Theatrum Europaeum: Identitätspraxis und Internationale Ordnung auf Friedenskongressen [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27559-4, 978-3-658-27560-0

Ursula Stark Urrestarazu untersucht am Beispiel von historischen Friedenskongressen (1648 - 1815 - 1919), wie sich inter

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Theatrum Europaeum: Identitätspraxis und Internationale Ordnung auf Friedenskongressen [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27559-4, 978-3-658-27560-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Ouvertüre (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 1-7
Erster Akt: Forschungskontext (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 9-36
Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 37-87
Intermezzo: Fallauswahl und Quellen (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 89-90
Dritter Akt: Empirische Analyse (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 91-222
Schlussakt: “All the world’s a stage” (Úrsula Stark Urrestarazu)....Pages 223-237
Back Matter ....Pages 239-265

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Horizonte der Internationalen Beziehungen

Ursula Stark Urrestarazu

Theatrum Europaeum Identitätspraxis und Internationale Ordnung auf Friedenskongressen

Horizonte der Internationalen Beziehungen Reihe herausgegeben von Anna Geis, Hamburg, Deutschland Gunther Hellmann, Frankfurt, Deutschland Benjamin Herborth, Groningen, Niederlande Matthias Hofferberth, San Antonio, USA Oliver Kessler, Erfurt, Deutschland Klaus Schlichte, Bremen, Deutschland

Die Horizonte der „Internationalen Beziehungen“ haben sich verschoben. Unter anderem über den Einfluss von Sprachphilosophie, Postkolonialismus und Praxistheorie haben sich die theoretischen Zugänge des Fachs über die klassische Ausrichtung hinaus erweitert. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren sind zahllose innovative Beiträge entstanden, deren Bezüge zum Beispiel in die Literaturwissenschaft, die Geographie, die Ethnologie, in die großen Diskussionen der Soziologie und in andere Fächer reichen. Neben diesen aus der akademischen Diskussion entstandenen Veränderungen hat auch der Gegenstand des Faches an Dynamik gewonnen. Es ist jetzt schon erkennbar, dass hergebrachte Lehrmeinungen nicht reichen, um diese Veränderungen analytisch und begrifflich zu erfassen und dem Verständnis zugänglich zu machen. Mit dieser Schriftenreihe bieten die Herausgeber neuen, heterodoxen Arbeiten ein Forum, die die sich verändernde internationale Politik auf neue und das Verständnis erweiternde Weise begreifen. In der Reihe erscheinen hervorragende Arbeiten, welche theoretisch-konzeptionell und/oder empirisch und/oder methodisch dazu beitragen, die Horizonte der Internationalen Beziehungen und damit unser Wissen über diese zu erweitern. Ziel der Reihe ist es, Inhalte, Konzepte und Methoden der bisherigen IB-Forschung in ihrer ganzen Breite zu diskutieren, diese gleichzeitig aus unterschiedlichen Perspektiven weiterzudenken und somit zu erweitern.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16068

Ursula Stark Urrestarazu

Theatrum Europaeum Identitätspraxis und Internationale Ordnung auf Friedenskongressen

Ursula Stark Urrestarazu Frankfurt, Deutschland Dissertation Goethe Universität Frankfurt, 2017 u.d.T.: Ursula Stark Urrestarazu: „Theatrum Europaeum. Identitätspraktiken und internationale Ordnung auf Friedenskongressen. 1648–1815–1919“.

ISSN 2524-3845 ISSN 2524-3853  (electronic) Horizonte der Internationalen Beziehungen ISBN 978-3-658-27560-0  (eBook) ISBN 978-3-658-27559-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27560-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

So sehr man geneigt ist, die Qualität einer Arbeit in der eigenen intellektuellen Virtuosität begründet zu sehen, so sehr muss man am Ende eines langen Promotionsprozesses doch zu der Einsicht gelangen, dass gute Dissertationen nicht lediglich erschaffen werden – sie werden vor allem ermöglicht. Und zwar in erster Linie von jenen Menschen, die Promovierende auf ihrem Weg begleiten und unterstützen. Das Wirken dieser Menschen möchte ich an dieser Stelle nochmals explizit würdigen. An erster Stelle ist dabei sicher mein Betreuer Gunther Hellmann zu nennen, mit dem ich auf eine langjährige Zusammenarbeit zurückblicken darf. Seine Fähigkeit und Bereitschaft, mir seit meiner Zeit als Studentin (und später als Mitarbeiterin) auf Augenhöhe zu begegnen und mich in meiner eigenen Kreativität und intellektuellen Eigenständigkeit nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu fördern, hat in ganz wesentlichem Maße zur Gestalt dieser Arbeit beigetragen. Die vielen Jahre der intellektuell äußerst ertragreichen Zusammenarbeit mit ihm werden in meinem Werdegang immer einen ganz herausragenden Stellenwert einnehmen. Meinem Zweitbetreuer Miloš Vec gebührt ebenso mein Dank für die unterstützende Begleitung meines Vorhabens, dem er von Anfang an – selbst als es sich noch in den frühen Anfangsstadien befand – tiefes Verständnis entgegenbrachte. Selbst als wir uns noch nicht persönlich kannten, hat er mein Erkenntnisinteresse mit seinen eigenen Arbeiten zur Zeremonialwissenschaft ganz wesentlich inspiriert. Ich kann mich nur glücklich schätzen, ihn als Betreuer meiner Arbeit gewonnen und später die Möglichkeit gehabt zu haben, enger mit ihm zusammenzuarbeiten. Mein Promotionsvorhaben wurde vom Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe Universität Frankfurt im Rahmen des Internationalen Graduiertenprogramms mit einem Stipendium gefördert. Den Verantwortlichen – insbesondere der Leiterin Nicole Deitelhoff – gebührt dafür mein Dank. An das Graduiertenprogramm schloss sich eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Cluster-Forschungsprojekt „Formwandel von Souveränität und Außenpolitik“ an, das mir für meine Arbeit außerordentlich wertvolle Einsichten sowie einen regen Austausch mit benachbarten Forschungsdisziplinen und Forschern ermöglichte. Die Erkenntnisse, die ich in diesem Kontext gewinnen konnte, haben auch in dieser Arbeit ihren Niederschlag gefunden.

VI

Danksagung

Andreas Fahrmeir möchte ich für seine unterstützende Beurteilung als Drittgutachter danken, doch auch seine Unterstützung beschränkte sich nicht nur auf ein Gutachten. Im Rahmen unseres Forschungsprojektes durfte ich – ebenfalls durch sein tiefes Verständnis meiner Arbeit – wertvolle Impulse zur historischempirischen Ausrichtung meiner Arbeit bekommen. Dem Herausgebergremium – Anna Geis, Gunther Hellmann, Benjamin Herborth, Matthias Hofferberth, Oliver Kessler und Klaus Schlichte – möchte ich ferner für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Horizonte der Internationalen Beziehungen“ danken. Schließlich soll noch eine der wesentlichsten Stützen meines Promotionsprozesses Erwähnung finden – meine Familie. Mein Mann Timo war immer unaufgefordert da, wenn die Mühen des Promovierens anfingen, schwer auf meinen Schultern zu wiegen. Dieser Halt war in diesem nicht immer einfachen Prozess eine große Wohltat. Meine beiden Kinder haben zudem in besonderer Art und Weise die Fertigstellung dieser Arbeit ermöglicht, da sich meine Tochter Maite nach der Fertigstellung des ersten Entwurfes und mein Sohn Nando kurz nach der Disputation anschickte, auf die Welt zu kommen. Eine schönere Art und Weise, den eigenen – manchmal uferlos werdenden – Forschungs- und Schreibdrang zu zähmen, kann man sich nicht wünschen. Nicht zuletzt sei auch all meinen Freunden gedankt, die mich in meinen intellektuellen Exzentrizitäten durchaus auch kritisch, aber stets wohlwollend, begleitet haben. Vor allem Lisa Bender, Matthias Hofferberth, Christian Weber und Daniel Woitoll gebührt mein Dank für die Lektüre und Diskussion meiner Ideen und Texte. Es ist mir eine besondere Freude, diesen allen Menschen dieses Buch zu widmen. Kiew, im Mai 2019 Ursula Stark Urrestarazu

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3 2

Ouvertüre ................................................................................................. 1 Theatrum mundi: Die Welt als Bühne ................................................. 2 Theatre of Power: Internationale Beziehungen als Welttheater .......... 4 Struktur der Arbeit .............................................................................. 6

Erster Akt: Forschungskontext .............................................................. 9 Die Ordnung der Dinge: die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin .............. 9 2.2 Kulturelle Angelegenheiten: internationale Beziehungen als kulturelles System ............................................................................. 16 2.3 „Doing international relations“: Praktiken und „practice turn“ in den IB ............................................................................................ 20 2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung.. 24 2.1

3

Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen ....................... 37 Konzeptueller Rahmen: Identität - ein mehrdimensionales Modell .. 37 3.1.1 Narrative Dimension................................................................. 39 3.1.2 Performativ-synthetische Dimension........................................ 43 3.1.3 Emotionale Dimension ............................................................. 49 3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken .......................................................... 55 3.2.1 Identitätspraxis als analytisches Prisma .................................... 55 3.2.2 Thick comparison: vergleichende dichte Beschreibung von Identitätspraktiken .................................................................... 73 3.2.3 Identitätsschauplätze: Friedenskongresse als „Bühnen“ der Identitätspraxis ......................................................................... 80 3.1

4

Intermezzo: Fallauswahl und Quellen ................................................. 89

5 5.1

Dritter Akt: Empirische Analyse ......................................................... 91 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648) ......... 91 5.1.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung .................................................................................... 91

VIII

Inhalt

5.1.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting ........................................ 104 5.1.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis ........................... 116 5.1.4 Die Szene: Beschwörung des Friedens von Münster (15. Mai 1648) .................................................................................... 126 5.1.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung 135 5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815) ...................... 140 5.2.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung .................................................................................. 140 5.2.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting ........................................ 145 5.2.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis ........................... 156 5.2.4 Die Szene: Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig (18. Oktober 1814) ................................................................. 165 5.2.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung .................................................................................. 174 5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919) .............................................. 179 5.3.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung .................................................................................. 179 5.3.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting ........................................ 187 5.3.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis ........................... 195 5.3.4 Die Szene: Unterzeichnung im Spiegelsaal des Versailler Schlosses (28. Juni 1919) ....................................................... 203 5.3.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung .................................................................................. 215 6

Schlussakt: “All the world’s a stage” ................................................. 223

Literaturverzeichnis ....................................................................................... 239 Quellenverzeichnis .......................................................................................... 263

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:

Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:

Abbildung 6: Abbildung 7:

Abbildung 8:

Abbildung 9: Abbildung 11:

Abbildung 12:

Abbildung 13:

Sherpa Tenzing Norgay bei der Erstbesteigung des Mount Everest am 29. Mai 1953. Quelle: Royal Geographical Society .................................................................................. 59 Protestantische Parade in Belfast, Marching Season 2012. Quelle: BBC ......................................................................... 63 Protestantische Parade in Belfast. Quelle: Belfast Telegraph..................................................... 66 Wandbild am Eingang eines protestantischen Viertels in Derry/Londonderry. Eigene Aufnahme August 2013. ......... 67 Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal für die Opfer der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands am 7. Dezember 1970. Quelle: Bundesbildstelle. ................ 68 Struktur der Verhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongress nach BOSBACH 2011, S. 106............... 115 Darstellung der Beschwörung des schwedisch-kaiserlichen Vorfriedens in der Residenz Oxenstiernas in Osnabrück. Quelle: BUSSMANN/SCHILLING 1998, S. 398. ............. 118 TER BORCH, Gerard (um 1646): Einzug des Gesandten Adriaan Pauw in Münster, Stadtmuseum Münster. Quelle: Wikicommons........................................................ 124 TER BORCH, Gerard (1648): Der Friede von Münster. Quelle: Wikicommons........................................................ 127 Einzug von Kaiser Franz I. in Wien 1814. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv. ........................................... 161 Empfang der verbündeten Monarchen in Wien 1814 anlässlich des Wiener Kongresses. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv. ........................................... 163 Dekoriertes Wiener Lusthaus am 18. Oktober 1814. Radierung von Heinrich Friedrich Müller. Quelle: Wikicommons........................................................ 168

X Abbildung 14:

Abbildung 15:

Abbildung 16: Abbildung 17:

Abbildung 18:

Abbildung 19: Abbildung 20:

Abbildung 21:

Abbildung 22:

Abbildung 23:

Abbildungsverzeichnis

Das Festmahl der Grenadiere beim Lusthause. Radierung von Friedrich Philipp Reinhold. Quelle: MAK Österreichisches Museum für angewandte Kunst. ............. 172 Fest im Prater zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1814. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv. .......................................................................... 173 Die deutsche Delegation kurz vor ihrer Abreise nach Versailles. Quelle: Wikicommons. ..................................... 197 George Clemenceau bei seiner Rede im Hotel Trianon Palace anlässlich der Übergabe der Friedensbedingungen. Quelle: Wikicommons........................................................ 198 Arrangement der Sitze im Spiegelsaal im Versailler Schloss vor der Unterzeichungszeremonie. Quelle: Wikicommons........................................................ 205 Vollbesetzter Spiegelsaal kurz vor der Eröffnung der Unterzeichungszeremonie. Quelle: Wikicommons ............ 207 OLIVIER, Herbert A. (1919): Sketch of the Table in the Hall of Mirrors at which the Treaty of Versailles was Signed. Quelle: Imperial War Museum. ............................. 208 Foto der gueules cassées, erschienen als Andenkenpostkarte anlässlich der Unterzeichnung des Friedensvertrages. La délégation “Les Cinq” gueules cassées à Versailles, carte postale. Quelle: Exposition de la Bibliothèque Interuniversitaire de Médecine, Paris. .. 210 ORPEN, William: The Signing of Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919. Quelle: Wikicommons........................................................ 211 HEINE, Thomas Theodor: Der Friedenskuss. Quelle: Simplicissimus Nr. 15 (Jahrgang 24), 8. Juli 1919. ............ 221

1

Ouvertüre

Die Assoziation einer politikwissenschaftlichen Dissertation mit theatralischen Motiven dürfte im politikwissenschaftlichen Kontext bzw. in der Öffentlichkeit nicht unbedingt unmittelbar auf Verständnis stoßen. Wie keine andere Metapher wird das Theatralische in der Politik landläufig mit der schlichten Inszenierung politischer Positionen in Verbindung gebracht – oder in anderen Worten: mit Politik des reinen Scheins und der bewussten Täuschung. So wird beispielsweise im politikwissenschaftlichen Diskurs die zunehmende „Theatralisierung des Politischen“ und die damit verbundene „Verdrängung der Rhetorik durch die Optik als Schlüsseltechnik politischer Persuasion“1 häufig als Bedrohung des auf rationalen Ideen- und Interessenaustausch basierenden Politikmodells gesehen, das einem profundem Wandel von einer „logozentrischen hin zu einer ikonozentrischen politischen Kultur“2 unterliege. Folgt man hier einem Beitrag Herfried Münklers, ist diese Entwicklung im Kontext der Globalisierung jedoch insofern bedrohlich, als dass sie nicht zur „Selbstbindung politischer Akteure oder gar zur Zähmung und Fesselung des übermächtigen Leviathan“ beitrage, sondern „im Gegenteil eine zur Beruhigung entworfene Autosuggestion [darstelle], die den Eindruck erwecken soll, daß es staatliche Souveränität noch gibt und daß sie zur Geltung gebracht werden kann, wenn man nur will“.3 Somit dürfte die im Titel anklingende Konzeption dieser Arbeit von Vertretern dieser Meinung fast als Provokation aufgefasst werden. Denn nicht nur der Titel dieser Arbeit, auch eines ihrer Hauptargumente zielt in eine genau entgegengesetzte Richtung: Souveränität, verstanden als fundamentales Element außenpolitischer Identität und Ordnungsprinzip des Internationalen, bedarf der Vermittlung. Die symbolische Vermittlung außenpolitischer Identität stellt eine kulturelle 1 2 3

MÜNKLER, Herfried (2001): Theatralisierung der Politik, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt, S. 144. Ebd. Ebd. S. 154; „Von der Vorfahrt der schweren Limousinen, früher vor dem Bonner Kanzleramt und jetzt vor dem repräsentativen Neubau in Berlin über eine mehr oder weniger staatsrepräsentative Architektur bis zu den markigen Erklärungen vieler Politiker über ihre Absichten und Ziele haben wir es danach mit dem Inszenesetzen einer Staats- und Machtsymbolik zu tun, die jedoch nur noch eine brüchige Fassade ist, weil das einstige Gebäude hinter ihr weggebrochen ist.“

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. Stark Urrestarazu, Theatrum Europaeum, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27560-0_1

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1 Ouvertüre

Handlung dar, die es beteiligten Akteuren ermöglicht, sowohl spezifische Vorstellungen politischer Ordnung, als auch Statusansprüche innerhalb dieser Ordnung zu kommunizieren. Dieses „Inszenesetzen“ (Münkler) muss jedoch nicht notwendigerweise die Ernsthaftigkeit oder den Realitätsgehalt der entsprechenden politischen Substanz in Zweifel ziehen; ganz im Gegenteil: wie ich in dieser Arbeit argumentieren werde zeichnen sich Elemente außenpolitischer Identität vielmehr dadurch aus, auf wiederholte Praktiken der Darstellung und Inszenierung sowie deren Interpretation angewiesen zu sein. Und nicht nur das. Sie können zugleich als wichtige Kommunikationsmedien für die Aushandlung politischer (internationaler) Ordnungsvorstellungen angesehen werden. Im Zentrum der Fragestellung meines Vorhabens steht somit in diesem Sinne die Analyse der Praxis außenpolitischer Identität sowie deren Relevanz für die Konstitution von sozialer - in diesem Fall „internationaler“- Ordnung. In dieser Einleitung werde ich mich in drei Schritten dem Gegenstand nähern. Zunächst werde ich auf die Titelmetapher eingehen und ihre Relevanz für die Fragestellung diskutieren. Daran anschließend werde ich kurz auf die disziplinären Debatten zu sprechen kommen, an die die Titelmetapher anschließt, um schließlich in einem dritten Schritt die Grundlinien und Struktur der Arbeit zu skizzieren. 1.1

Theatrum mundi: Die Welt als Bühne

Das Unbehagen, das die Theater-Metapher und deren Assoziation mit (internationaler) Politik erzeugt, scheint ein eher modernes Phänomen zu sein. Die Vorstellung von Welt als Theater besitzt in Europa eine lange und reiche Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt.4 Ausgehend von der platonischen Vorstellung, nach der sich der Mensch in seiner Rolle als Marionette der Götter fügen müsse, etablierte sich der Begriff des Theatrum mundi in der frühen Neuzeit als beliebtes Bild für die Eitelkeit und Nichtigkeit der Welt (vanitas).5 Insbesondere die frühmoderne Geschichtsschreibung bediente sich dieser Metapher in zahlreichen historischen Darstellungen. So lautet etwa der Titel des von Matthäus Merian ab 1646 in Frankfurt herausgegebenen – und in seiner Zeit äußerst populären – Geschichtswerks „Theatrum Europaeum oder: Außfuehrliche und Warhafftige 4

5

CHRISTIAN, Lynda G. (1987): Theatrum Mundi: The History of an Idea, New York; siehe auch die Sonderausgabe der Zeitschrift Metaphorik zur Theatrums-Metapher in der frühen Neuzeit: Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen. Metaphorik (14/2008), darin insb. auch der Beitrag von WEST, William N.: Knowledge and Performance in the Early Modern Theatrum Mundi, S. 1-20. KOLESCH, Doris (2008): Politik als Theater. Plädoyer für ein ungeliebtes Paar, in: Aus Politik und. Zeitgeschichte 42, S. 35; DIES. (2006): Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt: Campus.

1.1 Theatrum mundi: Die Welt als Bühne

3

Beschreibung aller und jeder denckwuerdiger Geschichten“6. Auch der Titel einer der umfangreichten Sammlungen frühneuzeitlicher Zeremonialwissenschaft lautet diesem Tenor folgend „Theatrum ceremoniale historico-politicum, oder Historisch- und politischer Schau-Platz aller Ceremonien“.7 Die Popularität dieses barocken Motivs liegt zum einen sicher in der zeitgenössischen Stilistik begründet, die häufig den Anspruch erhob, in allumfassenden Werken „kosmologische“ Geschichten der gesamten Menschheit zu zeichnen. Das Motiv findet sich jedoch auch in diversen Darstellungen anderer Kontexte sozialen Lebens: Kunst, Architektur, Literatur und nicht zuletzt auch Kriegsführung.8 Insofern kann die Metapher also als ein spezifischer Modus der Wissensrepräsentation und –weitergabe verstanden werden.9 Das „Welttheater“ impliziert zum anderen jedoch nicht zuletzt auch die Form der Darstellung bzw. Inszenierung von kosmischer Ordnung, in der gleichsam die Rolle des Menschen innerhalb dieser Ordnung, sowie die konstante Reproduktion von Welt durch den Menschen zum Tragen kommen.10 Für die Zwecke dieser Arbeit scheint es mir somit angebracht, diese Metapher aufzugreifen, da ja die Analyse von (Repräsentations-)Praktiken außenpolitischer Identität sowie deren Relevanz für die Konstitution von internationaler Ordnung im Zentrum der Fragestellung meines Vorhabens stehen. Da die Ordnung(en) die ich beschreiben werde jedoch in erster Linie europäische Ordnungen sind, scheint es mir zudem geboten, die Metapher in ihrer europäischen Beschränktheit aufzugreifen. Im Folgenden werde ich kurz skizzieren, an welche disziplinären Debatten 6

7

8 9

10

Das Werk in Gestalt der zeitgenössischen „Weltchronik“ erschien zwischen 1646 und 1738 und wurde auch nach dem Tode Merians weitergeführt. Besondere Bedeutung erlangte das Werk vor allem durch die zeitnahen Schilderungen des Dreißigjährigen Krieges sowie durch die insgesamt 750 Kupferstiche, von denen etwa 150 von Merian selbst angefertigt wurden. Theatrum Europaeum oder: Außfuehrliche und Warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwuerdiger Geschichten so sich hin und wieder in der Welt, fuernehmblich aber in Europa, und Teutschlanden, so wol im Religion- als Policey-Wesen…sich zugetragen haben (hg. Von Johann Philipp ABELINUS et al., 21 Bände, Frankfurt 1646-1738). LÜNIG, Johann Christian (1719): Theatrum ceremoniale historico-politicum, oder Historischund poplitischer Schau-Platz aller Ceremonien, Welche bey Päbst- und Käyser-, auch Königlichen Wahlen und Crönungen (...) Ingleichen bey Grosser Herren und dero Gesandten Einholungen (...) beobachtet werden: Auch wie Kayser, Könige, Chur- und Fürsten, Grafen und Herren…einender in Briefen tractieren, Nebst unterschiedlichen Hofordnungen…ans Licht gegeben. Leipzig. FÜSSEL, Marian (2008): Theatrum Belli. Der Krieg als Inszenierung und Wissensschauplatz im 17. und 18. Jahrhundert, in: Metaphorik 14, S. 205-230. WEST 2008; sowie SCHOCK, Fleming (2008): Theater und Wissenswelten in der Frühen Neuzeit, in: Metaphorik 14, S. IX-IVIII; zudem WEBER, Christian (2008): Theatrum Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum-Metapher im 16. und 17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im Großen Welttheater, in: Metaphorik 14, S. 333-360. Vgl. WELLER, Thomas (2008): Kein Schauplatz der Eitelkeiten. Das frühneuzeitliche Theatrum Praecedentiae zwischen gelehrtem Diskurs und sozialer Praxis, in: Metaphorik 14, S. 381.

4

1 Ouvertüre

diese Fragestellung anschließt und wie die Theatermetapher hierzu in Verbindung steht. 1.2

Theatre of Power: Internationale Beziehungen als Welttheater

Die Übertragung dieser Metapher auf die den vorliegenden Kontext speist sich offensichtlicherweise aus verschiedenen disziplinären Debatten innerhalb der Internationalen Beziehungen (IB) und der Außenpolitikforschung (APF). Ganz grundlegend beschäftigt sich diese Arbeit zunächst mit einem Grundproblem der Disziplin: wie konstituieren und entwickeln sich Vorstellungen internationaler Ordnung und welche Rolle spielen dabei Akteure, ihre Selbstbilder und deren Darstellung? Diese und ähnliche Problemstellungen sind sicherlich kein exklusives Terrain der Disziplin der IB oder APF, im Gegenteil, sie berühren ein Grundproblem der Sozialwissenschaft als Ganzes, das sogenannte „Struktur-Akteur-Problem“, das wohl zu Recht als „das zentralste Problem politischer Theorie“11 betrachtet werden kann. Für die IB und APF im Besonderen kann dieses Problem insofern als eines der grundlegendsten gelten, als es sowohl die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand und Analysefokus der Disziplin(en), als auch nach den komplexen Kausalzusammenhängen zwischen den verschiedenen Analyseebenen aufwirft. Die entsprechende Debatte hatte Mitte der 1990er Jahre ihren Höhepunkt und brachte die (mehr oder weniger) konsensuale Vorstellung hervor, dass Akteure und Strukturen „ko-konstitutiv“ sind, sprich: sich gegenseitig bedingen und somit untrennbar verschränkt sind.12 Diese Vorstellung wurde in der Folge insbesondere von sozialkonstruktivistischen Ansätzen aufgegriffen, die die Verschränkung von Struktur(en) und Akteur(en) insbesondere auf „ideeller“ Ebene thematisierten. Antworten auf die Frage, anhand welcher Praktiken und Phänomene wir diese „Ko-Konstitutivität“ beobachten können, sind in der einschlägigen Forschung jedoch eher weniger konsensual. Nicht zuletzt auch inspiriert durch Wendts Forschung13 und dem sogenannten „constructivist turn“ in den IB Theoriedebatten erlang vor allem auch das Konzept 11

12 13

CARLSNAES, Walter (1992): The Agency-Structure Problem in Foreign Policy Analysis, in: International Studies Quarterly 36:3, S. 245, siehe auch WENDT, Alexander (1987): The AgentStructure Problem in International Relations Theory, in: International Organization 41:3, S. 335370. Diese Konzeption geht insbesondere auf Alexander Wendt zurück, der das Problem in den IB mit der soziologischen „Structuration Theory“ von Anthony Giddens in Verbindung brachte, die diesen Zusammenhang postuliert; WENDT 1987, S. 307. In seiner Kritik rationaler Zugänge hatte Wendt in einem seiner meistbeachtesten Aufsätze postuliert, dass zentrale Kategorien der IB wie „Anarchie“ und „Selbsthilfe“ nicht objektive Größen, sondern soziale Konstruktionen seien. Interessen und Identitäten von Akteuren seien folglich kein einfaches Produkt äußerer Umständen (exogen), sondern entstünden aus Prozessen

1.2 Theatre of Power: Internationale Beziehungen als Welttheater

5

der Identität einen zentralen Stellenwert in der Konzeptualisierung der wechselseitigen Konstitution von Akteur und Struktur. Wie genau Identität „sozial konstruiert“ wird und welche Rolle diese Prozesse in der Rekonfiguration von „Strukturen“ spielen, lässt sich indes auf höchst unterschiedliche Aspekte hin untersuchen.14 Diese Arbeit versteht die Praxis außenpolitischer Identität als zentrales Element der Konstitution politischer (internationaler) Ordnungsvorstellungen. Dieser Zusammenhang trägt damit – wie ich argumentieren werde – notwendigerweise theatralische Züge, da diese konstitutiven Prozesse der performativen Verbildlichung und Kommunikation von Selbstbildern außenpolitischer Akteure und Akteursbeziehungen bedürfen. Damit leistet die Theater-Metapher einen nützlichen Dienst, da sie sehr plastisch vor Augen führt, dass internationale Beziehungen – also sowohl Vorstellungen politischer Ordnung, als auch spezifische Statusansprüche innerhalb dieser Ordnung - von beteiligten „Akteuren“15 gewissermaßen verkörpert „in Szene gesetzt“ und so ausgehandelt werden. Diese Arbeit ist somit stark durch Theorien des symbolischen Interaktionismus inspiriert, die die Konstitution sozialer Ordnung und Identität in interaktiven Prozessen betonen; insbesondere natürlich durch Ervings Goffmans dramaturgischen Identitätsansatz aus seinem vielzitierten Werk „Wir alle spielen Theater“.16 Im theoretisch-methodischen Teil dieser Arbeit werde ich diese Inspirationen und die entsprechenden theoretischen Zusammenhänge natürlich ausführlicher behandeln. Zur Kontextualisierung der Titelmetapher und der Fragestellung sollte jedoch bereits an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass ein solcher Ansatz in den IB nicht vollkommen neu ist. Insbesondere in den Diplomatic Studies haben ähnliche Ansätze bereits Gehör gefunden, die sich mit den symbolischen Dimensionen von Diplomatie befassen und dieser Praxis zum Teil theatralische Eigenschaften zuschreiben.17 Im etwas breiteren Kanon der IB Theorie selbst ließe sich

14 15 16 17

der Identitätsbildung auf internationaler Ebene (endogen); vgl. WENDT, Alexander (1994): Collective Identity Formation and the International State, in: American Political Science Review 88:2, S. 384-396; sowie DERS. (1999): Social Theory of International Politics, Cambridge University Press. Den entsprechenden Forschungskontext werde ich im nächsten Kapitel eingehender beleuchten, an dieser Stelle sollen diese Entwicklungen jedoch wenigstens kurz erwähnt worden sein. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass selbst der Fachjargon der IB dem Theater entlehnte Begrifflichkeiten aufweist. GOFFMAN, Erving (1959): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Pieper (8. Aufl. 2010). Vgl. COHEN, Raymond (1987): Theatre of Power. The Art of Diplomatic Signalling. New York: Longman; JÖNSSON, Christer (1996): Diplomatic Signalling in the Television Age, in: The Harvard International Journal of Press/Politics 1:3, S. 24-40; SHIMAZU, Naoko (2011): Diplomacy as Theatre. Recasting the Bandung Conference of 1955 as Cultural History (Asia Research Institute Working Paper Series 164). National University of Singapore.

6

1 Ouvertüre

diese Arbeit und ihre theoretische Perspektive jedoch vor allem auch im Kontext einer Debatte verorten, in der internationale Beziehungen als kulturelles System aufgefasst werden, ein System das sich durch bestimmte „Spielregeln“, Akteurs-, Zeit- und Raumverständnisse auszeichnet, deren Entstehung als kultureller Prozess verstanden wird.18 Die Titelmetapher unterstreicht dabei die dramaturgischen Elemente dieses Prozesses – die Tatsache, dass zentrale Ordnungskonzepte internationaler Ordnung – wie eingangs am Beispiel Souveränität angedeutet - auf symbolische Darstellung und sinnliche Vermittlung angewiesen sind. Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Metaphern in der Produktion von Wissen als ein erkenntnisbeförderndes Instrument dienen und nicht als Selbstzweck fungieren sollten. „Gerüste“, so Erving Goffman, seien letzten Endes dazu da, „andere Dinge mit ihnen zu erbauen, und sollten im Hinblick darauf errichtet werden, dass sie wieder abgebaut werden“.19 Ebenso gilt auch für diese Arbeit, dass die Titelmetapher die „Struktur der Einheiten im sozialen Leben“ (hier: internationalen Leben) thematisiert, „die entstehen, wann immer Personen anderen Personen unmittelbar physisch gegenwärtig werden“20. Doch was stünde idealerweise am Ende der Arbeit, wenn das Hilfsgerüst der Theatermetapher abgebaut ist? Letztlich soll am Ende ein Grundzug internationaler Beziehungen offenbar werden: dass auch internationale Beziehungen als soziale Beziehungen auf Interaktionsprozessen beruhen, die kulturell getränkte Techniken der Identitätsdarstellung und –aushandlung aufzeigen und die somit unsere Aufmerksamkeit auf die anthropologischen Dimensionen dieses Systems richten. 1.3

Struktur der Arbeit

Die Leitmetapher des Theaters wird uns folglich auch bei der Strukturierung der Arbeit begegnen. In Anlehnung an die Terminologie des Theaters ist die Arbeit in drei große „Akte“ gegliedert, in deren Rahmen sich das Untersuchungsdesign entfalten wird. Der erste Akt ist den Forschungskontexten gewidmet, an die die Fragestellung der Arbeit anschließt bzw. die die Fragestellung inspiriert haben. Diese beziehen sich etwa auf die sehr grundsätzliche Frage nach der Entwicklung internationaler Ordnung als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin, aber auch auf Forschungsfelder, in denen internationale Beziehungen als kulturelles System konzeptualisiert werden, das in erster Linie durch Praktiken der beteiligten Akteure konstituiert wird. Auch die Prominenz des Konzeptes der Identität in den IB 18 19 20

Vgl. ERIKSEN, Thomas H./NEUMANN, Iver (1993): International Relations as a Cultural System. An Agenda for Research, in: Cooperation and Conflict 28:3, S. 233-264; sowie LEBOW, Richard Ned (2008): A Cultural Theory of International Relations. Cambridge University Press. GOFFMAN 1959, S. 232f. Ebd. S. 233.

1.3 Struktur der Arbeit

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wie auch der APF sowie dessen Relevanz für die Fragestellungen dieser Forschungsfelder soll in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Der zweite Akt legt indes den theoretisch-methodologischen Rahmen der Arbeit dar. Zum einen werde ich dabei die grundlegenden theoretischen Konzepte und empirische Analysekategorien der Arbeit begründen: das multidimensionale Identitätsmodell sowie den Begriff der Identitätspraxis. Zum anderen soll dabei die methodologische Basis der Untersuchung diskutiert werden, die aus einer vergleichenden ethnographischen Analyse („thick comparison“) von Identitätspraktiken besteht. Nach einem kurzen Intermezzo, in dem ich die Überlegungen zur Fallauswahl und Quellenbasis thematisieren werde, soll im dritten Akt schließlich die empirische Analyse vorgenommen werden. Die drei Fallstudien sind dabei wiederum in fünf Unterkapitel gegliedert, in denen sowohl der historisch-kulturelle Kontext, das situative Setting der Kongresse sowie deren charakteristische Szenarien der Identitätsrepräsentation diskutiert werden. Eine spezifische Szene wird daran anschließend einer ausführlicheren dichten Beschreibung unterzogen und schließlich in Bezug auf die zentrale Fragestellung der Arbeit – dem Zusammenhang zwischen Identitätspraxis und internationaler Ordnung – ausgewertet. Die Ergebnisse dieser „thick comparison“ sollen dann im Fazit umfassender und fallübergreifend diskutiert werden.

2

Erster Akt: Forschungskontext

Wie angekündigt sollen in diesem Kapitel die disziplinären Kontexte und Debatten, an die diese Arbeit anschließt, eingehender beleuchtet werden. Da sich das Hauptargument der Arbeit aus verschiedenen Kontexten speist, die die Konstitution und Entwicklung internationaler Beziehungen in den Blick nehmen, kann folgende Diskussion natürlich keine lückenlose Vollständigkeit für sich beanspruchen. Vielmehr geht es mir in diesem Abschnitt darum, zur Kontextualisierung der Fragestellung wie auch des Hauptarguments der Arbeit die damit verbundenen wichtigsten Debatten und ihre Kernthematik kurz darzustellen. Ich werde im Folgenden insbesondere auf vier Kontexte zu sprechen kommen: zum einen auf den Begriff der „Ordnung“ als zentrales Erkenntnisinteresse verschiedener theoretischer Traditionen der Disziplin, sowie der Konzeption von internationalen Beziehungen als „kulturelles System“. Zum anderen werde ich auch auf die disziplinaren Entwicklungen zu sprechen kommen, die im sogenannten „practice turn“ ihren Ausdruck finden, vornehmlich ein stärkerer Fokus auf soziale Praktiken ans zentrale Analysekategorie. Schließlich werde ich noch auf die Verwendung des Konzepts „Identität“ in den IB und der Außenpolitikforschung eingehen und herausarbeiten, dass dieses Konzept – obwohl es sicherlich als eines der „modischsten“ und somit meist verwendeten Konzepte bezeichnet werden kann – doch eher selten in Verbindung mit Praktiken konzipiert wird. 2.1

Die Ordnung der Dinge: die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin

Die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin

Wenn wir der These zustimmen, dass der Begriff der „Ordnung“ als eines der zentralsten Konzepte in den IB überhaupt betrachtet werden muss, so könnte man sich darüber wundern, dass wenig bis gar keine systematischen Untersuchungen über die Verwendung dieses Begriffes in den verschiedenen theoretischen Traditionen der IB bestehen.21 Die Ursachen dafür ließen sich vor allem darin sehen, 21

Natürlich gibt es kleinere Überblicksdarstellungen als Kapitelabschnitte in verschiedensten Studien. Eine systematische Untersuchung über Theorielager hinweg ist jedoch zumindest nach meiner Einschätzung eher die Ausnahme, vgl. etwa RENGGER, Nick J. (2000): International Relations, Political Theory and the Problem of Order. Beyond International Relations Theory? London: Routledge; PAUL, T.V./HALL, John H. (Hg.) (1999): International Order and the

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. Stark Urrestarazu, Theatrum Europaeum, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27560-0_2

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2 Erster Akt: Forschungskontext

dass das Konzept so eingängig und selbstverständlich zu sein scheint, dass dessen Verwendung schlichtweg nicht problematisiert wird, zumindest nicht als singuläre Fragestellung. Zudem – und damit zusammenhängend - liegt dies jedoch sicherlich auch darin begründet, dass der Begriff der Ordnung meist in Verbindung mit anderen Konzepten untersucht wird, wie etwa „Krieg“ und „Frieden“, „Macht“, „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“22 und vergleichsweise selten in einer eigenen, das Feld systematisierenden Untersuchung Beachtung findet. Allerdings sagt die Selbstverständlichkeit spezifischer Konzepte durchaus einiges über ihre zentrale Bedeutung in einer wissenschaftlichen Disziplin aus, was meines Erachtens für den Begriff der „internationalen“ bzw. „globalen Ordnung“ in den IB in besonderer Weise zutrifft. Wie eingangs angedeutet, fokussiert die große Mehrheit der Ansätze weniger auf die Problematisierung des Konzepts selbst, als auf die Möglichkeiten der Herstellung von internationaler Ordnung im Sinne einer funktionierenden Beziehungskonstellation beteiligter Akteure, die der Beförderung bestimmter Ziele dienlich ist (Frieden, Sicherheit, etc.). Das Konzept ist damit stark normativ aufgeladen, da es – insbesondere im Kontrast zu seinem Gegenstück „Unordnung“ – einen Status stabiler und friedlicher internationaler Beziehungen impliziert und bestimmte Vorstellungen transportiert, wie die Konstellation internationaler Beziehungen idealerweise aussehen sollte.23 Die Identifizierung und Erklärung von Faktoren, die zu einer solchen stabilen internationalen Ordnung führen, kann insofern als grundlegender Auftrag und somit gewissermaßen als „Gründungsmythos“ der IB als Disziplin betrachtet werden. In seiner Untersuchung drei zentraler Autoren, die den klassischen Realismus inspirierten (Thukydides, Carl von Clausewitz und Hans Morgenthau), kommt Richard Ned Lebow beispielsweise zu dem Schluss, dass all diese Autoren ihre Werke im Nachgang großer destruktiver Kriege mit dem expliziten Anspruch geschrieben hatten,

22

23

Future of World Politics. Cambridge: Cambridge University Press; die Publikationen des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen” müssen an dieser Stelle natürlich als Ausnahme hervorgehoben werden, vgl. etwa STEFFEK, Jens/HOLTHAUS, Leonie (Hg.) (2014): Jenseits der Anarchie. Weltordnungsentwürfe im frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt: Campus. Vgl. IKENBERRY, G. John (2000): After Victory. Institutions, Strategic Restraint and the Rebuilding of Order after Major Wars. Princeton: Princeton Univ. Press; aktueller DERS. (Hg) (2014): Power, Order and Change in World Politics. Cambridge: Cambridge University Press; HOWARD, Michael (2000): The Invention of Peace. Reflections on War and International Order. Yale University Press; FOOT, Rosemary/LEWIS GADDIS, John/HURRELL, Andrew (Hg.) (2003): Order and Justice in International Relations. Oxford: Oxford Univ. Press; BROWN, Chris (2000): Justice and International Order, in: COATS, Tony (Hg.): International Justice. Dartford: Ashgate. Vgl. PAUL/JOHN 1999, S. 2.

2.1 Die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin

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die Faktoren für den Wiederaufbau stabiler internationaler Ordnung zu benennen.24 Dieses Motiv beschränkt sich jedoch sicherlich nicht nur auf den Realismus, sondern ließe sich auf so gut wie jede theoretische Tradition beziehen. Je nach Tradition bestehen jedoch recht unterschiedliche Konzeptionen der Grundlagen einer solchen stabilen internationalen Ordnung; im Folgenden sollen diese kurz in ihren (traditionstypischen) Grundzügen skizziert werden. In Ansätzen realistischer Couleur werden meist Mächtegleichgewicht (balance of power) bzw. Hierarchie im Gegensatz zu Anarchie als zentrale Faktoren identifiziert, die internationale Ordnung stabilisieren. Realisten gehen gemeinhin von einem anarchischen Staatensystem aus, das aus dieser Grundcharakteristik heraus bereits konfliktiv ist, da sich dessen Akteure zur „Selbsthilfe“ angehalten sehen, sprich: sich mit möglichst vielen Machtressourcen auszustatten, um ihr Überleben zu sichern. Diese Verhaltensdisposition mündet wiederum in einem sogenannten „Sicherheitsdilemma“, einer Situation in der die Akteure nach Sicherheit mittels militärischer Ressourcenmaximierung streben, wobei durch die damit einhergehende Aufrüstung jedoch letztlich keiner der Akteure tatsächlich sicher ist.25 In seinem klassischen Werk Politics Among Nations26 teilte Hans Morgenthau die Akteure in den internationaler Beziehungen nach spezifischen Verhaltensdispositionen in drei Kategorien ein: status quo-orientierte, revisionistische (also den status quo ablehnende) sowie prestige-orientierte Staaten.27 Eine friedliche internationale Ordnung hängt dementsprechend von der Machtverteilung zwischen diesen Arten von Akteuren zusammen und kommt dann zustande, wenn die status quo-orientierten Akteure die Oberhand behalten und das System stützen.28 Der sog. „strukturelle Realismus“ hingegen, begründet insbesondere durch Kenneth

24 25

26 27 28

Vgl. LEBOW, Richard Ned (2003): The Tragic Vision of Politics. Ethics, Interests and Order. Cambridge: Cambridge Univ. Press. Diese sehr kursorische Abhandlung wird selbstverständlich der Vielzahl und Unterschiedlichkeit realistischer Ansätze nicht gerecht, es geht mir hier nur darum, grundlegende Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und die prominentesten Beiträge zu skizzieren; einen guten Einstieg liefert LEBOW, Richard Ned (2011): Realism in International Relations, in: International Encyclopedia of Political Science; SAGE Publications, http://www.sage-ereference.com/view/intlpolitical science/n507.xml; 2.12.2011. MORGENTHAU, Hans J. (2006) [1948]: Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace. New York: Knopf. Letztere zielen dabei insbesondere auf die Vermehrung von Prestige und Einfluss; vgl. Ebd., S. 2125. Viele realistische Autoren haben diese Einteilung in dieser oder ähnlicher Konzeption aufgegriffen und weiterentwickelt, so spricht etwa Henry Kissinger von status-quo und revolutionären Staaten, vgl. CHAN, Steve (2004): Realism, Revisionism, and the Great Powers, in: Issues and Studies 40:1, S. 8f.

12

2 Erster Akt: Forschungskontext

Waltz in seinem opus magnum Theory of International Politics29, versteht das internationale System als anarchische Struktur die sich durch „coaction of self-regarding units“30 konstituiert, also durch die Interaktion von relativ autonomen und machtmaximierenden Staaten. Nach seiner Auffassung könne eine Theorie internationaler Beziehungen somit ausschließlich auf systemischer Ebene angesiedelt sein, da die Erklärung des Verhaltens der Systemeinheiten, ein zu hohes Maß an Komplexität erfordere.31 Staaten versteht Waltz als „like units“ somit gewissermaßen nur als Träger der Verteilung von Machtressourcen, die das eigentliche zentrale strukturbestimmende Prinzip internationaler Beziehungen darstellt32 und „beschränkende Wirkungen“ auf das Verhalten der Akteure ausübt.33 Die Stabilisierung dieser Ordnung kann somit nur über das Prinzip balance of power erfolgen, da sie am besten die Unabhängigkeit und das Überleben der Staaten sichert. Letztere versuchen in einer solchen Konstellation das potentiell destabilisierende Mächteungleichgewicht durch internes balancing (Vermehrung militärischer Ressourcen im Inneren) oder externes balancing (mit mächtigeren Akteuren Allianzen eingehen) zu kompensieren.34 Je multipolarer das System ist, desto instabiler wird es.35 Die Anzahl der Akteure – spezifischer formuliert: der dominierenden Großmächte - und die Machtverteilung zwischen ihnen sind somit die zentralen Kategorien, die die Stabilität internationaler Ordnung für Waltz bedingen. In Ansätzen liberaler Prägung bestehen hingegen andere Vorannahmen zur Beschaffenheit internationaler Ordnung sowie zu den Faktoren, die der Stabilisierung von Ordnung zuträglich sind. Allgemein formuliert gehen liberale Ansätze zwar grundsätzlich auch von einem anarchischen Staatensystem aus, sprechen sich dabei jedoch dezidiert für die Möglichkeit von Kooperation zwischen Staaten aus und richten im Gegensatz zu realistischen Autoren den Fokus auf die internen Charakteristika der Staaten (etwa Regimetyp) sowie auf die verschiedenen institutionalisierten Kooperationsformen auf internationaler Ebene.36 Wie Andrew

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34 35 36

WALTZ, Kenneth N. (1979): Theory of International Politics. Reading: Addison-Wesley. Ebd., S. 91. Ebd., S. 65. Ebd., S. 98: „although capabilities are attributes of units, the distribution of capabilities across units is not“. In früheren Werken hatte Waltz in Bezug auf den anarchischen Charakter des Systems den ähnlichen Punkt vertreten, dass Anarchie als Strukturgegebenheit spezifische „Anforderungen“ an das Verhalten von Staaten stelle; WALTZ, Kenneth H. (1959): Man, the State and War. A Theoretical Analysis. New York: Columbia University Press, S. 201. WALTZ 1979, S. 118. Ebd., S. 163-170. Auch hier kann dieser kurze Überblick über Kernannahmen des Liberalismus der Komplexität und Vielzahl entsprechender Ansätze nicht gerecht werden; einen guten Einstieg liefern DOYLE, Michael/RECHHIA, Stefano (2011): Liberalism in International Relations, in:

2.1 Die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin

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Moravcsik beispielsweise in seinem programmatischen Artikel Taking Preferences Seriously37 argumentiert, beeinflussen insbesondere geteilte Ideen, gemeinsame Interessen und Institutionen die Präferenzen von Staaten (ebenfalls verstanden als rationale Akteure) - Präferenzen, die sich eben nicht nur durch die Machtverteilung auf systemischer Ebene ergeben. Der entschiedene Punkt dabei ist die Annahme, dass die Präferenzen der Akteure interdependent sind, sich also auf internationaler Ebene untrennbar aufeinander beziehen. Die konkrete Konstellation dieser interdependenten Präferenzen ist für Moravcsik dabei ausschlaggebend für den konfliktiven oder friedlichen Charakter internationaler Ordnung.38 Die Grundpfeiler einer liberalen internationalen Ordnung werden von den verschiedenen Ansätzen meist aus internen Prinzipien staatlicher Herrschaftsorganisation auf die internationale Ebene übertragen, darunter fallen gemeinhin Rechtssicherheit, Repräsentation, der Schutz von Privateigentum, Marktwirtschaft sowie institutionalisierte Sicherheitskooperation.39 Insbesondere die Schaffung und Vertiefung von solchen institutionellen Arrangements der Sicherheitskooperation ist nach liberalen Ansätzen zentral für die Stabilisierung internationaler Ordnung.40 Die Denkschule, die den Begriff der „Ordnung“ jedoch am prominentesten in ihrem theoretischen Repertoire führt ist die English School, sichtbar insbesondere in den Werken eines ihrer Begründer, Hedley Bull. In seinem prominenten Buch The Anarchical Society41 fragt Bull nach der Natur und der Möglichkeit internationaler Ordnung, allgemein verstanden als „pattern of human activity that sustains elementary or primary goals of international society”42. Obwohl Bull einige Grundannahmen des Realismus (wie etwa systemische Anarchie und Rationalität der Akteure) teilt, grenzt er sich jedoch insofern vom Realismus ab, als er behauptet, dass Anarchie im Sinne einer fehlenden übergeordneten „Weltregierung“ nicht notwendigerweise die Existenz einer Gesellschaft auf internationaler

37 38 39

40

41 42

International Encyclopedia of Political Science; SAGE Publications; http://www.sageereference.com/view/intlpoliticalscience/n326.xml; 23.11.2011. MORAVCSIK, Andrew (1997): Taking Preferences Seriously. A Liberal Theory of International Politics, in: International Organization 51:4, S. 513-553. Ebd., S. 520f. Vgl. GUZZINI, Stefano (2013): Liberal International Order, in: DUNNE, Tim/FLOCKHART, Trine/KOIVISTO, Marjo (Hg.): Liberal World Orders. Oxford: Oxford Univ. Press; sowie DEUDNEY, Daniel/ IKENBERRY, G. John (1999): The Nature and Sources of Liberal International Order, in: Review of International Studies 25:2, insb. S. 182-184. In diesem Sinne versteht Ikenberry in seinem klassischen Werk After Victory die globale Verbreitung von Demokratie und die Vertiefung internationaler Institutionen (dank amerikanischer Vorherrschaft) als Indiz für das Bestehen einer fast schon „konstitutionalen“ internationalen Ordnung; vgl. IKENBERRY 2000. BULL, Hedley (2002) [1977]: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics (3. Auflage). Basingstoke: Palgrave. Ebd., S. 8.

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2 Erster Akt: Forschungskontext

Ebene ausschließt. Er unterscheidet in diesem Sinne zwei wichtige Konzepte: internationales System (international system) und internationale Gesellschaft (international society). Ein internationales System besteht dann, wenn zwei oder mehr Staaten in einer solchen Beziehung zueinander stehen, dass ihre Entscheidungen einander beeinflussen und sie dazu veranlasst sich zu verhalten, als wären sie Teile einer Einheit.43 Eine internationale Gesellschaft besteht hingegen wenn Staaten gemeinsame Interessen und Werte teilen und sich an gemeinsame Regeln und Institutionen gebunden fühlen und auf diese Weise eine „Gesellschaft“ bilden.44 Letztere setzt somit ein internationales System voraus, aber nicht jedes internationale System entwickelt sich auch zu einer internationalen Gesellschaft. Darüber hinausgehend – und als ethisch höherwertig – konzipiert Bull das Konzept der Weltordnung (world order), die nicht nur eine internationale Gesellschaft aus Staaten ist, sondern neben Staaten auch Individuen, also gewissermaßen die komplette Menschheit umfasst.45 Die Grundpfeiler der internationalen Gesellschaft – und somit internationaler Ordnung - sind in ihren fundamentalen Institutionen zu finden: Diplomatie, Völkerrecht, balance of power , Großmächte, aber auch Krieg. Insofern als sie die grundlegenden Ziele der internationalen Gesellschaft befördern (Erhalt des Systems, Erhalt der Systemeinheiten und Frieden46), sind diese Institutionen entscheidend für die Möglichkeit und Stabilität der internationalen Ordnung.47 Eine ähnliche Vorstellung internationaler Ordnung lässt sich in Ansätzen finden, die dem Konstruktivismus in den IB nahestehen.48 Ebenso wie Ansätze der 43 44

45 46 47

48

“A system of states (or international system) is formed when two or more states have sufficient contact between them, and have sufficient impact on one another's decisions, to cause them to behave - at least in some measure - as parts of a whole.”, Ebd., S. 9. “A society of states (or international society) exists when a group of states, conscious of certain common interests and common values, form a society in the sense that they conceive themselves to be bound by a common set of rules in their relations with one another, and share in the working of common institutions.”, Ebd., S. 13. “By world order I mean those patterns or dispositions of human activity that sustain the elementary or primary goals of social life among mankind as a whole.”; Ebd., S. 19. Ebd., S. 16-17. Auch wenn es intuitiv widersprüchlich anmuten dürfte, ist der Krieg als „settled pattern of behaviour“ für Bull eine Institution internationaler Gesellschaften, die – sofern damit die grundlegenden Ziele der internationalen Gesellschaft befördert werden – durchaus als stabilisierend für Ordnung verstanden werden kann. Er kann jedoch ebenso die gegenteilige Wirkung entfalten und stellt für Bull daher in erster Linie ein zweischneidiges Schwert dar; vgl. ebd., S. 180-181. Nicht zuletzt auch für diese Theorietradition muss die „Warnung“ laut werden, dass bei dieser kursorischen Abhandlung wesentliche Unterschiede zwischen konstruktivistischen Autoren verschwimmen. Unter dem Label „Konstruktivismus“ werden oft viele verschiedene Ansätze subsumiert, die jedoch teilweise erhebliche epistemologische und methodologische Differenzen aufweisen; vgl. zur Einführung POULIOT, Vincent (2011): Constructivism in International Relations, in: International Encyclopedia of Political Science. SAGE Publications. http://www. sage-ereference.com/view/intlpoliticalscience/n104.xml; 23.11.2011.

2.1 Die Entwicklung internationaler Ordnung(en) als zentrales Erkenntnisinteresse der Disziplin

15

English School betonen Konstruktivisten die Relevanz von geteilten Ideen, Normen, kulturellen Bedeutungen und Praktiken für die Konstitution internationaler Ordnung; oder in anderen Worten: den grundsätzlich sozialen Charakter internationaler Beziehungen. Demnach sind die Präferenzen der Akteure – wie von realistischen Autoren behauptet - nicht kausal mit der anarchischen Struktur des internationalen Systems verbunden, sondern ergeben sich erst aus der sozialen Interaktion der Akteure untereinander. Eingang in die IB Debatte fand der Begriff des „Konstruktivismus“ als erstes in dem Buch World of Our Making49 von Nicholas Onuf, etabliert hat sich diese Perspektive jedoch – wie bereits in der Einleitung erwähnt - insbesondere durch die Werke von Alexander Wendt. In seinem vielzitierten Artikel Anarchy is what states make of it50 setzt sich Wendt insbesondere mit den Vorannahmen des Realismus zum anarchischen Charakter des Staatensystems und den dadurch vorbestimmten Interessen der Akteure auseinander. Im Gegensatz zum Realismus betont Wendt, dass Anarchie - und die damit verbundene Verhaltensdisposition der Machtpolitik und Selbsthilfe - nicht objektive Größen, sondern soziale Konstruktionen sind. Interessen und Identitäten von Akteuren sind in Wendts Konzeption folglich nicht nur einfach ein Produkt äußerer Umstände (exogener Natur), sondern entstehen im Kontext von sozialer Interaktion und in Prozessen der Identitätsbildung auf internationaler Ebene (endogener Natur). Internationale Ordnung kann demnach ganz unterschiedliche Züge tragen, je nachdem welche (konstruierten) Identitäten die Staaten aufzeigen bzw. sich untereinander zuschreiben. Ob sie sich als Freunde, Feinde oder Rivalen wahrnehmen bestimmt nach Wendt den eigentlichen Charakter der „Anarchie“ und somit die Möglichkeit und Beschaffenheit internationaler Ordnung, die durch verschiedene „Kulturen der Anarchie“ geprägt sein kann.51 Wendt geht davon aus, dass Interaktionsprozesse auf internationaler Ebene die Interessen und Identitäten von Staaten verändern können. Sofern also überwiegend positive Identifikationsprozesse zwischen Staaten vorherrschen, würde ein Grad der institutionalisierten Kooperation etabliert, der einem „Internationalstaat“ gleichkommen würde – also gewissermaßen einer transnationale Struktur politischer Herrschaftsorganisation.52 49 50 51

52

ONUF, Nicholas G. (1989): World of Our Making. Rules and Rule in Social Theory and International Relations. Columbia: University of South Carolina Press. WENDT, Alexander (1992): Anarchy is What States Make of It. The Social Construction of Power Politics, in: International Organisation 46:2, S. 391-425. Diesen Punkt entwickelt er in seinem opus magnum Social Theory of International Politics am elaboriertesten. Die unterschiedlichen Kulturen der Anarchie benennt er als „Hobbesian“ (durch Feindschaft geprägt), „Lockean“ (durch Rivalität geprägt) und „Kantian“ (durch Freundschaft und Kooperation geprägt); vgl. WENDT 1999, insb. S. 246-312. WENDT 1994; eine deutsche Fassung dieses Artikels ist in Ulrich Becks „Perspektiven der Weltgesellschaft“ erschienen: DERS. (1998): Der Internationalstaat. Identität und Strukturwandel in der internationalen Politik, in: BECK, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt, S. 381-410.

16 2.2

2 Erster Akt: Forschungskontext

Kulturelle Angelegenheiten: internationale Beziehungen als kulturelles System

Die vorausgegangenen Ausführungen deuten darauf hin, dass sich in den IB mit der Etablierung des Konstruktivismus ebenso die Einsicht etablierte, dass internationale Beziehungen in erster Linie als ein Ensemble kultureller Bedeutungen und Beziehungen verstanden werden sollten. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, ist ein solcher „cultural turn“ jedoch nur bedingt bzw. nicht zeitgleich mit dem „constructivist turn“ in den IB zu diagnostizieren. Auch wenn die Entwicklungen, die sich in den zentralen epistemologischen Kontroversen der Disziplin widerspiegeln,53 ein solches Verständnis nahelegen, hat sich die Hinwendung zu kulturellen Faktoren in den IB - aufgrund spezifischer disziplinärer Logiken - anders vollzogen als in verwandten Disziplinen wie beispielsweise der Geschichtswissenschaft. Insbesondere am Beispiel der Diplomatie- und (Außen-)Politikgeschichte lässt sich ein vergleichsweise früher „cultural turn“ nachzeichnen. Klassischerweise als Geschichte der „großen Herren“ konzipiert und mittels positivistischer Methoden untersucht, wurden die Forschungsprämissen der „alten“ Diplomatie- und Politikgeschichte seit den 70er Jahren zunehmend durch die sogenannte „Gesellschaftsgeschichte“ und später dann durch „neue Kulturgeschichte“ bzw. der „Kulturgeschichte des Politischen“ in Frage gestellt.54 Diesen Ansätzen ist meist die Annahme gemein, dass politisches Handeln vor allem als soziales Handeln, und als solches in erster Linie als symbolisches bzw. kommunikatives Handeln zu verstehen ist, durch das kulturelle Bedeutungen in einem gesellschaftlichen Prozess ausgehandelt werden. Im Zentrum des kulturhistorischen Erkenntnisinteresses steht darüber hinaus vor allem der Zusammenhang zwischen symbolischen Handlungen, der Aushandlung kultureller Bedeutungsstrukturen und der Konstituierung politischer Ordnung.55 53

54

55

Damit meine ich insbesondere die epistemologischen Debatten im Kontext der „dritten Debatte“ zwischen szientistisch-positivistischen und post-positivistischen Ansätzen; vgl. LAPID, Yosef (1989): The Third Debate. On the Prospects of International Theory in a Post-Positivist Era, in: International Studies Quarterly 33:3, S. 235-254. Vgl. etwa HUNT, Lynn (1989) (Hg.): The New Cultural History. Berkeley: Univ. of Califormia Press; SCHORN-SCHÜTTE, Luise (2006): Historische Politikforschung. Eine Einführung, München: C.H. Beck; FREVERT, Ute/HAUPT, Heinz-Gerhard (Hg.) (2005): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt am Main: Campus; REYNOLDS, David (2006): International History, the Cultural Turn and the Diplomatic Twitch, in: Cultural and Social History 3, S. 75-91; MERGEL, Thomas (2002): Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28, S. 574-606; sowie DERS. (2012): Kulturgeschichte der Politik, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupe dia.de/zg/Kulturgeschichte_der_Politik_Version_2.0_Thomas_Mergel?oldid=84783, 27.05.2019. Vgl. MERGEL 2012.

2.2 Kulturelle Angelegenheiten: internationale Beziehungen als kulturelles System

17

Diese Verlagerung zentraler Analysekategorien nahm in der Diplomatiegeschichte um einiges früher ihren Lauf als in der Politikwissenschaft bzw. in den IB. In seinem programmatischen Artikel Culture and Power. International Relations as Intercultural Relations forderte Akira Iriye beispielsweise bereits 1979, internationale Beziehungen als Interaktionen zwischen kulturellen Systemen zu begreifen.56 Aber auch jenseits dieser Binnenperspektive der Nation als kulturellem System, sind nach Iriye internationale Beziehungen als kulturelle Beziehungen zu verstehen, da im Prozess der globalen Interaktion „Träume, Visionen und andere Manifestationen menschlichen Bewusstseins“ über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus vermittelt und geteilt und so eine Art kosmopolitische Kultur konstituieren würden.57 In der deutschen Geschichtswissenschaft vollzog sich dieser Prozess vor allem im Kontext der mitunter sehr polemisch geführten „Primatsdebatte“ der 70er und 80er Jahre, in dessen Kontext das Interesse an Außenpolitik und internationalen Beziehungen fast vollständig abhandengekommen war. Im Kontext der zugespitzten Polarisierung zwischen „Politik-“ und „Gesellschaftsgeschichte“ und der klaren Dominanz der letzteren im deutschen Diskurs der 1960er Jahre, geriet die Diplomatie- und Außenpolitikgeschichte – geradezu als Verkörperung der anachronistischen Fixierung auf die Politik „Großen Herren“ und des sogenannten „Primats der Außenpolitik“ - an einen Randbereich des Forschungsinteresses.58 Während es in anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich, zu einem bereichernden methodologischen Austausch der (Außen-)Politikgeschichte mit den Sozialwissenschaften kam, blieben die Fronten in Deutschland noch bis Ende der 80er Jahre relativ verhärtet.59 Im Kontext der geglätteten paradigmatischen Wogen gegen Ende der 80er Jahre und dem erstarkten Interesse an ihrem Gegenstand 56 57

58

59

“A nation, in a word, is a cultural system and international relations are interactions among cultural systems“, IRIYE, Akira (1979): Culture and Power. International Relations as Intercultural Relations, in: Diplomatic History 3:2, S. 115. Vgl. IRIYE, Akira (2004): Culture and International History, in: HOGAN, Michael G/PATTERSON, Thomas G. (Hg.): Explaining the History of American Foreign Relations (2. Aufl.), S. 241-256; vgl. auch konkreter zu diesem Prozess IRIYE, Akira (1997): Cultural Internationalism and World Order. Baltimore: Johns Hopkins University Press. MOLLIN, Gerhard Th. (2000): Internationale Beziehungen als Gegenstand der deutschen Neuzeit-Historiographie seit dem 18. Jahrhundert. Eine Traditionskritik in Grundzügen und Beispielen, in: LOTH, Wilfried/OSTERHAMMEL, Jürgen (Hg.): Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse – Aussichten, München: Oldenbourg Verlag, S. 3-30. Vgl. KUGELER, Heidrun/SEPP, Christian/WOLFF, Georg (2006): Einführung, in: DIES. (Hg.): Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit Bd. 3), Münster: LIT, S. 10; zum Überblick über die Kontroverse KIEßLING, Friedrich (2002): Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 275, S. 651-680; SIMMS, Brendan (2003): The Return of the Primacy of Foreign Policy, in: German History 21, S. 275-292.

18

2 Erster Akt: Forschungskontext

wurde jedoch zunehmend der Versuch unternommen, die „Geschichte der internationalen Beziehungen“ aus ihrer verstaubten politikgeschichtlichen Ecke herauszuholen und zu erneuern – zum einen durch eine betonte Internationalisierung und Berücksichtigung von Entwicklungen in anderen wissenschaftlichen Diskursen, sowie zum anderen durch umfassende methodische wie theoretische Reformulierungen - insbesondere durch die dezidierte Hinwendung zu kulturhistorischen Forschungsprämissen.60 In den IB gestaltet sich das Bild bezüglich der Hinwendung zu kulturellen Faktoren hingegen nicht ganz so deutlich. Sicherlich haben die Werke im Kontext des oben skizzierten „constructivist turn“ dazu beigetragen, Konzepte wie „Kultur“ und „Identität“ nachhaltig im theoretischen Repertoire der Disziplin zu verankern, dennoch würde ich argumentieren, dass sich von einem „cultural turn“ im engeren Sinne zumindest nur bedingt sprechen lässt - vorausgesetzt wir verstehen einen solchen „turn“ als eine substantielle Fokusverschiebung im Verständnis des Gegenstands selbst. Auch wenn Thomas H. Eriksen und Iver Neumann in einem programmatischen Artikel61 eine solche Deutung Anfang der 90er Jahre auf den Plan brachten, ließe sich die Hinwendung zu Kultur als konstituierender Faktor internationaler Beziehungen in erster Linie als methodologische Innovation in Gestalt eines „ethnographic turn“62 verstehen, sprich: einer methodischen Anleihe bei kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die nicht notwendigerweise eine Neuformulierung des Gegenstandes an sich bedeuten muss. In einer grundlegenden Kritik charakterisierte etwa die Anthropologin Wanda Vrasti die Anwendung der Ethnographie in den IB als einen oberflächlichen methodischen Import zur Bereicherung bestehender Theorieschulen (insbesondere des Konstruktivismus), deren schmales Methodenrepertoire schlichtweg durch neue qualitative Methoden – im Sinne reiner Instrumente der Datengenerierung - angereichert werden solle.63 Dabei gehe nach Vrasti jedoch der eigentliche Mehrwert der Ethnographie völlig unter - die Auflösung der Trennung zwischen Forschendem und dem Forschungsobjekt sowie die damit verbundene ethnographische Reflexivität bezüglich der Rolle des Forschers in der Produktion wissenschaftlichen Wissens.64 60 61 62 63

64

Vgl. KUGELER/SEPP/WOLFF 2006, S. 10. ERIKSEN/NEUMANN 1993. LIE, Jon Harald Sande (2013): Challenging Anthropology. Anthropological Reflections on the Ethnographic Turn in International Relations, in: Millennium 41:2, S. 201-220. Vrasti bezieht sich in diesem Punkt insbesondere auf POULIOT, Vincent (2007): “Sobjectivism”: Toward a Constructivist Methodology, in: International Studies Quarterly 51:2, S. 359384; sowie auf NEUMANN, Iver B. (2002): Returning Practice to the Linguistic Turn. The Case of Diplomacy, in: Millennium 32:3, S. 627-652; vgl. VRASTI, Wanda (2008): The Strange Case of Ethnography and International Relations, in: Millennium 37:2, insb. S. 291-294. “From an epistemological view the merit of ethnography is (…) its ability to fashion a perfect congruence between the pre-discursive realm of fieldwork and the cognitive realm of theoretical interpretation”; VRASTI 2008, S. 285f.

2.2 Kulturelle Angelegenheiten: internationale Beziehungen als kulturelles System

19

Auch wenn ich argumentieren würde, dass der „cultural turn“ in den IB eher in methodologischer Hinsicht im Sinne eines „ethnographical turn“ zu verstehen ist, würde ich jedoch den Vorwurf der oberflächlichen methodologischen Anwendung der Ethnographie ohne die Berücksichtigung ihrer epistemologischen Grundlagen als völlig überzogen einschätzen. Methodologische Präferenzverschiebungen (wenn wir den „ethnographical turn“ so verstehen möchten) fallen nicht einfach vom Himmel, sondern stehen immer auch mit epistemologischen Kontroversen der Disziplin in Verbindung. Insofern weist Jason Rancatore meines Erachtens zurecht in seiner Antwort auf Vrasti darauf hin, dass etwa Neumann und Pouliot sehr wohl um die epistemologischen Implikationen der Ethnographie wissen, mehr noch, dass (zumindest Neumann) sogar eben diese epistemologischen Grundlagen explizit reflektiert und mitträgt.65 Neben Iver Neumann66 ist Patrick Thaddeus Jackson67 sicherlich auch ein Beispiel für die äußerst reflektierte Diskussion und Anwendung ethnographischer Ansätze. In Anlehnung an Jackson differenziert auch Jason Rancatore zwischen „Methode“ und „Methodologie“ und betont, dass Ethnographie als Methode (verstanden als Instrument der Datengenerierung) durchaus unter verschiedenen Methodologien (verstanden als philosophisch-epistemologische Grundlage von Methoden) angewendet werden kann und wird. Daran anschließend würde ich argumentieren, dass in den IB der „ethnographical turn“ als methodologische Präferenzverschiebung auf einer epistemologischen Debatte fußt, die eben über das Konzept „Kultur“ und der Hinwendung zu kulturellen Faktoren hinausgeht. Der „constructivist turn“ (oder die „third debate“, wie auch immer man diese Entwicklung nennen mag) lässt sich insofern in erster Linie als ein beförderndes Moment für die Öffnung gegenüber ethnographischen Ansätzen interpretieren, er impliziert jedoch wesentlich mehr als „nur“ die Hinwendung zu kulturellen Faktoren und ethnographischen Methodologien.68 Wie ich im Folgenden Abschnitt ausführen werde, äußert sich dies insbesondere in der Hinwendung zu sozialen Praktiken als zentrale Analysekategorie. 65 66

67

68

RANCATORE, Jason (2010): It is Strange. A Reply to Vrasti, in: Millennium 39:1, S. 68. NEUMANN, Iver B. (2005): To Be A Diplomat, in: International Studies Perspectives 6, S. 72– 93; DERS. (2008): “A Speech That the Entire Ministry May Stand For”, or: Why Diplomats Never Produce Anything New, in: International Political Sociology 1, S. 183-200; DERS. (2008): Diplomats and Diplomacy. An Anthropological View. Unpublished Dissertation. University of Oslo. JACKSON, Patrick T. (2008): Can Ethnographic Techniques Tell Us Distinctive Things About World Politics?, in: International Political Sociology 2:1, S. 91-93; DERS. (2006): Making Sense of Making Sense. Configurational Analysis and the Double Hermeneutics, in: YANOW, Dvora/SCHWARTZ-SHEA, Peregrine (Hg.): Interpretation and Method. Empirical Research Methods and the Interpretive Turn. M.E. Sharpe, S. 264-280. Siehe auch GOBO, Giampietro (2011): Ethnographic Methods in: International Encyclopedia of Political Science; SAGE Publications; http://www.sage-ereference.com/view/intlpolitical science/n196.xml; 2.12.2011

20 2.3

2 Erster Akt: Forschungskontext

„Doing international relations“: Praktiken und „practice turn“ in den IB

Wie im letzten Abschnitt beschrieben, lässt sich der „cultural turn“ in den IB nur bedingt diagnostizieren bzw. als konzeptionelle und methodologische Präferenzverschiebung im Kontext einer größeren epistemologischen Debatte charakterisieren, die nur vor dem Hintergrund spezifischer disziplinärer Dynamiken verständlich wird. In diesen Kontext fallen auch jene disziplinären Entwicklungen, die gemeinhin unter dem Begriff „practice turn“ beschrieben werden. Wie auch immer man die Metapher des „turn“ verstehen mag – in der Hinwendung zu „sozialen Praktiken“ als zentraler Analysekategorie seit etwa den 2000er Jahren lassen sich in der Analyse und im Verständnis internationaler Beziehungen in jedem Fall signifikante methodologische und substantielle Verschiebungen konstatieren. In Bezug auf die verstärkte Hinwendung zu sprach- und diskurszentrierten Analysen im Kontext der o.g. disziplinären Dynamiken, betonte Iver Neumann in seinem programmatischen Artikel Returning Practice to the Linguistic Turn69, dass der „linguistic turn“ von Anfang an eigentlich eine Hinwendung zu (diskursiven) Praktiken implizierte. Insbesondere wenn die Inspirationen dieser methodologischen Präferenzverschiebung – wie etwa die Werke von Wittgenstein oder Foucault – ernst genommen würden, müsse die Fokussierung auf Sprache im Kontext des „linguistic turn“ konsequent als eine Fokussierung auf Praktiken konzipiert werden.70 Die Analyse von Diskursen als rein textbasierte Erscheinungen und somit lediglich Vorbedingungen politischer Handlung ließe somit eine wichtige Dimension außen vor – die der alltäglichen Praxis von Außenpolitik und internationalen Beziehungen.71 Diese solle nach Neumann durch (ethnographisch inspirierte) Feldforschung systematisch erfasst werden und so ein Verständnis von internationaler Politik als gelebter Praxis ermöglichen. Neumanns methodologische Präferenzen legen daher die Annahme nahe, dass sich ein „cultural turn“ im Sinne der Hinwendung zu kulturellen Dimensionen in den IB vor allem in jenen Studien finden lässt, die dem „practice turn“ zugerechnet werden können, ohne jedoch die substantielle Dimension aufzuweisen wie etwa der „cultural turn“ in der Geschichtswissenschaft. Diese Bewertung hängt dabei natürlich immer davon ab, wie man die „turn“ Metapher versteht. Charakteristisch für den IB-Diskurs ist jedoch nach meiner Auffassung, dass die Fokussierung auf (diskursive) Praktiken vor allem im Kontext der epistemologi-

69 70 71

NEUMANN 2000. Ebd., S. 627f. „The analysis of discourse understood as the study of the preconditions of social action must include the analysis of practice understood as the study of social action itself“; Ebd.

2.3 „Doing international relations“: Praktiken und „practice turn“ in den IB

21

schen Debatten im Zuge des „constructivist turn“ entstand und somit gewissermaßen als dessen methodologischer Niederschlag verstanden werden kann; wobei dieser jedoch nicht (bzw. nur bedingt) zu einer systematischen Erhebung einer „cultural history“ des Faches geführt hat. Grundsätzlich könnte man diese Argumentation sicherlich als zu rigide Auslegung der „turn“ Metapher bzw. als Überbewertung der unterschiedlichen Herangehensweisen in anderen Disziplinen interpretieren. Es geht mir mit diesem „Gedankenexperiment“ in Bezug auf unterschiedliche Ausprägungen dieser Metapher jedoch in erster Linie darum, zu verdeutlichen, wie unterschiedlich der „Import“ von theoretischen Konzepten wie etwa „Kultur“ in den verschiedenen Disziplinen mit ihren spezifischen epistemologischen Debatten tatsächlich in methodologische Präferenzverschiebungen übersetzt wird. Zunächst sei kurz auf die Grundlagen des sogenannten „practice turn“ eingegangen, dessen ideelle Quellen natürlich auch mit entsprechenden Entwicklungen im breiteren Kontext der Sozialwissenschaften allgemein in Verbindung stehen. In der Soziologie wie auch der Politikwissenschaft ist ein solcher „turn“ seit der Jahrhundertwende immer deutlicher vernehmbar, was nicht zuletzt auch an der Zunahme von entsprechenden Publikationen deutlich wird, die sich explizit auf die Analyse sozialer Praktiken fokussieren.72 Sicherlich ist ein solcher Fokus alles andere als neu, war und ist die Erforschung sozialer Praktiken doch eines der zentralen – wenn nicht als das zentralste - Anliegen sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt und steht in so gut wie jeder sozialwissenschaftlichen Studie zumindest implizit im Zentrum der Analyse. Dennoch lässt sich das Phänomen des „practice turn“ als die Herausbildung einer (nicht notwendigerweise einheitlichen) Gruppe von Forschungssträngen verstehen, die eine Reihe von Grundannahmen zum Verhältnis von Individuum, Praxis und sozialer Struktur teilen und auf verschiedene Traditionen in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung Bezug nehmen.73 Im Bereich der soziologischen Theorien wären sicherlich jene Entwürfe einer „Praxistheorie“ an erster Stelle zu nennen, die Pierre Bourdieu und Anthony Giddens formuliert haben. Ersterer hat dabei insbesondere durch seine Konzeption des „Habitus“ und des „praktischen Sinns“ zu einer Schärfung des Begriffsrepertoires in diesem Kontext beigetragen.74 Anthony Giddens prägte in seiner „structuration 72 73

74

Viele dieser Publikationen verweisen dabei insbesondere auf Theodore Schatzkis Sammelband, der in diesem Kontext sicherlich als prägend verstanden werden kann; SCHATZKI, Theodore et al. (Hg.) (2001): The Practice Turn in Contemporary Theory. London: Routledge. Einen hervorragenden Einstieg liefert RECKWITZ, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32:4, S. 282-301; sowie DERS. (2002): Toward a Theory of Social Practices. A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory 5:2, S. 243-263. BOURDIEU, Pierre (1972): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

22

2 Erster Akt: Forschungskontext

theory“ den ähnlichen Begriff des „praktischen Bewusstseins“ und der sozialen „Raum-Zeit-Bindung“ durch Praktiken, womit er eine konsequente Theoretisierung des Zusammenhangs zwischen (sozialer) Struktur und Handlung präsentierte.75 Aber auch klassische sprachphilosophische Werke - insbesondere das Werk Ludwig Wittgensteins – sowie die pragmatische Linguistik (etwa Austins Sprechakttheorie76) haben wesentliche Inspirationen für den Fokus auf soziale Praktiken geliefert.77 Für die IB besonders wegbereitend dürfte jedoch der theoretische Input gewesen sein, der seitens poststrukturalistisch orientierter Wissenschaftler in die Disziplin getragen wurde. Inspirationen in diesem Forschungsstrang sind sicherlich vordergründig im Spätwerk Michel Foucaults zu finden, in dem neben diskursiven Praktiken auch zunehmend nicht-diskursive Praktiken als strukturbildende Faktoren in seine Konzeptionen einflossen.78 Was genau bedeutet nun die Fokussierung auf Praktiken in den IB? Auch hier lässt sich statt einem kohärenten, einheitlichen Forschungsprogramm eigentlich eher von einer Gruppe (zum Teil recht heterogener) Forschungsstränge sprechen. Die Gründe dafür liegen – neben der Heterogenität der Disziplin an sich - nicht zuletzt auch darin begründet, dass die verschiedenen Ansätze auch verschiedene praxistheoretische Inspirationen „adoptierten“. So haben etwa die poststrukturalistisch inspirierten Ansätze in den IB79 eine lange Tradition und waren unter den ersten, die – vor allem inspiriert durch Michel Foucault - eine Fokussierung auf diskursive Praktiken forderten. Aber auch Pierre Bourdieus Werke mit seinem Fokus auf habituelle Formen80 wie auch die Rolle des „praktischen Sinns“81 fanden 75

76 77

78 79 80 81

GIDDENS, Anthony (1984): The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge: Policy Press; die Bedeutung von Giddens’ Theorie ist für die IB somit kaum zu unterschätzen, sie findet sich in vielen Theorieentwürfen im Kontext der Structure-AgencyDebatte wieder, vgl. etwa WENDT 1987, S. 307. AUSTIN, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam. Wie Reckwitz beiläufig betont, ist der US-amerikanische Pragmatismus von Autoren wie Dewey, James und Mead erstaunlicherweise kaum Gegenstand der praxistheoretischen Diskussionen (in den IB wie auch der Sozialwissenschaft allgemein wie ich hinzufügen würde). Eine Kontrastierung bzw. ein Vergleich praxistheoretischer Ansätze mit einer „pragmatistischen Handlungstheorie“ wie sie etwa Hans Joas vertritt, wäre nach meiner Einschätzung somit nicht nur lohnenswert, sondern überfällig; vgl. RECKWITZ 2003, S. 283 (Anm. 2). Eine herausragende Ausnahme findet sich indes bei HELLMANN, Gunther/GRIMMEL, Andreas (2019): Theory Must not Go on Holiday. Wittgenstein, the Pragmatists and the Idea of Social Science, in: International Political Sociology 2019 (im Erscheinen). Vgl. TSCHOPP, Silvia S./WEBER, Wolfgang E. (2007): Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; S. 47. Vgl. etwa DER DERIAN, James/SHAPIRO, Michael (Hg.) (1989): International/Intertextual Relations. Postmodern Readings of World Politics. University of Minnesota Press. HOPF, Ted (2010): The Logic of Habit in International Relations, in: European Journal of International Relations 1, S. 539-561. KRATOCHWIL, Friedrich (1989): Rules, Norms and Decisions. On the Conditions of Practical Reasoning in International Relations and Domestic Affairs. Cambridge University Press.

2.3 „Doing international relations“: Praktiken und „practice turn“ in den IB

23

in den IB ihren Widerhall. Explizit lässt sich der „practice turn“ in den IB jedoch vor allem um die Jahrhundertwende herum diagnostizieren, wobei Iver Neumanns programmatischer Artikel (s.o.) sicherlich eine zentrale Rolle gespielt haben dürfte. Zu den wichtigsten Vertretern die die praxistheoretische Agenda nachhaltig in den IB etabliert haben, gehören jedoch vor allem auch Emanuel Adler und Vincent Pouliot, die in verschiedenen Publikationen einen solchen Fokus propagierten.82 Diesen Ansätzen sind – wie eingangs erwähnt – eine Reihe theoretischer Grundannahmen zum Verhältnis von Akteuren, Praktiken, (impliziten) Wissensbeständen und sozialer (bzw. internationaler) Struktur gemein, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: 



82

83 84

Praxis, Praktiken und Handlung: Praktiken sind nicht nur einzelne Handlungen, sondern bedeutungsgeladene Handlungsmuster, die auf sozialen Wissensbeständen beruhen. Eine Handlung wäre nach dieser Lesart also etwa das Kicken eines Balles. Eine Praktik bestünde hingegen in einem „Kurzpassspiel“ oder allgemeiner im „Fußball“. „Praxis“ würde dementsprechend allgemeiner auf die Summe der verschiedenen „Fußballpraktiken“ etwa auf internationaler Ebene verweisen.83 Praktiken und Materialität: die Essenz von Praktiken ist nicht in rein ideellen, kognitiven oder materiellen Faktoren zu finden, sondern in ihrer Eigenschaft, all diese Faktoren miteinander zu verbinden. Praktiken sind somit immer sowohl ideell als auch materiell, sie stellen gewissermaßen „materialisiertes“ bzw. „verkörpertes Wissen“ dar.84 Beispielsweise ist die Praktik „Fußball“

ADLER, Emanuel (2008): The Spread of Security Communities. Communities of Practice, SelfRestraint and Nato’s Post-Cold War Transformation, in: European Journal of International Relations 14:2, S. 195-230; ADLER, Emanuel/POULIOT, Vincent (2011a): International Practices, in: International Theory 3:1, S. 1-36; DIES. (Hg.) (2011b): International Practices (Cambridge Studies in International Relations 119). Cambridge University Press; POULIOT, Vincent (2008): The Logic of Practicality. A Theory of Practice of Security Communities, in: International Organization 62:2, S. 257-288; DERS. (2010): The Materials of Practice: Nuclear Warheads, Rhetorical Commonplaces and Committee Meetings in Russian-Atlantic Relations, in: Cooperation and Conflict 45:3, S.294-311; DERS. (2011b): International Security in Practice. Cambridge: Cambridge Univ. Press. Diese sehr präzise – und meiner Ansicht nach sehr nützliche - Differenzierung ist, wie Andreas Reckwitz betont, in dieser Schärfe wahrscheinlich nur in der deutschen Sprache möglich; RECKWITZ 2002, S. 249. Der Körper als Konzept spielt daher eine zentrale Rolle in praxistheoretischen Studien, denn durch den Körper der Akteure ist die Verschmelzung von Materialität und Diskursivität in Praktiken gegeben – und trägt dadurch auch klare geschlechtsbezogene Konnotationen; vgl. etwa in Bezug auf Diplomatie NEUMANN, Iver B. (2008b): The Body of the Diplomat, in: European Journal of International Relations 14:4, S. 671-694.

24



2 Erster Akt: Forschungskontext

ohne das entsprechende Spielfeld, die Spieler oder den Ball schlichtweg undenkbar, ihr Wesen liegt darin, all diese materiellen und ideellen Elemente in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Praktiken als „know-how“85 oder „competent performances“ 86: da Praktiken auf sozialem (also kollektiv geteiltem) Wissen basieren, implizieren und erfordern sie immer bestimmte Kompetenzen – es gibt Wege sie „richtig“ bzw. „falsch“ auszuführen. Ihre Beobachtung bzw. Interpretation in Situationen sozialer Interaktion erfolgt auf der Basis dieser geteilten Standards. Der Praktik „Fußball“ haftet somit beispielsweise eine ganze Reihe von Vorstellungen von „know-how“ an, sprich: sozial geteiltes Wissen über „guten Fußball“.

Kurzum: Praktiken werden als bedeutungsgeladene Handlungsmuster verstanden, die durch ihre Akteursbezogenheit quasi verkörperte Wissensbestände in und über die materielle Welt darstellen.87 Der entscheidende Punkt in Bezug auf deren Verbindung zu sozialer (internationaler) Struktur ist, dass sie durch ihre Rolle als Verbindungsstück zwischen (ideellen) Wissensbeständen und der materiellen Welt gewissermaßen als dynamisches Reproduktionsmoment von Struktur fungieren. In und durch Praktiken werden diese Bedeutungsstrukturen überhaupt erst wirklich bedeutungsvoll, sie werden durch Praxis also erst produziert und reproduziert. Nach Adler und Pouliot stellen Praktiken als „patterns of action“ somit fundamentale Einheiten sozialer Prozesse dar, die stabile oder instabile internationalen Strukturen hervorbringen können, indem sie den Akteuren ermöglichen, diese Strukturen zu stärken oder zu transformieren: „Practices such as marking a linear territorial boundary, deterring with nuclear weapons, or finance trading, are not merely descriptive arrows that connect structure to agency and back, but rather the dynamic material and ideational processes that enable structures to be stable or evolve, and agents to reproduce and transform structure.“88

2.4

„A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

Da die empirische Analyse dieser Arbeit wesentlich auf den Begriff „Identität“ fokussiert ist, soll in diesem abschließenden Abschnitt des Forschungsstands nochmal konkreter auf den Stellenwert dieses Begriffs in den IB und der Außen-

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Ebd., S. 253. ADLER/POULIOT 2011a, S. 7. „Practices are socially meaningful patterns of action which, in being performed more or less competently, simultaneously embody, act out, and possibly reify background knowledge and discourse in and on the material world”, ADLER/POULIOT 2011b, S. 6. Ebd., S. 6.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

25

politikforschung eingegangen werden. Allein darüber ließe sich bereits eine separate Dissertation verfassen, da dieser Begriff sich sicherlich zu den nunmehr beliebtesten Konzepten in der Disziplin zählen lässt.89 Das nach meiner Einschätzung jedoch besonders Interessante an der Verwendung von „Identität“ in diesen Feldern ist, dass dessen Genese als analytisches Konzept eine bewegte Geschichte aufzeigt, die einiges über die Entwicklungslinien der Disziplinen als Ganze verdeutlicht. Implizite Vorstellungen über Identität in den Theorien internationaler Beziehungen lassen sich bis zu den frühesten Autoren der Disziplin zurückverfolgen. Eine wirklich explizite Theoretisierung und signifikante Ausweitung in der analytischen Anwendung erfährt „Identität“ jedoch erst nach Ende des Ost-WestKonflikts, insbesondere im Kontext des „constructivist turn“. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, zeigt die Verwendung von „Identität“ in diesem Kontext eine enorme Heterogenität und Vielseitigkeit auf. Die theoretische Substanz, die diesem Begriff überwiegend zugerechnet wird, besteht dabei meist darin, Identitätsbilder als kulturelle Hintergrundkulisse und insofern als Vorbedingung für außenpolitisches Handeln (und nicht als Handeln an sich) zu verstehen. Wie Friedrich Kratochwil und Yosef Lapid in ihrem vielzitierten Buch90 betonten, sollte das Auftauchen von „Identität“ in den IB nicht als revolutionäre Neuerung verstanden werden. Wesentlich wichtiger sei es, zu beleuchten, warum sie immer wieder in der IB-Theorie in Vergessenheit geraten sei.91 In der Tat lässt sich die (zumindest implizite) Prominenz von „Identität“ und ihrem verwandten Konzept „Kultur“92 bis zu den frühesten Autoren der Disziplin und gar bis zu Thucydides, Hobbes, Grotius und Machiavelli zurückverfolgen. So bezieht sich etwa Hans Morgenthau in seinem Argument, dass die Art und Weise der Machtausübung außenpolitischer Akteure kulturell konditioniert ist, auf das Verständnis von „Tradition“ dieser klassischen Autoren. Unabhängig der kontext- und kulturspezifischen Färbung ihrer Ausübung ist für Morgenthau jedoch in erster Linie das Streben nach Macht die eigentliche anthropologische Konstante, die das Verhalten 89

90 91 92

Für einen entsprechenden Versuch in Form einer Magisterarbeit siehe STARK URRESTARAZU, Ursula (2010): Us and Them. Kultur, Identität und Außenpolitik (Forschungsberichte internationale Politik Bd. 41), Münster: LIT; in etwas kompakterer Form DIES. (2015a): ‘Identity’ in International Relations and Foreign Policy Theory, in: JØRGENSEN, Knud Erik/HELLMANN, Gunther (Hg.): Theorizing Foreign Policy in a Globalized World. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 126-149. LAPID, Yosef/ KRATOCHWIL, Friedrich (Hg.) (1996): The Return of Culture and Identity in IR Theory, Boulder: Lynne Rienner. KRATOCHWIL, Friedrich (1996): Is the Ship of Culture at Sea or Returning? In: LAPID, Yosef/DERS. (Hg): The Return of Culture and Identity in IR Theory, Boulder: Lynne Rienner, S. 203. Auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Identität und Kultur bzw. auf die Verwendung von Kultur als analytischem Konzept werde ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen, vgl. dazu näher STARK URRESTARAZU 2010.

