t e n A u f g a b e n g r o ß e n t e i l s f o r t b e s t a n d e n . A b e r sie k o n n t e a u c h n i c h t e i n f a c h w e i t e r l e b e n . D e r v o n d e r A u f k l ä r u n g h e r b e i g e f ü h r t e E i n t r i t t in e i n e n e u e P h a s e des C h r i s t e n t u m s w a r u n w i d e r r u f lich. D i e V e r ä n d e r u n g e n in d e r S t e l l u n g d e r K i r c h e u n d in d e n E i n s t e l l u n g e n zu ihr s o w i e in d e n a l l g e m e i n e n L e b e n s - u n d A r b e i t s b e d i n g u n g e n , im p o l i t i s c h e n u n d k u l t u r e l l e n K l i m a , i m m e n s c h l i c h e n S e l b s t b e w u ß t s e i n , in d e r p r i v a t e n u n d ö f f e n t l i c h e n M o r a l , in d e n r e l i g i ö s e n F r a g e n d e r Z e i t , in d e n M e t h o d e n u n d P r o b l e m e n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n T h e o logie w a r e n u n a u f h a l t s a m . D i e ü b e r l i e f e r t e n F o r m e n d e r G l a u b e n s v e r m i t t l u n g p a ß t e n n i c h t m e h r in d i e L e b e n s r ä u m e , f ü r d i e sie b e s t i m m t w a r e n , u n d s a h e n sich z u n e h m e n d von Leerlauf u n d Stillstand bedroht. Die Suche nach neuen Katechismen w a r ebenso d a r i n b e g r ü n d e t wie die Z u r ü c k b i l d u n g des alten zu einem latenten C o d e x protestantischer G l a u b e n s m o r a l . Die Ergebnisse solcher Suche w a r e n allerdings unbefriedigend; w o Katechismen u n d A g e n d e n , die Lehr- u n d die Feiergestalten der Kirche, d e m G u t d ü n k e n d e r e i n z e l n e n ü b e r l a s s e n b l e i b e n , d r o h t a m E n d e f a s t i m m e r n u r d e r e n Verfall. Die Einsicht, wie weit m a n mit seinen P r o d u k t e n hinter den klassischen Vorbildern a u s W i t t e n b e r g u n d a u s H e i d e l b e r g z u r ü c k b l i e b , f ü h r t e d a z u , d a ß diese, w i e i m m e r l a n d e s k i r c h l i c h a u f b e r e i t e t , a u f s n e u e w i e d e r in G e l t u n g gesetzt w u r d e n ; d e r G e b r a u c h , d e n m a n in d e r P r a x i s v o n i h n e n m a c h t e , b l i e b a l l e r d i n g s w e c h s e l n d , m a n c h m a l f a s t beliebig. F ü r d e n K o n f i r m a n d e n u n t e r r i c h t n o c h v e r b i n d l i c h , f ü r die K a t e c h i s a t i o n e n f a k u l t a t i v , verschwand der Katechismus d a m i t sozusagen aus der kirchlichen Hauptverkehrszeit. Früher als die Konsistorien meldeten sich einzelne Pfarrer und Theologen zu Wort. Als Antipode Schleiermachers versuchte es -»Marheineke auf seine wenig populäre Art mit einem Katechismus der christlichen Lehre (1825), vier Jahre nachdem dies der reformierte, aber von Herder wie von der Erweckung beeinflußte Friedrich Adolf Krummacher unter demselben Titel unternommen hatte. Es

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gab aber neben neuen Katechismusversuchen auch solche, die sich dichter an Luther anschlössen etwa der „Goldene" Nürnberger Katechismus von 1846; die beiden Katechismen, die Ludwig Adolf Petri in Hannover entwarf, oder auch der von Wilhelm Bornemann. Und es gab Landgemeinden mit noch immer so zahlreicher Teilnahme an den sonntäglichen Katechisationen, daß es für die betreffenden Pfarrer immer schwieriger wurde, dieser Mischung aus allen Jugend-, Erwachsenen- und Altersstufen katechetisch gerecht zu werden (vgl. Barth in Röhrs Homiletischem Magazin). Vor allem waren es einige markante Prediger, die den alten Brauch selbst am Wochentag durchhalten oder neu beleben wollten. So hielt Friedrich Ahlfeld von 1851-1855 in der Leipziger Nicolaikirche einer kleinen, treuen Gemeinde mittwochmorgens um 7.30 Uhr selbst in den Wintermonaten seine 100 nachher in mehrfachen Auflagen gedruckten Predigten über den Katechismus sowie solche über den christlichen Hausstand. Für August Ferdinand Huhn in Reval war dergleichen noch vom Petersburger Kirchengesetz vorgeschrieben. Auch der Direktor des Wittenberger Predigerseminars, Friedrich Leonhard Heubner, hat dort zwischen 1838 und 1851 mehrmals über den Katechismus gepredigt. Von Louis Harms in Hermannsburg bekam man postum aus den dortigen Mittwochgottesdiensten 70 Katechismuspredigten und vorher schon einen Geistlichen Blumenstrauß mit Predigten über das Apostolikum, die Augustana und über 24 Liederverse zu lesen. Mit am frühesten (1834) hat Claus -»Harms, wie dies seinem kritischen Verhältnis zu den Perikopen entsprach, seine Predigtreihen über die drei Glaubensartikel, oder über das Vaterunser, die Bergpredigt und die Augustana auf den Sonntagvormittag gelegt. Auch der junge Wilhelm —»Löhe hat damals, 1835, vermutlich im Nachmittagsgottesdienst seine Vaterunserpredigten gehalten, und Gottfried Daniel Krummacher 1838 gleichzeitig über einen Bibeltext und über die entsprechenden Fragen des HeidKat gepredigt und dabei deutlich andere Reihenpredigten über diesen vorausgesetzt. Und natürlich muß man in diesem Zusammenhang besonders an Hermann Friedrich -»Kohlbrügge erinnern, der nicht bloß Fragen zum HeidKat und einen eigenen Katechismus entwarf, sondern auch über die Bibeltexte mancher Gebote, über die Haustafel nach dem 1. Petrusbrief, an Himmelfahrt und an Pfingsten über die einschlägigen Glaubenslehren gepredigt und am 2. Pfingsttag 1854 seine berühmte Predigt über die „Sprache Canaans" gehalten hat, die er selber in lauter Fragen und Antworten vortrug, weil „der Unterricht in Form des Katechismus die beste Lehrweise ist" (Festpredigten 421), wie er dies selber begründete. Man berichtet von ihm, daß er mit dem Bekenntnis zum „Heidelberger" auf den Lippen verstarb. In die Zeit zwischen 1840 und 1860 fallen auch —»Tholucks vier (sechs) Predigtsammlungen über die Hauptstücke christlichen Glaubens und Lebens; er hat diese Reihenpredigten, z.B. über das Apostolikum, das Vaterunser, die Augustana, die Gnadenmittel der Kirche neben sonstigen „Zeitpredigten" sowie „Gewissenspredigten" beim akademischen Gottesdienst in Halle gehalten. Auch der Kulmbacher Pfarrer K. H. Caspari sei nicht vergessen, mit seinen Dekalogpredigten und seiner volkstümlichen Auslegung des KIKat; zu seinen Verdiensten gehört auch, daß er darin die schöne Vaterunserparaphrase des Wandsbecker Boten mit abgedruckt hat. Man muß noch den schwäbischen Oberhofprediger Wilhelm Hoffmann in Berlin mit seinen drei Haustafelpredigtbänden hinzunehmen und, etwas später, Emil Frommel mit seinen Dekalog- sowie Vaterunserpredigten und Max Frommeis Hauspostille. Man kann dann die Reihe der reformierten Katechismusprediger mit dem Dresdener Emil Sülze 1907, die der Lutheraner mit Hermann —»Bezzel vor und nach dem ersten Weltkrieg beschließen, nicht ohne daran zu erinnern, daß auch Männer wie Theodor -»Kaftan und Ludwig -»Ihmels den Katechismusgebrauch nachdrücklich unterstützten und daß die verstärkte Lutherforschung gleichfalls darauf hingewirkt hat (Georg Buchwald). Die meisten dieser Katechismuspredigten fallen in jene Jahrzehnte, in denen die Suche nach neuen Katechismen noch in der Diskussion war und die traditionellen noch nicht wieder fest im Unterricht etabliert waren. Und man braucht sich zugleich nur an einigen Beispielen klarzumachen, wie andere Autoren in diesem Zeitraum der Glaubens- und Sittenlehre bei Konfirmanden wie bei Erwachsenen nachkommen wollten, dann wird der theologische Hintergrund deutlich. Man mag etwa an die zwei Bände von Friedrich Albrecht denken: Religion - eine Sammlung von Predigtvorträgen im Geist des 19. Jahrhunderts, aber auch schon an Christoph Friedrich Ammons Religionsvorträge von 1793 in Erlangen, an Christian Adam Danns persönliche Bekenntnisse und Verpflichtungen 1829, bis hin zu Friedrich Arndts Konfirmations- und Weihnachtsgaben von 1860, ja selbst noch zu RobertFalkes Apologetischen Kirchenjahrspredigten 1914. Unbeschadet aller individuellen Qualitäten auf beiden Seiten erscheinen da jene Katechismuspredigten insgesamt klar als ein Ausdruck einer innerkirchlichen, theologischen Stellungnahme gegen andere Richtungen neuzeitlicher protestantischer Theologie. Man zeigt Flagge, indem man so auf den Katechismus zurückkommt. Man macht aus ihm dadurch ungewollt so etwas wie ein Parteibuch in der kirchlichen Landschaft; in ähnlichem Sinn wie auch sonst im erhitzten innerkirchlichen Richtungsstreit sogar die Bibel selbst, mindestens aber die bessere Bibeltreue von einer Kirchenpartei, besonders von deren epigonaleren Anhängern, als Parteilosung für die eigene Richtung reklamiert werden kann. Dies wäre jener Nachhut von Katechismuspredigern keineswegs persönlich anzulasten; doch zeigt sich darin etwas von der Signa-

