Wie kann eine Theorie der Ethik beschaffen sein, wenn sie aus dem gedanklichen Repertoire der Existenzphilosophie entwor
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German Pages 419 [421] Year 2022
Table of contents :
Titel
Inhalt
Vorangestellt
I. Die Diskurs-Fähigkeit der Existenzphilosophie
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth
II. Wege sprachlicher Vermittlung
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
Der Form vertrauen – Heinrich Barth
III. Gebotenes
Die unbedingte Weisung – Franz Rosenzweig
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
IV. Vereinzelungen
Dieser wie er – Franz Rosenzweig
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
V. Zur Form
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
Mit-Sein
VI. Ringen um das Sein
Werden-Können
Expression
Entscheidung für das Gute
Kontrastierungen
Die dritte Bedeutung
Außer sich
Sich-angehen-Lassen
VII. Ethik der Existenz
Verwiesenheit
Existentialität
Absichtsloses Sprechen
Handeln
Dieser Eine
Optimierungen
Der Wert des Prä-skribierens
Gegen das Argument
Im Sein
Das Wort an jemanden richten
Literatur
Heinrich Barth
Jacques Derrida
Martin Heidegger
Emmanuel Lévinas
Jean-Luc Nancy
Franz Rosenzweig
Weitere Autoren
Existenzphilosophie
Susanne Möbuß
Ethik der Existenz Das Neue Denken bei Rosenzweig, Heidegger, Lévinas und Nancy
Susanne Möbuß
Ethik der Existenz Das Neue Denken bei Rosenzweig, Heidegger, Lévinas und Nancy
Schwabe Verlag
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Für Sarah, Lasse und Leon
Die Leidenschaft des Gespräches ist der schönste Beleg für die Kraft des existentiellen Denkens – hier und miteinander –
Inhalt
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I. Die Diskurs-Fähigkeit der Existenzphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . .
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Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
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Am Rande des Seins – Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Wege sprachlicher Vermittlung
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Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Form vertrauen – Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 III. Gebotenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Die unbedingte Weisung – Franz Rosenzweig
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Das Sollen wählen – Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Vereinzelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Dieser wie er – Franz Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 V. Zur Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Mit-Sein
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
VI. Ringen um das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Werden-Können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Inhalt
Expression
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Entscheidung für das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Kontrastierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Die dritte Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Außer sich
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Sich-angehen-Lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 VII. Ethik der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Verwiesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Existentialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Absichtsloses Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Handeln
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Dieser Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Optimierungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Der Wert des Prä-skribierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Gegen das Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Das Wort an jemanden richten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Jacques Derrida
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Martin Heidegger
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Jean-Luc Nancy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Franz Rosenzweig
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
Weitere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Existenzphilosophie