26

2 Erster Akt: Forschungskontext

außenpolitischer Akteure determiniert.93 Ein weiterer klassischer Referenzpunkt findet sich bei Reinhold Niebuhr, der in seinem Buch “Moral Man and Immoral Society“ die These vertrat, dass das Individuum zwar zu moralischem Handeln fähig sei, im Kollektiv jedoch diese „moralische Identität“ verliere und Teil einer unpersönlichen, machtmaximierenden Masse werde. Der in der menschlichen Natur angelegte Drang nach (Über-)Leben (“will-to-live”) werde bezogen auf das Kollektiv somit zum Drang nach Machtmaximierung (“will-to-power“).94 Aber auch in klassisch-liberalen Theorien der internationalen Beziehungen zeigen sich frühe Bezüge auf „Identität“, so etwa in Karl Deutschs Buch “Political Community and the North Atlantic Sea“, in dem er die für politische Integration relevante Gemeinschaftsbasis in erster Linie als “partial identification in terms of self-images and interest”95 zwischen verschiedenen Akteuren charakterisiert. Auch wenn diese und ähnliche Perspektiven die Relevanz von geteilten Normen und Selbstbildern betonten, bestehen deren grundlegende theoretische Prämissen jedoch nach wie vor in einem anarchischen internationalen System autarker und rational agierender staatlicher Akteure, was den Möglichkeitsraum für die Untersuchung von „Identität“ als eigenständiges analytisches Vorhaben in dieser Zeit deutlich einschränkte. Frühe Ansätze zur expliziten Konzeptualisierung außenpolitischer Identität lassen sich hingegen in jenen Ansätzen der ersten Generationen der Außenpolitikanalyse finden, die – stark durch die damals typischen behavioristischen Ansätze beeinflusst – insbesondere in den 60er und 70er Jahren auf die Analyse von

93

94 95

“The kind of interest determining political action in a particular period of history depends upon the political and cultural context within which foreign policy is formulated (…) The same observations apply to the concept of power. Its content and the manner of its use are determined by the political and cultural environment“, MORGENTHAU 2006 [1948], S. 9. NIEBUHR, Reinhold (1947): Moral Man and Immoral Society. New York: Charles Scribner's Sons. „The kind of sense of community that is relevant for integration (…) turned out to be rather a matter of mutual sympathy and loyalties; of „we-feeling“, trust, and mutual consideration; of partial identification in terms of self-images and interest; of mutually successful predictions of behaviour... in short, a matter of a perpetual dynamic process of mutual attention, communication, perception of needs, and responsiveness in the process of decision-making”, DEUTSCH, Karl W. (1957): Political Community and the North Atlantic Sea. Princeton: Princeton University Press, S. 36.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

27

„politischer Kultur“96 bzw. „Rollenbildern“97 fokussiert waren. In dieser Forschungstradition sollten durch die Analyse spezifischer nationaler „Kulturen“98, „nationaler Charaktere“99 oder „Rollenkonzepte“100 spezifische Verhaltensdispositionen von außenpolitischen Akteuren beleuchtet werden. Studien dieser Art lag die Annahme zugrunde, dass Unterschiede in diesen kulturell konstituierten Selbstbildern als Erklärungsfaktor für spezifisches außenpolitisches Handeln fungieren können.101 Aufgrund problematischer essentialistischer Konnotationen der “national character” Forschung (insbesondere deren frühe Ausprägung in den 1930er Jahren), kamen diese Ansätze jedoch vergleichsweise schnell aus der Mode.102 Dieser kursorische Überblick über frühe Konzeptualisierungen von Identität verdeutlicht bereits die Schwierigkeit, einen genauen Zeitpunkt festzumachen, an dem sich das Konzept „Identität“ im Feld etabliert. Sicherlich können wir in so gut wie jeder IB- und Außenpolitiktheorie implizite Identitätsverständnisse herausdestillieren. Es ist jedoch erst im Kontext der epistemologischen und methodologischen Präferenzverschiebungen des „constructivist turn“, dass sich „Identität“ explizit als analytisch relevante Größe etabliert. Wie eine breit angelegte Studie zur Verwendung von Identität in den IB zeigte, schoss die Anzahl von Artikeln mit explizitem Identitätsbezug insbesondere um das Jahr 1993 in die Höhe und erfuhr um das Jahr 1995 einen erneuten deutlichen Aufschwung.103 Die Ursachen 96 97 98 99 100 101

102 103

ALMOND, Gabriel/VERBA, Sidney (1963): The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press; DIES. (Hg.) (1980) The Civic Culture Revisited. Sage Publications. HOLSTI, Kalevi (1970): National Role Conception in the Study of Foreign Policy, in: International Studies Quarterly 14:3, S. 233-309. PYE, Lucian/VERBA, Sidney (Hg.) (1965): Political Culture and Political Development. Princeton: Princeton University Press. BRODERSON, A. (1961): National Character. An Old Problem Revisited, in: ROSENAU, James (Hg.): International Politics and Foreign Policy. Free Press of Glencoe, S. 300-308. WALKER, Stephen (Hg.) (1987): Role Theory and Foreign Policy Analysis. Durham: Duke University Press; LE PRESTRE, Phillipe (Hg.) (1997): Role Quests in the Post-Cold War Era. Foreign Policies in Transition. Montreal: McGill University Press. Noch etwas früher – allerdings nicht ganz so explizit auf Kultur bzw. Identität fokussiert – drehte sich das Operational Code Forschungsprogramm in den 1950er und 60er Jahren darum, die kognitiven Verhaltensdispositionen von Akteuren (insb. des sowjetischen Politbüros) systematisch zu erfassen und als Erklärungsfaktor für außenpolitisches Verhalten herangezogen werden, siehe LEITES, Nathan (1951): The Operational Code of the Politburo. New York: McGraw-Hill; DERS. (1953): A Study of Bolshevism. New York: Free Press; eine spätere Anwednung findet sich in GEORGE, Alexander (1969): The ‘Operational Code’. A Neglected Approach to the Study of Political Leaders and Decision Making, in: International Studies Quarterly 23, S. 190– 222. HUDSON, Valerie/VORE, Christopher (1995): Foreign Policy Analysis Yesterday, Today, and Tomorrow, in: Mershon International Studies Review 39:2, S. 291. Mein Dank gebührt an dieser Stelle Michael Horowitz für die freundliche Bereitstellung seiner Daten; siehe HOROWITZ, Michael (2002): Research Report on the Use of Identity Concepts in

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2 Erster Akt: Forschungskontext

dieser „Peaks“ sind dabei sowohl innerhalb als auch außerhalb der Disziplin zu finden. Zum einen dürfte insbesondere das Ende des Ost-West-Konflikts eine wesentliche Rolle gespielt haben, da der „katalytische Schock“ dieses historischen Ereignisses – genauer gesagt: die völlige Unfähigkeit bestehender IB-Theorien diesen Umbruch zu erklären, geschweige denn vorauszusehen – schwerwiegende Fragen an die Validität bestehender Ansätze formulierte.104 In diesem Kontext erfuhren „ideelle“ Konzepte wie Identität einen deutlichen Beliebtheitszuwachs, da sie klassisch-konventionelle Konzepte wie „Macht“ und „Interessen“ - die in den Augen vieler IB-Forscher wenig zum Verständnis bzw. zur Vorhersage der besagten weltpolitischen Umbrüche beigetragen hatten - in sinnvoller Weise zu kontrastieren schienen. Zum anderen führten jedoch nicht zuletzt auch mit diesem historischen Kontext assoziierte Phänomene wie Globalisierung, Integration und gleichzeitige Wiedererstarkung nationalistischer Separatismen zu einer deutlichen Hinwendung zu identitätsbasierten Analysen. In Verbindung mit den epistemologischen und methodologischen Präferenzverschiebungen im Kontext des „constructivist turn“ der IB insgesamt, avancierte „Identität“ somit zu einem – wenn nicht dem - “conceptual shooting star” im Felde.105 Grundsätzlich lassen sich an die Verwendung des Begriffes zwei unterschiedliche Fragen herantragen, zum einen die Frage was mit Identität erklärt werden soll, sprich: welche Fragestellungen mit diesem analytischen Begriff typischerweise bearbeitet werden. Zum anderen die Frage nach der theoretischen Substanz der verschiedenen Definitionen. Bezüglich der ersten Frage lässt sich zunächst feststellen, dass „Identität“ in recht diversen Themenfeldern der IB und Außenpolitikforschung zum Einsatz kommt. Im disziplinären Kontext kurz nach dem OstWest-Konflikt wurde „Identität“ insbesondere von jenen Studien aufgegriffen, die die (Re-)Produktion von Grenzbeziehungen problematisierten,106 sowie in Studien, die Konzepte wie „Westfälische Staatensouveränität“ als Identitätskonstruktion konzeptualisierten.107 Ausgangspunkt dieser Art von Studien ist meist ein Verständnis von Identität als sozial konstruierte Bedeutungskonstellation, die auf grundlegenden Grenzziehungen zwischen einem „Innen“ und „Außen“ fußt, und

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International Relations. Harvard Identity Project, Weatherhead Center for International Relations. HUDSON/VORE 1995, S. 209. BERENSKOETTER, Felix (2010): Identity in International Relations, in: The International Studies Compendium Project; hg. von Robert Denemark, Oxford: Wiley-Blackwell, S. 1. WALKER, Robert B.J./MENDLOWITZ, Saul (1990): Contending Sovereignties: Redefining Political Community. Boulder: Lynne Rienner; WALKER, Robert B.J. (1993): Inside/outside: International Relations as Political Theory. Cambridge: Cambridge University Press. BARTELSON, Jens (1995): A Genealogy of Sovereignty. Cambridge: Cambridge University Press; WEBER, Cynthia (1995): Simulating Sovereignty: Intervention, the State and Symbolic Exchange. Cambridge: Cambridge University Press.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

29

somit als zentrales Element in der Konstitution internationaler Ordnung verstanden werden muss.108 In ähnlicher Weise spielt „Identität“ in konstruktivistischen Analysen zur „Ko-Konstitution“ von Struktur und Akteur109 sowie zu Anarchie als zentralem Ordnungsprinzip110 eine zentrale Rolle. Ein weiteres Forschungsfeld, in dem Identität – insbesondere im Kontext des Ende des Ost-West-Konflikts – in Erscheinung tritt, ist die Analyse von Normen und internationalen Beziehungen, insbesondere „konstitutiver Normen“ politischer Gemeinschaftsbildung.111 Andere Perspektiven mit ähnlichen Forschungsprämissen zu konstitutiven Normen sind hingegen auf Kausalzusammenhänge zwischen Identitäts- oder Rollenbildern und außenpolitischen Interessen und Präferenzen fokussiert.112 Zu den wichtigsten Themenfeldern gehört jedoch sicherlich die Relevanz von Identität für „Anarchie“ im internationalen System und dem damit verbundenen „Sicherheitsdilemma“113 bzw. allgemeiner die Rolle von Identität bei der Entstehung von Konflikten. Ansätze in diesem Themenfeld reichen von historischen Studien, die konfliktive Außenpolitik auf der Grundlage von identitätsbasiertem Handeln erklären114, über Studien die auf Krisen als „identitätsaufwertende“ Bedrohungskonstruktionen abzielen,115 bis hin zu Studien, die Geschlechteridentität als besonderen Fokus im Kontext von Konflikten aufgreifen.116 Ein weiterer beliebter 108 KRATOCHWIL, Friedrich (2007): Re-thinking the "inter" in International Politics, in: Millennium 35, S. 495-511. 109 WENDT 1994; 1999. 110 WENDT 1992. 111 JEPPERSON/WENDT/KATZENSTEIN 1996; RUGGIE, John (1998): Interests, Identity and American Foreign Policy, in: DERS: (Hg.): Constructing the World Polity. New York: Routledge, S. 203-228. 112 MAULL, Hanns (1990/91): Germany and Japan. The New Civilian Powers, in: Foreign Affairs 69:5, S. 91-106; BERGER, Thomas U. (1996): Norms, Identity, and National Security in Germany and Japan, in: KATZENSTEIN, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics. New York: Columbia University Press, S. 317-356; BANCHOFF, Thomas (1999): German Identity and European Integration, in: European Journal of International Relations 5:3, S. 259–289; BARNETT, Michael (1999): Culture, Strategy and Foreign Policy Change. Israel’s Road to Oslo, in: European Journal of International Relations 5:1, S. 5–36. 113 MERCER, Jonathan (1995): Anarchy and Identity, in: International Organization 49:2, S. 229252; LEGRO, Jeffrey (2009): The Plasticity of Identity under Anarchy, in: European Journal of International Relations 15:1, S. 37–65. 114 RINGMAR, Erik (1996): Identity, Interest and Action: A Cultural Explanation of Sweden's Intervention in the Thirty Years War. Cambridge: Cambridge University Press. 115 CAMPBELL, David (1992): Writing Security. United States Foreign Policy and the Politics of Identity. Minneapolis: University of Minnesota Press; WELDES, Jutta (1993): Constructing National Interests: The Logic of US National Security in the Post-War Era. PhD Thesis, University of Minnesota. 116 TESSLER, Mark/WARRINER, Ina (1997): Gender, Feminism, and Attitudes Toward International Conflict. Exploring Relationships With Survey Data From The Middle East, in: World Politics 49:2, S. 250-281; ZALEWSKI, Marysia (1995): Well, what is the feminist perspective on Bosnia? In: International Affairs 71:2, S. 339-356.

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2 Erster Akt: Forschungskontext

Anwendungsbereich ist jedoch auch die Analyse europäischer Integrationsprozesse. Bei Ansätzen in diesem Themenfeld wird meist die Rolle einer übergreifenden europäischen Identität für die Qualität europäischer Integration117 und/oder der Prozess der „Europäisierung“ nationaler Identitäten beleuchtet.118 Typischerweise werden Identitätsansätze nach ihrer theoretischen Substanz entlang bestimmter Trennlinien wie etwa „positivistische“ vs. „post-positivistische“ bzw. „konstruktivistische“ vs. „essentialistische“ Ansätze kategorisiert. Wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe119 hat diese Art von Einteilung jedoch nur einen sehr begrenzten Erkenntnisgewinn zu bieten, da sie die - mitunter doch erheblichen - konzeptionellen und epistemologischen Unterschiede innerhalb etwa des „konstruktivistischen“ Lagers nicht angemessen würdigt. Auch eine auf methodischen Präferenzen basierende Differenzierung scheint wenig befriedigend, da die qualitativen Ansätze im Feld deutlich dominieren, dabei jedoch ebenso signifikante epistemologische und theoretisch-konzeptuelle Differenzen aufweisen.120 Eine Orientierung anhand großer Theorietraditionen, die gemeinhin einige typische epistemologisch-ontologischen Grundannahmen zur Konstitution von Identität teilen, hat hingegen den Vorteil, dass sie im Hinblick auf die jeweilige theoretische Substanz wesentlich aussagekräftigere Charakterisierungen von Identitätsansätzen ermöglicht. Ich werde in diesem Sinne im Folgenden kurz die Grundannahmen von drei großen Theorietraditionen skizzieren, die in den IB am häufigsten in Identitätsansätze „importiert“ werden: der (soziologische) Institutionalismus, der Poststrukturalismus bzw. die Diskurstheorie, sowie Ansätze, die ihre Inspirationen aus der Sozialpsychologie und der Psychoanalyse beziehen.121

117 DIEZ, Thomas (2010): Europäische Identität, die EU und das Andere. Von der Vergangenheit und neuen Grenzziehungen, in: WINKLER, Christiane/WIENAND, Johannes (Hg.): Die kulturelle Integration Europas, S. 235-250; DERS. (1999): Speaking “Europe”. The politics of integration discourse, in: Journal of European Public Policy 6:4, S. 598-613. 118 MAIER, Matthias/RISSE, Thomas (Hg.) (2003): Europeanization, Collective Identities and Public Discourses. IDNET Final Report, Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute; RISSE, Thomas/HERRMANN, Richard/BREWER, Marilynn (Hg.) (2004): Transnational Identities. Becoming European in the European Union. Lanham: Rowman & Littlefield. 119 STARK URRESTARAZU 2015a, S. 131. 120 Quantitative Methoden kommen laut der Studie von Horowitz in etwa 15% der Gesamtheit der Identitätsstudien in IB-Fachzeitschriften zum Einsatz, meist in Form von Umfragedaten. Die Anwendung von „large n“ Datensätzen kommt dabei insbesondere im Themenfeld „(Ethnische) Identität und Konflikt“ zum Einsatz; siehe HOROWITZ 2002, S. 16. 121 Mit dieser doch sehr kursorischen Einteilung kann natürlich keine Vollständigkeit reklamiert werden. Es geht mir in erster Linie nur darum, typische Konzeptualisierungen darzustellen, wie man sie in ähnlicher Art und Weise in verschiedenen Identitätsstudien wiederfindet. Eine allumfassende Darstellung verschiedenster Ansätze würde jedoch selbst den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

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Die sicherlich am weitesten verbreitete Theorietradition bezieht ihre theoretische Substanz vornehmlich aus dem sogenannten soziologischen Institutionalismus. „Identität“ wird in dieser Tradition meist als kulturell-institutionelle Bedeutungsstruktur begriffen, innerhalb derer Akteure ihre Interessen und Handlungsoptionen in der internationalen Politik definieren.122 Diese Ansätze entstanden in den IB in dezidierter Abgrenzung zu rationalistischen Theorieangeboten und hatten dabei meist zum Ziel, die Relevanz „ideeller Faktoren“ im Gegensatz zu „materiellen Faktoren“ herauszuarbeiten. Ein solcher Ansatz findet sich etwa im Buch von Keohane und Goldstein „Ideas and Foreign Policy”, in dem die Autoren versuchen, Faktoren zu identifizieren, die einen Gegenpol zu klassischen Kategorien wie Interessen und Machtressourcen bilden.123 „Identität“ rangiert in dieser Theorietradition also in vielerlei Hinsicht als Paradebeispiel für sog. „ideelle“ Faktoren, so etwa in dem von Peter Katzenstein herausgegebenen Band “The Culture of National Security”, in dem eine identitäts- und interessensbestimmende „kulturellinstitutionelle“ Struktur - gewissermaßen eine „ideelle Matrix“ von Sicherheitspolitik - definiert wird, die die Identitäten, Interessen und Policy-Optionen der Akteure konstituiert.124 Auch das (insbesondere frühe) Werk von Alexander Wendt ist stark vom soziologischen Institutionalismus geprägt. Im Ansinnen, einen „konstruktivistischen Beitrag zum starken Liberalismus“125 zu leisten, entwirft Wendt ein Bild relativ stabiler (vornehmlich staatlicher) Identitäten auf internationaler Ebene, die einem „schwachen“ bzw. tendenziell „essentialistischen“ Konstruktivismus entsprechen sollen, der sich von „übersozialisierten Perspektiven“ scheut.126 122 Eine detailliertere Auseinandersetzung mit den Prämissen des soziologischen Institutionalismus in den IB findet sich bei FINNEMORE, Martha (1996): Norms, Culture and World Politics. Insights from Sociology's Institutionalism, in: International Organization 50:2, S. 325-347. 123 Dabei verwenden sie jedoch nicht durchgehend explizit den Begriff „Identität”, da sie sich im selben Atemzug auch von „reflektivistischen” (sprich: post-positivistischen) Theorieangeboten differenzieren möchten, siehe GOLDSTEIN, Judith/KEOHANE, Robert (Hg.) (1993): Ideas and Foreign Policy: Beliefs, Institutions and Political Change. Ithaca: Cornell University Press, S. 6: The key issue is not whether identities matter but how they matter, and how their effects can be systemically studied by social scientists. Unfortunately, reflectivist scholars have been slow to articulate test hypotheses“. 124 Vgl. JEPPERSON, Robert/WENDT, Alexander/KATZENSTEIN, Peter (1996): Norms, identity, and culture in national security, in: KATZENSTEIN, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics. New York: Columbia University Press, S. 3375. 125 WENDT 1992, S. 393. 126 WENDT 1994, S. 385: „Corporate identities have histories, but those do not concern me here; a theory of the state system need no more to explain the existence of states than one of society needs explain that of people. The result is a weak or essentialist social constructionism, but one that still leaves the terms of state individuality open to negotiation”; es sollte jedoch an dieser Stelle betont werden, dass Wendt in späteren Beiträgen (insbesondere in seinem Buch “Social Theory of International Relations”) Identitätsbildung in erster Linie als Prozess behandelt und

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2 Erster Akt: Forschungskontext

Im Kontrast zu dieser „schwachen“ bzw. „essentialistischen“ Version des Konstruktivismus, vertreten Autoren in der Tradition des Poststrukturalismus bzw. der (kritischen) Diskursanalyse eine entschieden „starke“ Version des Konstruktivismus. Ausgehend von einer post-positivistischen epistemologischen Haltung, beziehen sich die meisten Vertreter dieser Tradition meist auf klassische Vertreter des Poststrukturalismus wie Michel Foucault und Jacques Derrida, sowie auf die von Laclau und Mouffe inspirierte (kritische) Diskursanalyse.127 Unter den meistrezipierten Autoren finden wir u.a. Ole Waever und seine identitätsbezogene Diskursanalyse als Theorie von Außenpolitik.128 Im Zentrum der poststrukturalistischen Konzeption von Identität steht jedoch gemeinhin die Konstitution von Differenz, in erster Linie durch die Produktion von Innen-/Außen-Grenzziehungen und der Praxis des „Othering“ – einer konstitutiven und somit fundamentalen Praxis von Außenpolitik, die meist in Beziehung mit der Produktion von Bedrohungsszenarien und Sicherheitsvorstellungen gesetzt wird. Prominent in diesem Kontext sind dabei neben dem bereits erwähnten Writing Security von David Campbell129 insbesondere die Studien von Iver Neumann bezüglich des für Europa identitätskonstituierenden „Otherings“ von Russland.130 James Der Derians Rekonstruktion von Diplomatie als einer Praxis des „mediating estrangement“ zwischen entfremdeten Identitäten ließe sich ebenso in dieser Tradition verorten.131 In jüngster Zeit hat sich im Kontext dieser theoretischen Tradition jedoch insbesondere der Prozess der Versicherheitlichung außenpolitischer Identitätsbildung nach dem 11.

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den Zusammenhang zwischen Identitätsbildung und Strukturwandel in der internationalen Politik wesentlich ausführlicher theorietisiert; vgl. WENDT 1999, S. 340: “it remains the case that identities are always in process, always contested, always an accomplishment of practice. Sometimes their reproduction is relatively unproblematic because contestation is low, in which case taking them as given may be analytically useful. But in doing so we should not forget that what we take to be given is in fact a process that has simply been sufficiently stabilized by internal and external structures that it appears given. A methodology should not become a tacit ontology” (Hervorhebung im Original). Für einen Überblick über die Grundannahmen von diskursanalytisch inspirierten Ansätzen in den IB vgl. MILLIKEN, Jennifer (1999): The Study of Discourse in International Relations. A Critique of Research and Methods, in: European Journal of International Relations 5:2, S. 225254. WAEVER, Ole (2002): Identity, Communities and Foreign Policy. Discourse Analysis as a Foreign Policy Theory, in: HANSEN, Lene/DERS: (Hg.): European Integration and National Identity: The Challenge of the Nordic States, London: Routledge, S. 20-49. CAMPBELL 1992. NEUMANN, Iver B. (1993): Russia as Central Europe's Constituting Other, in: East European Politics and Society 12:2, S. 349-369; DERS. (1996a): Russia and the Idea of Europe. A Study in Identity and International Relations. New York: Routledge; DERS. (1996b): Self and Other in International Relations, in: European Journal of International Relations 2:2, S. 139-174. DER DERIAN, James (1987a): On Diplomacy. A Genealogy of Western Estrangement, Oxford: Oxford University Press; DERS. (1987b): Mediating Estrangement. A Theory for Diplomacy, in: Review of International Studies 13, S. 91-110.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

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September 2001 als Thema etabliert.132 Aber auch Ansätze mit vergleichsweise „schwachen“ konstruktivistischen Epistemologien verorten sich zum Teil im diskursanalytischen Lager, in Deutschland insbesondere vertreten durch die in Trier durchgeführten diskursanalytisch-vergleichenden Studien zu europäischer Außenpolitik (u.a. im sog. PAFE-Projekt).133 Eine weitere große theoretische Tradition bilden jene Studien, die ihre Inspirationen im Wesentlichen von sozialpsychologischen bzw. psychoanalytischen Theorien beziehen. Als Träger von Identität erscheint hier vorwiegend das menschliche Individuum, das - einem grundlegenden Bedürfnis folgend - versucht, im Laufe seines Lebens eine positive Identität zu entwickeln. Dieser „psychobiologische Imperativ“ wird dabei gemeinhin auf das menschliche Bedürfnis nach Sinngebung, Orientierung und Sicherheit zurückgeführt. Psychoanalytisch inspirierte Ansätze greifen dabei meist Grundannahmen Freudianischer Identifikationstheorie auf, nach denen das Individuum einen grundlegenden Drang nach Identitätsbewahrung und Überleben besitzt, der durch die Wahrnehmung eines gefährdeten Eros (sprich: die Versagung essentieller Verlangen und Bedürfnisse) ausgelöst wird und eine entsprechende identitätsbewahrende Handlungsdynamik impliziert. In Bezug auf Außenpolitik wird dies etwa von William Bloom134 dahingehend konzeptualisiert, dass Mitglieder einer Nation auf der Grundlage der geteilten Identifikationen eine generelle Tendenz besitzen, im Hinblick auf die Bewahrung, Verteidigung oder Stärkung der geteilten nationalen Identität gemeinsam zu handeln. Wenn sich externe Stimuli dieser Gemeinschaft derart präsentieren, dass die Notwendigkeit zur Verteidigung oder die Möglichkeit zur Stärkung nationaler Identität wahrgenommen wird, erfolgt die entsprechende Mobilisierung des „mass national public“ als „nationales Ganzes“.135 132 NABERS, Dirk (2008): 9/11 and the Rise of Political Fundamentalism in the Bush Administration. Domestic Legitimatization versus International Estrangement? In: Global Change, Peace and Security 2, S. 169-184; DERS. (2009): Filling the void of meaning. Identity construction in U.S. foreign policy after September 11, 2001, in: Foreign Policy Analysis 2, S. 191–214. 133 BOECKLE, Henning/NADOLL, Jörg/STAHL, Bernhard (2000): Identität, Diskurs und vergleichende Analyse europäischer Außenpolitiken. Theoretische Grundlegung und methodische Vorgehensweise (PAFE-Arbeitspapier Nr. 1); STAHL, Bernhard/HARNISCH, Sebastian (Hg.) (2009): Vergleichende Außenpolitikforschung und nationale Identitäten. Die Europäische Union im Kosovo-Konflikt 1996-2008, Baden-Baden: Nomos. 134 BLOOM, William (1990): Personal Identity, National Identity and International Relations. Cambridge: Cambridge University Press. 135 Ebd., S. 52: „National identity describes that condition in which a mass of people have made the same identification with national symbols – have internalized the symbols of the nation – so that they may act as one psychological group when there is a threat to or the possibility of enhancement of, these symbols of national identity”; die daraus resultierende Handlungsdynamik nennt Bloom “National Identity Dynamic”; vgl. Ebd., S. 53: “National Identity Dynamic describes the potential for action which resides in a mass which shares the same national identification“.

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2 Erster Akt: Forschungskontext

Studien in der Tradition der sozialpsychologischen Identitätstheorien teilen zwar einige Grundprämissen mit psychoanalytischen Ansätzen, wie etwa der grundlegende Drang nach Selbsterhalt und das Grundbedürfnis nach positiver Identität und Selbstwertgefühl. Die wesentlichsten theoretischen Annahmen werden dabei jedoch meist von Theorien wie der der sozialen Identität (oder „Social Identity Theory“ - SIT) nach Tajfel und Turner136 sowie der verwandten Theorie der sozialen Kategorisierung entlehnt.137 Identität resultiert nach diesen Theorien in erster Linie aus konstanter sozialer Interaktion, die multiple „in-group/outgroup“-Kategorisierungen hervorbringt, deren Konstellation wesentlich von emotional behafteten und situationsabhängigen sozialen Grenzziehungen abhängt. Kollektive Identitäten werden als ein Produkt von situationsspezifischen Kategorisierungen verstanden, die es dem Individuum erlauben, sich als Teil eines Kollektivs zu fühlen bzw. sich innerhalb der wahrgenommenen sozialen Realität zu positionieren. Je größer jener wahrgenommene soziale Raum, desto größer sei die Notwendigkeit, Differenzen zwischen bzw. Gemeinsamkeiten innerhalb bestimmter Gruppen zu identifizieren. In diesem Moment führen soziale Kategorisierungen zur „Depersonalisierung von Selbstwahrnehmung und Handlung“, also einem kognitiven Vorgang, in dem sich das Individuum vordergründig als Teil einer (kollektiv) handelnden Einheit versteht.138 Anwendungen dieser Theorietradition finden sich in den IB in verschiedenen Themenkomplexen wieder, etwa in der Theoretisierung von Integration und Dissoziation von kollektiven Identitäten auf internationaler Ebene - sei es in Bezug auf die Europäische Ebene139, oder in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung einer „Weltgesellschaft“ als Ganzes.140 Andere Studien analysieren anhand der „Social Identity Theory“ die Relevanz indi-

136 TAJFEL, Henri/TURNER, John (1986): The Social Identity Theory of Intergroup Behaviour, in: WORCHEL, Steven/AUSTIN, William (Hg.): Psychology of Intergroup Relations, Chicago: Nelson-Hall Publishers, S. 7-24. 137 TURNER, John/HOGG, Michael/OAKES, Penelope/REICHER, Stephen/WETHERELL, Margaret (1987): Rediscovering the social group: A self-categorization theory. Oxford and New York: Basil Blackwell. 138 OAKES, Penelope/HASLAN, Alexander/TURNER, John (1994): Stereotyping and Social Reality, Cambridge University Press, S. 100: „Self-categorization theory proposes that it is this process of depersonalization that makes group behavior possible and produces its emergent, irreducible properties “. 139 HOOGHE, Liesbet/MARKS, Gary (2005): Calculation, Community and Cues: Public Opinion on European Integration, in: European Union Politics 6, S. 419-443; DIES. (2008): A Postfunctionalist Theory of European Integration. From Permissive Consensus to Constraining Dissensus, in: British Journal of Political Science 39, S. 1–23. 140 WELLER, Chiristoph (1997): Collective Identities in World Society. Some Theoretical and Conceptual Considerations. World Society Research Group Working Paper No. 6. Frankfurt am Main and Darmstadt.

2.4 „A rising star“: Identität in den IB und der Außenpolitikforschung

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vidueller Bilder und Wahrnehmungen internationaler Beziehungen vor dem Hintergrund bestimmter sozialer Identitäten141; andere wiederum verwenden sie, um neorealistische Konzeptionen von „Selbsthilfe“ in einem „anarchischen System“ sozialpsychologisch zu unterfüttern.142 Dieser doch recht knappe Überblick dürfte verdeutlicht haben, wie divers und heterogen sich sowohl die Anwendungsgebiete als auch die theoretische Substanz des Begriffes „Identität“ in den IB und der APF darstellt. Grundlegende „rote Linien“ daraus zu destillieren ist somit alles andere als einfach, ich werde im Folgenden jedoch einige Aspekte der Verwendung dieser Begriffe herausarbeiten, die mir für die Fragestellung und Konzeption meines Forschungsdesigns wesentlich erscheinen: 



Bei der Verwendung von Identität in den IB und APF kommen Theorien aus verschiedensten geisteswissenschaftlichen Disziplinen (Sprachphilosophie, Psychologie, Soziologie, u.a.) zum Tragen. Meist als „konstruktivistische“ Ansätze subsummiert, beziehen diese Ansätze ihre theoretische Substanz überwiegend aus institutionalistischen, poststrukturalistischen, diskursanalytischen sowie sozialpsychologischen Theorieangeboten. Erstaunlich abwesend sind – insbesondere in der APF – ethnographisch bzw. im weitesten Sinne anthropologisch inspirierte Ansätze.143 Dieses Maß an theoretischer Diversität bedingt eine ausgeprägte konzeptuelle Heterogenität, die – wie oft diagnostiziert – in sehr partikulare Verständnisse von Identität mündet, die unterschiedliche Dimensionen bzw. Elemente von Identität fokussieren. Da diese Identitätsverständnisse kaum bzw. nur sehr schwer miteinander zu vergleichen sind, ist die Bezugnahme unter unterschiedlichen Identitätskonzepten erschwert, was wiederum erhebliche

141 ALEXANDER, Michele G./LEVIN, Shana/HENRY, P.J. (2005): Image Theory, Social Identity, and Social Dominance. Structural Characteristics and Individual Motives Underlying International Images, in: Political Psychology 26:1, S. 27-45. 142 MERCER, Jonathan (1995): Anarchy and Identity, in: International Organization 49:2, S. 229252. 143 Ethnographische Ansätze in der identitätsbezogenen Außenpolitikforschung scheinen in der Tat eine Forschungslücke darzustellen. Explizit anthropologische Ansätze, die sich etwa mit teilnehmender Beobachtung oder anderer ethnographischer Methoden dem Themenkomplex „außenpolitische Identität“ widmen sind mir zumindest nicht bekannt. Lediglich in den Diplomatic Studies hat Iver Neumann einige anthropologische Studien zur Identität von Diplomaten unternommen; NEUMANN, Iver B. (2008c): Diplomats and Diplomacy. An Anthropological View. Unpublished Dissertation. University of Oslo; DERS. (2012): At Home with the Diplomats. Inside a European Foreign Ministry, Ithaca and London: Cornell University Press.

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2 Erster Akt: Forschungskontext

Koordinationsprobleme unter identitätsgestützten Ansätzen mit sich bringt.144 Als „kleinster gemeinsamer Nenner“ über Theorietraditionen und Anwendungsgebiete hinweg lässt sich jedoch das Verständnis von Identität als eine intersubjektive Bedeutungsstruktur definieren, die aus kulturellen Elementen besteht und sich auf das „Selbst“ eines außenpolitischen Akteurs beziehen. Diese kollektiven Bedeutungskonstellationen weisen dabei häufig Überschneidungen bzw. Unschärfen zum Kulturbegriff auf, die oft untertheoretisiert bleiben. Identität im Sinne einer intersubjektiven Bedeutungsstruktur des „Selbst“ wird vornehmlich als Rahmen für außenpolitisches Handeln verstanden, sprich: als eine kulturelle Matrix, die mögliche Handlungsoptionen bedingt in dem sie die vorhandenen Optionen einschränkt oder erweitert. Als solche wird sie von außenpolitischer Praxis eindeutig unterschieden, welche als mehr oder weniger identitätskonform bewertet werden kann.145 Handlungsorientierte Konzeptionen bzw. Verständnisse von Identität als Praxis finden in den gängigen Verständnissen kaum bis gar nicht statt. Dies impliziert eine geringe Berücksichtigung der Situations- und Kontextabhängigkeit von Identität sowie eine ausgeprägte Kontinuitätslastigkeit, da die Theoretisierung von Identitätswandel erschwert wird.

144 Abdelal et al. differenzieren in diesem Sinne “conceptual” und “coordination problems”; siehe ABDELAL, Rawi/HERRERA, Yoshihiko M./JOHNSTON, Alastair I./McDERMONT, Rose (2006): Identity as a Variable, in: Perspectives on Politics 4:4, S. 18; ähnlich argumentiert auch ASHIZAWA, Kuniko (2008): When Identity Matters: State Identity, Regional Institution-Building and Japanese Foreign Policy. International Studies Review 10, S. 573. 145 Am prominentesten können wir dies im Forschungsprogramm „Außenpolitik von Zivilmächten“ beobachten, in dem Abweichungen vom Idealtypus lediglich als Verhaltensanpassung auf der Praxisebene bei gleichzeitiger identitärer Kontinuität gedeutet werden, vgl. etwa KIRSTE, Knut/MAULL, Hanns W. (1996): Zivilmacht und Rollentheorie, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3:2, S. 80.

3

Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Im Folgenden werde ich aufbauend auf den vorausgegangen Ausführungen meinen theoretisch-methodologischen Rahmen darlegen. Im Wesentlichen geht es mir konzeptionell um einen mehrdimensionalen Analyserahmen für außenpolitische Identität, sowie methodisch um eine ethnographisch inspirierte, historisch-vergleichende Analyse ihrer Praxis auf zentralen Interaktionssituationen von Außenpolitik: Friedenskongresse. Zunächst werde in den folgenden Abschnitten den konzeptionellen Rahmen darlegen, der aus einem mehrdimensionalen und praxisbezogenen Identitätsmodell besteht. Danach werde ich auf den methodologischen Rahmen mit den entsprechenden epistemologischen Grundlagen eingehen, um darauf aufbauend den wesentlichen Gegenstand der Analyse und die Fallauswahl zu begründen. 3.1

Konzeptueller Rahmen: Identität - ein mehrdimensionales Modell

An erster Stelle eines konzeptuellen Kapitels über den Begriff der Identität sollte zunächst einmal die Frage gestellt werden, ob - und wenn ja warum - es überhaupt Sinn macht, ein „neues“ Identitätsmodell zu entwickeln, statt sich schlichtweg eines bestehenden Ansatzes aus dem reichhaltigen identitätstheoretischen Angebot in den IB zu bedienen. Es ließe sich schließlich argumentieren, dass die Propagierung eines weiteren theoretischen Modelles den im letzten Abschnitt identifizierten Problemen der Begriffsverwendung in den IB – wie etwa der großen konzeptuellen Heterogenität bzw. der schwierigen Vergleichbarkeit unterschiedlicher Ansätze – nicht notwendigerweise zuträglich ist. Diesem Argument ließen sich meines Erachtens vor allem zwei Argumente entgegnen. Zum einen sind theoretische Modelle in den seltensten Fällen – um nicht zu sagen nie - tatsächlich „neu“, sie entstehen aus der Auseinandersetzung mit bestehenden Theorieangeboten, von deren Grundlinien man sich entweder abgrenzt, oder diese aufgreift und weiter „strickt“. Sie ähneln also eher einer innovativen Synthese, oder überspitzt formuliert: eher einem Recyclingprodukt, als einer vollkommenen Neuproduktion. Zum anderen ist es jedoch nach meinem Dafürhalten nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig, diese innovative Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten offensiv zu betreiben. Denn wenn wissenschaftliche Arbeit letztlich nur die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. Stark Urrestarazu, Theatrum Europaeum, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27560-0_3

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schlichte Anwendung – und somit Reproduktion - bestehender Konzepte bedeutet, würde ihr jeder Impuls für (gesellschaftliche und wissenschaftliche) Innovation genommen. Zudem sollten analytische Konzepte ohnehin keine objektive Absolutheit für sich beanspruchen, ganz im Gegenteil, sie sollten nach meinem Dafürhalten letztlich nicht mehr und nicht weniger darstellen als „Denkinstrumente“, die uns eben nicht zur Diagnose abschließender „Wahrheiten“ verleiten, sondern uns die Formulierung (bzw. Lösung) immer weiterer Fragen und Forschungsproblemen nahe legen.146 In diesem Sinne verstehe ich das folgende mehrdimensionale Identitätsmodell in erster Linie als ein solches analytisches Denkmodell, das mich zum einen dazu befähigen soll, an meinen Gegenstand spezifische Fragen heranzutragen (und zu beantworten) sowie daran anschließend immer weitere Forschungsprobleme zu formulieren. Zum anderen soll dabei den im letzten „Akt“ formulierten Problemen der gängigen Konzeptualisierung von Identität eine alternative Konzeption entgegengesetzt werden, die der Komplexität des untersuchten Phänomens gerecht wird und die somit das grundlegende Forschungsproblem dieser Arbeit in ungleich besserer Art und Weise bearbeitbar macht. Wie eingangs angedeutet, basiert das Modell auf drei wesentlichen analytischen Dimensionen, die ich im Zuge meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Konzept der „außenpolitischen Identität“ herausgearbeitet habe. Insofern soll mich das Modell zum anderen auch zu einem systematischen Blick auf die verschiedenen Dimensionen von Identität befähigen, die in den verschiedenen Schauplätzen der Fallstudien zum Tragen kommen, und die ich – getreu der o.a. Idee des Modells als Denkinstrument – konsequent in den Blick nehmen kann. Als solches fungiert das Modell somit gewissermaßen als analytisches „Prisma“ – als ein optisches Instrument, das verschiedene Dimensionen (oder „Spektralfarben“) eines Lichtstrahls zu brechen vermag und somit beobachtbar macht. Der besondere Reiz des Konzepts der „Identität“ für die historischethnographische Untersuchung von Außenpolitik und internationaler Ordnung besteht nämlich meines Erachtens eben gerade in der hohen Komplexität dieses Phänomens147, in dem sich sowohl historische und kulturelle, als auch kollektive und 146 Oder in den Worten eines Ethologen sollten sie uns jenseits jedes Objektivitätanspruches in erster Linie dazu befähigen, „to improve understandings, to solve problems, to build more complex stories and to generate more questions“, MADDEN, Raymond (2010): Being Ethnographic. A Guide to the Theory and Practice of Ethnography. London: Sage, S. 18. 147 An dieser Stelle sollte im Sinne der begrifflichen Gründlichkeit zwischen „Modell“ bzw. „Konzept“ und „Phänomen“ der Identität unterschieden werden. Erstere beziehe ich ausschließlich auf die analytischen Konstrukte zur Analyse des Phänomens von Identität, womit ich in erster Linie die beobachtbare Tatsache meine, dass Menschen bzw. Gruppen komplexe Identitäten überhaupt entwickeln und manifestieren. Insofern verwende ich in Bezug auf meinen analytischen Begriff im Folgenden ausschließlich den Begriff „Modell“, der zudem bereits impliziert, dass ein analytisches Modell niemals der Komplexität eines Phänomens in Gänze gerecht werden, jedoch als Denkinstrument zu deren Erforschung dienlich sein kann.

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individuelle Dimensionen manifestieren. Wenn wir dieses „Prisma“ zur Beobachtung (außen-)politischer Identitätspraktiken einsetzen, können wir die verschiedenen kulturell-historischen, normativen, kollektiven wie auch individuellen und emotionalen Dimensionen beobachten, die in den „Lichtstrahl“ (außen-) politischer Praxis zusammenfließen. In diesem Sinne werde ich im Folgenden die drei wesentlichen Dimensionen des analytischen Modells darlegen: die narrative, sowie die performativ-synthetische bzw. emotionale Dimension. Daran anschließend werde ich das Konzept der „Identitätspraxis“ näher beleuchten. 3.1.1 Narrative Dimension Die Identifizierung einer narrativen Dimension von Identität ist sicherlich alles andere als eine radikale Neuerung. Auch wenn dieser Begriff in Verbindung mit Identität vergleichsweise selten in der (konstruktivistischen) Außenpolitikanalyse explizite Verwendung gefunden hat,148 so ist er im breiteren Feld der Sozial- bzw. Geisteswissenschaft fester Bestandteil von identitätstheoretischen Entwürfen. Ursprünglich in strukturalistisch geprägten Disziplinen der Geisteswissenschaften beheimatet,149 erfuhr der Begriff im Laufe der 90er Jahre eine erhebliche Proliferation in verschiedensten sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wobei die Verknüpfung des Begriffes mit Identität sich insbesondere auf kulturwissenschaftliche Ansätzen der Biographieforschung zurückführen lässt. Diese nahm die zentrale These der Narratologie – insbesondere Paul Ricoeurs, aber auch anderer Vertreter wie David Carr und Hayden White – auf, nach der die Konstruktion von Identität letztlich eine Konstruktion einer Lebensgeschichte in narrativer Form darstellt.150 Das Narrativ - letztlich ein Modus der Sinnstiftung - stelle dabei eine Art der Sinnverknüpfung aus sonst recht disparaten Erfahrungen, Ereignissen und 148 Für eine beachtenswerte Ausnahme vgl. BROWNING, Christopher (2008): Constructivism, Narrative and Foreign Policy Analysis. A Case Study of Finland. Oxford et al.: Peter Lang; sowie RINGMAR 1996. Anders verhält es sich freilich in dem breiteren Feld der IB, in dem der Begriff etwa im Kontext der Hinwendung zur historischen Analysen Verwendung findet; siehe ROBERTS, Geoffrey (2006): History, Theory and the Narrative Turn in IR, in: Review of International Studies 32, S. 703–714; sowie im Kontext der structure-agency-debate, siehe etwa SUGANAMI, Hidemi (1999): Agents, Structures, Narratives, in: European Journal of International Relations 5:3, S. 365-386. 149 Die eigens mit Narrativen beschäftigte „Narratologie“ entstammt dem französischen Strukturalismus und hat somit in verschiedenen Disziplinen des breiten Feld der Geisteswissenschaften ihren Ursprung, vgl. KREISWIRTH, Martin (2005): Narrative Turn in the Humanities, in: HERMAN, David/JAHN, Manfred/RYAN, Marie-Laure (Hg.) (2005): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge, S. 378f. 150 RITIVOI, Andrea D. (2005): Identity and Narrative, in: HERMAN, David/JAHN, Manfred/RYAN, Marie-Laure (Hg.) (2005): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge, S. 231f.

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Zeitläufen zu einer kohärenten und linearen „Geschichte“ dar. Durch die „Narration“ oder Erzählung unserer Geschichte entsteht nach dieser Lesart ein Interpretationsrahmen, der es uns als Individuen ermöglicht, uns in einer verwirrenden Umwelt zurechtzufinden und darin Ordnung und Sinn zu schaffen.151 Nach dieser Lesart stellt das Narrativ bzw. das entsprechende Erzählen („story-telling“) somit eine universale kulturelle Kategorie dar, eine anthropologische Konstante, die dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Sinnstiftung entspringt.152 In diesem Sinne machen Narrative die komplexe und widersprüchliche soziale Realität verständlich und erfahrbar – jedoch auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Narrative stellen eine aktive Verknüpfung von Sinnzusammenhängen dar, die eine ganz spezifische „Geschichte“ erzählen und somit in erster Linie spezifische Interpretationen des Selbst in einer größeren sozialen Struktur darstellen. Wie etwa Ansgar Nünning argumentiert, sollten Narrative insofern nicht nur als ein Modus der Identitätskonstruktion, sondern auch als ein Instrument des „worldmaking“ – sprich: der „Welterzeugung“ verstanden werden.153 Sie basieren auf der Verknüpfung von positiv bzw. negativ bewerteten Beziehungen zwischen Ereignissen und Identitäten, die in ein bestimmtes Sinngefüge - oder eben „Weltbild“- eingebettet werden. So basiert etwa ein Ereignis wie der 11. September 2001 wesentlich auf einem Narrativ, das eine ganze Serie von Ereignissen154 als auch bestimmte Akteure (Täter, Opfer, etc.) in diesem Narrativ zu einer spezifischen Handlung („Plot“) verknüpft, die wiederum ein spezifisches Weltbild (re-)produziert.155 151 In der Narratologie wird in diesem Sinne häufig zwischen „ontologischen“ und „kognitiven“ Dimensionen von Narrativen unterschieden. Im ersteren Sinne unterstreichen einige Autoren die narrative Natur sozialer Wirklichkeit an sich, während für andere Narrative in erster Linie kognitive Leistungen darstellen, die es ermöglichen, Ordnung im Kontext chaotischer Ereignisse herzustellen und diese somit zu einer sinnhafter Erfahrung zu machen; vgl. Ebd., S. 231. 152 So spricht Albrecht Koschorke beispielsweise in diesem Kontext vom Menschen als homo narrans, siehe KOSCHORKE, Albrecht (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt: S. Fischer, insb. S. 9-13. 153 NÜNNING, Ansgar (2010): Making Events – Making Stories – Making Worlds. Ways of Worldmaking from a Narratological Point of View, in: DERS./NÜNNING, Vera/NEUMANN, Birgit (Hg.): Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives. Berlin/New York: de Gruyter, S. 191-214. 154 Zur narrativen Konstitution von Ereignissen („eventing“) vgl. JACKSON, Patrick T. (2009): The Present as History, in: GOODIN, Robert/TILLY, Charles (Hg.): The Oxford Handbook of Contextual Political Analysis. Oxford: Oxford University Press. 155 Der Bergiff des „emplotment“ als Modus der Sinnverknüpfung ist in diesem Sinne von zentraler Bedeutung, siehe RYAN, Marie-Laure (2005): Narrative, in: HERMAN, David/JAHN, Manfred/DIES. (Hg.) (2005): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge, S. 344-348; sowie SOMERS, Margaret (1994): The Narrative Constitution of Identity. A Relational and Network Approach, in: Theory and Society 23, S. 616; ferner auch RINGMAR 1996, S. 72.

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Diese Überlegungen verweisen auf einen weiteren wesentlichen Aspekt von Narrativen: sie sind auch in engem Zusammenhang mit Gemeinschaftsbildung zu verstehen. Oder in anderen Worten: selbst die ideellen Grundlagen von Gemeinschaften sind narrativ konstituiert – sie stellen gewissermaßen ein riesiges Repertoire von Geschichten über das Kollektiv und seine Elemente dar.156 Dieses narrative Repertoire lässt sich in diesem Sinne als kulturelle Ressource verstehen, quasi als ein „Bestand“ kollektiver Bedeutungsstrukturen, deren Kenntnis für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zentral ist.157 Dies gilt im besonderen Maße für die narrativen Ressourcen, die sich auf die historische Erfahrung einer Gemeinschaft beziehen. Diese Narrative ermöglichen es, sonst recht disparate und unzusammenhängende Erfahrungen von Individuen zu einem „Destillat“ gemeinsamer Geschichte zu vereinen und dabei ein Gefühl von Einigkeit herzustellen.158 Dabei sollte jedoch betont werden, dass diese Narrative keineswegs von allen Individuen einer Gemeinschaft gleichermaßen „geteilt“ – im Sinne von akzeptiert - werden müssen. Ganz im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass dieses kulturelle Repertoire aus einer Vielzahl von historischen Narrativen besteht, die sehr divers und mitunter widersprüchlich sein können. Der springende Punkt dabei ist vielmehr, dass Narrative sozusagen Vehikel oder Instrumente sind, um bestimmte Deutungen der historischen Erfahrung in gesellschaftliche Diskurse einzubringen und letztlich als dominant zu etablieren. Gute Beispiele hierfür wären etwa die im Kontext der Fischer-Kontroverse konkurrierenden Narrative zu den deutschen Kriegszielen und der Kriegsschuldfrage im Ersten Weltkrieg,159 oder die als „Historikerstreit“ bekannt gewordene Debatte um die Singularität des Holocausts und daraus erwachsende Implikationen für deutsche Identitätsverständnisse.160 Die Tatsache, dass bis heute darüber kontrovers diskutiert – und prominent publiziert161 – wird, verdeutlicht, dass diese Narrative nie vollkommen dominant und das Ringen um narrative Deutungshoheit nie abschließend ist.

156 Vgl. SUGANAMI 1999, S. 379. 157 Der Erwerb dieser kulturellen Ressourcen ließe sich somit also auch als Sozialisationsprozess in eine Gemeinschaft verstehen. 158 Sie fungieren dabei in ganz besonderem Maße als kulturelle Ressource für Inklusions- und Exklusionsprozesse zwischen jenen, die diese Erfahrungen „teilen“ und jenen, die sie nicht „teilen“ und somit außerhalb der „In-Group“ stehen; vgl. BROWNING 2008, S. 54. 159 Für einen Überblick über die Kontroverse siehe JÄGER, Wolfgang (1984): Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914–1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 160 KÜHNL, Reinhard (Hg.) (1987): Streit ums Geschichtsbild. Die ‚Historiker-Debatte‘. Darstellung, Dokumentation, Kritik. Köln: Pahl-Rugenstein. 161 Vgl. etwa den jüngsten prominenten Beitrag zur Kriegsschulddebatte: CLARK, Christopher (2013): Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA.

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Dabei ist es ebenso wichtig zu betonen, dass (historische) Identitätsnarrative nicht nur Sinnverknüpfungen vergangener Erfahrungen des Selbst darstellen, sondern ebenso bestimmte normative Elemente des Selbst in die Zukunft projizieren.162 Sie erzählen also nicht nur eine Geschichte über „wer man war“, sondern beinhalten in gleichem Maße Deutungen zur Frage wie oder wer man im Lichte vergangener Erfahrungen in Zukunft „sein sollte“. Sie sind insofern also immer in gewisser Weise handlungsleitend und implizieren bestimmte Handlungsmaximen, die dem jeweiligen Identitätsnarrativ entsprechen.163 Im Sinne einer Zusammenfassung verstehe ich also die narrative Dimension von Identität in erster Linie als a) eine „Erzählung“ der eigenen historischen Entwicklung zu einem Selbstbild (bzw. „Biographie“) unter Verknüpfung verschiedener Ereignisse und Erfahrungen und der Herstellung zeitlicher Kontinuität; somit b) als gemeinschafts- und auch welterzeugende Form der Sinnstiftung; sowie c) als handlungsleitende, kulturelle Ressource des Selbst. Diese grundlegenden Überlegungen sind nach meinem Dafürhalten insbesondere für die narrative Dimension von außenpolitischen Identitäten von Bedeutung. Gegenüber der oftmals propagierten Vorstellung eines Gegensatzes von Identitäten und Interessen (gewissermaßen als deren „rationaler“ Counterpart), scheint sich mittlerweile in der Forschung die Vorstellung ihres engen Zusammenhangs durchgesetzt zu haben.164 In der Tat ist die Bedeutung von Identitätsnarrativen für die Formulierung außenpolitischer Interessen nach meiner Auffassung kaum zu überschätzen. Wer bestimmen muss, was im Interesse eines außenpolitischen Akteurs ist, beruft sich dabei zwangsläufig auf Deutungen über die Vergangenheit und die erlebte Geschichte dieses Kollektivs. Als handlungsleitende, kulturelle Bestandteile des Selbst eines außenpolitischen Akteurs stellen Identitätsnarrative insofern die primären Res-

162 Vgl. BROWNING 2008, S. 48; Erik Ringmar spricht in diesem Kontext davon, dass Narrative einen Raum - im Sinne einer eine Gegenwart - für das Selbst „herausarbeiten“: „what we must do is (…) to create a presence for our selves; we must make room for our selves in time and space. This is the task which a constitutive story fulfils by extending our being in space and time” (Hervorhebungen im Original), RINGMAR 1996, S. 76. 163 In den Worten von Margaret Somers: „people are guided to act in certain ways, and not others, on the basis of the projections, expectations, and memories derived from a multiplicity but ultimately limited repertoire of available social, public and cultural narratives”, SOMERS 1994, S. 614; ähnlich auch BROWNING 2008, S. 55. 164 So etwa bei KATZENSTEIN 1996, S. 30: „the crucial question is not to establish whether interests prevail over identities and norms or whether identities and norms prevail over interests. What matters is how identities and norms influence the ways in which actors define their interests in the first place.“

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sourcen für die Formulierung außenpolitischer Interessen dar. Wenn Angela Merkel etwa die „Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson“165 deklariert, geschieht dies nicht aus vermeintlich objektiven - oder gar materiellen – Notwendigkeiten, sondern ergibt sich in erster Linie aus fundamentalen deutschen Identitätsnarrativen. Ein weiteres Beispiel für ein ähnlich außenpolitisch relevantes Identitätsnarrativ wäre etwa das im Kontext der Wiederbewaffnung aufgekommene Credo „nie wieder Krieg“ – es basiert auf einem Narrativ, dass die von Deutschen in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten in eine klare Handlungsanweisung für die Zukunft übersetzt. Im Sinne der vorausgegangenen Überlegungen lassen sich diese Narrative bzw. die entsprechenden Handlungsmaximen jedoch natürlich auch umdeuten, was die völlige Umkehrung dieses Credos im Kontext des Kosovo-Konflikts durch den damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer („nie wieder Auschwitz“) eindrucksvoll verdeutlicht.166 Die narrative Dimension von Identität kann insofern als ihr kultureller „Stoff“ verstanden werden, also als die wesentlichen kulturellen Ressourcen, aus denen (wie ich im nächsten Abschnitt argumentieren werde) aktiv situative Identitätsbilder synthetisiert werden. 3.1.2 Performativ-synthetische Dimension Dem Entwurf einer synthetischen Dimension von Identität könnte man zunächst entgegensetzen, dass – wie im letzten Abschnitt betont - Narrative ohnehin immer der aktiven Verknüpfung von verschiedenen Ereignissen und Erfahrungen bedürfen und der Akt der Narration (oder „story-telling“) insofern selbst in gewisser Weise als Synthese zu begreifen ist. Das ist sicherlich korrekt, dennoch erscheint es mir sinnvoll, an dieser Stelle eine Unterscheidung vorzunehmen. Wie ich im letzten Abschnitt argumentiert habe, verstehe ich die narrative Dimension von Identität als kulturelles Repertoire bzw. als „Bestand“ narrativer Bedeutungsstrukturen über die eigene Entwicklung als Kollektiv, also gewissermaßen als Summe der Geschichten über die „Biographie“ eines außenpolitischen Akteurs. Dieses kulturelle Repertoire kann jedoch aus einer Reihe von zum Teil recht heterogenen - mitunter sogar widersprüchlichen - Narrativen bestehen, die nicht notwendigerweise von allen Mitgliedern eines Kollektivs geteilt werden, sie 165 Vgl. dazu die umfangreiche Berichterstattung des Deutschlandfunks: Sterben für Israel? Zu Angela Merkels Aussage über die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsraison; http://www.dradio.de/dlf/sendungen/themenderwoche/1944546/, 2.10.2013 166 SWOBODA, Veit (2009): Deutschland. Die Neudeutung der Vergangenheit, in: STAHL, Bernhard/HARNISCH, Sebastian (Hg.): Vergleichende Außenpolitikforschung und nationale Identität. Die Europäische Union im Kosovo-Konflikt 1996-2008, Baden-Baden: Nomos, S. 137-165.

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stellen also „nur“ kulturelle Ressourcen dar, die auf höchst unterschiedliche Weise in situative Identitätsbilder übersetzt werden können. Der wesentliche Unterschied zwischen narrativer und performativ-synthetischer Dimension von Identität bezieht sich nach meinem Dafürhalten auf genau diesen Sachverhalt – dass Identität nicht zuletzt als ein situatives Konstrukt des Selbst oder als spezifische Synthese von (potentiell unterschiedlichen) Identitätsnarrativen für eine bestimmte Interaktionssituation verstanden werden sollte. Im Gegensatz zur narrativen Dimension, die ein kulturelles Bedeutungsrepertoire darstellt, verstehe ich diese Dimension als situative Konstitution von Identitätsbildern, die auf eine spezifische Interaktionssituation zugeschnitten sind und bestimmte Identitätsnarrative in eine spezifische Ordnung bringen. So kann sich eine Person gleichzeitig als Frau, Mutter, Deutsche, Europäerin und/oder Politikwissenschaftlerin verstehen, wobei all diese Elemente Teil der Identität dieser Person sind. Welche dieser Elemente im Vordergrund und somit an erster Stelle der Priorisierung steht, ist jedoch maßgeblich von der Interaktionssituation sowie den jeweiligen Interaktionspartnern abhängig. Befindet sich diese Person beispielsweise in einer Gruppe männlicher US-amerikanischer Politikwissenschaftler, so würden insbesondere die Elemente „weiblich“ und „deutsch“ bzw. „europäisch“ in den Vordergrund treten. Sind die wesentlichen Interaktionspartner jedoch etwa deutsche Wirtschaftswissenschaftlerinnen, würde insbesondere das Merkmal „Politikwissenschaftlerin“ als das relevanteste erachtet. Damit sind die situativen Identitätsbilder vergleichbar mit der im symbolischen Interaktionismus – besonders in Meads Identitätstheorie - konzipierten sozialer Identität bzw. „Me“167, oder aber auch mit dem, was einige Vertreter der Soziolinguistik als „Hierarchien der Identität“ konzipieren.168 In einem ähnlichen Sinne bietet die an die sozialpsychologische Theorie sozialer Identität169 angelehnte, sogenannte „Selbstkategorisierungstheorie“ („Self-categorization-theory“) eine spezifische Theoretisierung dieser situativen Identitätssynthesen an. Die Selbstkategorisierungstheorie versteht kontext- und situationsbezogene Identitätsbildung auf der Grundlage des „Metakonstrast-Prinzips“, das auf der Wahrnehmung von Differenzen innerhalb einer Gruppe und zwischen Gruppen beruht.170

167 MEAD, George H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (hg. von Charles W. Morris). Frankfurt: Suhrkamp, insb. Kapitel 21; einen wesentlichen Unterschied zu Meads „Me“ würde ich in dieser Dimension jedoch darin sehen, dass ich in erster Linie eine Konstellation vieler spezifischer „Mes“ in einem situativen Selbstbild meine. 168 OMONIYI, Tope (2006): Hierarchies of Identity, in: DERS:/WHITE, Goodith (Hg.): The Sociolinguistics of Identity, London: Continuum International Publishing. 169 TAJFEL/TURNER 1986. 170 Ist in einer spezifischen Situation die wahrgenommene Differenz innerhalb einer Gruppe geringer als jene zwischen zwei (oder mehreren) Gruppen, so ist soziale Kategorisierung – bzw.

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Diese Überlegungen beinhalten natürlich eine Reihe theoretischer Implikationen. In der performativ-synthetischen Dimension sehe ich im Sinne der obigen Überlegungen eine situative Verknüpfung von kulturellen Identitätsnarrativen zu einem sinnhaften „Selbst“, das einer spezifischen Interaktionssituation Rechnung trägt. Ihren performativen Charakter sehe ich insofern darin, dass sie zum einen außerhalb von Handlungssituationen keinen Sinn ergibt, denn die Notwendigkeit der Synthese verschiedener Identitätsnarrative ergibt sich erst, wenn die Notwendigkeit zu Handeln in einem sozialen Kontext besteht. Zum anderen verstehe ich sie als Synthese und aktive Verknüpfung selbst als Handlung, womit die performativ-synthetische Dimension sowohl Bedeutungen produziert und beinhaltet, jedoch dabei gleichzeitig selbst eine Handlung darstellt - ein Aspekt der in der identitätstheoretischen Literatur kaum bis gar nicht thematisiert wird.171 Da die in dieser Weise produzierten Identitätsbilder ebenso narrativer Form sind, bezieht sich eine weitere wesentliche Implikation zudem auf deren Verbindung mit Vorstellungen sozialer Ordnung. Als Narrativ implizieren performative Identitätssynthesen nicht nur Verknüpfungen zwischen verschiedenen Narrativen in einer spezifischen Situation, sondern transportieren in dieser Qualität auch immer komplexe Identitätsbeziehungen und somit Vorstellungen sozialer (internationaler) Ordnung. Das Argument, das Narrative nicht nur als ein Modus der Identitätskonstruktion, sondern auch als ein Instrument des „worldmaking“ – sprich: der „Welterzeugung“ verstanden werden sollten172 gilt also für diese Identitätssynthesen in ganz besonderem Maße, denn kreative Identitätssynthesen würden nach dieser Lesart eine innovative Form der Welterzeugung darstellen. In diesem Sinne bezieht sich eine weitere – und wahrscheinlich noch wichtigere - Implikation auf den Zusammenhang zwischen narrativer und performativ-

Identifikation – innerhalb dieser Gruppe wahrscheinlich. Steigt andersherum die wahrgenommene Differenz innerhalb einer Gruppe, während die Differenz zu anderen Gruppen abnimmt, ist eine Verschiebung von Kategorisierung – und somit auch von Identifikation – zu erwarten; vgl. OAKES et al (1994), TURNER et al 1987; sowie TURNER, John/OAKES, Penelope/HASLAM, S. Alexander/McGARTY, Craig (1994): Self and Collective. Cognition and Social Context, in: Personality and Social Psychology Bulletin 20:5, S. 454-463. 171 Da ich sie also gleichermaßen als Bedeutung und Handlung – bzw. als Verknüpfung zwischen unterschiedlichen Bedeutungen und Handlung - verstehe, unterschiedet sich mein Verständnis der Narrativsynthese auch von der klassisch psychoanalytischen Identifikation im Sinne der Herstellung einer emotionalen Verbindung auf der Grundlage libidinöser Bedürfnisse. Identifikation repräsentiert im Freudschen Sinne eine der „frühesten Äußerungen einer Gefühlsbindung an eine andere Person“, und stellt eine Strategie des „Ich“ dar, Triebversagungen zu bewältigen, in dem Wesenszüge des begehrten Objekts in das eigene „Ich“ aufgenommen werden; FREUD, Siegmund (1967) [1921]: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: DERS.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet (Bd. 13), Frankfurt: S. Fischer, S. 115. 172 NÜNNING 2010.

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synthetischer Dimension bzw. die Rolle von letzterem bei dem Wandel von ersterem. Wenn wir die narrative Dimension als kulturelles Repertoire einer Vielzahl (ggf. konkurrierender) historischer Narrative begreifen, spielt die situative Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative eine herausragende Rolle bei der Konstitution bzw. Transformation dieses Repertoires. Wie im letzten Abschnitt beschrieben, lässt sich die narrative Dimension von Identität als ein großer Grundbestand an unterschiedlichen Identitätsnarrativen begreifen, gewissermaßen als „sedimentierte“ kulturelle Ressourcen über das „Selbst“ eines außenpolitischen Akteurs.173 Welche dieser Narrative im gesellschaftlichen Diskurs besonders „sedimentiert“- anders formuliert: dominant - sind, ist ein Prozess gesellschaftlicher Deliberation, der niemals vollkommen abgeschlossen ist. Die kreative Synthese unterschiedlicher Narrative kann in diesem Kontext als Artikulation neuer situativer Identitätsbilder (und deren zugrundeliegenden Weltbilder) verstanden werden, die durch ihre öffentliche „performance“ in den gesellschaftlichen Diskurs eingegeben werden. Sie kann somit als wesentlicher Faktor der (Re-)Produktion kultureller Bedeutungsstrukturen gesehen werden, denn „neue“ Identitätssynthesen (bzw. Weltbilder) gehen ihrerseits auch wieder in das kulturelle Repertoire der narrativen Dimension ein. In der performativen Synthese von Identitätsnarrativen vollzieht sich somit gewissermaßen eine ständige Neu-Konkretisierung von Identität und der damit verknüpften kulturellen Bedeutungsstrukturen.174 Im Wechselspiel zwischen narrativer und performativ-synthetischer Dimension können wir also im Grunde auch den Prozess der wechselseitigen Konstitution zwischen kulturellen Bedeutungsstrukturen und Akteuren,175 sowie zwischen kollektiven und individuellen Dimensionen von Identität begreifen. Um letzteren Punkt nochmal etwas konkreter aufzugreifen: eine ebenso wichtige Implikation bezieht sich auf den üblicherweise sehr stark gemachten Unter-

173 Den – nach meiner Einschätzung sehr hilfreichen – Begriff der „Sedimentation“ zur Beschreibung von kulturellen Bedeutungen als Grundlagen von Gemeinschaften habe ich von Ole Waever entlehnt; vgl. WAEVER 2002, insb. S. 33-39. 174 So argumentiert beispielsweise auch Alexander Wendt, dass Identität immer als Prozess gedacht werden muss, jedoch unter bestimmten analytischen Umständen als stabil betrachtet werden kann. Diese Stabilität sei jedoch letztlich nichts weiter als „an ongoing accomplishment of practices“; WENDT 1994, S. 386. 175 Damit ließe sich dieses dynamische Moment bzw. der Prozess der wechselseitigen Konstitution zwischen Bedeutungsstrukturen und Akteuren auch mit dem Konzept der „Structuration“ nach Giddens vergleichen: „Analysing the structuration of social systems means studying the modes in which such systems, grounded in the knowledgeable activities of situated actors who draw upon rules and resources in the diversity of action contexts, are produced and reproduced in interaction”; GIDDENS, Anthony (1984): The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge: Policy Press, S. 25.

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schied zwischen „kollektiver“ und „individueller“ Identität. „Kollektive Identitäten“176 werden in der Literatur gemeinhin in einen Gegensatz zu „persönlichen“ oder „individuellen“ Identitäten gestellt, wobei insbesondere erstere häufig als die entscheidende Identitätsform auf internationaler Ebene betrachtet wird, da sie sich auf kollektive Akteure auf systemischer Ebene – meist Nationalstaaten - beziehen.177 Nach meiner Auffassung ist diese Unterscheidung jedoch – so analytisch sinnvoll sie im Einzelfall auch sein mag – eher irreführend als erhellend. Irreführend ist sie meines Erachtens zum einen insofern, als sie impliziert, dass man diese beiden Dimensionen von Identität tatsächlich eindeutig trennen kann. Zum anderen suggeriert diese Unterscheidung auch, dass kollektive Identitäten vornehmlich auf der Ebene einer politischen Gemeinschaft (also etwa eines Nationalstaates) zu denken sind. Der springende Punkt bei Identität ist jedoch nach meiner Auffassung, dass sie sowohl kollektive als auch individuelle Dimensionen umfasst. Wie ich im letzten Abschnitt argumentiert habe, besteht die narrative Dimension aus einer Vielzahl unterschiedlicher öffentlicher Narrative, die ja bereits qua ihrer Qualität als kulturelle Ressource „kollektiv“ konstituiert sind. Die Betonung einer „kollektiven Identität“ kann insofern also nur daraus hinauslaufen, zu suggerieren, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft diese Identität gleichermaßen „teilen“. Dies impliziert nicht zuletzt auch die Betonung vermeintlicher Grenzen in der kulturellen Beschaffenheit einer Gemeinschaft verleitet uns dazu, Identitäten auf einer einzigen Ebene - also die der konstitutiven politischen Gemeinschaft zu suchen. Zudem impliziert der Begriff starke Unschärfen zum Kulturbegriff, der damit gemeinhin nicht in Bezug gesetzt wird. Allerdings können identitätskonstituierende Narrative auf ganz unterschiedlichen Ebenen verortet sein. So wird etwa die professionelle Identität eines Diplomaten sicherlich nicht nur durch Narrative seiner politischen Gemeinschaft (also des entsendenden Staates) konstituiert, sondern fußt zu einem wesentlichen Teil auch auf kulturellen Ressourcen („diplomatische Kultur“), die sich auf internationaler Ebene lokalisieren lassen.178 Doch was implizieren diese Überlegungen im Hinblick auf die performativsynthetische Dimension außenpolitischer Identitäten? Wenn wir davon ausgehen, 176 WENDT 1994 ist dabei sicher nur ein prominentes Beispiel der IB Theorie, der Begriff ist jedoch – in und außerhalb der Politik- und Sozialwissenschaft – durchweg in der Identitätsliteratur präsent. 177 Vgl. neben WENDT 1995 vor allem auch WELLER 1997, um nur ein Beispiel zu nennen. 178 Eine der Forschungsprobleme in der Literatur um diplomatische Kultur ist eben dieser Aspekt; so identifiziert etwa Paul Sharp drei Kulturebenen, die für diplomatische Kultur von Bedeutung sind: „we live, then, in an international world of at least three cultural levels: global/hegemonic; civilisational/regional and state/national, with many other transnational identities cutting across these levels”, SHARP, Paul (2004): The Idea of Diplomatic Culture and its Sources, in: Slavik, Hannah (Hg.): Intercultural Communication and Diplomacy, Malta: DiploFoundation, S. 366, siehe auch die Programmatik des 2013 in Cambridge entstandenen „Diplomatic Cultures Research Network“.

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dass sich in der performativ-synthetischen Dimension eine situative Verknüpfung von kulturellen Identitätsnarrativen zu einem sinnhaften „Selbst“ vollzieht, das einer spezifischen Interaktionssituation Rechnung trägt, hieße das für außenpolitische Akteure, dass auch diese situative und interaktionsspezifische Identitätsbilder produzieren. Außenpolitische Akteure können auf eine Reihe von verschiedenen Identitätsnarrativen zurückgreifen, die unter Umständen genauso widersprüchlich und je nach Interaktionskontext unterschiedlich priorisiert werden sein können. Die bereits im letzten Abschnitt erwähnte Priorisierung von „nie wieder Auschwitz“ über „nie wieder Krieg“ durch Joschka Fischer im Kontext des Kosovo-Krieges ist auch für diesen Sachverhalt ein gutes Beispiel. In diesem Sinne können je nach außenpolitischem Interaktionskontext – etwa in der NATO, EU oder UN – unterschiedliche Identitätsnarrative im Vordergrund stehen und „performed“ werden. So könnte beispielsweise der „verlässliche Bündnispartner“ innerhalb der NATO im Rahmen der EU durchaus selbstbewusstere Töne gegenüber NATO-Partnern anschlagen. Dies wird in der rollentheoretischen Außenpolitikanalyse damit begründet, dass außenpolitische Rollenkonzepte aus komplexen „Rollenbündeln“ bestehen, die über eine Vielzahl von „Situationsrollen“ umgesetzt werden.179 „Zivilmächte“ können also in spezifischen Situationen und Interaktionskontexten auch „Situationsrollen klassischer Großmächte annehmen“.180 Um beim Beispiel der Zivilmacht zu bleiben: ebenso können selbst innerhalb bestimmter Rollenbilder in bestimmten Situationen widersprüchliche Narrative zum Ausdruck kommen. So können beispielsweise die grundlegenden Prinzipien einer Zivilmacht - in diesem Fall verstanden als Identitätsnarrative - „Zähmung und Einhegung einzelstaatlich organisierter Gewaltanwendung“ und die „Verrechtlichung und Verregelung der internationalen Beziehungen“181 bzw. die „Zivilisierung internationaler Beziehungen“182 etwa bei militärischen Interventionen im Namen des Menschenrechtsschutzes in krassem und ggf. auch unauflösbaren Widerspruch zueinander stehen. Dieser Widerspruch kann jedoch in der performativen Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative aufgelöst werden, in dem ein interaktionsspezifisches Identitätsnarrativ synthetisiert wird, das militärische Gewaltanwendung als „ultima ratio“ einer engagierten Zivilmacht als konstitutives Identitätsnarrativ in den Vordergrund stellt und andere Narrative eher ausblendet. Das bedeutet natürlich nicht, 179 KIRSTE, Knut (1998): Rollentheorie und Außenpolitikanalyse. Die USA und Deutschland als Zivilmächte. Frankfurt et al.: Peter Lang, S. 37. 180 Ebd., S. 475. 181 Zu den Grundprinzipien einer Zivilmacht vgl. KIRSTE/MAULL 1996, S. 300f. 182 Dieses auf der Grundlage der Zivilisierungstheorie Norbert Elias‘ formulierte Prinzip stellt nach meiner Lesart ein besonders gutes Beispiel für ein außenpolitisches Narrativ dar, da es bestimmte zeitliche Entwicklungslinien zeichnet.

3.1 Konzeptueller Rahmen: Identität - ein mehrdimensionales Modell

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dass diese Narrative völlig aus dem Identitäts- bzw. Rollenensemble verschwinden, ihnen würde im Sinne der obigen Überlegungen nur eine situationsspezifische Gewichtung zuteil. 3.1.3 Emotionale Dimension Schließlich soll noch ein weiteres wesentliches Merkmal von Identität Erwähnung finden – ihre emotionale Dimension. Ich gehe davon aus, dass die in den letzten Abschnitten beschriebenen Identitätsnarrative neben ihrem semantischen Bedeutungsgehalt auch eine emotionale Aufladung aufweisen, da sie in einem engem Verhältnis zu empfundenem Selbstwertgefühl stehen und somit unterschiedliche Handlungsdynamiken in Interaktionsprozessen entfalten können. Zudem spielt die emotionale Dimension eine essentielle Rolle bei der normativen Bewertung verschiedener zur Verfügung stehender Identitätsnarrative. Die performative Synthese von Identitätsnarrativen ist somit nicht zuletzt auch ein emotionaler Vorgang, der nicht nur einen vermeintlich objektiven Status Quo von Identität wiederspiegeln soll (also „was man ist“), sondern in dem auch präskriptive Identitätsbilder (also was man „sein möchte“) zum Ausdruck kommen. Die Rolle von Emotionen ist in konstruktivistischen Identitätsansätzen bisher eher seltener theoretisiert worden, als wesentlicher Faktor von außenpolitischen Prozessen allgemein ist sie jedoch in der Außenpolitikforschung sicher keine revolutionäre Neuerung. Ansätze der systematischen Berücksichtigung dieser Dimension finden sich etwa in kognitivistisch orientierten Ansätzen (so beispielsweise bei Ansätzen, die dem Forschungsprogramm „Foreign Policy Decision Making“183 nahestehen). In den IB wird jedoch allgemein seit einigen Jahren ein „emotional turn“184 - also eine verstärkte Hinwendung zu Emotionen als eigener Analysegegenstand - diagnostiziert.185 Es besteht in dieser Literatur gemeinhin

183 MINTZ, Alex/DeROUEN, Karl (2010): Understanding Foreign Policy Decision Making. Cambridge: Cambridge University Press, insb. S. 99f. 184 WOLF, Reinhard (2012): Der „emotional turn“ in den IB. Plädoyer für eine theoretische Überwindung methodischer Engführung, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 5, S. 605-624. 185 CRAWFORD, Neta (2000): The Passion of World Politics. Propositions on Emotions and Emotional Relationships, in: International Security 24:4, S. 116-156; ROSS, Andrew (2006): Coming in from the Cold. Constructivism and Emotions, in: European Journal of International Relations 12, S. 197-222; BLEIKER, Roland/HUTCHINSON, Emma (2008): Fear No More. Emotions and World Politics, in: Review of International Studies 34, S. 115–135; MERCER, Jonathan (2010): Emotional Beliefs, in: International Organization 64, S. 1-31; ÅHÄLL, Linda /GREGORY, Thomas (2013): Security, Emotions, Affect, in: Critical Studies on Security 1:1, S. 117120.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Konsens darüber, dass Emotionen vor allem deshalb in den IB bis dato wenig Beachtung gefunden haben, weil ihre systematische Untersuchung die vorherrschenden Ansätze in den IB vor erhebliche theoretische und methodologische Herausforderungen – um nicht zu sagen Überforderungen – stellt. Insbesondere für rationalistische Ansätze gelten Emotionen meist nur als „Störfaktoren“ rationaler Entscheidungsfindung, also als irrationale Abweichungen von rationalen Verhaltensstandards.186 Doch selbst Ansätze, die starke Sympathien für Emotionen hegen, stehen vor dem methodologischen Problem, dass sich Emotionen schwer bestimmen bzw. von anderen Wirkungsfaktoren trennen lassen.187 Aktuelle Forschungsansätze aus den Neurowissenschaften188 legen indes die Erkenntnis nahe, dass Emotionen keineswegs als Gegenstück von Vernunft und Rationalität zu begreifen sind, sondern im Gegenteil als deren Voraussetzung verstanden werden sollten. Wesentliche kognitive Abwägungsprozesse und rationale Vorgänge wie etwa Risikoabschätzung sind nach diesen Studien wesentlich von emotionalen Fähigkeiten abhängig. Für diesen grundlegenden Zusammenhang spricht etwa die (klinische) Beobachtung, dass Personen, denen emotionale Fähigkeiten aufgrund bestimmter Krankheitsbilder (wie etwa Autismus) oder operativer Eingriffe fehlen, gleichsam Defizite in rationaler Entscheidungsfähigkeit aufweisen.189 Emotion und Ratio sind somit als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen, ihre konzeptionelle Trennung wäre also eher irreführend als erhellend.190 Bei der Theoretisierung von Emotionen in den IB sollte es nach meinem Dafürhalten somit nicht so sehr darum gehen, Emotionen als isoliertes Phänomen zu betrachten191, sondern deren Zusammenspiel mit anderen Faktoren – bzw. ihre „Omnipräsenz“192 – stets zu berücksichtigen. Wenn wir Konzeptarbeit ferner als wesentlichen Bestandteil von Theoriebildung begreifen, sollte vor allem die Integration von Emotionen in theoretische Konzepte bzw. Modelle konsequent be-

186 Zu Recht stellt Mercer in diesem Sinne fest, dass der Begriff von emotional unterfütterten Überzeugungen („emotional beliefs“) in der Politikwissenschaft eher abschätzig verwendet wird, MERCER 2010, S. 1f. 187 CRAWFORD 2000, S. 118. 188 Einen sehr hilfreichen Überblick liefern WOLF 2012, S. 609f; MERCER 2010, S. 5-8. 189 MERCER 2010, S. 5. 190 Dieser Zusammenhang wird interessanterweise auch im Pragmatismus bzw. im symbolischen Interaktionismus postuliert. Nach Mead tauchen Emotionen in situativen Handlungsproblemen auf und erfüllen hier den Zweck, antizipatorische Evaluation der Situation zu ermöglichen; JOAS, Hans (1980): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G.H. Mead. Frankfurt: Suhrkamp, S. 102. 191 Was methodologisch ohnehin zum Scheitern verurteilt ist, wenn man bedenkt, dass sich selbst in neurowissenschaftlichen Untersuchungsverfahren emotionale und rationale Vorgänge im Gehirn nicht voneinander trennen lassen; vgl. MERCER 2010, S. 5. 192 BLEIKER/HUTCHINSON 2008, S. 115.

3.1 Konzeptueller Rahmen: Identität - ein mehrdimensionales Modell

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trieben werden. In diesem Sinne begreife ich die emotionale Dimension von Identität als wesentlichen Bestandteil dieses Konzepts, ohne den der Zusammenhang zwischen Identitäts(-praktiken) und Handlungsdynamik, sowie zwischen Identität und Rationalität schwer verständlich ist. Die Feststellung, dass Identitätsnarrative immer emotional unterfüttert sind und mit Verständnissen von Selbstwert eng verbunden sind, sollte zunächst eingehender beleuchtet werden. Ich folge hier den Prämissen (sozial-)psychologsicher Identitätstheorien, nach denen Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach psychischer Stabilität und positiver Identitätserfahrung besitzen.193 In der Synthese von Identitätsnarrativen drücken sich ja – wie im entsprechenden Abschnitt erwähnt – nicht nur zeitliche Abläufe und Sinnzusammenhänge, sondern auch spezifische Weltbilder bzw. Beziehungsgefüge zwischen Akteuren aus, die gewisse soziale Ordnungsvorstellungen – ggf. also auch Verständnisse von Über- und Unterlegenheit - implizieren. Emotionen „färben“ diese Beziehungslinien und laden sie je nach Gegebenheit mit positivem oder negativem Empfinden auf.194 Positive Identitätserfahrung stellt sich dabei immer dann ein, wenn die eigene Position in diesem Beziehungsgefüge als stabil und befriedigend wahrgenommen wird. Ist dies nicht der Fall, entsteht eine negative Identitätserfahrung, die eine Handlungsdynamik in Richtung Aufwertung bzw. Verteidigung der eigenen Identität zur Folge hat.195 Je nach Konstellation kann dieser Zusammenhang erhebliche Konsequenzen für die Bereitschaft zur Konfrontation oder Kooperation auf internationaler Ebene haben, da empfundene Identitätskränkungen tendenziell kooperationsfreundliche Haltungen verhindern, während empfundene Identitätsbestätigung diese Haltungen begünstigt.196 Diese Verbindunglinie zwischen Selbstwertgefühl und Identitätsstabilität ist jedoch auch jenseits (sozial-)psychologischer Ansätze sicherlich keine radikale Innovation. So finden sich auch in einigen prominenten konstruktivistischen Werken 193 Zu den Prämissen (sozial-)psychologischer Identitätsansätze in den IB – etwa BLOOM 1990 oder WELLER 1997 – vgl. Abschnitt 2.4. 194 „Emotions help us make sense of ourselves, and situate us in relation to others and the world that surrounds us. They frame forms of personal and social understanding, and are thus inclinations that lead individuals to locate their identity within a wider collective. As Sara Ahmed suggests, emotions are an intimate part of the attachments that bind individuals to particular objects and to others; they ‘colour’ the relational ties that can come to constitute identity and belonging”; BLEIKER/HUTCHINSON 2008, S. 123; weiterer Bezug auf AHMED, Sara (2003): The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edinburgh University Press. 195 Ich lehne mich an dieser Stelle also an die sog. „national identity dynamic“ von BLOOM 1990 an; vgl. Abschnitt 2.4. für deren Definition. 196 Reinhard Wolf kommt in seinen Studien zu „Respekt“ in den internationalen Beziehungen (letztlich verstanden als ein Akt der Statusanerkennung) zu einem ähnlichem Schluss, vgl. WOLF, Reinhard (2011): Respect and Disrespect in International Politics. The Significance of Status Recognition, in: International Theory 3:1, S. 108.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

ähnliche Konzeptionen. Alexander Wendt etwa spricht von „material needs“ und „identity needs“- also konstitutiven Bedürfnissen von Akteuren, die zum Selbsterhalt unabdingbar sind. „Identity needs“ sind demnach auf die Erhaltung von bestimmten Identitäten fokussierte Bedürfnisse (und somit theoretisch unendlich divers), während „material needs“ fundamentalere „funktionale Reproduktionsbedürfnisse“ darstellen und auf Wendts Verständnis der menschlichen Natur basieren. Dementsprechend haben Individuen grundsätzlich fünf „material needs“: a) physische Sicherheit; b) ontologische Sicherheit; c) Sozialität; d) Selbstwertgefühl und e) Transzendenz.197 „Ontologische Sicherheit“ bezieht sich dabei auf „relatively stable expectations about the natural and especially social world“, die zu einem grundlegendem Streben nach Stabilität im Sinne „recognition of their standing from society“ führt.198 Individuen haben nach Wendt also nicht nur ein grundlegendes Bedürfnis nach Selbstwertgefühl, sondern auch nach einer stabilen Identität und Position innerhalb einer sozialen Ordnung. Wird diese „ontologische Sicherheit“ als gefährdet angesehen, ergeben sich unter Umständen konfliktive Handlungsdynamiken – was auch in einigen weiteren Ansätzen betont wird, die sich auf dieses Konzept fokussieren.199 Die emotionale Dimension von Identität ist also ein Schlüssel zur Erfahrung der eigenen Identität als positiv oder negativ.200 Was jedoch meines Wissens in der einschlägigen Literatur bisher kaum (um nicht zu sagen gar nicht) thematisiert wurde, ist die Bedeutung der emotionalen Dimension bei der normativen Bewertung verschiedener zur Verfügung stehender Identitätsnarrative. Wenn wir davon ausgehen, dass Emotionen und Rationalität nicht voneinander trennbar sind, sondern Emotionen im Gegenteil ein wichtiger Bestandteil rationaler Erwägungen sind, dann folgt daraus, dass sie in ethisch-normativen Abwägungsprozessen eine mindestens genauso wichtige Rolle spielen. Ich würde jedoch sogar noch etwas weiter gehen und die These vertreten, dass 197 WENDT 1999, S. 131f. 198 Ebd. 199 So vertritt etwa Jennifer Mitzen die These, dass das Streben nach ontologischer Sicherheit ein wesentlicher Faktor beim Verständnis vermeintlich „irrationaler Konflikte“ sein kann; siehe MITZEN, Jennifer (2006): Ontological Security in World Politics. State Identity and the Security Dilemma, in: European Journal of International Relations 12:3, S. 341-370, Brent Steele definiert dieses Konzept in diesem Sinne: “ontological security, as opposed to security as survival, is security as being”, STEELE, Brent (2008): Ontological Security in International Relations. SelfIdentity and the IR State. London: Routledge, S. 51. 200 Wendt argumentiert an anderer Stelle, dass eine der wesentlichen Schwächen eines rein narrativen Ansatzes von Identität eben darin liege, dass die Erfahrung von Narrativen im menschlichen Bewusstsein ausgeblendet werde: „at the individual level subjectivity is more than just a narrative – it is also the experience of a narrative. Narratives per se are not conscious; after all, zombies could have narratives too.” (Hervorheb. im Original), WENDT, Alexander (2004): The State as Person in International Theory, in: Review of International Studies 30, S. 289–316; eine ähnliche Argumentation findet sich bei CRAIB, Ian (1998): Experiencing Identity. London: Sage.

3.1 Konzeptueller Rahmen: Identität - ein mehrdimensionales Modell

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Emotionen in normativen Erwägungen eine herausragende Rolle spielen, da normativ aufgeladene Identitätsnarrative starke emotionale Reaktionen hervorrufen und somit sehr eng mit eigenem Selbstwert verbinden lassen. Sie verkörpern also nicht nur nüchterne Beschreibungen des Selbst „wie es ist“, sondern gleichermaßen normativ-präskriptive Identitätsbilder über wie das Selbst „sein sollte“ und stellen somit fundamentale Elemente des eigenen Selbstverständnisses dar. Ähnlich wie im letzten Abschnitt bietet auch hier das (normativ aufgeladene) Identitätsnarrativ der „Zivilmacht“ ein gutes Beispiel. Deren zugrundeliegendes Narrativ der „Zivilisierung internationaler Beziehungen“ mit den entsprechenden grundlegenden Handlungsprinzipien201 weist neben seiner analytischen Funktion auch eine normative Dimension auf – es stellt gewissermaßen eine Kontrastschablone dar, die ethisch wünschenswerte Identitätselemente umreißt. Dies begründet in idealtypisch-analytischen Anwendungen häufig die klare Tendenz, die Kontinuität dieses Identitätsnarrativs stärker zu betonen und abweichendes Verhalten eher als „zivilmachtskompatibel“ zu deuten.202 Diese normative „Anziehungskraft“ der Zivilmacht als Identitätsnarrativ würde ich ganz klar auf dessen emotionale Dimension zurückführen, denn die mit dem Begriff der „Zivilität“ assoziierten normativen Konnotationen: Einhegung militärischer Gewalt, Verrechtlichung internationaler Ordnung - letztlich also Verständnisse von Frieden und Gerechtigkeit – weisen nach meiner Auffassung eine hohe emotionale Aufladung auf. Wenn außenpolitische Akteure also vor der Synthese verschiedener Identitätsnarrative stehen, entwickeln solche Narrative mit hohem normativ-emotionalen „Appeal“ eine nicht zu unterschätzende Zugkraft.203 Gleichzeitig entwickeln Identitätsnarrative, die in Kontrast zu normativ erstrebenswerten Idealen gestellt werden – etwa das im Abschnitt 3.1.1 erwähnte Narrativ des „Kriegsschuldigen“ oder „Täter“ – eine ebenso starke emotionale „Gegenzugkraft“ bzw. Ablehnung.