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tur der Epoche. Insoweit sind gerade auch diese Versuche, die Katechismuspredigt noch einmal zu retten, trotz ihres theologischen und homiletischen R a n g s zugleich ein Stück der Geschichte ihres Zerfalls.

In diesem Nachspiel erscheinen noch zwei weitere Gesichtspunkte ähnlicher Art recht beachtlich. N a c h dem Fortfall einer sie mittragenden besonderen Institution mußte man versuchen, für die Katechismuspredigt im normalen Predigtgottesdienst mehr R a u m zu gewinnen. Dorthin hatte schon Luther Brücken geschlagen. Die Feste von Advent bis Trinitatis hielten dem Apostolikum, das Epiphaniasfest der Taufe die Türen offen. Darüber hinaus gaben bestimmte Tage und Perikopen den Katechismusthemen schon lange die Wege frei: Der Gründonnerstag dem Abendmahl, R o g a t e dem Vaterunser, das Erntedankfest dem Tischsegen und der vierten Bitte, die Bußtage den Zehn Geboten, das Ende des Kirchenjahrs den „Letzten Dingen". Die Hochzeit zu Kana hatte schon in der Reformationszeit zu Ehestandspredigten eingeladen, der Zwölfjährige Jesus zu mancher Erziehungspredigt ermuntert, der Hirtensonntag zu Predigten über das Predigtamt. Die Einwanderung der Katechismusthemen in den Sonntagsgottesdienst hat Friedrich H o r n in der festlichen Hälfte des Kirchenjahres mit dem Apostolikum anschaulich gemacht (1893), während knapp 30 Jahre zuvor C. A. Staudenmeyer die ganze Glaubenslehre in einem Perikopenjahrgang hatte abhandeln können, ohne den Katechismus auch nur zu erwähnen. Besonders lebensnah und in sympathischer Kürze hat sich der Jeremias-Gotthelf-Enkel und spätere Berner Kirchenrat Albert Bitzius auf die Verzahnung von Bibelund Katechismusreihen verstanden - dem Schweizer Prediger stand keine Perikopenvorschrift hindernd im Wege. So hat er in seinen postum zwischen 1894 und 1903 erschienenen sieben Predigtbänden die Zehn Gebote, die christliche Glaubenslehre, die christlichen Sitten, d a s Vaterunser, Taufe und Abendmahl, Fragen des christlichen H a u s s t a n d s , der Erziehung, der Vaterlandsliebe und der obrigkeitlichen Vorbildspflicht ebenso wie die Bergpredigt, die Gleichnisse und das Leben Jesu und das Wirken des Paulus besprochen. So sympathisch harmonisch dies alles aussieht und so gut es homiletisch gelingen mochte, so liegt darin doch auch ein bedenkenswertes Problem. Ursprünglich war ja die Katechismuspredigt als Bestandteil der Katechismuspraxis aufs engste mit dieser und ihrem Schicksal verflochten. N a c h d e m sich nun aber das Praxisgeschick des Katechismus fast nur noch im Konfirmandenunterricht, in den kirchlichen Schulstuben oder Freizeitheimen, sozusagen immer mehr unter Ausschluß der kirchlichen Öffentlichkeit abzuspielen begann und schließlich nur noch einer durch nichts mehr zu überraschenden Konfirmationsgemeinde sporadisch bewußt gemacht wurde, war dieses Stück der doctrina publica evangelii, war der öffentliche Verkündigungsanspruch des Katechismus so gut wie erloschen. Die Katechismuspredigt war damit zum reinen Sonderfall der -»Homiletik geworden. Sie war und blieb jetzt allein in den Aktionsradius und die Funktionsfähigkeit der Predigten einbezogen und ganz deren Chancen und zeitbedingten Krisen überlassen. Dennoch blieb natürlich auch nach diesem Auseinanderfallen eine untergründige Schicksals- oder Verunsicherungsgemeinschaft zwischen Praxis und Predigt des Katechismus bestehen. Hier kommt ein dritter, wenig beachteter, aber noch schwerer wiegender Gesichtspunkt zum Vorschein, der eine dritte Zerfallserscheinung signalisiert: das Auseinanderfallen des Katechismus selber in Einzelstücke und -themen und der wahlweise U m g a n g damit. Die Katechismushauptstücke hatten ja weder ein Lehrsystem noch ein methodischer Heilsweg sein wollen, auch wenn man sie oft als das eine oder andere anzusehen beliebte. Immerhin wollten und sollten sie einen Leitfaden, ein Orientierungsmuster, eine Urteilshilfe geben, das Leben in allen Schattierungen von der Erfahrung der Rechtfertigung „allein durch den G l a u b e n " her zu bestehen. M a n mochte die Zahlen- und Bilderspiele, die lange Zeit besonders die kleineren Predigtreihen zum Katechismus beherrschten, mit einigem Recht als verspielt und brotlos empfinden. Doch in dieser einen Hinsicht hatten sie recht: Wo der Katechismus nicht mehr einen zusammenhängenden, orientierenden Leitfaden für evangelisches Glauben, Leben, Handeln, Erleiden und fromme Sitte