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Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land Ingeborg Bachmann Die Form eines philosophischen Textes ist seine erste Mitteilung. Noch bevor der Verstand seine Arbeit des Dechiffrierens beginnt, die auch die Frage nach dem Stil berücksichtigen kann, gibt es einen Ausdruck, der unmittelbar wirkt. Auf diese Überzeugung berufen sich die Vertreter des «Neuen Denkens», denen die folgenden Überlegungen gelten. Die Bezeichnung prägte Franz Rosenzweig in der Gewissheit, dass es nicht ausreiche, einzelne Elemente des philosophischen Diskurses zu korrigieren. Stattdessen fordert er «des Denkens vollkommene Erneuerung», da es nicht zu leisten vermöge, was es seiner Ansicht nach zu leisten hätte, nämlich Denken für den Einzelnen zu sein. Indem er diese Ansicht noch vor Martin Heidegger oder Karl Jaspers ausspricht, formuliert er das Grund-Anliegen der Existenzphilosophie, in deren Kontext seine Schriften daher zu rezipieren sind. Zugleich fällt aber auf, dass sich sein Verständnis von Philosophie, die für ihn Wissen im Glauben ist, nicht exakt mit jenen Artikulationen deckt, die etwas später dann als existenzphilosophisch bezeichnet werden. Obwohl das existentielle und das Neue Denken gemeinsamen Wurzeln entspringen, greift sein Konzept an entscheidenden Punkten über jenes hinaus und zwar so wirksam, dass es sich bis in die Philosophie unserer Tage nachweisen lässt. Im Jahr 2021 erfolgte die letzte Veröffentlichung von Jean-Luc Nancy, dessen Werk in so vielen Momenten als dessen Nachklang und Fortführung erscheint. Die hier rekonstruierte Entwicklungslinie durchzieht mithin einen Zeitraum von genau einhundert Jahren, beginnend 1921 mit dem Erscheinen von Franz Rosenzweigs Systemdarstellung Der Stern der Erlösung. Die darin zum Ausdruck gebrachte Sicht der Erneuerungsbedürftigkeit des Denkens kann auch als ein Quellgrund der Philosophie der différance bezeichnet werden, nicht jedoch, ohne nach den Schritten zu fragen ist, die diese Entwicklung in der Zwischenzeit durchlaufen hat. Hier fällt der Blick auf die späten Texte von Martin Heidegger und die Publikationen von Emmanuel Lévinas. Die auf diesen Seiten zu Wort
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kommenden Autoren versuchen in ihrer je eigenen Weise, dem Sagen andere Konturen zu verleihen, weil sich eines ihrer Auffassung nach in der bisher gebrauchten Sprache der Philosophie nicht artikulieren lässt: die Ethik der Existenz. Über Ethik, davon sind sie in erstaunlicher Einmütigkeit überzeugt, könne nicht theoretisch gesprochen werden, weil sie keine Theorie sei, sondern sich entwerfendes Geschehen der Setzung von Alterität. So muss denn in ihrem Sinne und größtenteils mit ihren Begründungen der Argumentationskontext des Ethischen aufgerollt werden, an dessen Re-Formulierung sich das ganze Potential dieses Erneuerungsstrebens zu erkennen gibt. Das Konzept, das sich im Zuge dieser Dekonstruktion des Bestehenden abzuzeichnen beginnt, wird als appellative Ethik bezeichnet. Ihm zu folgen, führt mitunter bis an die Grenze des Sagbaren – und darüber hinaus. Daher mussten Rosenzweig und Heidegger, Lévinas und Nancy eine Form finden, die es ermöglicht, Widersprüchliches, das sich nach traditioneller Vorstellung ausschließen würde, in Bezug zu setzen und zugleich in seiner Gegensätzlichkeit zu bewahren. Dieses ist die Form des komplementären Denkens. Sie erlaubt, jenes Charakteristikum der appellativen Ethik, das sie im ersten Moment geradezu als paradox ausweisen könnte, zu erschließen. Es besteht darin, dass der Appell, die Anrufung des Anderen, nicht Folge willentlicher Entscheidung ist. Was bei unvorbereiteter Betrachtung wie die Absage an die Geltungsansprüche des Moralischen wirken mag, erweist sich bei längerer Reflexion als die Grundlage dafür, Ethik der Gleichwertigkeit zu formulieren, die dem Menschen und allem Anderen gilt. Um diese thematisieren zu können, muss in der Tat das gesamte zur Verfügung stehende Instrumentarium der Artikulation in Anspruch genommen werden, was vor allem die Frage einschließt, wie denn ein Text beschaffen sein könnte, der der Vermittlung einer solchen Ansicht dient. An diesem Punkt wird sich die vielleicht tiefgreifendste Neuerung zeigen. Denn es geht nun nicht mehr darum, dass ein Text eine Aussage vermittelt, sondern darum, dass er selbst Aussage ist. Deshalb mögen die hier betrachteten Schriften überraschen, vielleicht auch verunsichern. Ihre Verfasser versuchen es zum Teil nicht einmal, sich in den philosophischen Diskurs ihrer Zeit einzugliedern, sondern halten sich ihm eher fern, um verbalisieren zu können, was ihrer Auffassung nach endlich der Wortwerdung bedarf. Um die Radikalität dieses Vorgehens in ihrem ganzen Umfang sichtbar werden zu lassen, werden einige Bezüge zum Werk Heinrich Barths hergestellt, der angetreten war, ein System von Existenzphilosophie – die eben nicht mit dem Neuen Denken deckungsgleich ist – in tradierter Form zu entwerfen. Er positioniert sich exakt an jenem Ort, den es im Zuge dieses Denkens zu meiden galt. Erstaunlicherweise hat sich an dessen so eingenommener Randstellung bis heute wenig verändert. Mitunter wirkt es noch immer wie ein eigener Diskussionskontext, der einmal mit Bedacht gewählt wurde, es aber zugleich verhindert, dass ein Austausch über seine bemerkenswerten Inhalte stattfinden kann. Es