201 Zu den Handlungsprinzipien siehe KIRSTE/MAULL 1996, S. 300f: (1) Zähmung und Einhegung einzelstaatlich organisierter Gewaltanwendung bei der Austragung nationaler und transnationaler Konflikte; (2) Verrechtlichung und Verregelung der internationalen Beziehungen; (3) Intensivierung multilateraler Kooperation; (4) Förderung sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene; (5) verstärkte Institutionenbildung zur Kontrolle und Durchsetzung allgemeiner Normen mit der Bereitschaft zu partiellem Souveränitätstransfer; sowie (6) Kanalisierung der Austragung von Konflikten mit besonderen Auflagen und Prinzipien für die Ausübung militärischer Gewalt. 202 Diesen Kritikpunkt an idealtypisch orientierten Zivilmachts-Forschungsansätzen habe ich schon an anderer Stelle formuliert, vgl. STARK URRESTARAZU 2010; S. 55f. 203 Am Beispiel des Begriffs der „Zivilität“ im außenpolitischen Diskurs Deutschlands lässt sich dieser Zusammenhang gut veranschaulichen, vgl. STARK URRESTARAZU, Ursula/WEBER, Christian (2008): Zivilität, in: HELLMANN, Gunther/SAUER, Frank/WEBER, Christian (Hg.): Die Semantik der neuen deutschen Außenpolitik. Eine Analyse des außenpolitischen Vokabulars seit Mitte der 1980er Jahre. Wiesbaden: VS Verlag, S. 172-185.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Schließlich sollte in Verbindung mit diesen Überlegungen noch ein Aspekt Erwähnung finden, der sich auf die soziale bzw. kulturelle Dimension von Emotionen bezieht. Auch wenn ich die emotionale Dimension – wie in den vorangegangen Überlegungen – u.a. auch als Schlüssel für das individuelle Empfinden und Erfahren von Identität verstehe, soll dies nicht bedeuten, dass Emotionen vordergründig als kognitive (und somit rein individuelle) Phänomene zu verstehen sind – also als eine affektive Untermalung der Narrative, die sich ausschließlich im Innenleben von Individuen abspielt. Im Gegenteil sehe ich den springenden Punkt bei der emotionalen Dimension von Identität darin, zu unterstreichen, dass Identitätsnarrative emotionale Färbungen aufweisen, die ebenso kulturell konditioniert sind. Kulturen beinhalten eben nicht „nur“ rein symbolische Bedeutungsstrukturen, sondern auch bestimmte Vorstellungen über angemessene emotionale Reaktionen auf bestimmte Stimuli. Dass beispielsweise auf empfundene Ungerechtigkeit mit Wut reagiert werden sollte, basiert im Grunde auf einem kulturellen Code. Dies betrifft die obigen Überlegungen zu emotional-normativen Abwägungsprozessen, denn dass etwa das Identitätsnarrativ „brutale Autokratie“ grundsätzlich als menschenverachtend und somit als verwerflich anzusehen ist und mit entsprechender emotionalen Vehemenz verurteilt werden sollte, ist nicht zuletzt auch eine kulturelle Vorstellung.204 Dass diese Vorstellung von vielen Individuen einer Gemeinschaft geteilt wird, fußt vor allem auf Sozialisationsprozessen innerhalb dieser Gemeinschaften, in denen damit ggf. schmerzhafte Erfahrungen in der Vergangenheit verbunden und Reaktionen auf ähnliche Vorgänge emotional kodiert werden. Kulturen sind nach dieser Lesart also in nicht unerheblichem Maße auch „Emotionskulturen“.205 Um die obigen Überlegungen nochmals im Hinblick auf außenpolitische Identität zu konkretisieren: es lassen sich eine Reihe von Beispielen anbringen, die 204 Janice Bially Mattern macht dementsprechend den Punkt, dass Emotionen als „competent practices“ verstanden werden können, also als emotionale Praktiken, die auf bestimmten intersubjektiven Vorstellungen beruhen und in dieser Funktion „angemessen“ oder eben „nicht angemessen“ ausgeführt werden können; BIALLY MATTERN, Janice (2011): A Practice Theory of Emotion for International Relations, in: ADLER, Emanuel/POULIOT, Vincent (Hg.): International Practices. Cambridge: Cambridge University Press, S. 63-86. 205 Vgl dazu SCHEVE, Christian von/ISMER, Sven (2013): Towards a Theory of Collective Emotions, in: Emotion Review 5:4, S. 406-413; dieser Zusammenhang hat beispielsweise auch in der Medizin (insb. der Psychiatrie) dazu geführt, dass sich Ansätze wie die Ethnomedizin, Ethnopsychiatrie und transkulturelle Psychiatrie etablierten, die die Bewertung von emotionalen Äußerungen (und affektiven Dysfunktionen) vor dem Hintergrund kultureller Prägungen verständlich machen sollen. Die Äußerung von Wut, Angst, Freude, etc. ist eben derart stark kulturell konditioniert, dass Therapeuten sich in einer globalisierten Welt über diese Konditionierungen bewusst sein müssen, um angemessene Therapieansätze finden zu können; vgl. dazu allgemein QUEKELBERGHE, Renaud van (1991): Klinische Ethnopsychologie. Einführung in die transkulturelle Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie. Heidelberg: Roland Asanger.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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spezifische Emotionen mit Elementen außenpolitischer Identitäten in Verbindung bringen. Insbesondere Angst206, Wut207 und Erniedrigung208sowie Traumata209 sind Emotionen, die in der Literatur bereits eingehend behandelt werden. Darüber hinaus lassen sich jedoch nach meinem Dafürhalten eine ganze Reihe weitere wichtige emotionale Befindlichkeiten mit wesentlichen Elementen außenpolitischer Identität verbinden. Auf der – wenn man so will – „konstitutiven“ Ebene außenpolitischer Identität (Wendt würde sie wahrscheinlich „ontologische“ Ebene nennen) stellen sich grundlegende Konzepte wie „Souveränität“ und „Selbstbestimmung“ nicht nur als nüchterne legale Konzepte dar - sie lassen sich darüber hinaus auch mit verschiedenen Emotionen wie Würde, Stolz und Mündigkeit verbinden. So könnte in diesem Sinne etwa eine Infragestellung von Souveränität eines außenpolitischen Akteurs von diesem als Entwürdigung gedeutet werden und als solche empfindliche Reaktionen beinhalten. Aber auch dem grundlegenden Konzept „Sicherheit“ lassen sich einige emotionale Zustände wie Angst bzw. Entspannung zuordnen.210 Des Weiteren ließen sich auf der relationalen Ebene sprich: in Konzepten wie „Freundschaft“ und „Feindschaft“, die sich auf soziale Beziehungen beziehen – ebenso starke Emotionen aufspüren, die von Wertschätzung und Respekt bis hin zu Verachtung und Hass reichen. Dass diese Bandbreite von emotionalen Zuständen einen erheblichen Einfluss auf Kooperations- und Konfrontationsdispositionen ausüben, dürfte dabei auf der Hand liegen. 3.2

Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

3.2.1 Identitätspraxis als analytisches Prisma Anschließend an die Darstellung der verschiedenen Dimensionen des Modells bliebe noch die Frage zu klären, an welcher Stelle die Dimensionen des Identitätsmodells zusammenfließen. Wie eingangs erläutert, verstehe ich das Modell als 206 BAR-TAL, Daniel (2001): Why Does Fear Override Hope in Societies Engulfed by Intractable Conflict, as It Does in the Israeli Society?, in: Political Psychology 22:3, S. 601-627. 207 HALL, Todd (2011): We will not Swallow This Bitter Fruit. Theorizing a Diplomacy of Anger, in: Security Studies 20:4, S. 521-555. 208 SAURETTE, Paul (2006): You Dissin’ Me? Humiliation and Post 9/11 Global Politics, in: Review of International Studies 32, S. 495–522; DANCHEV, Alex (2006): “Like a Dog!” Humiliation and Shame in the War on Terror, in: Alternatives 31, S. 259-283. 209 HUTCHINSON, Emma (2010): Trauma and the Politics of Emotion. Constituting Identity, Security and Community after the Bali Bombing, in: International Relations 24:1, S. 65-86. 210 Daran anschließend wies beispielsweise Neta Crawford zu Recht darauf hin, dass der klassische Realismus mit seiner Betonung auf Abschreckung und Sicherheit wesentlich auf Annahmen zu Angst basiert, CRAWFORD 2000, S. 116.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

eine Art Denkinstrument; ein „Prisma“, durch das verschiedene Dimensionen des Phänomens „außenpolitische Identität“ sichtbar gemacht werden können. Wenn wir dieses „Prisma“ zur Beobachtung außenpolitischer Identitätspraktiken einsetzen, können wir die verschiedenen kulturell-historischen, normativen, kollektiven wie auch individuellen und emotionalen Dimensionen beobachten, die in den „Lichtstrahl“ (außen-) politischer Praxis zusammenfließen. Das Konzept der Identitätspraxis verstehe ich in diesem Sinne als „Brennpunkt“ dieses Prismas, also als den Punkt, an dem alle Dimensionen von Identität zusammenfließen und so quasi „kristallisiert“ ihren Ausdruck finden. Diese These impliziert natürlich einige theoretische Prämissen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Zum einen gehe ich davon aus, dass Identität nicht nur – wie oft in der konstruktivistischen Forschung vertreten – eine Vorbedingung von Handlung ist bzw. lediglich den Möglichkeitsrahmen von außenpolitischen Handlungen absteckt, sondern darüber hinaus auch selbst als Handlung verstanden werden kann. Wie bereits in Abschnitt 3.1.2 dargelegt, verstehe ich die Synthese und aktive Verknüpfung von Identitätsnarrativen selbst als Handlung, womit die performativ-synthetische Dimension ein wesentlicher Faktor in der (Re-)Produktion von Identitätsnarrativen und sozialer Ordnung darstellt. Zudem ergibt sich die Performativität von Identität aus der grundlegenden Annahme, dass Identitäten letztlich nur in Interaktionssituationen wirklich sozial bedeutsam werden und mittels Repräsentationspraktiken in diesen Interaktionsprozessen ihren Ausdruck finden. Die Repräsentation von Identität beruht nach meinem Dafürhalten also sehr stark auf kulturell konditionierten sozialen Praktiken - in anderen Worten „Performances“ von Identitätsnarrativen – die Identitätsvorstellungen in soziale Interaktionssituationen einbringen und für den (u.a. auch wissenschaftlichen) Beobachter greifbar zeigen. Auch diese Überlegungen sind sicher keine revolutionäre Neuerung, ist doch die performative Dimension von Identität im interdisziplinären Feld der sog. „performance studies“ bereits länger betont worden und hat sich insbesondere in der Soziologie zu einem distinkten Forschungsprogramm entwickelt.211 Eine der prominentesten Konzeptionen dieser Art ist beispielsweise die Vorstellung von performativ konstituierter Geschlechtsidentität bei Judith Butler212, die sie in Bezug auf Foucaults Diskurstheorie und Austins Sprechakttheorie213 entwi-

211 Für einen besonders prominenten Beitrag in diesem Forschungskontext siehe ALEXANDER, Jeffrey/GIESEN, Bernhard/MAST, Jason (Hg.) (2006): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics and Action. Cambridge: Cambridge University Press. 212 BUTLER, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Suhrkamp. 213 AUSTIN 1972.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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ckelt. Aber auch in der Anthropologie finden sich einige Bezüge zur Performativität von Identität, etwa in der Vorstellung, dass Identität als Subjektposition im Gegensatz zu Kultur grundsätzlich handlungsbezogen zu denken ist.214 Wie bereits eingangs erwähnt, ist eine der wichtigsten theoretischen Inspirationen, auf die ich mich in dieser Arbeit beziehe, Erving Goffmans Konzeption von Performativität und Theatralität sozialer Handlung bzw. sein dramaturgischer Identitätsansatz.215 Demnach stellen „soziale Positionen“ (oder in meiner Lesart eben „Identitäten“) keine objektiven Größen oder materiellen Besitztümer dar, sondern sollten als kulturell kodifizierte „Modelle kohärenten, ausgeschmückten und klar artikulierten Verhaltens“ verstanden werden - also als etwas, das „gespielt und dargestellt werden, etwas das realisiert werden muss“.216 Übertragen auf das im letzten Abschnitt skizzierte Modell hieße das, dass Identitätsnarrative durch soziale Akteure nicht nur zu einem kohärenten Bild synthetisiert werden müssen, sondern darüber hinaus in Interaktionssituationen symbolisch repräsentiert – oder in anderen Worten „performed“ – werden müssen. Die Repräsentation bzw. „Performance“ von synthetisierten Identitätsbildern verstehe ich dabei als „Identitätspraxis“, da in diesen Repräsentationspraktiken die materiellen, kulturellen, emotionalen bzw. individuellen und kollektiven Dimensionen von Identität (im wahrsten Sinne des Wortes) „verkörpert“ zum Ausdruck kommen.217 Dabei ist die Frage, ob es sich bei Identitätsrepräsentationen – wie oftmals im Begriff „Inszenierung“ impliziert - um authentische oder nicht-authentische Darstellungen handelt, irrelevant, da Identitätspraktiken grundsätzlich kulturelle Handlungen sind, die sich immer auf einen bestimmten beanspruchten Status beziehen, und so eine bestimmte soziale Realität zumindest zu behaupten suchen.218

214 “Although culture (…) gives us a sense of who we are, identity is fundamentally the problemsolving tool for daily coping in particular environments. The individual, after all, is the action unit of culture”, FITZGERALD, Thomas (1993): Metaphors of Identity. A Culture-Communication Dialogue. Albany: State University of New York Press, S. 186. 215 GOFFMAN 1959. 216 Ebd., S. 70. 217 Rodney Bruce Hall vertritt die These, dass Identitätsbewahrung zu einer grundlegenden Konstante menschlichen Handelns gehört und spricht in diesem Kontext analog zum realistischen „will-to-power“ von „will-to-manifest-identity“ als grundlegenden Drang der Identitätsbehauptung. Die „Manifestierung“ von Identität – gewissermaßen als „Verkörperung“ bzw. „Materialisierung“ von Identitätsnarrativen würde ich in diesem Sinne als Identitätspraxis bezeichnen; vgl. HALL, Rodney Bruce (1999): National Collective Identity. Social Constructs and International Systems. New York: Columbia University Press, S. 38. 218 “Cultural performance is the social process by which actors, individually or in concert, display for others the meaning of their social situation. This meaning may or may not be one to which they themselves subjectively adhere; it is the meaning that they, as social actors, consciously or unconsciously wish to have others believe”, ALEXANDER, Jeffrey (2006): Cultural Pragmatics. Social Performance between Ritual and Strategy, in: DERS./GIESEN, Bernhard/MAST, Jason

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Den entscheidenden Punkt in Bezug auf soziale Ordnungsbildung sehe ich folglich darin, dass Identitätspraxis in Interaktionssituationen Ausdrucks- bzw. Kommunikationsmedium für Identitätsnarrative und -beziehungen - und somit letztlich für die Aushandlung politischer (internationaler) Ordnungsvorstellungen ist. Die Repräsentation von Identitätsnarrativen vermittelt – in Anlehnung an die Argumentation der letzten Abschnitte - eben nicht nur Vorstellungen des „Selbst“ eines außenpolitischen Akteurs, sondern impliziert gleichermaßen auch die Repräsentation ganzer (internationaler) Ordnung(en) und ist somit ein wichtiger Faktor der narrativen „Welterzeugung“ (bzw. Nünnings „worldmaking“219). Zudem gehe ich noch von einem weiteren fundamentalen Merkmal von Identitätspraxis aus, das sich auf ihre generelle Funktion in Situationen sozialer Interaktion bezieht: adaptive Problemlösung. Zum einen können wir Identitätspraxis zunächst ganz grundlegend als eine der wesentlichen „strukturellen Voraussetzungen“ für Interaktion als solche verstehen.220 Zum anderen kann Identitätspraxis nach meinem Dafürhalten jedoch insbesondere auch als adaptiver Mechanismus verstanden werden, der es Akteuren in Situationen alltäglicher Interaktion ermöglicht, problemadäquate Repräsentationen von Identitätsnarrativen in die Interaktion einzubringen und sich somit auf unterschiedliche Handlungskontexte anzupassen. Oder um nochmal Thomas Fitzgeralds Zitat aufzugreifen: „identity is fundamentally the problem-solving tool for daily coping in particular environments”.221 Diese Überlegungen basieren auf pragmatistisch inspirierten Grundannahmen zum Wesen menschlicher Handlung an sich, die sich grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen „Routine“ und „Krise“ bzw. zwischen habituellen und problematischen Situationen entfaltet. Im Gegensatz zu Routinesituationen, in denen Akteure auf bewährte Problemdefinitionen und -lösungen zurückgreifen können, sind Krisensituationen dadurch gekennzeichnet, dass zur Definition der Situation und zur Formulierung von Lösungsstrategien „kreative Intelligenz“ erforderlich ist, sprich: die Fähigkeit, bestehende Situationen kritisch zu durchdringen und alternative Lösungen zu „erfinden“.222 Identitätspraxis kann natürlich

219 220 221 222

(Hg.) (2006): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics and Action. Cambridge: Cambridge University Press, S. 32. NÜNNING 2010. Diesen Punkt vertritt insbesondere KRAPPMANN, Lothar [1969] (2010): Soziologische Dimensionen von Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett-Cotta (11. Auflage). FITZGERALD 1993, S. 186. “Pragmatists therefore maintain that all human action is caught in the tension between unreflected habitual action and acts of creativity. This also means that creativity here is seen as something which is performed within situations which call for solutions, and not as an unconstrained production of something new without any constitutive background in unreflected habits”, JOAS, Hans (1996): The Creativity of Action. Cambridge: Polity Press, S. 129; vgl. ferner zu den Grundprämissen des Pragmatismus HELLMANN, Gunther (2009): Beliefs as Rules for

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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auch an etablierten Repräsentationspraktiken orientieren, und diese also überwiegend reproduzieren („Routine“).223 Innovative Synthesen von Identitätsnarrativen und ihre symbolische Repräsentation verstehe ich jedoch hingegen als kreativen Akt der Anpassung an problematische Situationen. Insbesondere in Situationen, in denen Identitätsbeziehungen als prekär bzw. ungewiss wahrgenommen werden – etwa nach großen Konflikten – ist diese kreative Anpassungsleistung wesentlich zur (Wieder-)Herstellung sozialer Ordnung. Um das für diese Arbeit so wesentliche Konzept der Identitätspraxis noch etwas anschaulicher darzustellen, sollen im Folgenden jedoch noch einige Beispiele angeführt werden, die die analytische „Brille“ dieser Arbeit illustrieren.

Abbildung 1:

Sherpa Tenzing Norgay bei der Erstbesteigung des Mount Everest am 29. Mai 1953. Quelle: Royal Geographical Society

Zunächst ein Beispiel, das die Repräsentation von – im Sinne der vorausgegangenen Überlegungen „innovativen“ - Synthesen unterschiedlicher Identitätsnarrative veranschaulicht: das Foto der Erstbesteigung des Mount Everest. Auf dem Bild ist Sherpa Tenzing Norgay zu sehen, der am 29. Mai 1953 gemeinsam mit Sir Edmund Hillary als erster Mensch den Gipfel des Berges erreichte. Er hält einen Eispickel in die Höhe, an dem verschiedene Flaggen hängen: an erster Stelle die Action. Pragmatism as a Theory of Thought and Action, in: International Studies Review 11:3, 2009, S. 638-641. 223 Wobei an dieser Stelle betont werden muss, dass selbst die routinierte Repräsentation von Identität nie völlig identisch mit vorherigen Repräsentationen ist und immer eine (wenn auch nicht wahrnehmbare) individuelle Interpretation voraussetzt.

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Flagge der Vereinten Nationen, gefolgt von den Flaggen Großbritanniens, Nepals und Indiens (in dieser Reihenfolge). Tenzing Norgay, ein in Nepal aufgewachsener Sherpa, der aber bereits länger in Indien ansässig war, begleitete Edmund Hillary, einen langjährigen Bergsteiger und Bienenzüchter aus Neuseeland, auf einer britischen Expedition unter der Leitung des Colonel John Hunt. Beide erreichten den Gipfel am 29. Mai 1953 gegen 11:30 Uhr.224 Die Bedeutung dieses Ereignisses ist dabei in engster Weise an die Symbolik der „Gipfelbezwingung“ gebunden, die ganz allgemein die Konnotation des Sieges über natürliche Widrigkeiten bzw. der Herrschaft des Menschen über die Natur beinhaltet („conquest“).225 Darüber hinaus – und wohl noch bedeutsamer – impliziert sie eine wichtige Repräsentationspraxis von Souveränität und nationaler Identität.226 Die Nachricht von der Erstbesteigung wurde am selben Tag der Krönung Königin Elisabeths öffentlich verkündet und von der Presse überschwänglich als Symbol britischer Größe gefeiert, in der Times etwa als „a symbol that there are no heights or difficulties that the British people cannot overcome“227. Ein anderer Artikel deutete das Ereignis als wichtige Wegmarke im Narrativ nationaler Glorie: “seldom since Francis Drake brought the Golden Hind to anchor in Plymouth Sound has a British explorer offered to his Sovereign such a tribute of glory as Colonel John Hunt and his men are able to lay at the feet of Queen Elizabeth for her Coronation day“.228

Dieses Symbol von Souveränität und nationaler Identität wurde jedoch auch von Nepal, Indien und Neuseeland beansprucht, insbesondere im Lichte der Tatsache, dass diese Staaten kürzlich ihre Unabhängigkeit vom britischen Empire erlangt hatten. In diesem (quasi „postkolonialen“) Moment wurde die Erstbesteigung also

224 Zu deren Erinnerungen an den Verlauf der Expedition vgl. u.a. HUNT, John/HILLARY, Edmund (1953): The Ascent of Everest, in: The Geographical Journal 119: 4, S. 385-399. 225 Zumal die „Eroberung” des Everest nach der Erreichung des Nord- und Südpols noch als eine der letzten unbezwungenen Herausforderungen der Erderkundung galt. Der Gipfel wird bis heute in diesem Sinne oftmals als „dritter Pol“ bezeichnet; vgl. etwa den Bericht von Bill Ruthven, eines britischen Everest-Veteranen: “The north and south poles had been conquered by earlier generations, but we felt that Everest, "the third pole", had just been waiting for us”, Mount Everest and me. The story of one man and a mountain, The Guardian, 23. Mai 2003, http://www.theguardian.com/world/2003/may/23/everest.nepal1 , 19.12.2013. 226 CONSTANTINOU, Costas (1998): Before the Summit. Representations of Sovereignty on the Himalayas, in: Millennium 27:1, S. 23-53. 227 The TIMES, 2. Juli 1953, zit. nach CONSTANTINOU 1998, S. 24. 228 Ebd.; zit. nach STEWARD, Gordon (1995): Tenzing's Two Wrist-Watches. The Conquest of Everest and Late Imperial Culture in Britain 1921-1953, in: Past and Present 149, S. 170.

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sowohl vom Empire als auch den vormals zugehörigen „Peripherien“ als Behauptung ihrer („souveränen“) außenpolitischen Identität gebraucht.229 Die Nationalitäten von Tenzing und Hillary gerieten somit zum wichtigen Thema und die angemessene Repräsentation nationaler Identität zum Politikum. Dies wird u.a. auch an der Kontroverse um die Frage deutlich, wer mit welcher Nationalität nun wirklich als erster den Gipfel betreten habe. Der SPIEGEL berichtete entsprechend: „Eine ganz besondere Würze erhält dieser Nachrichtensalat nun durch den Streit darum, ob die Füße, die absolut als erste den Gipfel des ‚Berges der Berge‘ betraten, britischer, nepalesischer oder indischer Nationalität gewesen seien. Nepalesen und Inder sind sich zwar einig darüber, daß Tenzing - wenn auch nur Minuten - vor Hillary oben war und dem Träger der Ruhm gebühre. Aber sie können sich nicht darüber verständigen, ob dieser Tenzing - und damit seine historischen Erst-Besteigungs-Füße - nun Inder oder Nepalese ist.“230

Die Lösung dieser Problematik durch die Synthese (und Priorisierung) unterschiedlicher Identitätsnarrative – also der Vereinten Nationen an erster Stelle als Symbol der Menschheit als Ganzes, gefolgt von den nationalen Insignien der Expeditionsteilnehmer - ist im Sinne der vorausgegangenen Überlegungen eine gute Illustration für die problemadäquate Repräsentation von Identitätssynthesen, wobei sich die Problemlage ganz klar aus der emotionalen Aufladung dieser Praxis ergab: denn die „Bezwingung“ des Gipfels ist stark mit Vorstellungen von Ehre und Glorie sowie nationaler Souveränität und Würde verbunden. In seiner Biographie erinnert sich Tenzing Norgay entsprechend: „[I was] glad the UN flag was on top. For I like to think that our victory was not only for ourselves – not only for our nations – but for all men everywhere”.231 Ein weiteres Beispiel für Identitätspraktiken, das insbesondere deren starke emotionale Aufladung und potentielle Konfliktivität veranschaulicht, sind die Paraden der Protestantischen Orden in Nordirland (etwa des Oranier-Ordens oder der sog. Apprentice Boys of Derry) während der sog. „marching season“ rund um den 12. Juli („The Twelfth“). Der 12. Juli ist ein entscheidendes Datum in der Geschichte Nordirlands, hier wird die sog. Schlacht am Boyne (Battle of the Boyne) bzw. der Sieg des protestantischen Königs Wilhelm III von Oranien über seinen katholischen Gegenspieler und ehemaligen König Jakob von England zelebriert, 229 Sir George Middleton, der britische Gesandte in Indien soll diese Episode dementsprechend kommentiert haben: “It was a curious thing because empires die and go away but it doesn't happen overnight. There is a lot of confetti lying around still, and the confetti of empire was still very visible in 1953”, HANSEN, Peter (2000): Confetti of Empire. The Conquest of Everest in Nepal, India, Britain, and New Zealand, in: Comparative Studies in Society and History 42:2, S. 311. 230 Wundervolle Nachrichten, SPIEGEL 26/1953, S. 27. 231 ULLMAN, James (1955): Man on Everest. The Autobiography of Tenzing. London: George Harrap & Co, S. 271, zit. nach CONSTANTINOU 1998, S. 25 (Anm. 14).

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der im 17. Jahrhundert mit französischer und irisch-katholischer Unterstützung – letztlich erfolglos - versuchte, den Thron wiederzuerlangen. Dessen Niederlage am Boyne am 11. Juli 1690, sowie die Aufhebung der vorausgegangenen Belagerung der protestantischen Hochburg Derry 1689 (Siege of Derry), wird meist als Behauptung protestantischer politischer Autorität bzw. als Ende katholischer Vorherrschaft in (Nord-)Irland gedeutet und stellt somit einen zentralen Anfangspunkt im Identitätsnarrativ der Ulster Protestants dar. Der Tag ist gesetzlicher Feiertag in Nordirland und wird in den meisten Städten des Landes von den diversen protestantischen Ordensvereinigungen mit großen Lagerfeuern und Paraden gefeiert. Im Stile einer militärischen Parade ziehen die Mitglieder der Orden unter musikalischer Begleitung der „marching bands“ am Morgen des 12. Juli mit ihren traditionellen Insignien (meist V-förmige sog. Colarettes in Orange) und den Standarten ihrer jeweiligen Logen und anderen Bannern – oft mit Bezug auf die Schlacht am Boyne – durch die Städte.232 In Belfast verläuft der Umzug durch und entlang der verschiedenen protestantischen Stadtteile, wobei entlang der Route die verschiedenen Stadtteil-Organisationen und marching bands zum Hauptumzug dazu stoßen und sich schließlich die gesamte protestantische Gemeinschaft symbolisch im Stadtzentrum vor der City Hall vereinigt.233 Während dieser Paraden kommt das öffentliche Leben in der Stadt regelrecht zum Erliegen, zum Teil ist die Bevölkerung in den katholischen Stadtteilen durch die Paraden faktisch eingeschlossen.234 Dass es im Umfeld dieser Paraden – auch noch über 15 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen 1998 – Jahr für Jahr zu erheblichen Ausschreitungen kommt, liegt jedoch nicht vordergründig an dieser räumlichen Einschränkung, sondern an der Provokation, die die Parade für die katholische Bevölkerung an sich darstellt. Denn die Parade zielt nicht nur auf die symbolische Konstitution der protestantischen Community, sie sucht in den Augen ihrer Gegner auch deren Abgrenzung von und Vorherrschaft über die katholische Community symbolisch zu untermauern, eine Bedeutungsdimension, mit der die diese Praxis insbesondere im Verlauf des Nordirlandkonfliktes aufgeladen wurde. Nicht selten waren die mar-

232 Vgl. dazu die Bilder-Dokumentation der BBC, aus der auch das obige Bild stammt: In pictures: Northern Ireland's 12 July; http://www.bbc.co.uk/news/uk-northern-ireland-18822421. 233 Den eigentlichen Schlusspunkt bildet die Zusammenkunft auf dem „Field“, einem Park im Süden Belfasts (Barnett Demesne). Dort finden sich alle Gruppen zusammen, um vor dem Rückweg in ihre Stadtteile zu rasten. Die Atmosphäre gleicht eher einem Volksfest, dort finden auch Vorträge und andere Veranstaltungen statt. Eine detaillierte Ablaufbeschreibung zu einem traditionellen „Twelfth“ in Belfast findet sich bei JARMAN, Neil (1997): Material Conflicts. Parades and Visual Displays in Northern Ireland. Oxford: Berg, S. 101-106. 234 Ebd., S. 102; ein Umstand, der nicht nur Katholiken, sondern auch neutral gesinnte Protestanten dazu veranlasst, die „marching season“ als Urlaubszeit zu wählen und Nordirland zu verlassen; Ebd., S. 95.

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schierenden Ordens- und Bandmitglieder auch Mitglieder paramilitärischer Milizen wie der Ulster Volunteer Force (UVF) oder der Ulster Defence Association (UDA), die auch auf den Paraden die Insignien ihrer Organisationen trugen – für die irisch-katholische Seite eine gewaltige Provokation, denn aus deren Perspektive verherrlichen die Paraden somit letztlich auch die von diesen Milizen begangenen Morde an Katholiken.235

Abbildung 2:

Protestantische Parade in Belfast, Marching Season 2012. Quelle: BBC

Diese Paraden lassen sich also zunächst insofern als Identitätspraktiken verstehen, als dass sie kollektive (protestantische) Identität immer wieder neu zu behaupten suchen, sie somit also symbolisch immer wieder neu konstituieren und mit territorialen Dimensionen verbinden (Einheit der versprenkelten protestantischen Gemeinschaften in Belfast und deren Autorität über die Stadt). Allgemein gesprochen sind Paraden und Umzüge natürlich von jeher fester Bestandteil der europäischen politischen Alltagskultur, sie wurden historisch zu vielen verschiedenen Anlässen veranstaltet – sei es in Form einer religiösen Prozession, eines solennen Einzugs eines Gesandten, der Eröffnung des englischen Parlaments oder einer akademischen Promotionsfeier.236 Bereits im 18. und 19. Jahrhundert übernahmen sowohl 235 Eine Deutung, die auch insofern alles andere als abwegig ist, als auf den traditionellen Bonfires am Abend des 11. Juli üblicherweise irische Flaggen mit dem Kürzel „KAT“ mitverbrannt werden, was für „Kill All Taigs“ steht (Taigs steht im nordirischen Slang für Katholiken). 236 Prozessionen und ähnliche Praktiken lassen sich nicht nur in Europa, sondern in fast allen Kulturkreisen wiederfinden und bilden somit gewissermaßen ein Grundelement ritueller Symbolik,

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protestantisch-loyalistische wie auch irisch-katholische Vereinigungen diese Praxis, da sie sich in idealer Weise zur Behauptung kommunitarischer Interessen und somit zur Herausforderung bestehender politischer Ordnung eignete.237 Sie hat somit eine über 300-jährige Geschichte, hat sich jedoch im Kontext des Nordirlandkonflikts (der sog. „Troubles“) als Hauptartikulationsmedium von konfessionellpolitischer Identität und der Behauptung von Ansprüchen auf politische Autorität über bestimmte öffentliche Räume konserviert.238 In diesem konfliktiven Zusammenhang wurde ihre Funktion zunehmend in der Bewahrung und Behauptung der britisch-loyalistischen protestantischen Identität gegenüber der wahrgenommenen irisch-katholischen nationalistischen „Bedrohung“ wahrgenommen. Die Paraden stellten somit für die protestantischen Orden eine wesentliche Praxis zur Ausübung kultureller Traditionen und somit legitimen Verteidigung gegen eine existentielle identitäre Bedrohung dar, wovon das (bis heute sensible Motiv) des „Rechts auf Paraden“ („right to parade“) abgeleitet wird, also des fundamentalen kulturellen Rechts der Identitätsbehauptung.239 Die Brisanz dieser Praktiken findet nicht zuletzt auch in dem Umstand ihren Ausdruck, dass im Zuge des Friedensprozesses 1998 per Gesetz eigens eine Kommission eingesetzt wurde, die für die Reglementierung der Durchführung der Paraden zuständig ist (Parades Commission). Neben dem Tragen paramilitärischer Insignien sind dabei mittlerweile eine ganze Reihe von Praktiken untersagt: so etwa das Spielen bestimmter martialischer Lieder, allgemein das Spielen von Musik vor Kirchen oder Kriegsmahnmalen und dergleichen mehr.240 Sollten die Teilnehmer der Paraden diese Reglementierungen missachten, werden sie von der Polizei durch Schilder bzw. Lautsprecherdurchsagen darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich strafbar machen.241 Zudem hat die Parades Commission das Recht, die Route der Paraden festzulegen

237 238 239 240 241

vgl. STOLLBERG-RILINGER, Barbara (2013): Rituale (Historische Einführungen Bd. 16), Frankfurt: Campus, S. 121-123; sowie WELLER, Thomas (2008b): Ordnen – Gemeinschaft stiften – Ins Recht setzen. Die Funktion von Ritualen und ihr Wandel, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara/PUHLE, Matthias/GÖTZMANN, Jutta/DERS. (Hg.): Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 201. Ebd., S. 27; auch irisch-republikanische Gruppierungen bedienen sich bis heute dieser Praxis zur Kommunikation ihrer politischen Forderungen; deren Zahl ist im Vergleich zu den traditionellen protestantischen Paraden jedoch verschwindend gering. JARMAN 1997, S. 79. Die Behauptung des Rechts auf Paraden gilt somit nicht zuletzt auch als Metapher für die Verteilung politischer Macht in Nordirland, siehe JARMAN 1997, S. 122. Vgl. Parades Commission of Northern Ireland (2005): Public Processions and Related Protest Meetings Code of Conduct, http://www.paradescommission.org/fs/doc/publications/acf440b.pdf, 16.01. 2014 Wie das obige Bild aus dem Jahr 2013 zeigt; vgl. Loyalist protests: PSNI will not buckle, whatever the cost, Belfast Telegraph, 23.9.2013, http://www.belfasttelegraph.co.uk/debateni/ blogs/brian-rowan/loyalist-protests-psni-will-not-buckle-whatever-the-cost-29598192.html, 17.01.2014.

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und im Falle zu erwartender hoher Konfliktivität umzuleiten. Im Jahr 2013 machte die Kommission von diesem Recht Gebrauch und untersagte einer berüchtigten marching band aus dem gemischten Viertel Ardoyne erstmalig den Rückweg entlang des katholischen Teils ihres Viertels. Der 12. Juli dieses Jahres resultierte u.a. auch in Reaktion darauf in einer der gewalttätigsten marching seasons in Belfast seit langem.242 Wie Neil Jarman (meines Erachtens sehr überzeugend) argumentiert, können wir diese Praktiken folglich, wenn nicht als Konfliktursache, so doch zumindest insofern als Konfliktmotor verstehen, als dass sie die Trennungslinien zwischen den politischen Identitäten immer wieder aufs Neue aufbrechen lassen.243 Wie konfliktiv dieser identitäre Gegensatz nach wie vor ist, lässt sich beispielsweise an der Metapher der Belagerung von Derry/Londonderry (Siege of Derry) erkennen, die der narrative Hauptausgangspunkt der traditionellen Parade des Ordens der Apprentice Boys bildet. Bis heute verstehen militante Protestanten die Belagerung als Metapher katholischer Macht und existentieller Bedrohung für die eigene Identität, die es in aller Form abzuwehren gilt, wie man etwa an Wandmalereien in den protestantischen Vierteln der Stadt erkennen kann.244 Der Schriftzug „Londonderry Loyalists Still Under Siege“ bringt diese nach wie vor empfundene Bedrohung durch katholische Vorherrschaft zum Ausdruck. Solche Verständnisse, verkörpert durch bildliche Darstellungen in Form von Bannern oder Paraden sind somit sowohl Repräsentationen eigener Identität, gleichermaßen jedoch auch die einer als bedrohlich wahrgenommenen sozialen Ordnung, die es konfrontativ herauszufordern – und neu zu konstituieren gilt. Dies alles heißt jedoch nicht notwendigerweise, dass diese Praktiken - der Konzeption von Identitätspraktiken dieser Arbeit entsprechend - nicht auch kreativ an bestimmte Problemlagen angepasst werden können. So verleitete die Problematik dieser äußerst konfliktiven Emotionalität die Organisatoren der Paraden etwa dazu, über ein neues „Marketingkonzept“ der Veranstaltung nachzudenken, das den 12. Juli eher 242 So sprach etwa der Großmeister des Orange Order in diesem Kontext von einem „kulturellen Krieg“, Northern Ireland Orange Order leaders warn of cultural war, BBC News, 12.7.2013, http://www.bbc.co.uk/news/uk-northern-ireland-23267038, 15.1.2014; die BBC produzierte einen ausführliches Portrait dieser Band („Pride of Ardoyne“) und dem entsprechenden Konflikt; Petrol Bombs and Peace: Welcome to Belfast, BBC Documentary, 13.7.2013, http://www. bbc.co.uk/programmes/b0386lnc, 16.1.2014 243 JARMAN 1997, S. 78. 244 Allein schon der Name der Stadt ist Gegenstand langer Konflikte. Die durch Spenden britischer Handelsorganisationen errichtete Festung bildete ursprünglich die befestigten Stadtmauern, woraufhin die Stadt zu deren Ehrung in „City of Londonderry“ umbenannt wurde, bereits damals unter erheblichem Protest der (mehrheitlich katholischen) Bevölkerung. Bis heute ist dies der offizielle Name der Stadt. Da der jeweilige Name Londonderry bzw. Derry jedoch unterschiedliche politische Aussagen beinhaltet, hat sich die Bezeichnung Derry/Londonderry (bzw. „Stroke City“) eingebürgert; vgl. zum Namenskonflikt etwa: BBC Online: Court to rule on city name, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/northern_ireland/4887352.stm.

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als kulturelles Fest, statt einer konfrontativen Identitätsbehauptung darstellt. Seit einigen Jahren wird das Ereignis in diesem Sinne als „Orangefest“ beworben, um so dessen festlichen Charakter hervorzuheben und den konfliktiven Charakter abzuschwächen.245

Abbildung 3:

Protestantische Parade in Belfast. Quelle: Belfast Telegraph.

Im Sinne meiner Konzeption von Identitätspraktiken lassen sich die Paraden also als genuine Repräsentationspraktiken von spezifischen Identitätsnarrativsynthesen verstehen: sie verbinden Identitätsnarrative zu hoch spezifischen Bedeutungskonstellationen, die nur in konkreten Interaktionszusammenhängen Sinnhaftigkeit erlangen. Ein Protestant in Nordirland ist nicht mit einem Protestant etwa in der Schweiz zu vergleichen – in Nordirland verbinden sich die Narrative von Protestantismus mit monarchischem Loyalismus bzw. britischer nationaler Identität zu einem Spezifikum, dem Ulster Protestant, der sich ggf. darüber hinaus noch als Orangeman oder Vertreter der Apprentice Boys of Derry versteht. Die Grundlagen dieser Identitätsnarrative basieren auf sehr spezifischen Deutungen bestimmter historischer Ereignisse wie der Schlacht am Boyne oder die Belagerung von Derry/Londonderry, die in Kontinuität mit einer langen Konflikthistorie bis hin zu heutigen Verhältnissen gestellt werden. Die Abgrenzungslinie verläuft dabei indes gegenüber einem ebenso komplexen Identitätsnarrativ des irisch-katholischen Nationalisten, das auch eine ganz spezifische Identitätssynthese aufweist: eine Melange aus Katholizismus (nicht vergleichbar mit dem Katholizismus beispiels-

245 Vgl. BATISTA, Eva (2009): Mythical Re-Constitution of the Past. War Commemoration and Formation of Northern Irish Britishness, in: Anthropological Notebooks 15:3, S. 5-25.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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weise in Spanien o.ä.), irischer nationaler Identität und Republikanismus bzw. Nationalismus. Insofern sind die entsprechenden Identitätspraktiken auch immer Repräsentation einer bestimmten (beanspruchten) politischen Ordnung im Sinne eines spezifischen Beziehungsgeflechtes zwischen sozialen Identitäten. Da diese Identitäten mittels der o.a. Praktiken immer wieder konfrontativ (re-)artikuliert und mit der Geschichte des Konfliktes verbunden wurden, sind sie in besonderem Maße emotional aufgeladen, da sie vor dem Hintergrund der „Leidensgeschichte“ der eigenen Community gelesen werden. Für Außenstehende, denen die spezifische Bedeutung der Labels „katholisch“ vs. „protestantisch“ in diesem Kontext bzw. die Bedeutung der Paraden nicht bekannt ist, mag die Explosivität dieser Praktiken geradezu als absurd erscheinen, sie macht nur vor dem Hintergrund dieser emotional aufgeladenen Identitätsnarrative wirklich Sinn.

Abbildung 4:

Wandbild am Eingang eines protestantischen Viertels in Derry/Londonderry. Eigene Aufnahme August 2013.

Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls die emotionale Dimension von Identitätspraktiken veranschaulicht, im Gegensatz zum vorherigen Beispiel jedoch nicht so sehr deren Konfliktivität, sondern eher ihr Potential für Versöhnung bzw. Friedensstiftung akzentuiert, ist der Warschauer Kniefall von Willy Brandt am 7. Dezember 1970. Das berühmte Bild, das den knienden Bundeskanzler vor dem Mahnmal für die Opfer der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands zeigt, ging um die Welt und gilt gemeinhin als eine wichtige Wegmarke in der Entwicklung der

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deutsch-polnischen Beziehungen, sowie der gesamteuropäischen politischen Entwicklung allgemein. Es entstand im Rahmen der Reise Brandts zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages.

Abbildung 5:

Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal für die Opfer der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands am 7. Dezember 1970. Quelle: Bundesbildstelle.

Dabei sah das Protokoll eine Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten, sowie daran anschließend am sog. „Ehrenmal der Helden des Ghettos“ vor. Nachdem Brandt den Kranz an diesem Ort niederlegte, verharrte er nicht wie üblich stehend, sondern sank auf die Knie und verharrte so etwa eine halbe Minute246 - woraufhin das berühmte Bild entstand. Nach meinem Dafürhalten ist diese symbolische Geste insofern ein gutes Beispiel für eine Identitätspraxis, als dass hier alle herausgearbeiteten Merkmale darin ersichtlich werden. Zunächst stellt sie eine Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative und kultureller Ressourcen dar. Das augenfälligste Identitätsnarrativ bezieht sich auf die deutsche Schuld für Krieg und Genozid im Allgemeinen, sowie der deutschen Verantwortung für die brutale Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands im Besonderen. Brandts Geste kann in diesem Sinne gewissermaßen als Verkörperung 246 Eine detaillierte Beschreibung der Szene findet sich in dem Bericht von SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber, der der Kranzniederlegung beiwohnte; vgl. Ein Stück Heimkehr. SPIEGELReporter Hermann Schreiber mit Bundeskanzler Brandt in Warschau, in: SPIEGEL 51/1970, S. 29-30.

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der Annahme deutscher Schuld und entsprechender Bitte um Vergebung gedeutet werden. Hinzu kommt jedoch auch noch – etwas weniger augenfällig – das individuelle Identitätsnarrativ bezüglich der Person Willy Brandt selbst, das der Geste ganz wesentliche Bedeutungsdimensionen verleiht. Aufgrund seiner eigenen Biographie als ausgewiesener Nazigegner, der das Unrechtsregime der Nationalsozialisten weder gestützt noch toleriert, sondern im Gegenteil bekämpft hatte, war die symbolische Übernahme kollektiver Schuld durch Brandt umso unerwarteter – wie auch in Schreibers Bericht deutlich wird: „Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabeigewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet - dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“247

Dass also Brandts Vergangenheit als völlig unbelastet gelten kann, verleiht dieser Geste eine ganz besondere Konnotation, sie erscheint als – im wahrsten Sinne des Wortes – Repräsentation kollektiver Identität bzw. Übernahme kollektiver Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Synthese mit individuellen Identitätsnarrativen, die das diametrale Gegenteil beinhalten. Brandt individuelles Identitätsnarrativ scheint auch in der Beobachtung bzw. Verwunderung des SPIEGEL-Reporters durch, dass ein „nicht religiöser Mann“ wie Brandt sich zu einer Symbolhandlung bereitfindet, die sich wesentlich an christlichen Traditionen anlehnt – ein scheinbarer Widerspruch.248 Denn das Vorbild für die Geste des Kniefalls ließe sich sicher nicht zuletzt in der Kirchenbuße sehen, bei der der Sünder öffentlich Buße tut, in dem er – meist barfüßig und im Büßergewand – auf den Knien um göttliche Gnade bittet.249 Bereits im Mittelalter wurde dieses Ritual als Genugtuungsleistung bei der Beendigung weltlicher Konflikte vorgenommen und galt als Voraussetzung dafür, dass der Sünder in Gnade wieder in die christliche

247 Ebd., S. 29. 248 In diesem Sinne merkt Schreiber an: „Willy Brandt ist, erstens, nicht das Urbild eines religiösen Menschen. Er hat das Knien, von Haus aus, gar nicht im Repertoire“; SPIEGEL 51/1970, S. 29. 249 Dieses Ritual ist seit der Antike gängig und kennt von der abgeschwächten Form eines „Knicks“ (etwa bei Herrscherbesuchen) bis hin zur völligen Niederwerfung inkl. Kopf und Gesicht (Proskynese, etwa bei Bischofseinsetzungen) alle denkbaren Schattierungen; vgl. ALTHOFF, Gerd (2008): Das Grundvokabular der Rituale. Knien, Küssen, Thronen, Schwören, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara/PUHLE, Matthias/GÖTZMANN, Jutta/DERS. (Hg.): Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, insb. S. 150f.

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Gemeinschaft aufgenommen wurde.250 Brandt bedient sich also einer allgemeinverständlichen kulturellen Ressource – der christlichen Symbolik der Buße – um im Namen des kollektiven Akteurs Deutschland um Vergebung der Schuld zu bitten und einen Neuanfang zu ermöglichen: „Ich habe im Namen unseres Volkes Abbitte leisten wollen für ein millionenfaches Verbrechen, das im mißbrauchten deutschen Namen verübt wurde. Dies gehört mit dazu, wenn wir einen neuen Anfang setzen und eine Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließen wollen.“251

Dass diese Geste allem Anschein nach spontan war und auch für seine engsten Mitarbeiter völlig unerwartet kam,252 zudem auch jenseits jeglichen Protokolls stand, verdeutlicht gleichermaßen die situative Kreativität dieser Identitätspraxis. Ferner verdeutlicht sie jedoch auch ein weiteres wesentliches Merkmal von Identitätspraktiken: deren emotionale Dimension, die ein zentraler Bestandteil der Wirkkraft des Kniefalls darstellt.253 Dass Brandt für jene kniete, die dort (aus welchen Gründen auch immer) „nicht knien konnten“ ließe sich auch als Bezugspunkt kollektiver Katharsis deuten. Wie im Ritual der christlichen Buße angelegt, lässt sich das Bekenntnis zur Schuld als kollektive Erlösung verstehen, und gleichermaßen als die symbolische Konstitution eines „neuen“ Deutschlandbilds.254

250 Dabei waren diese Gesten immer insofern entwaffnend, als dass sie durch die Selbsterniedrigung dem Gegenüber die Möglichkeit einer harschen und ablehnenden Reaktion wenn nicht verunmöglichten, doch zumindest erschwerten, vgl. Ebd. 251 Brandt auf die Frage nach seiner Motivation für die Geste; Es wird eine Mehrheit dafür geben, SPIEGEL-Interview mit Bundeskanzler Brandt, SPIEGEL 51/1970, S. 31. 252 Obgleich Brandt in seinen Memoiren betont, dass er im Vorfeld durchaus eine „besondere“ Geste im Sinn hatte: „Meine engen Mitarbeiter waren nicht weniger überrascht als jene (...) die der Szene ferngeblieben waren, weil sie ‚Neues‘ nicht erwarteten. Ich hatte nichts geplant, aber Schloß Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“; BRANDT, Willy (1989): Erinnerungen. Frankfurt: Propyläen, S. 214. 253 Der SPIEGEL stellt in seiner Umfrage zur Angemessenheit des Kniefalls entsprechend verwundert fest: „Obwohl das Thema gefühlsbetont ist, weichen die Ansichten der Frauen kaum von denen der Männer ab“; Kniefall angemessen oder übertrieben? SPIEGEL-Umfrage über Willy Brandts Totenehrung am Ehrenmal im früheren Warschauer Getto, SPIEGEL 51/1970, S. 27. 254 Die Stuttgarter Zeitung vom 8.12.1970 kommentierte in diesem Sinne: „Von einer einfachen menschlichen Geste, die jeden erschütterte, ging ein Zwang aus, über Schuld und Sühne nachzusinnen. Selten erschien dem Chronisten der Gedenke des ‚Vaterunsers‘ sinnvoller (…) ‚Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, auch Inge Meysel erinnerte sich in der Welt am Sonntag vom 21.05.2000 entsprechend: „Ich gebe auch offen zu, dass ich (…) als ich das Bild von Willy Brandts Kniefall in Polen sah, geheult habe“; zit. nach SCHNEIDER, Christoph (2006): Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung (Historische Kulturwissenschaft Bd. 9). Konstanz: UVK, S. 232 und S. 67.

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Nicht zuletzt kommt im Kniefall als Identitätspraxis auch die Repräsentation (internationaler) politischer Ordnungsvorstellungen („worldmaking“) zum Tragen. In Brandts Geste spiegelt sich auch die Vision eines – wenn nicht vereinten, dann doch zumindest untereinander näher gerückten – Europas, das der erste Schritt in Richtung einer vertieften Zusammenarbeit für Frieden und Sicherheit darstellen solle. So sieht Brandt im Kern deutscher Identität im Grunde die „europäische Bestimmung“, wie er etwa in seiner Rede anlässlich der Annahme des Friedensnobelpreises in Oslo deutlich macht: „Ich sage hier wie zuhause: Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein. Ein guter Deutscher weiß, dass er sich einer europäischen Bestimmung nicht versagen kann. Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte. Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft.“255

Auch im Rückblick wurde diese Geste in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als Anfang vom Ende des Kalten Krieges bzw. vom Anfang einer neuen europäischen Friedensordnung interpretiert. In einer Würdigung zum 30. Jubiläum des Kniefalls zeichnete etwa Richard von Weizsäcker das Ereignis als Anfangspunkt des Narrativs der europäischen Einigung: „Die Brücke war damit gebaut. Am Horizont der Völker zeichnete sich in ersten Umrissen die Perspektive für eine neues gemeinsames Europa ab.“256 Die kreative Synthese und Repräsentation einer „neuen“ deutschen Identität durch Brandt eröffnete also Wege, neu über die Konstellation internationaler Beziehungen nachzudenken. Die Identitätspraxis wird also – wie eingangs postuliert – selbst zur kulturellen Ressource und Gegenstand der Narrativisierung kollektiver Geschichte. Es ist also sicherlich nicht übertrieben, den Kniefall als Paradebeispiel für eine Identitätspraxis zu begreifen: neben der „kreativen“ und problemadäquaten Narrativsynthese wird auch deren starke Emotionalität wie auch ihre Rolle bei der Konstitution von politischer Ordnung deutlich. Im Sinne einer Überleitung zum nächsten Abschnitt, in dem ich die methodologischen Grundannahmen einer vergleichenden Analyse von Identitätspraktiken eingehender behandeln werde, sollen an dieser Stelle nochmal kurz einige ihrer zentralen Merkmale rekapituliert werden. Ganz allgemein können wir festhalten, dass sich Identitätspraktiken in der Tat bestens dazu eignen, verschiedene performative, kulturelle und emotionale Dimensionen menschlicher Interaktion sicht255 Vortrag des Bundeskanzlers Willy Brandt am 11. Dezember 1971 in Oslo anlässlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises 1971, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/ laureates/1971/brandt-lecture-t.html, 14.05.2019. 256 Es begann in Polen. Brandts Kniefall ermöglichte die EU-Osterweiterung, ZEIT 7.12.2000, http://www.zeit.de/2000/50/200050_kniefall.xml, 15.05.2019.

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bar zu machen. Sie können als wesentliches Kommunikationsmedium für Identitätsnarrative - und somit letztlich als Instrument der Aushandlung politischer (internationaler) Ordnungsvorstellungen - verstanden werden. Da diese Narrative damit zum Teil in erheblichem Maße emotionalen „Appeal“ ausüben bzw. emotional aufgeladen sind, verleiht ihnen einen wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Konflikten, wobei sie jedoch nicht notwendigerweise immer konfliktiv sein müssen. Der springende Punkt liegt dabei m.E. in dem Umstand, dass sie sowohl das Potential zur Konfliktverschärfung als auch zur Konfliktbefriedung haben. Identitätspraktiken dienen darüber hinaus auch der adaptiven Problemlösung, insbesondere in Situationen, in denen Identitätsbeziehungen als prekär, problematisch bzw. ungewiss wahrgenommen werden. Die performative Synthese verschiedener Identitätsnarrative und die kreativen Anpassung bzw. „Erfindung“ neuer Repräsentationspraktiken kann dabei wesentlich zur (Wieder-) Herstellung sozialer Ordnung beitragen. Um einen kritischen Einwand vorweg zu nehmen: sicherlich ließen sich die in diesem Abschnitt diskutierten Beispiele auch anders konzeptualisieren. So kann man den Kniefall etwa als diplomatische Geste, die Gipfelfahne auf dem Everest als kulturelle Praxis und die protestantischen Paraden als traditionelle Rituale verstehen. All diese Konzeptualisierungen haben ihre Berechtigung, stehen jedoch in keinem Widerspruch zum Konzept der Identitätspraxis. Im Gegenteil, in einem gewissen Sinne sind alle Identitätspraktiken als „Performances“ auch Gesten. Sie sind zugleich auch immer in gewisser Weise rituell, da sie sich bestehender kulturelle Ressourcen („Traditionen“) bedienen und dabei ordnungsbildende Eigenschaften haben.257 Gesten bzw. Rituale implizieren als soziale Praktiken auch immer bestimmte Identitätsvorstellungen, sie sind jedoch nach meiner Einschätzung nicht immer Identitätspraktiken im engeren Sinne, da sie nicht alle die gezielte Repräsentation von Identitätsbeziehungen zum Ziel haben. Zudem unterstreicht der Begriff des Rituals tendenziell eher den reproduktiven Charakter von Praktiken als kulturell determinierte „Performances“, was der grundlegenden Prämisse der Identitätspraxis als kreative (Neu-)Konkretisierung kultureller Narrative eher nicht entgegenkommt.258 Die Konzeptualisierung dieser Beispiele als Identitätspraktiken eröffnet hingegen die Möglichkeit, die verschiedenen Dimensionen von

257 Barbara Stollberg-Rilinger definiert Rituale in diesem Sinne als „menschliche Handlungsabfolge (…), die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildene Wirkung besitzt“, STOLLBERG-RILINGER 2013, S. 9. 258 An dieser Stelle sei nochmal explizit darauf hingewiesen, dass die (anthropologische bzw. historische) Ritualforschung keineswegs davon ausgeht, dass Rituale soziale Bedeutungen immer nur reproduzieren bzw. keinen ordnungsbildenden Charakter haben. Mein Punkt wäre hier lediglich, dass die meisten Studien, die mit dem Ritualbegriff operieren, eher selten den

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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Identität systematisch zu beleuchten, die darin zum Ausdruck kommen. Zudem unterstreicht dieses Konzept den ordnungsbildenden Charakter in besonderem Maße und macht diese Funktion – also die stetige (Re-)Artikulation von sozialer Ordnung als Identitätsbeziehungen - in Interaktionsprozessen sichtbar. 3.2.2 Thick comparison: vergleichende dichte Beschreibung von Identitätspraktiken Nach dem das grundlegende analytische „Prisma“ dieser Arbeit - Identitätspraktiken – dargelegt wurde, bliebe noch die Frage nach der geeignetsten Methodologie zur systematischen Untersuchung von Identitätspraktiken zu klären. In diesem Abschnitt werde ich die grundlegenden Prämissen einer vergleichenden dichten Beschreibung erläutern, die ich gewissermaßen als das Herzstück einer historischethnographischen Methodologie zur Untersuchung von Identitätspraxis verstehe. Zunächst werde ich das Konzept der „dichten Beschreibung“ nach Clifford Geertz näher beleuchten, um daran anschließend auf die Herausforderungen und Möglichkeiten einer vergleichenden Anwendung dieser Methodologie zu sprechen zu kommen. Zunächst sollte die Frage diskutiert werden, inwiefern es sich bei der dichten Beschreibung tatsächlich um eine Methode im engeren Sinne handelt. Sicherlich gilt sie - gemeinhin in enger „Verwandtschaft“ mit der teilnehmenden Beobachtung gesehen - als eines der bekanntesten Instrumente der Ethnomethodologie. Wenn wir unter einer Methode jedoch ein elaboriertes Verfahren - gewissermaßen eine detaillierte Gebrauchsanweisung - zur systematischen Untersuchung von Kultur verstehen, trifft dies auf die dichte Beschreibung mitnichten zu. Im Zentrum von Geertz‘ Forschung steht die interpretative Erschließung von möglichst vielfältigen und tiefen Bedeutungsebenen sozialer Handlungen über sogenannte „dichte“ Beschreibungen. In Anlehnung an den britischen Philosophen Gilbert Ryle unterscheidet Geertz diese von „dünnen“ Beschreibungen insofern, als dass dichte Beschreibungen über die oberflächliche Beschreibungen einer Praxis hinausgehen und systematisch deren tieferliegende Bedeutungsstrukturen herausarbeiten. „Analyse“, so Geertz, sei im Grunde nichts anderes als das interpretative

„umgekehrten“ Weg - also den Wandel kultureller Strukturen über soziale Praktiken – durchdeklinieren. Im Ritualbegriff schwingen m.E. also Konnotationen mit, die meiner Konzeption von Identitätspraxis nicht unbedingt zuträglich sind.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen sowie die Bestimmung ihrer „gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“.259 Dreh- und Angelpunkt der dichten Beschreibung sei es, einen „Zugang zur Gedankenwelt der untersuchten Subjekte“ zu erschließen, sodass gewissermaßen ein „Gespräch mit ihnen“ geführt werden könne.260 Die „Dichte“ einer Beschreibung ergibt sich also folglich aus der Tiefe und Präzision dieser interpretativen Erschließungen. Diese Form der ethnographischen Interpretation versteht Geertz als eine Form der Wissensproduktion, die eigentlich keine – oder zumindest nicht unmittelbar – eine Frage von Methodik ist.261 Was sie im Kern ausmacht, ist im Grunde eine spezifische Forschungs- bzw. Geisteshaltung gegenüber dem untersuchten Gegenstand und der Produktion von ethnologischem Wissen.262 Insofern ließe sie sich eher als „Meta-Methodologie“ als einer konkreten Methode im engeren Sinne verstehen, ihr Kern liegt im Wesentlichen in der Haltung des Forschers zu seinem Untersuchungsobjekt sowie seiner Fähigkeit, eigene Vorstellungen bzw. Konzepte in einen Dialog mit dem Gegenstand treten zu lassen. Die dichte Beschreibung ist somit ein interpretativer Forschungsansatz, der eine mikrosoziologische Perspektive einnimmt – also soziale Praktiken als analytischen Ausgangpunkt der Analyse kultureller Bedeutungsstrukturen definiert. Allerdings erschöpft sie sich nicht allein in der detaillierten Beschreibung sozialer Praktiken bzw. Interaktionen. Entgegen landläufiger Annahmen strebt sie in letzter Konsequenz auch danach, Schlussfolgerungen - Geertz nennt dies „theoretische Spezifizierungen“ - über die zu untersuchende Gesellschaft anzustellen. Zum einen geht es darum, ein Begriffsinstrumentarium zu bilden und weiterzuentwickeln, das die Ergebnisse der Beobachtungen wissenschaftlich fassbar und vermittelbar macht. Zum anderen geht es jedoch letztlich auch darum, herauszuarbeiten, was das auf diese Weise produzierte Wissen im Hinblick auf ganz allgemeine (also vom unmittelbaren Forschungskontext unabhängige) gesellschaftstheoretische Fragen aussagt.263 Das Begriffsinstrumentarium des Forschers ist somit einerseits 259 GEERTZ, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: DERS.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 15. 260 Ebd., S. 35. 261 „Entscheidend ist vielmehr die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der „dichten Beschreibung“, Ebd., S. 10. 262 Vgl. WOLFF, Stephan (2000): Clifford Geertz, in: FLICK, Uwe/KARDORFF, Ernst von/ STEINKE, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg: Rowohlt, S. 86f. 263 Vgl. Ebd., S. 91; sowie GEERTZ 1987, S. 39: „Unsere Aufgabe ist eine doppelte: Sie besteht darin, Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen – das „Gesagte“ des sozialen Diskurses - , aufzudecken und zum anderen ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln, das geeignet ist, die typischen Eigenschaften dieser Strukturen (das, was sie zu dem

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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das wesentliche Instrument zur Produktion des Wissens, andererseits jedoch insofern auch der Gegenstand der Untersuchung, als dessen Bedeutung im konkret zu untersuchenden Kontext im Laufe der Beschreibung selbst zum Gegenstand wird. Oder in den Worten von Geertz: „Ein Repertoire von sehr allgemeinen, akademischen Begriffen und Begriffssystemen ‚Integration‘, ‚Rationalisierung‘, ‚Symbol‘, ‚Ideologie‘, ‚Ethos‘, ‚Revolution‘, ‚Identität‘, ‚Metapher‘, ‚Struktur‘, ‚Ritual‘, ‚Weltanschauung‘, ‚Funktion‘, ‚Heiliges‘ und natürlich ‚Kultur‘ selbst - wurde in den Korpus dichter ethnographischer Beschreibung eingewoben, in der Hoffnung, bloße Ereignisse wissenschaftlich aussagekräftig zu machen. Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle von Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.“264

Dieser Zusammenhang ist nicht ganz unwichtig, denn er verdeutlicht, dass dichte Beschreibungen eigentlich niemals vollkommen induktiv sein können, sie implizieren eine sowohl induktive als auch deduktive Logik, da in ihr vorgeformte Begriffe in der Beschreibung in einen Dialog mit der interpretativ erschlossenen „Denkwelt“ der Beobachteten treten. Daraus ergibt sich – wie eingangs erwähnt – der Anspruch, durch die Anwendung der dichten Beschreibung eine stete Weiterentwicklung des bestehenden ethnographischen Begriffsinstrumentariums zu leisten. Eine weitere für diesen Zusammenhang relevante Eigenschaft der dichten Beschreibung ist, dass sie per Definitionem niemals abgeschlossen ist - paradoxerweise wird sie nach Geertz sogar noch unabgeschlossener je tiefer und gründlicher sie ausgeführt wird.265 Das Maß ihrer „Dichte“ bzw. „Tiefe“ produziert durch immer weiter ausbuchstabierte Interpretationsebenen immer mehr Komplexität als sie abbaut, und eröffnet je tiefer sie geht auch immer weitere Anschluss- und somit auch „Anstreitmöglichkeiten“. Die so erreichte stetige Verfeinerung des ethnographischen Begriffsinstrumentariums, sowie die entsprechenden Debatten um Plausibilitäten von Interpretationen, betrachtet Geertz jedoch als den eigentlichen Fortschritt in der (kultur-)wissenschaftlichen Diskussion.266

macht, was sie sind) gegenüber anderen Determinanten menschlichen Verhaltens herauszustellen. Die Aufgabe der Theorie in der Ethnographie besteht darin, ein Vokabular bereitzustellen, in dem das Wissen, das das symbolische Handeln über sich selbst, d.h. über die Rolle der Kultur im menschlichen Leben hat, ausgedrückt werden kann.“ 264 GEERTZ 1987, S. 40. 265 „Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie“, Ebd., S. 41. 266 „Ethnologie, zumindest die deutende Ethnologie, ist eine Wissenschaft, deren Fortschritt sich weniger in einem größeren Konsens als in immer ausgefeilteren Debatten zeigt. Was sich entwickelt, ist die Präzision, mit der wir einander ärgern“, Ebd., S. 42.

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Wie genau ein auf dichter Beschreibung basiertes Untersuchungsdesign umgesetzt werden kann, ist indes von Geertz nicht spezifiziert worden und vergleichsweise offen. Im Hinblick auf die o.a. Grundgedanken der dichten Beschreibung muss eine solche Untersuchung jedoch letztlich auf ein Verfahren hinauslaufen, das eine sukzessive Verdichtung von Interpretationen situativer Beobachtung ermöglicht. An eine erste oberflächliche - bzw. „dünne Beschreibung“ – würde also eine deutende Vertiefung der Bedeutungsebenen angeschlossen, auf die wiederum die sog. „theoretischen Spezifizierungen“ folgen würden – also analytisch gehaltvolle Schlussfolgerungen über die auf diese Art und Weise gewonnenen, verdichteten Lesarten des beobachteten kulturellen Phänomens.267 Dieser Verfahrensweise wird jedoch gemeinhin eine ganze Reihe von Problematiken zugeschrieben, vor allem wenn sie konzept- bzw. theoriegeleitet und/oder vergleichend angewendet werden soll. Kritische Einwände werden dabei vor allem dahingehend geäußert, dass dichte Beschreibungen letztlich zu einem „Kontextualismus“ führen, dessen Detailreichtum einer vergleichenden Vorgehensweise mit allzu hohen „Theoretisierungsambitionen“ im Wege stehen.268 Mitunter wird die dichte Beschreibung sogar als das regelrechte Gegenteil einer vergleichenden Analyse gesehen, da das Wesen des Vergleichs – mit seinen verallgemeinernden und Komplexität reduzierenden Notwendigkeiten – eine solche Bearbeitung eines Falles ausschließe.269 Aber schließen sich dichte Beschreibung und Vergleich tatsächlich von vorneherein aus? Beruht die Diagnose der Inkompatibilität nicht eher auf einem allzu verengten Verständnis dessen, was das Wesen einer vergleichenden Perspektive ausmacht? Gängige Vorstellungen einer „vergleichenden Methode“ sind in den IB oftmals stark mit positivistischen Epistemologien verbunden, die den klassischen Königsweg der Theoretisierung in der empirischen Verifikation bzw. Falsifikation 267 Die „theoretischen Spezifizierungen“ ließen sich somit gewissermaßen mit dem Verständnis von „Erklärung“ klassisch kausal-analytischer Studien vergleichen, vgl. WOLFF 2000, S. 91. 268 “At the epistemological level, it is claimed that thick description leads, for better or worse, to contextualism. Rich information is a leading hallmark of thick descriptive qualitative research— not in the sense of pooling superficial comparable data from many places but in amassing many contextually relevant details. This richness may be seen as commendable in the context of monographs; however, it is somewhat problematic when theoretical ambitions or even comparisons are involved”, DALOZ, Jean-Pascal (2011): Thick Description, in: International Encyclopedia of Political Science. SAGE Publications, http://www.sage-ereference.com/view/intlpoliticalscience/n603.xml, 3.12.2011 269 „Comparison is a powerful conceptual mechanism, fixing attention upon the few attributes being compared and obscuring other knowledge about the case. Comparative description is the opposite of what Clifford Geertz calls “thick description”. (…) Even with major attention to the bases for comparison, they will be few, with uniqueness and complexities glossed over”, STAKE, Robert (1998): Case Studies, in: DENZIN, Norman/LINCOLN, Yvonna (Hg.): Strategies of Qualitative Inquiry. London: Sage, S. 98.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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von fallübergreifend formulierten Hypothesen sehen. Sinn und Zweck eines Vergleiches ist nach diesem Verständnis vor allem die Generierung und Überprüfung verallgemeinerbarer Hypothesen im Hinblick auf ausgewählte Variablen eines „Falles“ sowie darauf aufbauende Prognosen.270 Bezieht sich der Vergleich auf verschiedene historische Fälle, ist der Entwurf des Vergleichs dabei meist darauf ausgerichtet, einen wie auch immer gearteten linearen bzw. chronologischen Entwicklungsprozess nachzuzeichnen. Es sei an dieser Stelle jedoch betont, dass es abgesehen von dieser – zugegebenermaßen recht vereinfachten, schematischen – Darstellung natürlich durchaus auch davon abweichende, wesentlich differenziertere Vorstellungen von vergleichender Forschung - innerhalb wie außerhalb der IB – bestehen.271 Nichtsdestotrotz entspricht die dominante bzw. gängigste Vorstellung von vergleichenden Methoden in den IB bzw. der Außenpolitikforschung meiner Ansicht nach recht genau diesen oder ähnlichen Ansätzen.272 Doch nicht nur Politikwissenschaftler bzw. Außenpolitikforscher würden sich mit einer vergleichenden dichten Beschreibung schwer tun, auch unter Ethnologen ist ein solches Vorhaben durchaus nicht unstrittig. Auch wenn Klassiker der Disziplin immer darauf hingewiesen haben, dass sich Beobachtung per se nicht von vergleichenden Perspektiven trennen lässt bzw. einige Anthropologen auch einen eigenen Teilbereich in ihrer Disziplin dafür sehen,273 ist die Möglichkeit einer vergleichenden (zudem konzeptgeleiteten) ethnographischen Analyse alles andere als gängig. Dies lässt sich nach meinem Dafürhalten nicht zuletzt auch darauf zurückführen, dass auch in der ethnographisch orientierten Forschung bestimmte eingefahrene Vorstellungen über das Wesen vergleichender Forschung bestehen. 270 Klassische Beispiele für diese „Gattung“ vergleichender Forschungsdesigns finden sich etwa bei KING, Gary/KEOHANE, Robert O./VERBA, Sidney (1994): Designing Social Inquiry. Scientific Inference in Qualitative Research. Princeton University Press, insb. S. 43-46; sowie GEORGE, Alexander/BENNETT, Andrew (2004): Case Studies and Theory Development in the Social Science. Cambridge, MA: MIT Press, insb. 67-72. 271 Charles Tilly entwickelt etwa in seinem Buch „Big structures, large processes, huge comparisons“ vier verschiedene Modi des historischen Vergleichs („individualizing”, universalizing“, „encompassing“, „variation-finding“), TILLY, Charles (1984): Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons. New York: SAGE, S. 81; einen hilfreichen Überblick über verschiedene vergleichende Vorgehensweisen findet sich bei RAGIN, Charles (1987): The Comparative Method. Moving Beyond Qualitative and Quanitative Research Strategies. Berkeley: University of California Press. 272 Interessant wäre an dieser Stelle sicher die Frage, inwiefern diese Dominanz in der entsprechenden Dominanz der vergleichenden Politikwissenschaft – in der Außenpolitikforschung analog das lange Zeit dominierende Paradigma der Comparative Foreign Policy Analysis – begründet ist; diese Frage würde jedoch definitiv den Rahmen dieses Teilabschnittes sprengen. 273 Vgl. etwa RADCLIFFE-BROWN, Alfred (1951): The Comparative Method in Social Anthropology, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 81:1/2, 15-22; sowie BARNES, R.H. (1987): Anthropological Comparison, in: HOLY, Ladislav (Hg.): Comparative Anthropology. Oxford: Basil Blackwell, S. 119-134.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit ist indes von einem Ansatz inspiriert, der diesen gängigen Vorstellungen ein anderes Verständnis von Vergleich entgegensetzt – dem Ansatz der „thick comparison“, entwickelt von einer Forschungsgruppe um den deutschen Soziologen Thomas Scheffer.274 Deren grundlegende Prämisse bezieht sich auf die Überlegung, dass Vergleichbarkeit an sich keine Voraussetzung einer wissenschaftlicher Analyse, sondern im Gegenteil deren Produkt ist - also im Grunde überhaupt erst durch das wissenschaftliche Projekt produziert wird, als eine quasi natürlich vorgegebene Gegebenheit darzustellen. Statt also nach (vermeintlich) intrinsisch „vergleichbaren“ Größen zu suchen, sollte eine wissenschaftliche Analyse also zunächst jene Operationen ausbuchstabieren, die zur Produktion von Vergleichbarkeit führen – also der Konstruktion der wesentlichen Elemente des zugrunde liegenden tertium comparationis.275 Analog zu Geertz‘ Annahme, dass alle kulturellen Praktiken in ihren ganz eigenen Kontext gesetzt werden müssen, geht Scheffer also davon aus, dass an erster Stelle auch die wissenschaftliche Herstellung von Vergleichbarkeit in ihren eignen Kontext gesetzt werden muss.276 Vergleichsobjekte sind nach dieser Lesart also nicht irgendwo „auffindbar“, sie entstehen durch die „Verdichtung von Kontextualisierungen“ und die entsprechenden analytischen „Rahmungen“. Die vergleichende dichte Beschreibung nimmt diesen Prozess als einen Prozess der Bedeutungsgenerierung im wissenschaftlichen Vorgehen ernst, und vertritt dabei ein Verständnis von Vergleich als explorativen und kreativen Unterfangens.277 Im Wesentlichen geht es dabei darum, den Prozess der Herstellung der Vergleichbarkeit zwischen auf spezifische Weise konstruierten „Fällen“ und den zur Anwendung gebrachten konzeptuellen Analyseinstrumentarien transparent zu machen. In der vergleichenden Analyse selbst werden diese konzeptuellen Analyseinstrumentarien dann wiederum in den jeweiligen Kontexten des Falles „verdichtet“, also mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen. Die „Dichte“ des Vergleichs ergibt sich dann aus der analytischen Vorgehensweise selbst: 274 Die Ergebnisse der Forschungsgruppe – die sich auf die vergleichende Analyse von strafgerichtlichen Verfahren konzentrierte - liegen in einem Sammelband vor, siehe SCHEFFER, Thomas/NIEWÖHNER, Jörg (2008) (Hg.): Thick Comparison. Reviving the Ethnographic Aspiration. Leiden: Brill. 275 SCHEFFER, Thomas (2008): Creating Comparability Differently. Disassembling Ethnographic Comparison in Law-in-Action, in: Comparative Sociology 7:3, insb. S. 291ff; vgl. zudem HANNKEN-ILLJES, Kati (2008): Making a Comparative Object, in: SCHEFFER, Thomas/NIEWÖHNER, Jörg (Hg.): Thick Comparison. Reviving the Ethnographic Aspiration, S. 181-193. 276 SCHEFFER, Thomas/NIEWÖHNER, Jörg (2008b): Thickening Comparison. On the Multiple Facets of Comparability, in DIES. (Hg.): Thick Comparison. Reviving the Ethnographic Aspiration, S. 4. 277 Ebd.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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“Thickness derives from the comparative enterprise itself: its augmentation of quantitative differences and similarities, its processual and explorative character, and its demonstrations of the conditions and limits of qualitative comparability.“278

Dabei klingt bereits an, dass diese Form des Vergleichs alles andere als unproblematisch ist, ganz im Gegenteil. Durch die Verdichtung der analytischen Instrumentarien und Rahmungen in den jeweiligen Kontexten entsteht ein klares Bild der Möglichkeiten und der Schwierigkeiten von Vergleichbarkeit zwischen „Fällen“ – letztlich können sie sich in einigen Instanzen als „schwer vergleichbar“ im Sinne eines sehr hohen Kontrastes zwischen Fällen erweisen. Diese Problematik wird jedoch offensiv als Vorteil der vergleichenden dichten Beschreibung gesehen, denn die Schwierigkeiten und Probleme der Vergleiche zwischen verschiedenen sozialen Phänomenen stellt letztlich eine wertvolle Quelle des Wissens bzw. des Lernens dar, denn das Scheitern stellt hier zuvorderst ein produktives Moment der Erkenntnis dar.279 Die explorative und experimentelle Methodik der „thick comparison“ könne dabei nicht zuletzt als das qualitative Äquivalent zur Hypothesengenerierung verstanden werden.280 In einer vergleichenden dichten Beschreibung kann es also nicht darum gehen, alle relevanten Variablen von (vermeintlich „natürlich“ vergleichbaren) „Fällen“ zu vergleichen und auf diese Weise zu einer verallgemeinerbaren „Grand Theory“ zu gelangen. Durch die Kontrastierung von verschiedenen verdichteten konzeptgeleiteten Analysen werden Schlaglichter auf unterschiedliche Kontexte geworfen, in denen sowohl verallgemeinerbare als auch einzigartige Aspekte der Beobachtungen systematisch dargestellt werden können. Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse über die angewendeten theoretisch-konzeptuellen Analyseinstrumentarien – wie auch über das tertium comparationis selbst – dienen dabei der Theoretisierung des untersuchten Gegenstandes wie auch allgemeiner der Weiterentwicklung des theoretisch-konzeptuellen Repertoires – ganz im Sinne des Theorieverständnisses von Clifford Geertz. Letztlich steht die „thick comparison“ damit also zwischen empirisch und theoretisch orientierten ethnographischen Methodologien.281 Im Hinblick auf die Anwendung in dieser Arbeit bietet die an der „thick comparison“ nach Scheffer orientierte, vergleichende dichte Beschreibung also einige 278 Ebd., S. 5. 279 „We are able to learn from the problems (of comparing) and the resistances (to being compared), and not only from clear-cut solutions. Thus, we can be read as calling for ‘risking thick comparison’. Failing is one productive constituent of this mode of comparison”, SCHEFFER/NIEWÖHNER 2008b, S. 5. 280 SCHEFFER 2008, S. 288. 281 “This dialogical character places thick comparison at the forefront of empirical research and theorizing: a rhythmical interchange between observations, theoretical sources, and concepts of explication”(Herv. im Original), SCHEFFER/NIEWÖHNER 2008b, S. 10.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Vorteile: zum einen ermöglicht sie eine Erweiterung unseres Verständnisses dessen, was Vergleichbarkeit ist bzw. sein kann, indem sie gängigen (positivistisch konnotierten) Verständnissen einen gänzlich anderen Modus des Vergleichs entgegenhält. Durch den Fokus auf die Produktion von Vergleichbarkeit führt sie auch zu jener ausgeprägt starken Reflexivität, die zu Recht als großer Vorteil der Ethnographie gilt, verleiht dieser dabei jedoch auch die Möglichkeit zur systematischen Theoretisierung. Diese Theoretisierungen basieren dabei jedoch nicht auf der Unterstellung (meist ohnehin konstruierter) linearer Entwicklungen, sondern auf dem systematischen Zusammentragen von empirischen Illustrationen mit all ihren Widersprüchen und Fallstricken im Hinblick auf eine zentrale Fragestellung – im Falle dieser Arbeit zur Relevanz von Identitätspraktiken für die Konstitution sozialer bzw. „internationaler“ Ordnung. Damit ist bereits angedeutet, dass die Anwendung dieser Methodologie deutlich über Geertz‘ Ansatz hinausgeht, dem es in erster Linie um die systematische Erschließung von kulturellen Kontexten geht. Die vergleichende dichte Beschreibung versucht darüber hinaus auch Erkenntnisse zum „umgekehrten Weg“ zu liefern – also nicht nur welche kulturellen Bedeutungsstrukturen wir aus spezifischen Praktiken herauslesen können, sondern auch umgekehrt, inwiefern diese Praktiken wiederum auf die Konstellation dieser Bedeutungsstrukturen verändern können.282 3.2.3 Identitätsschauplätze: Friedenskongresse als „Bühnen“ der Identitätspraxis Bevor ich im nächsten Abschnitt auf die Auswahl der zu untersuchenden „Fälle“ zu sprechen komme, sollen in diesem Abschnitt zunächst die Vorüberlegungen dargelegt werden, die der Fokussierung auf Friedenskongresse ganz allgemein zugrunde liegen. Dabei soll in einer – wenn man so will - „kleinen historischen Ethnographie des Friedenskongresses“ verdeutlicht werden, warum diese Form diplomatischer Praxis einen idealen „Schauplatz“ für die Prämissen dieser Arbeit darstellt und welche Besonderheiten der Identitätspraxis in diesem spezifischen Kontext zu berücksichtigen sind. Getreu den o.a. Prämissen der vergleichenden dichten Beschreibung dient diese „kleine Ethnographie“ nicht zuletzt auch dazu aufzuzeigen, auf welche Weise die Vergleichbarkeit zwischen Instanzen dieses Phänomens – in diesem Fall „Identitätspraktiken“ auf „Friedenskongressen“ – in dieser Arbeit hergestellt wird. 282 So lautet eine der gängigen Kritiken an Geertz‘ Forschungsprogramm, dass er diesen „umgekehrten Weg“ nicht thematisiert bzw. dass er – obgleich er ja durchaus einen handlungsbasierten Kulturbegriff propagiert – primär den semiotischen Aspekt kultureller Handlungen akzentuiert; vgl. WOLFF 2000, S. 94.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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Die Fokussierung auf Friedenskongresse erfordert die Darlegung der Konstruktion von Vergleichbarkeit wie sie die „thick comparison“ propagiert, in ganz besonderem Maße. Denn so sehr wir bei dem Begriff „Friedenskongress“ recht schnell berühmte Bilder großer Friedenskongresse vor Augen haben - wie etwa dem Westfälischen Frieden oder dem Wiener Kongress –, so wenig können wir eigentlich von einer einheitlichen Form dieser diplomatischen Praxis ausgehen. Tatsächlich sind Friedenkongresse bzw. Friedenskonferenzen von ihrer Form her so divers und vielgestaltig wie die zu diesen Anlässen verhandelten Probleme und Konfliktfragen. Vom universalen Friedenskongress der frühen Neuzeit über die Friedenskonferenzen des beginnenden 20. Jahrhunderts bis hin zu den etwas schlichteren „peace talks“ des Kalten Krieges zeigt diese Form diplomatischer Praxis eine ganze Reihe von unterschiedlichen Ausprägungen. Wenn wir davon ausgehen, dass soziale Praktiken immer durch ihren jeweiligen politisch-kulturellen Kontext geprägt sind und überdies auch der kreativen Konkretisierung durch Akteure unterliegen, sollte dies natürlich nicht überraschen. Die Mannigfaltigkeit ihrer Ausprägung stellt jedoch vergleichend vorgehende Forscher – zumindest jene, die den o.a. positivistisch konnotierten Verständnissen von vergleichender politikwissenschaftlicher Forschung anhängen - vor einige schwierige Herausforderungen, was sicherlich auch einer der Gründe dafür sein dürfte, warum es erstaunlich wenige vergleichende Untersuchungen von Friedenskongressen in den IB wie auch in anderen Disziplinen gibt.283 Die Prämissen der „thick comparison“ bezüglich der Plausibilisierung der Herstellung von Vergleichbarkeit erweisen sich an dieser Stelle also als sehr hilfreich zur Darlegung der Faktoren die – bei aller Mannigfaltigkeit – dazu dienen, Friedenskongresse als tertium comparationis zu definieren. Ganz allgemein können Friedenskongresse als Kommunikationsforen internationaler Politik verstanden werden, in deren Kontext Repräsentanten verschiedener Akteure nach Aushandlung eines spezifischen Verhandlungssettings zusammenkommen, um vorausgegangene kriegerische Auseinandersetzungen beizulegen.284 Im kollektiven Gedächtnis sind sie als Wegmarken der Überwindung großer Konflikte und der entsprechenden Rekonfiguration internationaler Ordnung 283 Wobei sich natürlich auch einige Ausnahmen finden lassen, siehe etwa HENTIG, Hans von (1952): Der Friedensschluss. Geist und Technik einer verlorenen Kunst. Stuttgart: DVA; COHEN, Raymond/COHEN, Stuart (1974): Peace Conferences. The Formal Aspects (Jerusalem Papers on Peace Problems); OSIANDER, Andreas (1994): The States System of Europe 16401990. Peacemaking and the Conditions of International Stability. Oxford: Clarendon Press; DERS. (2004): Talking Peace. Social Science, Peace Negotiations and the Structure of Politics, in: Lesaffer, Randall (Hg.): Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One. Cambridge: Cambridge Univ. Press; 289-315. 284 „We have defined a peace conference as a forum regulated by agreed rules of procedure at which representatives of sovereign states (or of groups aspiring to that status) meet, ostensibly to settle

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

fest verankert – man denke etwa an zentrale Begriffe wie das „Westfälische Staatensystem“ oder die „Wiener Ordnung“. Dabei steht gemeinhin jedoch statt der Verhandlungsform der Verhandlungsinhalt bzw. -ergebnis im Vordergrund. Allerdings ist es gerade die Form dieser diplomatischen Praxis, die von erheblicher Bedeutung für den Ausgang der Verhandlungen ist. Oder um Henry Kissinger zu zitieren: „The way negotiations are carried out is almost as important as what is negotiated. The choreography of how one enters negotiations, what is settled first and in what is settled first and in what manner, is inseparable from the substance of negotiation.”285

Wie eingangs bereits betont wurde, variiert die Form von Friedenskongressen in historischer Perspektive jedoch erheblich. So ist die moderne Vorstellung eines Kongresses, bei dem sich die Vertreter gleichberechtigter Verhandlungspartner (meist Staaten) zu multilateralen Verhandlungen im Plenum zusammen finden jedoch – wenn überhaupt in dieser idealisierten Vorstellung – erst ab dem späten 19. Jahrhundert gängig.286 Zudem verlieren große Friedenskonferenzen und Friedenkongresse gegen Mitte bzw. Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Während von Beginn der Neuzeit im ausgehenden 15. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert der Anteil der mit Friedensverhandlungen und Friedensverträgen beigelegten Konflikte stetig anstieg, änderte sich dies mit der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Epoche des Völkerrechts.287 Mit institutionalisierten Normen der Kriegsführung bzw. institutionalisierten Foren zur Konfliktbeilegung – wie sie ja nunmehr in Gestalt etwa des UN-Sicherheitsrates bestehen - scheint sich also die Notwendigkeit großer diplomatischer Zusammenkünfte zur Friedensstiftung mehr oder weniger erübrigt zu haben. Die „goldene Zeit“ der großen Friedenskongresse scheint somit also historisch durchaus eingrenzbar bzw. vor allem auf kollektiv erinnerte Ereignisse wie „Westfalen“, „Wien“ oder „Versailles“ bezogen zu sein. Wir können also davon ausgehen, dass es sich beim hier umrissenen Konzept um eine höchst dynamische Größe handelt. Dies bedeutet nach meiner Ansicht points at dispute following previous hostility, within the framework of formal negotiations”, COHEN/COHEN 1974, S. 5. 285 Hervorhebung im Original; KISSINGER, Henry (1969): The Vietnam Negotiations, in: Foreign Affairs, S. 218, zit. nach COHEN/COHEN 1974, S. 5. 286 Vgl. DUCHHARDT, Heinz (1976): Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress (Erträge der Forschung 56). Darmstadt: WBG; sowie HAMILTON, Keith/LANGHORNE, Richard (2011): The Practice of Diplomacy. Its Evolution, Theory and Administration (2. Aufl.). London: Routledge. 287 HANKEL, Gerd (2011): Friedenskonferenzen/Friedensverträge, in: GIEßMANN, Hans/RINKE, Bernhard (Hg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS Verlag, S. 171; zu einem ähnlichen Schluss in Bezug auf Friedensverträge kommt auch FAZAL, Tanisha (2013): The Demise of Peace Treaties in Interstate Wars, in: International Organization 67:4, S. 695-724.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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jedoch nicht, dass ein Friedenskongress wie der Westfälische Frieden nicht mit einer etwas moderneren Konferenz wie etwa der Potsdamer Konferenz zu vergleichen wäre – die Frage dabei muss vielmehr lauten, welche Faktoren das tertium comparationis plausibel begründen könnten, anders formuliert: welche Faktoren diesen sehr unterschiedlichen Phänomenen gemein sind. Zum einen sehe ich Friedenskongresse gerade aufgrund ihrer hohen Heterogenität als einen idealen Fokus für eine vergleichende dichte Beschreibung, da sie sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede dieser diplomatischen Praxis zu vermitteln versprechen. Zum anderen gehe ich davon aus, dass es bei diesen Phänomenen – so unterschiedlich sie auch sein mögen – letztlich immer darum geht, Fragen internationaler Ordnung nach großen Konflikten zu verhandeln, womit Konstellationen außenpolitischer Identitäten auch zwangsläufig zum Gegenstand der Verhandlungen werden. Darüber hinaus ist bei Friedenskongressen - anders als bei anderen routinierten Zusammenkünften diplomatischer Handlungsträger - der Status der Verhandlungspartner oft nicht geklärt bzw. selbst Gegenstand der Verhandlungen, womit die Vermutung naheliegt, dass sie auch als zentrale „Arena“ der Identitätsrepräsentation und der Identitätsaushandlung zu betrachten sind. Angelehnt an Goffmans Konzeption der Interaktion bzw. der „Begegnung“ als “environments of mutual monitoring possibilities”288 können wir sie also als zentrale Kommunikationsforen in den internationalen Beziehungen verstehen, in deren Kontext mitunter „prekäre“ Identitäten im Streben um Anerkennung aufeinander treffen. Daher wäre es m.E. nicht vermessen zu behaupten, dass es sich bei Friedensverhandlungen um einen Interaktionskontext handelt, in dem außenpolitische Identität besonders sichtbar – und somit beobachtbar – wird. Im Anschluss an die Leitmetapher dieser Arbeit können wir sie also als wichtige „Bühnen“ der Identitätspraxis in den internationalen Beziehungen verstehen. Nun handelt es sich bei Friedenskongressen natürlich um eine komplexe Praxis, die auf einer ganzen Reihe unterschiedlicher „Unterpraktiken“ beruht, die wiederum in ganz unterschiedlichen (um bei der Leitmetapher zu bleiben) „Szenerien“ ausgeführt werden. Ganz allgemein können grob folgende Phasen eines Kongresses unterschieden werden:     

die Vorverhandlungen; die Ankunft der Delegationen am Verhandlungsort; die Eröffnungszeremonie; die Verhandlungen selbst; die Abschlusszeremonie, sowie daran anschließend

288 GOFFMAN, Erving (1964): The Neglected Situation. In: American Anthropologist 66, Part II, Special Issue, S. 135; sowie allgemeiner DERS. (1961): Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction. Indianapolis: Bobs-Merrill.

84 

3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

Abreise bzw. ggf. Ratifikation der Verträge im Heimatland.