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ergibt und nicht in Haustafeln eingeht oder ausläuft, da droht er zu einer Sammlung von Einzelthemen zu werden, die er entweder als Versatzstücke einer dem Leben aufgesetzten alten Dogmatik zu lernen aufgibt oder als „Spielmaterial" einer Situationsethik anbietet, in der sie nur noch individueller Kasuistik oder Gruppenexperimenten anheimfallen können. Wo die Stücke nicht mehr vom einen zum anderen weiterverweisen und kein Leitfaden mehr die Themen verbindet, büßt der Katechismus mit seiner relativen Verbindlichkeit auch seine Orientierungskraft ein. So können dann Predigten oder Predigtreihen über Themen, die auch im Katechismus verankert sind, sozusagen zu „Katechismuspredigten ohne Katechismus" werden. Das entwertet sie nicht, läßt sie aber im fluktuierenden Kreis der Predigthörer kasuell und punktuell bleiben und schwerlich wegweisend werden. Es bleibt eindrucksvoll, wie dauerhaft über die Zeiten hinweg sich die Katechismushauptstücke in der Predigt behaupten. Taufe und Abendmahl sind im kirchlichen Leben unaufgebbar verankert; an ihnen führt nur die individuelle Entscheidung vorbei. Doch ist diese Dauergelegenheit zur Katechismuspredigt gerade für eine solche kaum recht zu nützen: Kasus, Frömmigkeitsstil und -Stimmung, Feierlichkeit oder zeremonielle Geringschätzung verbannen die Katechismuselemente fast ganz in die Liturgie, sofern sie der Prediger nicht aus „seelsorgerlichen" Gründen auch noch aus dieser entfernt. Unter den anderen drei Kernstücken tritt das Credo ein wenig zurück: Das Hörervorurteil quantitativer Glaubenszumutung sitzt hier sehr fest - „dies alles glauben zu sollen" schafft große Distanzen; auch vom Prediger verlangt das Credo dogmatisches Verständnis, vermehrte Gedankenarbeit und bleibt spröde gegen seine gängigen Lieblingsgedanken. Als Restbestände der Katechismuspredigt beherrschen daher die Zehn Gebote und das Vaterunser ganz eindeutig die homiletische Szene. M a n mag hier in Zeiten besonderer Notstände auch aufsteigende Predigtgezeiten und -Vorlieben vermuten; doch eine Liste der vielen Verfasser und Titel, die sich hier aufsammeln ließen, wäre zu lang, um interessant sein zu können. Dabei bleibt das Vaterunser wegen seiner Herkunft als „Herrengebet", seiner Herzensnähe und seiner ökumenischen Weite im Vorsprung vor dem Dekalog, der alle Spannungen zwischen dem natürlichen und dem geoffenbarten Gesetz, zwischen dem Sinai und dem Liebesgebot mit sich herumträgt und immer von rigoristischer Härte oder moralistischer Enge, oft genug von beidem bedroht ist. Werden die Möglichkeiten der Katechismuspredigt auf diese drei Kern- und zugleich Restbestände eingeschränkt bleiben? Ihr Schicksal ist unlöslich mit der Frage nach einem Katechismus für die evangelische Christenheit heute verkoppelt. Auch wer dabei lieber und allgemeiner vor allem an Lehrpredigten denken möchte, muß sich für diese einen Leitfaden wünschen, der Prediger und Hörer in einer gemeinsamen Sprache vereint. Die Suche nach einer solchen Sprache liegt als die entscheidende, uneingelöste christliche Aufgabe vor unserer Gegenwart. Daß man sich heute so gut wie nicht mehr den ganzen Katechismus zu predigen zutraut (Ausnahmen: Fritz Frey und Schmiedehausen) und man es doch mit den Kernstücken immer wieder versucht, bezeugt die verspürte Lücke wie die fehlende Kraft, sie zu schließen. Jene drei Kernstücke können einer verunsicherten oder bedrängten Christenheit als „ N o t u n t e r k u n f t " dienen. Eine Ruhestellung kann daraus nicht werden, denn die Ruhe paßt nur als Zukunftsverheißung, nicht als Zustandsbeschreibung auf das Volk Gottes (Hebr 4). Der Weg vom Kopf in die Herzen war zur Reformationszeit eng mit dem Weg von den überlieferten Kernstücken zu ihrer Erklärung im Katechismus verbunden. Mit ihren Fragen „Was ist das? und „Wie geschieht das?" hat diese dem evangelischen Glaubensverständnis seine neue, lange Zeit halt- und singbare Herzenssprache verschafft. Der Weg dorthin scheint heute in weiter Ferne zu liegen, in einer Zeit, in der die Buchdrucker aus der Bibel ein Handbüchlein, aber die Theologen aus dem Katechismus nur ein Lexikon machen können. Die Sprachbrücke über die seichten wie über die tiefen Strömungen unserer Gegenwart wird nach wie vor die Pfeiler jener drei oder fünf Kernstücke gebrauchen können und mitverwenden müssen. Sie wird eine kritische Überprüfung ihrer Tragfähigkeit einschließen müssen und wohl auch manche nicht länger haltba-

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re Stellen oder Auswirkungen entdecken. Sie wird vielleicht aus der Bergpredigt einen weiteren Pfeiler einfügen und aus dem Doppelgebot der Liebe auch neue, hoffentlich ebenso biblische wie menschliche Haustafeln evangelischer Sitte, ökumenischen H a n delns und christlichen Leidens entwickeln lernen: Haustafeln, die das H a u s des Einsamen, das H a u s der Familie, das H a u s der Arbeit, das H a u s der N a t i o n e n und Rassen und das H a u s der erniedrigten Schöpfung umschließen und miteinander verbinden. Gerade die Lernenden müssen auch Fragende bleiben. Im Katechismus-Kleinod des holländischen Katechismuspredigers Peter de W i t t e 1661 liest m a n (vielleicht auch v o m deutschen Ubersetzer J o h a n n T h o m ä ) : G o t t fange alle Besserungen und Änderungen in der Menschheit mit Sprachen an. Im Reformationsjahrhundert hat die Predigt über die überkommenen Kernstücke christlichen Glaubens dazu geholfen, eine neue, hilfreiche, überzeugende Glaubenssprache zu finden. Vielleicht könnte die Predigt auch heute wieder im Umgang mit jenen noch stehengebliebenen Pfeilern christlicher Glaubensüberlieferung zur Sprachschule einer überzeugenderen, hilfreicheren Glaubenssprache werden und noch einmal einem heute so dringend wie damals benötigten G r o ß e n und Kleinen Katechismus der Gegenwart in die H ä n d e arbeiten. Sie könnte so vielleicht verhüten, daß sich die vielen teils zögernden, teils entschlossenen Christen mit ihrem guten Glauben, ihren Hoffnungen, ihrem brennenden Eifer für den Gottesdienst des Glaubens im Alltag der Welt weiterhin ohne Agende verzetteln. Dann könnte die Katechismuspredigt sich selbst und dem Katechismus nach ihrem großen Zerfall d o c h wieder eine neue Zukunft eröffnen. Quellen und