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wäre zu fragen, ob es derzeit eine überzeugende Begründung einer Ethik der Gleichwertigkeit gibt. Sollte die Antwort negativ ausfallen, wäre es an der Zeit, das Neue Denken bezüglich seiner Überzeugungskraft und Belastbarkeit in diesem Zusammenhang zu befragen. Um seine Diskursfähigkeit zu erweisen, ist eine mit größter Behutsamkeit durchzuführende Konzeptualisierung erforderlich, also genau das, was seine Vertreter von Anfang an zurückgewiesen haben. Denn ihnen galt die performative Variabilität des Denkens als wichtigstes Ziel. Das Verstehen sollte in der Erfahrung ihrer Texte entstehen, nicht durch deren Argumentationen bestimmt werden. Ist es dann aber überhaupt zu verantworten, über existentielle Ethik zu sprechen und sie sogar in eine gezielte Konfrontation mit bestehenden Entwürfen, die den unausgesprochenen Horizont dieses Versuches bilden, zu führen? Wird dadurch nicht ihre spontane Unmittelbarkeit beschädigt, für deren Wahrung die Vertreter des Neuen Denkens mit solcher Leidenschaft eintraten? Nichts könnte fataler sein, als diese Besonderheit in dem Versuch, einen Dialog zu fördern, zu nivellieren, indem Definitionen und Festschreibungen fixieren sollen, was im Grunde nur zu erfahren ist. Der Beitrag, den das Neue Denken zur gegenwärtigen Ethik-Debatte leisten kann, ist jedoch zu wertvoll, um eine Annäherung nicht zu versuchen. So wird es darum gehen, seine Struktur unter größtmöglicher Wahrung seines Selbstverständnisses aufzudecken. Speziell die Gestaltung des letzten Kapitels wird der bestehenden Problematik Rechnung tragen. Motive werden skizziert, verbleiben aber auch in einer Form, die ihren Geschehnis-Charakter sichtbar erhält. So entsteht ein Tableau von thematischen Fraktalen, deren Gesamtheit mehr auszusagen vermag als ihr vermeintlicher Ausdruck. Die sich nun anschließenden Überlegungen verstehen sich als Reflexion existentieller Ethik, die mit den Stimmen dieser vier Denker geführt wird, sich oftmals auf sie verlässt, bisweilen die Differenzierung sucht, sich jedoch niemals vollständig von ihnen distanziert. Ohne Frage können die folgenden Betrachtungen kaum dem hohen Ideal des Neuen Denkens gerecht werden, wonach ein Text Situation der Ethik stiften soll. Doch sie können die Spur zeichnen, in der dieses vorstellbar wird. Neben allen formalen Aspekten, auf die es hinzuweisen galt, scheint der thematische Schwerpunkt fast ein wenig in den Hintergrund gerückt zu sein. Von einer Ethik ohne Moralität wird zu sprechen sein, was möglicherweise den Eindruck erwecken könnte, dass es dort gar nicht mehr um die Frage des menschlichen Miteinanders geht. Das Gegenteil ist der Fall, denn appellative Ethik ist ein einziger Aufruf dazu, sich von allem Anderen «angehen zu lassen», wie immer wieder zu lesen ist. Willenlose Bereitschaft ist hierfür erforderlich, eine Vorstellung, die so offensichtlich den Grundlagen ethischen Bewusstseins widerspricht. Ihre Erläuterung wird an die Stelle der Thematisierung etwa des Guten, des Handels oder der Absicht treten, ohne dass diese Begriffe damit überflüssig würden. Ihre Reflexion erfordert einen Blick, der die Bedingun-
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gen, unter denen diese entstanden, einer kritischen Prüfung unterzieht. Ziel der appellativen Ethik ist nicht die Entwertung bestehender Konzepte, sondern die Formulierung einer anderen Ethik, die Ethik des Anderen ist. Ihre Aufgabe wird nicht in Maßnahmen der Korrektur oder Modifizierung gültiger Theoreme gesehen, sondern darin, in größtmöglicher Eigenständigkeit das Fundament ethischen Denkens offenzulegen. Für Franz Rosenzweig, Martin Heidegger, Emmanuel Lévinas und Jean-Luc Nancy drückt es sich in einer äußerst schlicht klingenden Frage aus, deren Beantwortung jedoch die Einführung einer neuen Sprache des Ethischen erfordert: Wie also gehen wir einander an?