Je nach historischem bzw. kulturellem Kontext kommt diesen Phasen mehr oder weniger Bedeutung zuteil, so würde etwa die Ankunft der Delegationen am Verhandlungsort ab ca. dem 19. Jahrhundert als tendenziell weniger wichtige Szenerie gelten. In der frühen Neuzeit ist diese Szenerie jedoch zentral, im Entrée eines Gesandten ließ sich außenpolitische Identität in vielfältiger Art und Weise darstellen, sei es vermittelt durch die Ausstattung der Entourage oder durch Präzedenzund Rangfolgen der Akteure untereinander. Die unterschiedliche Ausprägung der verschiedenen Szenerien auf Friedenskongressen – bzw. ihre Kontingenz - deutet bereits auf eine wichtige Besonderheit von Identitätspraktiken in diesem Kontext hin: da es sich dabei um diplomatische Praktiken handelt, sind diese ganz besonders von der spezifisch diplomatischen Kultur ihrer jeweiligen Epoche geprägt. Identitätspraktiken als Repräsentationen außenpolitischer Identität sind somit eng mit der Kultur des diplomatischen Zeremoniells verbunden, eine Praxis, die ich als Identitätspraxis par excellence verstehe, denn sie stellt eines der wichtigsten Vehikel für die symbolische Repräsentation und Behauptung außenpolitischer Identität im diplomatischen Kontext dar.289 Ganz allgemein können wir unter diplomatischem Zeremoniell die Summe aller Regeln der symbolischen Handhabe von Identitätsbeziehungen im diplomatischen Verkehr verstehen. Dazu zählen zum einen – wie am letzten Beispiel des Entrées verdeutlicht – alle rechtmäßig zu tragenden Insignien eines Gesandten (etwa die Ausstattung der Kutsche und der Entourage), zum anderen aber auch alle Begegnungsrituale zwischen diplomatischen Gesandten, sowie schließlich – und wohl am wichtigsten – Rang- und Präzedenzordnungen der Akteure untereinander.290 Insbesondere in der kulturhistorisch inspirierten Geschichtswissenschaft der internationalen Beziehungen ist das diplomatische Zeremoniell zu einem beliebten Untersuchungsobjekt avanciert. Allein über die Bedeutung des diplomatischen Zeremoniells für die Entwicklung internationaler Beziehungen in der (frühen) Neuzeit ließen sich wohl mehrere Dissertationen verfassen, da sich mittlerweile um diese Frage fast ein ganzes Forschungsfeld entfaltet. Ansätze im Kontext dieses Feldes betonen gemeinhin die soziale Funktion des Zeremoniells, vor allem in Kontexten gewohnheitsrechtlicher Verhaltensnormierung – wie es insbesondere für die internationalen Beziehungen der frühen Neuzeit zutrifft - als Aushandlungsinstrument von Akteursidentitäten und sozialer Ordnungen zu fungieren. 289 Zur sozialen Funktion des Zeremoniells allgemein vgl. HARTMANN, Jürgen (2000): Staatszeremoniell (3. Aufl.). Köln: Heymann; SCHWENGELBECK, Matthias (2007): Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert. Frankfurt: Campus; diese Thematik werde ich jedoch im Laufe der empirischen Analyse noch mehrfach aufgreifen und vertiefen. 290 Vgl. HARTMANN 2000, S. 251

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

85

Nach dieser Lesart stellt das Zeremoniell letztlich also einen wesentlichen Faktor in der sukzessiven Verrechtlichung des diplomatischen Verkehrs und überhaupt in der Entwicklung der Konstellation internationaler Beziehungen im Sinne spezifischer Identitätskonstellationen dar.291 Im diplomatischen Zeremoniell zeigen sich insofern alle in den letzten Abschnitten herausgearbeitete Merkmale einer Identitätspraxis: durch zeremonielle Formen werden nicht nur Vorstellungen des „Selbst“ eines außenpolitischen Akteurs im diplomatischen Verkehr performativ vermittelt, sie implizieren gleichermaßen die Repräsentation ganzer sozialer (internationaler) Ordnung(en) und können somit als ein wichtiger Faktor der „Welterzeugung“ betrachtet werden. Da sie durch die Repräsentation sozialer Ordnung auch immer Identitätsrelationen – und dabei ggf. auch Bilder von Über- bzw. Unterlegenheit repräsentieren - zeigen sie auch die o.g. konzeptualisierte, potentiell konfliktive Emotionalität auf.292 Aller-

291 Für einen sehr hilfreichen Einstieg in den Forschungsstand siehe STOLLBERG-RILINGER, Barbara (2000): Zeremoniell – Ritual – Symbol. Neuere Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27, S. 389-405; einen hervorragenden Überblick über die frühneuzeitliche wissenschaftliche Disziplin der Zeremonialwissenschaft findet sich bei VEC, Miloš (1998): Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation (Ius Commune Sonderheft 106); vgl. ferner ROOSEN, William (1980): Early Modern Diplomatic Ceremonial. A Systems Approach, in: The Journal of Modern History 52:3, S. 452-476; sowie KRISCHER, André (2008): Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: NIEDERKORN, Jan-Paul/ KAUZ, Ralf/ROTA, Giorio (Hg.): Diplomatische Praxis und Zeremoniell in Europa und dem Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, Wien: ÖAW, S. 1-33; LINNEMANN, Dorothee (2008): Die Bildlichkeit von Friedenskongressen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Zeremonialdarstellung und diplomatischer Praxis, in: Ebd., S. 155-186. 292 Ein vielzitiertes Beispiel, das diese Konfliktivität veranschaulicht, ist der sogenannte „contest for precedence“ aus dem Jahre 1661, ein Vorfall, bei dem es im Rahmen des Einzuges des schwedischen Botschafters in London zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der französischen und spanischen Gesandtschaft über den rechtmäßigen „Vortritt“ kam. Diese Auseinandersetzung geschah freilich im Kontext einer bereits länger schwelenden Rivalität bzw. Präzedenzstreitigkeit zwischen Frankreich und Spanien. Ludwig der XIV. nahm diese (willkommene) Auseinandersetzung zum Anlass, den Spaniern mit Krieg zu drohen, sollten sie sich nicht formell entschuldigen und den französischen Präzedenzanspruch prinzipiell akzeptieren. Dies geschah im Rahmen einer eigens dafür entsandten Mission, wobei diese Szenerie später in einem Relief mit dem Namen La Préséance de la France reconnue par l'Espagne über der Escalier des Ambassadeurs im Schloss von Versailles verewigt wurde – eine sehr bildliche Warnung an all jene, die diesen Status in Zweifel ziehen sollten. Dieses Relief ist im heutigen Schloss aufgrund mehrerer Umbauten jedoch nicht mehr erhalten. Detaillierte Beschreibungen des Konfliktfalles finden sich in verschiedenen englischen historischen Tagebüchern, so etwa in Robert Chambers’ “Book of Days“ (1864), http://www.thebookofdays.com/months/sept/30.htm; sowie im Tagebuch des Samuel Peyps, http://www.pepysdiary.com/archive/1661/09/30/, 14.05.2019.

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3 Zweiter Akt: Theoretisch-Methodologischer Rahmen

dings können zeremonielle Formen in Krisensituationen auch der adaptiven Problemlösung dienen, insbesondere in Situationen, in denen Identitätsbeziehungen als prekär, problematisch bzw. ungewiss wahrgenommen werden. Sie halten etablierte Praktiken zur Signalisierung eines bestimmten Status bereit, mittels derer Akteure mit „prekären“ Identitäten ihre Ansprüche behaupten. Die auf diese Art und Weise sich ergebende, kreative Anpassung bzw. „Erfindung“ neuer Repräsentationspraktiken ist dabei wesentlich bei der (Weiter-)Entwicklung sozialer Ordnung und deren grundlegenden normativen Strukturen. Bei aller Betonung des Bezugs von Identitätspraktiken auf das diplomatische Zeremoniell sollte jedoch genauso betont werden, dass sich dessen Rolle im Laufe der Zeit erheblich wandelt. Mit der zunehmenden Kodifizierung internationalen Rechts im Allgemeinen bzw. des diplomatischen Verkehrs im Besonderen293 verschiebt sich die Bedeutung des Zeremoniells von früher stark rechtlichen – bzw. rechtsstiftenden - Verständnissen hin zur Bedeutungssphäre der feierlich-förmlichen zwischenstaatlichen Etikette. Der Bedeutungswandel des Zeremoniells im Beginnenden 19. Jahrhundert steht dabei natürlich in einem breiteren politischkulturellen Kontext, den man ganz allgemein mit den Stichwörtern Verrechtlichung, Entpersonalisierung von Herrschaftsverständnissen, sowie des Niedergangs frühneuzeitlicher Hofkultur und politischer Theorie des Absolutismus fassen könnte.294 Dieser Zusammenhang verdeutlicht dabei jedoch wiederum, was für eine fruchtbare Perspektive ein Fokus auf Praktiken zur Analyse (außen-) politischer Identität und den jeweils zugrundeliegenden kulturellen Narrativen bieten kann. Für den Zweck dieser Arbeit erscheint es mir also sinnvoll, zeremonielle Praktiken grundsätzlich als Identitätspraxis zu konzeptualisieren und nicht umgekehrt Identitätspraktiken grundsätzlich als Zeremoniell. Im diplomatischen Kontext sind Identitätspraktiken sicher häufig auf zeremonielle Formen bezogen, nicht alle dieser Praktiken müssen jedoch Zeremoniell im engeren Sinne darstellen – wenn wir etwa wieder an das Beispiel des Kniefalls von Warschau denken, so bezieht diese Geste ihre Bedeutung eben auch aus dem Umstand, außerhalb jeglicher protokollarischer Form gestanden zu haben. Sicherlich kennt das Zeremoniell 293 Die lange Zeit immer wieder auftretenden Präzedenz- und Rangstreitigkeiten zwischen Gesandtschaften – ganz besonders virulent auf Friedenskongressen - wurden zunehmend als Ärgernis und Behinderung erfolgreicher diplomatischer Arbeit gesehen. Mit der Wiener Kongressakte von 1815 – sowie dem daran anschließenden Reglement des Aachener Kongresses 1818 – wurden die Gesandtschaftsränge sowie deren zeremonielle Rechte schließlich in einem Anhang zur Wiener Kongressakte reguliert („Reglement über den Rang zwischen den diplomatischen Agenten“); vgl. detaillierter dazu STARK URRESTARAZU, Ursula (2015b): “Vienna Calling”. Diplomacy and the Ordering of Intercommunal Relations at the Congress of Vienna, in: The Hague Journal of Diplomacy 10:3, S. 231-260. 294 Vgl. VEC 1998, S. 406.

3.2 Methodologischer Rahmen: vergleichende ethnographische Analyse von Identitätspraktiken

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auch Abweichungen, mehr noch, Transgressionen des Zeremoniells wurden ganz besonders gerne genutzt, um Statusansprüche zu markieren, an- bzw. abzulehnen. Dennoch erscheint mir ein Analysefokus auf ausschließlich zeremonielle Formen zu verengt, da diese Fokussierung anders gelagerte Repräsentationspraktiken ausblenden würde. Eine andere Möglichkeit, diese Formen etwas breiter zu konzeptualisieren wäre, sie unter dem Begriff des „diplomatic signalling“ zu fassen, womit - insbesondere von jenen Ansätzen, die von Christer Jönsson inspiriert sind - alle symbolischen Gesten und Akte im diplomatischen Verkehr bezeichnet werden.295 Im Hinblick auf die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit sehe ich eine Konzeptualisierung all dieser Phänomene als Identitätspraxis jedoch als die gewinnbringendste Perspektive, da sie zum einen flexibel genug ist, um unterschiedliche Arten der Identitätsrepräsentation zu erfassen, dabei jedoch konkret genug ist, um Aussagen bezüglich der Frage nach der Konstitution internationaler Ordnung durch Identitätsrepräsentation systematisch nachzugehen.

295 JÖNSSON, Christer (1996): Diplomatic Signalling in the Television Age, in: The Harvard International Journal of Press/Politics 1:3, S. 24-40; DERS./HALL, Martin (2003): Communication. An Essential Aspect of Diplomacy, in: International Studies Perspectives 4, S. 195-210; sowie DIES. (2005): Essence of Diplomacy, New York: Palgrave, insb. S. 75-82.

4

Intermezzo: Fallauswahl und Quellen

Bevor ich zum empirischen Teil dieser Arbeit übergehe, sollen im Folgenden die Überlegungen dargelegt werden, die der konkreten Fall- bzw. Quellenauswahl zugrunde liegen. Denn im Sinne der „thick comparison“ sind es nicht nur die Vergleichskriterien, deren Konstruktion transparent gemacht werden sollen, sondern auch und besonders die Auswahl der Objekte, die unter Zuhilfenahme spezifischer Quellen bearbeitet werden sollen. Wenn wir die im letzten Abschnitt dargelegte These teilen, dass Friedenskongresse als Überwindungsmomente großer Konflikte wesentliche Wegmarken der Rekonfiguration internationaler Ordnung darstellen, macht es für die Zwecke dieser Arbeit Sinn, sich auf solche in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der Forschung besonders einschlägige Wegmarken zu fokussieren. Dieser Überlegung folgend wird sich die empirische Analyse auf drei große Friedenskongresse konzentrieren, die jeweils am Ende epochaler Konflikte stehen und gemeinhin als große „ordnungsstiftende“ Kongresse gelten: der Westfälische Friedenskongress (1648), der Wiener Kongress (1815) sowie die Pariser Friedenskonferenz (1919). Getreu der im letzten Abschnitt diskutierten Annahme, dass diese Kongresse zentrale Kommunikationsforen in den internationalen Beziehungen darstellten, in deren Kontext mitunter „prekäre“ Identitäten im Streben um Anerkennung aufeinander trafen, erscheinen diese „Fälle“ für meine grundlegende Fragestellung – die Konstitution internationaler Ordnung durch Identitätspraxis – besonders signifikant. Mit der Auswahl dieser „epochalen“ Kongresse erhoffe ich mir folglich, die grundlegende Fragestellung anhand der „Denkinstrumente“ des theoretisch-methodologischen Rahmens besonders deutlich herausarbeiten zu können. Im Sinne der Annahmen der thick comparison kann und soll es dabei freilich nicht darum gehen, (vermeintlich) lineare Entwicklungen zwischen den Fällen nachzuzeichnen. In der vergleichenden Anwendung des konzeptuellen Analyseinstrumentariums der Arbeit - dichten Beschreibungen von Identitätspraktiken im Rahmen spezifischer „Szenerien“ der Kongresse - sollen (wie in Abschnitt 3.2.3 beschrieben) diese Instrumentarien in den jeweiligen Kontexten des Falles „verdichtet“, also mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen und schließlich im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung der Arbeit pointiert diskutiert werden. Damit stellen die „Fälle“ drei Illustrationen zum konstitutiven Verhältnis zwi-

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4 Intermezzo: Fallauswahl und Quellen

schen internationaler Ordnung und Identitätspraxis dar, die sowohl verallgemeinernde als auch partikulare, fallspezifische Aussagen zu diesem Verhältnis erlauben. Die geeignete Quellenauswahl stellt bei dieser Fallauswahl – mit Fällen die sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken – natürlich eine Herausforderung dar, da sich mit einer so großen Zeitspanne auch ein schier unüberbrückbares kulturelles Spektrum unterschiedlicher politischer Kommunikation und Repräsentationskultur eröffnet. Die einzige Lösung für diese Problematik kann daher nur in einer „eklektischen“ Quellenauswahl bestehen, die einerseits bemüht ist, durch die Aufnahme spezifischer Quellenarten unterschiedlichen politisch-kulturellen Kontexten gerecht zu werden, andererseits jedoch (zumindest ansatzweise) systematisch ähnliche Quellengattungen in den Blick nimmt. In letzterer Hinsicht sollen dabei vor allem Augenzeugenberichte der beschriebenen Szenen herangezogen werden, etwa in Form von Diarien oder Memoiren bzw. Gesandtschaftsberichten der beteiligten Diplomaten, die für die meisten Friedenskongresse vorliegen. Was kulturspezifische Quellen betrifft, so kommen in den verschiedenen Fällen vor allem unterschiedliche Gattungen von Kommunikationsmedien zum Tragen – im Fall des Westfälischen Friedens etwa Flugblätter, in den späteren Fällen eher Zeitungsberichte u.ä. Aber auch frühneuzeitliche „Weltchroniken“ oder (kulturspezifische) Fachliteratur wie etwa die zeremonialwissenschaftlichen Werke fallen in diese Kategorie. Angesichts der symbolisch-visuellen Dimension von Identitätspraktiken soll zudem auch verfügbares Bildmaterial herangezogen werden, das sich je nach Epoche/Fall indes erheblich unterscheiden kann. Im etwas zeitgenössischeren Fall (1919) verfügen wir über umfangreiches Foto- bzw. Filmmaterial, das jedoch gleichermaßen durch Zeichnungen bzw. gemalte Bildnisse komplementiert werden soll. Für den Westfälischen Frieden sind insbesondere die Bildnisse Gerard Ter Borchs von Interesse (als Mitglied der niederländischen und später spanischen Gesandtschaft ebenfalls Augenzeuge); vereinzelte Zeichnungen von Verhandlungssettings geben überdies Auskunft über die Abläufe und „Choreographien“ verschiedener Kongressszenerien. Dieser „eklektische Quellenmix“ verbindet also Perspektiven, die das Geschehene auf sehr unterschiedliche Art und Weise und auf unterschiedlichen Ebenen „repräsentieren“ und erfordert somit – ganz im Sine ethnographischer Verfahren – eine sehr hohe Reflexivität des Forschers. Gerade durch diese erforderte hohe Reflexivität sowie vielschichtige Aussagekraft der unterschiedlichen Quellen verspreche ich mir jedoch einen ebenso komplexen und vielschichtigen Erkenntnisgewinn im Sinne der Prämissen der thick comparison.

5

Dritter Akt: Empirische Analyse

5.1

„Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

5.1.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung Der Westfälische Frieden gilt in den IB in vielerlei Hinsicht als einer der großen Meilensteine in der Entwicklung internationaler Beziehungen bzw. als ihr eigentlicher disziplinärer Gründungsmythos: Generationen von Studenten werden mit dem disziplinären Allgemeinplatz ausgebildet, den Beginn der modernen Staatenwelt – und somit genuin „internationaler“ Beziehungen - auf das Jahr 1648 zu datieren. Die in diesem Jahr abgeschlossenen Westfälischen Friedensverträge, so dessen Grundannahme, begründen erstmals eine Ordnung - entsprechend „Westfälisches System“ genannt -, die auf Unabhängigkeit und Gleichrangigkeit von „souveränen Staaten“ basiert und so an die Stelle der vormals auf hierarchischen Prinzipien gründende europäische Ordnung tritt.296 Dieser Allgemeinplatz ist freilich sowohl von Historikern der internationalen Beziehungen297 als auch von historisch informierten IB-Vertretern298 mehrfach unter Beschuss geraten, dennoch beweist das „Westfälische System“ bemerkenswerte Beharrlichkeit und kann – bei aller Kritik - nach wie vor als zentrale Denkfigur der Disziplin gelten. Selten wird jedoch in Studien, die vom „westfälischen Staatensystems“ als Richtgröße ausgehen, eine Analyse der einzelnen Vertragsinhalte oder – noch seltener – der konkreten Vorgänge auf dem Westfälischen Friedenskongress mitreflektiert; entsprechende Charakterisierungen bleiben in den meisten Fällen (wenn überhaupt) schematisch. Die Frage warum eine internationale Ordnung gleichberechtigter souve-

296 Dazu ließen sich etliche Lehrbücher zitieren; vgl. für ein klassisches Werk, dass die Entwicklung internationaler Beziehungen anhand großer Konflikte bzw. Friedensschlüsse nachzeichnet HOLSTI, Kalevi (1991): Peace and War. Armed Conflict and International Order 1648-1989. Cambridge: Cambridge University Press; zu diesem spezifischen Argument S. 25, 34. 297 DUCHHARDT, Heinz (1999): „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269:2, S. 305-315. 298 OSIANDER, Andreas (2001a): Sovereignty, International Relations and the Westphalian Myth, in: International Organization 55:2, S. 251-287; DERS. (2001b): Before Sovereignty. Society and Politics in Ancien Régime Europe, in: Review of International Studies 27, S. 119-145; KRASNER, Stephen (1996): Compromising Westphalia, in: International Security 20, S. 115151.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

räner Staaten in diesem Sinne distinktiv „westfälisch“ sein soll, wird somit bestenfalls zur disziplinären Konventionsfrage und ist – wie ein genauerer Blick auf den Kongress offenbart – historisch mit großen Fragezeichen zu versehen, um nicht zu sagen: schlichtweg falsch. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die häufigsten Kritiken am Begriff des „Westfälischen Systems“ auf die unzureichende Reflektion des Prozesscharakters der Entwicklung von Staatlichkeit,299 sowie auf eine (historisch fragwürdige) polarisierte Gegenüberstellung von „Hierarchie“ vs. „Anarchie“ beziehen,300 sollte der Fall 1648 für eine IB-Arbeit, die die Konstitution von internationaler Ordnung durch Identitätspraxis zum zentralen Anliegen hat, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Kritik bestehender disziplinärer Konventionen und „Gründungsmythen“ besonders interessant erscheinen. Um die konkreten Vorgänge und Praktiken auf dem Westfälischen Friedenskongress jedoch angemessen - vor allem im Sinne der Methodik dieser Arbeit: „dicht“ - beschreiben zu können, sollte zunächst eine Kontextualisierung des Kongresses in den politisch-historischen wie auch kulturellen Rahmenbedingungen der Epoche erfolgen. Neben der allgemeinen (und recht banalen) Feststellung, dass ein angemessenes Verständnis eines Friedenschlusses zunächst das Verständnis des vorausgegangenen Konfliktes voraussetzt, ist es jedoch insbesondere das Verständnis wesentlicher Merkmale der – modernen Lesern recht fremden - frühneuzeitlichen politischen Kultur, das für das Verständnis der Konstitution internationaler Ordnung auf dem Westfälischen Friedenskongress essentiell ist. In diesem Teilkapitel werde ich daher (insbesondere im Vergleich zu den etwas „moderneren“ Fallbeispielen dieser Arbeit) etwas weiter ausholen. Im Folgenden sollen also zunächst einige Grundtendenzen der „internationalen“ Beziehungen in der Frühen Neuzeit, ihrer von der Forschung konstatierten „Bellizität“, sowie einige allgemeine Grundzüge frühneuzeitlicher politischer Kultur diskutiert werden. Als eines der wesentlichsten Merkmale europäischer Politik in der Frühen Neuzeit gilt in der historischen Forschung meist ihre Friedlosigkeit bzw. „Bellizität“. Insbesondere für das 16. und das „eiserne“ 17. Jahrhundert301 wird in der einschlägigen Literatur eine konzentrierte Anhäufung von Spannungen und Konflikten und damit eine ausgeprägte „Kriegsverdichtung“ bzw. Disposition zur gewaltsamen Konfliktaustragung konstatiert.302 Nach vergleichenden europäischen Be-

299 DUCHHARDT 1999, insb. S. 308. 300 OSIANDER 2001a, S. 284. 301 ASCH, Ronald (2001): Einleitung: Krieg und Frieden. Das Reich und Europa im 17. Jahrhundert, in: DERS./VOSS, Wulf Eckart/WREDE, Martin (Hg.): Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. München: Wilhelm Fink, S. 13. 302 BURKHARDT, Johannes (1992): Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt: Suhrkamp, insb. S.10ff; SCHILLING, Heinz (1998): Der Westfälische Friede und das neuzeitliche Profil Europas, in:

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

93

rechnungen befanden sich die elf größten Mächte in Europa im 16. und 17. Jahrhundert im Durchschnitt mehr als die Hälfe der Zeit (60%) im Kriegszustand.303 Die historische Friedensforschung hat dieses Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus beleuchtet. In Auseinandersetzung mit den Thesen Ekkehard Krippendorffs - der diese Bellizität in erster Linie als Ausdruck entstehender Staatlichkeit bzw. des Gewaltmonopols als „organisierte Gewalttätigkeit nach innen und außen“ sah304 - entwickelte Johannes Burkhardt seine prominente Theorie der frühneuzeitlichen Bellizität,305 die dieses Phänomen im Gegensatz zu Krippendorff nicht als Ausdruck kriegsbegünstigender Staatlichkeit in Europa, sondern im Gegenteil, eher als Resultat defizitärer Staatlichkeit versteht. Die Kriege des 17. Jahrhunderts stellen sich vor diesem Hintergrund nicht als Auseinandersetzungen konkurrierender Staaten, sondern als „Staatenbildungskriege“ dar. Burkhardt definiert dabei drei wesentliche strukturelle Defizite frühneuzeitlicher Staatlichkeit, die diese Bellizität begründeten: i) es bestand keine Gleichheit unter den Akteuren („Egalitätsdefizit“); ii) die Akteure waren institutionell unzureichend gefestigt („Institutionalisierungsdefizit“), und iii) das „Staatliche“ besaß geringe Autonomie gegenüber anderer Sphären wie Religion und Wirtschaft („Autonomiedefizit“).306 Herrschaft war zudem in hohem Maße personalisiert, wodurch private Belange der Dynastie – oftmals eine übersteigerte Disposition zur Kriegsführung als „persönliches“ Emblem des Fürsten - mit dem „öffentlichen“ Interesse der politischen Gemeinschaft verschmolzen.307 Auch wenn man diese Darlegung „defizitärer Staatlichkeit“ in einigen Punkten als zu teleologisch kritisieren mag – sie basiert ja letztlich darauf, kontingente historische Phänomene im Hinblick auf den Staat als notwendiges Endziel politischer Entwicklungen, quasi als „Ende der Geschichte“, zu betrachten -, die Burkhardtsche Typologie struktureller Defizite frühneuzeitlicher Staatlichkeit erweist sich an dieser Stelle zumindest als Orientierungshilfe für die Charakterisierung politischer Kultur in der Frühen Neuzeit als hilfreich. Denn als eng mit den

303 304 305 306 307

DUCHHARDT, Heinz (Hg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte. München: Oldenbourg, S. 5ff. BURKHARDT 1992, S. 9. KRIPPENDORFF, Ekkehard (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt: Suhrkamp; hier zitiert nach BURKHARDT 1992, S. 22. BURKHARDT, Johannes (1994): Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24, S. 509-574. BURKHARDT 1994; 1992, insb. S. 26ff; PAULMANN, Johannes (2000): Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg. Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh; S. 31ff. PAULMANN 2001, S. 35. Die These der verstärkten Disposition zur Kriegsführung absolutistischer Fürsten geht zurück auf KUNISCH, Johannes (1987): La guerre - c'est moi! Zum Problem der Staatenkonflikte im Zeitalter des Absolutismus, in: Zeitschrift für historische Forschung 14, S. 407-438.

94

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

„Staatsbildungskonflikten“ bzw. dem Burkhardtschen „Autonomiedefizit“ verzahnt ließe sich ein weiteres gesellschaftsdurchdringendes Element frühneuzeitlicher Politik verstehen: die „Konfessionalisierung“. Voraussetzung dieses Phänomens war, dass Staat, Politik und Religion in der vormodernen Gesellschaft sehr stark verzahnt – um nicht zu sagen: ohne einander nicht denkbar – waren. Religion und Kirche waren vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher politischer Kultur keine vom politischen Gemeinwesen getrennten Teilsysteme, sondern zentrale Achsen von Staat und Gesellschaft.308 Seit der Glaubensspaltung im Zuge der Reformation ergab sich infolgedessen eine Dynamik der Konfessionsbildung bzw. Konfessionalisierung, in dessen Kontext sich drei große Konfessionskirchen formierten (Lutheraner, Reformierte, Katholiken), die ihre Identität nach und nach über die Praxis der sog. Glaubensbekenntnisse definierten und voneinander abgrenzten. Diese Dynamik drängte politische Akteure gewissermaßen dazu, sich einem dieser Glaubensbekenntnisse anzuschließen bzw. später die tradierten Rechte ihrer Konfessionen zu verteidigen.309 „Konfessionen“ waren vor diesem Hintergrund jedoch nicht lediglich individuelle Glaubensüberzeugungen, sondern besaßen auch institutionelle Dimensionen: einerseits zur Begründung der religiösen Organisation politischer Gemeinschaften („Kirchen“); im Hinblick auf die Untrennbarkeit des politischen Gemeinwesens von religiösen Fragen besaßen sie jedoch auch „staatstragende“ Dimensionen. Die Konfession bzw. konfessionelle Entwicklung des jeweiligen Gemeinwesens stellte ein wichtiges Identitätsnarrativ dar, das sich konstitutiv auf die politische Gemeinschaftsbildung auswirkte: „Die werdenden Staaten wählten aus dem Angebot der Konfessionen eine zur Identitätsverstärkung aus und betrieben über die Kirchenverfassung unter dem Begriff der ‚Ordnung‘ die soziale Disziplinierung der Untertanen.“310 So integrierend bzw. disziplinierend sich die Konfessionalisierung in diesem Sinne nach innen auswirkte, so konfliktiv wirkte sie sich jedoch gleichermaßen nach außen aus, denn alle drei Konfessionen beanspruchten im Kern das Alleinerbe der christlichen Kirche und deren „wahre“ Glaubenslehre. Eine konfliktive Dynamik der religiösen Feindbildpropaganda so-

308 SCHILLING, Heinz (1988): Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246:1, S. 145; sowie DERS. 1998, S. 8f. 309 Bekannte Höhepunkte dieser Entwicklung stellen u.a. das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) 1530, der Augsburger Religionsfrieden 1555, sowie später die Jubiläen der Reformation, sowie als Höhepunkt der konfliktiven Entwicklung 1608/1609 die Bildung der sich gegenüberstehenden protestantischen Union und katholischen Liga im Heiligen Römischen Reich dar. 310 BURKHARDT 1992, S. 140.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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wie Fronten- und Bündnisbildung waren die Folge – wodurch den „zwischenstaatlichen“ Beziehungen in der Frühen Neuzeit gewissermaßen eine „strukturelle Intoleranz“ inhärent war.311 Diese Dynamik sollte schließlich einen jener Faktoren darstellen, die letztlich den „Krieg aller Kriege“,312 den Dreißigjährigen Krieg, anfeuerten. Ganz im Sinne der frühneuzeitlichen Bellizität bzw. „Kriegsverdichtung“ ließe sich dieser Krieg eigentlich als eine Verdichtung und Verzahnung verschiedener Teilkonflikte verstehen. Seinen manifesten Anfang nahm er 1618 mit einer bewaffneten Erhebung der böhmischen Stände gegen ihren österreichisch-habsburgischen Landesherren, wobei diese schließlich jedoch – im sog. „Böhmisch-Pfälzischen Krieg“ (16181623) - unter dem zum neuen böhmischen König gewählten Kurfürsten von der Pfalz eine Niederlage erlitten. Es folgte eine Besetzung seiner Erblande durch Spanien und der katholischen Liga im Auftrag des Kaisers. Parallel dazu flammte 1621 nach einem 12-jährigen Waffenstillstand der (eigentlich wesentlich längere), sog. „Achtzigjährige Krieg“ um die Unabhängigkeit der spanischen Niederlande wieder auf. Nach dem Sieg des Kaisers über die protestantischen Stände eröffneten die Niederlande schließlich im Verbund mit England und Frankreich 1623 bis 1629 im sog. „Niedersächsisch-Dänischen Krieg“ eine zweite Front mit Hilfe des Dänenkönigs Christian IV, der als Herzog von Holstein auch auf Unterstützung seiner Standeskollegen im niedersächsischen Reichskreis bauen konnte. Nach dessen Niederlage, dem Frieden zu Lübeck und der entsprechenden Ausdehnung kaiserlicher Macht bis in den Ostseeraum trat schließlich der Schwedenkönig Gustav Adolf im Verbund mit protestantischen Reichsständen 1630 im sog. „Schwedischen Krieg“ in den Krieg mit dem Kaiser ein. Nach dem Tode Gustav Adolfs beendeten die protestantischen Reichsstände jedoch im Prager Frieden 1635 ihren bewaffneten Konflikt mit dem Kaiser. Im darauffolgenden „Schwedisch-Französischen Krieg“ verhinderte Frankreich indes durch einen offenen Kriegseintritt die Niederlage Schwedens gegen den vereinten habsburgischen Gegner (Spanien/Reich), ein Konflikt der nunmehr gesamteuropäische Ausmaße angenommen hatte und bis zum Westfälischen Kongress 1648 andauern sollte.313

311 Ebd., S. 143. 312 Ebd., S. 15. 313 Ebd., S. 16. Diese kurze Skizze der verschiedenen Teilkonflikte kann natürlich der enormen Komplexität des Dreißigjährigen Krieges nicht annähernd gerecht werden, sollte jedoch an dieser Stelle den Zweck einer ersten Orientierung erfüllen. Eine sehr zugängliche knappe Überblicksdarstellung findet sich bei KOHLER, Alfred (1990): Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa 1521-1648. München: Oldenbourg, insb. S, 129-133; ausführlicher REPGEN, Konrad (Hg.) (1988): Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven. München: Oldenbourg.

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Obwohl dieser komplexe Krieg also eher eine Verdichtung ineinander verwobener Teilkonflikte darstellte, sollte jedoch die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, dass der Begriff des „Dreißigjährigen Krieges“ keine neuzeitliche Konstruktion ist: der Begriff wurde in dieser Form bereits in verschiedenen zeitgenössischen Quellen verwendet. Der Krieg wurde von den Zeitgenossen also als einheitliches Ereignis wahrgenommen, was nach Konrad Repgen nicht zuletzt auch als Ausdruck des „zeitgenössischen historisch-politischen Bewusstseins“ zu deuten ist, das diesem Konflikt schon damals eine herausragende Bedeutung für die künftige Ordnung in Europa zuschrieb.314 ine der Fragen, die indes die moderne Geschichtsschreibung immer wieder zur Debatte stellte, ist die Frage nach den konkreten Ursachen des Krieges bzw. der allgemeinen Charakterisierung des Dreißigjährigen Krieges als Folge konfessioneller Polarisierung vis-à-vis divergierender machtpolitischer Interessen. Im Lichte der bereits diskutierten Aspekte der Konfessionalisierung als „gesellschaftlichem Fundamentalvorgang“ der Frühen Neuzeit315 erscheint die Frage, ob der Dreißigjährige Krieg nun ein Krieg machtpolitischer oder religiöser Motivation war, jedoch schon in der Formulierung irrig, da sie von einer Trennung von „rationaler“ Politik und „metaphysischer“ Religion ausgeht - eine Trennung, die in politischen Kultur der Epoche in dieser Form nicht gegeben war. Folgen wir der frühneuzeitlichen kulturellen Logik konsequent, muss der Krieg vielmehr als ein sowohl machtpolitischer, strategischer als auch religiöser Krieg verstanden werden, in dem sich die Verzahnung dieser Elemente geradezu exemplarisch wiederspiegelt. Machtpolitische Interessen schlossen konfessionspolitische Erwägungen also nicht nur nicht aus, sie waren zu einem nicht unerheblichen Maße gleichbedeutend. Politische Ordnung war unter diesen Umständen eben nicht nur eine machtpolitische Ordnung, sondern gleichermaßen eine Ordnung der Konfessionen bzw. der geregelten Beziehungen zwischen konfessionellen Identitäten im größeren Gesellschaftsgefüge Europas.316 Der Dreißigjährige Krieg kann also in dieser Hinsicht übergreifend als „Ordnungskonflikt“ angesehen werden – sowohl was strategisch-machtpolitische Erwägungen, das Verhältnis der Konfessionen zueinander, als auch die Entstehung von Staatlichkeit betrifft. Aus der Vogelperspektive betrachtet führt der Krieg indes überhaupt erst dazu, eine „internationale Sphäre“ bzw. einen gesamteuropäischen Ordnungsraum zu konstituieren, da er die

314 REPGEN, Konrad (1999): Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen (hg. von Bosbach, Franz/Kampmann, Christoph), 2. Aufl. (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, Bd. 81), S. 28. 315 SCHILLING 1988, S. 6. 316 Vgl. SCHILLING 1998, S. 12f.

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Konturen Europas neu zuschnitt und für längere Zeit die Beziehungen europäischer Mächte untereinander ordnete.317 Was jedoch ebenfalls als Charakteristikum der Frühen Neuzeit Erwähnung finden sollte, ist der etwas paradox anmutende Befund, dass bei aller „Bellizität“ der Frieden als eigentliches religiöses Ziel aller Konfessionen die grundlegende Gesellschaftsnorm – und somit auch den „normativen Rahmen aller Außenpolitik“ - darstellte.318 Dies ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass das Führen eines Krieges eher der Begründung bedurfte, als die Wiederherstellung des Friedenszustandes; dieser erscheint sowohl in der Publizistik als auch in den Vertragstexten der Epoche meist als „ewig“ im Sinne der Restitution der idealen gesellschaftlichen Norm.319 Vor diesem Hintergrund ist die Frühe Neuzeit eben nicht nur als Epoche ausgesprochener „Bellizität“, sondern auch und besonders als eine der „Pazifiziät“320 zu betrachten – ein Charakteristikum, das letztlich die vielen frühneuzeitlichen Friedenschlüsse erst ermöglichte und ideell unterfütterte. Sowohl dieser paradoxe Befund als auch einige der eingangs diskutierten Aspekte frühneuzeitlicher „defizitärer Staatlichkeit“ lassen sich ferner in Verbindung mit epochenspezifischen Weltbildern sehen, die – jenseits des teleologischen Kontrastfolie „moderner Staat“ – wichtige Kontextbedingungen für das Verständnis der Frühen Neuzeit liefern. Dazu gehört zuvorderst die für die Vormoderne charakteristische ganzheitliche Vorstellung von einer im Christentum vereinten Welt. Der damit zusammenhängende politische Leitbegriff war das vor- bzw. überstaatliche Bild der Christianitas, der großen Gemeinschaft der Christenheit. Darauf basierende politische Ordnungsvorstellungen speisten sich zum Teil aus augustinischem Gedankengut, platonischem Politeiaideal und stoischem Universalismus, später gestärkt durch die Rezeption der aristotelischen Staatslehre. Menschliches Dasein war demnach die Existenz in einer einzigen, christlichen Gesellschaft, der universalen Ecclesia. Diese war korporativ formiert, hierarchisch gegliedert und monarchisch regiert; mit Papst und Kaiser an der Spitze.321 Die Vorstellung einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft zog sich jedoch ganz grundsätzlich durch die vormoderne (und frühneuzeitliche) Gesellschaft und bildet ein zentrales Element der politischen Kultur dieser Epoche. Vormoderne Ordnungsvorstellungen von Gesellschaft ordneten Autorität von der kleinesten bis

317 Heinz Duchhardt spricht in diesem Zusammenhang auch von einem europäischen „Systembildungskrieg“; siehe DUCHHARDT, Heinz (2014): Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt. Münster: Aschendorff, S. 4. 318 REPGEN 1999b, S. 11. 319 BURKHARDT 1992, S. 12. 320 DUCHHARDT 2013, S. 9. 321 BOSBACH, Franz (1988a): Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 20f.

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zur größten Einheit menschlicher Vergemeinschaftung – also etwa von Ehe, Familie, Gemeinde, Territorium bis hin zum Reich – in einer traditionell religiös begründeten Hierarchie, in der jedes Mitglied der Gesellschaft einen (vor-)bestimmten Platz einnahm. Die Frühe Neuzeit war noch stark von diesen politisch-kulturellen Elementen der alten Ständegesellschaft geprägt.322 Sozialer Status wurde durch die Position und den Rang innerhalb dieser Hierarchie determiniert, wobei auch Konzepte wie „Ehre“ und „Würde“ stark an diese sozialen Positionen gekoppelt wurden. Die Erhaltung von „Würde“ bzw. die Vermehrung von Prestige über die Behauptung einer entsprechenden Position innerhalb der sozialen Hierarchie galten demgemäß als wichtigste gesellschaftliche Ziele. Die charakteristische frühneuzeitliche Vorstellung einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft traf natürlich in gleichem Maße auf die „zwischenstaatliche“ Sphäre zu: auch in diesem Kontext entbrannten um die „Spitzenposition“ in der sozialen Rangordnung europäischer Potentaten konstante Rivalitäten. Freilich galten die Positionen von Kaiser und Papst in der Vorstellung der universalen Ecclesia (s.o.) als mehr oder minder unbestrittene Spitzenpositionen, allerdings geriet diese Selbstverständlichkeit im Zuge der Glaubensspaltung in Bedrängnis, da sich der Papst zwar als „padre commune“ aller christlichen Fürsten verstand, dies jedoch de facto nur der katholischen Fürsten war. Der imperiale Universalitätsanspruch des Kaisers wurde indes aus der Nachfolgerschaft des Römischen Reiches begründet, die nach Karl dem Großen und der Ottonen fest mit dem deutschen Wahlkönigtum verbunden wurde. Zudem knüpfte die Vorstellung des sakral begründeten „Heiligen Römischen Reiches“ an tradierte Vorstellungen der Schöpfungsordnung an, die nach dem Buch Daniels nur vier Weltreiche kannte, nach der notwendigerweise der Antichrist bzw. das Weltende folgen müsse.323 Zudem beanspruchte jedoch insbesondere das französische Königshaus die „A-Position“ innerhalb der korporativen Einheit der Christianitas über den sorgsam gepflegten Titel des „allerchristlichsten Königs“ oder weitere Suprematie suggerierende Titulaturen wie etwa die des „erstgeborenen Sohnes der Kirche“.324 Auch Schweden meldete als frühneuzeitliche Großmacht einen entsprechenden Anspruch an, der die französischen Statusansprüche in Frage stellte und – wie sich im Zuge des Westfälischen Friedenskongresses herausstellen sollte – eine recht spannungsgeladene Wirkung entfaltete. Schwedens Anspruch auf eine ranghohe Position

322 Zu den Grundlagen vormoderner Ständegesellschaft vgl. CONZE, Werner/OEXLE, Otto Gerhard/WALTHER, Rudolf (1990): Stand, Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 155-184. 323 BURKHARDT 1992, S. 31f; OSIANDER 2001b, S. 128. 324 BURKHARDT 1992, S. 34.

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wurde dabei mit narrativ hergeleiteten Mythen der gotischen Abstammung begründet - womit die Schweden also zu einer wesentlich älteren europäischen „Königsklasse“ als die Franzosen gehören würden. Ferner verstand sich die schwedische Krone in ihrer protestantischen Identität als großmächtige Verteidigerin der konfessionellen Freiheit der protestantischen Fürsten in ganz Europa.325 Der dieser konstanten Rivalität um die Spitze bzw. Vorherrschaft innerhalb der europäischen Rangordnung entsprechende Leit- bzw. genauer gesagt „Kampfbegriff“ war der – meist als Vorhaltung formulierte – Begriff der monarchia universalis, einer übergeordneten Monarchie, die die Vorherrschaft in Europa und letztlich die Weltherrschaft beanspruchen wolle.326 Die Vorstellung einer universal begründeten Herrschaft war (wie die obigen Ausführungen bereits illustrieren) den meisten Identitätsnarrativen europäischer Potentaten inhärent, der Vorwurf einer beanspruchten monarchia universalis wurde so also zu einem entscheidenden konfliktverschärfenden Moment. Politisch bzw. propagandistisch wendete sich Vorwurf einer beanspruchten monarchia universalis in der zeitgenössischen Publizistik meist gegen die „Hauptkonkurrenten“ um die A-Position der Christianitas: die habsburgische Dynastie in Gestalt des Kaisertums in Verbund mit der spanischen Monarchie, die „allerchristlichste Krone“ Frankreichs sowie die „schwedisch-gotische“ Krone im Norden Europas. Insbesondere für die Gegner Habsburgs wurde das unterstellte Streben nach der Universalmonarchie als hauptsächlicher Grund des Dreißigjährigen Krieges angeführt.327 Dies steht nicht zuletzt auch mit der charakteristischen Verfasstheit der Akteure im 17. Jahrhundert in Zusammenhang: frühneuzeitliche „Staaten“ waren in erster Linie zusammengesetzte Territorien, die durch das Band einer Dynastie zusammengehalten wurden, sog. „composite monarchies“,328 geographisch meist schwer abgrenzbar und durch familiäre dynastische Beziehungen (etwa politisch begründete Heiratsbeziehungen) oft nur prekär integriert. Die zwischenstaatlichen – genauer: „zwischenhöfischen“ - Beziehungen funktionierten also im Grunde nach den Prinzipien eines europäischen „Familienverbandes der Fürsten“.329 Die entsprechenden verworrenen und hochkomplexen Beziehungen zogen bei personellen Ausfällen (Tod des Throninhabers, Aussterben der männlichen Nachkommen u.ä.) damit erheblichen Konfliktstoff, wie etwa Erbfolgekonflikte, nach sich. 325 Zu den narrativen Herleitungen schwedischer Identität im Dreißigjährigen Krieg vgl. RINGMAR 1996, S. 156ff. 326 Zur politischen Relevanz dieses Leitbegriffs vgl. BOSBACH 1988a; sowie BOSBACH, Franz (1988b): Die Habsburger und die Entstehung des Dreißigjährigen Krieges. Die „Monarchia Universalis“, in: REPGEN, Konrad (Hg.): Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven. München: Oldenbourg, S. 153-168. 327 BOSBACH 1988b, S. 168. 328 ELLIOT, John (1992): A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 137:1, S. 48-71. 329 KOHLER 1990, S. 4.

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Zudem begünstigten sie oftmals auch expansive Politiken und Versuche der Ausweitung von dynastischer Hausmacht – wobei die Unterstellung des „Griffes“ nach einer monarchia universalis nahe lag. Das für die Frühe Neuzeit viel entscheidendere Charakteristikum ist m.E. jedoch, dass die politische Landschaft nicht nur von den traditionellen vormodernen politischen Vergemeinschaftungsformen, sondern vielmehr von einer zunehmenden Pluralität politischer Akteure geprägt war. Neben den composite monarchies bzw. den großen dynastischen Reichen traten bereits seit dem 15. Jahrhunderts kleinere Republiken (etwa in Oberitalien) als bedeutende Akteure auf die politische Bühne. Auch innerhalb des Reiches waren Verständnisse ständischer Autonomie keine Neuigkeit, Fürsten und Kurfürsten, ein fehdefähiger Adel, sowie wirtschaftsstarke Städte (insbesondere die Hansestädte) reklamierten bereits sehr früh Autonomie und politischen Einfluss.330 In Anbetracht dessen wird die frühneuzeitliche „internationale“ Ordnung also eigentlich nur durch die Gleichzeitigkeit dieser verschiedenen Formen politischer Vergemeinschaftung verständlich: so ließe sich allein schon das Heilige Römische Reich im 17. Jahrhundert als Beispiel für diese Gleichzeitigkeit anführen - in ihm verband sich die Idee einer übergeordneten Monarchie gleichzeitig mit tradierten Verständnissen ständischer Autonomie. Die politische Idee der „Souveränität“ wurde also sicherlich nicht erst im Jahre 1648 bedeutsam, sondern war bereits wesentlich früher fester Bestandteil der politischen Ideengeschichte als auch Praxis. Akteure wie die Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft verstanden sich bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als autonome politische Einheiten, die sich 1648 eigentlich nur noch formal aus dem imperialen Herrschaftsverband lösten. Für Akteure wie die Niederlande spielten dabei nicht zuletzt auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, Faktoren, die nicht mehr mit dem alten „Wertigkeitskodex“ der Vormoderne zusammen hingen. Um auf die „Bellizität“ der Frühen Neuzeit zurückzukommen: Konfliktgegenstand der „Staatsbildungskriege“ war insofern nicht zuletzt die „künftige Organisationsebene von Staatlichkeit“, die sich letztlich auf der mittleren Ebene durchsetzen sollte.331 Anfang des 17. Jahrhunderts war es jedoch noch keineswegs klar, welche politischen Gemeinschaften letztlich als Hauptebene politischer Vergemeinschaftung - und somit auch Hauptakteure der neuen „internationalen Ordnung“ - aus diesem konfliktiven Jahrhundert herausgehen würden. Es ist somit kein Zufall, dass sich die Völkerrechtslehre im frühen 17. Jahrhundert intensiv der Definition der legitimen Subjekte der Völkerrechtsgemeinschaft widmet. So stellt das 1625 entstandene – und bis zum Ende des Ancien Régime als Standardwerk des Völkerrechts geltende - Buch Hugo Grotius‘ De jure 330 BURKHARDT 1992, S. 29 331 Ebd., S. 27.

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belli ac pacis332 in diesem Sinne die legitime Teilnahme an den Insignien „souveräner“ Herrschaft (Kriegsführung und Friedensschluss) in den Mittelpunkt. Zugleich stellt die Frühe Neuzeit auch das Zeitalter der Verbreitung der ständigen Gesandtschaft und somit die „Geburtsstunde“ der modernen Diplomatie dar, die – in der modernen Ausprägung ausgehend von den italienischen Stadtstaaten und Republiken333 - ebenso zu einer der Insignien legitimer Akteursschaft in der internationalen Ordnung werden sollte. In Bezug auf die auswärtige Politiksphäre lief der Prozess der frühneuzeitlichen Staatenbildung also auf eine „Monopolisierung“ von Außenpolitik und des diplomatischen Verkehrs durch den „Souverän“ hinaus.334 Wer genau in diesem Sinne ein legitimes Mitglied im Kreise der „Souveräne“ war, war jedoch im frühen 17. Jahrhundert noch keineswegs eindeutig. Die entsprechenden „Definitionskämpfe“ fanden nicht zuletzt über diese „herrschaftlichen“ Praktiken statt, die auch und besonders auf die symbolische Konstituierung außenpolitischer Akteursschaft zielten. Eine in diesem Sinne besonders charakteristische Praxis, die zur Aushandlung dieser Statusansprüche diente, war das diplomatische Zeremoniell, das wiederum eng mit den o.a. hierarchischen Gesellschaftsvorstellungen, sowie den Besonderheiten frühneuzeitlicher politischer Kommunikation und Kultur verbunden ist. Im Kontext der intensivierten diplomatischen Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert kommt es zu verstärkter Geltung. Wie bereits in Abschnitt 3.2.3 diskutiert wurde, wird die soziale Funktion des Zeremoniells in der einschlägigen Forschung vor allem darin gesehen, als Repräsentations- und Aushandlungsinstrument von gesellschaftlichen Statusansprüchen – letztlich also von Akteursidentitäten innerhalb bestimmter sozialer Ordnungen - zu fungieren.335 Die hierarchische Logik vormoderner politischer Ordnung spielte dabei eine wesentliche Rolle. Sie bedingte eine typisch frühneuzeitliche Art des Konfliktes: der Konflikt um 332 GROTIUS, Hugo (1626): De jure belli ac pacis. Paris. 333 Vgl. dazu grundlegend MATTINGLY, Garrett (1955): Renaissance Diplomacy. Baltimore: Penguin. 334 GRÄF 2000, S. 111. 335 Die Forschung zum Zeremoniell in der Frühen Neuzeit wurde ganz wesentlich von Norbert Elias und seinem Werk „Die höfische Gesellschaft“ angestoßen. Die sukzessive Verfeinerung des Zeremoniells gilt darin insofern als ein Ausdruck des Prozesses der Zivilisation, als dass sie sich aus den sogenannten „Verflechtungszwängen“ ergab und politisch vielfältige Funktionen erfüllte: nach innen zur Konsolidierung der Herrschaft des Königs bzw. für den Adels als ein Instrument zur Erhaltung und Mehrung von Rang und Prestige. Nach außen erfüllte es jedoch ebenso status- und prestigemehrende Funktionen, dies jedoch in Bezug auf die Beziehungen zwischen „Staaten“ bzw. zwischen Höfen. Zeremonielle Praktiken dokumentierten also unmittelbar wahrnehmbar die soziale Existenz im Sinne einer Position in einem sozialen Gefüge. Sie repräsentierten damit „zwischenhöfische Beziehungen“ und somit soziale Ordnung; vgl. ELIAS, Norbert (1983): Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt: Suhrkamp; sowie PAULMANN 2001, S. 38-41.

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Rang und Zeremoniell – der im diplomatischen Bereich v.a. in Präzedenzstreitigkeiten zum Ausdruck kam.336 Im und durch das symbolische Zeichensystem des Zeremoniells war es jedem Akteur möglich, einen bestimmten Status im Raum der europäischen Mächtehierarchie zu behaupten (und im besten Falle anerkannt zu bekommen).337 In diesem Sinne diente das Gesandtschaftszeremoniell in der Zeit um den Westfälischen Friedenskongress nicht nur dazu, althergebrachte Statusansprüche innerhalb der Mächtehierarchie zu behaupten bzw. durchzusetzen, es diente zugleich als Medium, den Status der Akteure in einem sich neu formierenden völkerrechtlichen Klassifikationssystem zu definieren bzw. die völkerrechtliche Kategorie der Souveränität „von der Theorie in die Praxis zu überführen“.338 Denn Souveränität war im 17. Jahrhundert keine Eigenschaft von „Staaten“, sondern – bedingt durch die starke Personalisierung frühneuzeitlicher Herrschaft - in erster Linie eine Eigenschaft von Personen, allen voran von „gekrönten Häuptern“, die als einzige diesen Status unangefochten behaupten konnten. Aspekte wie territoriale Ausdehnung, militärische und wirtschaftliche Stärke waren zwar wichtige, aber keine hinreichende Faktoren für „Souveränität“ – diese war in der vormodernen Praxis eher an das „Gewicht der ständischen Würde“ gebunden und somit in erster Linie eine Frage der Geltung bzw. Anerkennung und des sozialen Status.339 In Anbetracht der bereits diskutierten Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen politischer Vergemeinschaftung war das Zeremoniell also ein wichtiges Medium, um Ansprüche auf Souveränität und Gleichrangigkeit über wechselseitige Anerkennung zur sozialen Tatsache zu machen.

336 Die Relevanz dieser kulturellen Praxis kommt nicht zuletzt dadurch zu Ausdruck, dass sich bis ins 18. bzw. 19. Jahrhundert eine ganze Wissenschaft (Zeremonialwissenschaft) bzw. Rechtsgattung (ius precedentiae, Rangrecht) um diese Fragen entfaltete; einen umfassenden Überblick über zeremonialwissenschaftliche Literatur liefert VEC 1998; zum Rangrecht vgl. HELLBACH, Johann Christian (1804): Handbuch des Rangrechts. Ansbach: Haueisen. 337 Grundlegend dafür war die Struktur der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit sowie die Besonderheiten der politischen Kommunikation: Form und Beziehungsaspekt der Kommunikation waren von mindestens ebenso großer Bedeutung wie der inhaltliche Aspekt. Die symbolische Form war dabei mit den politischen Erwägungen nicht zu trennen bzw. in wesentlichem Maße gleichbedeutend; vgl. PAULMANN 2000, S. 52f; GESTRICH, Andreas (1994): Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 338 STOLLBERG-RILINGER, Barbara (2011): Völkerrechtlicher Status auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: KINTZINGER, Martin/JUCKER, Michael (Hg.): Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Beiheft zur ZHF 45). Berlin: Duncker & Humblot, S. 150f. 339 Ebd., S. 153; KRISCHER, André (2008): Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: NIEDERKORN, Jan-Paul/KAUZ, Ralf/ROTA, Giorio (Hg.): Diplomatische Praxis und Zeremoniell in Europa und dem Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, Wien: ÖAW, S. 1-33.

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Kurzum: im Gegensatz zu den in den IB-typischen Forschungsnarrativen, nach denen Mitte des 17. Jahrhunderts die „Hierarchie“ vormoderner politischer Ordnung von der neuzeitlichen „Anarchie“ souveräner Staaten quasi „abgelöst“ wurde, sollte also eigentlich ein Verständnis der Gleichzeitigkeit und sukzessiver Verlagerung unterschiedlicher Ordnungsverständnisse mit zahlreichen Inkongruenzen und Überlappungen stark gemacht werden. Der „mittelalterliche Gradualismus“ wurde im Zuge der Frühen Neuzeit nach und nach von Verständnissen von ständischer Autonomie und Multipolarität und einem säkular begründeten „Mächteeuropa“ überlagert, nach dem die Stellung eines Akteurs nicht mehr nach seinem Status innerhalb einer universal gedachten (und sakral begründeten) Hierarchie, sondern auch (und irgendwann zuvorderst) durch politische, wirtschaftliche und militärischen Macht bestimmt wurde.340 Allmählich rückte Anstelle der als (wenn auch fiktiv) als Einheit verstandenen „Christianitas“ das Verständnis einer „Staatenfamilie“, deren Glieder – allerdings bei unbeschadeter Überordnung des Kaisers inkl. entsprechender Präzedenzrechte – sich als formal ebenbürtig verstanden, dabei jedoch abermals mit unterschiedlicher Intensität in einen neuerlichen langen Kampf um die Spitzenpositionen eintraten.341 Die Frühe Neuzeit – spezifischer für diese Fallstudie: das frühe 17. Jahrhundert – markiert jedoch eine Zeit des „Übergangs“, der ausgeprägten Gleichzeitigkeit vormoderner und moderner Verständnisse von Souveränität und „zwischenstaatlicher“ Ordnung. Zusammenfassend können wir also folgende historisch-kulturelle Merkmale europäischer politischer Ordnung im frühen 17. Jahrhundert festhalten:  

  

Enger Zusammenhang zwischen Religion und politischem Gemeinwesen; Konfessionelle Entwicklung als wesentliche gemeinschaftskonstituierende Identitätsnarrative; Koexistenz und sukzessive Überlagerung alter ständisch-hierarchischer sowie christlich-universaler Vorstellungen von Gesellschaft durch Vorstellungen von ständischer Autonomie und Gleichrangigkeit; Vorstellungen einer Gemeinschaft legitimer Völkerrechtssubjekte befand sich in der Formation; Pluralität unterschiedlicher Formen politischer Akteure bzw. Formen politischer Vergemeinschaftung; Erstarken lokaler bzw. ständischer Autonomie; Konstante Rivalität um Spitzenposition in der europäischen Rangordnung; Zentrale Bedeutung symbolischer Formen und zeremonieller Verfahren; Konflikte um Rang und Präzedenz.

340 KOHLER 1990, S. 51. 341 DUCHHARDT 2000, S. 83; SCHILLING 1998, S. 11.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

5.1.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting Wie bereits in der Charakterisierung des Dreißigjährigen Krieges angedeutet wurde, war den frühneuzeitlichen Zeitgenossen der entsprechende Begriff als auch die epochale Bedeutung dieses Krieges durchaus gegenwärtig. Selbiges gilt für den Westfälischen Friedenskongress, der in seiner Form und Größe ein Novum in der diplomatischen Praxis darstellte. Tatsächlich war ein Friedenskongress dieses Ausmaßes noch nie abgehalten worden, vergleichbare multilaterale Zusammenkünfte hatte es bis dahin lediglich in Form der kirchlichen Konzilien gegeben.342 Zudem entsprach ein Kongress, zu dem alle an einem großen Konflikt beteiligten Parteien über politische Ordnungsfragen verhandelten, nicht dem üblichen Habitus, nach dem eher kleinere bilaterale Verhandlungen die Beendigung eines Konfliktes markierten. Ein Ereignis wie der Westfälische Friedenskongress stellte sich vor diesem Hintergrund also als etwas in jeglicher Hinsicht außergewöhnliches dar. In diesem Sinne sollte der venezianische Vermittler Alvise Contarini 1650 in seinem Rechenschaftsbericht an den venezianischen Senat über die Verhandlungen sagen, dass es schier „als ein Weltwunder“ bezeichnet werden könne, „daß derartig auseinanderstrebende Interessen sich in dem gemeinsamen Willen getroffen haben, ihre eigenen Dinge zusammen mit den Angelegenheiten der gesamten Christenheit an einem einzigen Ort auszuhandeln“.343 Was den konkreten Verhandlungszeitraum – und damit den zeitlichen Rahmen des Kongresses insgesamt - betrifft, so ist dieser jedoch nicht ganz einfach zu bestimmen. Zum einen verzögerte sich die Anreise der Bevollmächtigten teilweise um Jahre, zum anderen endete der Krieg zwischen Frankreich und Spanien nicht in Westfalen, dieser wurde über 1648 hinaus weitergeführt.344 Am vollständigsten besucht war der Kongress etwa zwischen Januar 1646 und Juli 1647,345 dieser kam jedoch – zumindest wenn man ihn als Gesamtheit betrachtet - eigentlich nur via facti durch 1643-46 sukzessive anreisende Gesandte in Gang und endete letztlich auf eine ähnlich unspektakuläre Weise durch deren sukzessive Abreise zwischen 1647 und 1649.346 Formell ließe sich der Kongress zunächst im Juni 1645, sodann im März und Mai 1646 mit der Verhandlungseröffnung über die materiellen Friedensbedingungen als eröffnet betrachten. Die Verhandlungen von Frankreich sowie Schweden mit dem Kaiser begannen am 11. Juni 1645, die von Spanien mit 342 DICKMANN 1972, S. 212. 343 Zit. nach REPGEN 1999a, S. 695. 344 REPGEN, Konrad (1998): Die Westfälischen Friedensverhandlungen. Überblick und Hauptprobleme, in: BUSSMANN, Klaus/SCHILLING, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa (Bd. 1). München: Bruckmann, S. 355-372; Online Fassung Portal Westfälische Geschichte: http://www.westfaelische-geschichte.de/tex443, 16.05.2019. 345 REPGEN 1999b, S. 13. 346 Ebd., S. 14f.

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Frankreich am 21. März 1646, und die Niederlande mit Spanien am 13. Mai 1646.347 Sondierungen und erste Verhandlungen über die Friedensbedingungen hatte es indes schon weit vor Kongressbeginn gegeben. Zwischen allen Parteien hatten ungeachtet der weiter andauernden Kriegshandlungen diverse Verständigungsversuche – teils durch Geheimdiplomatie, teils öffentlich – stattgefunden.348 Seit 1634 war die Idee eines allgemeinen, großen Friedenskongresses öffentlich im Gespräch, der zu einem universalen Frieden – einer sogenannten pax generalis oder pax universalis – führen sollte. Diese Konzeption ging auf Papst Urban VIII. zurück, der sich – entsprechend der eingangs skizzierten universalistischen Vorstellungen - als padre commune der christlichen Gemeinschaft verstand und sich somit in der moralischen Verpflichtung sah, Frieden unter den katholischen Dynastien (Habsburg mit Spanien und dem Reich sowie Frankreich) herbeizuführen – ihnen bot sich Rom als Vermittler an. Im Hinblick auf das Friedensgebot als „normativer Rahmen aller Außenpolitik“ konnten diese ein solches Angebot allein aus religiösen Gesichtspunkten kaum ausschlagen.349 Ein geeignetes Setting und Prozedere für einen derartigen Kongress zu finden, stellte jedoch vor dem Hintergrund der im letzten Abschnitt skizzierten politisch-kulturellen Kontextbedingungen eine erhebliche Herausforderung dar. Ursprünglich war im Herbst 1638 ein solcher Kongress (in der damaligen Terminologie „congresso per la pace universale“) in Köln angesetzt worden, auf dem es jedoch u.a. aufgrund des (typisch frühneuzeitlichen) sog. „Pässe-Problems“ nie zu wirklichen Verhandlungen kam. Frankreich verzögerte die Entsendung seiner Bevollmächtigten aufgrund der Tatsache, dass die Ausfertigung von Geleitbriefen ihrer Verbündeten (Niederlande und Schweden, beide protestantisch), ohne die ein Kongress auf keinen Fall stattfinden könnte, neben der konfessionellen Problematik faktisch die völkerrechtliche Anerkennung und Gleichstellung der Niederlande bedeutet hätte. Dies stellte ein quasi unlösbares Problem dar, denn die Ausstellung von entsprechenden Pässen bzw. Geleitbriefen hätte wesentliche Verhandlungsergebnisse vorweggenommen. Das „Pässe-Problem“ wurde über Jahre hinaus ein europäisches Politikum ersten Ranges, man feilschte ewig um die Begriffe in den Geleitbriefen. Schließlich sollte es neben kriegsstrategischen Gründen u.a. auch

347 REPGEN 1998; DERS. 1999b, S. 10 (Anm. 18). 348 REPGEN 1999b, S. 11; Christoph Kampmann bezweifelt, dass die entsprechenden Sondierungen – wie von Konrad Repgen behauptet - der Öffentlichkeit weitestgehend verborgen blieben und betont die Signalwirkung des öffentlichen Charakters der Sondierungen; vgl. KAMPMANN, Christoph (2013): Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart: Kohlhammer, S. 132. 349 REPGEN 1999b, S. 11.

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aus diesem Grund auf dem „Kölner Kongress“ nie zu ernsthaften Verhandlungen kommen.350 Parallel zu Köln hatten sich 1638 in Lübeck - später nach Hamburg verlagerte - kaiserlich-schwedische Verhandlungen etabliert. Hamburg sollte schließlich auch der Schauplatz für die Verhandlung der Präliminarien für die pax universalis werden, die im sog. Hamburger Präliminarfrieden von 1641 mündeten.351 Der Hamburger Präliminarvertrag beinhaltete dabei folgende Vereinbarungen: i) wer von wem und für welche Funktion innerhalb des künftigen oder laufenden Kongresses einen Geleitbrief bekommen sollte; ii) dass die getrennten Kongresse von Köln und Lübeck bzw. Hamburg als ein einziger Friedenskongress gelten sollten und dass dieser zur Erleichterung der Geschäfte in die Nachbarstädte Münster und Osnabrück verlegt werden sollte, unter gleichzeitiger Neutralisierung dieser beiden Orte bis zum Friedensschluss; sowie iii) dass die Verhandlungen unmittelbar nach der Ratifizierung der Hamburger Präliminarien am 25. März 1642 zu beginnen hatten. Die Ratifikation erfolgte jedoch erst am 3. April 1643, woraufhin der 11. Juli 1643 als Kongressbeginn gesetzt wurde.352 Die Lage zur Zeit der Unterzeichnung der Hamburger Präliminarien war jedoch von einer militärisch und politisch relativ unberechenbaren Lage gekennzeichnet, die Kriegsparteien hofften insgeheim noch auf einen Umschwung des Krieges zu ihren Gunsten, was zu Verzögerungen führte, aber auch einige – noch offen gelassene bzw. offen formulierte – Probleme des Hamburger Präliminarfriedens begründet. Vor allem verdeutlichen diese Kontextbedingungen, warum in Hamburg kein Waffenstillstand vereinbart wurde – die Hoffnung auf eine Beendigung des Krieges bzw. zumindest auf eine Verbesserung der jeweiligen Verhandlungspositionen durch einen entscheidenden militärischen Durchbruch war bei den Parteien noch nicht ganz aufgegeben worden. Ein Waffenstillstand ist im Verlauf des Kongresses zwar mehrfach angestrebt worden, aber nie gelungen. Tatsächlich erstreckten sich die Kriegshandlungen über das gesamte Kongressgeschehen hinaus, erst die Unterzeichnung der Friedensverträge beendete die militärischen Operationen endgültig.353 350 Ausführlich zu diesem Problem COLGROVE, Kenneth (1919): Diplomatic procedure preliminary to the Congress of Westphalia, in: American Journal of International Law 13, S. 462f; REPGEN 1998. 351 Vorausgegangen war eine Veränderung der militärischen Lage hin zu einem Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Kriegsparteien, was eng mit dem Wiedererstarken der „Kronen“ (Schweden, Frankreich) zusammenhing. Zudem hatten die Verbündeten Frankreich und Schweden ihr Bündnis in Hamburg (1638) formalisiert. Da damit die Aussicht auf einen militärischen Sieg schwand, wuchs auch im Reich die Bereitschaft, zu einer Einigung zu kommen, eine Entwicklung der sich auch der Kaiser nicht entziehen konnte; KAMPMANN 2013, S. 129, 132. 352 REPGEN 1998; DERS. 1999b, S. 13. 353 Ebd.; KAMPMANN 2013, S. 138.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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Einer der sensibelsten Streitpunkte war die – in den Hamburger Präliminarien nicht abschließend geklärte – Frage nach dem legitimen Teilnehmerkreis des Kongresses, insbesondere in Bezug auf die Beteiligung der Reichsstände. Dieser Streitpunkt war vor allem deshalb so sensibel, weil er letztlich die wesentliche Frage tangierte, wer innerhalb der künftigen politischen Ordnung die kulturellen Insignien einer souveränen Außenpolitik – Krieg und Friedensschluss – für sich beanspruchen und somit als gleichberechtigter Verhandlungspartner gelten konnte. Frankreich bestand auf die gleichberechtigte Teilhabe aller ihrer Verbündeten im Reich, erhoffte sich jedoch darüber hinaus auch durch die Durchsetzung der Beteiligung aller Reichsstände die Thematisierung grundlegender Fragen der Reichsordnung – eine Einstellung, gegen die der Kaiser erwartungsgemäß stark opponierte, da dies seinen Alleinvertretungsanspruch in Frage stellte.354 Allerdings baute sich auch innerhalb des Reiches - insbesondere seitens der Kurfürsten – ein entsprechender Druck auf den Kaiser auf, (zumindest die hochrangigen) Reichsstände als Verhandlungspartner zuzulassen. Dieser entschloss sich daraufhin zur Einberufung des seit 1613 nicht mehr tagenden Reichstages, um diese Grundsatzfragen innerhalb des Reiches – und in Erwartung einer hier starken Position - zu beschließen, ein Ansinnen das jedoch eklatant scheitern sollte. Letztlich musste der Kaiser zur berechtigten Teilnahme weiterer, im Vertrag jedoch nicht namentlich genannter Verbündeter Frankreichs und Schwedens bereit erklären.355 Angesichts der sich später weiter verschlechternden militärische Lage und schwindendem Rückhalt innerhalb des Reiches, zudem unter massivem Druck Schwedens und Frankreichs – für die dies eine conditio sine qua non für die Aufnahme von Verhandlungen darstellte –, musste sich der Kaiser jedoch 1645 schließlich sogar dazu bewegen lassen, alle Reichsstände zu den Verhandlungen zuzulassen.356 Die Vertretung von 140 Reichsständen in Münster und Osnabrück weitete die 1641 ursprünglich vereinbarte (vergleichsweise überschaubare) Konferenz der Großmächte somit schließlich zu einem „Mammutkongress“ aus – mit insgesamt 194 Vertretungen durch 109 Delegationen, die 16 europäische Staaten und neben den 140 Reichsständen noch 38 weitere am Verhandlungsgeschehen interessierte Herrschaftsträger vertraten.357 Die Beteiligung aller Reichsstände verlieh dem Friedenskongress zudem die ungewöhnliche Konstellation, dass er neben einem gesamteuropäischen Friedenskongress zugleich quasi einen Reichstag darstellte, 354 KAMPMANN 2013, S. 135. 355 Ebd., S. 136. 356 Angesichts des schwindenden kaiserlichen Rückhalts im Reich hatten sich viele Reichsstände dem ausdrücklichen kaiserlichen Verbot widersetzt und durch ihre sukzessive Anreise zum Kongress ohnehin bereits Fakten geschaffen; vgl. Ebd., S. 151. 357 Eine detaillierte Aufstellung der Gesandtschaften – ihrer Anzahl sowie ihrer Zusammensetzung - findet sich bei BOSBACH, Franz (1984): Die Kosten des Westfälischen Friedenskongresses. Eine strukturgeschichtliche Untersuchung. Münster: Aschendorff; insb. S. 14-44.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

auf dem neben Fragen europäischer Ordnung auch über Reichsverfassungsfragen verhandelt wurde.358 Der Westfälische Friedenskongress gilt zudem gemeinhin als erster „Gesandtenkongress“, bei dem die europäischen Souveräne eben nicht in persona, sondern über Bevollmächtigte verhandeln ließen. Die Delegationen bestanden aus mehreren Bevollmächtigten, die meist Adelige waren - ernannt teils aus politischen Gründen, teils aus Tauglichkeit wegen langjähriger diplomatischer Erfahrung. Deren sozialer Rang sollte dabei gleichermaßen die Ernsthaftigkeit und das „commitment“ der entsendenden Souveräne gegenüber der Verhandlungen signalisieren.359 Der kaiserlicher Hauptbevollmächtigte Graf Maximilian Trauttmansdorff und Weinsberg traf am 25.11.1645 in Münster ein.360 Adriaen Pauw wurde Ende 1643 von der Provinz Holland als zweiter Deputierter für die Friedensverhandlungen mit Spanien nach Münster geschickt. Obwohl in der achtköpfigen niederländischen Vertretung nominell erst an dritter Stelle stehend, entwickelte sich Pauw im Laufe des Kongresses zu ihrem führenden Kopf.361 Johann Oxenstierna, der schwedische Hauptbevollmächtigte zog am Abend des 27.03.1643 mit großem Pomp in Osnabrück ein, was ihm letztlich Spannungen mit dem zweiten schwedischen Gesandten Johan Adler Salvius, sowie allgemeinen Spott über sein Statusbewusstsein einbringen sollte.362 Der Glanz seines Einzugs sollte jedoch angesichts des Prunks des Einzugs des französischen Hauptgesandten Henri II. Graf von Longueville und Bourbon-Orléans schier verblassen. Longueville zog am 30.06.1645 in Münster ein - ein weit über die Stadt hinaus rezipiertes gesellschaftliches Ereignis. Zu seiner Gesandtschaft gehörten 29 adelige Begleiter, 28 persönliche Diener, 24 Lakaien und 36 Leibgardisten. Allein das Küchenpersonal des Herzogs umfasste 40 Personen. Die französische war zweifellos die größte Gesandtschaft des Friedenskongresses, die der Herzog natürlich standesbewusst aufzubieten verstand. Auch sein Leben in Münster gestaltete sich demonstrativ aufwendig, allein 100 Karren Wein ließ er vor seiner Ankunft nach Münster transportieren. Entsprechend prunkvoll gestaltet sich der Einzug seiner zweiten Gemahlin, 358 Ebd.; REPGEN 1999b, S. 21. 359 CROXTON, Derek (2013): Westphalia. The Last Christian Peace. Houndmills: Palgrave Macmillan, S. 134. 360 RASCH-OVERBERG, Bärbel (2006): Graf Maximilian von Trauttmansdorff und Weinsberg, in: Die Herrscher und ihre Gesandten beim Westfälischen Friedenskongress 1645/49 - in Porträts, Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/per5493, 16.05.2019. 361 DETHLEFS, Gerd (2006): Adriaen Pauw, in: Die Herrscher und ihre Gesandten beim Westfälischen Friedenskongress 1645/49 - in Porträts; Portal Westfälische Geschichte, http://www. westfaelische-geschichte.de/per5510, 16.05.2019. 362 GERSTL, Doris (2006): Graf Johann Oxenstierna Graf Söderbörg, in: Die Herrscher und ihre Gesandten beim Westfälischen Friedenskongress 1645/49 - in Porträts; Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/per5504, 16.05.2019.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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Geneviève, am 26.07.1646. Bis zu ihrer Abreise am 27.03.1647 blieb sie der gesellschaftliche Mittelpunkt des Kongresses in Münster.363 Der spanische Gesandte Graf Gaspar de Peñaranda, Bracamonte y Guzman traf am 05.07.1645 mit einem Gefolge von 112 Personen in der Stadt ein und konnte dabei bei weitem nicht mit dem von Longueville dargebotenen Prunkt mithalten.364 Neben den Hauptbevollmächtigten bestanden die Delegationen meist aus weiteren Gesandten, die oft einen hohen Bildungsgrad bzw. rechtliche Expertise mitbrachten: Issac Volmar aus der kaiserlichen Gesandtschaft, Johan Adler Salvius aus der schwedischen und Antoine Brun aus der spanischen Delegation waren promovierte Rechtswissenschaftler. Die französische Delegation hatte einen solchen promovierten Vertreter nicht, zählte jedoch mit Théodore Godefroy einen studierten Juristen zur Delegation, der später zum Hofhistoriker werden sollte. Insgesamt verfügten um die 40% der Bevollmächtigten einen akademischen Grad,365 wobei jedoch nicht alle Bevollmächtigten dies zu würdigen wussten. So bemängelte etwa das französische Delegationsmitglied Graf Claude D’Avaux die hohe Anzahl an Doktoren bei den Verhandlungen und auch Trauttmansdorff beschwerte sich darüber, dass die deutschen Fürsten einen „Haufen praeceptores und Schulmeister“ gesendet haben, die „nichts außer Verwirrung“ stifteten.366 Bei den Delegationen der europäischen Mächte (Frankreich, Schweden, Generalstaaten, Dänemark und Kaiser) waren die Gesandten formal gleich bevollmächtigt (und somit gleichrangig), jedoch wurde in der Praxis das Prinzip der Gleichrangigkeit unterschiedlich gehandhabt. Die Gleichsetzung bezog sich meist auf Titel, Vollmacht und Bezahlung, Differenzen ergaben sich – entsprechend der politischen Kultur der Zeit – jedoch im Hinblick auf den persönlichen Rang der Gesandten, der die Gesandtschaften hierarchisch gliederte (und meist einen Hauptbevollmächtigten herauskristallisieren ließ).367 Diese „Ränge“ äußerten sich in den verschiedenen Gesandtschaften in unterschiedlichen Garden politischer Autorität– in der kaiserlichen Delegation waren die Rangunterschiede meist scharf gezogen, während etwa Oxenstierna und Salvius in der schwedischen Delegation mehr oder minder als „Gleiche“ verhandelten.368 363 STEINWASCHER, Gerd (2006): Henri II. Duc de Longueville, de Bourbon-Orléans, in: Die Herrscher und ihre Gesandten beim Westfälischen Friedenskongress 1645/49 - in Porträts; Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/per5501, 16.05.2019. 364 WINZER, Ulrich (2006): Conde de Peñaranda, de Bracamonte y Guzman, in: Die Herrscher und ihre Gesandten beim Westfälischen Friedenskongress 1645/49 - in Porträts; Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/per5498, 16.05.2019; auf die Problematik der öffentlichen Einzüge werde ich im folgenden Teilkapitel nochmals eingehen. 365 CROXTON 2013, S. 134. 366 Ebd., S. 134, DICKMANN 1972, S. 195. 367 BOSBACH 1984, S. 20. 368 CROXTON 2013, S. 150.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Was die Wahl des Kongressorte betrifft, so scheinen Münster und Osnabrück auf den ersten Blick nicht unbedingt die naheliegendste Wahl gewesen zu sein, hätte man für einen solchen Anlass prinzipiell auch Städte wählen können, die Ereignisse von vergleichbarer Größenordnung (bspw. Reichstage oder Krönungen) gewohnt waren, wie etwa Frankfurt, Köln oder Nürnberg. Die Wahl dieser beiden Städte hatte verschiedene Gründe, war jedoch vor allem durch die Dynamik des vorausgegangenen Konflikts als auch durch die Eigenlogik frühneuzeitlicher politischer Kultur bedingt. Einerseits mussten die Kongressstädte zentral gelegen sein, um einen fairen Kompromiss zwischen den Gesandtschaften Roms, Paris und Wiens darzustellen. Zum anderen war die Teilung des Kongresses auf zwei Städte jedoch vor allem konfessionell begründet – denn für Schweden als protestantische Macht waren Verhandlungen in einer katholischen Stadt ausgeschlossen, da sie sonst entsprechend der päpstlichen Politik Gefahr liefen, von den Vertretern Roms schlichtweg ignoriert zu werden. Diese hatten die Schweden auch nicht in ihr Vermittlungsangebot für den Kölner Kongress eigeschlossen und verfolgten eine allgemeine „policy of unfriendliness“.369 Aber auch zeremonielle Gründe führten zur diesem örtlichem Arrangement: Schweden weigerte sich – obgleich mit Frankreich verbündet -, den französischen Vertretern das Präzedenzrecht einzuräumen, weshalb ein physisches Aufeinandertreffen der Bevollmächtigten problematisch gewesen wäre. Dies war nicht zuletzt auch dadurch begründet, dass Schweden bis dahin kaum bzw. gar nicht mit anderen europäischen Mächten (die solche Konflikte meist bereits in einer oder anderer Form ausgefochten hatten) in Kontakt gekommen war. Wie im letzten Abschnitt bereits diskutiert, beanspruchte Frankreichs Souverän als „allerchristlicher König“ den zweiten Platz nach dem Kaiser, allerdings erkannten die Schweden diesen Rang in dieser Form nicht an, da sie sich auf Identitätsnarrative beriefen, die sie als Erben der antiken Goten als älteste Monarchie des Kontinents bezeichneten.370 Da das in Hamburg besiegelte Bündnis zwischen Schweden und Frankreich jedoch vorsah, alle Fragen bezüglich eines künftigen Friedensschlusses mit Kaiser und Reich gemeinsam und gleichzeitig zu verhandeln, lief die einzig mögliche Lösung auf Verhandlungen in zwei unterschiedlichen Städten hinaus – die jedoch nahe beieinander liegen mussten, um die Kommunikation und den reibungslosen Kongressablauf zu ermöglichen.371 Nachdem sie zuvor als Alternative Frankfurt oder Köln bzw. Mainz oder Wesel ins 369 Ebd., S. 127; COLEGROVE 1919, S. 471. 370 Dieser Streit hatte eine etwas längere Vorgeschichte und datierte noch in die Zeiten des Krieges. Hugo Grotius als schwedischer Botschafter in Frankreich hatte bereits bei seinem Aufenthalt in Paris zu verschiedenen Anlässen auf ein entsprechendes „ceremonielles tractament“ bestanden und juristisch aus der „Anciennität“ der schwedischen Krone als Nachfolger der antiken Goten hergeleitet; COLEGROVE 1919, S. 461; CROXTON 2013, S. 146; zu den schwedischen Identitätsnarrativen RINGMAR 1996, S. 156ff. 371 COLEGROVE 1919, S. 471f.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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Spiel gebracht hatten, schlugen die Franzosen schließlich das katholische Münster und das gemischtkonfessionelle Osnabrück als Kongressorte vor. Diese stellten nicht zuletzt auch deshalb günstige Orte dar, da sie im kurkölnischen Einflussbereich lagen und somit auch für den päpstlichen Nuntius vertretbar waren. Osnabrück lag noch im schwedischen Einflussgebiet und war vor Kongressbeginn noch immer von schwedischen Garnisonen besetzt. Salvius hatte die Wahl der Städte zunächst abgelehnt, auch der Reichstag hatte die Städte Speyer und Worms bzw. Frankfurt und Mainz als Alternativen vorgeschlagen, allerdings sollte sich letztlich der französische Vorschlag durchsetzen.372 Für die vergleichsweise kleinen Städte – Münster hatte als größte Stadt in Westfalen immerhin 10.000, Osnabrück zwischen 6.000-8.000 Einwohner373 - war der Kongress jedoch eine erhebliche Herausforderung, sowohl logistisch wie finanziell. Letzteres nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der Kongress für die Städte geringe Einnahmen versprach, da die Gesandtschaften als Diplomaten keine Steuern zu entrichten hatten.374 Dennoch profitierten die Städte indirekt von der Anwesenheit der Gesandten, diese wurde sowohl in Münster als auch in Osnabrück von Handel und Handwerk der Stadt ökonomisch genutzt, etwa über Anpassung der Preise, die Münzqualität und die Wechselkurse. So beschwerte sich der schwedische Gesandte Oxenstierna im Dezember 1644 beim Osnabrücker Rat über das hohe Preisniveau und drohte gar mit einem Abzug der Gesandten, woraufhin der Rat Maßnahmen ergreifen musste, um diese Missstände zu korrigieren.375 Auch die Beherbergung der Masse der Delegierten in solch vergleichsweise kleinen Städten war keine unerhebliche Herausforderung. Hotels im modernen Sinne gab es natürlich noch nicht, sodass sich die Delegationen in privaten Gehöften einquartierten. Insbesondere das vom Kriege schwer gezeichnete Osnabrück belastete die Kosten des Kongresses, allerdings bot die Stadt durch Kriegsverluste und die vorausgegangenen Vertreibungen von Protestanten auch einige freie räumliche Kapazitäten.376 Die Vermittlung von Quartieren wurde in privater Hand 372 Ebd., S. 473. 373 DICKMANN 1972, S. 189. DETHLEFS, Gerd (1998b): Die Städte der Friedensverhandlungen, in: BUSSMANN, Klaus/SCHILLING, Heinz (Hg.) (1998). 1648. Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog zur 26. Europaratsausstellung (Textband 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft), S. 271. 374 CROXTON 2013, S. 129. 375 STEINWASCHER, Gerd (1998): Kampf um städtische Unabhängigkeit und konfessionelle Selbstbestimmung. Osnabrück während des Dreißigjährigen Krieges und der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, in: BUSSMANN, Klaus/SCHILLING, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa (Bd. 1). München: Bruckmann, S. 373-380; Online Fassung Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/tex444, 16.05.2019. 376 CROXTON 2013, S. 136; DETHLEFS 1998b, S. 271.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

belassen, im Rat der Stadt Münster wurde jedoch eine Wohnungskommission eingesetzt, die bei Mietdifferenzen schlichtend eingreifen sollte.377 Für die Zeit des Kongresses waren die Städte neutralisiert und von ihrer Gefolgschaft gegenüber dem Kaiser entbunden. Trotz ihrer Neutralität trugen die Städte Sorge, nicht dennoch Ziel eines Angriffs zu werden und die Sicherheit der beherbergten Delegationen zu gewährleisten. Beide Städte stellten für den Kongress eine Bürgerwehr auf, die – neben der Aufgabe der Sicherheitswahrung – auch zu zeremoniellen Zwecken, etwa zur Begrüßung und Einholung von Boschaftereinzügen, eingesetzt wurde.378 Vielen Gesandten – insbesondere jenen, die aus südlicheren Gefilden kamen – war der Aufenthalt in Münster jedoch ein Gräuel, sie beschwerten sich in ihren Korrespondenzen häufig über die Ländlichkeit und vor allem über das schlechte Wetter.379 Das Vieh zog morgens und abends durch Straßen und Tore, Erntewagen holperten durch die Stadt und Dunghaufen lagen vor den Türen.380 „Münster, hinter dem Saustall“ adressierte etwa der kaiserliche Gesandte Trauttmansdorff seinen ersten Brief aus Münster.381 Auch ein französisches Delegationsmitglied soll Münster als „Schweinestadt“ betitelt haben („la ville au cochons“), was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass die Bewohner Münsters ihre Schweine nachts auf die Straßen trieben, damit sie diese von Müll befreien konnten.382 Ogier, der Geistliche der französischen Delegation soll sich geradezu in einem Kulturschock wiedergefunden haben, er sah in der westfälischen Kleinstadt ein rückständiges Bild des alten Germaniens: „heidnisch, widerlich und voller Moore“ soll er die Stadt charakterisiert haben.383 Das Wetter machte insbesondere der (wärmeres Klima gewohnten) spanischen Delegation zu schaffen. Der spanische Hauptgesandte Peñaranda, dem das feuchtkühle Münsterische Klima aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustands arg zusetzte, bat – freilich teils auch aus politischen Motiven - mehrfach in seinen Korrespondenzen um einen Abzug aus Münster, letztlich jedoch erfolglos.384 377 378 379 380 381 382 383

Acta Pacis Westphalicae III D1, S. XVII. CROXTON 2013, S. 132, 144. Ebd., S. 128-129. DICKMANN, S. 189. Ebd., S. 190. CROXTON 2013., S. 129. Im Originalwortlaut: „inculte, désagréable, pleine d’eaux dormantes et de fondriéres“; zit. nach TISCHER, Anuschka (2007): Fremdwahrnehmung und Stereotypenbildung in der französischen Gesandtschaft auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: ROHRSCHNEIDER, Michael/ STROHMEYER, Arno (Hg.): Wahrnehmung des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Münster: Aschendorff, S. 267. 384 ROHRSCHNEIDER, Michael (2007): Terrible es este congreso. Wahrnehmungen der Fremde und Verhandlungsdispositionen im Spiegel der Berichte der spanischen Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: DERS./STROHMEYER, Arno (Hg.): Wahrnehmung des

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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Die Gesandtschaftsquartiere waren wichtige Zentren des Kongressgeschehens, als wesentlicher Bestandteil ihrer repräsentativen Rolle waren sie - neben der persönlichen Repräsentationskraft der Gesandten - auch der Schauplatz ihres standesgemäßen Lebensstils.385 Sie verfügten üblicherweise über einen großen Audienzsaal mit einem großen Wappen des repräsentierten Landes und anderen aufwendigen Dekorationen.386 Hier wurden neben den obligatorischen gegenseitigen offiziellen Visiten der Bevollmächtigten auch repräsentative Empfänge und andere Veranstaltungen abgehalten. Die Quartiere waren jedoch auch aufgrund der Eigenheiten des Kongresssettings zentral – sie waren gleichermaßen die Schauplätze der Verhandlungen. Die Hamburger Präliminarien hatten lediglich eine Verhandlungsform vorgesehen: die Verhandlung über Mediatoren. Faktisch wurden jedoch zwei verschiedene Verhandlungsmodi angewendet: in Münster verhandelten die spanischen und niederländischen Unterhändler direkt, ohne den Einsatz von Mediatoren.387 Auch in Osnabrück kamen die ursprünglich vorgesehenen Dänen als Mediatoren nicht zum Einsatz, zum einen da Schweden von der Mediation an sich „prinzipiell nichts hielt“,388 zum anderen da Schweden kurz zuvor einen Angriffskrieg gegen Dänemark eröffnet hatte und letztere als Mediatoren somit ausscheiden mussten. Frankreich verhandelte in Münster jedoch wie vorgesehen über die beiden Mediatoren, den Kölner Nuntius Fabio Chigi und den venezianischen Botschafter Alvise Contarini. In diesen Prozess schalteten sich die Generalstaaten als „Interpositoren“ mehrmals ein, sodass nicht nur im Dreieck, sondern zum Teil sogar im Viereck verhandelt wurde.389 Aufgrund dieser Verfahrensweise haben die französische und die spanische Delegation nie, die französische und die kaiserliche nur dreimal gemeinsam am Verhandlungstisch gesessen, obgleich sie sich fünf Jahre lang gleichzeitig in Münster aufgehalten haben.390 Diese Arrangements hatten zur Folge, dass es auf dem Westfälischen Kongress – entgegen unserer modernen Auffassung von einem „Kongress“ - kein einziges Plenum gab, weder in Münster noch in Osnabrück.391 Denn in Anbetracht

385

386 387 388 389 390 391

Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Münster: Aschendorff, S. 265-288. DICKMANN 1973, S. 191; BOSBACH, Franz (2011): Verfahrensordnungen und Verhandlungsabläufe auf den Friedenskongressen des 17. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer vergleichenden Untersuchung der äußeren Formen frühneuzeitlicher Friedensverhandlungen, in: KAMPMANN, Christoph/LANZINNER, Maximilian/BRAUN, Guido/ROHRSCHNEIDER, Michael (Hg.): L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens, S. 103. CROXTON 2013, S. 136. DICKMANN 1972, S. 212. REPGEN 1999b, S. 15; vgl. auch REPGEN 1999a, S. 698. REPGEN 1999b, S. 14-15. Ebd. Ebd.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

der bereits diskutierten Präzedenzproblematiken hätten (noch dazu öffentliche) Zusammenkünfte massive Präzedenzstreitigkeiten aufgeworfen. Mit Ausnahme des Kurfürstenrats – der gelegentlich im Rathaussaal in Münster tagte - trafen sich die Bevollmächtigten (sofern überhaupt direkt verhandelt wurde) also überwiegend bilateral in den Quartieren der Gesandten, in deren Rahmen das Zeremoniell wesentlich einfacher zu handhaben war, da grundsätzlich der Gastgeber dem Besucher Präzedenz einräumte.392 Zu guter Letzt sollte angesichts der hohen Komplexität des Kongresses jedoch noch ein kurzer Überblick über die wesentlichen Kongressergebnisse gegeben werden, der ein wenig orientierendes Licht in das verworrene Geschehen bringt. Die konkreten Verträge, die zusammen gemeinhin als „Westfälischer Frieden“ gelten, beziehen sich üblicherweise auf drei Vertragswerke, die am Ende des Kongresses geschlossen wurden:393 1.