Literatur

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Befragung u. bei der Erstkommunion]. - Helmut Thielicke, Der Glaube der Christenheit. Eine Laiendogmatik, Stuttgart 1944. Zum Vaterunser: Christoph Friedrich v. Ammon, Das Vaterunser. Ein Erbauungsbuch, Leipzig 11 1844. - Rudolf Bohren, Das Unser Vater - heute. 10 Anreden, Zürich 1957 2 1961. - Ernst Cremer, Dein Reich komme - Kriegspredigten über das Vaterunser, Gütersloh 1915. - Monica Dorneich (Hg.), Vater-Unser-Bibliogr. Jubiläumsausg. der Stiftung Oratio Dominica, Freiburg/Br. 1978. Emst Dryander, Das Vaterunser in 8 Predigten, Berlin 1911, Halle 2 1912. - Gerhard Ebeling, Vom Gebet, Tübingen 1963. - Ders., On Prayer, Nine Sermons, Philadelphia 1966. - Oskar Ebeling, Moderne Predigten, Leipzig 1911 [darin 6 Vaterunserpredigten]. - Theodor Häring, Predigten über das Vaterunser, Stuttgart 1914. - Hermann Hering, In ihm war das Leben. Sammlung akademischer Predigten, Halle 1911 [darin 8 Vaterunser-Predigten]. - D. Wilhelm August Hunzinger, Kriegspredigten, 4 Bde., Hamburg 1914-1916 [darin 9 Kriegspredigten über das Vaterunser]. - Hermann Josephson, Vaterunser-Predigten, Halle 1910. - Gustav Kawerau, Predigten auf die Sonn- u. Festtage des Kirchenjahrs, Breslau 1897 [darin 4 Vaterunserpredigten aus einem Zyklus]. - Samuel Keller, Neue Netze. Ein Jg. Predigten, Hagen 1912 [darin neben 4 Predigten über den 3. Artikel u. 8 Predigten über die Seligpreisungen auch 9 Vaterunserpredigten]. - Paul Kirmß, Predigten aus der Neuen Kirche zu Berlin, Berlin 1898 [darin 7 Vaterunserpredigten]. - Rudolf Kögel, Das Vaterunser in 11 Predigten ausgelegt, 4. Aufl. Berlin? o.J. - Walter Lüthi, Das Unservater, Basel o.J. - Theodor Moldaenke, Das Vaterunser, 10 Betrachtungen für besinnliche Leute, Berlin 1927 (?). - Horst Nitschke (Hg.), Das Vaterunser. Predigten - Gottesdienstentwürfe, Gütersloh 1987. - Georg Conrad Rieger, Predigten über Stellen des Ev. Matthäi, Stuttgart, II 1844 [darin 29 Predigten Ev. Anweisung zum Beten nach Anleitung des Vaterunsers]. - Otto Riemann, Die Bergrede... in 27 Predigten, Berlin 1911 [darin 4 Vaterunserpredigten]. - Friedrich Rittelmeyer, Das Vaterunser, 10 Kanzelreden, München 1918. - Martin Schlunk, Predigtreihe über das Vaterunser, Tübingen 1949. - Hermann Schmidt [ev. Pastor in Cannes], Das Gebet des Herrn, erkl. aus dem Leben des Herrn, Basel 1889. - Reinhold Schneider, Das Vaterunser, Colmar 1941, Freiburg 4 1968. - Helmut Thielicke, Das Gebet, das die Welt umspannt. 11 Predigten über das Vaterunser, Stuttgart 1945. Werner Jetter

787

Anhang 1. Register 2.2. Ubersetzer 5. Bildquellen

1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2.3. Registerbearbeiter 3. Artikelund

2. Mitarbeiter 2.1. Autoren Verweisstichwörter 4. Karten

1. Register 1.1. Bibelstellen (bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Z u r Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. - Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle vorkommt bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen. 1-3

Johannes Scottus Eriugena 1,26 f Jesus Christus 3,22 Kabbala Kabbala 4,1 4,26 Kabbala 9.24 ff Kanaan Kanaan 10,15 ff 10,17f Kanaan 12,5 Kanaan Kanaan 12,6 13,7 Kanaan 13,12 Kanaan 14,7 Kadesch 15,16 Kanaan Kanaan 17,8 23,5.7 Kanaan 33,4 Judas Joseph37,39-50 novelle 37,3 Josephnovelle 37,25-30 Josephnovelle 37,35 a Josephnovelle 39,1-20 Josephnovelle 39,7ff Josephnovelle 40,8 Josephnovelle Joseph41,38f novelle 41,45 Joseph u. Aseneth 41,46 b - 4 9 Joseph u. Aseneth 43,1 ff Josephnovelle 44,18ff Josephnovelle

45

Josephnovelle

162,20.56 45,3 f 52,22 504,50.53 505,3 505,7 542,40 542,44 541,46 554,38 542,25 542,15 542,32 510,12 542,27 554,39 542,28 306,27

32 33,11 25

Josephnovelle Josephnovelle Josephnovelle Josephnovelle Josephnovelle Josephnovelle Josephnovelle Judas Kanaan Josua Josua Katechismus Jubeljahr Jubeljahr Josua Jubiläenbuch Josua Josua Jubeljahr

25,10

Jubeljahr

25,38 27,16-25 11,24-30 11,28 13 13,2.17 13,4-16 13,16 13,26 13,29

Kanaan Jubeljahr Josua Josua Kadesch Kanaan Josua Josua Kadesch Kanaan

45,28 46 46,30 47,29-31 48,11 50,15-21 Ex

255,28 256,3

50,19-21 16,35 17 17,8-13 20,2-17 21,1-6 23,10f 24 24

255,52 256,4.22 256,15

Lev

256,42 257,34 257,35 Num 246,32 246,34 256,46 256,30

256,29.50; 257,14 255,48 256,26 257,14.18 256,26 256,27 256,52 257,12.26 306,30 554,46 271,40.43 269,50 741,50; 743,27 280,36 280,36 271,34 286,7 271,34.37 270,6.10.18 280,12.24.25; 281,8.20 280.15.16; 281,4; 282,6 554,41 280,12 270,22 270,6.14 509,37 554,44 269,44 269,27 509,35 542,4

Bibelstellen

788 14,6 ff 14,25.43.45 20 20,1.14.16. 22 20,12f 24,17ff 24,17

Dtn

27,12-23 32,8 33,36 1,2.19 1,7 1,46 2,14 3,28 5,6-21 6,20 ff 7,1 12 16 18,15 18,15

Jos

31,1-23 34,9 1,6 1,8 1-9 1-12

4,14 8,31 13-22 13,1 ff 14ff 19,26 23,14 23-24 24 Jdc

1,19 1,27 ff 4-5 5,4 5,19 13,4f

21,12 I Sam 8,2 II Sam 17,23 I R e g 18 18,19-40 18,30 b

Josua Kanaan Kadesch

270,40 542,16 509,37

Kadesch Kadesch Josephus Flavius Justin d. Märtyrer Josua Kadesch Kadesch Kadesch Kanaan Kadesch Kadesch Josua Katechismus

509,36 510,5 259,17 474,18 270,43ff 509,30 510,2 510,14 542,13 510,15 510,15 271,6 741,50; 743,28 415,8 542,17 266,30 266,35

Jugend Kanaan Josia Josia Johannes d. Täufer 174,21 Johannesevangelium 209,55; 212,41; 221,55 Josua 270,27 Josua 271,4 Josua 276,40 Kabbala 504,17 Josua 272,18.27 Josua 270,1; 273,5; 274,26.35; 275,9.44 Josua 276,9 Josua 276,15 Josua 273,5; 274,6.48 Josua 270,3 Josua 271,3 Karmel 657,47 Josua 276,42 Josua 273,7.24 Josua 270,33; 272,3.6.32; 274,37.49 Kanaan 553,11 Kanaan 541,40 Judith 405,48 Kadesch 510,36 Kanaan 541,37 Johannes d. Täufer 173,16.18 Kanaan 542,30 Joel 91,24 Judas 298,13 Karmel 658,7 Karmel 657,55 Karmel 657,48

Jes

22,1-38 22,41-51 3,4-27 8,18 14 14,25 17,24-41 19,23 22 f

Josaphat Josaphat Josaphat Josaphat Jona Jona Judentum Karmel Josia

22,1 22,13 23,3 23,8 a 23,21 23,29 23,33 - 3 5 24,1 24,2 24,6 24,8 24,8-17 24,10ff 25,27-30

Jojakim Josia Josia Josia Josia Josia Jojakim Jojakim Jojakim Jojakim Jojachin Jojachin Jojachin Jojachin