I. Die Diskurs-Fähigkeit der Existenzphilosophie
So viel auch darüber diskutiert werden mag, ob es verbindende und damit verbindliche Elemente gibt, die Existenzphilosophie kennzeichnen, ist zweifellos die Absicht, die von Anfang an in ihr verfolgt wurde, stets dieselbe: Sie sollte als Korrektiv einer in ihren Strukturen und in ihrem Selbstverständnis unzeitgemäß erscheinenden Philosophie fungieren. Damit liegt zwar ein Merkmal vor, das verschiedene Konzepte des existentiellen Denkens charakterisiert, dieses jedoch keineswegs von anderen Konzeptionen eindeutig unterscheidet. Denn kann nicht ein Großteil philosophischer Theorien als Reaktion auf die Erfordernisse der jeweiligen Zeit verstanden werden, indem etwa das jeweils gültige Menschenbild Ausdruck einer Beobachtung der bestehenden politischen oder sozialen Lage ist? So sollte es zumindest sein, würde die Antwort aus existenzphilosophischer Sicht lauten. Wunsch und Wirklichkeit stimmen allerdings selten überein. So entsteht aus dieser Beobachtung der Ruf nach einem «Neuen Denken», das Philosophie zu einem Indikator menschlicher Seins-Verfassung erklärt. Nicht, was das Wissen erfordert, soll fortan im Mittelpunkt der Diskussionen stehen, sondern was der Mensch verlangt. Um diese Forderung nachvollziehen zu können, ist der Blick auf jene Situation notwendig, der sie entstammt. Existenzphilosophie ist Denken in der Situation nach dem Ersten Weltkrieg.1 Ihre ersten programmatischen Schriften entstehen in den 1920er Jahren – 1921 Der Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig und 1927 Martin Heideggers Sein und Zeit. Obwohl allein diese beiden Texte auf den ersten Blick kaum vergleichbar wirken, verbindet sie doch dieselbe Intention. Sie wollen dem Denken neue Wege aufzeigen, damit es sich nicht in reiner Selbstbezüglichkeit erschöpft. Denn genau das geschehe seit der Antike, wie beide Denker einhellig konstatieren. Franz Rosenzweig findet zur Begründung seiner Auffassung, die es an Radikalität wahrlich nicht mangeln lässt, deutliche Worte. Zu all dem Leid, das die Menschen in der unmittelbaren Vergangenheit erfuhren und dessen lähmende Wirkung sie reflektierend bezwingen wollen, lächelt die Philosophie «ihr leeres Lächeln».2 Bereits in dieser noch unkommentierten Feststellung, die mit der ganzen Kraft enttäuschter Erwartung artikuliert wird, wird das trotz allem ungebrochene Vertrauen in Philosophie 1 Entsprechend kann Existentialismus als Denken in der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. 2 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3.