2.

3.

Der Friede von Münster zwischen Spanien und den Generalstaaten der Niederlande. Dieser Vertrag wird am 30. Januar 1648 im Quartier der Niederländer unterzeichnet und am 15. Mai 1648 im Rahmen einer Zeremonie im Münsterischen Rathaussaal ratifiziert; Der Münsterische Frieden oder Instrumentum Pacis Monasteriensis (IPM) bezeichnet den Vertrag von Kaiser unter Hinzuziehung der Reichsstände mit dem König von Frankreich. Am 24. Oktober 1648 in den Gesandtschaftsquartieren durch die Kaiserlichen und Franzosen unterzeichnet, wird er anschließend im Bischofshof von einem Teil der reichsständischen Delegierten unterzeichnet und gesiegelt. Am 18. Februar erfolgt der Austausch der Ratifikationsurkunden in Münster; Im Osnabrücker Frieden oder Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) schlossen der Kaiser (abermals unter Hinzuziehung der Reichsstände) Frieden mit Königin und Königreich von Schweden. Am 6. August in Osnabrück „kongressöffentlich“ vereinbart (mittels Handschlag und Verlesen), wird der Vertrag gemeinsam mit dem IPM am 24. Oktober 1648 in Münster in den respektiven Gesandtschaftsquartieren und dem Bischofshof unterzeichnet. Der Austausch der Ratifikationsurkunden erfolgte ebenso wie beim IPM, am 18. Februar in Münster. Etwas umfangreicher, jedoch mit dem IPM eng verzahnt, ist der Text des IPO in den allgemeinen Bestimmungen mit dem IPM textidentisch und z.T. über Rückverweisungen verbunden. Vertragsrechtlich hatten IPM und IPO als eine Einheit zu gelten.

392 CROXTON 2013, S. 137. 393 Ich orientiere mich hier an der Einteilung und Terminologie Konrad Repgens, vgl. auch für die folgenden Ausführungen REPGEN 1999b, S. 8-9.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

Abbildung 6:

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Struktur der Verhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongress nach BOSBACH 2011, S. 106.

Das hier abgebildete Schaubild liefert einen guten Überblick über die komplizierten Verhandlungsstränge als auch über die entsprechenden Ergebnisse des Westfälischen Friedenskongresses. Es verdeutlicht jedoch auch gleichermaßen, dass bei den Ergebnissen des Kongresses von einer pax universalis im Sinne des entsprechenden politischen Schlagwortes nicht bzw. nur mit Einschränkungen gesprochen werden kann. Lässt man den Frieden von Münster außer Betracht, so fällt auf, dass sich tatsächlich nur ein Teil der europäischen Großmächte zur Unterschrift unter die Verträge bereitfanden: Frankreich, Schweden, der Kaiser und die Reichsstände. Diese Großmachtkonstellation war sicherlich von großer politischer Bedeutung, da somit ein funktionales „Reichsgrundgesetz“ geschaffen wurde und eine Befriedung der – für das politische Gesamtsystem Europas wesentlichen - Mitte Europas vollzogen war.394 Allerdings sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein – für Europa eigentlich ebenso essentieller – Friede zwischen den katholischen Kronen Frankreich und Spanien nicht erreicht werden

394 DUCHHARDT 2014, S. 6, 15.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

konnte und deren Krieg noch bis zum Pyrenäenfrieden 1659 weitergeführt wurde.395 Bevor ich im folgenden Abschnitt die Szenerien der Identitätsrepräsentation genauer charakterisiere, können wir jedoch zusammenfassend folgende charakteristische Merkmale des Kongresssettings auf dem Westfälischen Friedenskongress festhalten:   



Der Friedenskongress stellte in seiner Größe und Form ein diplomatisches Novum dar, seine Multilateralität als auch sein Charakter als „Gesandtenkongress“ kannte in der Geschichte so keine unmittelbaren Vorläufer; Das Verhandlungssetting war stark durch die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen der Epoche geprägt (Konfessionalisierung, Bedeutung von Zeremoniell, Rang und Präzedenz); Obgleich der Friedenskongress der erste im engeren Sinne „multilaterale“ Kongress war, entspricht er kaum einem modernen Verständnis von „Kongress“ - es kam zu keinem einzigen Kongressplenum und der Hauptverhandlungsmodus war bilateral bzw. trilateral über die Vermittler; Der Anspruch auf die Begründung einer pax generalis in Europa wurde nicht bzw. nur mit Einschränkungen erfüllt.

5.1.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis Auch in Bezug auf Bildlichkeit gilt der Westfälische Friedenskongress in der Forschung weitläufig als kultureller Wendepunkt. So postuliert etwa Johannes Burkhardt, dass in der bildlichen Überlieferungskultur des Westfälischen Friedens starke Bezüge zum Transitionsprozess von einer hierarchischen hin zu einer pluralen und egalitären politischen Ordnung (vgl. Abschnitt 5.1.1) sichtbar werden. Im Kontrast zu den typisch vormodernen Friedensdarstellungen als Friedens- und Herrscherallegorien ließe sich nach 1648 eine Wendung hin zu einem historischpolitischen Realismus vernehmen, der die Gesandten und die konkreten Verhandlungsorte realiter ins Bild zu setzen suchte.396 395 Eine Tatsache, die in der Tat – um mit den Worten von Repgen zu sprechen - „im deutschen Geschichtsbild eine merkwürdig bescheidene Rolle“ spielt; REPGEN 1999b, S. 18. 396 BURKHARDT, Johannes (1998): Auf dem Wege zu einer Bildkultur des Staatensystems. Der Westfälische Frieden und die Druckmedien, in: DUCHHARDT, Heinz (Hg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte. München: Oldenbourg, S. 81-114; Burkhardt bezieht sich hier ferner auf KAULBACH, Hans-Martin (1997): Pax im Kontext. Zur Ikonographie von Friedenskonzepten vor und nach 1648, in: De zeventiende eeuw 13, S. 323-334; vgl. dazu auch DERS. (2003): Friede als Thema der bildenden Kunst – ein Überblick, in: AUGUSTYN, Wolfgang (Hg.): Pax. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens. München: Scaneg, S. 161-242, hier S. 211f.

5.1 „Pax universalis“: Der Westfälische Friedenskongress (1648)

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Die Bildlichkeit des Westfälischen Friedenskongresses sollte jedoch – dies muss vor dem Hintergrund dieser These betont werden – nicht als radikale kulturelle Wende verstanden werden,397 sie steht vielmehr stark in Zusammenhang mit den in Abschnitt 5.3.1 skizzierten Merkmalen politischer Kultur und Kommunikation und spiegelt somit zuvorderst die Gleichzeitigkeit alter ständisch-hierarchischer Vorstellungen von Ordnung sowie modernerer Vorstellungen von Egalität und Gleichrangigkeit wider.398 Die Darstellungen der Gesandten des Westfälischen Friedenskongresses – auf die ich im nächsten Abschnitt nochmals detaillierter zurückkommen werde – stellen jedoch ohne Frage eine innovative, für folgende Kongresse stilbildende, symbolische Repräsentation von politischer Ordnung dar. Was die Möglichkeiten zur symbolischen Repräsentation von Identität(en) auf dem Kongress selbst betrifft, so sind diese – ebenso wie das im letzten Abschnitt diskutierte Kongresssetting im Allgemeinen - wiederum stark durch die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen der Epoche geprägt. Die Verfahren des Kongresses als auch die Möglichkeiten und Form öffentlicher Zusammenkünfte wurden durch die Logik frühneuzeitlicher zeremonieller Kultur bedingt, wodurch der Westfälische Friedenskongress als „environment of mutual monitoring possibilities“ (Goffman) sehr spezifische Charakteristika aufwies. So stilbildend die Bildlichkeit des Kongresses für spätere diplomatische Zusammenkünfte also auch gewesen sein mag – auf dem Kongress selbst waren Identitätspraktiken als symbolische Repräsentation von Akteuren und politischer Ordnung ein kompliziertes Unterfangen. Aufgrund der epochenspezifischen kulturellen Elemente der zeremoniellen Rangkonflikte – die sich ja letztlich als eine prekäre Ordnung scharf konkurrierender Identitätsansprüche verstehen ließen - sowie der Bedeutung der symbolischen Form in der politischen Kommunikation waren sie ein potentiell explosiver Konfliktstoff, der die Kongressarbeit erheblich verzögern, wenn nicht sogar komplett sprengen konnte.

397 Dorothee Linnemann argumentiert in diesem Sinne, dass dieser Prozess erst um die Wende hin zum 18. Jahrhundert seine volle Ausprägung erlangt; LINNEMANN 2008; zur Entwicklung der Ikonographie von Friedensschlüssen vgl. ferner MANEGOLD, Cornelia (2013): Bilder diplomatischer Rangordnungen, Gruppen, Versammlungen und Friedenskongresse in den Medien der Frühen Neuzeit, in: KAULBACH, Hans-Martin (Hg.): Friedensbilder in Europa 1540-1815. Kunst der Diplomatie – Diplomatie der Kunst. Berlin: Deutscher Kunstverlag, S. 4365. 398 Ein Punkt, der in Burkhardts Argumentation fairerweise jedoch auch implizit gesehen werden muss; er führt einige bildliche Allegorien auf den Westfälischen Frieden an, die sowohl Elemente vormoderner Friedens- und Herrscherbildnisse als auch moderne Gesandtendarstellungen beinhalten; vgl. etwa BURKHARDT 1998, S. 98 (Abb. 5).

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Abbildung 7:

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Darstellung der Beschwörung des schwedisch-kaiserlichen Vorfriedens in der Residenz Oxenstiernas in Osnabrück. Quelle: BUSSMANN/SCHILLING 1998, S. 398.

In Anbetracht dieser Rangkonflikte und Präzedenzproblematiken waren die Verhandlungen an sich also denkbar ungeeignete Szenerien der öffentlichen Identitätsrepräsentation, da sie ja – wie bereits diskutiert – aufgrund dieser Problematiken abseits der Öffentlichkeit stattfanden. Bis auf die hier abgebildete Szene – das Verhandlungssetting im Vorfeld der Beschwörung des schwedisch-kaiserlichen Vorfriedens in Osnabrück - gibt es tatsächlich keine bildlichen Darstellungen solcher Verhandlungen. Das Bild zeigt die Gesandten in einer strengen Sitzordnung. Mit dem Rücken zum Fenster sitzen die kaiserlichen Gesandten, von ihnen aus gesehen links die schwedischen Gesandten. Rechts von den kaiserlichen Gesandten sind die Kurfürsten zu sehen, links davon an einer langen Tafel die Reichsfürsten, rechts von diesen abgesetzt die Vertreter der Reichsstädte. Links von den schwedischen Gesandten nahmen die Sekretäre Platz.399 Hier kommen also sowohl die Beziehungen zwischen den Hauptakteuren (Schweden/Reich) als auch 399 Ebd., S. 399.

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die verschiedenen Positionen innerhalb der streng hierarchischen Reichsordnung zum Ausdruck - neben der Sitzordnung auch daran erkennbar, dass die rangniederen Teilnehmer ohne Hut abgebildet sind (es handelt sich dabei um die Sekretäre sowie die Bevollmächtigten der Reichsstädte Straßburg, Lübeck, Regensburg, Nürnberg, Colmar und Dortmund).400 Neben individuellen Identitäten bzw. Identitätskonstellationen zwischen Akteuren kommen hier also auch Repräsentationen zwischenstaatlicher bzw. innerstaatlicher (Reichs-) Ordnung zum Ausdruck. Weitere Szenerien des Kongressgeschehens, die „mutual monitoring possibilities“ boten, waren die verschiedenen gesellschaftlichen Anlässe, die abseits des formellen Verhandlungssettings stattfanden. Im Sinne der Leitmetapher dieser Arbeit sind an dieser Stelle sicherlich zuvorderst die Tanz- und Theatervorstellungen zu nennen, insbesondere jene, die von den Gesandtschaften selbst veranstaltet wurden, meist auch unter Beteiligung der Delegierten als Darsteller. Diese boten den Veranstaltern die Möglichkeit, sowohl sich selbst als großzügige Gastgeber zu inszenieren, als auch durch die Struktur der Darbietungen bestimmte politische Inhalte zu transportieren bzw. Sympathien bei potentiellen Verbündeten einzuwerben. All diese Zwecke erfüllte etwa das Freudenballett zur Geburt des erstgeborenen Sohnes des französischen Hauptbevollmächtigten Longueville, das am 11. Februar 1646 im Quartier Serviens erstaufgeführt wurde.401 Verfasst wurde es von dem Geistlichen der französischen Delegation Ogier, der in Anlehnung an die Prophezeiungen des Nostradamus eine Handlung entfaltete, in deren Zentrum der Sohn Longuevilles quasi als pars pro toto die Tugendhaftigkeit, Friedensliebe und göttliche Herrschaftslegitimation der französischen Krone repräsentierte – eine sehr plastische performative Synthese französischer Identitätsnarrative und entsprechender Statusansprüche. Zieht man zudem in Betracht, dass die Aufführungen im zeitlichen Kontext mit der Zulassung der Reichsstände als Verhandlungsparteien stehen – was die politischen Sympathien im Reich zugunsten des Kaisers verschoben hatte – kann man diese Aufführung in Verbindung mit einem Bankett für die Reichsstände sicherlich als Gegenmaßnahme interpretieren.402 Auch das im Vorjahr, am 26. Februar 1645, uraufgeführte Ballet de la Paix erfüllte diese Zwecke. An den beiden Folgetagen in den Quartieren Nassaus, Wartenbergs sowie 400 BRUNERT, Maria-Elisabeth (2011): Non-verbale Kommunikation als Faktor frühneuzeitlicher Friedensverhandlungen. Eine Untersuchung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, in: KAMPMANN, Christoph/LANZINNER, Maximilian/BRAUN, Guido/ROHRSCHNEIDER, Michael (Hg.): L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens, S. 314f. 401 Weitere Aufführungen folgten in den folgenden Tagen in der Residenz Longuevilles sowie im Rathaus zu Münster; STIGLIC, Anja (1998a): ‚Ganz Münster ist ein Freudental‘. Öffentliche Feierlichkeiten als Machtdemonstration auf dem Münsterschen Friedenskongress. Münster: Agenda, S. 231. 402 Ebd., S. 232.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

im Rathaus für die Bürgerschaft Münsters erneut aufgeführt, wurde die Aufführung jeweils für ein anderes Publikum dargeboten. Kerninhalt des ebenfalls von Ogier verfassten Stückes war eine Allegorie auf den errungenen Frieden, der den situativen Kontext des Kongresses und den gemeinsamen Triumph der Christenheit – freilich auch der herausragenden Rolle Frankreichs darin - symbolisch darstellte.403 Inhaltlich transportierte es also Vorstellungen französischer Identität und europäischer politischer (Friedens-)Ordnung, allerdings tangierte der Anlass auch unter situativen Gesichtspunkten Fragen der Repräsentation von Ordnung. Je nach Publikum flammten bei den Aufführungen die schwelenden Präzedenzstreitigkeiten auf: im Quartier Wartenbergs zwischen den kurbayerischen Vertretern und dem Deutschordenmeister, im Rahmen der öffentlichen Gala im Rathaus hingegen um den rechtmäßigen Platz des schwedischen Residenten in Münster, dem ein bevorzugter Sitzplatz eingeräumt worden war. Neben der inhaltlichen Repräsentation der allgemeinen (Friedens-)Ordnung in Europa war also auch die Repräsentation der schwedisch-französischen Freundschaft im Rahmen dieser Veranstaltung für die Gastgeber von eminenter politischer Bedeutung.404 Zu den konfliktreichsten Szenerien, die den Kongress bereits zu Beginn zeremoniell belasteten zählten indes die Einzüge der Gesandtschaften – insbesondere jener Gesandtschaften, die um die „A-Position“ im politischen Ordnungsgefüge Europas buhlten. Der Einzug einer Gesandtschaft ist ein sehr instruktives Beispiel für eine frühneuzeitliche Identitätspraxis, da er eine hervorragende Möglichkeit bot, wichtige Identitätsnarrative gleich zu Beginn einer diplomatischen Zusammenkunft zur Schau zu stellen.405 Eine etwas genauere Betrachtung dieser Szenen auf dem Westfälischen Friedenskongress lohnt also an dieser Stelle. Waren die ersten Einzüge der kaiserlichen Gesandten sowie des venezianischen Vermittlers Contarini in Münster noch vergleichsweise unspektakulär gehalten, wurde

403 Vgl. Ebd., S. 223ff; eine detaillierte Schilderung des Ballet de la Paix findet sich auch bei DETHLEFS, Gerd (1998d): Friedensappelle und Friedensecho. Kunst und Literatur während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden (Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster), S. 169-176. 404 STIGLIC 1998a, S. 223. 405 Dabei hatte jedoch nicht jede in Münster eintreffende Gesandtschaft das Recht und die finanziellen Mittel, einen feierlichen Einzug zu halten. Die Anreise der Bevollmächtigten kleinerer Potentaten und Reichsstände wurde lediglich angezeigt, während die Vertreter des Kaisers, der „Kronen“, der Friedensvermittler, der Generalstaaten sowie der Kurfürsten das Privileg hatten, sich feierlich einholen zu lassen; STIGLIC, Anja (1998b): Zeremoniell und Rangordnung auf der europäischen diplomatischen Bühne am Beispiel der Gesandteneinzüge in die Kongreß-Stadt Münster, in: BUSSMANN, Klaus/SCHILLING, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa (Bd. 1). München: Bruckmann, S. 391-396; Online Fassung Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte.de/tex446, 16.05.2019.

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die zur Schau gestellte Repräsentation angesichts immer weiterer bereits anwesender Delegationen kontinuierlich gesteigert. In akribischen Beobachtungen von den Vertretern der jeweils anderen Souveräne bis ins letzte Detail notiert, avancierten die Einzüge zum Politikum ersten Ranges.406 Da sich mit zunehmender Anzahl bereits anwesender Delegationen die Frage nach deren Beteiligung am Einzug in Form einer feierlichen Einholung stellte, waren die Einzüge folglich zunehmend von erbitterten Präzedenzstreitigkeiten im Vorfeld geprägt. Die symbolische Brisanz der Einzüge ergab sich also vor allem aus der Tatsache, dass sie durch die Beteiligung weiterer Parteien zu einer genuinen Repräsentation von politischer (Rang-)Ordnung bzw. spezifischer Identitätsbeziehungen wurden. Um den schier endlosen Präzedenzstreitigkeiten ein Ende zu bereiten, hatte der päpstliche Mediator Fabio Chigi vor dem Einzug des französischen Hauptbevollmächtigten Longueville unter einem „enormen Einsatz von Kraft und Nerven“407 durchsetzen können, dass die in Münster bereits anwesenden Delegationen sich am Einzug nicht noch mit eigenen Karossen beteiligten. Da in diesem Fall die Präzedenzstreitigkeiten zwischen den Kurfürsten und Venedig erneut virulent zu werden drohten, hätte dies zu erbitterten Kontroversen – und somit erheblichen Verzögerungen, wenn nicht sogar zu einer Blockade – geführt.408 Es wurde also vereinbart, dass sich an den feierlichen Einzügen nur die eigenen bereits anwesenden Delegationsmitglieder sowie ggf. Verbündete beteiligen sollten.409 Dennoch nahm das Entrée Longuevilles fast grotesk pompöse Züge an und sorgte weit über die Stadtgrenzen Münsters für Aufsehen. Man hatte dafür das strahlende Sommerwetter eines regenfreien Nachmittags (30. Juni 1645) abgewartet, wobei die Entourage aus insgesamt 108 Reitern in kostbaren Gewändern bestand, nebst 31 martialisch anmutenden Fußsoldaten, 54 Dienern, neun prunkvoll dekorierten Kutschen, davon allein vier sechsspännigen, vorneweg vier Bagagewagen und 22 mit teuren Tüchern bedeckte Tragetiere.410 Dass die bereits anwesenden Delegationen nicht an der feierlichen Einholung beteiligt waren, hieß indes nicht, dass sie das Ereignis gänzlich ignorierten – ganz im Gegenteil. Vielmehr wechselten die Gesandten in die Rolle der Zuschauer über, entweder durch „Spione“, die unter das zuschauende Volk gemischt wurden, oder durch die Verfolgung des Zuges aus den

406 Ebd. 407 REPGEN 1999a, S. 731. 408 Wie Chigi am 30. Juni nach Rom schreiben sollte, sah er tatsächlich fast den gesamten Kongress an dieser Frage scheitern; Chigi an Pamphili, Münster 1645 VI 30 dech. VII 19 (Nunz. Paci 17 fol. 183/184), zit. nach REPGEN 1999a, S. 709 (Anm. 57). 409 Vgl. zu dieser Kontroverse STOLLBERG-RILINGER 2011, insb. S. 147-149, sowie REPGEN 1999a, S. 730f. 410 REPGEN 1999a, S. 730.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Quartieren heraus.411 Das Entrée Longuevilles übertraf dabei in Münster alles bisher Dagewesene in solch einem Maße, dass Berichte und Darstellungen darüber in ganz Europa verbreitet wurden.412 Dies nötigte den spanischen Gesandten (Graf von Peñaranda) wiederum dazu, bei seinem Einzug am 5. Juli ähnlichen Aufwand zu betreiben,413 wobei dieser jedoch aufgrund seiner schwierigeren Ausgangslage – einem ungleich kleineren Budget und Gefolge – in keinster Weise in der Lage war, mit der Prachtentfaltung Longuevilles mitzuhalten.414 Man hielt sich hier also gerne an die verabredete Regelung, sich nur von den Mitgliedern der eigenen Delegation einholen zu lassen und hielt den Aufwand vergleichsweise gering. Wenn man jedoch die in den spanischen Korrespondenzen überlieferte Einzugsanordnung in Rechnung stellt, war Peñarandas Zug mit insgesamt ca. 150 Personen, 20 Pagen, 12 Edelmännern und 24 Lakaien und sieben sechsspännigen Kutschen nebst zehn Personen- und zahlreichen Bagagewagen sowie einer Sänfte415 keinesfalls als klein einzustufen. Dass Peñarandas Einzug jedoch in den Kommentaren der Zuschauer im Vergleich zur französischen Delegation meist als erheblich glanzloser und kleiner beurteilt wurde, zeugt indes von der Bedeutung, die den Einzügen als Identitätsrepräsentation beigemessen wurde sowie von den im Laufe der Anreisen der Gesandten diesbezüglich offensichtlich gestiegenen Ansprüchen.416 Eine weitere für das Konzept der Identitätspraxis interessante Szene ist der (freilich unter anderen Vorzeichen stattgefundene) Einzug der niederländischen Gesandtschaft in Münster. Die aus acht Personen bestehende Abordnung formierte sich nach dem politischen und repräsentativen Gewicht der sieben Provinzen untereinander. Das Präsidium übernahm Barthold von Gent als Vertreter des ehemaligen Herzogtums Geldern, gefolgt von Jan van Mathenesse und Adriaen Pauw als Gesandte der wohl mächtigsten Provinz Holland. Ihnen schlossen sich Jan Knuyt für Zeeland, Godard van Reede für Utrecht, Willem van Ripperda für Oberijssel, 411 STIGLIC 1998a, S. 104f. 412 In Flugblättern wurde über jedes Detail des Einzuges berichtet, vgl. GAR STATTLICHER AUFF: UND EINZUG, Dero Aller Christlichsten Königl. Mayest. zu Franckreich, etc. hochansehenlichen Herrn Abgesandten zu der allgemainer Fridenshandlung Hertzogen von Longeville in Münster, wie solcher daselbst mit großem Pracht in schöner Ordnung am 30. Junij 1645 vollzogen, Münster 1645; EINZUG IHRER FÜRST. DURCHL. DE LONGUEVILLE als Königl. Französ. Hochansehnlichen Gesandten nach Münster. Gehalten den 20.30. des Brachmonats umb abends 4 Uhr im Jahr 1645, Münster 1645. 413 REPGEN 1999a, S. 730. 414 Zumal die Dominanz der schwarzen spanischen Hoftracht und die Einschränkungen aufgrund der spanischen Hoftrauer (man trauerte um Isabella von Bourbon, die erste Frau Phillips IV.) wenig farblichen Spielraum ließen und die bunten Livreen des französischen Zuges nachteilig kontrastierten; STIGLIC 1998a, S. 112f. 415 STIGLIC 1998a, S. 115. 416 Ebd.

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Frans von Donia für Friesland und Adriaen Clant für Groningen an.417 Nachdem alle Fragen bezüglich Ehrenzeichen und –titulaturen geklärt waren, hielten am Abend des 11. Januar 1646 „die Stadtischen Herren abgesandten/ zu besagtem Münster/ ihren Einzug mit großem Pracht. Welche von vielen entgegengeschickten Personen und Gutschen eingeholet/ auch nachgehens von den Hispanischen/ Venezianischen/ und anderen gesandten visitieret/ unnd mit dem Praedicat Ihrer Excellenz respectieret/ und geehret wurden.“418

In diesem Fall wurde also die Abmachung der Nicht-Einholung durch andere Gesandtschaften nicht eingehalten - die Portugiesen und Franzosen erwarteten den Reisezug der Niederländer etwa eine halbe Meile vor den Toren der Stadt. Nach der Begrüßung im gewohnten Schema formierten sich hinter dem Stadtkommandanten zu Pferde zwei Trompeter sowie 14 Lakaien in rot-silberner Livree vor der ersten sechsspännigen Hauptkutsche der Niederländer. Diese Anordnung wiederholte sich vor der zweiten Hauptkutsche, an die sich die Kutschen Longuevilles, d’Avaux‘, Serviens sowie zweier portugiesischer Gesandten anschlossen. Das Ende des Zuges markierten indes zwei vierspännige Kutschen, zehn reitende Diener in unterschiedlichen Uniformen sowie 14 geschlossene Bagagewagen. Insgesamt dürfte sich das gesamte Gefolge auf ca. 100 Personen belaufen haben.419 Interessant an der Ausstattung der niederländischen Entourage ist dabei die Tatsache, dass die Niederländer ein Privileg für sich beanspruchten, dass eigentlich nur Souveränen vorbehalten war – der Einzug in einer sechsspännigen Kutsche.420 Doch auch durch die Einholung durch andere Gesandtschaften sowie durch die Streckenführung des Einzuges durch die Stadt mussten die Niederländer den Vergleich mit anderen europäischen Souveränen nicht scheuen. Der „zeremonielle Erfolg“ der Anerkennung des Empfangszeremoniells durch die anderen europäischen Potentaten bestätigte die Niederländer somit bereits vor den Verhand-

417 Ebd., S. 116. 418 LOTICHIUS, Johann Peter (1707): Theatri Europaei Fünffter Theil. Das ist: Außführliche Beschreibung Aller Denckwürdigen Geschichten, Die sich in Europa, Als Hoch- und NiederTeutschland, Franckreich, Hispanien, Jtalien, Groß-Britannien, Dennemarck, Schweden, Polen, Moscaw, Böhmen, Hungarn, Siebenbürgen, Wallachey, Moldaw, Jn der Türckey und Barbarey ... vom Jahr 1643. biß ins 1647. Jahr, allerseits begeben und verlauffen. Frankfurt: Merian., S. 1022. 419 STIGLIC 1998a, S. 119. 420 HUISKAMP, Marloes (1998): Einzug des holländischen Gesandten Adriaen Pauw in Münster, in: BUSSMANN, Klaus/SCHILLING, Heinz (Hg.) (1998). 1648. Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog zur 26. Europaratsausstellung (Text-band 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft), S. 271-272.

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lungen – und somit der formellen Anerkennung ihrer Souveränität – in ihren Statusansprüchen und unterstrich ihre Identität als unabhängiges und gleichberechtigtes politisches Gemeinwesen.421

Abbildung 8:

TER BORCH, Gerard (um 1646): Einzug des Gesandten Adriaan Pauw in Münster, Stadtmuseum Münster. Quelle: Wikicommons.

Das oben abgebildete Gemälde des niederländischen Malers Gerard Ter Borch Einzug des Gesandten Adriaen Pauw in Münster - entstanden als Auftragsarbeit für Pauw422 - wird gemeinhin als eine bildliche Demonstration dieser erfolgreichen Statusbehauptung gesehen. Das Bild zeigt den Einzug Pauws mit seiner Frau Anna von Ruytenburgh und seiner Enkelin in einer sechsspännigen Kutsche. Entgegen der üblichen Deutungen sollte jedoch betont werden, dass das Bild nicht den o.a. Einzug der niederländischen Gesandtschaft am 11. Januar zeigt, sondern höchstwahrscheinlich einen der Einzüge Pauws nach vorheriger Heimreise im Mai 1646 - einem Anlass, zu dem mit großer Wahrscheinlichkeit keine so prachtvolle Karosse bzw. begleitende Dienerschaft aufgewartet wurde.423 Wie der dänische Kunsthistoriker Sturla Gudlaugsson – ein ausgewiesener Experte des Werkes Ter Borchs - zudem anmerkt, steht das Bild nicht in der Tradition der Ikonographie 421 Vgl. STIGLIC 1998a, S. 120. 422 KETTERING, Allison (1998a): Gerard Ter Borch and the Treaty of Münster. Den Haag: Mauritshuis, S. 21. 423 Ebd., S. 22.

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herrschaftlicher und gesandtschaftlicher Einzüge, sondern rückt durch die Darstellung seiner Familienmitglieder in den Bereich des Privaten und erinnert eher an eine Darstellung einer Spazierfahrt.424 Diese „Inkongruenzen“ deuten auf einen interessanten Aspekt bezüglich der Einzüge als Identitätspraxis im Sinne des theoretischen Modells dieser Arbeit hin: sie stellen zwar durchaus Selbstdarstellungen mit dem klaren politischen Ziel der Statusbeanspruchung bzw. -anerkennung425 eines außenpolitischen Akteurs dar, sind dabei jedoch eigentlich immer Darstellungen von Synthesen verschiedener – zu einem guten Anteil auch persönlicher – Identitäten des Gesandten. Im Falle Pauws vereint sich die Repräsentation des Anspruchs auf niederländische Souveränität gleichermaßen mit dem persönlichen Identitätsnarrativ des sozialen Aufstiegs – Pauw stammte ursprünglich aus einer bürgerlichen Familie Amsterdams, stieg hier wie auch in der europäischen Politik insgesamt dank seiner gesandtschaftlichen Tätigkeiten schnell auf und wurde 1613 vom englischen König Jakob I. und 1624 von König Ludwig XIII. geadelt. Die „Erzählung“ des gelungenen niederländischen Statusaufstiegs erschient hier also gleichzeitig mit der des eigenen sozialen Aufstiegs Pauws.426 Diese Gleichzeitigkeit trifft im Übrigen auch auf den Einzug Longuevilles zu – ein wichtiges Ziel der extremen Prachtentfaltung des Einzuges war sicherlich die Repräsentation des Ranges und des Prestiges der „allerchristlichsten“ französischen Krone, allerdings stellte Longueville gleichzeitig auch das Prestige seiner eigenen Person sowie – als Sohn Heinrichs I. von Bourbon-Orléans - seine verwandtschaftlichen Beziehungen zum französischen Herrscherhause zur Schau. Auch hier verschmolzen also verschiedene Identitätsnarrative in einer performativen Synthese. Die hier in gebotener Kürze skizzierten Szenerien der Identitätsrepräsentation stellen natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der zahlreichen „Bühnen“ des – so man berücksichtigen muss: mehrjährigen und äußerst komplexen - Kongressgeschehens dar; bisher unbeachtet geblieben sind hier etwa noch die zahlreichen religiösen Feste und Prozessionen, die ebenfalls einige der hier bereits diskutierten 424 GUDLAUGSSON, Sturla (1959): Gerard Ter Borch (Bd. 1). Den Haag: Nijhoff, S. 53. 425 DETHLEFS, Gerd (1999): Kunst und Literatur während der Verhandlungen um den Westfälischen Frieden, in: DUCHHARDT, Heinz (Hg.): Städte und Friedenskongresse. Köln: Böhlau, S. 37. 426 LINNEMANN, Dorothee (2007): Representatio Majestatis? Zeichenstrategische Personkonzepte von Gesandten im Zeremonialbild des späten 16. und 17. Jahrhunderts, in: BÄHR, Andreas/ BURSCHEL, Peter, JANCKE, Gabriele (Hg.): Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Köln et al.: Böhlau, S. 72; Linnemann spricht in diesem Zusammenhang auch von den „zwei Körpern des Gesandten“, Ebd., S. 62f. Die Dissertation von Niels F. May unterstreicht ebenfalls die vielfältigen Funktionen des Zeremoniells, das meist die Repräsentation vielschichtiger (oft auch vordergründig privater bzw. persönlicher) Identitäten zum Zweck hatte; vgl. MAY, Niels (2016): Zwischen fürstlicher Repräsentation und adeliger Statuspolitik. Das Kongresszeremoniell bei den westfälischen Friedensverhandlungen (Beihefte der Francia, Bd. 82). Ostfildern: Thorbecke.

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Aspekte veranschaulichen.427 Auch die Unterzeichnungszeremonien, Ratifikationsfeiern, wechselseitigen Bankette und öffentlichen Friedensfeiern wären hier zu nennen. Im folgenden Abschnitt soll jedoch eine dieser für den Friedensschluss zentralen Szenen einer tiefergehenden dichten Beschreibung unterzogen werden, im Rahmen derer alle hier bereits diskutierten Aspekte zum Tragen kommen: der Austausch der Ratifikationsurkunden und die Beschwörung des Friedens von Münster. 5.1.4 Die Szene: Beschwörung des Friedens von Münster (15. Mai 1648) Über die Unterzeichnungs- bzw. Ratifikationszeremonien der Westfälischen Verträge existieren zahlreiche Dokumente in den Diarien und Korrespondenzen der Delegierten,428 die Beschwörung des spanisch-niederländischen Friedens im Münsterischen Rathaussaal gehört jedoch sicherlich zu den – auch bildlich - am besten dokumentierten Szenen des Westfälischen Friedenskongresses. Das unten abgebildete Bild Gerard Ter Borchs Die Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster gehört dabei zu den emblematischsten Bildern und begegnet uns in den meisten historischen Lehrbüchern oder Darstellungen des Kongresses. Zudem wird es häufig als stilbildendes Epochenwerk gesehen, das die – bereits im letzten Abschnitt skizzierte - neue Wendung der Bildkultur der Diplomatie von der symbolischen Friedens- und Herrscherallegorie hin zu einem historisch-politischen Realismus repräsentiert. Tatsächlich war das zeithistorische Sujet des Bildes für die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts ungewöhnlich429 und sollte sich für Darstellungen diplomatischer Ereignisse in der Folge als äußerst prägend erweisen.430 Gudlaugsson konstatiert gar, dass das Bild in der gesamten

427 Vgl. zu den Prozessionen STIGLIC 1998a, S. 147-165. 428 Für einen hervorragenden Überblick vgl. LANZINNER, Maximilian (2013): Beglaubigungspraktiken beim Abschluss des Westfälischen Friedens im historischen Vergleich, in: DUCHHARDT, Heinz/ESPENHORST, Martin (Hg.): Utrecht – Rastatt – Baden 1712–1714. Ein europäisches Friedenswerk am Ende des Zeitalters Ludwigs XIV, S. 185-206. 429 Zeitgenössische Begebenheiten waren bis dahin meist nur in historisierender bzw. metaphorischer Darstellung üblich, vgl. KETTERING, Allison (1998b): Gerard ter Borchs „Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster“ als Historienbild, in: BUSSMANN, Klaus/ SCHILLING, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa (Bd. 2). München: Bruckmann, S. 605-614; Online Fassung Portal Westfälische Geschichte, http://www.westfaelische-geschichte. de/tex523, 16.05.2019. 430 Für viele folgende Friedensdarstellungen sollte es gewissermaßen als Modell dienen, so etwa dem ähnlich aufgebauten Gemälde Henri Gascards zum Abschluss des Nijmegener Friedens, DUCHHARDT 2014, S. 33 (Anm. 1).

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holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts „das einzig wirklich bedeutsame Historienbild“ geworden sei, „das ein zeitgenössisches Ereignis verewigt“.431

Abbildung 9:

TER BORCH, Gerard (1648): Der Friede von Münster. Quelle: Wikicommons.

Ter Borch – mittlerweile Teil des Gefolges des spanischen Gesandten Peñaranda – hatte dieser Szene tatsächlich als Augenzeuge beigewohnt, eine Tatsache, der er durch die Darstellung seiner den Betrachter direkt anschauenden Person im linken Bildrande Ausdruck verlieh.432 Die Initiative zum Bild ging auf Ter Borch persönlich zurück, das Bild scheint keine Auftragsarbeit gewesen zu sein. Es sollte zunächst nur als Vorlage für einen Kupferstich dienen und war vom Künstler somit offenbar von Anfang an für eine massenweise Verbreitung gedacht. Für die Er-

431 GUDLAUGSSON 1959, S. 64. 432 Durch den direkten Blick ermöglicht der Künstler dem Betrachter somit quasi auch selbst die Teilnahme; DETHLEFS 1998d, S. 250.

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stellung eines originalgroßen Kupferstichs beauftragte er den namhaften Kupferstecher Jonas Suyderhoef gleich nach seiner Rückkehr aus Münster.433 Dieser Stich war als publizistisches Zeugnis gedacht, das das Ereignis für eine größere Öffentlichkeit darstellen sollte.434 Das Bild ist allerdings natürlich - trotz seines außergewöhnlichen Realismus und der offensichtlichen Auftragsferne im Entstehungskontext – nur mit Einschränkungen als realitätsgetreue Abbildung zu betrachten. Da diese Szene jedoch wie eingangs bemerkt zu den am besten dokumentierten Szenen des Kongresses gehört, lassen sich hier neben den kunsthistorischen Analysen zum Bild und der Rolle Ter Borchs selbst435 auch zahlreiche schriftliche Berichte der Beteiligten zum genauen Ablauf der Szene hinzuziehen. Sehr ausführliche Berichte verdanken wir etwa dem niederländischen Delegationsmitglied und Rechtsgelehrten Johannes Cools, der seiner Übersetzung des Vertragstextes eine ausführliche Beschreibung der Ratifikationszeremonie sowie der folgenden Friedensfeiern anschloss.436 Aus der Perspektive der Spanier liefert indes der offizielle Bericht der spanischen Gesandtschaft ein sehr detailliertes Zeugnis.437 Auch der Fürstbischof von Osnabrück Franz Wilhelm von Wartenberg behandelt die Szene in seinem 433 Die Publikation dieses Kupferstiches muss Ter Borch noch über Jahre eine Quelle nennenswerter Einkünfte gewesen sein. So zeugt etwa die nicht unerhebliche Summe von 100 Karolusgulden, die die Stadt Kampen für 23 Exemplare gezahlt haben soll, von dem stattlichen Wert, der dem Bildnis zugeschrieben worden sein muss; GUDLAUGSSON 1959, S. 67. 434 Dessen Bildunterschrift betont entsprechend die Tatsächlichkeit des Ereignisses mit den Worten „ICON EXACTISSIMA. QUA AD VIVUM EXPRIMITUR SOLENNIS CONVENTUS [...]. [Genaues Abbild, das nach dem Leben die hohe Versammlung darstellt [...]]; siehe KETTERING 1998b; DETHLEFS 1998d, S. 254. 435 Hier sind die bereits zitierten Beiträge der Experten Allison Kettering und Sturla Gudlaugsson zu nennen. 436 COOLS, Johannes (1648): Friedens-Vertrag zwischen seiner katholischen Majestät und den Herren Generalstaaten der Vereinigten Provinzen der Niederlande. Unterzeichnet von beiden Seiten am 30. Januar, ratifiziert und beschworen am 15. Mai, veröffentlichst am 16. desselben Monats, zu Münster in Westfalen im Jahre 1648. […] [N]ach besten Gewissen, nach Vollmacht und Aufforderung der Vornehmsten und Gesandten, übersetzt von Johannes Cools, Rechtsgelehrter aus Horn in Holland, Beobachter der vierjährigen Friedensverhandlungen, aus Liebe zum öffentlichen Frieden, auf eigene Kosten. Angeschlossen die Viertägigen Handlungen oder Feierlichkeiten der Ratifikationen, Beeidigung, Veröffentlichung, und jener anderen bald folgenden Feiern. […]. Nachdruck und Übersetzung von Ralf Klötzer in: DETHLEFS, Gerd (Hg.) (1998): Der Frieden von Münster – De Vrede van Munster. Der Vertragstext nach einem zeitgenössischen Druck und die Beschreibungen der Ratifikationsfeiern. De verdragstekst naar een contemporaine druk en de beschijvingen van de ratificatievieringen. Münster: Regensberg, S. 145-207. 437 MARTIN de BARRIO, Juan (1648): Relación de la forma con que se han hecho las entregas de las ratificaciones de la paz de España y los Estados generales de las Provincias unidas, y de su publicación, que se celebró en la ciudad de Munster de Westfalia á 15 y 16 de mayo deste año de 1648. Madrid.

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Diarium vergleichsweise ausführlich und detailliert.438 Aber auch in zeitgenössischen Chroniken439 und zeremonialwissenschaftlichen Werken440 lassen sich Beschreibungen der Szene finden. Diese Quellen geben zusätzlich zur Beschreibung der Szene selbst – die Beschwörung bzw. den Austausch der Ratifikationsurkunden – auch Auskunft über die Vorbereitungen der Zeremonie bzw. über die Ankunft der Gesandten am Ort des Geschehens. Wie wir diesen verschiedenen Quellen entnehmen können, wurden am Vortag, den 14. Mai, zunächst die beiden Sekretäre der spanischen bzw. niederländischen Delegation abgeordnet, gemeinsam mit dem Bürgermeister den Münsterischen Rathaussaal in Augenschein zu nehmen und die Örtlichkeit dabei auf Tauglichkeit im Sinne der Möglichkeit zur anlassgemäßen Dekoration und Ausstattung zu prüfen. Daraufhin wurde noch an diesem Tag die Anordnung erlassen, das Rathaus für die Zeremonie am Folgetag herzurichten.441 Am Folgetag, den 15. Mai, wurden auf dem Marktplatz vor dem Rathaus fünf Kompanien – drei davon von Münsterischen Bürgern im Gewehr – platziert442 bevor die Szene mit den Einzügen der Gesandtschaften am Ort des Geschehens begann. Gegen 8 Uhr morgens443 erreichten zunächst die Sekretäre der niederländischen sowie daraufhin der spanischen Delegation das Rathaus. Wenig später setze sich der erste Teil der niederländischen Gesandtschaft – bestehend aus dem Gesandten aus Geldern Bartholt van Gent und dem holländischen Gesandten Adriaen Pauw - begleitet durch die Münsterische Bürgerschaft in Richtung des Rathauses in Bewegung. Ähnlich wie bei den bereits im letzten Abschnitt skizzierten Einzügen der Gesandtschaften zu Beginn des Kongresses sind hier die Ausstattung sowie die Anordnung der Einzüge im Sinne der Identitätsrepräsentation interessant: Pauw und

438 Diarium Wartenberg, Eintrag vom 15. Mai 1648 (Nr. 224: Zeremoniell der Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedens vom 30. Januar 1648), in: ACTA PACIS WESTPHALICAE, Serie III, Abteilung D: Varia, Band 1: Stadtmünsterische Akten und Vermischtes (hg. von BRAUBACH, Max/REPGEN, Konrad/LANZINNER, Maximilian). Münster: Aschendorff, S. 223-227. 439 SCHLEDER, Johann Georg (1663): Theatri Europaei. Sechster und letzter Theil. Das ist Außführliche Beschreibung der Denckwürdigsten Geschichten so sich hin und wieder durch Europam, als in Hoch und NiederTeutschland, Franckreich, Hispanien, Italien, GroßBritannien, Dennemärck, Schweden, Polen, Moscau, Schlesien, Böhmen, Ober und NiederOesterreich, Hungarn, Siebenbürgen, Wallachey, Moldau, Türckey und Barbarien so wohl im Weltlichen Regiment als KriegsWesen, Bevorab bey denen zwischen mehrentheils kriegenden Partheyen nach Münster und Oßnabrück angesetzten General FriedensTractaten vom Jahr Christi 1647 biß 1651. allerseits begeben und zugetragen. Frankfurt: Merian, S. 458. 440 LÜNIG 1719, S. 809f. 441 COOLS 1648, S. 44; SCHLEDER 1663, S. 458; LÜNIG 1719, S. 810. 442 Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 223. 443 COOLS 1648, S. 44; SCHLEDER 1663, S. 458; LÜNIG 1719, S. 810; Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 224.

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van Gent fuhren – gemäß der durch den Vertrag erreichten niederländischen Unabhängigkeit und Souveränität - in sechsspännigen Kutschen vor. Ihnen folgte der spanische Gesandte Antonius Brun in einer eigenen Kutsche, woran erkennbar ist, dass die Einzugfolge alternierend gewählt wurde und somit – trotz aller Statusunterschiede – Gleichheit unter den Vertragspartnern symbolisieren sollte.444Auch der wenig später folgende zweite Teil der niederländischen Gesandtschaft zog in insgesamt fünf – davon zwei sechsspännigen – Kutschen vor.445 Den Zug begleiteten zudem „über 40 Diener in rhoter Livree mit Silber außgemacht“, sowie ein Trompeter in einem schwarzsamtenen Rock mit einer versilberten Trompete nebst einer Kompanie der Münsterischen Bürger im Gewehr.446 Bei ihrer Ankunft wurden die Gesandten dann von den auf dem Marktplatz aufgewarteten Bürgern im Gewehr sowie dem Bürgermeister und den Ratsherren gebührend begrüßt und in den Ratssaal geleitet, später dann in ein Vorzimmer zum Saal, um auf die übrigen Gesandten zu warten.447 Auf den Einzug des zweiten Teils der niederländische Gesandtschaft folgte schließlich der Einzug des spanischen Hauptbevollmächtigten Peñaranda – in seiner Ausstattung entsprechend des höheren Statusanspruches der spanischen Krone natürlich um einiges prunkvoller und aufwändiger als der Zug der Niederländer. Der Zug bestand insgesamt aus sechs sechsspännigen Kuschen, wobei in den ersten vier das adlige Gefolge des Grafen nebst Dienerschaft in aufwändig mit edlen Samtstoffen und goldenen Details dekorierten Kutschen vorfuhren. Die Farbgebung der Kutschen war dabei keineswegs zufällig: der ersten in grünen Samt gehaltenen Kutsche schlossen sich eine rote sowie eine in schwarz gehaltene Kutsche an – eine Kombination der Farbe der Hoffnung, der königlichen Farbe Rot sowie Schwarz als Farbe des spanischen Hofzeremoniells.448 Mit diesen Distinktionsmerkmalen zeichnete sich Peñaranda als Repräsentant des spanischen Königshauses aus; auch die goldenen Dekorationen seiner Kutschen bzw. Gewänder markierten einen monarchischen Unterschied zum – traditionell republikanischen – Silber der Niederländer.449 Diesen Kutschen folgten insgesamt zwei Trompeter, 24 Lakaien, 12 berittene Soldaten, 12 Hellebardenträger sowie andere Edelmänner des Gefolges.450 In der letzten bis auf die Räder vergoldeten Kutsche – gezogen

444 COOLS 1648, S. 45. 445 Ebd. 446 Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 224f; Wartenberg zählt beim zweiten Teil der niederländischen Gesandtschaft indes nur vier Kutschen, zwei davon jedoch sechsspännig. 447 STIGLIC 1998a, S. 247. 448 Ebd., S. 248. 449 Ebd., S. 249. 450 MARTIN de BARRIO 1648, S. 2.

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von sechs prachtvoll dekorierten weißen Stuten451 - folgte schließlich Peñaranda selbst, begleitet von je 12 Pagen in samtenen mit goldenen Fäden bestickten Gewändern an jeder Seite der Karosse.452 Die dazugehörige Zahlensymbolik scheint auch eine politische Aussage nahezulegen, da die hier auffällig oft auftauchenden Zahlen 4, 12 und 24 in der christlichen Symbolik auf Macht, Ordnung und Herrschaft hindeuten.453 Der Karosse des Grafen schlossen sich sein Stallmeister auf einem ebenso prachtvoll dekorierten Pferd sowie wiederum eine Kompanie der Münsterischen Bürgerwehr an,454 wodurch auch an dieser Stelle und im Empfang durch den Bürgermeister vor dem Rathaus die Gleichbehandlung durch die Münsterische Bürgerschaft manifestiert wurde.455 Im Rathaus angekommen wurde Peñaranda von Brun empfangen und in das Rathaus geleitet, in dem bereits die Niederländer warteten, wo es zum Austausch allerlei „Höflichkeiten“ und „Umarmungen“ kam.456 Nach etwa einer halben Stunde traten die Gesandten dann mit den jeweiligen Ratifikationsinstrumenten in den Rathaussaal – angeführt von Peñaranda und Brun.457 In der Mitte des Saales war ein ovaler Tisch mit zwölf Stühlen aufgestellt, der – so man auch auf dem Bild Ter Borchs erkennen kann – mit einer grünsamtenen Decke bedeckt war. Die Form des Tisches sowie dessen Dekoration erwähnt auch Wartenberg in seinem Diarium: „Auff diesem zimmer stund ein ovaler Tisch mit einem grünsammeten teppich und mit zwölff von solcher farb sammeten seßeln, mit tapeten undt grünen meybaumen, undt der boden mit blumen außgezieret“.458

Diese Detailbeschreibung betont, dass der Tisch entsprechend eines für den Anlass angemessenen Zeremoniells gestaltet war, mit einem Tisch, der allen Vertragspartnern einen gleichrangigen Sitz ermöglichte.459 Auch die bereits angesprochene 451 Offenbar ein augenfälliges Distinktionsmerkmal: „Als einziger durchaus bedeutungsvoll mit schneeweißen Pferden“ merkt Cools an, s. COOLS 1648, S. 45; die außergewöhnliche Farbe der Pferde hält auch die spanische Delegation in ihrem Bericht fest, s. MARTIN de BARRIO 1648, S. 2. 452 Zudem „alle mit rhot und weißen federn“ dekoriert; Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 224. 453 STIGLIC 1998a, S: 249. 454 MARTIN de BARRIO 1648, S. 2. 455 STIGLIC 1998a, S: 249. 456 Der spanische Gesandtschaftsbericht spricht von „abrazos amorosos“ [„herzlichen Umarmungen“, Übers. d. Verf.], während Cools fragt, ob “sie nicht vielmehr mit leidenschaftlichen Gemütern, [aber] in gesitteter Weise, [auf ihn] zu [stürzten]?“, COOLS 1648, S. 46; MARTIN de BARRIO 1648, S. 2. 457 STIGLIC 1998a, S: 249. 458 Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 224. 459 Diese kulturelle Gepflogenheit lässt sich auch in späteren zeremonialwissenschaftlichen Werken finden, wie etwa bei von Rohr: „Die Tafel, an denen die Conferentien gehalten werden, sind entweder viereckigt, und werden nach der Beschaffenheit der Conferenz-Zimmer auf die Weise

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Farbsymbolik der Szene durch das den Tisch sowie die Dekoration dominierende Grün fällt ins Auge; sie symbolisiert die Friedenshoffnung, die den Geist der Zeremonie darstellen sollte. Hinzu kommt noch die Zahlensymbolik der Zahl 12, die in der christlichen Symbolsprache eine ganz besondere Bedeutung besaß. Durch die Gruppierung von 12 Stühlen um einen Tisch assoziierte man nicht zuletzt die 12 Apostel, die im Sinne Gottes handelten und den rechten Glauben verkündeten. Durch ihr Vorkommen in der Apokalypse implizierte die 12 zudem auch die Bedeutung der ewigen Unveränderbarkeit der Wahrheit und der Verheißung Gottes.460 Diese symbolischen Elemente verleihen der Szenerie der Ratifikationszeremonie insofern Rechtmäßigkeit im religiösen Sinne.461 Die Raumgestaltung sowie die Sitzordnung als Ganzes versinnbildlichen dabei auch die Einmütigkeit der beiden Konfliktparteien unter dem gemeinsamen christlichen Glauben – wobei jedoch auch gleichzeitig Statusunterschiede bzw. konfessionelle Differenzen sichtbar werden. Über der Szene – dies wird auch im Bild Ter Borchs deutlich – thront die Jungfrau Maria auf dem Kerzenleuchter des Rathaussaales, die somit die Einheit der Beteiligten unter der Gemeinschaft der Christen symbolisch darstellt. Bei aller Gleichrangigkeit, die zudem der ovale Tisch suggerierte, wird in der Sitzordnung jedoch dennoch der Vorrang der Spanier deutlich, da auf dem primum locum – also dem Platz direkt gegenüber der Tür – Peñaranda platziert war. Die gegenseitige Wertschätzung war jedoch gleichermaßen dadurch symbolisiert, dass Brun zu seiner Linken, die sechs niederländischen Gesandten zu seiner Rechten Platz nahmen.462 Zwischen Brun und den Niederländern blieben die übrigen Plätze leer, während der Kaplan Peñarandas mit einem Messbuch auf blauem Kissen hinter ihm und Brun Aufstellung nahm. Die niederländischen und spanischen Sekretäre waren indes gleichrangig hinter dem

placiert, daß nirgends einige Unter= oder Ober=Stelle daran zu spühren“, ROHR, Julius Bernhard von (1733): Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren, die in vier besonderen Theilen die meisten Ceremoniel-Handlungen, so die Europäischen Puissancen überhaupt, und die Teutschen Landes-Fürsten insonderheit, so wohl in ihren Häusern, in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und Bedienten, als auch gegen ihre Mit-Regenten, und gegen ihre Unterthanen bey Krieges- und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen, nebst den mancherley Areten der Divertissements vorträgt, so viel als möglich in allgemeine regeln und Lehr-Sätze einschlüßt, und hin und wieder mit einigen historischen Anmerkungen aus dem alten und neuen Geschichten erläutert. Berlin, §33, S. 523. 460 FORSTNER, Dorothea (1977): Die Welt der christlichen Symbole, S. 56ff, zit. nach STIGLIC 1998a, S. 247. 461 STIGLIC 1998a, S. 247. 462 Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 226; es folgten ihm (in dieser Reihenfolge) Johann von Matenesse und Adriaen Pauw für Holland und Westfriesland, Frans van Donia für Friesland, Willem van Ripperda für Oberijssel sowie Adrian Clant für Groningen; COOLS 1648, S. 47.

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Tisch aufgestellt.463 Gemäß den zeremoniellen Gepflogenheiten eines solchen Anlasses wurden sodann die Türen des Konferenzsaales geöffnet, um auf diese Weise die Beteiligung der Öffentlichkeit und somit politische Rechtmäßigkeit der Zeremonie zu unterstreichen.464 Die eigentliche Zeremonie begann damit, dass man die drei Ratifikationsinstrumente (jeweils eines in spanischer, französischer und niederländischer Sprache) aus den kostbaren Tragekisten herausholte.465 Brun setzte zunächst zu einer lateinischen Rede an, in der er Gott sowie schließlich auch den Gesandten der Generalstaaten für den errungenen Frieden dankte. Darauf folgte eine Rede von van Meynerswijck mit ähnlichem Inhalt,466 woraufhin die 79 Friedensartikel einzeln von einem spanischen Sekretär in französischer Sprache verlesen wurden. Im Anschluss daran wurde der Ratifikationstext jeweils in den Landesssprachen der Vertragspartner verlesen sowie eine „assecuration, daß die ratificatio innerhalb zwey monaten beygebracht werden solle“ angeschlossen.467 Ihren Höhepunkt fand die Zeremonie indes in der Beschwörung der Vertragsbedingungen, die ja auch den Moment des Bildnisses von Ter Borch darstellt, wobei dieser jedoch die Beschwörung beider Delegationen - entgegen der tatsächlichen Begebenheiten - gleichzeitig darstellt.468 Im tatsächlichen Ablauf begann für die spanische Seite Peñaranda mit der Verlesung der Eidesformel während dieser die rechte Hand auf das von seinem Kaplan gehaltenen – und mit einem silbernen Kruzifix verzierten – Evangelium legte.469 Daraufhin folgte die Beschwörung der Niederländer, die von Bartholt van Gent und van Meynerswijck in französischer Sprache vorgelesen wurde.470 Wie auch auf dem Bild Ter Borchs zu sehen ist,

463 STIGLIC 1998a, S. 249. 464 „Ist nun alles bey dem Frieden zur völligen Consistenz gekommen, so werden die Thüren des Conferenz-Hauses eröffnet und den anwesenden Cavallieren und anderen Personen wird Erlaubniß gegeben, so weit der Raum verstatten will, herein zu treten“, von ROHR 1733, §51, S. 533. 465 STIGLIC 1998a, S. 250; das auf dem Bild Ter Borchs sichtbare, mit rotem Samt und Silberbeschlägen dekorierte Kistchen befindet sich heute noch gemeinsam mit dem von Philip IV. gesiegelten Ratifikationsinstrument im Algemeen Rijksarchief in Den Haag; GUDLAUGSSON 1959, S. 66; KETTERING 1998a, S. 17. 466 Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 226. 467 Ebd. 468 Zudem stellt Ter Borch die Gesandten in einem zur Perspektive des Betrachters geöffneten Halbkreis dar, tatsächlich standen die Gesandten jedoch geschlossen um den ovalen Tisch herum; KETTERING 1998a, S. 18. 469 Der schwörende Peñaranda steht bei Ter Borchs Bild im Mittelpunkt; der Text der Eidesformel ist ebenfalls abgedruckt bei COOLS 1648, S. 38-40. 470 Cools und Wartenbergs Beschreibungen unterschieden sich an diesem Punkt leicht, wobei letzterer ausschließlich van Meynerwijck diesen Part zuschreibt, Cools nennt jedoch beide. Letztlich scheint Cools als Augenzeuge hier jedoch etwa überzeugender zu sein, zumal auch im

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beschwören die Niederländer das Ratifikationsinstrument, in dem Sie die rechte Hand zur „Schwurhand“ emporstrecken – eine konfessionelle Differenz zu den Spaniern, die auf das Kruzifix schwören. So vollzog sich die Praxis der Eidesleistung „gemäß der Sitte und Religion“ der verschiedenen Vertragsparteien.471 Der Schwur auf das Kruzifix stand im Kontrast zur reformistischen Lehre, die im Gegensatz zur katholischen Lehre auf bildliche Darstellungen Christi verzichtet. Die hier als reformiertes konfessionelles Symbol abgebildete Schwurhand stand dabei nach christlicher Lehre ganz allgemein für die Dreifaltigkeit bzw. die Unterwerfung des Menschen unter den dreifaltigen Gott. Sie sollte dem Schwörenden (wie auch dem Betrachter) letztlich die metaphysische Verankerung der diesseitigen Ordnung vergegenwärtigen - die Handlungen des Menschen im Diesseits waren mit dem Seelenheil im Jenseits eng verbunden, die Folgen eines Meineids dementsprechend drastisch. Damit fungierte diese Geste in der religiös geprägten politischen Kultur der Frühen Neuzeit als erwartungsstabilisierendes Moment, das Sicherheit und Verlässlichkeit herstellte – der Schwörende setzte sein eigenes Seelenheil als Unterpfand ein, ein größerer Einsatz war in der kulturellen Sprache dieser Zeit kaum denkbar.472 Dies galt jedoch freilich für beide Konfessionen, beide Eidesleistungen enden in der Berufung auf Gott, sei es als „Richter der Zuverlässigkeit des Friedensversprechens“473 bzw. in der Formel „So helfe uns Gott“.474 An die Eidesleistung schlossen sich schließlich Umarmungen der Bevollmächtigten sowie der traditionelle Friedenskuss an. Auch diese für Friedensschlüsse gängigen Praktiken475 stehen in der Tradition christlicher Symbolsprache. Kuss und Umarmung sind dabei der christlichen Liturgie entlehnt, in der der Kuss als Zeichen der Verbundenheit aller am Gottesdienst Teilnehmenden bereits seit frühchristlichen Zeiten üblich ist. Auf Wange oder Mund symbolisierte der Kuss

471 472

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Bildnis Ter Borchs van Gent als „Wortführer“ der Niederländer erschient; COOLS 1648, S. 50; Diarium Wartenberg, APW III D1, S. 227. COOLS 1648, S. 49; ebenso bei MARTIN de BARRIO 1648, S. 2: „al uso y costumbre suya“ [„in ihrem Usus und Brauch“; Übers. d. Verf.] HOLENSTEIN, André (2008): Rituale der Vergewisserung. Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: BIERENDE, Edgar/BRETFELD, Sven/OSCHEMA, Klaus (Hg.): Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin: de Gruyter, S. 235f. So die spanische Formel, COOLS 1648, S. 39. So die niederländische Formel, Ebd. S. 40. „Die Bevollmächtigten umarmen einander, ertheilen den gewöhnlichen Friedens-Kuß und congratulieren einander auf allen Seiten“, von ROHR 1733, §51, S. 533; vgl. ferner LANZINNER 2013, S. 199.

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zunächst allgemein Frieden und Versöhnung, aber auch wechselseitig zugeschriebene Gleichheit.476 Übertragen auf den Friedenschluss gehörte er also zum festen politischen Zeichenrepertoire und erfüllte auch hier erwartungsstabilisierende Funktionen: man zeigte damit öffentlich, dass man sich nach langen Verhandlungen einmütig geeinigt habe und führte die demonstrativ betonte Zuneigung gewissermaßen als „Unterpfand des Friedens“ an.477 Darüber hinaus - und im Sinne des Fokus dieser Arbeit ungleich wichtiger - versinnbildlichte diese Geste jedoch in erster Linie die symbolische Konstitution einer von Gleichheit und Versöhnung geprägten Beziehung zwischen vormals im Konflikt stehenden Identitäten. Dieser Moment des eigentlichen Friedensschlusses wurde dem draußen versammelten Münsterischen Publikum schließlich ebenso feierlich bekannt gemacht. Die Kompanien, die auf dem Marktplatz vor dem Rathaus Aufstellung bezogen hatten folgten dabei genauen Vorschriften und abgesprochenen Zeichen. Als die Gesandten von den Ratsherren aus dem Friedenssaal begleitet wurden, gaben diese feierliche Salven ab, auch die Trompete kam als weitere instrumentelle Komponente zum Tragen. Durch diese Signale konnte die Öffentlichkeit den Gesandtschaften zujubeln, während diese den Weg vom Rathaus zu ihren Quartieren in der gleichen Weise zurücklegten wie den Hinweg478, und damit gleichermaßen zu einem Teil der Zeremonie werden. 5.1.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung Die im letzten Abschnitt entwickelten „dichten Beschreibungen“ zur ausgewählten Szene der Beschwörung des Friedens von Münster sollen an dieser Stelle nun nochmal im Hinblick auf die zentrale Fragestellung dieser Arbeit – den Zusammenhang zwischen Identitätspraxis und der Konstitution sozialer (internationaler) Ordnung – zugespitzt diskutiert werden. In welcher Weise konstituieren die hier beschriebenen Praktiken welche Art der internationalen Ordnung? Das der Arbeit zugrundeliegende Identitätsmodell ermöglicht dabei systematische Aussagen zu den Repräsentationen bzw. Synthesen spezifischer Identitätsnarrative, entsprechender emotionaler Implikationen sowie deren Zusammenhang mit spezifischen politischen Ordnungsvorstellungen. Zunächst wird die performative Synthese mehrdimensionaler Identitätsnarrative anhand der Einzüge der Delegationen zu Beginn der Szene deutlich. Sowohl 476 ALTHOFF, Gerd (2008): Das Grundvokabular der Rituale. Knien, Küssen, Thronen, Schwören, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara/PUHLE, Matthias/GÖTZMANN, Jutta/DERS. (Hg.): Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 152. 477 FORSTNER 1977, S. 31, zit. nach STIGLIC 1998a, S. 251. 478 STIGLIC 1998a, S. 251.

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bei der spanischen wie auch bei der niederländischen Gesandtschaft werden in der Kleidung, Ausstattung und Anordnung der Entourage politische Zeichensetzungen sichtbar: die Niederländer ordnen ihren Einzug gemäß der Rangfolge der verschiedenen Provinzen, tragen durch die Symbolik der silbernen Dekorationen ihrer Kleidung jedoch auch das Narrativ einer zum Republikanismus entwickelten politischen Gemeinschaft buchstäblich „am Revers“. Die spanische Delegation kontrastierte diese Farbsymbolik entsprechend ihrer außenpolitischen Identität als (katholische) Monarchie hingegen durch die Farbe Rot sowie ausladende goldene Kutschen und Kleidungsdetails; gleichzeitig wurde jedoch durch die Farbe Schwarz die Identität des Hauptbevollmächtigten als Repräsentant des spanischen Königshauses repräsentiert. So verbinden sich in den Identitätspraktiken der Einzüge also sowohl individuelle als auch kollektive Identitätsnarrative. Von besonderer Bedeutung für Fragen internationaler Ordnung war dabei der Einzug der Niederländer in sechsspännigen Kutschen. Wie bereits erwähnt, war diese Praxis gemäß des kulturellen Repertoires der Frühen Neuzeit nur einem Souverän vorbehalten, wobei Souveränität – mit sehr wenigen Ausnahmen479 - vor allem eine Eigenschaft von Personen, in erster Linie „gekrönten Häuptern“, war.480 Dass die Niederländer bereits zu Beginn des Kongresses die Akzeptanz zu diesem Zeremoniell erreichen konnten (vgl. Abschnitt 5.1.3) und dieses zur Ratifikationszeremonie erneut „performten“ ermöglichte ihnen, ihren identitären Anspruch auf Souveränität praktisch durchzusetzen. In den Worten von Barbara Stollberg-Rilinger ging es bei dieser Art der Identitätspraxis auf dem Westfälischen Friedenskongress also darum, genau jenes „praktisch auszutarieren, worum es in dem ganzen Krieg nicht zuletzt ging und worum es bei den Verhandlungen ebenfalls gehen sollte, nämlich darum, den Status der beteiligten Akteure in einem neu sich formierenden völkerrechtlichen Klassifikationssystem zu definieren – und zwar schon vor und außerhalb von allem ‚eigentlichen‘, diskursiven Verhandeln in der Sache. Das Gesandtschaftszeremoniell war das symbolische Medium, in dem die völkerrechtliche Kategorie der Souveränität von der Theorie in die Praxis überführt wurde und in dem der Souveränitätsanspruch von einzelnen Akteuren praktisch durchgesetzt werden mußte“.481

Diese Identitätspraxis markiert also die Repräsentation eines spezifischen Identitätsnarrativs – die Niederländer „erzählten“ durch diese Praktiken die eigene identitäre Entwicklung hin zu einem zur Teilhabe an zwischenstaatlichen Beziehungen fähigen Akteurs. Dieser Anspruch wurde durch eine entsprechende szenische „Performance“ verkörpert und durch die Akzeptanz anderer gewissermaßen zum 479 So war im 17. Jahrhunderts etwa der souveräne Status der Republik Venedig vergleichsweise unstrittig. 480 STOLLBERG-RILINGER 2011, S. 153. 481 Ebd., S. 150.

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sozialen Fakt erhoben. Die Identitätspraxis implizierte zudem durchaus auch starke emotionale Dimensionen, da die Darstellung von Souveränität und Unabhängigkeit nicht zuletzt auch Verständnisse von Stolz, Würde und Selbstbestimmung transportierte. Dabei sollte jedoch auch betont werden, dass die Niederländer zunächst eine Praxis „imitierten“, sie nahmen Elemente einer (vormals als monarchisch verstandenen) Praxis auf und setzten sie leicht verändert um. Genau dieser Zusammenhang ist jedoch wesentlich bei der Konstitution sozialer Ordnungen: „Imitationen“ von Praktiken stellen nicht lediglich (identische) Wiederholungen, sondern vielmehr kreative Neuformulierungen bestehender Bedeutungsstrukturen dar. Sie stellen immer – ganz im Sinne der dem Theater entlehnten Leitmetapher dieser Arbeit - „Interpretationen“ einer Rolle dar, die nie vollkommen identisch zu den im „Drehbuch“ angelegten Vorgaben sind. Damit tragen sie letztlich auch zur sukzessiven Veränderung dieser Strukturen bei. Einerseits diente diese Identitätspraxis den Niederländern der eigenen Definition als souveräner außenpolitischer Akteur, andererseits stellte sie auch einen Beitrag zur Veränderung des allgemeinen Verständnis dessen dar, wer eigentlich „souverän“ im engeren Sinne sein und diesen Status für sich beanspruchen könne. Diese „Interpretation“ fügt zu den „alten“ bzw. etablierten Kriterien für legitime Akteursschaft in den zwischenstaatlichen Beziehungen – zentrale Elemente internationaler Ordnung – also „neue“ Elemente hinzu und erweitert somit das Bedeutungsrepertoire dieser Kriterien. Nach meinem Dafürhalten basieren die Diagnosen des Wandels internationaler Ordnung hin zum staatszentrierten „westfälischen“ System, in dem Souveränität zum alles entscheidenden Ordnungsprinzip internationaler Ordnung avanciert und „souveräne Staatlichkeit“ unabhängig von „alten“ monarchischen Kriterien verstanden wird, meist genau auf diesem Zusammenhang. Allerdings implizieren die dichten Beschreibungen der Szene m.E. keine Schlussfolgerungen, die diese gängige Deutung (zumindest in dieser Form) stützen würden, sondern zeugen von wesentlich komplexeren Bildern der Gleichzeitigkeit verschiedener politisch-kultureller Ordnungselemente. Gleichheit und Gleichrangigkeit zwischen souveränen politischen Gemeinwesen kommen zwar auch in anderen Details der Szene sehr stark zum Ausdruck - neben der Einzugsfolge in alternierender Form vor allem auch im räumlichen Arrangement der Zeremonie. Sowohl Form des Tisches als auch die Platzierung bzw. die Aufstellung der Teilnehmer in der Sitzordnung der Szene stellen augenfällige Symbole für Gleichrangigkeit der Vertragspartner dar. Dennoch zeigen sich dabei gleichzeitig einige Differenzen bzw. Statusunterschiede. So markiert der ungleich prunkvollere Einzug Peñarandas am Ende der Einzüge einen wesentlich höheren Rang Spaniens gegenüber der Niederlande. Auch in der Sitzordnung der Zeremonie im Rat-

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haussaal spiegeln sich Rangfolgen wieder, da die Bevollmächtigten – bei aller Betonung der Wertschätzung und (zumindest formalen) Gleichrangigkeit der Vertragspartner – nach ihrem gesellschaftlichen Rang geordnet platziert sind und der „Ehrenplatz“ natürlich dem höchstrangigen Bevollmächtigten Peñaranda als Repräsentant Spaniens gewährt wird. Die typisch frühneuzeitliche kulturelle Relevanz des (sozialen) Ranges ist hier also nach wie vor ein leitendes Motiv der zeremoniellen Form. Differenzen zwischen den Vertragspartnern kommen auch in den Formen des Schwures der beiden Delegationen zum Ausdruck – auch dies spezifische Identitätspraktiken, die in ihrer Besonderheit die divergierenden konfessionellen Identitäten der Bevollmächtigten ausdrücken. So divergierend die Identitäten jedoch auch erscheinen mögen, sind auch hier Gemeinsamkeiten in der Praxis wie auch in den zugrundeliegenden Narrativen zu erkennen. Beide Parteien beziehen sich in der Berufung auf Gott als Zeuge der Aufrichtigkeit ihres Friedenswillens auf religiöse Motive und die gemeinsame Legitimationsbasis des christlichen Glaubens bzw. des entsprechenden Identitätsbildes des „guten Christenmenschen“. Die über der Szene thronende Jungfrau Maria im Bildnis Ter Borchs ließe sich als bildliche Repräsentation dieser überkonfessionellen Gemeinschaft der Christianitas deuten. Die weltliche politische Ordnung findet hier also ihre Verbindung mit der metaphysischen, göttlichen Ordnung. Damit kommt auch hier die emotionale Dimension der Identitätspraxis zum Tragen. Der Schwur des „guten Christenmenschen“ auf die Friedensbedingungen tangierte im Verständnis der Zeitgenossen in ganz unmittelbarer Weise Verständnisse persönlicher Spiritualität, Ehre und Aufrichtigkeit. Die Furcht, im Jenseits für einen Meineid zur Rechenschaft gezogen zu werden und dafür mit dem eigenen „Seelenheil“ büßen zu müssen, stellte dabei gewissermaßen den „Unterpfand“ des Friedens dar. Um auf den Vertragspartner die wie auch die Öffentlichkeit glaubwürdig zu wirken (letztere war ja zumindest ideell durch die geöffnete Tür anwesend) bedurfte es dieser Handlungen, deren Wirkung durch die betonte Darstellung gegenseitiger Zuneigung und Verbrüderung in Form der „herzlichen Umarmungen“ und schließlich des rituellen Friedenskusses noch verstärkt wurden. Die emotionale Dimension stellt hier also eine der wesentlichen Faktoren der Glaubwürdigkeit und Wirkmächtigkeit dieser Identitätspraktiken für die Konstitution internationaler Ordnung dar. Sie macht die dargestellte Ordnung – wie im konzeptuellen Teil dieser Arbeit ausgeführt – im besten Sinne „erfahrbar“. Gerade im Kontext der frühneuzeitlichen Konfessionalisierung – anders formuliert: einer politischen Ordnung, die durch scharf im Konflikt stehende Identitäten geprägt ist - war diese Ausführung des Eides jedoch keineswegs selbstverständlich und für den Friedensschluss von eminenter Bedeutung. Vor dem Hintergrund der kirchenrechtlichen Kontroverse, ob Verträge mit Ketzern zu halten

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seien482 - sowie den entsprechenden gegenseitigen Identitätszuschreibungen -, war die Praxis des Eides also eine in mehrfacher Hinsicht vertrauens- und sicherheitsherstellende Maßnahme. Durch den Eid auf den Friedensvertrag wurde das durch die jahrzehntelang im Konflikt stehenden Identitäten nicht existente Vertrauen zwischen den Parteien wiederhergestellt. Allerdings geht der feierliche Schwur auf den Vertrag in konfessionell unterschiedlicher Ausprägung noch darüber hinaus: beide Seiten akzeptieren den Schwur in ihrer Andersartigkeit, letztlich also auch ihre divergierenden Identitäten. Die Praxis des Eides stellt also insofern eine konstitutive Praxis dar, als dass sie eine von konfessioneller Toleranz und konfessionellem Frieden geprägte Ordnung nicht nur wiederspiegelt, sondern in der Ausführung sozusagen „vollzieht“. So interpretiert etwa Gerd Dethlefs das Bild Ter Borchs als „Sinnbild der Entkonfessionalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen“ und der nunmehr übergeordneten Relevanz „staatlicher“ Souveränität über der Kategorie der Konfession.483 Allerdings würde ich an dieser Stelle nochmals betonen, dass wir es hier nicht mit einer vollständigen „Ablösung“ alter Prinzipien durch „neue“, sondern vielmehr mit einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ordnungsprinzipien zu tun haben. Neben dynastischen sowie „staatlichen“ Elementen spielen Konfession bzw. Religion nach wie vor zentrale Rollen in den Identitätsnarrativen wie auch den entsprechenden Ordnungsvorstellungen der Akteure. Das „westfälische System“ war im 17. Jahrhundert also in vielerlei Hinsicht noch „ein staatliches und dynastisches zugleich“.484 Vor diesem Hintergrund spricht also einiges dafür, den Westfälischen Friedenskongress weniger als einen radikalen Umbruch, sondern vielmehr als eine Wegmarke in einer „Übergangszeit“ internationaler Ordnung zu verstehen. Entscheidend für die Fragestellung dieser Arbeit ist dabei die Feststellung, dass die hier geschilderten Identitätspraktiken nicht lediglich „Spiegelungen“ dieser kulturellen Transition waren, sondern im Gegenteil dazu führten, diese „Übergangsordnung“ überhaupt erst zu konstituieren, in dem sie die symbolisch-kulturellen Codes der dynastischen und staatlichen Ordnungsprinzipien miteinander vereinten.485 In ihrer Synthese koexistierender Narrative boten sie somit „Lösungen“ zu dem „Problem“ der Gleichzeitigkeit (potentiell konfliktiver) unterschied-

482 Wobei sich die Rechtsdeutung durchgesetzt hatte, dass auch Verträge mit Ketzern einzuhalten seien, wenn sie denn feierlich beschworen seien; vgl. DETHLEFS 1998d, S. 250f. 483 Ebd., S. 252. 484 LANZINNER 2013, S. 206. 485 „Der Westfälsche Friedenskongress ist in einer gesamtneuzeitlichen Perspektive als ein Übergangsfeld zu sehen. In diesem Übergang war (symbolisch und politisch) der Code der dynastischen Tradition erst einmal mit dem Code eines entstehenden Systems von Staaten zu vereinbaren“; Ebd., S. 200.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

licher politische Ordnungsprinzipien und konstituierten auf diese Weise eine Ordnung, die mit einem „Dazwischen“ treffender als mit einem „Entweder/Oder“ beschrieben werden kann. 5.2

„Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

5.2.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung Das beginnende 19. Jahrhundert steht in der historischen Forschung gemeinhin für eine ganze Reihe von Zäsuren. Im Allgemeinen gilt diese Zeit als Umbruchphase der Vormoderne zur Neuzeit, geprägt durch fundamentale Transformationen sowohl auf internationaler wie auch innergesellschaftlicher Ebene. Diese Transformationen werden einerseits häufig auf Entwicklungen wie etwa die beginnende Industrialisierung, durch neue Verkehrsmittel beförderte soziale Mobilität, sowie einem damit einhergehenden demographischen Wandel bezogen. Andererseits werden sie jedoch auch und besonders im Sinne eines tiefgreifenden Wandels zentraler Konzepte politischer Ordnung - etwa Staatlichkeit, Bürgertum und Nation - verstanden. So bezog sich beispielsweise auch der grundlegende Leitgedanke bei der Konzeption eines der wichtigsten begriffsgeschichtlichen Werke, der sog. „Geschichtlichen Grundbegriffe“486, auf einen epochalen semantischen Strukturwandel von vergangenen zu modernen Begriffen in der Zeitphase von etwa 1750 bis 1850, für die Reinhart Koselleck die Bezeichnung „Sattelzeit“ prägte.487 Eines der typischsten Narrative dieser „Sattelzeit“ ist, dass die Formen vormoderner politischer Organisation mit ihrer vornehmlich sakralen Legitimation dynastisch-persönlicher politischer Herrschaft (vgl. vorheriges Kapitel) endgültig von der Idee des säkular und bürgerlich begründeten Nationalstaates abgelöst wur-

486 BRUNNER, Otto/CONZE, Werner/KOSELLEK, Reinhart (Hg.) (1972–1997): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (8 Bände). Klett-Cotta: Stuttgart. 487 LEONHARD, Jörg (2004): Grundbegriffe und Sattelzeiten - Languages and Discourses. Europäische und anglo-amerikanische Deutungen des Verhältnisses von Sprache und Geschichte, in: Rebekka Habermas (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften. Göttingen: Wallstein, S. 76.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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den – eine Entwicklung, die wesentliche Umbrüche in vielfältigen Kontexten hervorbrachte, etwa der Struktur politischer Öffentlichkeit(en)488 und Formen herrschaftlicher Repräsentationskultur.489 Zudem gilt das 19. Jahrhundert als Geburtsstunde der „mobilisierten Nationen“, in dem sich die allgemeine Wehrpflicht langsam durchsetzt und Massenheere denkbar werden, die nicht mehr nur bloßes Instrument eines Herrschers, sonders quasi als Verkörperung des politischen Willens einer Nation gesehen werden konnten.490 Insofern gilt diese Zeit gemeinhin auch als das „goldene Zeitalter“ des Nationalstaates bzw. als Zeit dessen Aufstiegs zur primären Form politischer Vergemeinschaftung, wie wir sie heute kennen.491 Als wesentliche Ausgangspunkte für diese „Umbruchsnarrative“ gelten dabei freilich nicht nur Ereignisse wie die Französische Revolution oder das Wirken von Personen wie Napoleon und seine konstitutionelle Reformen, sondern auch und besonders der Einfluss der Aufklärung, ohne deren geistige Impulse diese tiefgreifenden Veränderungen nicht (im wahrsten Sinne des Wortes) „denkbar“ gewesen wären.492 Die fundamentalen kulturellen Umbrüche der „Sattelzeit“ beziehen sich also im Wesentlichen auf die Fundamente der Konstitution politischer Autorität – sowohl auf der innergesellschaftlich wie internationalen Ebene. Für Charakterisierungen der internationalen Ordnung des beginnenden 19. Jahrhunderts spielen diese Umbrüche folglich eine ebenso zentrale Rolle. Insbesondere das Aufkommen des Republikanismus und dessen Verbindung mit der Idee des Nationalstaates, der sich mit seiner Idee der konstitutionellen Souveränität als entgegengesetzt zu der noch immer verbreiteten Idee der persönlichen Souveränität des monarchischen Herrschers definierte, wird als zentrales Merkmal kulturellen Wandels auf internationaler Ebene angeführt. Die sukzessive Standardisierung dieser politischen Vergemeinschaftungsform im 19. Jahrhundert findet in den IB vor allem in dem gängigen Vorstellung ihren Ausdruck, dass diese Zeit den Kulminationspunkt einer Entwicklung von einer dynastisch-monarchisch geprägten, hierarchisch strukturierten internationa488 HABERMAS, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Andreas Gestrich legt jedoch im Kontrast zu Habermas sehr überzeugend dar, dass die frühneuzeitliche Öffentlichkeit dennoch nicht als plebejische Masse ohne politischen Einfluss verstanden werden kann, da sie für absolutistische Herrschaft durchaus konstitutiven Charakter hatte, vgl. GESTRICH 1994. 489 PAULMANN 2000. 490 OSTERHAMMEL, Jürgen (2010): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn: Bpb, S. 567. 491 Vgl. BULL 1977, S. 33; sowie zum Wandel der Kriterien internationaler Legitimität in diesem Sinne WIGHT, Martin (1972): International Legitimacy, in: International Relations 4:1, S. 1-28. 492 DUCHHARDT, Heinz (2010): Wandel und Reformen im Europa der „Sattelzeit“ – ein Plädoyer für den interkulturellen Vergleich, in: European Studies 9, S. 133.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

len Ordnung hin zu einem („anarchischen“) System rechtlich prinzipiell gleichgestellter souveräner Staaten darstelle.493 Nicht zuletzt spielte dabei das epochenspezifische Konzept des Mächtegleichgewichts (balance of power) eine wichtige Rolle. War die alte hierarchisch gedachte europäische Ordnung eine, die nur eine Spitze kannte – den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bzw. den Papst –, neutralisierte die (spätestens im späten 17. Jahrhundert aufkommende) Idee des Mächtegleichgewichts diese Exklusivität494 und ermöglichte die Vorstellung einer multipolar strukturierten Ordnung, die schließlich dem Grundgedanken prinzipieller Gleichheit aller Akteure im System Raum gab.495 In der Forschung wird besonders der Wiener Kongress bzw. die „Wiener Ordnung“ traditionell mit dieser Idee in Verbindung gebracht, wobei gängige Deutungen die durch den Kongress initiierte – und bemerkenswert lange - Friedensperiode oft als erfolgreiche „Restauration“ im Sinne einer (Wieder-)Herstellung der alten vom Prinzip des Mächtegleichgewichts geprägten Ordnung interpretieren.496 Diese Vorstellung wurde jedoch am prominentesten durch den amerikanischen Historiker Paul W. Schröder infrage gestellt, der das Wesen der „Transformation europäischer Politik“497 im 19. Jahrhundert nicht in einer Restauration vorrevolutionärer Ordnung sieht, sondern, ganz im Gegenteil, sogar jegliche auf balance of power basierende Interpretationen dieser Zeit für irreführend hält. Irreführend seien sie einerseits da im 19. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt ein tatsächliches „Mächtegleichgewicht“ hergestellt worden sei – die internationalen Beziehungen seien vielmehr durchgängig hegemonischer Natur gewesen. Andererseits verfehle die balance of power Interpretation den eigentlich zentralen Punkt des Transformationsprozesses internationaler Beziehungen, der sich eher als Mentalitätswan-

493 Vgl. RENGGER 2000. 494 PAULMANN 2000, S. 68. 495 Balance of power darf sicherlich als eines der grundlegendsten Konzepte der IB gelten, viele – um nicht zu sagen: so gut wie alle – Denkschulen beziehen einen wesentlichen Teil ihrer Theoretisierungen internationaler Ordnung auf dieses Konzept - sei es als „Institution internationaler Gesellschaft“ (Bull), als „universelles Merkmal“ (Morgenthau) bzw. „struktureller Mechanismus eines anarchischen internationalen Systems“ (Waltz) oder letztlich eine „Imagination von Welt“ (Little). Eine ausführliche und erschöpfende Liste aller relevanten Werke würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Es sei jedoch auf die hervorragende Übersicht bzw. Auseinandersetzung Richard Littles mit zentralen Modellen und Theorien der balance of power in den IB verwiesen, LITTLE, Richard (2007): The Balance of Power in International Relations. Metaphors, Myths and Models. Cambridge: Cambridge University Press. 496 Eine solche Deutung lässt sich u.a. in folgenden prominenten Werken finden: NICOLSON; Harold (1946): The Congress of Vienna. A Study in Allied Unity 1812-1822. New York: Hartcourt, Brace & Co.; KISSINGER, Henry (1964): A World Restored. New York: Grosset & Dunlap. 497 SCHROEDER, Paul W. (2003): The Transformation of European Politics 1763-1848. Oxford: Clarendon Press.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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del der handelnden politischen Elite zeige: das Balance-Denken des 19. Jahrhunderts weise wesentliche Differenzen zu dem des 17. und 18. Jahrhunderts auf und ließe sich präziser als ein „Konzert“ bzw. „politisches Äquilibrium“ beschreiben.498 Der Begriff des „Europäischen Konzerts“ sei zwar schon im frühen 18. Jahrhundert geläufig gewesen, im 19. Jahrhundert ließe es sich jedoch zunehmend als neue Praxis der internationalen Beziehungen begreifen. Diese Praxis sei weniger durch „harte“ machtpolitische Motivationen geprägt gewesen, sondern beruhte auf einer gemeinsamen Vorstellung einer „gerechten Ordnung“, die der eigentliche Garant von Stabilität und Frieden gewesen sei und entsprechende Normen und Praktiken zwischen den Großmächten hervorbrachte.499 „Politisches Äquilibrium“ bedeutete nach Schroeder also in erster Linie „a balance of satisfaction, a balance of rights and obligations and a balance of performance and payoffs, rather than a balance of power”.500 So zentral dieser Mentalitätswandel zum Verständnis dieser Epoche zweifellos ist, so wenig sollten diese Vorstellungen jedoch zu der Annahme verleiten, dass diese „gerechte Ordnung“ oder das sog. „souveräne Gleichheit“ im (insb. frühen) 19. Jahrhunderts bereits ihre volle Ausprägung erreicht hatten. Ähnlich wie in der internationalen Ordnung des frühen 17. Jahrhunderts haben wir es im frühen 19. Jahrhundert vielmehr mit einer „Übergangszeit“ zu tun, die durch eine ausgeprägte Gleichzeitigkeit unterschiedlicher politischer Ordnungsvorstellungen geprägt war. Wie in der Argumentation Schroeders bereits angeklungen ist, war die Idee der „souveränen Gleichheit“ wenn überhaupt erst im Entstehen begriffen und die internationale Ordnung eher von hegemonialen Beziehungen geprägt. Dies lässt sich an verschiedenen Aspekten beobachten. Am Beispiel der symbolischzeremoniellen Kultur vermag etwa Johannes Paulmann überzeugend zu zeigen, dass die Mächtebeziehungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stark von der ständischen Kultur des Ancien Régime geprägt waren.501 Als Elite der internationalen Beziehungen galten nach wie vor die Großmächte im Sinne der „gekrönten

498 SCHROEDER, Paul W. (1992): Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power? In: American Historical Review 97:3, S. 684; DERS. (1989): The 19th-Century International System. Balance of Power or Political Equilibrium? in: Review of International Studies 15:2, S. 135153; DERS. (1986): The 19th-Century International System. Changes in the Structure, in: World Politics 39: 1, S. 1-26. 499 Der deutsche Historiker Matthias Schulz geht soweit, dieses Konzert in diesem Sinne als Vorläufer eines „Sicherheitsrates“ zu verstehen, siehe SCHULZ, Matthias (2009): Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat. München: Oldenbourg. Wolfgang Pyta überträgt gar den Gedanken der „kollektiven Sicherheit“ auf das Konzert, siehe PYTA, Wolfram (Hg.) (2009): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853. Köln: Böhlau. 500 SCHROEDER 1989, S. 143. 501 PAULMANN 2000, S. 67-78.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Häupter“, die in jeglicher Hinsicht (symbolisch wie machtpolitisch) Vorrang genossen. Diese Akteure sahen sich jedoch zunehmend mit einer Fülle „neuer“ Mächte mit anders gearteten politischen Verfassungen konfrontiert, die die Akteurslandschaft im frühen 19. Jahrhundert pluralisierten.502 Zudem befand sich auch die monarchische Herrschaft an sich in einem Umbruchsprozess der „staatlichen Integration der Monarchen“, wenngleich sich dies je nach Land in unterschiedlichem Maße vollzog.503 Diese Gleichzeitigkeit von sowohl ständisch-hierarchischer als auch egalitär-nationalstaatlicher politischer Kultur habe ich an anderer Stelle „hierarchische Gleichheit“ genannt, also eine Zeit der Koexistenz verschiedener Vorstellung „guter“ politischer Ordnung und der ungleichen Relation zwischen „althergebrachten“ monarchischen und neueren nationalstaatlich verfassten „Souveränen“. Obgleich natürlich grundsätzlich von einer Gleichheit aller „Souveräne“ ausgegangen wurde, waren erstere faktisch höherrangig angesehen und genossen – wovon im Laufe des Kapitels häufiger die Rede sein wird – in verschiedenen Aspekten der Praxis internationaler Beziehungen Privilegien. „Gleichheit“ bedeutete insofern also zunächst nur Gleichheit innerhalb der verschiedenen Rangstufen außenpolitischer Akteure.504 Zudem sollte noch zur Sprache kommen, dass sich die allgemeine Akteurskonstellation internationaler Beziehungen in dieser Umbruchzeit recht komplex darstellte. Die o.a. Pluralisierung der Akteurslandschaft wurde sicherlich in signifikantem Maße durch kleinere (und zunehmend größere) Republiken befördert, allerdings war die althergebrachte Welt der Monarchien und Imperien gewiss nicht weniger komplex. Akteure wie das britische Empire, das Osmanische Reich oder der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat wiesen eine komplexe Konstellation von Innen-/Außen Verhältnissen auf, die einzigartige Identitätsformationen implizierten. Auch das 1806 aufgelöste Heilige Römische Reich Deutscher Nation war ein komplexes Gebilde, das in der Zeit nach Napoleon bzw. während der sog. „Befreiungskriege“ in wechselnden Staatenbünden mit ähnlich komplexen Innen-/Außen Verhältnissen aufging. Auf diesen Prozess – für die politische 502 Dies zeigt sich u.a. in der Regulierung der diplomatischen Rangstufen und entsprechender Präzedenzrechte auf dem Wiener Kongress. Die Entsendung erstrangiger Botschafter (Ambassadeurs) war zunächst nur für „Großmächte“ reserviert, wurde jedoch zunehmend von aufsteigenden Mächten mit republikanischer Verfassung praktiziert. Diesen Aspekt werde ich in diesem Kapitel nicht eingehend behandeln, vgl. dazu ausführlicher STARK URRESTARAZU, Ursula 2015b. 503 PAULMANN 2000, S. 78-86. 504 Um genauer zu sein verwende ich den englischen Begriff „hierarchical equality“, STARK URRESTARAZU 2015b. Gerry Simpson verwendet für die politische Ordnung des Europäischen Konzertes den Begriff „legalized hegemony“, SIMPSON, Gerry (2004): Great Powers and Outlaw States. Unequal Sovereigns in the International Legal Order. Cambridge: Cambridge University Press, S. 105; siehe auch OSTERHAMMEL, Jürgen (2010): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn: Bpb, S. 1295f.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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Landschaft Europas von tiefgreifender Bedeutung – werde ich im folgenden Teilabschnitt nochmals genauer eingehen. An dieser Stelle sei zunächst konstatiert, dass wir das 19. Jahrhundert insofern mitnichten als das „goldene Zeitalter des Nationalstaates“ verstehen sollten: diese Entwicklung befand sich (insb. im frühen 19. Jahrhundert) erst in ihren Anfangsstadien und die „Hauptrolle“ der Praxis internationaler Beziehungen spielten in erster Linie die großen Imperien bzw. Monarchien.505 Eine wesentlich präzisere Charakterisierung wäre in dieser Hinsicht also die (im Begriff „hierarchische Gleichheit“ bereits anklingende) Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher politischer Vergemeinschaftungsformen – von Imperien über (z.T. konstitutionell verfasste) Königreiche bis hin zur republikanischen Nationalstaaten – also eine sehr ausgeprägte Pluralität unterschiedlicher Formen außenpolitischer Akteure. Im Sinne einer prägnanten Zusammenfassung könnten wir also folgende wesentliche Merkmale internationaler Beziehungen im frühen 19. Jahrhundert festhalten: 

   

Grundlegende kulturelle Bedeutungswandlungen zentraler Konzepte politischer Ordnungsbildung (Staat, Nation, Bürgertum, Öffentlichkeit), bei einer ausgeprägten Koexistenz und Gleichzeitigkeit dieser verschiedenen Ordnungsvorstellungen; Beginnende Industrialisierung und technische Entwicklungen wie etwa Innovationen in der Kommunikationstechnik, sowie durch neue Verkehrsmittel beförderte soziale Mobilität; Wandel in den Möglichkeiten der Kriegsführung sowie „Nationalisierung“ der Institution des Militärs (als nationale „Volksarmee“); Mentalitätswandel der politischen Eliten im Hinblick auf die Praxis internationaler Beziehungen, Bedeutungswandel im Balancedenken („politisches Äquilibrium“); Pluralität der Akteure mit komplizierten innen-Außenverhältnissen und komplexen Identitätskonstellationen.