2,5 7,14

Judentum Judenchristentum Justin d. Märtyrer Karmel Kanaan Kanaan Karmel Karmel Kabbala

11,1 16,10 19,18 23,11 29,17 35,2 43,7

Ez

320,51 474,19 657,35 543,10 541,45 657,35 657,39 508,11; 509,7 405,2

Judith Johannes d. Täufer 172,46; 175,4 508,11 45,7 Kabbala Judentum u. 49,6 Christen387,53 tum 51,5 Justin d. Märtyrer 474,19 505.29 52,13-53,12 Kabbala 567,38 53.2 ff Kanon 305,13 53,12 Judas 281,4.17 61,1 Jubeljahr 232,15 18,8 Jona 265,7 22,15 Josia Jojachin 226.37 22.24-30 Jojakim 228,25 26,20- 24 Jojachin 28,4 226.30 Jubeljahr 280,42 34 Jubeljahr 281,3 34,8 Karmel 657,40 46.18 Karmel 657,40 50.19 Kanaan 553,51 16.3 Jojachin 226.38 19,5-9 Johannes 36.25- 27 d. Täufer 172,46.52; 175,5.27 43,11 44,3

Jer

243,7.20 242,21 243,10 242,37 231,18 229,16; 232,5 341,49 657,34 264,40.48; 265,45 227,28 265,48 265,50 266,32 266,9 267,11 227,46 228,3 228,11 228,16 225,36 225,39 226,7 225,39; 226,18 365,29

Bibelstellen Hos Joel

Am Jon

Hag Mal

Ps

46,17 12,8 1

Jubeljahr Kanaan Joel

1,1 1-2

Joel Joel

1,2-2,17 1,2-4 1,5-14 1,1012.17.20 1,14 1,15 1,18-20 2 2,l-3.6.10f 2,1-11

Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel

2,12-17 2,12 2,13 2,18-4,21 2,18 2,18f 2,19-26 2,20 2,27 3-4

Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel Joel

3,1 £ 4

Joel Joel

4,16.18 4,17 4,18-21 9,3 1 2 3 3,4 b 4 4,5 a 4,5 b 4,6 a 2,10-14 1,6-2,9 3,1.23f

Joel Joel Joel Karmel Jona Jona Jona Jona Jona Jona Jona Jona Judentum Judentum Johannes d. Täufer 173,32; 174,34 Judentum 334,16 Kabbala 504,17 Judas 297,51 Justin d. Märtyrer 474,28 Katechismuspredigt 750,4 Judith 407,21 Kabbala 508,12 Kabbala 508,12 Judentum u. Christentum 387,53

3,6-12 1,1 f 41,10 96 127,3

Prov Dan

147,lOf 3,19 8,22-31 3,28-30

6,26-28

281,4 553,41 93,16.17.30.32. 48.50.51; 95,53 91,23.39 93,34; 94,12; 95,36.50 92,50 94,31.46 94,46 94,51 93,13; 95,19 95,7 94,48 93,16.18.51 95,15 93,47.49.50; 94,27; 95,9.48 96,25 95,22 95,25 92,50; 95,34 92,53 93,1; 94,31 95,52 96,3 93,15 93,26.35.41; 94,12.29 96,16 92,8.19; 95,42 92,5 96,10 94,16.18 657,43 229,43 229,44 229,47 229,34 229,52 230,24 230,17 230,17 333,46 334,14

789

1,2-4 2,9 5,14-16 6,3-5 7,25-26 3,17 24,7

Jdt

17-20 34 f 36,9 2,1 3,8 4,3 4,4-8 5,21 6,2 7,27 9,7 11,16 13,19 14,10 16,23 16,25 1-21 8,9 12,8-15 15,7 16,16 22-29 23,9 1,4 1,26 1,29 2,17-34 2,19ff 3,8.10-16 3,31 4,5-6,32 4,15 4,29 4,31

Judentum u. Christen388,1 tum Judentum 333,25 Jochanan ben Zakkaj 89,19 Judentum 333,18 Judentum 333,18 Judentum 335,1 Jojachin 226,41.45 Josephus Flavius 258,26 243,19 Josaphat Josia 264,46 Jojachin 225,36 Judith 406,4 Judith 404,16 406,20.25 Judith Judith 406,36 Judith 407,15 Judith 405,11 Judith 404,28 407,19 Judith Judith 404,36 Judith 407,43 Judith 404,44 407,41 Judith Judith 404,53 Joseph u. Aseneth 247,6 Joseph u. Aseneth 248,2.3.4.7 Joseph u. Aseneth 248,1 Joseph u. Aseneth 248,4.8 Joseph u. Aseneth 248,8.9.14 Joseph u. Aseneth 247,8; 248,4.24 Joseph u. Aseneth 248,24 Jubiläenbuch 287,11 Jubiläen288,14 buch Jubiläen288,7 buch Jubiläenbuch 286,35 Jubiläen288,17 buch Jubiläen286,37 buch Jubiläenbuch 286,38 Jubiläenbuch 286,39 Jubiläenbuch 286,15 Jubiläenbuch 286,16 Jubiläenbuch 296,16

790

Bibelstellen 5,13f 6,23-28 7,20-39 7,28-39 8-9 8,1-4 10 11-23 22,16 23,19.26 30,5 ff 32 50,12 : 2-9 2,29-39 14,27 ff k 4,33 14,3.7 15

Sir Mt

50,4 50,25 - 2 6 1,6-16 1,16 1,19 1,24 f 2,22 f 2,23 3,2

Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Jubiläenbuch Judas Judentum Judentum Judentum Judentum Judith

288,4 286,50 287,3 286,18 286,17 286,20 286,24 288,2 288,7 286,41 286,25 288,8 296,48 342,6 337,22 339,8 339,8 405,40.49; 406,30 334,53 336,13 245,8 245,5.22 245,45 245,50 245,38 245,34

Judentum Judentum Joseph Joseph Joseph Joseph Joseph Joseph Johannes d. Täufer 176,50; 178,8 3,4 par. Johannes d. Täufer 172,34; 173,12; 174,30; 176,12 3,9 par. Johannes d. Täufer 177,15 3,10-12par, Johannes d. Täufer 179,55 3,11 par. Judenchristen tum 314,3 3,12par. Johannes d. Täufer 176,30.42 3,16par. Johannes d. Täufer 177,42 5,1-8,la Katechismus 743,24 5,17 Judentum 343,53 5,17-20 Judentum u. Christentum 387,23

Judenchristentum 314,28; 319,7 Juden5.19 christentum 319,19 Juden5,23 christentum 314,14 Juden5,23 f christentum 319,11 Katechis6,9bc-13 mus 742,10 Juden10,5 f christentum 314.18 Katechis 10,16 muspredigt 772.19 Juden10.17 christentum 314,16 Juden10.23 christentum 314,20 Johannes 10.24 f d. Täufer• :178,11 11,5 Kahler 511,46 Johannes ll,7-15par d. Täufer 177,47 Johannes d. Täufer !176,37 l l , 1 2 f par. 232,49 12.39 Jona 12.40 Jesus Christus 77,7 12.40 Jona 232,48 12.41 Jona 232,45 13,55 Joseph 245,43 15,24 Kahler 513,1 Kanon 16.18 564,14 Juden16,18 christentum 313,28 Juden16,18f christentum 314,47 Juden17,24-27 christentum 319,18 Katechis22,34-40 mus 743,27 Juden23,2 f.23 christentum 319,15 Katechis24,13 muspre772,19 digt 26,21 Judas 305,47 Katechis28,19 f mus 743,29 Johannes 1,3 par. d. Täufer 176,27 1,4 par. Johannes d. Täufer 174,47.55; 177,14 5.18

288,20

Mk

791

Bibelstellen 1,4 f par.