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I. Die Diskurs-Fähigkeit der Existenzphilosophie
sichtbar. Sie sollte Mittel sein, durch das ein Mensch seine Daseins-Situation erkennen und deren Beschaffenheit verändern kann. Doch woher nimmt Rosenzweig diese Gewissheit, demonstriert ihm doch die Philosophie «von Jonien bis Jena», also von den Vorsokratikern bis zu Hegel, das genaue Gegenteil? Die Geschichte westlicher Rationalität ist eben nicht nur Beleg einseitiger Ausrichtung der Theoriebildung. Sie enthält auch wenige, aber entscheidende Beispiele jener einzigartigen Fähigkeit zur Selbstkorrektur, die Rosenzweig mit den Namen von Søren Kierkegaard und Arthur Schopenhauer verbindet. Besonders Letzterer verkörpert jene Haltung, die dieser vom Repräsentanten des Neuen Denkens fordert: Der Mensch, das ‹Leben›, war das Problem geworden, und weil er [Schopenhauer] es in Form einer Philosophie zu lösen ‹sich vorgesetzt› hatte, so mußte nun der Wert der Welt für den Menschen in Frage gestellt werden – eine, wie schon zugegeben, höchst unwissenschaftliche Fragestellung, aber eine umso menschlichere. Um das wißbare All hatte sich bisher alles philosophische Interesse bewegt; […] Nun trat dieser wißbaren Welt selbständig ein andres gegenüber, der lebendiger Mensch […].3
Die Schlichtheit dieser Formulierung könnte vielleicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine philosophisch höchst brisante Veränderung angesprochen wird. Das «All» und der «lebendige Mensch» werden in durchaus plakativer Form kontrastiert. Beide Begriffe stehen stellvertretend für zwei alternative Weisen, den Gegenstand und die Methode von Philosophie zu bestimmen. Auf der einen Seite die Idee des Ganzen, die mittels der Vernunft gebildet werden kann, auf der anderen Seite der einzelne Mensch, von dem wir nicht wissen, sondern den wir nur erleben können. Werden die Konturen der Gegenüberstellungen in diesem Ausmaß vergrößert und damit letztlich auch vergröbert, droht unweigerlich eine Gefahr, die der beabsichtigten Wirkung zuwiderlaufen könnte. Die Grundsätzlichkeit derartiger Aussagen, die deren Wahrheit erweisen soll, scheint Zustimmung zu erschweren, solange diese das Produkt argumentativer Überzeugung ist. Rosenzweig spricht selbst den unwissenschaftlichen Eindruck an, den die neue Frage nach dem «Wert der Welt für den Menschen» erzeugen wird. Doch unwissenschaftlich kann auch die Form wirken, in der diese Frage gestellt wird.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig Zur Entstehungszeit des Sterns der Erlösung ist Franz Rosenzweig zwar noch von jener Entschlossenheit entfernt, die ihn einige Jahre später zur grundsätzlichen Abkehr von theoretischen Betrachtungen veranlassen wird. Doch stellt dieser Schritt, dessen konsequente Durchführung größten Respekt verdient, letztlich 3
Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 9.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
nur die Folgerung jenes Bekenntnisses zu einem Philosophieren jenseits der wissenschaftlichen Form dar, das er mit Blick auf Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zum Ausdruck bringt. Es mag verwundern, dass die Überlegungen zur Ethik der Existenz mit Gedanken zum Werk Franz Rosenzweigs eingeleitet werden. Noch ist es nicht üblich, sein Denken im Kontext der Existenzphilosophie zu betrachten, obwohl es ohne Frage angebracht ist, und zwar nicht im Sinne partieller Verwandtschaft, sondern als dessen Gründungsbeleg. Noch bevor Karl Jaspers und Martin Heidegger ihre Konzepte der Existenz mit differenzierender Akzentuierung formulieren, präsentiert Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung ein Programm des Neuen Denkens, das antizipiert, was Spätere in ihrer je eigenen philosophischen Intonation zum Ausdruck bringen werden. Dabei muss es nicht überraschen, dass er sich niemals zum Projekt «Existenzphilosophie» bekannte. Denn dieser Begriff wurde erst acht Jahre nach dem Erscheinen des Sterns der Erlösung eingeführt, um fortan zum Teil sehr unterschiedliche Konzeptionen unter einer gemeinsamen Titulierung zusammenfassen zu können. Nur am Rande sei hier daran erinnert, dass mit diesem Zusammenschluss im Geiste einer gemeinsamen Idee beileibe nicht alle vermeintlichen Repräsentanten einverstanden waren. Mitunter kann es fast so wirken, als wäre eine verbindende Kennzeichnung dem Wunsch nach intellektueller Originalität abträglich gewesen. Zudem sollte Gemeinschaft im Denken, so legen es zumindest Heideggers Bemerkungen nahe, das Ergebnis eigener Entscheidung und nicht einer verallgemeinernden Etikettierung sein. Nichts von alledem kümmert Franz Rosenzweig, als er im Jahr 1921 jene kompakte Schrift vorlegt, die aufgrund seines frühen Todes sein einziges umfangreiches philosophisches Werk bleiben sollte. Obwohl ihm eine Dozentur an der Berliner Universität angetragen wurde, entschied er sich für einen anderen Weg des Denkens, der sich nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch eine ganz andere Absicht auszeichnet. Denken solle, so heißt es, «Dienst am Menschen» sein.4 Eine ungewohnt grundsätzliche Bedeutung des Begriffes der Ethik leuchtet hier für einen kurzen Moment auf. Philosophie begnügt sich nicht damit, System der Darlegungen über das gute Verhalten des Menschen zu sein, sondern ist selbst Tat, die sich der Bewertung aussetzt. Deren Maßstab ist kein Gerüst verifizierbarer Aussagewerte, die Aufschluss über den ethischen Gehalt einer Handlung gewähren, sondern die Wirkung des Getanen und sogar noch offensichtlicher, des Unterlassenen. Der gute Wille mag im Glanz seiner allgemeingültigen Rechtfertigung erscheinen – solange er sich nicht bewährt, vermag er nach Rosenzweigs Auffassung nicht zu überzeugen. 1925 folgt er der Anregung, rückblickend die wichtigsten Gedanken seines Sterns der Erlösung zu kommentieren. Darin bestätigt sich das gerade entstehende Bild jener außergewöhnlichen VerGlatzer in seinem Vorwort zu Franz Rosenzweigs Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 11.