5.2.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting Zum Verständnis des unmittelbaren Kontextes des Kongresses spielen die im letzten Abschnitt bereits kurz erwähnten epochalen Ereignisse wie die Napoleonische Expansionspolitik bzw. die damit verbundenen sog. Koalitionskriege natürlich eine wesentliche Rolle. Die Situation Europas im frühen 19. Jahrhundert im All-

505 OSTERHAMMEL 2010, S. 606.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

gemeinen, sowie die Situation nach der Niederlage Napoleons im Besonderen versetzten den Kontinent gewissermaßen in einen „Reset-Modus“. Die aggressive napoleonische Expansionspolitik hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Reihe wechselnder Koalitionen und entsprechende Koalitionskriege zur Folge, die für Napoleon - insbesondere nach seinem Sieg in Jena und Auerstedt - zunächst günstig ausgingen. Nachdem der vierte Koalitionskrieg mit Russland und Preußen schließlich im Frieden von Tilsit 1806 beendet wurde, befand sich nahezu der gesamte Kontinent unter direkter oder indirekter französischer Herrschaft. In diesen Kontext fällt auch das Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806, das sicherlich als einer der größten Umbrüche in der Mitte Europas gelten dürfte und profunde Implikationen für die politische Konstellation Europas hatte. Nach erheblichen linksrheinischen Gebietsverlusten im Zuge der Koalitionskriege sowie den radikalen Umgestaltungen des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 – insgesamt gingen 112 kleinere Reichsstände in größeren Staatsgebilden auf – hatten sich einige deutscher Reichsstände in einer Konföderation (dem sog. Rheinbund) als französisches „Protektorat“ aus dem Reichsverbund verabschiedet. Damit war das - bereits früher unter Erosionserscheinungen leidende - Alten Reich endgültig dem Untergang geweiht und fand sein Ende schließlich mit der Abdankung des Kaisers Franz II. (bereits davor als Franz I. Kaiser von Österreich) 1806, was tiefgreifende Transformationsprozesse in der politischen Ordnung Europas zur Folge hatte. Nach der späteren Niederlage Napoleons im sechsten Koalitionskrieg bzw. den daran anschließenden sog. „Befreiungskriegen“ – die gleichermaßen das Ende des Rheinbundes einläuteten – wurden die damit einhergehenden ordnungspolitischen Probleme im Herzen Europa besonders akut.506 Doch nicht nur das Ende des Rheinbundes stellte ordnungspolitische Herausforderungen, in Anbetracht des Ausmaßes der napoleonischen Expansion war der politische Raum Europas nach Napoleons Abdankung und Verbannung507 nahezu

506 Diese kurze Abhandlung der Situation Europas nach dem Ende der napoleonischen Kriege ist bewusst auf die Identifizierung ordnungspolitischer Herausforderungen ausgelegt und muss an dieser Stelle natürlich skizzenhaft verbleiben. Eine sehr detaillierte Darstellung findet sich indes bei ERBE, Michael (2004): Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785 – 1830 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen Bd. 5), Paderborn: Schöningh. Vgl. für die folgenden Ausführungen auch die guten Überblicke bei FEHRENBACH, Elisabeth (2008): Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress (5. Aufl.), München: Oldenbourg, sowie DUCHHARDT, Heinz (2013a): Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15. München: C.H. Beck. 507 Im Vertrag von Fontainebleau (15. April 1814) zwischen den Siegermächten und Napoleon wurde seine Abdankung vereinbart, im Gegenzug durfte er den Kaisertitel behalten und bekam die Insel Elba auf Lebenszeit als souveränes Fürstentum zugesprochen, zudem sollte er jährlich zwei Millionen Franc Unterhalt aus der französischen Staatskasse erhalten. Dass die Entscheidung für

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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in seiner Gesamtheit ordnungsbedürftig. Wie war mit den Verbündeten Napoleons und den sog. Napoleonidenstaaten zu verfahren, innerhalb wie außerhalb „Deutschlands“? Wie sollte es mit den anderen ehemaligen Teilen des französischen Kaiserreichs, wie etwa die Niederlande oder der schweizerischen Eidgenossenschaft, weiter gehen? Nicht zuletzt stellte sich die – wie sich im Laufe des Kongresses herausstellen sollte: recht explosive – Frage nach der Zukunft Polens, das in der Revolutionszeit nach verschiedenen Teilungen der großmächtigen Anrainer von der Landkarte verschwunden war und in Teilen von verschiedenen Akteuren für sich beansprucht wurde. Kurzum: es mussten Mittel und Wege gefunden werden, die Ordnung Europas auf ein stabiles Fundament zu setzen, das einen erneuten Ausbruch revolutionärer Wirren, wie auch ein Wiederaufleben aggressiver französischer Expansionspolitik verhindern konnte. Eigentlich hatten die alliierten Siegermächte der anti-napoleonischen Quadrupelallianz – Russland, Großbritannien, Preußen und Österreich – geplant, die drängenden Fragen der Neuordnung Europas bereits in Paris, wo sich alle „siegreichen Monarchen“ eingefunden hatten, zu regeln. Allerdings erwiesen sich die Materien als zu zahlreich und zu komplex – vor allem jedoch die Standpunkte der Alliierten als zu unterschiedlich -, um alle Fragen in Paris abschließend zu regeln. Der nach dem Waffenstillstand vom 23. April 1814 schließlich am 30. Mai unterzeichnete Friedensvertrag508 enthielt in Art. 32 die Bestimmung, dass alle kriegsführenden Parteien zur Verhandlung der verbleibenden Fragen und Vervollständigung des Friedensvertrages binnen zwei Monaten ihre Bevollmächtigten zu einem Kongress nach Wien zu entsenden hatten. Unterzeichnet wurde der Vertrag neben den Siegermächten (Russland, Großbritannien, Preußen und Österreich) auch von Frankreich, Schweden, Portugal und Spanien. Letzteren drei wurde die Ehre der Vertragsunterzeichnung eher zufällig zuteil, denn sie zählten bereits längere Zeit nicht mehr zum erlauchten Kreise der Großmächte, ihr Bezug zu vereinzelten Bestimmungen des Vertrages billigte ihnen jedoch diese Rolle zu, die ihnen im Verlauf des Kongresses auch einige Vorrechte einbringen sollte.509 Elba letztlich gefährlich (da sehr nah am Kontinent) war, sollte sich dann im Zuge des Kongresses herausstellen. Vgl. LENTZ, Thierry (2014): Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas. München: Siedler, S. 18. 508 Tatsächlich handelte es sich dabei um insgesamt vier vertragliche Vereinbarungen, zwischen Frankreich und Österreich, zwischen Frankreich und Preußen, zwischen Frankreich und Russland, sowie zwischen Frankreich und England. In Deklarationen erklärten weitere Mächte ihre Zustimmung: Schweden am 8. Juni, Portugal am 12. Juni und Spanien am 20. Juli. In dieser Hinsicht war der Vertrag also kein „multilateraler“ sondern eher eine Ansammlung bilateraler Vereinbarungen, LENTZ 2014, S. 21 (Anm. 20); eine vollständige Fassung des Vertragstextes findet sich bei HAUFF, Ludwig (1864): Die Verträge von 1815 und die Grundlagen der Verfassung Deutschlands. Bamberg: Buchner, S. 136-145. 509 Schweden hatte die (von Großbritannien zeitweise überlassene) Insel Guadaloupe an Frankreich zurückzugeben, Portugal sollte in Wien mit Frankreich über die beiderseitige Kolonialgrenze in

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Es ist also zum Verständnis der Besonderheit des Wiener Kongresses zentral zu verstehen, dass er keinen „Friedenskongress“ im engeren Sinne darstellte – die Friedensvereinbarung ging ihm voraus, der Kongress selbst sollte sich jedoch „nur“ mit den ordnungspolitischen Fragen der entsprechenden Friedensordnung in Europa befassen. Statt eines „Friedenskongress“ könnte man ihn insofern mit der Bezeichnung „Ordnungskongress“ wohl präziser charakterisieren. Dies war den handelnden Akteuren durchaus bewusst. Obgleich die traditionelle Praxis der großen Friedenskongresse der frühen Neuzeit sicherlich als Vorbild gedient hatte, war klar, dass dieser Kongress in seiner Besonderheit auf keinen unmittelbaren Präzedenzfall zurückgreifen konnte. In der Publizistik im Vorfeld des Kongresses hatte es entsprechend lebhafte Kontroversen um die Berechtigung des Kongress-Begriffes gegeben, da dieser ja (die Tradition kontrastierend) keinen Friedenschluss im engeren Sinne zum Ziel hatte. Diese Problematik hatte auch die Bevollmächtigten im unmittelbaren Vorfeld des Kongresses beschäftigt, wobei man sich schließlich einig wurde, dass der Kongress in der Tat keiner im wörtlichen Sinne war, sondern allenfalls eine „Ansammlung von Verhandlungen“ oder ein Treffen Europas „sous le nom de congrès“.510 Clemens Fürst von Metternich – als österreichischer Außenminister einer der zentralen Akteure des Kongresses – merkte in diesem Sinne vor Beginn des Kongresses an, dass letztlich die Signatarmächte des Pariser Friedensvertrages bestimmen würden, welche konkrete Bedeutung sie dem Begriff „Kongress“ geben würden.511 Eine wirklich schlüssige Alternative wurde jedoch nie ernsthaft erwogen, sodass sich der „Wiener Kongress“ schlussendlich als Begriff etablierte.512 Im Vorfeld des Kongresses nahm die Suche nach den konkreten Verfahrensregeln etwa zwei Monate in Anspruch. Bis sich die Vertreter der Großmächte jedoch über die einzelnen Verfahren verständigt hatten, gingen zwei weitere Monate ins Land. Dabei erwies es sich vor allem als problematisch, den Anspruch auf einen „allgemeinen Kongress“ – und somit die Ermöglichung konsensualer Lösungen unter breiter Beteiligung - mit dem o.a. (widersprüchlichen) Ansinnen der Großmächte zu vereinen, ihrerseits privilegierten Einfluss auf die Verhandlungsergebnisse auszuüben.513 Prinzipiell war der Kreis der legitimen Teilnehmer am Kongress durch den Pariser Friedensvertrag festgelegt: alle am Kriege beteiligten

510 511 512 513

Guyana verhandeln und das bourbonische Spanien erhob immer noch den Anspruch als Großmacht behandelt zu werden; vgl. DUCHHARDT 1976, S. 130 (Anm. 3). DUCHHARDT 2013a, S. 25. Zit nach LANGHORNE, Richard (1986): Reflections on the Significance of the Congress of Vienna, in: Review of International Studies 12, S. 318. DUCHHARDT 2013a, S. 25. HAUG-MAURITZ, Gabriele (2004): Die Friedenskongresse von Münster/Osnabrück (1643-48) und Wien (1814-15) als „deutsche“ Verfassungskongresse. Ein Vergleich in verfahrensgeschichtlicher Perspektive, in: Historisches Jahrbuch 124, S. 148.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

149

Souveräne – ungeachtet ihrer Größe oder Machtstellung – sollten daran teilhaben. In einem Geheimartikel des Friedensvertrages hatten die vier Mächte der Quadrupelallianz indes beschlossen, ihren „Rat der Vier“ als zentrales entscheidungsgebendes „Direktionsgremium“514 des Kongresses festzulegen. Diese kleinere Runde begann bereits ab Ende September unter größtmöglicher Geheimhaltung zu tagen. Dem lag die Überlegung zugrunde, die konkreten Verfahrensregeln festzulegen und möglichst alle wichtigen Kongressfragen vorab unter sich zu klären. So hatte Metternich noch im Juni 1814 die Überzeugung geäußert, dass unter den Großmächten über die essentiellen Fragen im Vorfeld ein Ausgleich stattgefunden haben würde und der Kongress somit „weniger zum Negoziieren als zum Unterfertigen bestimmt sein“ werde.515 Allerdings erwies sich diese Vorstellung letztlich als eklatante Fehleinschätzung, denn tatsächlich war zu Kongressbeginn so gut wie keine Frage unter den Großmächten abschließend geklärt. Auf die Integration Frankreichs in den Kreis der Großmächte – im Sinne eines ordnungs- und friedensfördernden Gleichgewichts in Europa - hatten sich die Großmächte der Quadrupelallianz jedoch schon verständigen können, weshalb das federführende Viererkomitee als entscheidendes Kongressgremium schließlich auf ein Fünferkomitee erweitert werden sollte – wie Kongressekretär Friedrich von Gentz rückblickend erinnerte, das „centre et siège de tout les affairs“.516 Dieses erwies sich im Laufe des Kongresses in der Tat als die letztlich entscheidungsgebende Instanz und eigentlicher „Kern“ der Kongresses, obgleich das sog. Achterkomitee – neben den fünf Großmächten auch die Signatare des Ersten Pariser Friedens: Spanien, Portugal und Schweden - diese Rolle ebenfalls für sich beanspruchte, der Friedensvertrag postulierte ja im Prinzip die gleichberechtigte Teilnahme aller Signatarmächte. Durch das berühmt gewordene Bildnis des französischen Hofkünstlers Jean Baptiste Isabey - das das Achterkomitee in einer fiktiven Sitzungspause darstellt517 – ist das Achterkomitee wohl bis heute als die Verkörperung des Wiener 514 DUCHHARDT 1973, S. 134. 515 Zit nach Ebd., S. 132. 516 Zit. nach DUCHHARDT 2013a, S. 73; Castlereagh hatte zudem noch die Hinzuziehung Spaniens erwirkt, da er der Meinung gewesen war, dass die großen „general questions of Europe“ in den Händen einer „general commission“ liegen müssen, bestehend aus den „six powers of Europe most considerable in population and weight“, insofern müsste also eher von einem Sechserkomitee gesprochen werden; Memorandum Castlereagh zit. nach STAUBER, Reinhard (2014): „Freie und vertrauliche Erörterungen“. Organisation und Arbeit der Komitees und Kommissionen auf dem Wiener Kongress, in: DERS./KERSCHBAUMER, Florian/KOSCHIER, Marion (Hg.): Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses. Münster: LIT, S. 50. 517 Isabey war im Gefolge der französischen Delegation angereist und fertigte Portraits von insgesamt 23 Kongressteilnehmern an, die als Vorlage für dieses Bildnis fungierten. Das Bild zeigt mit 21 Diplomaten und den beiden österreichischen Sekretären Gentz und Wacken „die vollste Besetzung“ des Achterkomitees, vgl. STAUBER 2014, S. 55.

150

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Kongresses in Erinnerung geblieben, tatsächlich tagte das Achterkomitee jedoch insgesamt nur etwa 20 Mal und erreichte damit bei weitem nicht die Entscheidungskraft des Fünfer- bzw. Sechserkomitees.518

Abbildung 10:

Gruppenbild der leitenden Staatsmänner. Stich von Jean Godefroy nach Gemälde von Jean Baptiste Isabey (1819). Quelle: Wikicommons.

Die Kreation des Achterkomitees hatte die Bewandtnis, dass sich eine der eigentlich bemerkenswertesten Besonderheiten des Wiener Kongresses - die Integration des ehemaligen „Feindes“ Frankreichs - als nicht unproblematisch erwiesen hatte. Der diplomatisch überaus versierte französische Bevollmächtigte Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord hatte im Zuge der ersten Beratungen des Sechserkomitees darauf gedrängt, die Erörterungen von Grundsatzfragen und die Berufung vom Unterkommissionen einer Generalversammlung des Kongresses zu übertragen, die ja als einzige dem Anspruch eines „congrès générale“ gerecht werden könne – denn „die acht Mächte seien nicht der Congreß, sondern nur ein Theil

518 DUCHHARDT 2013a, S. 73

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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desselben“.519 Zudem wirkte er durch diese Intervention auf eine Verschiebung des (ursprünglich für den 1. Oktober vorgesehenen) Kongressbeginns auf den 1. November hin. Um Talleyrands Einfluss in Grenzen zu halten, wurde daraufhin die von Großbritannien und Russland bereits länger ins Auge gefasste Integration zweier weiterer Signatare - Schweden und Portugal - realisiert, sodass Anfang Oktober 1814 erstmals das Achterkomitee zusammentrat.520 Zu einem von Talleyrand anvisiertem Kongressplenum sollte es bis zur Unterzeichnung der Schlussakte jedoch nicht mehr kommen, die Verschiebung des Kongressbeginns auf den 1. November, gab jedoch genug Zeit, weitere Planungen anzustellen und im Kreise der „großen Vier“ verpasste Vorabsprachen zu fixieren. Alles in allem war das Kongresssetting also – obgleich man sich sicherlich allgemein an den großen Friedenskongressen der frühen Neuzeit orientierte – im Wesentlichen situativ improvisiert bzw. im „learning-by-doing“ Modus entwickelt.521 Die Lösungen, zu denen man auf diese Weise gelangte, entsprachen dem seit 1813 gewohnten „English style of conducting business“, also „freie und vertrauliche Erörterungen“ (im Sinne der öffentlichen Erklärung über die Verschiebung der Eröffnung des Kongresses522) in einem überschaubaren Kreise, sowie – besonders charakteristisch – ohne jegliche schwerfällige zeremonielle Verfahrensregeln für den Verhandlungsgang zu führen.523 Dass dieser informelle Beratungsstil im kleinen und demensprechend elitärem Kreise jedoch eher mit der alten, nicht jedoch mit der angestrebten neuen europäischen Ordnung - mit wesentlich inklusiverem Anspruch - vereinbar war, erkannten auch bereits die Zeitgenossen, allen voran Castlereagh.524 Die Anwesenheit eines diplomatischen Vertreters beim Kongress bedeutete also keineswegs ein Anrecht auf Beteiligung an Entscheidungsprozessen oder auch nur an Informationen zum Stand der Verhandlungen – nicht zuletzt daher rührt die enorme Relevanz der informellen „Meinungsbörsen“ auf den zahlreichen Festlichkeiten des Kongress, ein Aspekt auf den noch einzugehen sein wird.525 Ein weiteres typisch Wienerisches – und für spätere Kongresse stilbildendes - Verfahren war die Übertragung der Verhandlung bestimmter Sachfragen an spezielle Kommissionen. Dieses Verfahren erwuchs letztlich auch einer situativen 519 Bericht Talleyrands an Ludwig XVIII, in: MÜLLER, Klaus (Hg.) (1986): Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 192. Damit verwendete Talleyrand die von den Großmächten propagierte legitimatorische Grundlage der „neuen Ordnung“ in Europa natürlich geschickt gegen sie, vgl. HAUG-MAURITZ 2004, S. 149. 520 STAUBER 2014, S. 52 521 Ebd., S. 48. 522 Erklärung der acht Mächte über die Eröffnung des Kongresses, in: MÜLLER 1986, S. 193. 523 STAUBER 2014, S. 49. 524 HAUG-MAURITZ 2004, S. 149. 525 STAUBER 2014, S. 49.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Improvisation, denn die Fülle der Agenden erwies sich schlichtweg als derart mannigfaltig – eine von Friedrich von Gentz erstellte Zusammenstellung benötigte nahezu alle Buchstaben des Alphabets (a-s)526 – dass eine arbeitsteilige Beschäftigung mit den verschiedenen Ordnungsfragen eine wesentlich effizientere Vorgehensweise darstellte. Alles andere hätte wohl erhebliche Verzögerungen und eine – insbesondere für die in persona anwesenden Monarchen – unzumutbare Dauer des Kongresses bedeutet. Bereits Mitte September hatten die anwesenden Bevollmächtigten - Nesselrode für Russland, Castlereagh für Großbritannien und Metternich für Österreich – zwei große Themenkomplexe identifiziert sowie deren Verhandlung in zwei unterschiedlichen Gremien beschlossen. Neben dem federführenden „Direktionsgremium“ der vier „Siegermächte“ sollten alle auf die künftige deutsche Verfassung bezogenen Sachfragen in einer Kommission aus Bevollmächtigten der wichtigsten deutschen Staaten beraten werden. Im Laufe des Kongresses wurden noch zahlreiche weitere Kommissionen berufen, in denen die kleineren europäischen Staaten und andere Gruppen bzw. Interessenvertreter gehört wurden. Inklusive der „deutschen Kommission“ (die durch ihre ordnungspolitische Relevanz in gewisser Weise eine Sonderrolle einnahm) waren es insgesamt 13 an der Zahl. Sie befassten sich teilweise mit den Regeln des diplomatischen Verkehrs allgemein (die sog. „Rangkommission“), sowie territorialen bzw. akteursspezifischen Fragen (Schifffahrtskommission sowie die Kommissionen zu Genua, den Niederlanden und der Schweiz). Von eminenter Bedeutung war auch die sog. „statistische Kommission“, die dem Fünferkomitee für die Regelung territorialer Fragen essentielle demographische Erhebungen zuspielte (in Form erhobener sog. „Seelenzahlen“).527 Zudem wurde als einzige Frage mit außereuropäischem Bezug die der Abschaffung des Sklavenhandels in der sog. „Abolitionskommission“ verhandelt.528 Die Kommissionen wurden – mit der besagten Ausnahme der „deutschen Kommission“ - im Wesentlichen durch die Großmächte beschickt, und mussten je nach Zuständigkeit bzw. Relevanz der Fragen an das Vierer- bzw. Achterkomitee berichten, das die Beschlüsse in der Regel ohne Veränderungen billigte. Das Maß an Effizienz und Professionalisierung,529 das sich in der Arbeit in diesen Kommissionen widerspiegelt, sollte als stilbildendes Element „Wiener Kongresskultur“ auch späteren Friedenskonferenzen als Beispiel dienen. Als das Achterkomitee am 31. Oktober schließlich die offiziellen Beschlüsse über die Aufnahme der Verhandlungen fassten, waren die Mächte durch insgesamt 526 DUCHHARDT 2013a, S. 71. 527 Die Idee dazu lieferte Castlereagh, der sich mit diesen demographischen Erhebungen erhoffte, die Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands voranzutreiben. „Objektive“ Faktoren, so die Überlegung, sollten dabei helfen, eine Einigung bezüglich neuer Grenzziehungen zwischen Österreich und Preußen herbeizuführen; vgl. LENTZ 2014, S. 139. 528 DUCHHARDT 1973, S. 135. 529 Ebd; DERS: 2013, S. 73.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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16 Personen vertreten: Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (Vorsitz) und Johann Philipp Freiherr von Wessenberg für Österreich, Robert Steward Viscount Castlereagh, William Cathcart Earl Cathcart, Charles William Steward Baron Steward of Steward’s Court und Richard Trench Earl of Clancarty für Großbritannien, Wilhelm von Humboldt für Preußen, Karl Robert von Nesselrode für Russland, Emmerich Joseph Herzog von Dalberg, Frédéric-Séraphin de La Tour du Pin und Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord für Frankreich, Pedro Gómez Havelo Márquez de Labrador für Spanien, Pedro de Souza Holstein Duque de Palmella, Antonio de Saldanha de Gama und Joaquino Lobo de Silveira für Portugal und Carl Axel Graf von Löwenhjelm für Schweden. Später nahmen auch noch Alexis Graf von Noailles für Frankreich, Andrej Graf Razumovskij und Gustav Ernst Graf Stackelberg für Russland, Karl August von Hardenberg für Preußen und Arthur Wellesley Duke of Wellington für Großbritannien an den Konsultationen teil.530 Die Zahl der Delegierten kleinerer Staaten ging in die Hunderte, daher sei nur exemplarisch auf die Gruppe der „mindermächtigen“ deutschen Staaten531 verwiesen: Anhalt-Bernburg, Anhalt–Dessau, Anhalt-Köthen, Braunschweig, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Hessen-Darmstadt, Hessen-Kassel, Hohenzollern-Hechingen, Hohenzollern-Sigmaringen, Holstein-Oldenburg, Liechtenstein, Lippe-Detmold, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Nassau-Oranien, Nassau, Reuß-Ebersdorf, Reuß-Greiz, Reuß-Lohenstein, Reuß-Schleiz, SachsenCoburg-Saalfeld, Sachsen-Gotha-Altenburg, Sachsen-Hildburghausen, SachsenMeiningen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Schaumburg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, sowie Waldeck-Pyrmont. Wenn man in Rechnung stellt, dass von diesen Akteuren nicht selten zwei Repräsentanten (und überdies noch ein bis zwei Vertreter der jeweiligen Fürstenfamilie) in Wien anwesend waren, wird die Zahl von ca. 100 Repräsentanten allein für diese Gruppe sicherlich nicht zu hoch gegriffen sein.532 Hinzu kamen auch noch eine ganze Reihe Vertreter spezifischer Interessensgruppen, beispielsweise Vertreter der Reichsritterschaft, die auf deren Renaissance hinarbeiteten, sowie solche des Johanniterordens, die sich um die Restitution des Ordens und um die Zuweisung eines Sitzes bemühten, ebenso eine Delegation Frankfurter Juden, der dortigen katholischen Gemeinde sowie ein Vertreter der Juden der norddeutschen Hansestädte, eine Abordnung der Kölner Schiffer, die sog. Oratoren, die sich quasi als pressure group zur Durchsetzung der Interes-

530 STAUBER 2014, S. 55. 531 HUNDT, Michael (1996): Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Bd. 164). Mainz: von Zabern. 532 DUCHHARDT 2013a, S. 74.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

sen der katholischen Kirche sahen, sowie Vertreter nicht reichsunmittelbar gewesenen Kommunen wie Mainz, Kreuznach oder Danzig, die bestimmte Vorstellungen über ihre politische Zukunft hatten.533 Neben den dazu kommenden zahlreichen Privatpersonen, den „Grandseigneurs, Künstlern und Projektemachern, Welt- und Halbweltdamen, Schaulustigen, Nutznießern und Schlachtenbummlern der großen europäischen Fürsten- und Länderbörse“ können wir also von ca. 150 mehr oder minder offiziellen Repräsentanten aus bis zu 200 verschiedenen Ländern, Städten und Gemeinden ausgehen.534 Zu der Arbeit in den Kommissionen gehörte auch die Prüfung der Bevollmächtigungen der entsandten Diplomaten, eine Arbeit, die im Hinblick auf ihre schiere Menge eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellte. In einer der Sitzungen des Achterkomitees Ende Oktober 1814 war beschlossen worden, den Aufwand möglichst gering zu halten und die Prüfung der Vollmachten einer Dreierkommission zu übertragen („Verifizierungskommission“). Per Los wurden daraufhin auf Sekretärsebene Vertreter Russlands, Großbritanniens und Preußens bestimmt, die sich ab dem 3. November 1814 in einem Büro der Wiener Staatskanzlei damit beschäftigten, die Vollmachten entgegenzunehmen - zuletzt 108 an der Zahl -, diese Anhand der miteingereichten Abschriften zu prüfen und einen entsprechenden Aktenvermerk zu führen.535 Neben der Vielzahl der Vollmachten gesellte sich in diesem Kontext jedoch noch die (zu erwartende) Problematik der Gesandtschaften von Staaten hinzu, die noch auf Anerkennung (und somit auf Zulassung) warteten, weshalb man schließlich beschloss, den Kongress nicht mit einer großen feierlichen Eröffnungszeremonie beginnen zu lassen.536 Dies deutet auf eine weitere Besonderheit des Wiener Kongresses hin: seine Eröffnung war – v.a. im Vergleich mit der später in zahlreichen öffentlichen Darbietungen in Szene gesetzten Prachtentfaltung - merklich unspektakulär und wurde in erster Linie durch den Beginn der Arbeit der Verifizierungskommission markiert.537 Eine kleine Zeremonie soll allerdings durchaus stattgefunden haben, nach der mehrtägigen Prüfung der Vollmachten kam es am 533 Ebd. 534 Ebd, S. 75, Zitat aus GRIEWANK, Karl (1942): Der Wiener Kongreß und die Neuordnung Europas, Leipzig. 535 STAUBER 2014, S. 58f. 536 Eine Denkschrift Wilhelm von Humboldts brachte die Problematik auf den Punkt: „Eine solche Veranstaltung würde (…) nur von Nutzen sein, wenn sie den Zweck hätte, die Vollmachen und das Recht eines jeden auf Teilnahme zu untersuchen: aber genau das will man nicht“, Denkschrift vom 23. September 1814, zit. nach DUCHHARDT 2013a, S. 77. 537 Ebenso unspektakulär gestaltete sich übrigens auch die Unterzeichnung der Schlussakte des Kongresses – entgegen einiger Mythen geschah dies nicht im Rahmen einer feierlichen Abschlusszeremonie, sondern recht schlicht durch die Unterzeichnung des Dokuments durch die noch anwesenden Bevollmächtigten – die Monarchen waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgereist.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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3. November zu einer „schlichten und bescheidenen Konferenz, die in keinster Weise dazu geeignet war, die Neugierde der Öffentlichkeit zu stillen“.538 Dabei soll Metternich eine Rede gehalten haben, die nochmals den Grundcharakter des Kongresses auf den Punkt brachte: dass man im Kongress eigentlich nur ein Europa erkennen dürfe, in dem sich die Distanzen aufgelöst haben – in zahlreichen Memoiren überliefert als das berühmte „Europe sans distance“.539 Zusammenfassend können wir also folgende charakteristische Merkmale des Wiener Kongresssettings festhalten:   



 

Der Wiener Kongress war eigentlich kein Friedenskongress im engeren Sinne, sondern eher ein „Ordnungskongress“, da ihm der eigentliche Friedenschluss vorausging. Ausgestaltung der Verfahrensordnung resultierte aus den Logiken des vorausgegangenen Konfliktes sowie der entsprechenden Allianzen, wobei die konkreten Verfahren im Wesentlichen „improvisiert“ waren. Bei allen Differenzen der entscheidenden Großmächte basierte die Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung doch früh darauf, den ehemaligen „Feind“ Frankreich einzubinden. Auch in die Entscheidungsstrukturen des Kongresses wurde Frankreich – teils natürlich auch dank des diplomatischen Geschicks Talleyrands – in die führenden Gremien aufgenommen. Charakteristisch war zudem die persönliche Teilnahme der (monarchischen) Souveräne, die das Kongresssetting sowohl in Raum und Zeit kondensierten, aber auch einige Besonderheiten mit sich brachten - etwa eine ausgeprägte Mündlichkeit, die bis dahin für diplomatische Ereignisse dieser Art eher ungewöhnlich war.540 Obwohl der Kongress zur Aushandlung einer nachhaltigen Friedensordnung in Europa im Grundgedanken durchaus inklusiv gedacht war, waren die wesentlichen Entscheidungsgremien letztlich elitär und exklusiv. Verbunden sowohl mit der ausgeprägten Mündlichkeit wie auch die elitäre Ausrichtung der zentralen Entscheidungsgremien ergab sich eine vergleichsweise hohe Relevanz der „Nebenschauplätze“, also informeller Feierlichkeiten und Zusammenkünfte.

538 Memoires, documents et écrits divers laissés par le prince de Metternich, Bd. 1, S. 203, zit. nach LENTZ 2014, S. 144. 539 Mémoires du Prince de Talleyrand (hg. von Albert de Broglie), Bd. 2, S. 420, zit. nach VICK, Brian (2014): The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon. Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 9; vgl. auch LENTZ 2014, S. 144, DUCHHARDT 2013a, S. 79. 540 DUCHHARDT 2013a, S. 79.

156 

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Schließlich gilt die Effizienzsteigerung und Professionalisierung durch Kommissionsarbeit als eines der stilbildenden Elemente des Wiener Kongresses.

5.2.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis Wenige Friedenskongresse scheinen die Theater-Metapher so nahezulegen wie der Wiener Kongress; bei Sichtung verschiedenster Charakterisierungen fällt diese Metapher auffallend oft ins Auge – und zwar sowohl in akademischen Abhandlungen, als auch in Augenzeugenberichten. Heinz Duchhardt rekurriert etwa bei der Gliederung seiner Darstellung in seinem jüngsten Überblickswerk explizit auf die Terminologie des Theaters, da Wien eine „Kulisse bot, die ihresgleichen suchte“ und sich somit eine „aufs Spielerische abhebende Darstellungsweise geradezu aufdrängte“.541 Einige Beobachter sahen im Kongress gar ein „Gesellschaftsstück, das vor einem herrlichen Hintergrund stattfand und von den besten Schauspielern der Weltbühne dargestellt wurde“.542 Diese „politischen Festspiele“ bzw. die „Schauspieler des großen Dramas“543 entfachten jedoch nicht durchgängig Ovationen. So soll etwa der Gesandte Württembergs auf dem Kongress denselben als „ein schlechtes Theaterstück, dessen Autor ausgepfiffen werden müsse“ apostrophiert haben.544 Ob dies – wie Günzel anmerkt – an seiner Nebenrolle bzw. dem Gefühl lag, zu kurz gekommen zu sein, sei dahingestellt. Festhalten lässt sich zumindest, dass sich das „Schauspiel“ des Kongresses als solches sowohl bei Zeitgenossen als auch wissenschaftlichen Beobachtern als unmittelbare Assoziation finden lässt. Die von Ludwig van Beethoven komponierte Huldigungskantate „Der glorreiche Augenblick“ (Op. 136), die Ende November 1814 zusammen mit dem Stück „Wellingtons Sieg“ sowie der 7. Sinfonie im Rahmen der Kongressfeierlichkeiten uraufgeführt wurde, vermittelt – gewissermaßen als „Hintergrundmusik“ - eine Illustration der monumentalen Dramaturgie: Europa steht! Und die Zeiten, die ewig schreiten, der Völker Chor, 541 Ebd., S. 15. 542 SPIEL, Hilde (1965): Der Wiener Kongress in Augenzeugenberichten. Düsseldorf: Karl Rauch, S. 9. 543 LA GARDE-CHAMBONAS, Auguste (1912): Gemälde des Wiener Kongresses 1814-1815. Erinnerungen, Feste, Sittenschilderungen, Anekdoten (hg. von Gustav Gugitz), Bd. 1. München: Georg Müller, S. 20, 14. 544 Zit. n. GÜNZEL, Klaus (1995): Der Wiener Kongress. Geschichte und Geschichten eines Welttheaters. München und Berlin: Köhler und Amelang, S. 55.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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und die alten Jahrhundert, sie schauen verwundert empor! (…) Vienna! Kronengeschmückte, Götterbeglückte, Herrscher bewirtende Bürgerin! Sei gegrüßt von den Völkern allen und Zeiten, die an dir vorüberschreiten, denn jetzt bist du der Städte Königin. Vienna! Vienna!

Woraufhin die Stadt selbst antwortet: O Himmel, welch’ Entzücken! Welch’ Schauspiel zeigt sich meinen Blicken! Was nur die Erde hoch und hehres hat, in meinen Mauern hat es sich versammelt! Der Busen pocht! Die Zunge stammelt! Europa bin ich – nicht mehr eine Stadt.545

Doch auch jenseits jeden Pathos‘ betrachtet bot die Stadt Wien der großen Dramaturgie des Kongresses in der Tat – in Duchhardts Worten – eine Kulisse, die ihresgleichen suchte. Als Hauptstadt eines multiethnischen Reiches war sie bereits vor dem Kongress eine „bunte“ Stadt und mit ca. 250.000 Einwohnern eine der größten Städte Europas.546 Für die Kongresszeit wurde sie von schätzungsweise 30.000 „Fremden“ aufgesucht, was einen erheblichen Bevölkerungszuwachs bedeutete und nicht unmerklich am Alltag der Wiener Bevölkerung vorbeiging. Die Lebenshaltungskosten im Allgemeinen sowie die Mietkosten im Besonderen schossen binnen kürzester Zeit derart in die Höhe, dass sich die österreichischen Behörden gezwungen sahen, ihren Wiener Beamten eine außerplanmäßige Zulage zu gewähren.547 Auch die evidenten Mängel im Beherbergungswesen sorgten für Probleme, 545 Vgl. zur Entstehungskontext der Kantate auch LADENBURGER, Michael (1989): Der Wiener Kongreß im Spiegel der Musik, in: LÜHING, Helga/BRANDENBURG, Sieghard (Hg.): Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration. Bonn: Beethoven-Haus, S. 275-306. Der Text der Kantate ist abrufbar unter: http://www.naxos.com/sharedfiles/PDF/8.572783_sung text.pdf, 20.05.2019. 546 Die Bevölkerungsangaben aus der Zeit des Kongresses schwanken zwischen 240 000 und 265 000, allerdings sind auch fluktuierende Bevölkerungsgruppen wie etwa wandernde Handwerksgesellen, Saisonarbeiter und Tagelöhner hinzuzurechnen, HÄUSLER, Wolfgang (1999): „Europa bin ich – nicht mehr eine Stadt“. Die Haupt- und Residenzstadt Wien als Schauplatz des Kongresses 1814/15, in: DUCHHARDT, Heinz (Hg.): Städte und Friedenskongresse. Köln: Böhlau, S. 143. 547 DUCHHARDT 2013a, S. 65.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

denn Hotels gab es in diesem Sinne noch nicht und die altehrwürdigen „Einkehrgasthöfe“ vermochten den Andrang in Wien nicht zu bewältigen. Die „Fremden“, die nicht den Vorzug genossen wie die Monarchen und Gäste des Kaisers in der Hofburg beherbergt zu werden, bekamen den entsprechenden Mietwucher für Wohnungen und Zimmer empfindlich zu spüren.548 Alles in allem befand sich Wien zur Zeit des Kongresses in einem Ausnahmezustand, denn die Dimension der Zusammenkunft – und die damit verbundenen Kosten – erreichten ein bis dahin beispielloses Ausmaß. Das Gros der Kosten ging zu Lasten der Gastgeber und damit des österreichischen Haushaltbudgets. Für ein Land, das nicht nur auf die kostenintensive Zeit der napoleonischen Kriege zurückblickte, sondern überdies auch wenige Jahre zuvor den Staatsbankrott hatte erklären müssen, eine nicht unerhebliche Herausforderung. Um diese zu bewältigen wurde einerseits die Notenpresse angeworfen und Millionen an zusätzlichem Papiergeld gedruckt – mit dem naheliegenden Resultat einer Inflation, die zu eklatanten Preissteigrungen führte und die Lebenshaltungskosten exorbitant steigen ließ. Andererseits versuchte die österreichische Regierung die Kosten durch die Erhöhung diverser Steuern zu bewältigen, vor allem durch die berüchtigte Erhöhung der Erwerbssteuer um 50 Prozent, die bald sprichwörtlich werden sollte.549 Dennoch war die Wahrnehmung des Kongresses in der Bevölkerung Wiens nicht nur negativ, der Kongress und die damit einhergehenden Umstände riefen eher ein ambivalentes Echo hervor. Neben den o.a. Teuerungen wirkte sich der vermehrte Konsum in der Stadt durchaus belebend auf die Konjunktur aus, zudem profitierten nicht wenige Wiener von den gestiegen Mietkosten insofern, als sie Kongressbesucher für gutes Geld bei sich beherbergen konnten.550 Man konnte also in vielfältiger Weise vom Kongress profitieren, ganz besonders wenn man zu privilegierten Bevölkerungsschichten gehörte - als Angehöriger der Wiener Beamtenschaft konnte man etwa, wie bereits erwähnt, auf Ausgleichszahlungen für die Teuerungen sowie auf Eintrittskarten für die zahlreichen Festveranstaltungen, oder sogar auf einen Anteil an der Beute der veranstalteten Treibjagden hoffen.551

548 HÄUSLER 1999, S. 144. 549 Der Ausspruch „Da fahrn sie mit unseren 50 Prozent!“ gerann im Anblick der prachtvollen Monarchenzüge zu verschiedenen Anlässen später zu einem geflügelten Wort. Vgl, auch KERSCHBAUMER, Florian (2012): Zwischen Vergnügungs- und Friedensdiskurs. Der Wiener Kongress 1814/15 und seine Unterhaltungskultur, in: HEINLEIN, Michael/SESSLER, Katharina (Hg.): Die vergnügte Gesellschaft. Ernsthafte Perspektiven auf modernes Amusement. Bielefeld: Transcript, S. 22. 550 Ebd. 551 Ebd., S. 23.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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Eine Ansicht aus dieser Perspektive ist insbesondere durch die Tagebücher des österreichischen Beamten Matthias Franz Perth erhalten, der das Kongressgeschehen in seinen Tagebüchern minutiös dokumentierte.552 Seine Darstellungen zeichnen ein Bild der Bevölkerung Wiens, die sich den angebotenen Vergnügungen gerne hingibt, mitgerissen vom Freudentaumel eines solchen Großereignisses. Obgleich er ein durchweg begeistertes Bild zeichnet, kommen jedoch auch die o.a. Ambivalenzen zur Sprache. So schrieb er Anfang Januar 1815 an einen alten Jugendfreund: „Du kannst Dir keinen Begriff machen, wie toll es hier ungeachtet der ausserordentlichen Theurung zugeht. Alle Tanzsäle sind jeden Abend von Bockspringern voll gefüllt, die begeistert von den Reben göttlichen – oder wenn auch nicht göttlichen, doch aber gewiss nassen Safte mit ihren wilden Schönen die Reihen durchtaumeln, und mit einem fröhlichem Juhe den Musikanten ihren letzten Gulden hinwerfen, wenn sie gleich morgen am Hungertuch nagen müssen. (…) Überhaupt ist das hiesige Volk eine ganz besondere Race von Menschen. Es gibt vielleicht nirgend eines, das so sehr über Theuerung, Regierung und dergleichen schimpft als das hiesige. Du hörst des Tages hundertmal den Ausruf: Nein, jetzt ist es nicht mehr zu leben! – und doch, wenn es Abend wird, siehst du eben diejenigen, die am Tage am meisten schimpften, bey vollen Kannen in den Tavernen oder auf den Tanzsälen.“553

Auch in den Meinungen der Kongressteilnehmer zeigt sich diese ambivalente Haltung. Einige Teilnehmer wussten mit der Fülle der Festlichkeiten entsprechend der eigenen Veranlagung schlichtweg nichts anzufangen. In diesem Sinne schrieb der preußische Gesandte Wilhelm von Humboldt an seine Frau: „Diese Gesellschaften sind mir in den Tod verhaßt, man hat jetzt wichtigeres zu tun.“554 Kritische Töne wurden jedoch am gängigsten dahingehend geäußert, dass die ausufernden Festlichkeiten mehr oder weniger direkt für die erheblichen Verzögerungen verantwortlich zu machen seien. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das berühmte Zitat aus dem Gespräch des Fürsten Le Ligne mit dem Grafen La Garde bedeutsam: „Sie kommen zu rechter Zeit, um große Dinge zu sehen. Europa ist in Wien. Das Gewebe der Politik ist ganz mit Festlichkeiten durchsponnen. In Ihrem Alter liebt man die fröhlichen Zusammenkünfte, die Bälle, die Vergnügungen, und ich stehe Ihnen dafür, dass Sie nicht viel Muße haben werden; denn der Kongress schreitet nicht vor, sondern er tanzt. Es ist ein königliches Wirrwarr. (…) Die Eintracht hat endlich die Völker verbunden, die so lange feindlich waren; ihre berühmtesten Vertreter gaben 552 Editiert in PATZER, Franz (Hg.) (1981): Wiener Kongresstagebuch 1814/1815. Wie der Rechnungsbeamte Franz Perth den Wiener Kongress erlebte. Jugend und Volk: Wien, München. 553 Ebd., S. 89 554 Zit. nach KERSCHBAUMER 2012, S. 24.

160

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

das erste Beispiel dazu. Eine seltsame Sache, die man hier zum ersten Male sieht: das Vergnügen erringt den Frieden.“555

In der Tat war die Frequenz und Intensität der Feierlichkeiten – insbesondere in den ersten beiden Monaten des Kongresses – beispiellos; zahllose Bälle und Redouten, Konzerte (die Uraufführung Beethovens Op. 136 „Der glorreiche Augenblick“ kam ja bereits zur Sprache), Paraden, Jagden, Spazierfahrten und Feuerwerke reihten sich aneinander und füllten die erste Kongressphase nahezu vollständig aus.556 In deren Rahmen waren Repräsentationen von Identität in vielfältigster Art und Weise möglich – eine Möglichkeit, die Angesichts der Exklusivität des formellen Kongresssettings von den Teilnehmern auch rege genutzt wurde. Das daran anschließende geflügelte Wort des „tanzenden Kongresses“ ist sicherlich bis heute das meistzitierte Bild des Wiener Kongresses. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die – für den Wiener Kongress so charakteristisch gewordene – Deutung, den ausgeprägten Hang zu überbordenden Feierlichkeiten als Ausdruck schlichter Frivolität und Prunklust zu verstehen, durchaus naheliegend, allerdings verstellt dieses (vor-)schnelle Urteil den Blick auf die etwas tiefere Bedeutung bzw. politische Funktion dieser Feierlichkeiten. In Anbetracht der Tatsache, dass sich Europa ja in der eingangs bereits diskutierten „Umbruchphase“ befand, war den Gastgebern – allen voran dem „Regisseur“ Metternich – sicherlich sehr daran gelegen, die Pracht Wiener Hofkultur – und damit auch den Status der österreichischer Monarchie – sowohl gegenüber dem Volke als auch den gegenüber den anderen europäischen Potentaten (in ihren Augen „angemessen“) zu repräsentieren. Darüber hinaus war den Gastgebern jedoch auch bewusst, welche politische Funktion den Feierlichkeiten zukam – die schiere Menge und Intensität informeller feierlicher Zusammenkünfte führte nicht zuletzt dazu, vorhandenen Konfliktstoff abzumildern, indem es den „Spielraum der Diplomaten vergrößerte, sich hinter den Kulissen noch zu ungeklärten Fragen zu verständigen“.557 Oder um wiederum den Grafen La Garde zu zitieren: „Niemals sind ohne Zweifel wichtigere und verwickeltere Fragen inmitten so vieler Festlichkeiten verhandelt worden. Auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, auf einem Diner eine Schadloshaltung bewilligt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen, und bisweilen brachte ein Bonmot, ein glücklicher Einfall, ein

555 Zit. nach GÜNZEL 1995, S. 127. 556 DUCHHARDT 2013a, S. 63. 557 Ebd., vgl. auch HÄUSLER 1999, S. 124; nicht unerwähnt bleiben sollte im Hinblick auf das allgemeine Verhältnis von Gesellschaft und Vergnügen auch die Tatsache, dass letzterem im frühen 19. Jahrhundert tendenziell weniger negative Konnotationen anhafteten als in der späteren Moderne, siehe KERSCHBAUMER 2012, S. 25.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

161

Traktat zustande, den zahlreiche Konferenzen und geschäftiger Briefwechsel nur mit Mühe zum Abschluss hätte bringen können.“558

In diesem Sinne kam den Feierlichkeiten also - so oberflächlich sie auf den ersten Blick schienen mögen – durchaus eine zentrale Rolle in der Neuverhandlung europäischer Ordnung zu, ein Zusammenhang, den ich in der Abschlussbetrachtung dieses Kapitels nochmals aufgreifen werde.

Abbildung 11:

Einzug von Kaiser Franz I. in Wien 1814. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv.

558 LA GARDE 1912, S. 14.

162

5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Da sich die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie559 des Kongresses im Vergleich zu den anderen „Schauplätzen“ doch eher klein und gänzlich ohne öffentliche Darstellungen gestaltete, zudem die entscheidenden Verhandlungen in – wie bereits erwähnt – elitären Entscheidungsgremien geführt wurden, sind diese (vermeintlichen) „Nebenschauplätze“ für diesen Fall von eminenter Bedeutung. Insofern dürfte nun also nicht überraschen, dass die zentrale Szenerie der Identitätsrepräsentation dieses Falles – im Gegensatz zu den etwas formaleren Szenerien des letzten Falles - sich also auf einen dieser „Nebenschauplätze“ bzw. Feierlichkeiten beziehen wird. Die schiere Fülle dieser Szenerien, auf denen Identität in vielfältigster Weise repräsentiert wurde, macht eine Auswahl jedoch nicht einfach. Es seien nur einige Beispiele in gebotener Kürze zur Illustration erwähnt. So ist etwa der Einzug des siegreichen Kaisers Franz nach seiner Rückkehr aus Paris in Wien am 16. Juni 1814 ein eindrucksvolles Beispiel der Repräsentation der Glorie des „siegreichen“ Herrschers und der Akklamation seiner Person durch das Volk. Diese Szenerie wurde in der hier abgebildeten Lithographien öffentlichkeitswirksam verewigt. Eine ähnlich eindrucksvolle – und im Gegensatz zu letzterer noch stärker auf soziale Ordnung im Sinne einer Beziehung zwischen Herrschern abzielende - Repräsentation von Identität (bzw. Identitätsbeziehungen) war der Empfang der Monarchen Russlands und Preußens in Wien (25. September 1814). Kaiser Franz ritt den beiden – protokollarisch am höchsten rangierenden – Monarchen bis zur Taborbrücke entgegen, wo sie alle drei von den Pferden stiegen, einander bei den Händen nahmen und sich den Wienern als „Standbild der monarchischen Dreieinigkeit“ präsentierten.560 Dieses Szenerie war freilich im Vorfeld vom kaiserlichen Zeremonienmeister Fürst von Trauttmansdorf genauestens choreographiert worden, sie begann durch die frühe Ankündigung der Monarchen durch Kanonenschläge und beinhaltete neben dem darauf folgenden feierlichen Einzug der Monarchen in die Stadt ferner eine Parade österreichischer Truppen und Bürgerwehren – ein starkes Symbol des Zusammenhangs zwischen Monarchie und „Staatsvolk“ - und endete in der Hofburg, die als Residenz für die hochrangigen Monarchen dienen sollte. In der Hofburg wurden sie durch eine Gruppe weißgekleideter junger Frauen erwartet, die die Monarchen mit geflochtenen

559 Ebenso wie zur Eröffnung, fand auch zum Abschluss des Kongresses eine kleine Zeremonie statt. Tatsächlich war die Abschlusszeremonie die einzige wirkliche „Plenarveranstaltung“ des Kongresses, zumindest wohnten ihr alle Bevollmächtigten der Signatare des Pariser Friedens bei. Allerdings waren die Souveräne zu diesem Zeitpunkt bereits abgereist und ratifizierten die Akte erst später, vgl. LENTZ 2014, S. 335-341. Die Unterzeichnung der Akte ist somit in keinem Bildnis festgehalten worden, sie wurde offensichtlich als eine reine Formalie verstanden. 560 GÜNZEL 1995, S. 56.

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Kränzen und Gedichten empfingen – ein Symbol nicht nur der Verbundenheit der Sieger, sondern auch und besonders der Friedensordnung, die sie begründeten.561

Abbildung 12:

Empfang der verbündeten Monarchen in Wien 1814 anlässlich des Wiener Kongresses. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv.

Ein weiteres Highlight der Festlichkeiten, auf dem ebenso die Verbundenheit zwischen dem monarchischen Herrscher, Volk und Militär repräsentiert wurde, war das große Volksfest im Augarten vom 6. Oktober 1814 - eines der spektakulärsten und gleichermaßen kostspieligsten Feste. Im Zentrum des Volksfestes stand die Speisung von 400 österreichischer Kriegsveteranen, die im Kampf gegen Napoleon verwundet worden waren. Dazu wurden im Augarten eine Neptunsgrotte und

561 VICK 2014, S. 21f.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

eine Lanzenallee, sowie Nachbildungen des Brandenburger Tores und des Kanonenmonuments in Moskau errichtet. Zur Unterhaltung (neben der Invaliden auch der Wiener Bevölkerung, die jedoch im Gegensatz zu ersteren Eintritt zahlen musste) fanden eine Reihe Darbietungen statt, u.a. Pferderennen und Reitkunstdarbietungen, Akrobatik und gymnastische Übungen junger Männer, sowie – im Hinblick auf Identitätsrepräsentationen besonders interessant – Vorführungen traditioneller Volkstänze durch in Nationaltracht gekleidete Tänzer aus Böhmen, Ungarn und Tirol. Das große Bankett fand im Anschluss an die Unterhaltungsveranstaltungen statt, in dessen Rahmen die Monarchen sich volksnah gaben und mit den Veteranen ins Gespräch kamen, wobei das Massen-Diner später in gegenseitigen Toasts und „Vivat!“ Rufen der Monarchen und der Veteranen kulminierte. Ein großes Feuerwerk markierte schließlich das Ende des Volksfestes.562 In der patriotischen Symbolik des Volksfestes lässt sich - ganz im Sinne des Identitätsmodells dieser Arbeit - ein interessantes Beispiel der Repräsentation multipler und sehr spezifischer Synthesen verschiedener Identitätsnarrative erkennen. Sowohl lokale bürgerliche (in Gestalt der Bürgerwehren) als auch dynastischmonarchische Elemente werden sichtbar. Zudem ließe sich die Darbietung verschiedener folkloristischer Motive (Volkstänze und Trachten) als Repräsentation einer komplexen ethnischen Identitätskonstellation deuten, in der Tirol, Böhmen und Ungarn das große multiethnische Habsburgerreiches repräsentativ konstituieren – das monarchisch-dynastische Narrativ dabei gewissermaßen als „Klammer“ mitgedacht. Die Beziehungen zwischen den Dynastien in Europa – gleichsam die Verkörperung der „siegreichen Allianz“ - finden sich zudem in den o.a. Nachbildungen der Monumente, die gewissermaßen als eine „Panoptikum“ europäischer Friedensordnung verstanden werden kann.563 Alles in allem lassen sich also zahlreiche Szenerien identifizieren, in deren Rahmen sowohl spezifische Identitätssynthesen, als auch vielfältige Vorstellungen sozialer (bzw. „internationaler“) Ordnung repräsentiert werden. Ich werde mich im Folgenden jedoch vor allem auf eine dieser Szenen fokussieren, die im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – der Zusammenhang zwischen Identitätspraktiken und internationaler Ordnung – besonders interessant erscheint: das große Fest im Prater zum Anlass des Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig (18. Oktober 1814). In dessen Rahmen kommen alle bereits in den o.a. Illustrationen angesprochenen Aspekte gleichermaßen zum Tragen, vor allem lässt sich in diesem Fest jedoch eine besonders augenfällige und intendierte Repräsentation von Ordnung, Identität bzw. Identitätsbeziehungen sehen.

562 Ebd., S. 39f; GÜNZEL 1995, S. 134; PATZER 1918, S. 48f. 563 Vgl. VICK 2014, S. 40f für ähnliche Deutungen.

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5.2.4 Die Szene: Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig (18. Oktober 1814) Obgleich es sich bei diesem Fest um eine der größten Festivitäten des Kongresses handelte, hatte es einen erstaunlich kurzen organisatorischen Vorlauf: die Entscheidung, dieses „Große Militärische Praterfest“ abzuhalten, fiel erst zwei Wochen vor dessen Beginn.564 Eine Festivität, deren Mittelpunkt die Ehrung der an der Schlacht beteiligten Soldaten war, hatte Feldmarschall Fürst Schwarzenberg besonders am Herzen gelegen, allerdings war ein solches Format bei Metternich nicht auf große Begeisterung gestoßen. „Keine Soldaten mehr!“ soll Metternich – dem eher ein nicht-militärisches Friedensfest vorschwebte - betont haben.565 Am 15. Oktober meldete Schwarzenberg indes seiner Frau, dass der Kaiser seinen Vorschlag gebilligt habe und er nun im „rasenden Gewühle“ der Vorbereitungen stecke.566 Über die Gründe, die dieser zögerlichen Entscheidung des Kaisers zugrunde lagen, kann heute nur noch spekuliert werden. Denkbar wäre etwa, dass Schwarzenberg den Kaiser erfolgreich überzeugen konnte, dass eine Ehrung der Soldaten – den „wahren“ Helden des Sieges über Napoleon – angebracht und für den Kampfgeist und die Loyalität seiner Truppen wichtig war. Andererseits läge jedoch auch die Deutung nahe, dass der Kaiser die zahlreichen in Deutschland – teils mit patriotischnationalistischem Anklang – stattfindenden Feierlichkeiten mit monarchisch-militärischem Glanz zu überschatten gedachte. Die Werke zum Kongress, die dieses Ereignis explizit behandeln,567 argumentieren jedoch meist, dass die sich bereits in den frühen Phasen des Kongresses abzeichnenden Spannungen mit Russland über die Polen- und Sachsen-Frage den Kaiser dazu bewogen haben, insbesondere Zar Alexander eine beeindruckende Darbietung seiner Truppen und somit österreichischer militärischer Stärke zu präsentieren.568 Letztlich war das Fest tatsächlich all diesen Zwecken dienlich. So ist etwa in einer (patriotisch-nationalistisch gesinnten) Sammlung aller deutschen Feierlichkeiten zum Jahrestag 1814 die Beschreibung des Praterfestes die einzige österreichische Feierlichkeit, die behandelt wird - zudem stellt sie auch die längste und detailreichste der Beschreibungen dar, die überdies auch an Begeisterung kaum zu überbieten ist: 564 Ebd., S. 31. 565 KING, David (2014): Wien 1814. Von Kaisern, Königen und dem Kongress, der Europa neu erfand. München: Pieper, S. 141. 566 NOVÁK, Johann Friedrich (Hg.) (1913): Briefe des Feldmarschalls Fürsten Schwarzenberg an seine Frau 1799– 1816. Wien: Gerlach & Wiedling, S. 408 (Brief vom 15. Oktober 1814). 567 Eine eingehende Behandlung dieses Ereignisses und seiner symbolischen Bedeutung stellt tatsächlich eher die Ausnahme dar, die meisten Werke zum Kongress behandeln es vergleichsweise kurz und/oder oberflächlich; beachtenswerte Ausnahmen sind jedoch VICK 2014, KING 2014, sowie GÜNZEL 1995. 568 KING 2014, S. 142; VICK 2014, S. 33.

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„Zwei verschiedene Felder sind wohl nie dem Heiligen eines Tages gemalt worden. Dort ein blutiges leichenbedecktes Schlachtfeld, wo aus tausend Schlünden Todesengel durch die Reihen wüthen (…); hier ein Garten Gottes im blühenden Segen, tausend und aber tausend fröhliche jubelnde Menschen, mitten unter ihnen die hohen Häupter Europas und die Abgesandten aller Völker, und, nach langen stürmischen Nächten, ein großer heiliger Friedensmorgen“ 569

Auch bei den ausländischen Beobachtern - insbesondere bei dem primären Adressat Zar Alexander - scheint das Fest und die pompöse Darstellung militärischer Stärke seine intendierte Wirkung nicht verfehlt zu haben. Der als Berater im Dienste des Zaren stehende Freiherr vom Stein notierte in seinem Tagebuch entsprechend, dass der Zar laut des Augenzeugen Kronprinz Wilhelm von Württemberg von dem Spektakel keineswegs nur begeistert war, auch wenn dies seine eigene Rolle in der ganzen Darbietung - darauf wird noch einzugehen sein - nahelegen könnte. Im Eintrag seines Kongresstagebuchs zum 18. Oktober schreibt er: „Der Kronprinz von Württemberg, der den Kaiser beobachtete, glaubte, er sei von diesem allen auf eine unangenehme Art berührt worden; er habe in der Haltung der Truppen, in der lebendigen Teilnahme der Zuschauer, in dem Überfluß, der sich im Ganzen gezeigt, etwas, was seine Meinung von der Schwäche Österreichs wiederlegt, gefunden und was ihn in seinen Ideen von Unwiderstehlichkeit gestört.“570

Aber auch das Ziel der Stärkung des Kampfgeistes und der Loyalität der Truppen, sowie nicht zuletzt auch die Darstellung der Verbundenheit zwischen Truppen, Souverän und Volk, dürfte durch das Fest erzielt worden sein. Das Fest erfüllte also – entsprechend der Terminologie dieser Arbeit - wichtige Funktionen in der Konstituierung von Identitäten und sozialer Ordnung, sowohl bezüglich den Beziehungen zwischen den Monarchen bzw. zwischen den „Völkern Europas“, als auch zwischen den jeweiligen Monarchen, ihrem Militär und der Bevölkerung, die alle gleichermaßen Adressaten dieser Inszenierung waren. Doch schauen wir uns den Ablauf der Szene etwas genauer an. Neben den Aufzeichnungen im Tagebuch Perths sowie der bereits oben zitierten Sammlung

569 HOFFMANN, Karl (1815): Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel, oder Beschreibung wie das aus zwanzigjähriger französischer Sklaverei durch Fürsten-Eintracht und Volkskraft gerettete Teutsche Volk die Tage der entscheidenden Völker- und Rettungsschlacht bei Leipzig am 18. und 19. Oktober 1814 zum ersten Male gefeiert hat. Offenbach: Selbstverl., S. 674. 570 HUBATSCH Walther (Hg.) (1964): Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften (neu bearb. von Manfred Botzenhart). Stuttgart: Kohlhammer, Bd. 5, S. 324.

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von Jahrestag-Festivitäten571 liefern auch einige Zeitungen dieser Zeit572 sehr detaillierte Beschreibungen des Ablaufs. Demnach wurde bereits am 17. Oktober die insgesamt etwa 14.000 Mann starke diensthabende Militärbesatzung durch diverse Wiener Bürgerregimenter abgelöst, damit sie der Feierlichkeit beiwohnen konnte.573 An diesem Tag war den Garnisonen die Anordnung erteilt worden, sich am Morgen des 18. Oktobers, nach verschiedenen Garnisonen geordnet, in einem doppelten Karee auf einer Wiese neben dem sog. Circus gymnasticus – einem bis 1852 bestehenden Zirkusgebäude im Prater – aufzustellen.574 Dessen innere Reihen belegten die Grenadiere, die mittleren die Feld-, und die äußere die Kavallerieregimenter. Die Flanken waren von den übrigen Korps zu belegen.575 In deren Mitte war auf erhöhtem Boden ein großes Kapellenzelt errichtet worden, in dem nach der Ankunft der Monarchen ein Gottesdienst zur Ehren des „allgemeinen Friedens“, sowie der in der Schlacht Gefallenen abgehalten werden sollte. Die Pfeiler dieses Zeltes waren mit erbeuteten Waffen und Standarten– gewissermaßen als Trophäen – geschmückt, rings um das Zelt war der Boden mit Blumen verziert. Im Inneren des Zeltes befand sich ein mit goldenen und silbernen liturgischen Gegenständen sowie Kerzen reich verzierter Altar, Teppiche aus rotem Damast bedeckten seine Stufen.576 Das am südöstlichen Ende der Prater Hauptallee gelegene Lusthaus – ein achteckiges, mit zwei von Säulen getragenen Galerien - war für das Fest mit imperialen Habsburger Fahnen und Standarten, sowie erbeuteten als auch historischen Waffen und Rüstungen aus dem Zeughaus ausgeschmückt worden.577 Über dem Haupteingang des Lusthauses prangte die Inschrift „Fuit Decima Octava Octobris“ („Es war der 18. Oktober“).578 Der Platz um das Lusthaus war mit hohen, auf vier Kanonen ruhenden Pyramiden dekoriert, auf deren Spitzen erbeutete französische Fahnen platziert wurden.579 Unweit des Lusthauses hatte man das Pratergelände mit der Simmeringer Haide durch Pontonbrücken verbunden, die ebenfalls mit erbeuteten Waffen und Habsburger Insignien geschmückt waren. Auf diesem Gelände waren die zahlreichen Tische für das Festmahl zu Ehren der Soldaten 571 PATZER 1981; HOFFMANN 1815. 572 Wiener Zeitung, Nr. 292, 19. Oktober 1814; Vossische Zeitung, Nr. 127, 22. Oktober 1814; Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814; Friedensblätter. Eine Zeitschrift für Leben, Literatur und Kunst, Nr. 50, 25. Oktober 1814 sowie Nr. 51, 27. Oktober 1814. 573 PATZER 1981, S. 56. 574 Wiener Zeitung, Nr. 292, 19. Oktober 1814, S. 1163. 575 Friedensblätter, Nr. 50, 25. Oktober 1814 , S. 206. 576 LA GARDE 1912, S. 53. 577 VICK 2014, S. 33. 578 Friedensblätter, Nr. 50, 25. Oktober 1814 , S. 205; in der obigen Abbildung von Balthasar Wigand: Das Militärfest im Prater am 18. Oktober 1814, in: VICK 2014, S. 32. 579 Ebd.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

aufgebaut. Diese schlossen sternförmig in einem Halbkreis an eine sog. „Siegespyramide“ an, eine aus erbeuteten französischen Gewehren und Fahnen geformte Pyramide, an deren Spitze wiederum die Habsburger, sowie an den Flanken die Farben der alliierten Monarchen wehte.580

Abbildung 13:

Dekoriertes Wiener Lusthaus am 18. Oktober 1814. Radierung von Heinrich Friedrich Müller. Quelle: Wikicommons.

Der offizielle Beginn der Festivität wurde an diesem 18. Oktober durch den Ausritt der Monarchen und ihrer Entourage aus der Hofburg markiert. Um 11 Uhr vormittags wurde dieses Ereignis durch Kanonenschläge von den Wallanlagen der Stadt angekündigt. Die beiden Kaiser sowie (in dieser Reihenfolge) die Könige von Preußen und Dänemark, die Erzherzöge u nd anderen Fürsten, gefolgt von hochrangigen Generalen und Offizieren, Generalmarschall Fürst Schwarzenberg, Lord Castlereagh sowie weitere illustren Gäste zogen in einem prachvollen Zug – „an dem man sich nicht satt“ sehen konnte581 - in offenen Wagen in Richtung Prater. Dem Zug folgten Abteilungen der ungarischen und böhmischen Garde, sowie daran anschließend die Wagen der Kaiserinnen von Russland und Österreich, die Königin von Bayern, die Großfürstinnen Maria und Catharina, sowie weiteres

580 Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814, S. 779. 581 Friedensblätter, Nr. 50, 25. Oktober 1814 , S. 206.

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Gefolge.582 Bemerkenswert an der Erscheinung der Monarchen war jedoch nicht (nur) die enorme Prachtentfaltung, die der Zug an sich darstellte, sondern nicht zuletzt auch die durch ihre Kleidung vermittelte, symbolische Bekundung der Verbundenheit zwischen ihnen - Zar Alexander und der Großfürst Konstantin erschienen in der Uniform der von ihnen geführten österreichischen Regimenter, ein starkes Bild, das die „Waffenbruderschaft“ der Allierten gleichsam symbolisch unterstrich.583 Die Ankunft des Zuges im Prater wurde indes durch 100 Kanonenschüsse der entlang der Prater Hauptallee aufgestellten Artillerie untermalt, die damit gleichzeitig das Zeichen zum Anfang des Te Deums gab. Sodann empfang der Erzbischof von Wien – Sigismund Anton von Hohenwarth - die Souveräne und ihr Gefolge im Kapellenzelt zum gemeinsamen Gottesdienst zu Ehren der Gefallenen und zum Gotteslob für den errungenen Sieg. Auch in der Gestaltung der Messe ist die Darstellung der Verbundenheit der Souveräne sichtbar: dem Erzbischof assistierten ein protestantischer sowie ein russisch-orthodoxer Geistlicher, ein Umstand durch den dieser Gottesdienst als der erste ökumenische Gottestdienst der Geschichte in Erinnerung geblieben ist.584 Nach betretenem Schweigen im und um das Kapellenzelt wurde der Moment der Konsekration durch erneute Kanonenschläge und Artilleriesalven begleitet, woraufhin der Höhepunkt des Gottesdienstes erreicht war. Als die Messe abgeschlossen war und die Souveräne sich von ihrer Andacht erhoben hatten, beeindruckte der Zar – so in der ausführlichen Beschreibung der Messe in der Kompilation der diversen Feierlichkeiten ausdrücklich erwähnt585 - mit einer großen Geste: er ging auf den Generalfeldmarschall Schwarzenberg zu und umarmte ihn – eine für einen Souveränen völlig untypische Handlung, die wohl als Ausdruck der Verbundenheit mit der Truppe sowie dem Allianzpartner intendiert war. In der Tat scheint diese Szene für die Augenzeugen einen sehr beeindruckenden, mithin ergreifenden Eindruck gemacht zu haben. Der Graf de la Garde beschreibt die Atmosphäre in seinem Tagebuch etwas detaillierter: „Im Augenblick der Konsekration begrüßte eine Artilleriesalve die Gegenwart des Gottes der Schlachten. Und zur gleichen Zeit fielen wie auf einen Wink all diese 582 Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814, S. 778; sowie HOFFMANN 1815, S. 671. 583 Franz I. hatte Zar Alexander zum Befehlshaber über das österreichische Infanterieregiments Hiller (später zu seinen Ehren „Infanterieregiment Kaiser Alexander“) ernannt. Friedrich Wilhelm von Preußen und der Kronprinz von Württemberg erhielten die Befehlsgewalt über je ein Husarenregiment; PATZER 1981, S. 61; LENTZ 2014, S. 390 (Anm. 19). Das von Großfürst Konstantin geführte Kürassier-Regiment war jedoch bereits im Kontext der napoleonischen Kriege unter seine Befehlsgewalt gestellt worden. 584 GÜNZEL 1995, S. 138f. 585 HOFFMANN 1815, S. 671f.

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Krieger, Prinzen, Könige, Generale, Soldaten, aufs Knie und beugten sich vor dem, der in seiner Hand den Sieg oder die Niederlage hält. Ein gleiches Gefühl schien sich der zuschauenden Menge mitzuteilen, alle entblößten freiwillig ihr Haupt und knieten im Staube. Die Kanonen sind still, dem mächtigen Donner des Erzes folgt frommes Schweigen. Endlich erhebt der Priester des Herrn das Zeichen der Erlösung und wendet sich gegen die Armee zum allgemeinen Segen. Der Gottesdienst ist beendet: die gebeugten Gestalten richten sich wieder auf und das Geräusch der Waffen erfüllt wieder die Luft. Da stimmt ein Chor aus Sängern in deutscher Sprache die Friedenshymne an, die ein zahlreiches Orchester von Blasinstrumenten begleitet: die Armee und der ganze Haufen der Umstehenden stimmt mit ein in den Gesang. Nein, niemals hat das menschliche Ohr etwas Ergreifenderes gehört, als diese Tausende von Stimmen, die sich vereinigten, um die Wohltat des Friedens und den Ruhm des Allmächtigen zu preisen.“586

Die Gattin des Genfer Gesandten Eynard charakterisiert den Eindruck der knienden Soldaten und der Zuschauermenge in ihrem Tagebuch in diesem Sinne als „unbeschreiblich“, der Goethe Vertraute Carl Heun charakterisierte diesen Moment indes als „wahrhaft göttlich“ und als einer der „gesegnetesten Momente“ seines Lebens.587 Auch in späteren Repräsentationen dieses Ereignisses kommen diese monumentale Dramaturgie sowie die entsprechenden religiösen Motive zum Tragen. In einem dieser Szenerie gewidmeten „Tongemälde“ bzw. Musikstück von Anton Diabelli wird in einem „Andante religioso“ eben dieses Bildes der knienden Monarchen und Soldaten aufgegriffen und dabei gleichermaßen der Kontrast zwischen „frommen Schweigen“ und feierlichen Kanonenschüssen musikalisch umgesetzt. Eine weitere Huldigungs-Komposition von Adalbert Gyrowetz portraitiert die „tiefe Emotion“ der Zuschauer ebenfalls in einem markanten Andante.588 Nach dem Gottesdienst zogen die Monarchen und ihre Entourage in Richtung des Lusthauses und ließen die Truppenregimenter auf einem Platz unweit des Lusthauses an sich vorbei defilieren. Obgleich dies natürlich in erster Linie als eine Repräsentation österreichischer Truppenstärke gedacht war, ergriff Zar Alexander – dem diese Intention, wie bereits erwähnt, sicher bewusst gewesen sein 586 LA GARDE 1912, S. 54f. 587 CLAUREN, Heinrich (1815): Kurze Bemerkungen auf langen Berufswegen, während dem Aufenthalt der Alliierten Truppen in Frankreich 1814; sowie EYNARD, Anna (1959): Tagebuch. BGE suppl. 27, Eintrag vom 19. Oktober, zit. nach VICK 2014, S. 34. 588 DIABELLI, Anton (1814): Der 18.te October, oder: Das grosse militarische Prater-Fest in Wien, gefeyert bey Anwesenheit der hohen und höchsten Monarchen, zum Andenken an die unvergessliche Völker-Schlacht bey Leipzig. Ein Tongemählde für das Pianoforte. Wien: Steiner, S. 10; GYROWETZ, Adalbert (1814): Sieges- und Friedensfest der verbündeten Monarchen, gefeyert im Prater und dessen Umgebungen am 18ten October 1814, am Jahrstage der Völkerschlacht bey Leipzig, eine charakteristische Fantasie für das Pianoforte. Vienna: Thaddäus Weigl, S. 6; beide zit. nach VICK 2014, S. 34 (Anm. 33).

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dürfte - die Gelegenheit, um seinerseits „politisch zu punkten“.589 Um die Verbundenheit mit der Truppe sowie mit dem Verbündeten zu signalisieren, ließ er es sich nicht nehmen – in der entsprechenden Uniform - „sein“ Truppenregiment auch persönlich im Defilee zu führen. Sobald der Truppenverband zu Kaiser Franz aufgeschlossen hatte, zog der Zar ihm mit gezogenem Degen entgegen und führte die Truppen vor den Kaiser. In einer klaren Geste der Unterwerfung senkte er den Degen und bat den Kaiser dreimal salutierend, den Degen „versorgen“ zu dürfen, woraufhin der Kaiser ihn - höchst öffentlichkeitswirksam und ebenso ungewöhnlich für Monarchenbegegnungen – unter dem Jubel der Zuschauer umarmte.590Auch sein Bruder Großfürst Konstantin hatte „sein“ Kürassier-Regiment selbst geführt, die Geste des Zaren war jedoch dramaturgisch natürlich aufgrund seines Ranges und der Unterwürfigkeit der Geste ungleich bedeutsamer. Als die Truppen defiliert hatten, begaben sich die Monarchen und Fürsten in das Lusthaus, an dem sich die defilierenden Truppen aufteilten. Die Kavallerie und die Infanterie marschierten über die Pontonbrücken in Richtung der gegenüberliegenden Simmeringer Haide, wo die Tische für ihr Mittagsmahl aufgestellt waren. Fünf Grenadierbataillons waren indes für den Verbleib am Lusthaus bestimmt. Währenddessen erschienen die Monarchen und deren hohen Gäste auf dem Balkon des Lusthauses, wo sie von der jubelnden Menge empfangen wurden.591 Die Sitzordnung des großen gemeinsamen Mahles spiegelt dabei in interessanter Weise bestehende soziale Ordnung in der Gesellschaft als Ganzes sowie gleichermaßen die Hierarchien innerhalb des Militärs wider: die Monarchen, Fürsten und die hochrangigsten Gäste – unter ihnen auch Feldmarschall Fürst Schwarzenberg - speisten im Saal des oberen Stockwerks des Lusthauses. Im ebenerdigen ersten Stock waren die Erzherzoge, Prinzen und andere höherrangige Gäste platziert worden. Für die Generalität waren Tafeln unter der das Lusthaus umgebenden Galerie, für die Offiziere Tafeln rings um das Lusthaus herum gedeckt.592 Die Tische für die Soldaten waren – wie bereits erwähnt – sternförmig den „Siegespyramiden“ zulaufend auf der Simmeringer Haide aufgestellt. Im Grunde war also die gesamte Festgesellschaft für das Festmahl in konzentrischen „Sphären“ mit den Monarchen als deren „Gravitationszentrum“ aufgestellt.593 589 VICK 2014, S. 35. 590 HOFFMANN 1815, S. 672; Friedensblätter, Nr. 50, 25. Oktober 1814 , S. 206; Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814, S. 778. 591 PATZER 1981, S. 57f. 592 HOFFMANN 1815, S. 675. 593 Das Mahl scheint im Vergleich zur sonst üblichen – recht kärglichen - Soldatenverpflegung außerordentlich opulent gewesen zu sein. Jeder Mann erhielt vom Feldwebel und Wachtmeister abwärts eine Suppe mit Knödeln, ein Pfund Rindfleisch mit Sauce, 3/4 Pfund Braten, drei Krapfen, drei Semmeln und 1/2 Maß Wein. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war für die übliche Soldatenverpflegung ausschließlich eine Mahlzeit am Tag vorgesehen, bestehend aus ca. 1/3

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Diese sehr klare Aufteilung bot jedoch ihrerseits Möglichkeiten der symbolischen Transgression. Der Großfürst Konstantin schlug etwa das Angebot des Kaisers aus, an seinem Tisch im Kreise der erlauchtesten Gesellschaft im Lusthause Platz zu nehmen und speiste stattdessen im Freien an der Seite der Offiziere „seines“ Regiments594 – auch dies eine Geste der betonten Kameradschaftlichkeit und Nähe zur Truppe. Auch in diesem Geiste sprach Kaiser Franz während des Mittagsmahls vier „Gesundheiten“ aus, die wiederum von Artilleriesalven und VivatRufen der Zuschauermenge begleitet worden:

Abbildung 14:

Das Festmahl der Grenadiere beim Lusthause. Radierung von Friedrich Philipp Reinhold. Quelle: MAK - Österreichisches Museum für angewandte Kunst.

Liter Suppe, in die Brot geschnitten war, 1/3 Pfund Rindfleisch, sowie etwa 1/2 Pfund Gemüse; siehe PATZER 1981, S. 58 (Anm. 182). 594 PATZER 1981, S. 59; HOFFMANN 1815, S. 675; Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814, S. 780.

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„Auf die Gesundheit meiner hier anwesenden hohen Gäste und Freunde! Dank meiner braven Armee und ihren Anführern! Der 18. Oktober! Möge die Erinnerung an diesen glorreichen Tag, in einem dauerhaften Frieden, auf die späte Nachwelt übergehen!“595

Abbildung 15:

Fest im Prater zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1814. Lithographie von Johann Nepomuk Hoechle. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv.

Nach aufgehobener Tafel zeigte sich die erlauchte Tafelgesellschaft des Lusthauses erneut auf dem Balkon, wobei auch hier der Zar – den günstigen Moment ergreifend – erneut einen Toast auf die Gesundheit des Volkes aussprach. Auch diese Geste des Zaren scheint die Zuschauer besonders beeindruckt zu haben, so schreibt Perth in seinem Tagebuch: „wie sollte ich fähig seyn, die Freude und das anhaltende Vivatrufen zu beschreiben, als Kaiser Alexander ein Glas erhob, und

595 Wiener Zeitung, Nr. 292, 19. Oktober 1814, S. 1164; Friedensblätter Nr. 51, 27. Oktober 1814, S. 110; PATZER 1981, S. 58.

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die Gesundheit des ganzen Volkes trank? Ein schöner Augenblick, mir ewig unvergeßlich“.596 Anschließend begab sich die Festgesellschaft der Monarchen zu Pferde – die Damen darauf folgend in offenen Wagen – über die errichteten Pontonbrücken in Richtung der Simmeringer Haide, wo sie mit weiteren „Trinkgesundheiten“ und Vivatrufen empfangen wurden.597 Nach dieser „großen Runde“ durch die Festgesellschaft kehrte der Zug unter erneuten Kanonenschüssen zum Lusthaus sowie daran anschließend in die Stadt bzw. in die Hofburg zurück.598 Auf der Simmeringer Haide wurde das rauschende Volksfest noch bis spät in die Nacht weitergefeiert. Die hochrangige Gesellschaft begab sich an dem Abend indes noch zu einem Ball bzw. „Fest des Friedens“ in Metternichs Sommerpalais am Rennwege – zu dem im Gegensatz zum großen Praterfest interessanterweise auch die französische Delegation geladen war.599 5.2.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung Bliebe schließlich noch die Frage zu klären, welche Schlussfolgerungen die „dichten Beschreibungen“ der Szene des Jahrestages der Völkerschlacht bezüglich der Konstitution sozialer (internationaler) Ordnung ermöglichen. Tatsächlich erscheint mir diese Szene außerordentlich reich an Beispielen für die Repräsentation bzw. Synthese spezifischer Identitätsnarrative, die in Zusammenhang mit recht komplexen sozialen Ordnungsvorstellungen stehen und dabei gleichermaßen eine starke Emotionalität implizieren. Das augenfälligste Identitätsnarrativ, das im Fest repräsentiert wurde ist sicherlich das „Siegernarrativ“, das auf alle Monarchen der Quadrupelallianz gleichermaßen bezogen war. Dieses Narrativ fand sowohl in dem entsprechenden Auftreten der alliierten Monarchen – wie eigentlich in der gesamten Choreographie des Spektakels – als auch in den Artefakten der Dekorationen seinen Ausdruck,

596 PATZER 2014, S. 59. Die Szene soll zudem auch in einem Kupferstich festgehalten worden sein; VICK 2014, S. 35. 597 Auf dem obigen Bild ist zu sehen, wie Franz I. nach dem Mittagmahl in Begleitung der Souveräne durch das Garnisonslager reitet; links im Hintergrund die Tischreihen für die Soldaten und Blick auf die Stadt Wien und Leopolds- und Kahlenberg; rechts hinten das dekorierte Lusthaus mit davor aufgerichteter Pontonbrücke. 598 Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814, S. 780; Wiener Zeitung, Nr. 292, 19. Oktober 1814, S. 1164. 599 Die ebenso prachtvoll inszenierten Feierlichkeiten dieses Balls werde ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen, eine ausführliche Beschreibung findet sich jedoch im Tagebuch des Genfer Gesandten Eynard; SOLL, Karl (Hg.) (1923): Der tanzende Kongress. Tagebuch Jean Gabriel Eynards. Berlin: Hafen-Verlag, S. 48-52.

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den sog. „Siegespyramiden“ wie auch weiteren Dekorationen aus erbeuteten französischen Waffen und Fahnen. Das Siegernarrativ wurde nicht zuletzt auch durch den Umstand unterstrichen, dass die französische Delegation (die man zu einem „Friedensfest“ ja theoretisch hätte integrieren können) nicht anwesend war. Zudem lassen sich jedoch auch Synthesen dieses Narrativs mit weiteren – etwas personenspezifischeren – Narrativen erkennen, so insbesondere der sich außerordentlich volks- und truppennah gebende Zar sowie dessen Bruder Großfürst Konstantin. Die von ihnen dargebotene Geste der Führung der eigenen Truppen sowie das Speisen an den Tischen der Offiziere waren eindeutig darauf ausgerichtet, eben genau diese Nähe zum Volke und zur Truppe für das Publikum des Festes zu inszenieren. Diese Gesten „erzählen“ die Geschichte eines siegreichen Kaisers, der sich im Dienste „seiner“ Truppen und letztlich im Dienste des Volkes sieht. Auch des Zaren demonstrativ unterwürfige Geste im Rahmen der Truppenparade verbindet das Narrativ des „starken Siegers“ gleichzeitig mit dem der Bündnisloyalität und der Unterwerfung unter die Befehlsgewalt des älteren Monarchen Kaiser Franz I. Diese Identitätskonstellation auf genau diese Weise zu repräsentieren hatte für den Zaren eine eminent politische Bedeutung - in Zeiten, in denen seine anfängliche Popularität in der Wiener Öffentlichkeit im Zuge der wachsenden Spannungen über die Sachsen- und Polen-Frage zunehmend schwand, waren sie sicher auch als „Charmeoffensive“ gedacht.600 Allerdings sollte dies nicht nur als rein oberflächliche „PR-Maßnahme“ verstanden werden. Im Sinne des Identitätsmodells dieser Arbeit ließe sich diese „performance“ v.a. als Versuch deuten, mit dieser Identitätsdarstellung gezielt Gefühle der Verbundenheit herzustellen, sowohl auf Seiten der Zuschauermenge, als auch auf Seiten des Bündnispartners. Kaiser Franz als Gastgeber blieb im Anschluss auf diese „entwaffnenden“ Gesten gar keine Alternative, als diese zu erwidern und die positive emotionale Untermalung durch eine Umarmung sogar noch zu steigern und so die Identitätsbeziehungen zwischen den Monarchen bzw. die Solidität der Allianz performativ zu untermauern. Dass sich der Zar im Hinblick auf die bevorstehenden – und im Lichte der sich bereits ankündigenden Spannungen: schwierigen – Verhandlungen aus diesen Emotionen neben einem allgemeinen öffentlichen Imagezugewinn sicherlich auch wichtiges politisches bzw. „diplomatisches Kapital“ für die Verhandlungen erhoffte, dürfte also keine völlig abwegige Interpretation sein. Die Wirkmächtigkeit dieser performances basiert dabei auf spezifischen Synthesen von Identitätsnarrativen, die die Erzeugung starker Emotionen implizieren: dass sich Kaiser Franz und der russische Zar als hochrangige - zudem noch im Kriege siegreiche - Monarchen zu solchen Gesten „herabließen“, imponierte v.a. 600 Ebenso argumentiert VICK 2014, S. 35.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

deshalb so stark, weil sie inszenierte Schwäche (der unterwürfige Zar, der vor dem Kaiser den Degen zieht bzw. der „umarmende Kaiser“) bei einer impliziten „storyline“ eines siegreichen Monarchen und somit der Stärke beinhalteten. Die wiederum in dieser Identitätssynthese impliziten Vorstellungen menschlicher „Größe“ waren dabei funktional in der Herstellung des Gefühls von Verbundenheit und öffentlicher Popularität. Bei aller repräsentierter Verbundenheit sollte jedoch ebenso wenig außer Acht gelassen werden, dass die gesamte Choreographie der Veranstaltung von Seiten des Gastgebers auch (wenn nicht sogar in erster Linie) dazu gedacht war, gerade dem Zaren auch die militärische Stärke Österreichs vor Augen zu führen und damit gewisse Gefühle der Ehrfurcht und des Respekts zu evozieren – eine Intention die (wie bereits erwähnt) ihre Wirkung beim Zaren offensichtlich nicht verfehlte. Die emotionale Dimension des Identitätsmodells kommt also in den performativ synthetisierten – und zum Teil höchst unterschiedlichen bzw. widersprüchlichen - Identitätsnarrativen zum Tragen und ist bei der Erzeugung der Wirkmächtigkeit dieser Repräsentationen wesentlich. Etwas allgemeiner betrachtet ließe sich im Grunde das gesamte Setting der Veranstaltung als performative Synthese unterschiedlicher Narrative deuten. Vor allem die Synthese von Religion, Monarchie, Militär und Bürgerschaft als gesellschaftsbegründende Identitätselemente sticht als Motiv des Praterfests als Ganzes heraus.601 In der Zeremonie des Gottesdiensts wird diese Synthese besonders deutlich. Die Souveräne vereinen sich in dieser Zeremonie sowohl mit den Truppen und den Wiener Bürgern in einem Demutsritual – sie knien vor dem Altar und vereinen sich in „frommen Schweigen“ – zum Dank Gottes für den errungenen Frieden. In dieser Geste wird die Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten symbolisch aufgelöst, sie verkörpert gewissermaßen die christliche Symbolik der Gleichheit der Menschen vor Gott. In erster Linie repräsentiert diese Zeremonie jedoch den Gleichklang zwischen Religion, Monarchie, Militär und Nation, mehr noch, ihr wechselseitig konstitutives Verhältnis. Das Narrativ des Christentums als religiöses Fundament der monarchischen Dynastie, die wiederum mit ihren Truppen und dem Volk eine „Nation“ bildet, findet hier seine intendierte Repräsentation. Auch in der opulenten Speisung der Truppen ist diese Synthese deutlich. Die Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten wird in diesem gemeinsamen Mahl symbolisch aufgehoben, was zudem noch durch die betonten Gesten der Nähe, etwa Großfürst Konstantins Bestehen auf einem Mahl im Kreise „seiner“ Truppen, unterstrichen wird. Diese „innovative“ Organisation bzw. ungewöhnliche Darstellung der monarchischen Volksnähe – die sich als Motiv durch die gesamten Feierlichkeiten des Kongresses zieht - stieß dabei jedoch nicht durchgängig auf positive Resonanz, was etwa an einem Zitat Talleyrands deutlich wird: 601 Vgl. VICK 2014, S. 31.