Johannes d. Täufer 175,42; 176,22 l,4.6par. Johannes d. Täufer 173,33; 176,7 1.7 f par. Johannes d. Täufer 176,25; 178,39; 179,47 1.8 Johannes d. Täufer 175,13 ff 1.9 par. Johannes d. Täufer 173,48 1,9-11 par. Johannes d. Täufer 177,37 3,31-35 par. Joseph 245,39 6,3 Joseph 245,44 6,3 Judasbrief 308,45 6,14 Kabbala 507,2 6,17-29par. Johannes d. Täufer 175,44.48 7,11 ff Judenchristentum 319,27 7,26 Kanaan 541,24 Juden8,29 christentum 313,18 8,38 Jesus Christus 46,46 Johannes 9,11-13 d. Täufer 174,26 9,12 507,2 Kabbala Kanon 567,4 13,11 Juden14,25 christentum 314,8 lf Johannes d. Täufer 174,38; 178,18; 179,4 1,5 Johannes d. Täufer 173,28; 175,34 Joseph 1,26 f 245,36 1,27 245,9.2 Joseph 2,25 ff Kabbala 506,52 3,1 Johannes d. Täufer 175,40 3,10-14 Johannes d. Täufer 177,8; 179,4 3,15f Johannes d. Täufer 178,32 3,23 Joseph 245,10. 9,62 Katechismuspre772,18 digt 10,16 Kanon 564,30 16,16 Johannes d. Täufer 176,37 Johannes 16,16-18 d. Täufer 177,1 24,20 Judas 305,52 24,25.27. Kanon 567,37 44.45

24,34 1,1-18 1,6 1,13 1,14 1,17 1,18

1,19 1,20 1,35-42 1,35 ff 1,41 1,41.49 1,46 2,11

2,13-22 3 3,13 3,16 3,22.26 3,30 4,18 4,22

Judenchristentum Johannesevangelium Johannesevangelium Jesus Christus Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Judenchristentum Johannesevangelium Johannes d. Täufer Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Johannesevangelium Jesus Christus Johannesevangelium Johannes d. Täufer Johannes d. Täufer Johannesevangelium Johannesevangelium

314,44 201,43 214,23 57,28 213,25 203,20 214,33; 221,36 319,35 215,52 179,12 213,59 219,23 213,5 212,27 208,1; 216,12 201,55 204,37 3,7; 52, 215,56 178,16 179,52 203,36 219,22

794

Bibelstellen

10,4 12,6-12 14,1-23 15,8 15,26

1,10-4,21 1,12 1,18 2,4 3,2 3,11 6,2-3 7,29 8,5 12,3 13,7 13,13 15,3 ff 15,5 ff 16,22 3,14-17 5,18 5,18-21 11,5 11,13 11,22 1,11.12 1,12

Christentum 387,21; 391,46; 392,35; 394,48 Kanon 567,39 Katechismus 741,6 Judenchristentum 317,28 Judenchristentum 317,40.46 Judenchristentum 312,19; 313,32 Johannes d. Täufer 178,49 Judenchristentum 317,1 Kabbala 505,28 Kanon 567,5 Katechismuspredigt 746,49 Kanon 564,14 Joris 240,31; 241,4 Joris 241,4 Jesus Christus 44,39 Judentum u. Christentum 387,19 Katechismus 741,23 Katechismus 741,15 Judenchristentum 313,10 Kanon 564,24 Judenchristentum 313,24 Kanon 567,5 Jesus Christus 52,33 Kanon 564,15 Judenchristentum 317,6 Judenchristentum 317,4 Judenchristentum 317,4 Kanon 564,30 Judenchristentum 316,38

1,13 2,8 2,9

2,10

2,1 Iff 2,12 3,1 4,4 f 4,10 4,24 5,2 f Eph

1,17 2,11-22 2,14-18 2,20 4,2-5 4,13

Phil

2,2-11 2,6-11 2,6 3,2 ff

Kol

1,15 2,8 2,9 2,9 2,16.21

Judenchristen316,37 tum Judenchristen314,48 tum JudenChristen314,50; tum 315,15. 316,50 Judenchristen312,18; tum 315,36 Judenchristen315,7 tum Judenchristen315,29 tum 564,24. Kanon Judentum u. Christen387,24 tum Judenchristen317,17 tum Kabbala 506,11 Judenchristen317,16 tum 567,5 Kanon Judentum u. Christen387,22 tum Jesus Christus 78,25 564,14 Kanon Katechis741,27 mus Jesus Christus 61,14 Katechis711,10 mus Jesus Christus 26,15 Jesus Christus 6,51 Judenchristentum 317,53 Jesus Christus 52,23 Judenchristen318,14 tum Jesus Christus 3,4 Judentum u. Christen387,20 tum Judenchristen318,14 tum

795

Bibelstellen 2,18 IThess 2,4.13 ITim 1,4 1,7 4,1 4,3.8 4,7 6,3 ff 6,20 II Tim 2,15 2,18

Hebr

3,14.15 3,16 1,1 4 5,12f 5,12f 10,19 10,22

Jak

1,17 1,22 3,6 IPetr 2,24 3,19 4,14 II Petr 1,9-21 1,16-18 1,19-21 I J o h 1,1-3 1,7 2,7 f 2,18ff

Judenchristentum 318,18 Kanon 564,30 Judenchristentum 318,32 Judenchristentum 318,32 Judenchristentum 318,41 Judenchristentum 318,36 Judenchristentum 318,31 Judenchristentum 318,38 Judenchristentum 318,29 Kanzel 601,35 Judenchristentum 318,34 Kanon 567,37 Kanon 567.5 Kanon 567,38 Katechismuspredigt 783,44 Katechetik 689,35 Katechismuspredigt 746,49 Judenchristentum 313,36 Johannes d. Täufer 179,23 Kabbala 509,2 Kanzel 601,35 Kabbala 509,2 Kanzel 600,49 Jesus Christus 58,41 Kanon 567,5 Kanon 564,30 Kanon 564,25 Kanon 567,6 Kanon 564,30 Johannesbriefe 193,51 Johannesbriefe 187,15.46.49 Johannesbriefe 188,21.44; 189,54; 190,4; 194,34; 195,7; 196,47

2,18-27 2,19 2,19 2,22 f 3,2 3,4 3,5 3,6 3,11 3,11 f 3,16 4,1 ff

4,1-6 4,2 4,4 4,5 4,17 5,1-12 5,6 ff 5,6-13 5,16f IlJoh 2 4 5 7 7f 8 9f 10

Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesevangelium Johannesevangelium Jesus Christus Johannesbriefe Kanon Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe

193,2.6.14.16.18 190,1; 192,7.13.25 212,56 194,46 61,28 194,58 567,39 188,2 195,1 192,21 194,39 192,30; 193,10; 198,20 193,2.13.14f.53 193,29.40 190,36 190,11 190,38; 194,52 194,19 195,10 193,4.54; 194,29 192,5 187,50 187,11.57; 196,42 187,11.46.48 196,47 187,15; 196,25 196,51 197,3 196,40

796

Namen/Orte/Sachen 10 f

Johannesbriefe

12

Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe

6 7 9 9f 9-11 11 12

1.2.