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I. Die Diskurs-Fähigkeit der Existenzphilosophie
antwortung, die er dem Philosophen zuweist und der er selbst gerecht zu werden suchte. Denn sein Aufruf zum «Dienst am Menschen» bedeutet keine Absage an Philosophie, sondern deren Umsetzung vom Wort in die Tat: Philosophiert werden soll auch weiterhin, […]. Aber diese Schau ist nicht Selbstzweck. Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selber verantwortet werden, statt daß es sich selber trüge oder von andern seiner Art getragen würde. Diese Verantwortung geschieht im Alltag des Lebens.5
In philosophischer Redlichkeit, die Rosenzweigs Denken ein kaum sonst zu findendes Maß an intellektueller Selbstlosigkeit verleiht, wird der Geltungsrahmen theoretischer Aussagen radikal begrenzt. Diese dienen letztlich ihrer eigenen Überwindung, da es nicht um die Reflexion an sich geht, sondern um deren Wert für den Menschen. So liege der Sinn des «Buches» darin, «Nichtmehrbuch» zu werden,6 eine Sichtweise, die an Ludwig Wittgensteins Notiz am Ende seines Tractatus logico philosophicus, im selben Jahr wie der Stern der Erlösung erschienen, erinnert: «Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. […] Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.»7 Auch hier fällt auf, dass Wittgenstein an denjenigen denkt, der ihn versteht, womit sich für einen kurzen Moment das Einfinden in die Position des Denkenden vor das Nachvollziehen seiner Sätze schiebt. Dabei mag es sich um eine zufällige Parallelität handeln oder auch um das bemerkenswerte Faktum, dass zwei Theoretiker zu Beginn der 1920er Jahre die Überzeugungskraft ihrer Gedanken nicht gänzlich von der Person des Denkenden abstrahieren wollen. Ist es die Befürchtung, einem solch hohen Anspruch nicht gerecht werden zu können, die Rosenzweigs Haltung als zwar kostbarstes, doch für eine philosophische Ethik nicht geeignetes Vorbild erscheinen lässt? Der unbedingte Forderungscharakter, der seiner Sichtweise inhäriert, hebt sie wahrscheinlich über die Versuche, eine existenzphilosophische Ethik zu diskutieren, hinaus und präformiert sie doch zugleich. Nicht als Ideal, das es zu verfolgen gilt, aber doch als Präambel existentieller Aussagen zur Ethik. Diese wirkt sich in Rosenzweigs Denken wohl nirgends nachvollziehbarer aus als in seiner Charakterisierung der Persönlichkeit des Denkenden, der für ihn nicht vom Lehrenden unterschieden werden kann. Den «neuen Begriff und Typ des Philosophen», den er heraufbeschwört, zeichne jene «persönliche, erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit» aus, die nur mittels Erfahrung, nicht im Wissen zu erreichen sei.8 Denn dient «das Buch» wirklich seiner Bewährung im Alltag, muss der Philosoph jene 5 6 7 8
Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 160. Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 160. Tractatus logico philosophicus, 6.54, S. 115. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 57.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