5.2 „Europa steht!“: Der Wiener Kongress (1814-1815)

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„Ich liebe das nicht, darin liegt ein Mangel an Würde, der durchaus zu tadeln ist. Die Monarchen wissen nicht, dass sie sich selber schaden, indem sie sich zu oft zeigen. Wenn ich mich mit all diesen Königen im Frack im selben Salon befinde, fühle ich mich nicht wohl, ich fürchte immer, einen von ihnen anzustoßen. Ich fühle mich nicht an meinem Platze, und sie sollten stets empfinden, dass sie nicht an dem ihrigen sind. Alle diese Könige als schlichte Privatleute zerstören den Nimbus der Souveränität: Man hat sie schon so sehr herabgewürdigt!“602

Bei aller repräsentierten Nähe sollte jedoch auch an dieser Stelle betont werden, dass in dem Arrangement der Tische der Festgesellschaft des Praterfestes – in rangabhängigen konzentrischen Sphären mit dem Monarchen in der Mitte – die traditionelle Stratifizierung der Gesellschaft gleichermaßen deutlich wird. Es handelt sich also eher um eine Repräsentation von „organisierter“ Ferne bzw. Nähe. Diese Repräsentationen hatten ebenfalls eine eminent politische Bedeutung. Wie bereits erwähnt (siehe Kapitel 5.2.1) hatte es zu Anfang des 19. Jahrhundert grundlegende Transformationen in zentralen Konzepten politischer Ordnungsbildung, Öffentlichkeit sowie im Charakter des Militärs („Nationalisierung“) gegeben. In diesem Kontext erfüllten diese Repräsentationen die Funktion, spezifische Vorstellungen politischer Ordnung zu konstituieren, in dem verschiedene Narrative synthetisiert werden – die Sakralität einer durch Dynastie, Volk und Militär getragenen „Nation“. Diese performative Konstitution dieser sozialen Ordnung war also im Lichte erstarkender bürgerlicher Öffentlichkeit eine Quelle von Legitimität, da sie es vermochte, verschiedene in den kulturellen Umbrüchen des frühen 19. Jahrhunderts koexistierende Narrative zu synthetisieren und somit (potentiell konfliktive) politische Vorstellungen zu harmonisieren. Die emotionale Färbung dieser Repräsentationen – Verbundenheit, Loyalität, Patriotismus – spielt auch für diese Wirkung eine fundamentale Bedeutung. Soziale Ordnung wurde durch die performances des Praterfestes jedoch nicht nur auf innergesellschaftlicher, sondern auch auf der internationalen - bzw. präziser: europäischen - Ebene konstituiert. Zu einen war eine ähnliche Nähe/FerneKonstellation bereits in der geschilderten Demonstration der militärischen Stärke Österreichs gegenüber den Bündnispartnern bei gleichzeitiger Repräsentation der Verbundenheit der Alliierten implizit. Zum anderen wurde die Verbundenheit der Alliierten jedoch auch im Setting des Gottesdienstes repräsentiert. Der ökumenische Charakter des Gottesdienstes - katholisch, protestantisch und orthodox - verkörpert die Vorstellung der Gleichheit der Monarchen der Quadrupelallianz vor „einem Gott“, unabhängig von Rang, Konfession oder Herkunft. Auch diese Motive evozieren starke Emotionen, wie in den Berichten über die Ergriffenheit der Zuschauer deutlich wird. Vor allem trugen diese Repräsentationen jedoch zur Konstitution der Sakralität der – später auch wörtlich „heiligen“ – Allianz bei. 602 Zit. nach GÜNZEL 1995, S. 134.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Dabei ist zentral, dass die Adressaten all dieser Repräsentationen sich nicht nur auf die (zweifellos bedeutendsten) unmittelbar anwesenden Monarchen oder die Wiener Öffentlichkeit bezogen. Die in Wien anwesenden – wie bereits erwähnt in die Hunderte gehenden - Gesandtschaften trugen die Eindrücke dieser Darbietungen nach ganz Europa.603 Die Demonstration der militärischen Stärke Österreichs bei gleichzeitiger Betonung der Verbundenheit und Solidität der („heiligen“) Allianz richtete sich also nicht nur auf das hiesige Publikum, sondern trug diese Bilder vielschichtiger Identität(en) weit über den unmittelbaren Wiener Kontext hinaus in verschiedenste Regionen Europas. Auch die o.a. Repräsentationen „innergesellschaftlicher“ Ordnung des Gleichklangs zwischen Dynastie, Militär und Nation waren in diesem Sinne nicht nur an das „innergesellschaftliche“ Publikum adressiert, sondern zielten in gleichem Maße auf eine Repräsentation von – in den Augen der Choreographen „angemessener“ – Ordnungsvorstellungen für das europäische Publikum. Diese Vorstellungen politischer Ordnung bildeten in der Deutung der handelnden Akteure die Fundamente der in Wien zu etablierenden „Friedensordnung“, eine Ordnung, die gewissermaßen auf der Synthese verschiedener im frühen 19. Jahrhundert aufkommender politischer Ordnungsvorstellungen basierte und als Ordnungsentwurf an eine außerordentlich vielschichtige europäische Öffentlichkeit kommuniziert wurde. Diese Schlussfolgerungen kontrastieren somit in gewisser Weise die gängigen Deutungen des Wiener Kongresses bzw. seiner ordnungspolitischen Bedeutung. Diese gängigen „Forschungsnarrative“ beziehen sich häufig auf die Annahme, dass die Wiener Ordnung in erster Linie eine Wiederherstellung alter – dynastisch-hierarchischer - politischer Ordnung darstelle. Die hier dargestellten Repräsentationen offenbaren zwar in der Tat Elemente der „alten“ politischen Kultur des Ancien Régime bzw. des (in diesem Zusammenhang oft zitierten) Prinzips der „dynastischen Legitimität“. Diese werden jedoch mit „neueren“ eher „national-patriotischen“ Elementen komplementiert und synthetisiert. Die Wiener Ordnung ist somit nicht lediglich eine Wiederauflage „alter“ Ordnung, sondern eine wesentlich komplexere „neue“ Ordnung, die auf einer Synthese verschiedener Ordnungsvorstellungen basiert. Dies deutet auf den Zusammenhang hin, dass die einst gängigen Grundlagen politischer Legitimität – Gottesgnadentum und Dynastie – zunehmend durch andere Grundlagen ergänzt werden mussten. Dabei handelt es sich freilich um einen Prozess, der sich im „langen 20. Jahrhundert“ fortsetzt,604 in diesen Repräsentationen jedoch bereits in seinen Anfängen sichtbar wird.

603 Vgl. VICK 2014, S. 28. 604 Vgl. zu diesem Prozess allgemein SELLIN, Volker (2011): Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen. München: Oldenbourg.

5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

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Wichtig für die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit ist es jedoch zu betonen, dass diese Transformationsprozesse nicht lediglich in den Repräsentationspraktiken wiedergespiegelt werden, sondern mehr noch, durch diese Praktiken ganz wesentlich konstituiert werden. Das Bonmot des Fürsten Le Ligne, dass auf dem Wiener Kongress das „Gewebe der Politik ganz mit Festlichkeiten durchsponnen“ gewesen sei, bringt diese Überlegungen in diesem Sinne auf den Punkt: die Feierlichkeiten auf dem Wiener Kongress waren nicht lediglich Ausdruck einer frivolen Vergnügungskultur, sondern erfüllten vielfältige politische Zwecke, allen voran die Konstitution von Identitätsbeziehungen und politischen Ordnungsvorstellungen in öffentlichkeitswirksamen symbolischen Handlungen. 5.3

„Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

5.3.1 Die große Bühne: Historischer Kontext und internationale Ordnung Die Situation kurz nach dem Ersten Weltkrieg weist einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum historischen Kontext des letzten empirischen Kapitels auf. Ebenso wie knapp ein Jahrhundert zuvor die napoleonischen Kriege hinterließ der Erste Weltkrieg ein Europa im „Reset-Modus“: ein bis dahin in seiner Reichweite, Intensität und Zerstörungskraft beispiellos gewesener Krieg kostete über 9 Millionen Soldaten das Leben und verwüstete ganze Landstriche – insbesondere an der Westfront. Etwa 20 Millionen Soldaten wurden verwundet. Die Schätzung der Ziviltoten liegt bei knapp 8 Millionen.605 Insgesamt beteiligten sich 40 Staaten daran, schätzungsweise standen dabei bis zu 70 Millionen Menschen unter Waffen.606 Die Ursachen dieses Krieges werden gemeinhin im Scheitern der friedenssichernden Strukturen des europäischen Konzerts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen; das im letzten Abschnitt diskutierte neue „politische Äquilibrium“ (Paul W. Schroeder) war bereits seit der Krimkrise (1853-56) erheblich gestört worden und brach angesichts neu aufflammender Großmachtrivalitäten um die Jahrhundertwende schließlich endgültig zusammen.607 Am Ende stand der bis dahin zerstörerischste Krieg der Menschheitsgeschichte. 605 UNTERSEHER, Lutz (2014): Der Erste Weltkrieg. Trauma des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Springer VS, S. 127. 606 KRUSE, Wolfgang (2009): Der Erste Weltkrieg. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 57. 607 Die Ursachen des Ersten Weltkrieges sind natürlich äußerst komplex und vielschichtig und können an dieser Stelle nicht über diese sehr abstrakte und kurze Bewertung hinaus ausgeführt werden. Die Forschung hat insb. in den Jahren um das 200-jährige Jubiläum des Kriegsausbruchs verschiedene Studien hervorgebracht, die die Komplexität dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts in sehr differenzierter Art und Weise nachzeichnen; vgl. am prominentesten CLARK 2013, sowie

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Dieser „totale Krieg“ – wie General Ludendorff ihn später nennen sollte608 war erstmals ein „Weltkrieg“ im buchstäblichen Sinne, an dem nicht nur alle Großmächte Europas, sondern auch zahlreiche Akteure außerhalb Europas beteiligt waren: die USA, Japan, aber auch die britischen Dominions Australien, Neuseeland, Südafrika und Kanada. Die mehr oder minder direkte Einbeziehung der Mehrzahl aller Völker und Staaten der Welt erforderte insofern auch eine Friedensregelung unter Beteiligung all dieser Akteure – 1919 musste also im wahrsten Sinne „die Welt“ neu geordnet werden.609 Dass dieser globale „Flächenbrand“ aus den Rivalitäten europäischer Staaten hervorging, hatte dabei nicht zuletzt auch Konsequenzen für das Selbstbild der Europäer im Gefüge der internationalen Ordnung. Nach den Gräueln an der Westfront konnte am Selbstbewusstsein der Europäer als zivilisatorisches Vorbild nicht mehr ungetrübt festgehalten werden.610 Einige Autoren gehen indes so weit zu konstatieren, dass diese „Urkatastrophe“ letztlich das Ende der europäischen Dominanz in der Weltpolitik insgesamt einläutete, da die eigentlichen Sieger bzw. diejenigen, die gestärkt aus diesem Kriege herausgingen, außereuropäische Mächte waren (USA/Japan).611 Diese „Urkatastrophe“ hatte verschiedenste Erosionserscheinungen sowohl in innergesellschaftlichen wie in der internationalen politischen Ordnung zur Folge und stellte die handelnden politischen Akteure dementsprechend vor drängende und umfassende ordnungspolitische Herausforderungen. Der Krieg hatte revolutionäre Momente in zahlreichen Ländern befördert, was zum Zerfall „alter“ und zum Entstehen „neuer“ Akteure führte: so etwa Finnland, die baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Island und Irland.612 In Russland, Deutschland, Österreich und Ungarn hatten revolutionäre Ausbrüche zudem tiefgreifende politische Systemänderungen zur Folge, die letztlich in der Abschaffung der Monarchie mündeten. Ähnlich wie im Kontext der Umbrüche zu Beginn des 17. bzw. 19. Jahrhunderts befand sich die internationale Ordnung im beginnenden 20. Jahrhundert also in einem Prozess der Pluralisierung der Akteure mit prekären Souveränitätsverhältnissen bzw. unterschiedlichen Verständnissen politischer Ordnung.

608 609 610 611 612

MÜNKLER, Herfried (2013): Der Große Krieg. Die Welt 1914-1919. Berlin: Rowohl; vgl. zudem für einen sehr guten und detailreichen Überblick JANZ, Oliver (2013): 14 - Der Große Krieg. Frankfurt: Campus. LUDENDORFF, Erich (1935): Der Totale Krieg. Berlin: Ludendorffs Verlag. KOLB, Eberhard (2005): Der Frieden von Versailles. München: C.H. Beck, S. 43. Vgl. MACMILLAN, Margaret (2001): Peacemakers. The Paris Conference 1919 and its Attempt to End War. London: John Murray, S. 2. MARKS, Sally (2003) The Illusion of Peace. International Relations in Europe 1918-1933. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 1. OSIANDER 1994, S. 249; MACMILLAN 2001, S. 2.

5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

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Ein wesentlicher Unterschied zur Situation vor dem Wiener Kongress war jedoch die zeitliche Nähe der „Revolution“. 1789 kann sicherlich als eine der Voraussetzungen für die Entwicklung gelten, die in den napoleonischen Kriegen kulminierte; allerdings war diese historische Episode ungleich weiter entfernt vom Wiener Kongressgeschehen, als die Oktoberrevolution in Russland 1917 und die Novemberrevolution in Deutschland 1918 von der Pariser Friedenskonferenz. Auch die Tiefe und Radikalität der Umbrüche war zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwer mit der Situation 1815 zu vergleichen. In Wien waren die Effekte der Revolution 1789 noch frühzeitig absorbiert und durch die Synthese „alter“ und „neuer“ Elemente (s. letztes Kapitel) erfolgreich „gezähmt“ worden; 1919 war die (bolschewistische) Revolution jedoch viel zeitnaher und in ihrem Anspruch globaler, die damit verbundene Bedrohung für die traditionellen Großmächte Europas insofern auch wesentlich unmittelbarer.613 Der Triumph des Bolschewismus in Russland schaffte nicht nur das imperiale System des Zarismus ab, sondern konfrontierte die europäischen Großmächte überdies mit radikalen neuen Vorstellungen internationaler Ordnung. Die friedenssichernde Ordnung sollte demnach durch Revolution und Befreiung der versklavten Volksmassen erreicht werden, die der Herrschaft der Wenigen die Herrschaft der Masse entgegensetzte. In internationaler Perspektive stellte dies nicht nur ein partikulares Ansinnen Russlands dar, sondern bedeutete einen geschichtsnotwendig globalen Entwurf - erst durch die Beseitigung des kapitalistischen Systems weltweit würde eine Überwindung des globalen Imperialismus und somit des Krieges möglich.614 Doch nicht nur die revolutionären Bewegungen in Russland und Deutschland trugen zur Entstehung neuer politischer Ordnungsvorstellungen bei. Ähnlich wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben wir es Anfang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich mit einer Zeit des politisch-kulturellen Umbruchs zu tun – neue Ideen lagen förmlich „in der Luft“.615 Im Gegensatz zur Wiener Ordnung hatte sich der Nationalstaat als primäre Form der Staatsorganisation weitestgehend durchgesetzt; was sich jedoch ganz entscheidend verändert hatte, war die Bedeutung der Grundlage politischer Repräsentation und Öffentlichkeit. Dies wird etwa an der immer weiter verbreiteten Idee der Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess deutlich: Anfang des 20. Jahrhunderts erfährt das allgemeine Wahlrecht seine flächendeckende Umsetzung.616 Als gewählte Repräsentanten hatten politische Akteure somit eine völlig andere Beziehung zur öffentlichen Meinung als

613 MACMILLAN 2001, S. 5. 614 NIEDHART, Gottfried (1989): Internationale Beziehungen 1917-1947. Paderborn et al: Schöningh, S. 20. 615 MACMILLAN 2001, S. 3. 616 OSIANDER 1994, S. 249.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

etwa die Monarchen und Bevollmächtigten auf dem Wiener Kongress,617 sie hatten nicht nur ihrem entsendeten Monarchen Rechnung zu tragen, sondern ihren Parlamenten und letztlich der Bevölkerung ihres Heimatstaates. Dies beeinflusste die handelnden Akteure auf der Pariser Friedenskonferenz ganz wesentlich, worauf ich im Laufe des Kapitels noch zu sprechen kommen werde. Die Dominanz des Nationalstaates sowie dessen demokratische Ausdeutung als primäre Form der Organisation „selbstbestimmter Völker“ bargen jedoch auch erheblichen Sprengstoff in Gestalt gesteigerten Nationalismus und Separatismus in sich. Nach dem Ende multiethnischer Großreiche wie Österreich-Ungarn, aber auch in „neugeformten“ Ländern wie Polen entstanden – insbesondere in Ermangelung einer gewachsenen demokratischen Kultur - entlang ethnischer Grenzziehungen Konflikte, die die Integration der neuen Vorstellungen von „Nation“ verhinderten und erhebliche zentrifugale Kräfte auf die politische Ordnung in Ostmitteleuropa ausübten.618 Was noch hinzu kommt: im Gegensatz zum beginnenden 19. Jahrhundert zu dem wir annehmen können, dass sich die entsprechenden politisch-kulturellen Umbruchserscheinungen auch in einem allgemeinen Mentalitätswandel der politischen Eliten im Hinblick auf die Praxis internationaler Beziehungen niederschlugen („politisches Äquilibrium“ nach Schroeder, s. letztes Kapitel) -, teilten die handelnden Akteure im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz diese „neuen“ politischen Ordnungsvorstellungen keineswegs in gleichem Maße. Im Gegenteil besaßen gerade die schwergewichtigsten Entscheidungsträger – der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der englische Ministerpräsident David Lloyd George und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau – zum Teil diametral entgegengesetzte Ansichten, wie die zu konstruierende Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg auszusehen hatte. Die Ideen des amerikanischen Präsidents Woodrow Wilson verkörperten dabei zuvorderst die Ideale des oben skizzierten politisch-kulturellen Umbruchs. Seiner Ansicht nach war es eben die Logik der alten internationalen Ordnung - die nach den Prinzipien einer machtpolitischen Balance zwischen Großmächten funktionierte und keine moralischen Prinzipien kannte -, die für die „Urkatastrophe“

617 MACMILLAN 2001, S. 6; wie ich im letzten Kapitel ausgeführt habe, heißt dies jedoch natürlich nicht, dass diese gar keine Legitimationsgrundlage in der Öffentlichkeit sahen, ganz im Gegenteil. Die Beziehung gewählter Staatsrepräsentanten zur Öffentlichkeit unterscheidet sich lediglich in der unmittelbaren Abhängigkeit ihres Mandates von der Öffentlichkeit. 618 Vgl. DOERING-MANTEUFFEL, Anselm (2003): Ostmitteleuropa, Brest-Litowsk und die europäische Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Zur Bedeutung der Historiographie der sechziger Jahre für die Gegenwart, in: ELZ, Wolfgang/NEITZEL, Sönke (Hg.): Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Paderborn et al.: Schöningh, S. 208ff.

5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

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des Ersten Weltkrieges mitverantwortlich war. Dementsprechend sollte nach Wilson „no odor of the Vienna settlement“619 in Paris zu vernehmen sein. Sein „liberales Modell“ der Friedenssicherung entsprach im Wesentlichen seinem auf die internationale Ebene übertragenen Ideal demokratischer Staatsführung im Inneren und stützte sich v.a. auf die Prinzipien Demokratie, Selbstbestimmung der Völker, Freihandel und Abrüstung. Die „Selbstbestimmung der Völker“ stellte dabei das grundlegendste Konzept - anders formuliert: das neue „Masterprinzip“620 - internationaler Ordnung dar.621 „Selbstbestimmung“ war für Wilson dabei im Grunde mit der demokratischen Regierungsform an sich gleichbedeutend, die er als Grundlage einer internationalen Friedensordnung in allen Ländern der Welt durchgesetzt sehen wollte – die internationale Ordnung selbst sollte mit demokratischen Prinzipien und dem Herrschaft des Rechts hin zu einer „internationalen Gemeinschaft“ transformiert werden. Im Kontrast zum alten „Staatensystem“ bestand sein Ideal internationaler Ordnung also aus einer nicht aus Staaten bzw. Regierungen, sondern aus den Völkern der Welt bestehenden Gemeinschaft – einer „society of people responsible for the good behaviour of their governments“.622 Sein Mandat für die Verhandlungen in Paris im Allgemeinen – und zur Gründung des Völkerbundes im Besonderen – sah er dementsprechend nicht von einem eng definierten „amerikanischen außenpolitischen Interesse“, sondern v.a. von der „Weltöffentlichkeit“ bzw. einem globalen Interesse in der Herausbildung einer friedlichen internationalen Ordnung begründet.623 In seiner Rede zur Begründung des Kriegseintritts der USA vom 2. April 1917 vor dem Kongress betonte er in diesem Sinne, dass die Amerikaner für den „Frieden in der Welt und für die Befreiung ihrer Völker“ kämpfen würden. „Wir haben keine egoistischen Ziele“, fügte Wilson hinzu, „wir verlangen nach keiner Eroberung, keiner Herrschaft“.624 Diese Ordnungsvorstellungen stellten im Grunde eine Kampfansage an die alte Kabinettspolitik der europäischen Großmächte sowie an den „alten“ Stil der Praxis internationaler Beziehungen dar, der in seinen Augen eine der Ursache des Krieges darstellte und immer wieder für Kriege sorgen würde. In seinem berühmt gewordenen – in Gestalt der sog. „14 Punkte“ dargelegten – Friedensprogramm propagierte er dementsprechend die Notwendigkeit von „Friedensverträgen, die

619 620 621 622

Zit. nach HOLSTI 1991, S. 184. OSIANDER 1994, S. 255. NIEDHART 1989, S. 13. Zit. nach CLARK, Ian (2005): Legitimacy in International Society. Oxford: Oxford University Press; S. 116. 623 HOLSTI 1991, S. 179. 624 Kriegsbotschaft des Präsidenten vor dem Kongress am 2. April 1917; zit. nach NIEDHART 1991, S. 13.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

offen zustande gekommen sind“ und durch eine Diplomatie erarbeitet werden sollen, die „immer offen und vor aller Welt arbeiten“ müsse.625 Sein Ideal entspricht also einem System kollektiver Sicherheit zwischen Demokratien, in dem durch die öffentliche Rechenschaftspflicht die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Kriegsführung nicht besteht bzw. zumindest erheblich eingeschränkt ist. Die weiteren Punkte des Programms spiegeln die bereits skizzierten Grundsätze Wilsons wider und beziehen sich auf die Freiheit der Meere bzw. der Schifffahrt, Freihandel, Selbstbestimmung und „autonome Entwicklung“ der Völker (Österreich-Ungarn, aber auch in Bezug auf koloniale Streitigkeiten). Sie enthalten zudem einige konkretere Bestimmungen zur Räumung besetzter Gebiete (Frankreich, Russland, Rumänien, Serbien und Montenegro), die räumliche Wiederherstellung (Belgien) bzw. Errichtung unabhängiger Staaten (Polen), sowie der Gründung eines Völkerbundes. Das Prinzip der Selbstbestimmung begründete nach dieser Lesart internationaler Ordnung also sowohl (ethnisch gedachte) Grenzziehungen zwischen Staaten, war jedoch auch zentral in der Begründung legitimer Akteursschaft bzw. Mitgliedschaft in der „internationalen Gemeinschaft“.626 Eine Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft ist nach dieser Vorstellung nur einem wahrhaft „selbstbestimmten“ Volk (in Wilsons Logik: einer Demokratie) möglich, das diese idealistische Werte auch teilt – eine Implikation, die sich insbesondere auf die Integration der ehemaligen Kriegsgegner durchaus als exklusives Moment erweisen sollte, worauf noch zurückzukommen sein wird.627 Der englische Premierminister David Lloyd George teilte den Idealismus Wilsons zwar weitestgehend, behielt sich jedoch in einigen Punkten eine deutlich pragmatischere Position vor. Die britische Friedenspolitik im Vorfeld der Konferenz war daraus ausgerichtet, durchaus idealistische Ziele – wie etwa die Gründung des Völkerbundes – zu verfolgen, dabei jedoch die Wahrung eines gewissen Gleichgewichtes in Europa nicht zu vernachlässigen. Eine allzu hegemoniale Stellung Frankreichs sollte ebenso verhindert werden wie eine zu weitgehende Schwächung Deutschlands.628 Zudem sah Lloyd George bei einem allzu harschem Friedensabkommen die Gefahr der „Bolschewisierung“ Deutschlands und somit einer Spaltung Europas, wie er in seinem sog. Fontainebleau-Memorandum vom 25. März 1919 detailliert darlegte:

625 Verkündung des Friedensprogramms der „14 Punkte“ vor dem Kongress am 8. Januar 1918, in: SCHWABE, Klaus (Hg.) (1997): Quellen zum Friedensschluss von Versailles. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 47. 626 OSIANDER 1994, S. 255. 627 CLARK 2005, S. 116; vgl. zu verschiedenen historiographischen Deutungen, die Wilsons Ideale als Grundlage für „Bestrafung“ von „Normenbrechern“ sehen TRACHTENBERG, Marc (1982): Versailles After Sixty Years, in: Journal of Contemporary History 17:3, S. 493f. 628 KOLB 2005, S. 57; HOLSTI 1991, S. 205.

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„Es besteht die Gefahr, dass wir die Masse der Bevölkerung in ganz Europa in die Arme der Extremisten treiben, die um die Erneuerung der Menschheit wegen das bestehende gesellschaftliche Gefüge gänzlich zerstören wollen. Diese Kräfte haben in Russland triumphiert. Die größte Gefahr, die ich in der gegenwärtigen Lage sehe, ist die, daß Deutschland mit dem Bolschewismus gemeinsame Sache macht und sein Wirtschaftspotential, seine Intelligenz, sein gewaltiges Organisationstalent den revolutionären Fanatikern zur Verfügung stellt, deren Traum es ist, die Welt mit Waffengewalt für den Bolschewismus zu erobern.“629

Bei aller Befürchtung um die Bolschewisierung Deutschlands bedeutete dies jedoch nicht, dass Lloyd George die moralische Schuld Deutschlands infrage stellte bzw. harsche Reparationen völlig ablehnte. Ähnlich wie Wilson war er davon überzeugt, dass die Gefahr der Bolschewisierung nur dann wirklich zu neutralisieren war, wenn Deutschland sich in die „internationale Gemeinschaft“ westlichliberaler Prägung integrieren würde – was eine Internalisierung der o.a. Werte implizierte.630 Nicht zuletzt war dies jedoch auch dadurch begründet, dass Lloyd George im Zuge des hochemotionalisierten Wahlkampfes zur Unterhauswahl am 14. Dezember 1918 durch flammende Reden hohe Erwartungen hinsichtlich der „Wiedergutmachung“ (und einer „Bestrafung“ der Kriegsschuldigen) in der englischen Wählerschaft geweckt hatte.631 Insofern ließe sich seine Position als eine Melange aus „neuen“ als auch „alten“ Vorstellungen internationaler Ordnung verstehen - Idealismus bei gleichzeitiger Bewahrung (aus britischer Perspektive) „bewährter“ Gleichgewichtserwägungen. Ein starker Kontrast zum Idealismus Wilsons bzw. Pragmatismus Lloyd Georges wurde indes durch die Position des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau markiert. Das Trauma der langen Feindseligkeiten und Kriegsgeschichte zwischen Frankreich und Deutschland war in seiner Generation - Clemenceau war Jahrgang 1841 - noch sehr gegenwärtig, insofern war seine grundsätzliche anti-deutsche Haltung scharf ausgeprägt. Als Ministerpräsident des meistgeschädigten Landes des Krieges verfolgte er zu Beginn der Konferenz das in der französischen Öffentlichkeit dominante Hauptziel: eine Situation wie 1914 nie wieder entstehen zu lassen, was auf die möglichst umfassende Demontage der strukturellen Überlegenheit Deutschlands zielte. Clemenceau war demnach eine Sicherheitsdoktrin zu eigen, die vor allem von geopolitischen, strategischen, bevölkerungspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen geleitet war.632 Sein Weltbild unterschied sich fundamental von idealistischen Entwürfen á la Wilson,

629 630 631 632

Text des Fontainebleau-Memorandums vom 25.3.1919; zit. nach NIEDHART 1989, S. 39. Vgl. NIEDHART 1989, S. 39. KOLB 2005, S. 57. KOLB 2005, S. 56.

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er glaubte prinzipiell an die Ewigkeit des menschlichen Kampfes bzw. an die ständige Konfrontation zwischen Nationen.633 Seine Vorstellung einer Friedensordnung basierte dementsprechend überwiegend auf „altbewährten“ Prinzipien des machtpolitischen Gleichgewichts, wie er – zu großem Unmut Wilsons - in seiner Rede vor dem französischen Abgeordnetenhaus am 29. Dezember 1918 explizit betonte: „There was an old system that seems to be condemned today and to which I am not afraid of saying that I am still to some extent faithful at the present time: countries organized their defense (…) this old method of solid and well-defended frontiers, armaments, and what was called the balance of power“.634

Einen Tag nach Wilsons Ansprache in London, in der dieser die Überzeugung unterstrichen hatte, dass der Völkerbund das wichtigste Friedensinstrument sei, legte Clemenceau vor den französischen Abgeordneten seine Überzeugung indes noch deutlicher dar: „There is an old system of alliances called the balance of power – this system of alliances, which I do not renounce, will be my guiding thought at the peace conference“.635 Aus französischer Sicht hatte das liberale Ordnungsmodell Wilsons keinerlei Anziehungskraft, da man die im Kriege gerade abgewendete deutsche Hegemonie über Europa in einem solchen liberalen Modell gefährdet sah – der potentiell überlegene deutsche Gegner könnte sich nach französischen Befürchtungen allzu schnell erholen, sollte keine systematische Eindämmung bzw. Demontage erfolgen. Zudem hielt Clemenceau die Deutschen ganz grundsätzlich für die Einhaltung der Spielregeln eines solchen idealistischen Ordnungsentwurfes für unfähig, wie er während einer Besprechung des „Rats der Vier“ am 27. März 1919 betonte: „Die Deutschen sind ein Volk mit einer Sklavenseele, dem gegenüber die Gewalt als Argument dienen muss“.636 Im Weltbild Clemenceaus konnte eine friedliche internationale Ordnung also nur nach den Gesetzmäßigkeiten eines ausbalancierten Mächtegleichgewichts existieren - eines, das in Anbetracht der angenommenen „zivilisatorischen Unfähigkeit“ des Kriegsgegners auch notfalls forciert werden müsse. Diese kurz skizzierten Positionen beziehen sich nur auf die drei entscheidungsschwersten Akteure, sie verdeutlichen jedoch bereits in „verkörperter Form“ 633 Diese Vorstellung legte er in seinen Memoiren explizit dar: “To live in society is always to be in a perpetual state of confrontation, with fleeting periods of mutual agreement“; CLEMENCEAU, Georges (1930): Grandeurs et misères de un victoire. Paris: Plon, S. 181, zit. nach HOLSTI 1991, S. 190. 634 CLEMENCEAU, Georges (1938): Discours de paix. Paris, S. 19, zit. nach OSIANDER 1994, S. 264. 635 Zit. n. MACMILLAN 2001, S. 31. 636 George Clemenceau im Rat der Vier am 27. 3. 1919, zit. nach SCHÖNBRUNN, Günter (Hg.) (1970): Weltkriege und Revolutionen 1914-1945 (2. Aufl). München: Bayrischer Schulbuchverlag, S. 121f.

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die Dilemmata der Situation kurz vor der Pariser Friedenskonferenz: diametral entgegengesetzte Verständnisse internationaler Ordnung zwischen den Siegermächten sowie eine – bei der Konferenz nicht anwesende – diffuse Bedrohung durch radikale Gegenentwürfe globaler politischer Ordnung (die allgegenwärtig wahrgenommenen Bedrohung der „Bolschewisierung“ Deutschlands bzw. Europas). Herbert Hoover bezeichnete Russland in diesem Kontext als „the Banquo’s ghost sitting at every Council table“. Der amerikanische Publizist und WilsonBerater Walter Lippman brachte es indes auf den Punkt mit seiner Feststellung, dass es in Paris um das „Zusammenspiel zwischen Reaktion (Clemenceau), Rekonstruktion (Wilson) und Revolution (Lenin)“ ging.637 Unter diesen Umständen war die Herausbildung einer nachhaltigen, friedensfördernden internationalen Ordnung natürlich erheblich erschwert. Zusammenfassend können wir also folgende Merkmale internationaler Beziehungen im frühen 20. Jahrhundert festhalten:    



Politisch-kultureller Umbruch im Hinblick auf die Grundlagen politischer Repräsentation und Öffentlichkeit (zunehmend verbreiteter Parlamentarismus, Demokratie); Zeitliche und räumliche „Nähe“ revolutionärer Ausbrüche zum Kongressgeschehen, tiefgreifende politische Systemänderungen in verschiedenen Staaten; Daraus resultierender Zerfall „alter“ und Entstehen „neuer“ Akteure, Pluralisierung der Akteurslandschaft; Pluralisierung der Verständnisse internationaler Ordnung; zunehmende Konturierung des Begriffs der “Internationalen Gemeinschaft”, aber auch radikaler Gegenentwürfe globaler politischer Ordnung (Bolschewismus, globale sozialistische Revolutionsentwürfe); Divergierende Mentalitäten im Hinblick auf „angemessene“ internationale Ordnung in den politischen Eliten.

5.3.2 Die kleine Bühne: Kongresssetting Da es sich bei der Pariser Friedenskonferenz um die bis dahin komplexeste und größte Friedenskonferenz ihrer Art handelte638 - die Reichweite der Verhandlungsgegenstände ging (wie bereits erwähnt) deutlich über den engeren europäischen Kontext hinaus – gestaltete sich die Bestimmung eines entsprechenden Prozederes 637 Beide zit. nach WILLIAMS, Andrew (1998): Failed Imagination? New World Orders in the 20th Century. Manchester: Manchester University Press, jeweils S. 63 und 22. 638 Vgl. CLARK 2005, S. 111.

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alles andere als einfach. Die im letzten Abschnitt skizzierten historischen Kontextbedingungen sowie die divergierenden Verständnisse internationaler Ordnung übten dabei einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des Kongresssettings aus. Zunächst war der Ort der Konferenz an sich strittig gewesen, da die Briten und die Amerikaner eigentlich für eine neutralere Stadt plädiert hatten – Paris war vom Kriege deutlich gezeichnet und die anti-deutschen Ressentiments waren noch in allen gesellschaftlichen Sphären der Stadt gegenwärtig. Wilson hatte Genf oder Lausanne ins Gespräch gebracht, Clemenceau setzte sich jedoch schließlich mit dem Argument durch, dass Frankreich als hauptleidende Nation des Krieges den Vorzug haben sollte, als Gastgeber der Konferenz zu fungieren.639 In den Vorgesprächen hatte die französische Delegation darauf bestanden, durch die Durchführung der Konferenz das historisch erlittene Unrecht tilgen zu können. Außenminister Pichon hatte diese Idee im Oktober 1918 folgendermaßen begründet: „Auf unserem Territorium, in Versailles, vor den Toren unserer Hauptstadt hat Deutschland den Grundstock seiner Weltherrschaft gelegt, die es durch die Vernichtung der Freiheit der Völker aufbaute. Sollte sich nicht dort, gleichsam als Sinnbild des Triumphes der Gerechtigkeit, der Kongreß versammeln, dessen wichtigster Grundsatz das Recht der Völker auf Selbstbestimmung sein wird?“640

Diese Entscheidung war von erheblicher Tragweite, da Clemenceau als Gastgeber die gesamte „Choreographie“ – also die organisatorische Vorbereitung und Leitung - der Friedensverhandlungen obliegen würde. Nicht zuletzt sollte er damit auch erheblichen Einfluss auf Presse und öffentliche Meinung ausüben können.641 Vor allem beeinflusste der Konferenzort jedoch die Atmosphäre der Konferenz in entscheidender Art und Weise, da Paris bzw. Versailles der Friedenskonferenz von Beginn an die schwere Bürde anhaltender Feindseligkeit verlieh. Colonel House notierte in seinem Tagebuch entsprechend: „It will be difficult enough at best to make a just peace, and it will be almost impossible to do so while sitting in the atmosphere of a belligerent capital. It might turn out well and yet again it might be a tragedy”. Auch David Lloyd George sah die Wahl des Ortes kritisch und blickte später verärgert auf diese Entscheidung zurück: “I never wanted to hold the Conference in his bloody capital. Both House and I thought it would be better to hold it in a neutral place, but the old man wept and protested so much that we gave way“.642 Doch nicht nur aufgrund der allgegenwärtigen anti-deutschen Ressentiments und der entsprechend mangelnden Neutralität erwies sich Paris als problematisch 639 KOLB 2005, S. 48. 640 Zit. nach KRUMEICH, Gerd (2001): Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen, in: DERS. (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen: Klartext, S. 53. 641 KOLB 2005, S. 47. 642 Beide Zit. nach MACMILLAN 2001, S. 35.

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– in Anbetracht der erheblichen Verwüstungen des Krieges bot die Stadt nicht annähernd genug Hotelzimmer und Büros und konnte die vielfältigen Bedürfnisse der unzähligen Delegierten, Beratern und Journalisten, die zu tausenden in die französische Hauptstadt strömten, nur unzureichend befriedigen.643 Paris war kurz vor der Konferenz wahrlich zum politischen „place to be“ geworden: „One only meets people off to Paris“ soll der französische Botschafter in London bemerkt haben, „Paris is going to become a place of amusement for hundreds of English, Americans, Italians and shady foreign gentlemen who are descending on us under the pretext of taking part in the peace discussions“.644 Die Planung der Konferenzdurchführung wurde an das französische Comité d‘ études delegiert, das frühere Friedenskongresse auf substantielle und prozedurale Aspekte hin studiert hatte. Auch in Großbritannien hatte man nach Vorbildern bzw. Erfahrungswerten für die Organisation eines solchen Friedenskongresses gesucht. Für diesen Zweck beauftragte das Foreign Office, genauer gesagt dessen Historical Section, in Vorbereitung auf die Konferenz diverse Experten mit der Erstellung von (am Ende insg. 174) Handbüchern, die verschiedene Themenfelder aufbearbeiteten (Geographie, politische Geschichte, wirtschaftliche Bedingungen und aktuelle Lagebedingungen).645 Neben den Studien des Oxforder Historikers der internationalen Beziehungen Ernest L. Woodward646 zählt dazu auch die von Sir Ernest Satow erstellte (und bis heute prominente) Studie zu internationalen Kongressen, die sich mit verschiedenen historischen Präzedenzfällen befasste.647 Der Diplomatiehistoriker Charles Webster wurde im Jahr vor der Konferenz indes ganz in das Amt abbestellt, um einen detaillierten Bericht über die Organisation und den Ablauf des Wiener Kongresses zu verfassen. In aller Eile (von Mai bis August 1918 - also in insg. nur 11 Wochen648) erstellt, wurde das Werk im Dezember 1918 zur Publikation freigegeben. In dieser ersten Auflage war eine vertrauliche Note an die britischen Bevollmächtigten beigefügt, die den Wert des historischen Präzedenzstückes bezogen auf verschiedene Aspekte der 643 MARKS 2003, S. 4. 644 Zit. nach MACMILLAN 2001, S. 4. 645 STELLER, Verena (2011a): Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen 1870-1919. Paderborn et a.: Schöningh, S. 399. 646 WOODWARD, Ernest (1931): War and Peace in Europe, 1815-1870 and other essays. London: Constable & Co. 647 SATOW, Ernest (1920): International Congresses (Foreign Office Historical Section Peace Handbooks No. 151). London. Auch sein Handbuch zur diplomatischen Praxis erschien erstmals 1917 und wurde von den britischen Delegationsteilnehmern aufmerksam gelesen, vgl. NICOLSON, Harold (1933): Friedensmacher 1919. Berlin: S. Fischer, S. 81; SATOW, Ernest (1917): A Guide to Diplomatic Practice (2 Bde.). London: Longmans, Green & Co. 648 WEBSTER, Charles (1919): The Congress of Vienna 1814-1815. London: Oxford University Press, S. 3.

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damaligen Planungen der Pariser Friedenskonferenz ausbuchstabierte. Diese „General Observations on the Congress of Vienna and the Applicability of its History to the Present Time“ erschienen jedoch erst in den späteren Ausgaben des Werkes.649 Das Comité d‘ études ließ einige Tage nach dem Waffenstillstand einen Verfahrensvorschlag zirkulieren, in dem – ganz ähnlich wie im Werke Websters - das Abhalten einer alliierten Friedenskonferenz zur Erarbeitung der Friedensbedingungen angeregt wurde, die später Deutschland präsentiert werden sollten. Ein Friedenskongress, der die letztliche Friedensordnung unter allen Kriegsbeteiligten aushandeln würde, sollte folgen.650 Das historische Vorbild für diese Vorgehensweise war die (auch in den letzten beiden Fällen dieser Arbeit zur Anwendung gekommene) gängige europäische Praxis des Präliminarfriedens, der gemeinhin für die Festlegung des Prozederes und der Verhandlungsagenda vor dem letztendlichen Friedenskongress (allerdings unter Beteiligung aller Kriegsbeteiligten) gedacht war. Anfangs sollte dieses Format auch beibehalten werden – der vorgeschlagene Name für die Pariser Friedenskonferenz war Conferénce des Préliminaires de Paix. Zu einem späteren Friedenskongress kam es jedoch aus verschiedenen Gründen nie. Zum einen gestaltete sich der weitere Verlauf der Planungen - ähnlich wie anfangs in Wien - relativ chaotisch und improvisiert, einige Delegierten beklagten den generellen „general drift and lack of direction“.651 In den November/Dezembertagen 1918 hatte tatsächlich noch gar keine umfassende Verständigung der Hauptalliierten über die Verfahrensfragen (Programm, Tagesordnung) stattgefunden – bis kurz vor Beginn der Konferenz wussten die Delegierten nicht, ob die Verhandlungen nun eine Vorkonferenz darstellten, oder bereits Verhandlungen über die letztgültigen Friedensbedingungen darstellen sollten.652 Zum anderen ergab sich diese „Planänderung“ wohl letztlich auch aus den schwierigen interalliierten Vorverhandlungen, die bereits einige Meinungsverschiedenheiten in zentralen Aspekten der Friedensbedingungen offenbart hatten. Hinzu kamen Wilsons Befürchtungen, dass die komplexen Ratifizierungsprozesse in den USA (v.a. durch die zu erwartende Opposition des Senats) den Vertrag nach mühseligen Ver-

649 DERS. (1965): The Congress of Vienna 1814-1815 (2. Aufl.). London: Thames and Hudson. 650 HOLSTI 1991, S. 192; allerdings plädierte Webster dafür, dass der folgende Kongress nur noch zur Ratifizierung eines vorher bereits unter den Alliierten ausgehandelten Friedensvertrages dienen sollte, man solle unbedingt vermeiden, dass Deutschland Gelegenheit bekäme, das Äquivalent der Rolle Frankreichs (bzw. Talleyrands) auf dem Wiener Kongress auszuüben; vgl. WEBSTER 1965, S. 202 und 204. 651 HEADLAM-MORLEY, James (1972): A Memoir of the Paris Peace Conference 1919. London: Methuen & Co., S. 4. 652 KOLB 2005, S. 49.

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handlungen in Paris nichtig machen würden – was sein hoch priorisiertes Völkerbundprojekt gefährden würde.653 Insgesamt stellte das Projekt Völkerbund für die Aushandlung eines Friedensvertrages eine nicht unerhebliche Bürde dar. Wilson hatte darauf bestanden, dass die Gründung des Völkerbundes Teil des Vertragswerkes sein müsse, dieses machte die Form des „Präliminarfriedens“ jedoch so umfassend, dass er seine vorläufigen Charakter verlor, wie es der britische Delegierte Harold Nicolson in seinem Tagebuch explizit als Manko identifizierte.654 Schließlich scheiterte der „Friedenskongress“ jedoch auch an der (sensiblen) Frage der Beteiligung des Kriegsgegners bzw. an den Befürchtungen, dass dessen Anwesenheit im Hinblick auf die Unstimmigkeiten unter den Alliierten Erosionserscheinungen in der Allianz befördern könnte.655 Die Frage, ob die Kriegsgegner an den Verhandlungen beteiligt werden sollten, erwies sich letztlich als zentrales prozedurales Problem. Die deutsche Delegation sollte wohl ursprünglich Teil der Konferenz sein - allem Anschein nach ergab sich der Ausschluss tatsächlich erst im Laufe der Konferenz. In den Plänen des französischen Außenministeriums und des Beraters des Präsidenten Wilson Colonel House waren fünf Sitzplätze für die deutsche Delegation in den Sitzordnungen der Konferenz vorgesehen.656 Laut Nicolson waren sich die „Lenker der Welt“ in den ersten beiden Monaten jedoch grundsätzlich nicht im Klaren darüber, ob sie einen Verhandlungs- oder Zwangsfrieden anvisierten.657 Implizit ging man wohl davon aus, dass sich die „Konferenz“ nach der Einigung der Alliierten untereinander quasi automatisch zum „Kongress“ wandeln würde und es dann zu Verhandlungen mit dem Gegner kommen würde.658 Dass dies letztlich nie passierte, hatte sicherlich auch damit zu tun, dass sich eine Einigung unter den Alliierten als schwierig gestaltete und der Gastgeber Clemenceau – durch seine Gastgeberrolle in einer entscheidenden Position - keinerlei Interesse an einem Verhandlungsfrieden mit dem ehemaligen Kriegsgegner hatte. Aber auch Wilson hatte in bereits einer Rede im September 1918 den Ausschluss Deutschlands zumindest implizit angedeutet: „They observe no covenants, accept no principle but force and their own interest. We cannot „come to terms“ with them (…) Germany will have to redeem her character, not by what happens at the peace table, but by what follows“.659 Bis Ende März 1919 soll Wilson in dieser 653 654 655 656 657 658 659

CLARK 2005, S. 125. NICOLSON 1933, S. 100. Ebd. Ebd.; OSIANDER 1994, S. 281. Ebd., S. 96. Ebd., S. 98. SHAW, Albert (Hg.) 1924: The Messages and Papers of Woodrow Wilson, Vol. I, New York: The Review of Reviews Corp., S. 522; an diesem Statement wird die – im letzten Abschnitt bereits diskutierte exklusive Dynamik seines Verständnisses legitimer Mitgliedschaft in der

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Frage noch unentschieden gewesen sein.660 Für die Delegierten bedeutete diese Unentschlossenheit jedoch, dass sie kurz vor der Konferenz und selbst noch in der ersten Zeit der Beratungen keine Klarheit darüber hatten, ob der Text eine definitive oder vorläufige Vertragsgrundlage darstellen sollte – was wiederum entscheidende Auswirkungen auf den Vertragstext hatte, denn dieser war ursprünglich als Verhandlungsgrundlage erdacht worden – und erhielt damit mit Maximalforderungen, die noch „nach unten“ verhandelt werden könnten bzw. sollten.661 Am 18. Januar 1919 wurde die Konferenz schließlich im Uhrensaal des französischen Außenministeriums am Quai d’Orsay feierlich eröffnet. Auch diesem Datum hing eine symbolische Schwere an, da es den 48. Jahrestag der Kaiserproklamation darstellte, worauf der französische Präsident Raymond Pointcaré in seiner Eröffnungsrede deutlich hinwies: „Vor 48 Jahren, genau auf den Tag, am 18. Januar 1871, wurde das Deutsche Reich von einer Invasionsarmee im Schloss von Versailles ausgerufen. Es empfing seine Weihe durch den Raub zweier französischer Provinzen. Es war somit befleckt schon in seinem Ursprung, und durch den Fehler seiner Gründer trug es in sich den Todeskeim. In Ungerechtigkeit geboren hat es in Schmach geendet. Sie sind versammelt, um das Übel wiedergutzumachen, das es angerichtet hat, und um seine Wiederkehr zu verhüten. Sie halten in ihren Händen die Zukunft der Welt.“662

Eigentlich sollte die Konferenz eine Verkörperung der „neuen“ internationalen Ordnung „selbstbestimmter Völker“ sein, somit waren alle Akteure, die das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes für sich beanspruchen wollten, eingeladen, Delegierte zu senden. Insgesamt nahmen über 1000 Delegierte an der Konferenz teil; Delegationen stellten neben den „Big Four“ auch Japan, sowie die britischen Domnions Australien, Neuseeland, Südafrika, Indien und Kanada. Dazu kamen noch 22 außereuropäische Delegationen, darunter China, Hajez (heutiges Saudi-Arabien), Siam (heutiges Thailand), 11 lateinamerikanische Staaten und eine aus Afrika (Liberia). Europa war neben den Großmächten repräsentiert durch Belgien, der Tschechoslowakei, Griechenland, Polen, Portugal, Rumänien und Serbien (offiziell Königreich der Serben, Kroaten und Slovenen, ab 1929 Jugoslawien).663 Trotz des (insb. durch Wilson propagierten) Anspruchs der demokratischen Inklusion war es bei der Fülle der Delegationen jedoch nicht möglich, eine gleichbe-

660 661 662 663

„internationaler Gemeinschaft“ deutlich – Deutschland müsse also zeigen, dass es die Spielregeln dieser „neuen“ internationalen Ordnung internalisiert habe und bis dahin gewissermaßen „auf Bewährung“ gehalten werden. OSIANDER 1994, S. 282. NICOLSON 1933, S. 100f. Zit. nach KOLB 2005, S. 49. OSIANDER 1994, S. 279.

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rechtigte Teilhabe aller dieser Nationen zu gewährleisten. Man gewichtete die Delegationen nach Anzahl der Bevollmächtigten: die „großen Vier“ plus Japan bekamen jeweils fünf; Belgien, Brasilien und Serbien drei; 12 weitere Länder bekamen zwei, und die restlichen 12 nur einen Bevollmächtigten zugebilligt.664 Die ultimative Autorität sollte beim Konferenzplenum liegen, tatsächlich fanden die wesentlichen Beratungen und Entscheidungen jedoch im „steering committee“ des Rats der Zehn statt (Council of Ten), bestehend aus den „großen Vier“ inklusive ihrer Außenminister sowie den Delegierten Japans. Ab Mitte März wurden die wesentlichen Entscheidungen jedoch auf den engeren Kreis des Rats der Vier (Council of Four) verlagert, u.a. weil Japan an den europäischen Themen nicht ganz so interessiert war und letztlich aus diesem Gremium ausschied. Zudem sollten heikle Themen im kleineren Kreise der „großen Vier“ ohne die Außenminister besprochen werden, was eine Einigung und somit eine effizientere Entscheidungsfindung aussichtsreicher erscheinen ließ.665 Der Rat der Vier trat länger als drei Monate fast täglich (gelegentlich sogar mehrmals täglich) zusammen, insgesamt wurden in diesem Kreise 148 Sitzungen abgehalten. Alle strittigen Fragen, die im Kreise der Außenminister und ihrer Berater nicht entschieden werden konnten, wurden in letzter Instanz dem Rat der Vier vorgelegt.666 In Anbetracht der Entscheidungsbefugnisse, die der Rat der Vier für sich beanspruchte, war das Konferenzplenum also letztlich dazu verdammt, die Entscheidungen der Großmächte lediglich „abzunicken“ - was nicht zuletzt an der Tatsache deutlich wird, dass das Plenum insgesamt nur acht Mal tagte.667 Die Friedensbestimmungen mit Deutschland wurden dem 6. Konferenzplenum beispielsweise erst am 6. Mai 1919 vorgelegt, genau einen Tag bevor sie den Deutschen präsentiert werden sollten.668 Dies sorgte für großen Unmut bei den kleineren Delegationen, die zum Teil unter großem Aufwand nach Paris angereist waren und in Anbetracht der Exklusivität des Rates der Vier vergleichsweise wenig zu tun hatten. Wie Colonel House beißend anmerkte, hätten sie sich auch „genauso gut in Patagonien“ befinden können.669 In dieser Hinsicht war in Paris also – entgegen des Ideals Wilsons – doch ein herber „odor of the Vienna settlement“ zu vernehmen: Paris und Wien waren sich in Verfahrensfragen – also v.a. in der sukzessiven Eingrenzung der Entscheidungsbefugnisse auf ein exklusives Großmächtegremium verblüffend ähnlich.670 664 665 666 667 668 669 670

Ebd., S. 280. HOLSTI 1991, S. 196f. KOLB 2005, S. 50. OSIANDER 1994, S. 280. Ebd., S. 281. Zit. nach MARKS 2003, S. 10. Vgl. dazu auch LENTZ 2014, S. 362.

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Auch in der „operativen“ Arbeit wies die Konferenz einige Ähnlichkeiten zu Wiener Verfahrensweisen auf. Bereits im 2. Konferenzplenum wurden fünf Ausschüsse eingesetzt: für die Gründung des Völkerbunds; die Verantwortlichkeit am Krieg und Verletzung der Kriegsgesetze, Reparationen, Internationale Gesetzgebung über Industrie- und Handelsfragen, Internationale Kontrolle von Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen. Im Laufe der folgenden Wochen wurden weitere Ausschüsse ins Leben gerufen, sodass am Ende der Konferenz 58 Ausschüsse arbeiteten, die insg. 1646 Sitzungen abhielten. Ihre Beschlüsse wurden durch 26 Lokaluntersuchungen auf Richtigkeit geprüft und kamen in 72 Sitzungen des Rates der Zehn, in 39 Sitzungen des Rates der Fünf und in 145 Sitzungen des Rates der Vier zur Verhandlung.671 Die Ausschüsse waren durch Vertreter der Großmächte und der übrigen assoziierten Mächte besetzt, ihnen arbeiteten große Beraterstäbe zu, insg. waren über 10.000 Personen an den Beratungen beteiligt.672 Zusammenfassend können wir also folgende charakteristische Merkmale des Pariser Kongresssettings festhalten: 

  



Die Ausgestaltung der Verfahrensordnung resultierte aus den Logiken des vorausgegangenen Konfliktes sowie den entsprechenden zum Teil erheblich divergierenden Vorstellungen einer „angemessenen“ Friedensordnung unter den entscheidenden Akteuren; Die konkreten Verfahren wurden im Wesentlichen „improvisiert“ und konkretisierten sich erst im Laufe der Konferenz; Die wesentlichen Entscheidungsgremien waren entgegen der ursprünglichen Planung vom Konferenzplenum auf den Rat der Zehn bzw. Rat der Vier übergegangen und somit in hohem Maße exklusiv; Aus einer geplanten Vorkonferenz mit anschließendem Friedenskongress ergab sich nur eine Setzung des Friedensvertrags durch die Siegermächte; die Integration der Kriegsgegner in das Verhandlungsgeschehen gelang nicht; Ursprünglich als „neuartige“ Konferenz im Sinne neuer internationaler Ordnungsvorstellungen geplant, konnte die Konferenz im Prozedere diesem hehren Ziel – teils durch praktische, teils politisch Gründe - nicht gerecht werden.

671 NICOLSON 1933, S. 123. 672 KOLB 2005, 52f.

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5.3.3 Schauplätze: Szenerien der Identitätspraxis Dass Inszenierung bzw. Bildlichkeit für die gesamte Pariser Friedenskonferenz eine herausragende Rolle spielten, haben bereits zeitgenössische Beobachter festgestellt. Harold Nicolson schrieb zum Beginn seiner Aufzeichnungen in diesem Sinne, dass „einzig und allein durch einen Film“ ein wirklicher Eindruck der Konferenz vermittelt werden könne, „jenes Gefühl, als wäre man in ein kreischendes Papageienhaus versetzt“.673 Auch die Theater-Metapher lag manchem Beobachter dabei nahe, worauf ich im folgenden Abschnitt noch zu sprechen kommen werde. In Anbetracht der im letzten Abschnitt geschilderten Problematiken der zum Teil stark improvisierten Verfahrensplanung, der unklaren Form der Verhandlungen („Konferenz“ vs. „Kongress“) sowie auch – bzw. in erster Linie - der damit verbundenen Exklusion des Kriegsgegners aus dem Verhandlungsgeschehen, waren die Möglichkeiten der Repräsentation von Identität aller beteiligten Akteure jedoch im Grunde nur auf zwei Situationen beschränkt, in denen auch tatsächlich alle Akteure zusammentrafen: die Überreichung der Friedensbedingungen am 7. Mai sowie die letztendliche Unterzeichnung des Friedensvertrages am 28. Juni 1919. Letztere „Szene“ werde ich im folgenden Abschnitt eingehender behandeln, da sie im Hinblick auf die Repräsentation von Identität(en) eine Fülle von Interpretationen und Illustrationen bietet, in ihr kommen die Atmosphäre und die Identitätskonstellationen der Akteure der Pariser Friedenskonferenz gewissermaßen kondensiert und verstärkt zum Ausdruck. Beide Szenen wurden allerdings im Nachgang zur Konferenz sehr intensiv und kontrovers diskutiert und auch die Überreichung der Friedensbedingungen an die deutsche Delegation scheint in der Wahrnehmung der Beobachter einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. In den meisten Memoiren zur Pariser Friedenskonferenz wird auch sie – teilweise recht ausführlich – beschrieben. Ein etwas detaillierterer Blick lohnt also auch auf diese Szene. Nachdem sich Tatsache herauskristallisiert hatte, dass es zu keinem an die alliierte Vorkonferenz anschließenden „Friedenskongress“ - und somit zu keinen Verhandlungen im engeren Sinne - kommen würde, erging am 18. April eine alliierte Note an die deutsche Regierung, die diese aufforderte, eine Delegation zur Entgegennahme der Friedensbedingungen zu entsenden. Dass darin in den Augen der Deutschen „besonders klar und unhöflich“ deutlich gemacht wurde, dass es sich dabei um einen „festgesetzten Text“ handeln und somit keine Möglichkeit zur Verhandlung bestehen würde,674 veranlasste den Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau dazu, zur Entgegennahme der Friedensbedingungen eine De-

673 Zit. n. STELLER 2011a, S. 433. 674 SCHIFF, Victor (Hg.) (1929): So war es in Versailles. Berlin: Dietz, S. 9.

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legation rangniederer Vertreter ohne Mandat zur Verhandlungsführung zu benennen, womit er das Missverhältnis in der Kommunikationssituation zu unterstreichen versuchte.675 Die Alliierten forderten daraufhin jedoch unmissverständlich Vertreter, die „vollständig ermächtigt sind, über die Gesamtheit der Friedensfragen zu verhandeln, wie die Vertreter der alliierten und assoziierten Regierungen“.676 Daraufhin folgte – unter der geforderten Bedingung der Möglichkeit von Verhandlungen - die Ernennung von Graf Brockdorff-Rantzau (Außenminister, parteilos), Robert Leinert (Präsident der Preußischen Landesversammlung, SPD), Dr. Carl Melchior (Bankhaus M.M. Warburg & Co.), Johannes Giesberts (Postminister, Zentrum), Dr. Otto Landsberg (Justizminister, SPD) sowie von Prof. Dr. Walther Schücking (DDP, Verfassungs- und Völkerrechtler) als Delegationsmitglieder. Die Tatsache, dass die Delegation schließlich mit einer stattlichen Anzahl von 180 Personen in Sonderzügen nach Versailles abreiste, lässt vermuten, dass Verhandlungen über den Inhalt der Bedingungen – die die Anwesenheit von einem umfangreichen Stab Diplomaten, Experten und Sekretären erforderte - tatsächlich erwartet bzw. zumindest erhofft wurden.677 Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Der deutschen Delegation war lediglich das Recht eingeräumt worden, nach der Entgegennahme der Friedensbedingungen binnen zwei Wochen schriftlich zu den Bedingungen Stellung zu beziehen. Die Präsentation der Friedensbedingungen war indes für den 7. Mai im Pariser Hotel Trianon Palace terminiert worden.678 Auch dieses Datum barg eine gewisse Symbolik – es handelte sich um den Jahrestag der Versenkung des britischen Passagierschiffs Lusitania durch ein U-Boot der deutschen Marine.679 Die deutsche Delegation hatte – wohl bereits befürchtend, dass dies möglicherweise die letzte Gelegenheit sein würde, angehört zu werden – verschiedene Reden vorbereitet. Brockdorff-Rantzau hatte auf seinem Weg zum Trianon Palace zwei Reden mitgeführt: eine knappe und konziliantere, sowie eine etwas längere und im Ton schärfere Rede. Welche er letztlich vortragen würde, würde er erst spontan entscheiden.680

675 Diese bestand lediglich aus den Gesandten von Haniel, dem Geheimen Legationsrat Keller und dem Wirklichen Legationsrat Schmitt nebst zwei Sekretären, STELLER 2011a, S. 441; Schiff begründet die Delegationszusammenstellung damit, dass man versuchte, nicht gleich durch die Entsprechung einer Einladung zu einer „Entgegennahme“ die Möglichkeit auf Verhandlungen zu verwirken, SCHIFF 1929, S. 10 676 Ebd. 677 Vgl. STELLER 2011a, S. 442. 678 Dieses hatte dem interalliierten War Council als Tagungsort unter dem Vorsitz von Clemenceau gedient; Ebd., S. 443 (Anm. 392). 679 MACMILLAN 2001, S. 473. 680 Ebd.

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Abbildung 16:

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Die deutsche Delegation kurz vor ihrer Abreise nach Versailles. Quelle: Wikicommons.

Im Tagungsraum des Trianon Palace ging es im Hinblick auf die zahlreich anwesenden Delegierten aller vertretenen Nationen, Sekretäre, Generäle, Admiräle und Journalisten recht gedrängt zu. An einer hufeisenförmigen Tafel saßen die insgesamt 27 Vertreter der alliierten sowie assoziierten Mächte. In der Mitte des Raumes – gegenüber der „großen Vier“ – war ein Tisch für die deutsche Delegation aufgestellt. Nachdem die alliierten Vertreter Platz genommen hatten, öffnete sich „langsam, feierlich“ die Tür des Saales, wie der anwesende deutsche Journalist Friedrich Stampfer erinnerte: „Ein Beamter, eine Art von Zeremonienmeister in prunkvoller Uniform stößt mit einem Stab auf den Boden und ruft: ‚Messieurs, les délégués allamands!‘. Als erster kommt der Graf, der noch grüner aussieht als gewöhnlich, aber gefasst ist und sich mit Würde verneigt. Der Gruß wird durch Erheben erwidert.“681

681 STAMPFER, Friedrich (1929) „Die Stunde der schweren Abrechnung…“, in: SCHIFF 1929, S. 48. Stampfer gehörte zur kleinen Gruppe der insg. fünf Journalisten an, die der Überreichung beiwohnten.

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Zur Eröffnung der Sitzung begann Clemenceau seine Ansprache – in der Erinnerung des deutschen Sekretärs Walter Simons - „mit kurzen abgehackten Sätzen, die wie von konzentrierter Wut und Verachtung herausgestoßen wurden“682: „Meine Herren Delegierten des Deutschen Reiches! Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. Sie haben vor sich die Versammlung der Bevollmächtigten der kleinen und großen Mächte, die sich vereinigt haben, um den fürchterlichsten Krieg auszufechten, der ihnen aufgezwungen worden ist. Die Stunde der Abrechnung ist da. Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt ihn Ihnen zu gewähren. (…) Um auch die andere Seite meines Gedankens zu Ihrer Kenntnis zu bringen, muss ich notwendigerweise hinzufügen, dass dieser zweite Versailler Friede, der den Gegenstand unserer Verhandlungen bilden wird, von den hier vertretenen Völkern zu teuer erkauft worden ist, als dass wir nicht einmütig entschlossen sein sollten, sämtliche uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen. Ich werde die Ehre haben, die Herren Bevollmächtigten von dem Unterhandlungsverfahren, welches gutgeheißen worden ist, in Kenntnis zu setzen“683

Abbildung 17:

George Clemenceau bei seiner Rede im Hotel Trianon Palace anlässlich der Übergabe der Friedensbedingungen. Quelle: Wikicommons.

Gemeint war hier natürlich die „Verhandlung“ zwischen den alliierten und assoziierten Mächten, nicht mit den ehemaligen „Feinden“. Interessant an der Bezeichnung des „zweiten Versailler Friedens“ ist jedoch das historische Narrativ, das von 682 Brief Walter Simons an seine Frau, in: SCHWABE 1997, S. 259. 683 George Clemenceaus Rede im Hotel Trianon Palace anlässlich der Übergabe der Friedensbedingungen, in: SCHWABE 1997, S. 242.

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Clemenceau bewusst gesponnen wird – er spielt hier auf den Vorgänger des Vertrages, den „ersten“ Versailler Präliminarfrieden von 1871 an,684 und verleiht diesem Anlass damit tatsächlich eine Aura der „Stunde der (historischen) Abrechnung“. Diese Deutung wurde auch durch die Raumordnung unterstrichen: „die Deutschen nehmen an zwei Tischen Platz, die (…) von den anderen getrennt aufgestellt sind. Es sieht nach Anklagebank aus“.685 Hatte man sich zur Eröffnung der Sitzung noch unter gegenseitiger symbolischer Ehrerbietung verbeugt, war an dieser Stelle die symbolische Freundlichkeit bei Brockdorff-Rantzau scheinbar zu ihrem Ende gekommen. Er wählte die längere und im Ton schärfere Rede.686 Sowohl der Inhalt und die Form seiner Erwiderung sollten für kontroverse Diskussionen sorgen: „Meine Herren! Wir sind tief durchdrungen von der erhabenen Aufgabe, die uns mit Ihnen zusammengeführt hat: der Welt rasch einen dauernden Frieden zu geben. Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, dass die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist; wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftliche Forderung gehört, dass die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen sollen. Es wird von uns verlangt, dass wir uns als die allein Schuldigen bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, dass es zu diesem Weltkriege kam, und dass er so geführt wurde, von Deutschland abzuwälzen. Die Haltung der früheren Deutschen Regierung auf den Haager Friedenskonferenzen, ihre Handlungen und Unterlassungen in den tragischen zwölf Julitagen mögen zu dem Unheil beigetragen haben, aber wir bestreiten nachdrücklich, dass Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist.“687

Inhaltlich provozierte die Gegenrede Brockdorff-Rantzaus insbesondere durch die Mischung aus partiellem Eingeständnis, Ablehnung und Gegenanklage, aber auch durch die Betonung des „Hasses“, von dem er sich umgeben sah.688 Die in den meisten Memoiren jedoch am häufigsten beschriebene Provokation war indes die Tatsache, dass Brockdorff-Rantzau – im Gegensatz zu Clemenceau vor ihm – für seine Gegenrede nicht aufgestanden war; in der symbolischen Semantik der Diplomatie ein unglaublicher Affront. Auch die Tatsache, dass sich Brockdorff-Rant-

684 685 686 687

SCHWABE 1997, S. 242 (Anm. 3). STAMPFER 1929, S. 48. MACMILLAN 2001, S. 474. Rede Graf Brockdorff-Rantzaus im Trianon Palace anlässlich der Überreichung der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919, in: SCHWABE 1997, S. 243f. 688 STELLER 2011a, S. 446f.

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zau später beim Herausgehen aus dem Saal in einer nonchalanten Geste eine Zigarette anzündete, wurde als schwerwiegende Respektlosigkeit aufgefasst.689 Wie das britische Delegationsmitglied James Headlam-Morley am Tag danach an das Foreign Office schrieb, scheint der vom deutschen Delegationsleiter hinterlassene Eindruck im Ganzen desaströs gewesen zu sein: „I am sorry the Germans seem to have made an extremely bad impression yesterday. I saw the Prime Minister after the concert last night and he was full of indignation. He said they were insolent beyond description, not so much in what they said, but the manner in which they said it; he said that he had never been so angry with the Germans throughout the war, and that the Colonials were in such state of indignation that they would have gone for the Germans at once. This is no doubt partly the result of bad manners, but whatever the cause may be, the effect will be very lamentable”.690

Clemenceau soll vor Wut errötet sein. Auch Woodrow Wilson echauffierte sich über das Auftreten des deutschen Delegationsleiters: “This is the most tactless speech I have ever heared“, soll er die Rede kommentiert haben, “the Germans are really stupid people. They always do the wrong thing”.691 David Lloyd George sah es indes als Fehler an, dass man die Deutschen überhaupt habe zu Wort kommen lassen.692 Einzig der britische Außenminister Balfour ließ in seinem Kommentar eine gewisse diplomatisch-ritterliche Milde durchscheinen, wie wir aus den Erinnerungen Harold Nicolsons entnehmen können: „Großer Krach, weil Brockdorff-Rantzau bei der gestrigen Zeremonie bei seiner Antwort auf Clemenceau nicht aufgestanden ist. Die ‚Daily Mail’ nennt seine Haltung ‚unverschämt und unbußfertig‘. Herman Norman, der dicht neben ihm stand, sagt, er sei hart am Zusammenbrechen gewesen und habe nicht aufstehen können, selbst wenn er gewollt hätte. Ich frage A.J.B. [Arthur J. Balfour], ob er die allgemeine Aufregung und Empörung teile. ‚Empörung – worüber?‘ fragt er. – ‚Oh, über Brockdorff-Rantzaus Benehmen gestern.‘ ‚Was für ein Benehmen?‘ – ‚Dass er nicht aufgestanden ist bei der Antwort an Clemenceau.‘ – ‚Ist er nicht aufgestanden! Das habe ich gar nicht bemerkt. Ich habe es mir zum Gesetz gemacht, niemals Leute anzustarren, wenn sie in sichtlicher Bedrängnis sind.‘ Neben A.J.B. kommt einem ganz Paris ordinär vor.“693

Die hier zitierte Interpretation Herman Normans, nach der Brockdorff-Rantzau aufgrund der schweren Last der Situation nicht mehr die Kraft gefunden habe aufzustehen, scheint jedoch nicht zuzutreffen. In einer Unterredung mit dem Sonder-

689 690 691 692 693

MACMILLAN 2001, S. 474. Extract from letter to Mr. Koppel (F.O.), 8. Mai 1919, in: HEADLAM-MORLEY 1972, S. 100. Zit. nach MACMILLAN 2001, S. 474. Ebd. NICOLSON 1933, S. 314.

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berichterstatter der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ betonte der deutsche Außenminister: „Wenn ich sitzen blieb, während Clemenceau stand, so hatte das seinen wohlerwogenen Grund“.694 Brockdorff-Rantzau hatte zudem Walter Simons vorab über sein Vorhaben informiert, sich nicht zu erheben. Diese Motivation ergab sich aus der Tatsache, dass in Skizzen des Sitzungssaals, die in der französischen Presse zirkulierten, die Tische der deutschen Delegation als „banc des accusés“ bezeichnet wurden. Brockdorff-Rantzau soll daher „schon im Geiste die Worte ‚Angeklagter, stehen Sie auf!“ gehört haben und blieb daher bewusst sitzen, um zu unterstreichen, dass Deutschland nach seiner Auffassung eben nicht auf einer Anklagebank sitze und sich nicht auf Befehl zu erheben habe.695 Die Geste des „Sitzenbleibens“ ist dabei emblematisch für die gesamte Symbolik der Repräsentation von Identitätsnarrativen in dieser Szene. Aus den Aufzeichnungen der Augenzeugen wird deutlich, dass sich die Repräsentanten der verschiedenen Nationen buchstäblich als die „Verkörperung“ ihrer jeweiligen außenpolitischen Identitäten verstanden bzw. als solche verstanden wurden. Sehr explizit erwähnt dies Stampfer in seiner Beschreibung der Szene, in der die Vertreter gewissermaßen als pars pro toto ihrer jeweiligen Völker erscheinen: „Und nun erhebt sich der Mann, der in dieser Stunde die triumphale Genugtuung seines Lebens erfährt. Clemenceau. Er führt den Vorsitz dieser weltgeschichtlichen Versammlung, neben ihm sitzen Wilson und Lloyd George, die Vereinigten Staaten und das Britische Weltreich, und ringsherum sitzen die Vertreter fast aller Völker der Welt. Frankreich aber ist Präsident dieses Kongresses der Sieger, und ihm gegenüber sitzt geschlagen, blaß, fiebernd – Deutschland.“696

Die Choreographie der Szene – dirigiert durch den Vorsitzenden der Konferenz Clemenceau – erscheint sichtlich darauf ausgerichtet, den markanten Unterschied zwischen den Identitäten der „Sieger“ und der der „Besiegten“ symbolisch zu vermitteln. Dies wird sowohl am praktischen Ablauf wie auch in der Raumordnung deutlich. Diese Repräsentation von Identität vermittelt nicht nur kommunikative Asymmetrien, sondern vor allem auch eine asymmetrische Machtbeziehung: sie konstituiert im Grunde einen Akt der Unterwerfung, in dem die Besiegten den Vertragstext bedingungslos und ohne Verhandlungen entgegenzunehmen haben. Die Verweigerung von Verhandlungen – welche ja eine Beziehung zwischen gleichrangigen Verhandlungspartnern implizieren würden – resultiert also letztlich auch in der performativen Synthese (und damit Konstitution) bestimmter Identitätsnarrative: die der triumphalen Sieger und der unterworfenen Verlierer. 694 BROCKDORFF-RANTZAU, Ulrich Graf von (1920): Dokumente. Charlottenburg: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, S. 120. 695 Brief Walter Simons an seine Frau, in: SCHWABE 1997, S. 259f. 696 STAMPFER 1929, S. 49.

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Den „Stoff“ der entsprechenden Narrative beziehen die Akteure dabei aus den bereits in den vergangenen Abschnitten skizzierten Erfahrungen des Krieges sowie entsprechenden ethischen Vorstellungen über Kriegsschuld und Wiedergutmachung. An dieser Stelle liegt eine entscheidende Krux: die entsprechenden Deutungen der Akteure unterschieden sich diesbezüglich ganz erheblich. Gerd Krumeich hat diesen Punkt – also die Asymmetrie zwischen der deutschen und französischen Kriegserfahrung – überhaupt als eines der wesentlichsten Probleme der Pariser Friedenskonferenz identifiziert.697 Während in Frankreich die desaströsen Folgen des Krieges sehr präsent waren, hatte bis zu diesem Zeitpunkt kein deutscher Politiker die systematische Verwüstung durch deutsche Truppen in Augenschein genommen bzw. anerkannt.698 In Deutschland war die Ansicht weit verbreitet, dass man in einem - quasi aufgezwungenen – Verteidigungskrieg gekämpft habe, dessen Alleinschuld man keinesfalls annehmen konnte. Zudem hatte sich in einigen Kreisen noch die Vorstellung einer „im Felde ungeschlagenen“ Armee hartnäckig gehalten; eine Vorstellung, die später zum Nährboden für die unheilvolle sog. „Dolchstoßlegende“ werden sollte. Die Ansichten der Alliierten waren diesen Vorstellungen natürlich diametral entgegengesetzt. Die Repräsentationen von Identität in dieser Szene sind eng mit diesen Vorstellungen verbunden und besitzen eine starke emotionale Dimension, da sie auf die emotional aufgeladenen Fragen von Kriegsverbrechen und Kriegsschuld eine klare Antwort liefern. Auch die (in den letzten Abschnitten beschriebenen) impliziten Annahmen einer zu „zivilisierten Handeln unfähigen“ deutschen außenpolitischen Identität, spielte in diese Repräsentationen hinein. Unter den Vorzeichen unterschiedlicher Vorstellungen internationaler Ordnung – etwa der zivilisierten „internationalen Gemeinschaft“ nach Wilson – erscheint eine quasi „forcierte“ Repräsentation dieser Identitätsbilder als angemessen bzw. logisch. Die symbolische Konstitution der Identitäten der triumphalen Sieger und der unterworfenen Verlierer erscheint in dieser Hinsicht als gleichbedeutend mit „Opfern“ und „Verbrechern“, „Hütern der zivilisatorischen internationalen Ordnung“ vs. „Normtransgressoren“. Emotional sind sie insofern, als dass sie Gefühle von Selbstwert, Ehre und Würde tangieren – sowohl auf Seiten der Alliierten als „Hüter der zivilisatorischen Ordnung“, als auch auf der Seite der in diesem Sinne als „Verbrecher“ gebrandmarkten Deutschen. Brockdorff-Rantzaus Verhalten – wir können sicherlich davon ausgehen, dass er sich seiner aussichtslosen Lage sehr bewusst war – ließe sich in seiner Performanz also dergestalt deuten, dass er die verletzte Würde 697 KRUMEICH 2001, S. 55f. 698 Dies war sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass der Sonderzug der deutschen Delegation, die den Vertrag letztlich unterzeichnen sollte, besonders langsam durch die verwüsteten nordfranzösischen Gebiete durchgeleitet wurde; vgl. MÜLLER, Hermann (1929): Unterzeichnung im Spiegelsaal, in: SCHIFF 1929, S. 135-143, hier S. 137.

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durch demonstratives Verletzen zeremonieller Formen „wiederherzustellen“ versuchte – in dem er sitzenblieb und bewusst für Provokationen unter den „Unterwerfern“ sorgte. So banal und klein diese Geste im Rückblick erscheinen mag: durch sein „Sitzenbleiben“ versuchte er diese Brandmarkung als „Verbrecher“ auf einer „Anklagebank“ symbolisch-performativ abzuwehren und somit einer forcierten Identitätsrepräsentation einen Gegenentwurf entgegenzusetzen. Ganz allgemein sind der Ablauf der Szene bzw. die performative Dimension der Identitätsrepräsentationen jedoch als starke Indizien für eine andauernde Feindseligkeit zwischen den am Friedenschluss beteiligten Akteuren – und somit einer in keinster Weise friedlicher gewordenen internationalen Ordnung - anzusehen. In dieser doch recht kurzen Szene – insgesamt soll sie nur an die 45 Minuten gedauert haben699 - lassen sich also bereits einige Interpretationen bezüglich des Zusammenhangs zwischen Identitätsrepräsentationen und Vorstellungen internationaler Ordnung herausarbeiten. Wie ich im folgenden Abschnitt diskutieren werde, bleibt diese in der Überreichung der Friedensbedingungen bereits angebahnte Identitätskonstellation – und die entsprechend konstituierte Ordnung - anlässlich der Unterzeichnung des Vertrages unverändert und wird sogar performativ noch weiter verschärft. 5.3.4 Die Szene: Unterzeichnung im Spiegelsaal des Versailler Schlosses (28. Juni 1919) Die Frage, ob man den Vertrag letztlich unterzeichnen sollte oder nicht, geriet zur schwierigen Belastungsprobe für die junge deutsche Republik. In Versailles hatte die Delegation um Brockdorff-Rantzau in einem regen Notenwechsel – bzw. „Notenkrieg“700 - mit den Alliierten versucht, Widersprüche in den Bedingungen anhand der 14 Punkte nachzuweisen und detaillierte Gegenvorschläge zu unterbreiten. Parallel dazu begann man mit der Erarbeitung einer umfassenden Denkschrift zu den Friedensbedingungen. Letzten Endes erwiesen sich all diese Mühen jedoch als erfolglos: in einer ebenso umfangreichen Mantelnote wiesen die Alliierten am 16. Juni 1919 die deutschen Vorschläge und Argumentationen zurück und versahen die Aufforderung zur Unterzeichnung mit einem Ultimatum, nach dem die Bedingungen bei Nichtunterzeichnung mit einem Ende des Waffenstillstandes zu „erzwingen“ sein würden.701 699 STAMPFER 1929, S. 52. 700 KOLB 2005, S. 76; insgesamt wurden den Alliierten 17 Noten zugeleitet. 701 Ein Einmarsch alliierter Truppen in Deutschland war für diesen Fall vorgesehen; Georges Clemenceau an Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, Alliierte Mantelnote, in: SCHWABE 1997, S. 357-369.

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In der am Tage danach noch im Zug nach Weimar verfassten Denkschrift plädierte die deutsche Delegation indes darauf, diesen „unerträglichen“, „unerfüllbaren“, „rechtsverletzenden“ und „unaufrichtigen“ Vertragsentwurf abzulehnen, weil Deutschland ihn nicht annehmen und dabei als „unabhängige, auf die Wahrung ihrer Ehre bedachte Nation“ weiterleben könne.702 Im Zuge der damit einhergehenden erbitterten Kontroversen trat schließlich sowohl die Delegation um Brockdorff-Rantzau, als auch das Kabinett Philipp Scheidemanns am 20. Juni geschlossen zurück, womit sich Deutschland zunächst gänzlich ohne Regierung befand. Am 22. Juni gelang es der SPD und der Zentrumpartei jedoch in einem nicht unerheblichen Kraftakt, eine neue Regierung zusammenzustellen und – nach erneuten Notenwechseln mit den Alliierten bezüglich Vorbehalten und Fristen und schier endlosen Diskussionen in der Nationalversammlung – eine bedingungslose Annahme der Friedensbedingungen zu vermelden, zwei Stunden vor Ablauf des Ultimatums.703 Die Unterzeichnungszeremonie wurde daraufhin auf den 28. Juni terminiert – auch dies ein symbolisches Datum, da es den Jahrestag der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo markierte.704 Noch symbolträchtiger war jedoch die Wahl des Spiegelsaals des Versailler Schlosses als Ort der Zeremonie. Der majestätische Spiegelsaal ist der prunkvollste Raum im Schloss, 73 m lang, 10,5 m breit, 12,3 m hoch, erhellt von 17 Fenstern, denen auf der Gegenseite 17 verspiegelte Arkaden zwischen Marmorpfeilern entsprechen, sodass die Spiegelflächen die Raumtiefe in illusionärer Weise steigern. Das Deckenfresko ist ausgemalt mit Szenen aus den Kriegen Ludwigs XIV gegen Holland, Spanien und das Reich.705 Hier hatte, wie bereits erwähnt, 1871 die Proklamation des Kaiserreiches stattgefunden. Eigentlich hatte die Proklamation in erster Linie aus pragmatischen Gründen im Spiegelsaal stattgefunden: während der Belagerung von Paris befand sich das deutsche Hauptquartier in Versailles und der Spiegelsaal war der größte verfügbare Raum im Schloss, der sonst in diesen Monaten als Lazarett diente. Für die Franzosen stellte die Proklamation an diesem Ort – das „à tout les gloires de la France“ gewidmete Schloss des Sonnenkönigs Ludwig XIV – jedoch eine noch sehr lebendige historische Schmach dar.706 Mit der Unterzeichnung des Vertrages an dieser Stelle wurde sei-

702 Hauptdelegierte der deutschen Friedensdelegation, Denkschrift, in: SCHWABE 1997, S. 373377, hier S. 377. 703 KOLB 2005, S. 85. 704 MACMILLAN 2001, S. 487. 705 KOLB 2005, S. 8. 706 Ebd., S. 7.

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tens der französischen Gastgeber - Clemenceau soll sich persönlich um die Planung des Setting und des Ablaufes gekümmert haben707 - offensichtlich eine symbolische Tilgung dieser Schmach und die Wiederherstellung der „gloire“ verbunden. Der Saal wurde vor der Unterzeichnungszeremonie auf Hochglanz gebracht, prachtvolles Mobiliar und Tapisserien wurden geordert, die dieser Zeremonie ein entsprechendes „grandeur“ verleihen sollten.708

Abbildung 18:

Arrangement der Sitze im Spiegelsaal im Versailler Schloss vor der Unterzeichungszeremonie. Quelle: Wikicommons.

Insgesamt wurde die Zeremonie als großes mediales Ereignis inszeniert. Für die Veranstaltung wurden Tickets ausgegeben, jedem der Alliierten der „Großen Vier“ standen insgesamt 60 Tickets zu, weitere wurden verkauft. Die Tickets wurden zur begehrten Ware, horrende Preise sollen für sie unter der Hand angeboten

707 MACMILLAN 2001, S. 484. 708 Ebd., S. 484.

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bzw. gefordert worden sein.709 Erstmals in der Geschichte waren zudem Filmkameras und Presse bei der Unterzeichnung eines Friedensvertrages anwesend.710 Dies erzeugte einen bis zu diesem Zeitpunkt noch nie dagewesenen Grad an Öffentlichkeit, die einigen Berufsdiplomaten eher unangenehm aufstieß, wie etwa Harold Nicolson: „Es müssen Plätze für mehr als tausend Menschen da sein. Das nimmt der Zeremonie alles Besondere und daher alle Würde. Es wirkt wie ein Konzertsaal“.711 Frances Stevenson, die Sekretärin Lloyd Georges, merkte diesbezüglich in ähnlicher Weise an: „How can you concentrate on the solemnity of a scene when you have men with cameras in every direction, whose sole object is to get as near as they can to the central figures?“712 Derartige Zeremonien waren die teilnehmenden Akteure ausschließlich in exklusiverem Kreise gewohnt, was dem Setting in deren Wahrnehmung eine ungewohnte und dem historischen Anlass unwürdige „Zur Schau Stellung“ verlieh. Harold Nicolson war in Begleitung Headlam-Morleys zur Zeremonie aufgebrochen und merkte in diesem Sinne an: „[Headlam Morley] ist Historiker, aber er hat eine Abneigung gegen historische Szenen. Abgesehen davon ist er ein feinfühliger Mensch und hat keine Freude daran, eine große Nation gedemütigt zu sehen“.713 Die Inszenierung begann jedoch bereits bei der Ankunft der Delegationen am Schloss von Versailles. Von den äußeren Toren – an denen eine winkende Menschenmenge versammelt war - bis zum Eingang des Schlosses war die Avenue mit französischer Kavallerie in stahlblauen Helmen gesäumt, die rot-weißen Fähnchen an ihren Lanzen wehten im Wind. Vom Innenhof - wo weitere Truppen aufgestellt waren – gelangten die Delegierten über einen großen Treppenaufgang zu einem Vorzimmer des Spiegelsaals. An der Treppe war die Garde Républicaine in ihrer Festuniform aufgereiht, die Säbel zum Salut erhoben.714 Nicolson zeigte sich ob dieser Szene nicht unbeeindruckt: „Headlam-Morley und ich kriechen hastig aus unserem Wagen. Kommen uns sehr bürgerlich und schäbig vor. Und gänzlich überflüssig. (…) Das ist eine einschüchternde Angelegenheit, aber da sind noch andere Leute, die mit uns die Treppe emporsteigen.“715

Dennoch scheint ihm die gesamte Inszenierung unangenehm pompös gestaltet geworden zu sein:

709 710 711 712 713 714 715

MACMILLAN 2001, S. 485. MACMILLAN 2001, S. 476; STELLER 2011b, S. 9. NICOLSON 1933, S. 351. Zit. nach MACMILLAN 2001, S. 486. NICOLSON 1933, S. 349. MACMILLAN 2001, S. 486. NICOLSON 1933, S. 350.

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„‘Ich hasse Versailles‘, flüstere ich Headlam zu. ‚Sie hassen was?‘ gibt er zurück, da er ein bißchen taub ist. ‚Versailles‘ widerhole ich. ‚Oh‘, sagt er, ‚Sie meinen den Vertrag.‘ – ‚Welchen Vertrag?‘ sage ich – und denke an 1871. (…) ‚Diesen Vertrag‘, erwiedert er. ‚Oh‘, sage ich, ‚ich verstehe was sie meinen – den deutschen Vertrag.‘ Und er wird natürlich nicht der Vertrag von Paris heißen, sondern der Vertrag von Versailles. ‚A tout les gloires de la France‘.“716

Abbildung 19:

Vollbesetzter Spiegelsaal kurz vor der Eröffnung der Unterzeichungszeremonie. Quelle: Wikicommons

Für die deutsche Regierung hatten sich Außenminister Hermann Müller (SPD) und Johannes Bell (Zentrum), Verkehrsminister und Minister für die Kolonien, zur Unterzeichnung bereitgefunden. Begleitet wurden sie von Geheimrat Schmitt vom AA, LeSuire vom Wirtschaftsministerium, dem Völkerrechtler und Mitarbeiter Walter Schückings, Prof. Herbert Kraus, sowie einem Dolmetscher.717 Kurz vor 15 Uhr wurde die deutsche Delegation von einer militärischen Ehreneskorte von 716 Ebd. 717 STELLER 2011a, S. 451. Überhaupt jemand von der neuen Regierung zu finden, der sich zur Unterzeichnung bereit erklärte, war alles andere als einfach gewesen, vgl. dazu die Ausführungen Herman Müllers; MÜLLER 1929, S. 136.