Johannesbriefe Johannesbriefe Johannesbriefe

190,45; 198,3.21 198,55f 197,28 197,30 197,41 187,20; 196,2 197,24 188,1 197,23

1 lf 4 4-16 5.22 f 9 12 f 17 f 17-23 19 22f 24 f 1,4 2,14 2,20 ff 11,3-14

Judas Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Judasbrief Kabbala JudenChristentum Judenchristentum Johannes d. Täufer

296,51 307,22 308,10.37 307,24 309,13 307,33 308,28 308,1 307,25 308,11.32 308,19 307,23 509,3 319,41.43 319,42 178,21

Namen/Orte/Sachen

(bearbeitet von Klaus Breuer/Michael Wolter) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. — Fettdruck von Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit f f ist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für Klöster und Stifte, Missionsgesellschaften, Päpste, Päpstliche Bullen und Enzykliken, Religionsgespräche, Synoden und Universitäten. Die gesuchten Klöster und Stifte, Missionsgesellschaften usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung. Aaron ben Elijahu: Karäer 626,10 Aaron ben Josef: Karäer 626,7 Abbahu: Judentum 348,23 f Abendmahl: Karlstadt 652,30ff Abgar-Legende: Jesus Christus 76,16 f.27 Ablaß: Johannes Rucherat 150,52; 152,4 ff; Jubeljahr 282,10f.20ff; 283,6f,14ff; 284,3f Abraham: Jubiläenbuch 286,21 ff Abraham Abulafia: Kabbala 494,3 ff; 501,50f Abraham ibn Daud: Judentum 353,52ff Abraham ben Meir ibn Esra: Judentum 353,9.13 ff Abraham ben Mose Maimuni: Kabbala 489,24 f Abschiedsreden: Johannese vangeli um 204,13 ff; 216,29 ff Abstieg in die Unterwelt: s. descensus ad inferos Adoptianische Christologie: Jesus Christus 52,42 f Ächtungstexte: Kanaan 548,15 ff Ägypten: Judentum 338,42 ff; Kanaan 547,26ff; 548,6ff.45f; 549,44f Ämter Christi: s. Triplex munus Christi Ästhetik: Junges Deutschland 462,15 ff; Kant 586,46 ff Afrika: Junge Kirchen 455,1 ff

Albert v. Vercelli: Karmeliter 658,38 f Albo: s. Josef Albo Albrecht, Georg: Katechismuspredigt 761,9 ff Alexander v. Roes: Kaisertum u. Papsttum 532,38 Alexandria: Judentum 338,46ff Allegorie: Jesus Christus 77,9 ff Altar: s. Kanzelaltar Altes Testament: Kanon 567,23 ff Althamer, Andreas: Katechismus 711,44f Ambo: Kanzel 599,22 ff Amoräer: Judentum 347,36 ff Amtshandlungen: s. Kasualien Anabathmoi Jakobou: Judenchristentum 322,6 ff Anabatische Christologie: s. Erhöhung Christi Anan ben David: Judentum 351,5; Karäer 625,22 f Anastasius Bibliothecarius: Johannes Scottus 159,40 ff Anglican Church of Canada: Kanada 558,40 ff Angst: Kafka 516,30 f Anschauung: Katechetik 700,42f Antichrist: Joachim v. Fiore 87,18f Antijudaismus: Judenmission 330,3 ff Antiochien: Johannes Chrysostomus 120,1 Iff Antiochus III.: Judentum 336,6ff

Namen/Orte/Sachen Antiochus IV.: Judentum 336,37ff Antisemitismus: Judas 299,24 f; 304,53 ff; Judentum 363,45 ff; Judentum und Christentum 386,39 ff Antonia v. Württemberg: Kabbala 508,31 ff Aphthartodoketismus: Justinian 4 7 9 , 4 7 f Apokalypse des Johannes: Joachim v. Fiore 86.12 ff; Johannes der Täufer 179,28 ff; Judenchristentum 319,39ff Apollos: Johannes d. Täufer 178,46 ff Apologetik: Justin 472,47 ff Apostel: Kanon 564,16ff Aposteldekret: Judenchristentum 315,29 f Apostolisches Glaubensbekenntnis: Katechismuspredigt 786,17ff Arbeit: Kapitalismus: 610,49ff; 614,15ff Aristo v. Pella: Judenchristentum 319,51 Aristoteles/Aristotelismus: Johannes Philoponus 144,22 ff.45 ff Armut: Johannes X X I I . 110,15ff; Kapuziner 623,12ff Arndt, Johann: Katechismuspredigt 756,47ff Artes Liberales: Johannes Scottus 156,16ff Ascher ben David: Kabbala 492,21 ff Asidäer: Judentum 342,5 ff Assembly-Katechismus (1648): Katechismus 740.22 ff Assyrien und Israel: Josia 265,20 ff Asubel, David P.: Jugend 410,15ff Auferstehung: Johannes Philoponus 147,8 ff Auferstehung Jesu: Jesus Christus 23,44 ff; 40,4ff; 41,26ff; 58,50ff Aufklärung: Jesus Christus 7,38 ff; 9,47 ff; 16.13 ff; Josephinismus 251,33 ff; Katechismus 719,24ff; Katechismuspredigt 776,52ff; s.a. Haskala Auger, Edmond: Katechismus 730,48 ff Augsburger Religionsfriede: Karl V. 642,9 f Augustin/Augustinismus: Julian v. Aeclanum 442,39 ff Ausbiidungsstätten, judaistische: Judaistik 292.23 ff Ausdehnung: Johannes Philoponus 145,46 ff Außenkanzel: Kanzel 600,6 ff Autokephalie: Jugoslawien 436,19ff Avignon: Johannes X X I I . , 109,27 Azarja dei Rossi: Judaistik 290,27f; Judentum 359,17ff Baal: Kanaan 551,38; 553,34f Baal Shem Tov (Best): Judentum 360,12f; 378,30ff; 382,19ff Babylonien und Israel: Jojachin 226,1 ff; Jojakim 227,47ff; Judentum 340,37ff; 348,48ff Bach, Johann Sebastian: Kantate 595,24ff Bachja ben Josef ibn Paquda: Judentum 353,45ff; Judentum u. Christentum 388,43; Kabbala 489,18 ff Baeck, Leo: Jesus Christus 69,24 ff; Judentum 366,29 ff Baptisten: Kanada 559,44 ff; 560,46 ff Bar-Kochba-Aufstand: s. Simon b. Kosiba Barmer Theologische Erklärung (1934): Jesus Christus 64,46 f Barock: Kanzel 602,16ff

797

Barth, Karl: Jesus Christus 32,39.45 ff; 33,35 ff; Judas 301,36 ff Baruch/Baruchschriften: grBar: Judentum 345,22 ff syrBar: Judentum 344,42 ff Basel (Christentumsgesellschaft): Jung-Stilling 469,11 Basel (Stadt): Joris 239,37ff Bauch, Bruno: Kant 582,9ff; 583,52ff; 584,17 ff; 589,32 ff Bauernkrieg: Karlstadt 652,43 ff Bauller, Jakob: Katechismuspredigt 763,32ff Baum, Gregory: Judentum u. Christentum 399,10ff Baur, Ferdinand Christian: Jesus Christus 22,38 ff Beck, Christian August: Josephinismus 252,30 Becket, Thomas: Johannes v. Salisbury 153,30ff Befreiungstheologie: s. Theologie der Befreiung Bekehrung: Joseph u. Aseneth 247,46 ff Bellarmini, Roberto: Jesus Christus 1,39 Benamozegh, Elia: Jesus Christus 68,18 ff Benediktionen: Kasualien 675,4.12ff Benificium: Johannes X X I I . l l l , 3 7 f f Benjamin ben Mose Nahawendi: Karäer 625,30 Berlin, Hochschule (Lehranstalt) f.d. Wiss. des Judentums: Judaistik 292,39 ff Berlin, Rabbinerseminar f. d. orth. Judentum: Judaistik 292,43 Bernhard v. Clairvaux: Jesus Christus 79,8 f Berthold v. Kalabrien: Karmeliter 658,37; 659,16f Bestattung: Kasualien 679,2 f Bet-Schearim: Judentum 346,53 Bettelorden: s. Kapuziner; Karmeliter Beweis, wissenschaftlicher: Johannes Scottus 157,54 ff Bibel: Jesus Christus 34,2ff; Johannes Chrysostomus 121,12f.47ff; Johannes Scottus 161,37 ff; Judentum 351,27 ff; Kähler 511,46 ff; Karäer 626,32 ff; Katechismus 715,41 ff; 719,15 ff Bild Gottes: Karlstadt 654,18 ff Bilder: Jesus Christus 76,9 ff; Johannes v. Damaskus 128,9ff; Karlstadt 654,10ff.45f Bilderstreit: Karl d. Gr. 647,10 Bildersturm: Karlstadt 651,25ff Bildung: Jugend 415,51 ff; Karoling. Renaissance 663,29 ff Bildungswesen: Katechismus 717,45 ff Bloch, Ernst: Jesus Christus 52,3 Böhme, Jakob: Kabbala 507,50 ff Böse, das: Kabbala 497,21 ff Boethusianer: Judentum 341,40 f Bogomilen: Jugoslawien 438,17 f Bonaventura: Johannes Philoponus 147,48ff Bonhoeffer, Dietrich: Jesus Christus 36,28 ff Borromeo, Carlo: Jubeljahr 283,30f Bosnien: Jugoslawien 438,24ff Bouyer, Louis: Jesus Christus 41,33 ff Bradley, Francis Herbert: Jesus Christus 24,47 ff Brenz, Johannes: Jesus Christus 4,41 ff; Katechismus 715,25 ff