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vier Obersten der Alliierten (ein Franzose, ein Engländer, ein Brite und ein Italiener) abgeholt, die sie zum Spiegelsaal eskortieren sollte.718 Die Raumeinteilung des Spiegelsaals war für die Zeremonie dergestalt arrangiert, dass gegenüber einer hufeisenförmigen Tafel, an der die Alliierten Platz nahmen, ein kleiner Tisch für die Unterzeichnung aufgestellt war. Harold Nicolson beschreibt dieses Arrangement ausführlich: „Wir betreten den Spiegelsaal. Er ist in drei Teile geteilt. Drüben am anderen Ende steht die Presse bereits dicht gedrängt. In der Mitte steht eine hufeisenförmige Tafel für die Bevollmächtigten. Davor, wie eine Guillotine, der Tisch, an dem die Unterzeichnung vor sich gehen soll. Er steht angeblich auf einer Estrade, aber wenn dem so ist, kann die Estrade höchstens ein paar Zoll hoch sein. Auf unserer Seite stehen Reihen und Reihen von Taburetts für die bevorzugten Gäste, die Abgeordneten, die Senatoren und die Mitglieder der Delegationen.“719

Abbildung 20:

OLIVIER, Herbert A. (1919): Sketch of the Table in the Hall of Mirrors at which the Treaty of Versailles was Signed. Quelle: Imperial War Museum.

Der Gastgeber Clemenceau befand sich bereits im Raum als die Zuschauer sich langsam auf ihren Plätzen einfanden. Über ihm war der Schriftzug „Le roi gouverne par lui-même“ zu lesen, ein Bild, dem Nicolson in seinen Memoiren eine

718 MÜLLER 1929, S. 138. 719 NICOLSON 1933, S. 350f.

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irritierende Symbolik abringt.720 Headlam-Morley vermisste am Eintritt der Bevollmächtigten in den Spiegelsaal indes insgesamt etwas Feierlichkeit: „There was very little ceremony or dignity. The plenipotentiaries all walked in casually with the crowd; they ought to have had us all seated first and then have announced them and let them come in with some kind of dignity.“721 Ein weiteres Detail im Setting der Zeremonie war vor dem Eintritt der Zuschauer und Delegationen bereits arrangiert und stellte eine Innovation bei Zeremonien dieser Art dar: Clemenceau hatte darauf bestanden, dass Kriegsversehrte der Unterzeichnung beiwohnen sollten. Dabei handelte es sich jedoch um eine besondere Art von Kriegsversehrten – die sogenannten „gueules cassées“ oder Gesichtsversehrte -, die durch ihre stark entstellten Gesichter das bis dahin noch neue und außerordentlich brutale Ausmaß der körperlichen Verstümmelung durch moderne Waffen besonders sichtbar „verkörperten“.722 Am Morgen der Zeremonie wurden die fünf Männer in ihren Uniformen und Auszeichnungen nach Versailles gebracht und anschließend zusammen mit anderen Kriegsversehrten vor einer Fensternische hinter dem Tisch platziert, an dem die Unterzeichnung stattfinden sollte. Die Delegierten würden ihnen also bei der Vertragsunterzeichnung den Rücken zuwenden müssen.723 Neben dem hier abgebildeten Foto gibt es jedoch keine weiteren filmischen Belege für deren Anwesenheit, die gueules cassées wurden weder von den Pressekameras erfasst, noch sind sie im französischen Film über die Unterzeichnung zu sehen.724 Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch die Berichterstattung der französischen Presse über die Anwesenheit der Delegation der Fünf („les Cinq“) sowie über deren Zusammentreffen mit Clemenceau. Wie die Zeitung Le Petit Parisien vom 29. Juni berichtete, sei dieser bei seinem Eintritt in den Spiegelsaal – etwa eine Stunde vor Beginn der Zeremonie – als erstes zu den gueules cassées gegangen und sie persönlich begrüßt. In seinem Gespräch mit ihnen soll er indes verkündet haben: „Ihr habt gelitten, aber jetzt erhaltet ihr eure Belohnung“, woraufhin er auf den Friedensvertrag auf dem kleinen Tisch gedeutet habe.725 720 NICOLSON 1933, S. 351. 721 HEADLAM-MORLEY 1972, S. 178. 722 Vgl. auch zur individuellen Geschichte der fünf „gueules cassées“ AUDOIN-ROUZEAU, Stéphane (2001): Die Delegation der „gueules cassées“ in Versailles am 28. Juni 1919, in: KRUMEICH 2001, S. 282. 723 Ebd., S. 284. 724 Ebd, S. 281 (Anm. 2). Das hier abgebildete Bild der gueules cassées erschien als Andenkenpostkarte anlässlich der Unterzeichnung des Friedensvertrages; La délégation “Les Cinq” gueules cassées à Versailles, carte postale, Exposition de la Bibliothèque Interuniversitaire de Médecine, Paris; http://www.bium.univ-paris5.fr/1418/debut.htm, 26.8.2015. 725 Le Petit Parisien, Sonntag 29.7.1919, S. 1; zit. nach AUDOIN-ROUZEAU 2001, S. 284.

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Abbildung 21:

Foto der gueules cassées, erschienen als Andenkenpostkarte anlässlich der Unterzeichnung des Friedensvertrages. La délégation “Les Cinq” gueules cassées à Versailles, carte postale. Quelle: Exposition de la Bibliothèque Interuniversitaire de Médecine, Paris.

Einer der Fünf, der Gefreite Albert Jugon, hatte sich nach der Zeremonie zur Anwesenheit der gueules cassées ausführlicher geäußert – eine Rede, die einiges über deren repräsentative Rolle vermittelt: „Indem die französische Regierung uns ausgewählt hat, demonstrierte sie ihren Willen, den deutschen Delegierten die schmerzhaften Konsequenzen des Krieges zu demonstrieren, den sie verschuldet haben. Zugleich demonstrierte sie, daß der Friede, den wir feiern, teuer bezahlt wurde. Als wir die deutschen Delegierten sahen, wie sie sich in diesem grandiosem Saal, wo so viele ruhmreiche Seiten unserer Geschichte geschrieben wurden, herunterbeugten, um die Niederlage ihres Landes zu besiegeln, vergaßen wir alles Elend der Vergangenheit, und unser Herz schwoll an von einer Freude, die kaum zu bewältigen war, und an der wir in Gedanken all unsere Brüder teilnehmen ließen, die auf dem Feld der Ehre gefallen sind.“726

Hier klingen also bereits einige Bedeutungsdimensionen der Anwesenheit der gueules cassées an. Wie Stéphane Audoin-Rouzeau in seinem Artikel interpretiert, 726 Le Petit Parisien, Montag 30.7.1919, S. 1, zit. nach Ebd., S. 286.

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erscheint hier die Geste der Verbeugung des Kriegsgegners für sie quasi als „Exorzismus“, der den Schmerz über den Gesichtsverlust – und somit der eigenen Identität - über die Erniedrigung des Feindes gewissermaßen „austreibt“.727 In ihrer Anwesenheit findet die (im letzten Abschnitt bereits thematisierte) Identitätskonstellation der „Opfer“ und „Täter“ und die entsprechenden Vorstellungen über Kriegsschuld und Wiedergutmachung im buchstäblichen Sinne „verkörpert“ ihren Ausdruck. Die gueules cassées waren als „Repräsentanten des verstümmelten Frankreichs“728 im Rücken der Kriegsgegner gewissermaßen „Zeugen des Krieges, Kläger und Richter“729 zugleich – sie erfüllten den Zweck, den deutschen Delegierten ihre Schuld und Verantwortung für begangene Verbrechen wortwörtlich „vor Augen zu führen“.

Abbildung 22:

ORPEN, William: The Signing of Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919. Quelle: Wikicommons.

727 Ebd., S. 286. 728 So hieß es wortwörtlich in der 1959 veröffentlichten Todesanzeige Albert Jugons; Ebd., S. 287. 729 Le Petit Parisien, Sonntag 29.7.1919, S. 1; zit. nach Ebd., S. 287.

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Doch nochmals zurück zum Ablauf der Zeremonie. Als sich alle Vertreter der Alliierten sowie Delegationsmitglieder eingefunden hatten, gab Clemenceau den Saaldienern ein Zeichen, die daraufhin für Ruhe im Saal sorgten. Auf die darauf folgende Stille folgte ein scharfer militärischer Befehl, nach dem die Gardes Républicains ihre Säbel „mit einem lauten Klick“730 versorgten. „Faites entrer les Allemands!“ ordnete Clemenceau an, woraufhin zwei Hussiers mit Silberketten durch die Tür am Ende des Saales eintraten. Hinter ihnen traten die vier Obersten der „militärischen Ehreneskorte“ ein, gefolgt von den beiden deutschen Bevollmächtigten Hermann Müller und Johannes Bell, die zu den für sie vorgesehenen Plätzen geführt wurden. Nicolson beschreibt seine Eindrücke dieser Szene sehr eindringlich, offensichtlich entsprach der Anblick der Deutschen für ihn nicht den stereotypen Identitätsbildern, die den Deutschen gemeinhin zugeschrieben wurden: „Sie halten die Blicke von diesen zweitausend sie anstarrenden Augen hinweggerichtet, zum Deckenfries empor. Sie sind totenbleich. Sie schauen nicht aus wie die Repräsentanten eines brutalen Militarismus. Der eine ist schmächtig, mit rötlichen Augenlidern: die zweite Geige in einem Kleinstadtorchester. Der andere hat ein Mondgesicht und sieht leidend aus: ein Privatdozent. Das Ganze ist höchst peinvoll.“731

„Messieurs“ eröffnet Clemenceau daraufhin die Zeremonie, „la séance est ouverte“. Nach einer kurzen formellen Ansprache Clemenceaus stand Herman Müller auf, im Begriff, sofort zur Unterzeichnung des Vertrages zu schreiten. Dieser wurde dabei jedoch vom Zeremonienmeister William Martin schroff aufgefordert, sich wieder zu setzen, bis der Dolmetscher der Konferenz, Lieutenant Mantoux, die Ansprache ins Englische übersetzt.732 Wie der US-amerikanische Journalist Harry Hansen die Szene erinnerte, übersetzte dieser jedoch den Begriff „l‘empire allemande“ als „the German republic“, woraufhin ihm Clemenceau korrigierend zuraunte „say German Reich!“.733 Nach dieser kurzen Ansprache wurden die beiden deutschen Bevollmächtigten schließlich zum kleinen Unterzeichnungstisch – Nicolsons „Guillotine“ – geleitet, um die Unterschrift zu leisten: „Allgemeine Spannung. Sie unterzeichnen. Allgemeine Entspannung.“734 Ein interessantes Detail in diesem Zusammenhang ist, dass die deutschen Bevollmächtigten mit ihren eigenen Füllfederhaltern unterzeichneten, um nicht die bereitliegenden französischen Federn zu verwenden. Hermann Müller begründet diese Geste in seinen Erinnerungen: 730 731 732 733

Vgl. auch zu der Schilderung der Szene allgemein NICOLSON 1933, S. 352. Ebd. Ebd. U.S. Press Journalist Harry Hansen on the Versailles Signing Ceremony, 28 June 1919, Firstworldwar.com – A Multimedia History of the First World War; http://www.firstworldwar.com/ source/parispeaceconf_signing.htm, 22.05.2019. 734 NICOLSON 1933, S. 352.

5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

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„Mit dem Füllfederhalter verhält sich die Sache so: schon in Weimar war mir bekannt geworden, daß nach Berichten der französischen Blätter beabsichtigt war, die Unterschriften mit einem besonderen Füllfederhalter vollziehen zu lassen, den die elsaßlothringischen Verbände Frankreichs und der französischen Kolonien gestiftet hätten. Schon damals war ich entschlossen, dieser uns bewußt zugedachten Demütigung vorzubeugen, in dem ich mit meiner Füllfeder unterschreiben würde.“735

Letztlich schien dieses Gerücht jedoch nicht zuzutreffen – Müller merkt an dieser Stelle selbst an, dass vor jedem Delegierten Tintenfass und Feder bereitlagen, man also auch so den evtl. ausgelegten elsass-lothringischen Federn hätte ausweichen können.736 Dennoch schien diese Geste für Müller – ähnlich wie die des „Sitzenbleibens“ Brockdorff-Rantzaus bei der Überreichung der Friedensbedingungen – die Bewahrung eines kleinen Restes an Würde im Angesicht der „bewußt zugedachten Demütigung“ zu bedeuten. Nach der deutschen Delegation wurden die restlichen 26 Delegationen zur Unterzeichnung aufgerufen. Die vorherrschende feierliche Stille wich jedoch schnell einer „allgemeinen Unruhe“ und „steigerte sich zum Wirrwarr, als einige der Delegierten auf den Gedanken kamen, Unterschriften als persönliche Andenken zu sammeln“.737 In rascher Reihenfolge wurde der Vertrag von allen Delegierten unterzeichnet, woraufhin von draußen ein Donnern der Geschütze zu hören war, die feierlich verkünden sollten, dass der Vertrag unterzeichnet wurde. Mit den knappen Worten Clemenceaus - „la séance est levée“ - wurde die Zeremonie schließlich geschlossen. Nicolson erinnerte diesen „letzten Akt“ wie folgt: „Wir blieben noch sitzen, während die Deutschen abgeführt wurden wie Sträflinge von der Anklagebank, die Augen noch immer auf irgendeinen festen Punkt am Horizont gerichtet.“738 Während die Menge sich langsam aus dem Saal zurückzog und die „großen Vier“ in der Menschenmenge verschwanden, die sie draußen empfing, blieben er und Headlam-Morley noch im Saal: „Als ich mich umwende, sehe ich Headlam-Morley kläglich inmitten der wirren riesigen Leere des Spiegelsaals stehen. Wir reden kein Wort miteinander. Das Ganze ist zu widerlich gewesen. (…) Nachher im Hotel große Feier. Wir werden mit Sekt regaliert auf Kosten der Steuerzahler. Es ist sehr schlechter Sekt. Gehe nachher noch auf die Boulevards hinaus. Zu Bett, krank vor Lebensekel“.739

735 MÜLLER 1929, S. 138. 736 Ebd. 737 Der Delegierte Boliviens fragte als einziger auch nach den „Autogrammen“ Müllers und Bells, die diese – nach kurzer Irritation – auch anstandslos gaben; MÜLLER 1929, S. 141. 738 NICOLSON 1933, S. 353. 739 Ebd, S. 354f; die Formulierung im englischen Original lautet „To bed, sick of life“, NICOLSON, Harold (1933): Peacemaking 1919. London: Constable, S. 371.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

Ähnlich – wenn gleich nicht unbedingt genauso drastisch – wie bei Nicolson wird die allgemeine „Dramaturgie“ der Zeremonie in den meisten Memoiren als problematisch beschrieben, da sie offensichtlich nicht darauf ausgerichtet war, symbolisch zu vermitteln, was einen Friedensschluss eigentlich ausmachen sollte: ein Wandel in den Beziehungen von sich konfliktiv gegenüberstehenden Akteuren. Die von beiden Seiten demonstrativ repräsentierte Feindschaft wurde von vielen als anstößig und in hohem Maße „undiplomatisch“ empfunden. Der britische Staatssekretär Lord Hardinge kommentierte die Zeremonie in diesem Sinne: „It might well have been a ceremony of much dignity and historic interest, but I regret to say that owing to the manner in which it was conducted those who were present can only recall it with a sense of disgust and dissatisfaction.“740

Doch nicht nur die britische Delegation fasste den Ablauf der Zeremonie negativ auf. Auch der französische Botschafter in London, Paul Cambon, kritisierte die dramatisierte Inszenierung. Die Vertragsparteien seien zur Unterzeichnung in einer „Art von Theater“ platziert worden, was in seinen Augen einem derartigen diplomatischen Anlass vollkommen unwürdig gewesen sei: „They lack only music and ballet girls, dancing in step, to offer the pen to the plenipotentiaries for signing. Louis XIV liked ballets, but only as a diversion; he signed treaties in his study. Democracy is more theatrical than the great king!“741

Auch der amerikanische Präsidentenberater Colonel House sah die Dramaturgie der Zeremonie kritisch, nicht zuletzt auch, weil die fehlende diplomatische „Ritterlichkeit“ im Umgang mit den Besiegten dem Geiste der idealistischen Politik Wilsons in jeglicher Hinsicht widersprach: „To my mind it is out of keeping with the new era which we profess an ardent desire to promote. I wish it would have been more simple and that there might have been an element of chivalry, which was wholly lacking.“742 Eine der pointiertesten Einschätzungen findet sich indes in den Memoiren Headlam-Morleys, der hier sehr explizit auf seine Wahrnehmung eingeht, nach der die Zeremonie nicht nur symbolisch unglücklich, sondern darüber hinaus auch aus politischen Gesichtspunkten heraus desaströs gewesen sei: „When the signing was finished, the session was closed, and the Germans were escorted out again like prisoners who had received their sentence. Nobody got up or took any notice of them, and there was no suggestion that, the peace having been 740 HARDINGE of PENHURST, Charles (1947): Old Diplomacy, S. 239; zit. nach STELLER 2011a, S. 457 (Anm. 480). 741 Zit. nach MACMILLAN 2001, S. 487; Der Wortlaut im französischen Original lautet: “la démocratie est plus théâtrale que le Grand Roi“; Paul an Jules Cambon, 28.6.1919, zit. nach STELLER 2011a, S. 456. 742 SEYMOUR, Charles (1928): The Intimate Papers of Colonel House (Bd. 4), London: Penn, S. 502, zit. nach STELLER 2011b, S. 9.

5.3 „Democracy is more theatrical than the great king!“: Die Pariser Friedenskonferenz (1919)

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signed, any change of attitude was to be begun. Looking back, the whole impression seems to me, from a political point of view, to be disastrous. The only thing which was forced on one by the whole scene was that it was the revenge of France for 1871. (…) France now once more having got the upper hand was having her revenge for the injury done to her, and in every detail complied with the utmost insult to Germany, and it was merely an episode in the secular rivalry of two nations which has been the curse of Europe. As a matter of fact, what was really being done was not merely to make peace with Germany, but to sign the Covenant of the League of Nations, but of this no one seemed to think. France again was up and Germany was down, but it was a France which is not strong enough to maintain her position by herself, and is entangling the world to make the new system merely a support of France against Germany. Just the necessary note of reconciliation, of hope, of a change of view, was entirely wanting.”743

5.3.5 Das große Bild: Identitätspraxis und internationale Ordnung Die vorausgegangenen Bewertungen der Szene suggerieren bereits einige Schlussfolgerungen bezüglich der Konstitution sozialer (internationaler) Ordnung durch die Repräsentation spezifischer und zum Teil emotional hoch aufgeladener Identitätsnarrative. Allgemein sind sich die Beobachter darin einig, dass die Zeremonie politisch ein Fiasko war, da sie ihr eigentliches Ziel – „transformative Kraft“744 im Sinne einer eine positiven Veränderung der Haltung ehemaliger Kriegsgegner zu entwickeln – nicht nur verfehlte, sondern eher das Gegenteil erreichte. Die zuletzt zitierten Erinnerungen Headlam-Morleys und Colonel Houses ließen sich in diesem Sinne als Kritik einer - als äußerst problematisch wahrgenommenen - symbolischen Konstitution konfliktiver internationaler Ordnung interpretieren. Jenseits der konkreten Inhalte des Friedensvertrages war es in deren Perspektive auch und besonders die Inszenierung der Unterzeichnung, die eine weiterhin auf Feindschaft beruhende Akteurskonstellation widerspiegelte bzw. vertiefte. Und dies – wie Headlam-Morley beklagt - sogar bis zu dem Extrem, dabei den eigentlichen Meilenstein in der Konstitution einer „neuen“ internationalen Ordnung in der Wahrnehmung der Akteure vollkommen auszublenden: die Gründung des Völkerbundes. Die Analyse der Situation anhand des Identitätsmodells dieser Arbeit ist dabei durchaus hilfreich, die verschiedenen Dimensionen der Ursachen dieses „Fiaskos“ aufzuzeigen. Wenn wir den Blick auf die narrative Dimension der Identitätspraktiken in dieser Szene werfen, fallen zunächst die historischen „Erzähllinien“ ins Auge, mit denen die Zeremonie verflochten wird. Die Wahl des Spiegel-

743 HEADLAM-MORLEY 1972, S. 178f. 744 STELLER 2011a, S. 459.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

saals von Versailles steht im Zusammenhang mit der französischen Erfahrung historischer Schmach durch die Proklamation des deutschen Reiches von 1871 an dieser Stelle; eine Erfahrung, die wiederum auf der „Erzählung“ der Bedeutung des Schlosses von Versailles – gewidmet „a tout les gloires de la France“ – anknüpft. Die Zeremonie als symbolischer Vollzug der Niederlage des Kriegsgegners an just dieser Stelle verbindet all diese Narrative in einem Versuch, die historische Schmach zu revidieren. Zudem wird durch die Synthese dieser Narrative ein spezifisches Identitätsverhältnis zwischen den beiden Parteien performativ konstituiert: das der Sieger und der Besiegten. Überhaupt ist die ausgeprägt binäre Identitätsformation auffällig, die auf unterschiedlichen Ebenen und durch die Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative konstituiert wird. Neben dem augenfälligen Gegensatz der „Sieger“ vs. der „Besiegten“ kommen noch weitere Gegensätze zum Tragen, die auf den unterschiedlichen Kriegserfahrungen sowie unterschiedlichen Verständnissen internationaler Ordnung basieren. Zum einen werden an das Bild der „Besiegten“ auch Vorstellungen über den Kriegsverlauf und die Kriegsschuld geknüpft – der „Besiegte“ erscheint zudem auch als „Täter“ im Sinne einer Verletzung völkerrechtlicher Normen. Im Kontext der binären Gegenüberstellung ergibt sich dementsprechend ein Bild der „Sieger“ als „Hüter der zivilisatorischen Ordnung“, die über die mutmaßlichen „Normtransgressoren“ richten müssen. Dies steht in engem Zusammenhang mit Vorstellungen einer auf der Einhaltung spezifischer Normen basierenden „internationalen Gemeinschaft“, wie sie insbesondere im liberal-idealistischen Ordnungsmodell Wilsons ihren Ausdruck findet. Die erfolgreiche Internalisierung sowie Einhaltung dieser Normen erscheint hierbei als wesentliches Charakteristikum legitimer Akteursschaft und Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der „internationalen Gemeinschaft zivilisierter Nationen“. Ein „Täter“ bzw. „Normtransgressor“ sei – so der einhellige Tenor der Entscheider der Konferenz – zu zivilisiertem Handeln prinzipiell nicht fähig und somit erscheint dessen Ausschluss von Verhandlungen nur konsequent bzw. logisch. Die performative Repräsentation der „Täter“ impliziert jedoch auch das entsprechende Bild des „Opfers“, das im Setting der Zeremonie ebenso augenfällig repräsentiert wird. Die Anwesenheit der gueules cassées verdeutlicht diese Identitätskonstellation in besonders plastischem Maße, denn in ihnen werden die Vorstellungen über Kriegsschuld und Wiedergutmachung der „Opfer“ und die entsprechende Anklage an die „Täter“ im buchstäblichen Sinne „verkörpert“ vermittelt. Als „Repräsentanten des verstümmelten Frankreichs“ erschienen sie als personifizierte Anklage an die „Täter“, gewissermaßen ein pars pro toto des „versehrten Körpers“745 der französischen Nation. Die bereits zitierte Interpretation, 745 STELLER 2011a, S. 466.

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nach der Albert Jugon (der „Sprecher“ der gueules cassées) höchste Befriedigung – quasi einen „Exorzismus des Schmerzes“ - in der Geste der Demut der Täter fand (durch die die Beugung zur Unterzeichnung der Niederlage), verdeutlicht dabei das Verlangen nach Reue und Buße – eine Haltung, die die „Täter“ bis dahin gänzlich hatten vermissen lassen. Diese Repräsentationen basieren dabei auf der bereits zitierten Problematik der unterschiedlichen Kriegserfahrung: Erfahrungen, die auf beiden Seiten unterschiedliche „Verlaufsnarrative“ zu Krieg und Schuld beinhalten, und schließlich eine forcierte performative Synthese verschiedener binärer Identitätsnarrative begründen. Die Identitätspraktiken, die diese performativen Synthesen vermitteln, sind - neben dem recht augenfälligen Beispiel der Anwesenheit der gueules cassées - jedoch in der gesamten Choreographie des Unterzeichnungsritus zu erkennen. Dass die deutschen Delegierten in den Saal hereinbzw. herausgeführt wurden – wie „Sträflinge von der Anklagebank“, wie Nicolson anmerkt – unterstreicht performativ das binäre Verhältnis zwischen „Sieger und Besiegten“, „Richtern und Angeklagten“ bzw. „Hütern der zivilisatorischen Ordnung“ und den zu bestrafenden „Normtransgressoren“. Dass diese Identitätspraktiken dabei eine starke emotionale Dimension besitzen, liegt natürlich auf der Hand; wie Headlam-Morley in seinen Erinnerungen auf den Punkt bringt, vermittelte die Zeremonie vor allem das Motiv der anhaltenden Feindschaft, der Rache und Vergeltung für vergangenes Leid und historische Schmach. Die Anwesenheit der gueules casées sowie die ihnen von Clemenceau angekündigte (und laut Albert Jugon auch als solche empfundene) Genugtuung bei der „symbolischen Vergeltung“, der Unterzeichnung des Vertrags, verdeutlicht dies sicherlich am plastischsten. Damit verbunden sind sehr starke Emotionen wie die der Trauer und des Schmerzes, die jedoch in dieser Szene in erster Linie auf die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich fokussiert wurden: Kriegsversehrte aus anderen Nationen waren nicht zur Zeremonie geladen, übrigens ebenso wenig wie trauernde Frauen.746 Vor allem tangieren diese Praktiken jedoch Empfindungen nationaler Ehre und Würde bzw. der Demütigung und Entwürdigung. Die Vergeltung des historischen Leides durch eine dramatisch inszenierte Niederlage – zudem an einem wortwörtlich „a tout les gloires de la France“ gewidmeten Ort – bringt diese Emotionalität symbolisch-performativ zum Ausdruck. Auch an der Reaktion der auf diese Weise vorgeführten „Täter“ wird dieses emotionale Motiv deutlich. Sie versuchen, durch kleine aber doch bedeutungsgeladene Gesten – wie etwa die Unterzeichnung des Vertrages mit der eigenen Feder -, sich dieser „bewußt zugedachten Demütigung“ (Hermann Müller) zu entziehen, und sich auf diese Weise in ihrer Wahrnehmung zumindest einen Teil ihrer Würde 746 Das Leid des Krieges erscheint insofern stark militarisiert, maskulinisiert und auf Frankreich begrenzt; AUDOIN-ROUZEAU 2001, S. 286.

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

zu bewahren. Interessanterweise ist es nach Müller auch die bewusste Unterdrückung jeglicher (sichtlicher) Emotionalität, die ihm zur Bewahrung der Würde diente: „Nichts in meiner Haltung, in meinem Gang, in meinem Blick, in meinen Bewegungen sollte zu irgendwelchen Deutungen Anlaß geben. Ich wollte den tiefen Schmerz des deutschen Volkes, das ich in diesem tragischen Augenblick vertreten mußte, nicht den gierigen Blicken unserer bisherigen Feinde preisgeben. Das war mir nicht nur äußerlich gelungen – im ‚Temps‘ und in anderen Blättern wurde ausdrücklich betont, daß es unmöglich gewesen wäre, irgend etwas aus unseren Blicken und Bewegungen herauszulesen -, sondern ich hatte es bei der Durchführung dieses Vorsatzes sogar so weit gebracht, alle inneren Regungen zu unterdrücken. Welche ungeheure Nervenanspannung diese Haltung kostete, das sollte ich erst merken, als ich wieder allein war. In derselben Sekunde, in der ich in meinem Zimmer Hut und Gehrock ablegte, um mich umzukleiden, strömte der Schweiß aus allen Poren in einer Weise, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Das war eben die physische Reaktion, die dieser unerhörten psychischen Belastungsprobe unmittelbar folgte. Und nun erst fühlte ich, daß ich die schwerste Stunde meines Lebens hinter mir hatte.“747

Entsprechend der Annahmen zur emotionalen Dimension des Identitätsmodells dieser Arbeit erfolgt hier also eine kompensierende Handlung in Reaktion auf eine empfundene Identitätskränkung (vgl. Abschnitt 3.1.3). In dieser Situation „Contenance“ zu wahren, entsprach für Müller der Bewahrung von Würde im Angesicht der empfundenen Demütigung.748 Doch auch die Identitätsbilder der „Sieger“ weisen einen hohen emotionalen Gehalt im Sinne von Empfindungen nationaler Ehre und Würde auf. Getreu der im Abschnitt 3.1.3 dargelegten Annahmen, besitzen normativ aufgeladene Identitätsnarrative einen engen Bezug zu Empfindungen von Würde und Selbstwert. Das Narrativ des „Hüters der zivilisatorischen Ordnung“ impliziert durch den darin enthaltenen hohen normativen Gehalt ebenfalls starke emotionale Konnotationen, die in der Identitätserfahrung als aufwertend empfunden werden können. In der Synthese mit dem Narrativ des „Opfers“ begangener (Kriegs-)Verbrechen ergibt sich in diesem Fall eine geballte emotionale Aufladung der synthetisierten Identitätsnarrative bzw. der binären Identitätskonstellation zwischen „Siegern und Besiegten“. Diese Konstellation konstituiert wiederum eine soziale Ordnung, die auf negativen Identifikationen zwischen den Akteuren beruht und einen Friedenszustand somit erheblich erschwert, um nicht zu sagen konterkariert.

747 MÜLLER 1929, S. 142. 748 Vgl. STELLER 2011a, S. 460; überhaupt ließe sich die Wahrung von „Haltung“ als einen wichtigen Bestandteil diplomatischer Kultur in ihrer emotionalen Dimension verstehen; Ebd.

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Eine Reaktion auf diese emotionale Aufladung lässt sich in den Bewertungen der Beobachter indes ebenso deutlich erkennen. Wie in den bereits zitierten Erinnerungen zeigten sich viele Beobachter ob der - für alle Anwesenden deutlich erkennbaren - demonstrativen Demütigung abgestoßen oder zumindest peinlich berührt. Nicolson, der die Zeremonie als „widerlich“ und „peinvoll“ empfand, und nach den Eindrücken des „verhassten“ Versailles sich gar „krank vor Lebensekel“ zurückzog, ist sicherlich eines der am drastischsten formulierten Zeugnisse. Doch auch die in den Bewertungen attestierte übersteigerte Theatralität (Cambon), die fehlende „Ritterlichkeit“ (Colonel House) und „Würde“ (Headlam-Morley) zeugen davon, dass die Inszenierung in den Augen der Beobachter grundlegende Vorstellungen diplomatischer „emotionaler Kultur“749 verletzte: im Friedenschluss keine intendierten Identitätskränkungen vorzunehmen bzw. zu inszenieren und ein Mindestmaß an Gesichtswahrung der ehemaligen Kriegsparteien zu gewährleisten. Dass die Szene in diesem Sinne jegliche Angemessenheit vermissen ließ resultiert letztlich fast zwangsläufig im Urteil, die ganze Veranstaltung als politisches „Fiasko“ aufzufassen. Rekapitulieren wir schließlich nochmals die Frage, in welcher Art und Weise durch die Identitätspraktiken dieser Zeremonie internationale Ordnung konstituiert wird. Wie bereits diskutiert, scheitert die Zeremonie dabei, einen wesentlichen symbolischen Sinn einer solchen Inszenierung zu erfüllen: „transformative Kraft“750 im Sinne einer eine positiven Veränderung der Haltung ehemaliger Kriegsgegner zu entwickeln. Durch die Identitätspraktiken, die sowohl im Ablauf, Setting als auch der Handlungen der Akteure deutlich werden, wird eine nach wie vor auf Rivalität und Feindschaft gründende Identitätskonstellation zentraler Akteure der politischen Ordnung in Europa konstituiert. Die intendierte Entwürdigung des Kriegsgegners und die damit verbundenen Ehr- und Identitätskränkungen (bzw. –aufwertungen) verstärkten diese Konstitution von Ordnung in ihrer emotionalen Dimension. Damit wurde eine – für einen Friedensschluss doch eigentlich wesentliche – Aussöhnung bzw. Veränderung der gegenseitigen Haltungen erschwert, um nicht zu sagen verunmöglicht, womit die auf diese Weise konstituierte Ordnung auch schwer zur Gewährleistung eines nachhaltigen Friedens taugen konnte. So postuliert auch etwa die historische Friedensforschung von der Moderne bis in die Gegenwart einen engen Zusammenhang zwischen mentaler Aussöhnung, Gewaltminderung und einem wechselseitigen Ausgleich von Vorstellungen von „Ehre“.751 In diesem Sinne ließe sich für die Pariser Friedenskonferenz eine „mentale

749 Vgl. auch hierzu die entsprechenden Ausführungen in Abschnitt 3.1.3. 750 STELLER 2011a, S. 459. 751 DÜLFFER, Jost (2001): Versailles und die Friedenschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: KRUMEICH 2001, S. 1-34, hier S. 25.

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Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluss“ diagnostizieren.752 Die emotionale Dimension des Analysemodells dieser Arbeit macht an dieser Stelle einen zentralen Zusammenhang offenbar: Emotion macht nicht nur Identität erfahrbar, sie macht auch die durch Identitätspraxis konstituierte Ordnung auf eine spezifische Art und Weise erfahrbar. Jenseits der „harten Fakten“ eines Friedensvertrages spielt diese „Erfahrungsdimension“ meines Erachtens eine zentrale Rolle bei der Nachhaltigkeit von (Friedens-)Ordnungen. Eine Ordnung, die primär auf negativen Identitätskonstellationen zwischen Akteuren basiert und durch zentrale Akteure bzw. die breite Öffentlichkeit als sehr negativ bzw. entwürdigend erfahren wird, kann schwer zu einer stabilen bzw. friedlichen internationalen Ordnung beitragen. Die exklusive Dynamik der binären Identitätskonstellation der „Hüter der zivilisatorischen Ordnung“ vs. der „Normtransgressoren“, verschärft diese Problematik zusätzlich, da letzteren die Fähigkeit zu zivilisiertem Handeln sowie die Mitgliedschaft in der „internationalen Gemeinschaft“ bzw. die Partizipation an internationalen Beziehungen an sich abgesprochen und somit ein exklusiver Kreis „zivilisierter Nationen“ bzw. legitimer Akteure geschaffen wird. Dass sich die Exklusion von „Normtransgressoren“ auf deren Sozialisation eher hinderlich als begünstigend auswirkt und überdies der Nachhaltigkeit und breiten Partizipation an einer globalen (Friedens-)Ordnung im Wege steht, dürfte dabei auf der Hand liegen. Dabei erscheint es als kurios bzw. fast ironisch, dass der zu unterzeichnende Vertrag eigentlich ein im völlig entgegengesetzten Geiste verfasstes Dokument enthielt: die Gründung des Völkerbundes. Dieser „Meilenstein“ wird jedoch durch die in der Zeremonie konstituierte Ordnung in der Wahrnehmung vollkommen überlagert, wie Headlam-Morley in seinen Erinnerungen ja explizit beklagt - die Rivalität von zwei Nationen in Europa wird zum tonangebenden Motiv in der Wahrnehmung internationaler Ordnung. Doch nicht nur die Zeremonie im engeren Sinne, die gesamte Friedenskonferenz war „durchwirkt von Elementen des Symbolischen, von Machtdemonstration und Totalverweigerung“,753 die die eigentlich globalen Umwälzungen unscharf werden ließen und den „Scheinwerfer“ lediglich auf die Rivalität zwischen zwei Nationen in Europa richteten – in den Worten Headlam-Morleys „the curse of Europe“, ein Fluch, der den Kontinent seit jeher in blutige Konflikte gestürzt hatte. Ein Friede, der eigentlich auf neuen (idealistischen) Vorstellungen internationaler Ordnung basieren sollte, vermochte diesen Anspruch also nicht zu erfüllen und wirkte sich eher in entgegengesetzter Rich-

752 DÜLFFER, Jost (2008): Frieden schließen nach einem Weltkrieg? Die mentale Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluss, in: DERS. (Hg.): Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert. Köln: Böhlau, S. 138-156. 753 KRUMEICH 2001, S. 53.

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tung aus. Die hier abgebildete Karikatur auf der Titelseite des satirischen Magazins Simplicissimus vom 8. Juli 1919 greift diesen Zusammenhang anhand der klassischen Praxis des Friedenskusses auf, der in sein groteskes Gegenteil verkehrt wird.

Abbildung 23:

HEINE, Thomas Theodor: Der Friedenskuss. Quelle: Simplicissimus Nr. 15 (Jahrgang 24), 8. Juli 1919.

Die Frage, inwieweit die mangelnde Nachhaltigkeit der konstituierten Ordnung den Grundstein für die nächste „Urkatastrophe“ Europas – den Zweiten Weltkrieg – gelegt hat, ist später bekanntermaßen Gegenstand diverser historischer Debatten geworden. Eine eingehende Diskussion dieser Frage wäre sicherlich eine eigene wissenschaftliche Arbeit wert, kann jedoch hier nur thesenartig angedeutet werden. Festhalten können wir an dieser Stelle jedenfalls, dass die mangelnde Tauglichkeit der Pariser Friedenskonferenz zur Begründung einer auf Friede und Gerechtigkeit basierenden internationalen Ordnung bereits von den meisten Zeitgenossen beklagt wurde und in der unmittelbaren Zeit danach erheblichen Zündstoff

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5 Dritter Akt: Empirische Analyse

für diverse populistische Bewegungen – insbesondere in Deutschland – lieferte.754 Die hier konstituierte binäre Identitätskonstellation von „Siegern“ und „Besiegten“, von „Hütern der zivilisatorischen Ordnung“ bzw. der verbrecherischen „Normtransgressoren“ - im Wesentlichen die Konstitution einer exklusiven, von Feindschaft geprägten, hochemotionalisierten Ordnung -, dürfte dabei ein wesentlicher Faktor der in der Forschung diagnostizierten „mentalen Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluss“ (Dülffer) gewesen sein. Dass diese „verlängerte Kriegssituation“ schließlich in weitere Konflikte münden würde, erscheint vor diesem Hintergrund wenn nicht logisch so doch zumindest sehr wahrscheinlich.

754 Einen detaillierten Überblick über die Diskussion in der Weimarer Republik liefert LORENZ, Thomas (2008): ‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!‘ Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik. Frankfurt: Campus; vgl. ferner HAFFNER, Sebastian (2002): Versailles 1919. Aus der Sicht von Zeitzeugen. München: Herbig; sowie BOEMEKE, Manfred (Hg.) (1998): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years. Cambridge: Cambridge University Press. Im Jubiläumsjahr seiner Unterzeichnung ist auch eine Ausgabe der APuZ dem Versailler Vertrag und seiner ordnungspolitischen Bedeutung gewidmet, siehe: Aus Politik und Zeitgeschichte: Pariser Friedensordnung. Ausgabe 15/2019, 18. April 2019.

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Schlussakt: “All the world’s a stage”

“All the world’s a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances, And one man in his time plays many parts” (William Shakespeare: As you like it, 2. Akt, 7. Szene) Um nochmals auf die eingangs zitierte Metapher Erving Goffmans zurückzukommen, stellt sich am Ende der empirischen Analyse natürlich die Frage, was als Schussfolgerung in Bezug auf die zentrale Fragestellung stehenbleibt, wenn das „Gerüst“ der Leitmetapher der Arbeit „abgebaut“ wird.755 Die Theater-Metapher rückt den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf die dramaturgischen Dimensionen von Identität sowie auf ihre konstitutive Verbindung mit sozialer (internationaler) Ordnung: sie unterstreicht die Tatsache, dass sowohl die Beziehung zwischen politisch zentralen Akteuren, als auch zentrale Ordnungsprinzipien in wesentlichem Maße auf symbolische Darstellung und sinnliche Vermittlung angewiesen sind, um zu sozialen Realitäten zu werden. Die klassische Vorstellung des „Welttheaters“ impliziert dabei in der Tat – wie in Abschnitt 1.1 diskutiert - eine Form der Darstellung bzw. Inszenierung von kosmischer Ordnung, in der die Rolle des Menschen innerhalb dieser Ordnung, seine konstante Reproduktion von Welt, zum Tragen kommen. Diese Vorstellung findet in dem hier untersuchten empirischen Material etwa am Beispiel des auf dem Westfälischen Friedenskongresses aufgeführten Ballet de la Paix – letztlich die Inszenierung einer Friedensordnung mit Kongressdelegierten als Schauspielern - ihren direktesten Ausdruck. Aber auch weniger wortwörtliche „Inszenierungen“ im Rahmen der hier analysierten Friedenskongresse legen diese grundlegende theoretische Schlussfolgerung nahe. Allerdings sollte der von der „thick comparison“ angestrebte explorative Charakter des Vergleichs mit der Herausarbeitung von Grenzen und Möglichkeiten dieses „Gerüsts“ bzw. mit der Scharfstellung der fallübergreifend formulierbaren Verallgemeinerungen und Partikularitäten seinen Abschluss finden. Im Folgenden werde ich also in diesem Sinne auf die Ergebnisse des „dichten Vergleiches“ in Bezug auf drei unterschiedliche Aspekte näher eingehen: zunächst kurz zum 755 Siehe Abschnitt 1.2. bzw. GOFFMAN 1959, S. 232f.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. Stark Urrestarazu, Theatrum Europaeum, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27560-0_6

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Mehrwert des Analyseobjekts „Friedenskongress“ als „environment of mutual monitoring possibilities“ im Goffmanschen Sinne; zum Analyseinstrumentarium des multidimensionalen Identitäsmodells und der thick comparison an sich, sowie schließlich zur wesentlichen Frage, wie genau wir den Zusammenhang zwischen Identitätspraxis und der Konstitution internationaler Ordnung begreifen sollten. Daran anschließend werde ich noch einige mögliche Anschlussmöglichkeiten zur weiteren Forschung zu Identität und internationaler Ordnung formulieren. Was die Definition der Friedenskongresse als tertium comparationis betrifft, so zeigt der Vergleich zunächst, dass die in Abschnitt 3.2.3 diskutierte Annahme, nach der Friedenkongresse bzw. Friedenskonferenzen von ihrer Form her so divers und vielgestaltig sind, wie die verhandelten Probleme und Konfliktfragen, definitiv zutrifft. Obwohl bei der Organisation von größeren Friedenskongressen stets auf „Präzedenzfälle“ zurückgegriffen wurde – vielleicht noch mit Ausnahme des Westfälischen Friedenskongresses, der als solches keine beispielgebenden Vorläufer kannte -, weisen alle „Fälle“ dieser Arbeit erhebliche Differenzen sowohl im Kongresssetting als auch in der Verfahrensweise auf. Sicherlich ist die grundlegende Annahme zutreffend, nach der Friedenskongresse ganz allgemein Kommunikationsforen internationaler Politik darstellen, in deren Kontext Repräsentanten verschiedener Akteure nach Aushandlung eines spezifischen Verhandlungssettings zusammenkommen, um vorausgegangene kriegerische Auseinandersetzungen beizulegen. Im Detail ließen sich jedoch sicherlich mindestens ebenso viele verfahrenstechnische Differenzen zwischen den Fällen als Gemeinsamkeiten identifizieren. Somit erscheint der Befund, dass die „großen“ historischen Friedenskongresse als organisatorische Vorbilder in Verfahrensfragen galten – der Wiener Kongress im Spiegel der vorbereitenden Forschungsarbeiten zur Pariser Friedenskonferenz ist hierfür sicherlich das eindrücklichste Beispiel756 – durchaus paradox. Dennoch: obgleich sich sowohl im Kontext („Siegfrieden“ vs. „Verhandlungsfrieden“), im Setting (mehrere Städte vs. eine Stadt), der Verhandlungsformen (direkt vs. indirekt, Hinzuziehung vs. Ausschluss von Mediatoren) und in der Länge der Verhandlungen (mehrere Jahre vs. einige Monate) einige Differenzen identifizieren lassen – es lassen sich gleichfalls auch Gemeinsamkeiten erkennen. Eine der augenfälligsten Gemeinsamkeiten ist sicherlich, dass die Kongresse ausnahmslos zwar sehr universalistische Ziele bezüglich der Regelung internationaler (bzw. in den ersten beiden Fällen: europäischer) Ordnung anstrebten, die Verhandlungssettings jedoch in allen Fällen auf eine Reduktion der Verhandlungs- und

756 Zudem sollte das an dieser Stelle nicht uninteressante Detail erwähnt werden, dass das Bildnis Ter Borchs Die Beschwörung des Friedens von Münster Anfang des 19. Jahrhunderts von Talleyrand erworben wurde und im Rahmen des Wiener Kongresses eines seiner Empfangszimmer schmückte; GUDLAUGSSON 1959, S. 68; ferner DUCHHARDT 2014, S. 36

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Entscheidungskompetenz auf kleinere Konstellationen bzw. elitäre Gremien hinausliefen - etwa in Gestalt der sehr komplizierten bi- bzw. trilateralen Verhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongress, dem Achterkommittee des Wiener Kongresses sowie dem Council of Ten bzw. Council of Four der Pariser Friedenskonferenz. Dies ist dabei zum einen sicherlich der nach dem Wiener Kongress größer gewordenen Komplexität der Sachfragen und ihrer multilateralen Bearbeitung im Rahmen zahlreicher Ausschüsse geschuldet; zum anderen zeigt sich darin jedoch auch die angestrebte Effizienzsteigerung durch die Vermeidung allzu weitgreifender Verhandlungsschwierigkeiten, die mit der Beteiligung mehrerer Parteien verbunden gewesen wäre. In allen Friedenskongressen fällt ferner die Gemeinsamkeit auf, dass sich wesentliche Verfahrensfragen nach einem teils improvisierten „learning by doing“ Schema erst im Laufe des Kongresses endgültig klärten, häufig zum Unmut vieler Delegierter, die den entsprechenden Mangel an Effizienz bzw. Transparenz beklagten. Dass zudem alle Fälle dieser Arbeit im Sinne der Goffmanschen Prämissen in gewisser Weise „environments of mutual monitoring possibilities“ darstellten, ist auch zutreffend, allerdings sind auch an dieser Stelle Differenzierungen geboten. Im Vergleich zeigt sich, dass diese Vorannahme insofern mit Einschränkungen zu versehen ist, als dass das Maß, in dem Kongresse als solche fungieren können, erheblich von der Situation nach dem vorausgegangenen Konflikt und dem Setting des Kongresses abhängt. Ob ein Konflikt im Laufe der Verhandlungen weitergeführt bzw. nach langjährigen Kampfhandlungen durch einen Verhandlungsfrieden beigelegt wird (wie im Falle des Dreißigjährigen Krieges), steht in bedeutendem Kontrast zu einer Situation, in der einer oder mehrere der Kriegsparteien sich mit einer Niederlage bzw. einer oder mehrerer „Siegerparteien“ konfrontiert sehen (wie im Falle der napoleonischen Kriege bzw. des Ersten Weltkrieges). In letzterem Falle sind die Kongresssettings oftmals stark durch eine dieser „Siegerparteien“ bestimmt und folgen einer „Choreographie“, auf die die unterlegenen Parteien wenig bis gar keinen Einfluss haben. Dementsprechend unterschiedlich gestalten sich auch die Möglichkeiten zur Identitätsrepräsentation, die sich im Rahmen sehr unterschiedlicher Szenerien entfalten können und im extremen Fall - wie die Unterzeichnungszeremonie in Versailles zeigt – auch in forcierten Repräsentationsszenarien äußern können. Die „thick comparison“ als exploratives und kreatives Vergleichsverfahren, das nicht auf eine (meist ohnehin konstruierte) „Operationalisierung“ vermeintlich inhärent vergleichbarer Szenarien bzw. Indikatoren angewiesen ist, besitzt also in derartigen Forschungskontexten entscheidende Vorteile. Denn bei aller Andersartigkeit bzw. Mannigfaltigkeit der Szenarien zeigt sich im Vergleich gleichermaßen, dass die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Rahmen der spezifischen Szenerien von den Akteuren in allen Fällen ausgeschöpft und zur Repräsentation

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von Identität bzw. Identitätsbeziehungen (in der Terminologie der Arbeit: zur Ausübung von Identitätspraxis) genutzt wurden. Der Charakter der Kongresse als „environments of mutual monitoring possibilities“ lässt sich nicht auf eine spezifische Situation – etwa die Unterzeichnungszeremonie oder die Einzüge der Gesandtschaften – herunterbrechen, je nach Situation und Setting können bestimmte Szenerien in ihrer symbolischen „Schwere“ erheblich differieren bzw. in der öffentlichen Inszenierung des Kongresses sogar gänzlich fehlen (wie etwa die Eröffnungs- und Unterzeichnungszeremonie des Wiener Kongresses). Dennoch zeigen alle Fälle spezifische Szenerien auf, in denen Akteure – frei nach Goffman in „symbolischer Interaktion“ – die Möglichkeit wahrnehmen, Identitätspraktiken zur Schau zu stellen und so Einfluss auf die situativ konstituierte Ordnung zu nehmen. Dieser Befund deutet dabei zugleich auf die komparativen Vorteile eines situativen und interaktionistischen Identitätsbegriffes. Die Frage nach dem Analyseinstrumentarium der Arbeit lässt sich hier wunderbar anschließen: auch auf die Art der Identitätspraxis – will heißen: der spezifischen Form der performativen Synthese von Narrativen - übt die Situation sowie das Setting des Kongresses einen wesentlichen Einfluss aus. Welche Narrative wie genau synthetisiert (bzw. priorisiert) werden, hängt stark von der situativen Konstellation der Akteure und ihrer Interaktionsgeschichte ab. Die Situation des allgemeinen Kongresskontextes („Siegfrieden“ vs. „Verhandlungsfrieden“), sowie auch die besonderen Ausprägungen spezifischer Szenerien (Einzug, Abschlusszeremonie, und dergleichen) sind bei der Frage von entscheidender Bedeutung, ob etwa das individuelle Narrativ des sozialen Status bzw. Aufstiegs eines Gesandten mit dem kollektiven Narrativ einer souverän gewordenen politischen Gemeinschaft verbunden wird (wie im Fall des Adriaen Pauw in Münster), oder ob Repräsentationen von „Sieger-“ vs. „Verlierer-“ Narrativen bzw. von repräsentierter Feindschaft (wie im Versailler Fall) im Vordergrund stehen. Im Fall eines Verhandlungsfriedens (etwa 1648) sind die Möglichkeiten zur kreativen bzw. innovativen Synthese unterschiedlicher Narrative ungleich günstiger, während diese Möglichkeiten bei „Siegfrieden“ durch die üblicherweise asymmetrische „symbolische Machtkonstellation“ in Bezug auf die „Choreographie“ der Szenerie entsprechend eingeschränkt ist, was sich wiederum auf die Optionen zur (Re-)Konstitution internationaler Ordnung auswirkt. Allerdings implizieren diese Beobachtungen nicht, dass – wie ein situativer und interaktionaler Identitätsbegriff nun evtl. suggerieren mag - ausschließlich die Situation bzw. der Kontext die ausschlaggebenden Faktoren bei der Konstitution sozialer Ordnung sind. Situation, Interaktion und Identitätspraxis stehen hier vielmehr in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis. Denn so einschränkend kontextuale Faktoren sein mögen – letztlich ist der „ausführende“ Akteur frei darin, aus einer Vielzahl unterschiedlicher Narrative zu wählen und diese im Sinne

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spezifischer politischer Ordnungsvorstellungen in unterschiedlichsten Situationen zu repräsentieren, was etwa am Einzug der niederländischen Gesandtschaft zu Beginn des Westfälischen Friedenskongress anschaulich beobachtbar ist. Auch die zwei unterschiedlichen Reden (respektive zwei unterschiedlichen Haltungen gegenüber der anderen Kriegsparteien), die der deutsche Außenminister Graf von Brockdorff-Rantzau bei der Präsentation der Friedensbedingungen bei sich führte – und allem Anschein nach erst in der Situation selbst auswählte - deuten in diese Richtung. In dieser Hinsicht wäre die Frage interessant, ob die deutsche Delegation durch das Unterlassen der bewussten Provokation und der Wahl eines konzilianteren Tons eine wesentlich bessere Ausgangsposition im Einfordern von Verhandlungen gehabt hätte – diese Annahme wäre nach meinem Dafürhalten naheliegend. Eine Situation ist in diesem Sinne also niemals vollkommen durch den Kontext vorbestimmt, unterschiedliche Praktiken können im Prinzip sehr unterschiedliche Ergebnisse zeitigen. Ein handlungs- und interaktionsbezogener Begriff von Identität eröffnet also hier den Blick für die Situativität, Komplexität bzw. Multidimensionalität von Identität sowie ihrer vielschichtigen Verbindung zur Konstitution internationaler Ordnung. Ein wesentlicher – und in meiner Interpretation von der Forschung bisher unzureichend beachteter - Aspekt in diesem Zusammenhang ist die im Identitätsmodell integrierte emotionale Dimension dieser Prozesse. Die emotionale Dimension von Identitätspraxis ist ein wesentlicher Faktor bei der Erfahrbarkeit sowohl dieser Repräsentationspraktiken als auch der durch sie konstituierten Ordnung. Alle hier analysierten Praktiken im Rahmen der spezifischen Szenerien der Identitätsrepräsentation sind emotional gefärbt – sei es durch Verständnisse von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Würde, oder betonter Freundschaft bzw. Feindschaft – und üben damit einen intuitiv zugänglichen emotionalen appeal auf den Beobachter aus, der die Wirkmächtigkeit dieser Praktiken bzw. Ordnungen maßgeblich beeinflusst. Dies wurde im negativen Fall besonders bei der Unterzeichnungszeremonie in Versailles augenfällig, in dem die dargestellte negative – und emotional hochaufgeladene – Identitätsbeziehung positive Aspekte der Konstitution internationaler Ordnung wie die Gründung des Völkerbundes gänzlich in den Hintergrund zu drängen vermochte. Zudem spielt die emotionale Dimension auch eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Glaubwürdigkeit von Identitätspraktiken und den entsprechenden Bildern internationaler Ordnung. Die öffentliche Darstellung von Bündnisloyalität und Verbundenheit zwischen Alliierten (wie im Falle des Jahrestages der Völkerschlacht auf dem Wiener Kongress) oder auch die der konfessionellen Toleranz (wie im Falle des Friedens zu Münster) ist eben nur dann für den Betrachter wirklich glaubwürdig, wenn sie mit Handlungen begleitet wird, die dieser repräsentier-

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ten Identitätsbeziehung einen emotionalen Gehalt verleihen – so etwa Handschläge, herzliche Umarmungen oder durch den (traditionell diesem Zweck gewidmeten) Friedenskuss. Auch für unterlassene Handlungen (etwa das „Sitzenbleiben“ Brockdorff-Rantzaus) bzw. Handlungen, die auf eine Statusminderung abzielen, trifft dies zu. Dies spiegelt die Annahme wider, dass Emotionen eben nicht nur individuelle Befindlichkeiten, sondern in wesentlichem Maße kulturell kodiertes, kollektives „Wissen“ über affektive Bedeutungsdimensionen von Praktiken darstellen - Kulturen können also in der Tat zu einem nicht unerheblichen Teil als „Emotionskulturen“ verstanden werden.757 Die emotionale Aufladung von Identitätspraktiken ist ferner essentiell bei der Färbung der Wahrnehmung bestimmter Identitätsbeziehungen, in positiver wie negativer Hinsicht. Damit spielt sie gleichsam bei der Konstitution der normativen Aspekte internationaler Ordnung eine Rolle. Identitätspraktiken beinhalten nicht nur nüchtern-sachliche Bilder des Selbst „wie es ist“, sondern auch starke normativ-präskriptive Bilder über Identitäten und soziale Ordnung wie sie „sein sollten“, die indes durch ihre emotionale Färbung starke „Zugkraft“ entwickeln können. Die demonstrativ dargestellte Volksnähe des Kaisers bzw. des Zaren auf dem Wiener Kongress ist hierfür ein ebenso augenfälliges Beispiel wie die repräsentierten binären Identitätsnarrative der „Hüter der zivilisatorischen Ordnung“ vs. der „Normtransgressoren“ im Rahmen der Unterzeichnungszeremonie in Versailles, die (insbesondere bei den britischen Beobachtern) aufgrund ihrer übersteigerten Emotionalität und mangelnden „Ritterlichkeit“ als unangenehm empfunden wurden. Dabei drängt sich wiederum die Frage auf, inwiefern sich dieser Umstand in einer verminderten bzw. erhöhten Bereitschaft zur Konfrontation oder Kooperation in den auf diese Weise konstituierten Konstellationen internationaler Ordnung äußern kann. Diesen Zusammenhang zu vertiefen, wäre eine lohnenswerte weiter zu verfolgende Forschungsfrage. An dieser Stelle können wir jedoch konstatieren, dass Ordnungen, die primär auf negativen Identitätskonstellationen zwischen Akteuren basieren und durch zentrale Akteure bzw. die breite Öffentlichkeit als sehr negativ bzw. entwürdigend erfahren werden, schwerlich zu nachhaltig stabilen bzw. friedlichen internationalen Ordnungen führen können. Alles in allem deuten die hier entwickelten Schlussfolgerungen – in den Worten Clifford Geertz‘: „theoretischen Spezifizierungen“ – auf einige Vorteile des multidimensionalen bzw. praxisbezogenen Identitätsmodells hin: es bietet eine deutlichere Schärfung des interaktionalen Charakters von Identität, sowie eine konsequente Theoretisierung ihrer Situativität und Komplexität. Die Einbeziehung ihrer emotionalen Dimension verknüpft Konzeptarbeit zu „Identität“ zudem

757 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in Abschnitt 3.1.3

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mit anderen Forschungskonzepten, die derzeit verstärkte Aufmerksamkeit bekommen haben,758 und stellt diese Konzepte bzw. deren Verbindung somit in einen größeren Kontext. In der Konzeptualisierung von Identität als Praxis geht sie ferner über die in der Außenpolitikforschung üblichen Theorieangebote hinaus, indem sie Identität nicht lediglich als Rahmen für außenpolitisches Handeln, sondern selbst als Teil des politischen Handelns begreift. Auch hiermit wird das Konzept Identität bzw. Identitätspraxis in einen größeren Kontext gestellt, da mit der Verbindung von identitäts- und praxistheoretischen Annahmen die Tatsache unterstrichen wird, dass Identität nicht lediglich (kulturelle) Strukturen wiederspiegelt (also reproduktiv ist), sondern in selben Maße produktiv (also konstitutiv) auf diese Strukturen einwirkt. In anderen Worten: die Konstitution internationaler Ordnung gerät in üblichen Konzeptualisierungen kaum bis gar nicht ins theoretische „Visier“. Neben den Aspekten, die in der einschlägigen Forschung üblicherweise als große Vorteile der ethnographischen Methode zitiert werden – wie etwa die vergleichsweise hohe Reflexionsfähigkeit des Forschers ob seiner eigenen „narrativen“ Rolle in der Herstellung wissenschaftlicher Wissensbestände759 – konnte zudem deutlich werden, dass das methodische Instrumentarium der thick comparison gerade auch für die vergleichende historische Analyse in den IB entscheidende Vorteile besitzt. Denn wo andere vergleichende Studien häufig nur zur Verallgemeinerung taugliche – oder vermeintlich inhärent „vergleichbare“ - Aspekte zusammentragen, bietet die hier zur Anwendung gekommene Methodik sowohl die Möglichkeit zu verallgemeinernden Aussagen, als auch zur Darstellung historisch kontingenter Phänomene in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit. Das Modell erlaubt die Analyse sehr spezifischer, kulturell konditionierter Identitätspraktiken – sei es die rangpolitischen bzw. konfessionell-machtpolitisch unterfütterten Identitätsverständnisse auf dem Westfälischen Frieden, monarchisch-nationalistische Identitäten wie auf dem Wiener Kongress oder aber Identitäten einer „zivilisierten internationalen Gemeinschaft“, wie sie auf der Pariser Friedenskonferenz dargestellt wurden. Die Analyse von Identitätspraktiken als Synthesen verschiedener historisch kontingenter Identitätsnarrative bietet Raum für ein Verständnis von Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher – mitunter sogar widersprüchlicher – Identitätsnarrative, die in ihrer Synthese unterschiedliche Ordnungsvorstellungen miteinander vereinigen können. Die Wiener Ordnung, in der die kontrastreichen Narrative der Sakralität einer durch Monarchie, Volk und Militär getragenen „Nation“ eine Synthese finden, ist hierfür sicherlich das augenfälligste Beispiel. Aber auch in 758 Vgl. hier die Diskussion bzgl. der aktuell prominenten Forschungsagenda zur Relevanz von Emotionen in den IB in Abschnitt 3.1.3. 759 Vgl. hierzu nochmals die Ausführungen zu den grundlegenden Prämissen ethnographischer Forschung in Abschnitt 3.2.2.

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den Praktiken der Beschwörung des Friedens von Münster können wir die Gleichzeitigkeit von „staatlichen“, dynastischen und religiösen Ordnungsprinzipien erkennen. Auf diese Weise lässt sich die Konstitution sozialer Ordnung in höchst unterschiedlichen Praktiken und so heterogenen politisch-kulturellen Kontexten wie dem 17., 19. oder dem beginnenden 20. Jahrhundert darstellen. Nicht zuletzt lassen sich diese Prozesse jedoch auch als sehr konkrete Vorgänge gesellschaftlich-kulturellen Wandels beschreiben, in denen Ordnungen immer wieder aufs Neue (und „neu“) hergestellt werden. Wie genau sich diese Ordnungen darstellen bzw. welche konkreten kulturellen Bedeutungsstrukturen sie unterfüttern, ist jedoch je nach Kontext sehr spezifisch und historisch einzigartig. Doch wie sollten wir das wechselseitig konstitutive Verhältnis zwischen Identitätspraxis und internationaler Ordnung genau verstehen und inwiefern sind die aus der empirischen Analyse verdichtbaren „theoretischen Spezifizierungen“ diesbezüglich aussagekräftig? Im fallübergreifenden Vergleich zeigte sich, dass Identitätsrepräsentationen immer auch Repräsentationen von Ordnung sind; durch die Ausführung dieser Praxis (sowie die Anerkennung durch andere) definieren bestimmte Akteure ihre soziale Position im Rahmen eines größeren sozialen Gefüges. Da Letzteres im Grunde als Summe von sozialen Positionen verstanden werden kann, stehen Verständnisse sozialer Ordnung auch immer in Verbindung mit Identitätsdarstellungen. Durch die kreative Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative in Identitätspraktiken sind Akteure also grundsätzlich in der Lage, eine Veränderung des narrativen Repertoires politischer Gemeinschaften zu bewirken: Identitätspraktiken sind Instrumente des (in narratologischer Begrifflichkeit) sozialen „world-making“,760 und stehen somit in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis zu sozialer (in diesem Fall „internationaler“) Ordnung. Allerdings muss an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, was genau unter „Ordnung“ - bzw. spezifischer: „internationaler Ordnung“ - zu verstehen ist. Wie in Abschnitt 2.1 diskutiert, erscheint der Begriff in den IB häufig als selbsterklärend, sodass dessen theoretischer Gehalt selten ausbuchstabiert bzw. auf verschiedene Aspekte hin diskutiert wird. Im fallübergreifenden Vergleich dieser Arbeit zeigt sich jedoch, dass „Ordnung“ einen relativ abstrakten Begriff eines Phänomens darstellt, das zum Teil recht unterschiedliche Dimensionen aufweisen kann. Eine Spezifizierung dessen, was Ordnung im Einzelfall ist bzw. sein kann, sollte also etwas genauere „theoretische Spezifizierungen“ über das konstitutive Verhältnis zwischen Identität und internationaler Ordnung ermöglichen. In den einzelnen Fallstudien dieser Arbeit ließen sich insbesondere folgende Aspekte bzw. Dimensionen internationaler Ordnung unterscheiden:

760 Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 3.1.1.

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Weltbilder: „Ordnung“ kann zunächst Vorstellungen von „Welt“ in einem etwas größeren Maßstab bezeichnen. Dazu ließen sich Vorstellungen von Welt als Theater (Theatrum Mundi), aber auch bestimmte Vorstellungen von überstaatlichen bzw. globalen Gemeinschaften zählen - etwa die frühneuzeitliche Gemeinschaft aller Christen (Christianitas), die Vorstellung internationaler Beziehungen als ein System von Machtpolen (balance of power), oder aber die Gemeinschaft „zivilisierter“ Staaten bzw. Völker im beginnenden 20. Jahrhundert („Internationale Gemeinschaft“). Projektionen „innerer“ Ordnungsvorstellungen: Ordnungsvorstellungen auf zwischenstaatlicher Ebene beruhen oftmals auch auf Projektionen von Vorstellungen innerer Ordnung auf die globale Ebene. Dies wird insbesondere in der (Wilsonianischen) internationalen Gemeinschaft der Demokratien, aber auch in den frühneuzeitlichen Vorstellungen einer „gottgegebenen“ – und damit universalen - gesellschaftlichen Hierarchie, deutlich. Akteurskonstellationen: Ordnungen beziehen sich etwas spezifischer auch auf Konstellationen bestimmter, politisch relevanter Akteure zueinander. Dies wird etwa in den Vorstellungen einer (unterstellten) monarchia universalis deutlich, in der die Beziehungen zwischen großmächtigen Monarchien (Habsburg/Bourbon, Schweden/Reich) im Vordergrund stehen. Aber auch die Beziehungen zwischen bedeutenden Akteuren innerhalb eines als zentral erachteten politischen Ordnungsraumes gehören dazu (Russland/Österreich 1815, Deutschland/Frankreich 1815 wie auch 1919). Komplexe „Innen-/Außen Arrangements“: Neben der Konstellation einzelner Akteure können internationale Ordnungen auch durch komplexe Akteurskonstellationen geprägt sein, in denen vielschichtige Innen- bzw. Außenverständnisse bestehen und die somit die gängige Aufteilung politischer Sphären in ein „Innen“ und „Außen“ transzendieren bzw. zumindest nur mit Einschränkungen verkörpern. Dies kann sich auf Bündnisse (die „Heilige Allianz“, die Alliierten im Ersten Weltkrieg), aber auch auf „föderative“ Akteurskonstellationen beziehen (so etwa beim frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich, einem Vielvölkerreich wie Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert sowie dem Deutschen Bund nach dem Wiener Kongress).

Diese Aspekte – dies muss an dieser Stelle betont werden - schließen sich natürlich nicht aus, sondern sind in vielerlei Hinsicht komplementär bzw. ineinander verwoben. Sie sollen jedoch unterschiedliche Dimensionen von „Ordnung“ beleuchten, die mit Identitäts(-praxis) in unterschiedlicher Art und Weise in Verbindung stehen. In allen dieser Dimensionen spielen Identitäten eine Rolle, allerdings sind hier mitunter sehr unterschiedliche Identiätsnarrative (bzw. Synthesen von Narrativen) grundlegend. Bilder globaler Gemeinschaften wie etwa die frühneuzeitliche

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Gemeinschaft aller Christen (Christianitas) sind stark mit religiösen bzw. konfessionellen Identitätsnarrativen verbunden, also partikularen Identitäten, die auf globale Dimensionen übertragen werden. Ähnliches gilt für die politische Identität einer Demokratie, die sich in einer Gemeinschaft „selbstbestimmter Völker“ sieht (Wilsonianism) und diese Ordnungsvorstellung als Standard friedensfördernder internationaler Beziehungen zu etablieren sucht. In beiden Fällen handelt es sich gewissermaßen um eine Universalisierung politischer bzw. religiöser Identitäten sowie ihre normative Aufladung. Die Konstitution des Beziehungsaspekts von Identität in Gestalt bestimmter Akteurskonstellationen beruht hingegen auf der Synthese spezifischer Identitätsnarrative - beispielsweise verschiedene divergierende Kriegserfahrungen, etwa in Frankreich und Deutschland nach dem deutsch-französischen Krieg bzw. nach dem Ersten Weltkrieg. Auf welche Art und Weise diese Narrative synthetisiert werden, hängt indes stark von den (im wahrsten theatralischen Sinne) „Akteuren“ ab, deren persönliche Identitäten dabei eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Die im Rahmen der Choreographie der Unterzeichnungszeremonie in Versailles repräsentierten Identitäten stehen etwa in klarem Zusammenhang mit den jeweiligen Kriegserfahrungen und persönlichen Narrativen des „Choreographs“ Clemenceau sowie (in deren Reaktion) der Erfahrungen und Deutungen der deutschen Delegierten. Auch die persönlichen Identitäten sowie die jeweiligen politischen Agenden Metternichs, des Kaisers und des russischen Zars in Wien sind in den Repräsentationen der Jahresfeier der Völkerschlacht augenfällig. Die spezifischen Synthesen der persönlichen und kollektiven Identitätsnarrative wirken sich dabei wesentlich auf die repräsentierte und auf diese Weise konstituierte Ordnung aus. Auch an dieser Stelle ist das Beispiel der Versailler Ordnung instruktiv, in der die augenfällige (feindliche) Akteurskonstellation zwischen Deutschland und Frankreich das eigentliche ordnungspolitische Novum - die Gründung des Völkerbundes - vollkommen in den Hintergrund treten lässt. Dieser Befund deutet dabei nicht zuletzt auch auf meine in Abschnitt 3.1.2 stark gemachte These hin, dass sich eine Trennung kollektiver und individueller Dimensionen von Identität eher irreführend als erhellend darstellt, da vielmehr ihr Zusammenspiel zentral für die Konstitution sozialer Ordnung ist. In besonderen Akteurskonstellationen wie Bündnissen können politische bzw. konfessionelle und/oder normative Narrative indes eher in den Hintergrund treten und in politischen Allianzen – bzw. spezifischen „Innen/Außen-Konstruktionen“ - gegen einen gemeinsame „Bedrohung“ münden, die ihre identitäre Verbundenheit auf andere Synthesen bettet. Der Fall des französisch-schwedischen Bündnisses im Dreißigjährigen Krieg ist hierfür ein gutes Beispiel – beide Akteure besitzen eigentlich konträre Konfessionen und konkurrieren im politischen

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Rang,761 im Verbund gegen einen gemeinsamen Gegner treten diese widersprüchlichen Aspekte jedoch in den Hintergrund. Auch die Reintegration des ehemaligen Gegners Frankreich in das „europäische Konzert“ der Großmächte des 19. Jahrhunderts ließe sich in diesem Sinne als Rekonfiguration von verbindenden Identitätsnarrativen deuten. Spezifische Verbindungs- bzw. Trennlinien in Bildern internationaler Ordnung – was konkret verbindet und was trennt, was „Innen“, was „Außen“ ist - ist also eine Frage, die nicht a priori klar ist, sondern in verschiedenen Situationen immer wieder aufs Neue austariert wird. Die Multidimensionalität von Identität zeigt sich also in einer vielschichtigen Konstitution unterschiedlicher Ebenen internationaler Ordnung – ein sehr komplexer Prozess, der nicht zuletzt auf ein zentrales Problem der IB hindeutet: die Theoretisierung des Zusammenhangs der verschiedenen „Analysebenen“ internationaler Politik („images“). In Bezug auf dieses Problem deutet die empirische Analyse dieser Arbeit auf die Relevanz der komplexen situativen Synthese unterschiedlicher Identitätsnarrative hin, die sich als wesentlich für die wechselseitige Konstitution dieser Ebenen darstellt. Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls mit obigen Ausführungen in Verbindung steht und im Lichte der empirischen Analyse fallübergreifend deutlich wurde ist, dass es sich bei den durch die Identitätspraktiken konstituierten internationalen Ordnungen – teils entgegen gängiger Forschungsnarrative zu den jeweiligen Fällen - nicht um „Ablösungen“ alter durch neue Ordnungen handelte, sondern eher um komplexe Bilder von Ordnung, die einen Übergang markieren und damit eine ausgeprägte Gleichzeitigkeit verschiedener Ordnungskonzepte repräsentieren. Auch dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass Ordnungen durch die handelnden Akteure in Synthesen unterschiedlicher Identitätsnarrative konstituiert werden, die sich auf zum Teil recht unterschiedliche - ggf. sogar widersprüchliche (kulturelle) Ressourcen beziehen. Dies wird besonders im Falle der Synthese von Bildern monarchischer Sakralität mit Bildern von „Nation“ im Falle des Wiener Kongresses deutlich. Gleichzeitig existierende und potentielle konfliktive politische Narrative können somit durch Identitätspraxis in Einklang gebracht und Ordnung somit problemlösend „rekalibriert“ werden. In diesem Zusammenhang zeigt sich also der Charakter von Identität als „problem-solving tool“ (Fitzgerald); problemadäquate Repräsentationen von Identitätsnarrativen dienen der Anpassung an unterschiedliche Handlungskontexte, wirken sich dabei jedoch ihrerseits auch konstitutiv auf diese Kontexte aus. Diese Praktiken stellen also nicht lediglich „Spiegelungen“ einer Transformation internationaler Ordnung dar, sondern sind

761 Die Schweden weigerten sich ja, den französischen Gesandten – den eigenen Verbündeten - auf dem Kongress Präzedenzrechte einzuräumen, was mit nicht unerheblichen verfahrenstechnischen Hürden verbunden war; vgl. Abschnitt 5.1.2.

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im Gegenteil ganz wesentliche Faktoren dafür, diese „Übergangsordnung“ überhaupt erst zu konstituieren und diese Transformation somit zu „vollziehen“. Ein Aspekt, der sich indes auf grundlegende Prinzipien von Ordnung bezieht und ebenfalls in allen drei „Fällen“ zum Tragen kommt, bezieht sich auf Bilder legitimer Akteursschaft in den internationalen Beziehungen – diese werden jeweils durch die Repräsentation und Synthese spezifischer Identitätsnarrative hergestellt und sind dabei stets im Wandel begriffen. Im Falle des Westfälischen Friedenskongresses zeigen sich diese Bilder insbesondere in den Praktiken der niederländischen Gesandtschaft: vormals nur den „gekrönten Häuptern“ vorbehalten, stellte die innovative „Performance“ von Souveränität durch die Niederländer auch einen Beitrag zur Veränderung des allgemeinen Verständnisses dessen dar, was „Souveränität“ ist und wer alles als „souverän“ gelten konnte. Wie bereits in Abschnitt 5.1.5 konstatiert, fügte diese neue Deutung „alten“ bzw. etablierten Kriterien für legitime Akteursschaft also „neue“ Elemente hinzu und erweiterte somit das Bedeutungsrepertoire dieser Kriterien. Bilder legitimer Akteursschaft müssen sich jedoch nicht notwendigerweise nur auf Bedeutungsdimensionen von „Souveränität“ beziehen, wie im Falle des Wiener Kongresses deutlich wurde. In der Zeremonie des Jahrestages der Völkerschlacht fand das wechselseitig konstitutive Verhältnis zwischen Religion, Monarchie, Militär und Nation seine intendierte Repräsentation, wodurch verschiedene, in den kulturellen Umbrüchen des frühen 19. Jahrhunderts koexistierende Narrative problemlösend synthetisiert und somit (potentiell konfliktive) politische Ordnungsvorstellungen harmonisiert werden konnten. Auf diese Art und Weise wurden Bilder „angemessener Akteursschaft“ für das beginnende 19. Jahrhundert geschaffen. Ähnliches können wir auch für den Fall der Pariser Friedenskonferenz konstatieren, wobei Bilder „angemessener Akteursschaft“ hier in enger Verbindung mit Vorstellungen einer auf der Einhaltung spezifischer Normen basierenden „internationalen Gemeinschaft“ stehen – einer Gemeinschaft, in der „Normtransgressoren“ keine legitime Mitgliedschaft behaupten und erst durch erfolgreiche Sozialisation wieder integriert werden konnten. Im Lichte dieser empirischen Befunde zeigt sich also, dass Identitätspraxis nicht nur einen wesentlichen Faktor bei der Konstitution von Ordnung im Allgemeinen, sondern auch von legitimer Akteursschaft im Besonderen – und somit zentraler Ordnungsprinzipien internationaler Beziehungen - darstellt. Im Sinne des empirischen Fokus dieser Arbeit tangieren diese Ergebnisse schließlich auch die (politikpraktische) Frage, inwiefern die Etablierung erfolgreicher Friedensordnungen durch eine auf diese Aspekte hin sensibilisierte Praxis des Friedensschlusses erhöht werden könnte. Denn wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass die symbolischen Aspekte der Verfahrensordnungen und die damit eng verbundenen Möglichkeiten zur Repräsentation von Identität für die Konstitution sozialer Ordnung essentiell sind, wäre eine entsprechende Sensibilisierung der

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handelnden Akteure – insbesondere der „Choreographen“ und „Zeremonienmeister“ – dringend geboten, um Bedingungen herzustellen, die die Entwicklung einer nachhaltigen Friedensordnung begünstigen. Dazu würde im Lichte der Ergebnisse dieser Arbeit zum einen die Gestaltung eines inklusiven Kongresssettings gehören, will heißen: die Einbeziehung aller an Konflikten beteiligten Akteure – im äußersten Fall auch von Gewaltakteuren und „Normtransgressoren“, sofern diese die Bereitschaft und Fähigkeit zu Verhandlungen mitbringen.762 Zum anderen wäre damit die Möglichkeit gemeint, im Kongresssetting die Möglichkeit zu ausgewogener Identitätspraxis für alle Akteure zu gewährleisten, wobei sich „Ausgewogenheit“ auf die symbolische Gestaltung der Konstellation zwischen den Akteuren - idealerweise auf Augenhöhe -, sowie im Hinblick auf die emotionale Dimension von Identitätspraktiken die Möglichkeit zur Gesichtswahrung bezieht. Eine solche symbolische Ausgestaltung der Form eines Friedensschlusses sollte die nachhaltige Etablierung erfolgreicher Friedensordnungen – durch die Vermeidung einer „mentalen Verlängerung des Kriegszustandes“ (Dülffer) - also in hohem Maße begünstigen. In dieser Arbeit können diese und ähnliche Fragen nicht über die hier diskutierten Thesen hinaus bearbeitet werden, sie eröffnen jedoch ein hochinteressantes Forschungsfeld, das weitere gesellschaftspolitisch relevante Studien ermöglichen könnte. Zu guter Letzt bliebe noch die Frage nach weiteren Anschlussmöglichkeiten zur Forschung zu Identität und internationaler Ordnung zu klären, die sich aus den obigen Ausführungen ergeben. Dabei sind sowohl innerdisziplinäre als auch interdisziplinäre Verbindungen denkbar. Zunächst deutet die hier vorgenommene Querverbindung von Forschungskonzepten wie „Identität“ mit „Emotion“, „Narrativ“ und „Ordnung“ ganz allgemein auf den Mehrwert von Studien hin, die eine vernetzte Begriffsbildung zum Mittelpunkt der Theoriearbeit machen. Die konzeptuelle Vernetzung von „Identität“ ist dabei ein möglicher Weg, jedoch sicherlich nicht der einzige, der einer „komplexitätssensiblen“ Erforschung von sozialen und politischen Phänomenen - wie in diesem Falle die Konstitution internationaler Ordnung - Rechnung trägt. Zudem stellen sich im Lichte der Erkenntnisse dieser Arbeit vor allem jene Ansätze als anschlussfähig dar, die - statt großer makrostruktureller Entwicklungslinien - die Manifestation und Konstitution internationaler 762 Dies ist sicherlich nicht in allen Konflikten gegeben – manche Konflikte können nicht auf der Basis von Kongressen/Konferenzen gelöst werden, da zentrale Akteure des Konfliktgeschehens schlichtweg nicht verhandlungswillig bzw. –fähig sind. Die gegenwärtige Situation in Syrien ist sicherlich ein gutes Beispiel hierfür – der sog. Islamische Staat scheint an einer Verhandlungslösung nicht interessiert zu sein bzw. einer solchen diametral entgegen zu stehen. Aber auch die gegenwärtige Situation in der Ostukraine ist ein gutes Beispiel hierfür, da zentrale Akteure des Konfliktgeschehens (Separatisten im Donbass) nicht bzw. nur über Russland am offiziellen Verhandlungstisch vertreten sind. Diese „Repräsentation“ Russlands ist dabei in höchstem Maße intransparent und der Konflikt somit schwerlich in der Form offener Verhandlungen zu lösen.

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Ordnung in diversen Formen politischer Praxis in den Vordergrund rücken. Sowohl inter- als auch innerdisziplinär könnten von den hier erarbeiteten Ergebnissen vor allem jene Studien profitieren, die Außenpolitik als (transhistorische) Praxis der Grenzziehung zwischen einer „inneren“ und „äußeren“ politischen Sphäre verstehen763 – ein Prozess, der nach der Lesart dieser Arbeit maßgeblich durch Identitätspraktiken konstituiert wird, die mit dem hier vorgeschlagenen Instrumentarium in einer systematischen historischen Perspektive analysiert werden können. Dazu zählt auch die für die Außenpolitikforschung wie die Internationalen Beziehungen gleichermaßen zentrale Frage, wie sich Verständnisse von legitimer außenpolitischer Akteursschaft – etwa historisch variable Verständnisse von „Souveränität“ – durch die Praxis handelnder Akteure kulturell entwickeln. Entsprechend der Logik dieser Arbeit würden – wie bereits oben diskutiert - auch diese Verständnisse letztlich auf Konzepten außenpolitischer Identität fußen, die sich durch ihre interaktive und situative Praxis im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Interdisziplinär wären diese Anschlussmöglichkeiten dabei zum einen für kulturhistorisch inspirierte geschichtswissenschaftliche Studien interessant, die internationale Beziehungen und Außenpolitik als kulturelle Praxis in den Mittelpunkt rücken. Auch Studien der historischen Völkerrechtswissenschaft, die sich mit dem Zusammenhang von „state practices“ und der Entwicklung bzw. Kodifizierung des Völkergewohnheitsrechts beschäftigen,764 könnten hier profitieren. Das in dieser Arbeit angewandte methodologische Instrumentarium könnte für diese Studien sowohl eine theoretisch reflektierte als auch für historische Kontingenz sensible „Analysebrille“ anbieten, die den Prämissen dieser Forschungsrichtung stark entgegenkäme. Zum anderen dürfte sich hier jedoch auch für die Kulturwissenschaft ein besonders fruchtbares Forschungsfeld auftun, da sich Außenpolitik in dieser Lesart vor allem als Identitätsmanifestation und kulturelle Praxis darstellt, die bei der Konstitution eines sozio-kulturellen Feldes wie der internationalen Beziehungen von entscheidender Bedeutung ist. Insbesondere im Lichte der Tatsache, dass die Kulturwissenschaft dieses Forschungsfeld (man muss konstatieren: erstaunlicherweise) bisher nicht systematisch für sich entdeckt hat, könnte hier ein ertragreicher interdisziplinärer Dialog angestoßen werden. Nicht zuletzt stellt diese Arbeit jedoch – um nochmals auf die in der Ouvertüre aufgeworfene These zurückzukommen - eine wichtige Anschlussmöglichkeit 763 So der Grundtenor eines entsprechenden Forschungsprojekts, an dem ich mitwirken konnte; vgl. HELLMANN, Gunther/FAHRMEIR, Andreas/VEC, Miloš (2016): The Transformation of Foreign Policy. Drawing and Managing Boundaries from Antiquity to the Present. Oxford: Oxford University Press. 764 Vgl. WATTS, Sir Arthur: Codification and Progressive Development of International Law, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL Online), http://opil.ouplaw.com/home/EPIL?id=/epil/entries/law-9780199231690-e1380 , 4.12.2015.

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für die allgemein sozialwissenschaftliche Frage nach der Relevanz der symbolischen Form in der Politik dar. Oftmals wird dieser Frage lediglich im Rahmen epochenspezifischer Kommunikationsformen – etwa dem frühneuzeitlichen Zeremoniell, Inszenierungen von Herrschaftsritualen, oder aber politischer Inszenierungen im Fernsehzeitalter – nachgegangen; der hier angewandte Fokus eröffnet jedoch den Blick auf die transhistorisch wie transkulturelle Relevanz der symbolischen Vermittlung von Politik im Allgemeinen sowie (außenpolitischer) Identität im Besonderen. Die Formen wie auch die Semantik der Zeichen symbolischer Kommunikation verändern sich je nach Epoche und politischer Kultur natürlich erheblich, dennoch lässt sich anhand der hier präsentierten Ergebnisse zeigen, dass die grundsätzliche Relevanz der symbolischen Form sich durch alle kulturellen und historischen Kontexte zieht. Ob sie im Rahmen eines Gesandtschaftseinzuges, einer Jahresfeier eines bestimmten Ereignisses oder aber einer Unterzeichnungszeremonie stattfinden - Repräsentationen von Identität sind wesentliche Vehikel der Versinnlichung von Statusansprüchen bzw. Akteurspositionen innerhalb bestimmter Ordnungen und sind so für die Konstitution von Ordnung als „sozialer Fakt“ unablässig. Damit dürften Studien, die ähnliche theoretisch-methodische Ansätze wie diese Arbeit anwenden, auch bei der systematischen Erforschung von internationalen Beziehungen als einem sozialen und kulturell konditionierten Raum wichtige Beiträge leisten.

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auch Königlichen Wahlen und Crönungen, erlangten Chur-Würden, Creirung zu Cardinälen und Patriarchen, Ertz- und Bischöflichen Einweyhungen, Niederlegung Cron und Scepters, Ernennung zum successoren, Erwehlung derer Dogen zu Venedig und Genua, grosser Herren Huldigungen, Lehns-Empfängnissen, Kriegs- und Achts- Erklärungen / Conciliis, Reichs-Wahl Churfürstl. Collegial- Deputations- Crayß- Fürsten- Grafen- Ritter- Städte- Land und anderen Tagen, hohen Gerichten, auch andern ausser Teutschland üblichen öffentlichen Versammlungen, dann Friedens-Tractaten und Bündnissen, Ingleichen bey Grosser Herren und dero Gesandten Einholungen, Einzügen und Zusammenkünfften, Ertheilung Audienzen, Visiten und Revisiten, RangStreitigkeitten, Beylagern, Tauffen und Begräbnissen, Conferirung Geist- und Weltlicher Ritter-Orden, Turnieren, Jagten, bey der Miliz, zu Wasser und zu Lande, und anderen an Europäischen Höfen und sonsten sowohl in Ecclesiasticis, als Politicis, vorgegangenen solennen Actibus beobachtet worden; Auch wie Käyser, Könige, Chur- und Fürsten, Grafen und Herren, Dann Freye Republiquen, Reichs- StaatsKriegs- und andere Geist- und Weltliche hohen und niedere Collegia, Und endliche Adel- und Unadeliche, Männ- und Weiblichen Geschlechts, heutigen Tages einander in Briefen tractiren, Nebst unterschiedlichen Hof-Ordnungen, Rang-Reglementen und andern zum Hof- und Cantzley-Ceremoniell dienlichen Sachen [...]. ans Licht gegeben. Leipzig bei Moritz Georg Weidmann. MARTIN de BARRIO, Juan (1648): Relación de la forma con que se han hecho las entregas de las ratificaciones de la paz de España y los Estados generales de las Provincias unidas, y de su publicación, que se celebró en la ciudad de Munster de Westfalia á 15 y 16 de mayo deste año de 1648. Madrid. MERIAN, Matthäus (1646-1738): Theatrum Europaeum oder: Außfuehrliche und Warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwuerdiger Geschichten so sich hin und wieder in der Welt, fuernehmblich aber in Europa, und Teutschlanden, so wol im Religionals Policey-Wesen…sich zugetragen haben (hg. Von Johann Philipp Abelinus et al., 21 Bände). Frankfurt. ROHR, Julius Bernhard von (1733): Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren, die in vier besonderen Theilen die meisten Ceremoniel-Handlungen, so die Europäischen Puissancen überhaupt, und die Teutschen Landes-Fürsten insonderheit, so wohl in ihren Häusern, in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und Bedienten, als auch gegen ihre Mit-Regenten, und gegen ihre Unterthanen bey Krieges- und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen, nebst den mancherley Areten der Divertissements vorträgt, so viel als möglich in allgemeine regeln und Lehr-Sätze einschlüßt, und hin und wieder mit einigen historischen Anmerkungen aus dem alten und neuen Geschichten erläutert. Berlin. SCHLEDER, Johann Georg (1663): Theatri Europaei. Sechster und letzter Theil. Das ist Außführliche Beschreibung der Denckwürdigsten Geschichten so sich hin und wieder durch Europam, als in Hoch und NiederTeutschland, Franckreich, Hispanien, Italien, GroßBritannien, Dennemärck, Schweden, Polen, Moscau, Schlesien, Böhmen, Ober und NiederOesterreich, Hungarn, Siebenbürgen, Wallachey, Moldau, Türckey und Barbarien so wohl im Weltlichen Regiment als KriegsWesen, Bevorab bey denen zwischen mehrentheils kriegenden Partheyen nach Münster und Oßnabrück angesetzten

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General FriedensTractaten vom Jahr Christi 1647 biß 1651. allerseits begeben und zugetragen. Frankfurt: Merian.

Flugblätter GAR STATTLICHER AUFF: UND EINZUG, Dero Aller Christlichsten Königl. Mayest. zu Franckreich, etc. hochansehenlichen Herrn Abgesandten zu der allgemainer Fridenshandlung Hertzogen von Longeville in Münster, wie solcher daselbst mit großem Pracht in schöner Ordnung am 30. Junij 1645 vollzogen, Münster 1645 EINZUG IHRER FÜRST. DURCHL. DE LONGUEVILLE als Königl. Französ. Hochansehnlichen Gesandten nach Münster. Gehalten den 20.30. des Brachmonats umb abends 4 Uhr im Jahr 1645, Münster 1645.

Zeitungen Friedensblätter. Eine Zeitschrift für Leben, Literatur und Kunst, Nr. 50, 25. Oktober 1814 sowie Nr. 51, 27. Oktober 1814. Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Dezember 1814. Vossische Zeitung, Nr. 127, 22. Oktober 1814. Wiener Zeitung, Nr. 292, 19. Oktober 1814.