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Namen/Orte/Sachen

Breslau, Jüdisch-theol. Seminar: Judaistik 292,26 ff Brüderunität/Brüdergemeine: Judenmission 328,11 ff Brunner, Emil: Jesus Christus 35,47ff Bruno v. Köln: Kartäuser 666,49 ff Buber, Martin: Jesus Christus 69,39 ff; Judentum 366,51 ff Buchstabensymbolik: Judentum 382,20 ff Budapest, Landesrabbinerschule: Judaistik 292.33 ff Buddeus, Johann Franz: Jesus Christus 8,39.46 ff; Katechetik 689,49 ff Buddhismus: Jesus Christus 73,37 ff Bultmann, Rudolf: Jesus Christus 37,10 ff; 46,21 ff Bund: Judentum u. Christentum 391,43ff Bunyan, John: Jung-Stilling 468,34 Buren, Paul van: Judentum u. Christentum 395,24ff Buridan, Johannes: Johannes Philoponus 145,30 Buxtorf, Johann: Kabbala 507,21 ff Byblos: Kanaan 546,35 f; 548,8 ff Byzanz: Kaisertum u. Papsttum 526,35 ff Caird, Edward: Jesus Christus 24,43 f Callenberg, Johann Heinrich: Judenmission 327,35 ff Calvin, Johannes/Calvinismus: Jesus Christus 34,36 f; Judas 300,5 ff; Judenmission 326,14 ff; Kapitalismus 608,18 ff; Katechismus 739,9 ff Campbell, John McLeod: Jesus Christus 55,52 f Canisius, Petrus: Katechismus 730,10 ff; 739,43 ff Carasse, Bernard: Kartäuser 669,41 Carranza, Bartolomé de: Katechismus 731,9ff Cassirer, Ernst: Kant 587,38 ff Catechismus Romanus: Jesus Christus 1,31 f; Katechismus 730,26 ff; 739,59 ff ChaBaD: Judentum 384,44ff Chasdaj Crescas: Judentum 357,16ff Chasdaj ibn Schaprut: Judentum 352,35 ff Chasidismus: Judentum 360,8 ff; 377,26ff; Kabbala 489,28 ff; 499,43 ff Chemnitz, Martin: Jesus Christus 4,26ff Chenchiah, Pandipeddi: Jesus Christus 73,27 ff Chiliasmus: Joachim v. Fiore 86,35 ff Christentum: Jesus Christus 29,51 ff; Judentum 343,37 ff Christkatholischer Katechismus (1972): Katechismus 740,43 ff Christlicher Verein Junger Männer (CVJM): Jugend 417,24 f Christosophie: Kabbala 504,21 ff Christusbilder: Jesus Christus 76,9 ff Christusfrömmigkeit: Jesus Christus 65,27 ff Chronistisches Geschichtswerk: Josaphat 243,18 ff Chrysostomus: s. Johannes Chrysostomus Church Catechism (1553): Katechismus 739.34 ff Cohen, Hermann: Judentum 366,23 ff; Kant 582,43f; 583,5ff; 586,19ff

Columbus Platform (1937): Judentum 363,26ff communicatio apotelesmatum: Jesus Christus 3,16 communicatio idiomatum: Jesus Christus 1,43 ff; 3,17 ff; 4,25 ff Corpus Iuris Civilis: Justinian 479,19ff; 481,47 ff Credo: Katechismus 714,24 ff; Katechismuspredigt 749,4 ff Dalman, Gustav: Judaistik 294,4 ff Daniel ben Mose al-Qumisi: Karäer 625,31 Dannhauer, Johann Konrad: Katechismuspredigt 762,22 ff David: Joris 240,33 f David ben Zakkai: Judentum 350,34 f DDR: Jugendweihe 430,18 ff Deger, Ernst: Jesus Christus 82,44 f Deharbe, Joseph: Katechismus 732,34 ff.49 ff Deismus: Jesus Christus 16,28 ff Dekalog: Katechismus 713,40ff; 741,53ff; Katechismuspredigt 747,17 ff; 749,20 ff; 785,53 ff Delitzsch, Franz: Judaistik 293,47ff descensus ad inferos: Jesus Christus 58,34ff Deuteronomistisches Geschichtswerk: Josua 274,40ff; Kanaan 554,16ff Deuteronomium: Josia 265,14 ff.43 ff Deutschgläubige Bewegung: Jugendweihe 429,31 ff Dialektik: Kant 575,17ff; 583,30ff Dialektische Theologie: Kant 579,39 ff Diaspora: Judentum 338,42ff Dieterich, Konrad: Katechetik 688,3 ff Dimissoriale: Kasualien 683,8 f Dinter, Gustav Friedrich: Katechetik 692,22 f Dionysius Areopagita: Johannes Scottus 159,5 ff Dionysius v. Halikarnaß: Josephus 262,33 Diotrephes: Johannesbriefe 196,1 ff; 197,40 ff Dippel, Johann Konrad: Jesus Christus 9,25 ff Dogmatik: Kähler 513,8 ff Doketismus: Jesus Christus 49,15 ff; Johannesbriefe 188,23 ff; Johannesevangelium 212,24 ff Dorner, Isaak August: Jesus Christus 23,14ff Dov Ber: Judentum 378,48 f; 383,11 ff Dozic, Gavrilo: Jugoslawien 434,31 ff Dreikapitelstreit: Justinian 481,12ff Dritte Welt: Junge Kirchen 454,1 ff Dualismus: Judentum 381,52ff Dubnow, Simon: Judentum 361,34f Dubois, Marcel: Judentum u. Christentum 394,15 ff Dura-Europos, Hauskirche: Jesus Christus 76,31 f Dynamik: Johannes Philoponus 145,11 ff Ebioniten: Judenchristentum 312,10ff; 320,49ff; 321,17f Ebla: Kanaan 540,27f.33f; 546,51ff; 550,45f Eck, Johannes: Karlstadt 650,9 ff Eckhardt, A. Roy: Judentum u. Christentum 396,9 ff Edom: Josaphat 242,44 ff

Namen/Orte/Sachen Edvards, Jonathan: Judenmission 328,36 ff Ed:ard, Esdras: Judenmission 327,2 ff Egidio da Viterbo: Kabbala 506,11 ff Ehe Joris 241,4 ff; Junges Deutschland