Vielfalt von Perspektiven, Erfahrungen und Erlebnissen aus eigener Anschauung kennen, die hier im Begriff der «Standpunkteinheit» zusammengefasst werden. Zugleich ist sich Rosenzweig der Problematik, die aus dieser Auffassung folgen kann, bewusst. Denn kann dasjenige, was ein solch erfahrener Denker niederschreibt, überhaupt noch als Wissenschaft bezeichnet werden? Rosenzweig, der bei Friedrich Meineke Geschichte studierte und über Hegel und den Staat promovierte, gebraucht diesen Begriff gewiss nicht leichtfertig. Er ist mit den Anforderungen vertraut, die den philosophischen Diskurs seiner Zeit prägen. Umso größeres Gewicht kommt seinem Plädoyer für ein Neues Denken zu. Denn hier phantasiert nicht ein Ahnungsloser von verheißungsvollen Möglichkeiten, sondern ein Denker artikuliert seine von Sorge und Empathie getragene Beobachtung menschlichen Seins. Seine Sorge gilt dem Selbstverlust des Einzelnen, dem in der Philosophie keine Beachtung geschenkt wird. Mit-Gefühl verbindet ihn mit den Menschen seiner Zeit, die vielfach in den Jahren des Krieges mehr erlebten, als sie zu ertragen vermochten. Kann nun aber das Medium Philosophie überhaupt solch hohen Anforderungen gerecht werden, die Rosenzweig mit ihm verbindet? Sperrt sich nicht die Regelhaftigkeit eines auf Logik basierenden Diskurses von Anfang an dem Anspruch, individuelles Erleben zu reflektieren? Wenn hier von dem über Jahrhunderte überlieferten Verständnis von Philosophie ausgegangen würde, bliebe Rosenzweigs Hoffnung illusorisch. Was liegt also näher, als bestimmte Parameter des Denkens «neu» zu justieren? Schon in dieser Formulierung klingt das Vorhaben mehr als ambitioniert. Denn der nähere Blick wird zeigen, um welche Korrekturen es sich hier genau handelt. Rosenzweig verzichtet jedoch auf mögliche Vorsicht, um seine Leser nicht zu verschrecken, die eine ganze konkrete Vorstellung von Philosophie vor Augen haben, und spricht von der «vollkommenen Erneuerung» des Denkens.9 Das erste Element philosophischen Denkens, auf das sich sein Blick richtet, hat sich bereits abgezeichnet, ohne vielleicht als solches erkennbar geworden zu sein. Es ist die Bedeutung, die dem Einzelnen zugesprochen wird, und zwar sowohl als Thema wie auch als Urheber des Denkens. Beide Aspekte verbindet Rosenzweigs Überzeugung, dass das individuelle Erleben Grundlage philosophischer Reflexion sein sollte. Es zu bedenken, erfordert nicht nur geeignete sprachliche Mittel, sondern auch einen erfahrenen Vermittler, der aus dem Fundus des persönlich Erlebten – aus der «Standpunkteinheit» – spricht. Mit diesem letzten Gedanken, der vielleicht eher Spiegel eigenen intellektuellen Selbstverständnisses ist, steht Rosenzweig fast allein im Feld philosophischer Kompetenzbestimmungen. An das Bild des Denkenden mögen seine Zeitgenossen offenbar nicht rühren – bis heute nicht, wie ergänzt werden müsste. In seiner Forderung nach Übereinstimmung von Lehre und Verhalten im Miteinander findet Rosenzweig letztlich kaum Mitstreiter. Mit der Forderung, das Erleben des 9
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Einzelnen zum Gegenstand der Philosophie zu erklären, bereitet er hingegen das existentielle Denken in den 1920er Jahren vor. Diese zeitliche Eingrenzung ist erforderlich, um den Eindruck zu vermeiden, dieses Denken sei zur Gänze Produkt des 20. Jahrhunderts. Der Hinweis erübrigt sich fast, dass bereits Søren Kierkegaard das Motiv des Einzelnen in seinen diversen Abhandlungen reflektierte. Eine Spurensuche, die Ansätze existenzphilosophischen Denkens aufdecken soll, könnte bis zu den Schriften von Aurelius Augustinus führen, der in seinen Confessiones – Bekenntnissen die Frage «Was bin ich also?» mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Erinnerns beantwortet.10 Eine solche Akzentuierung ist weit von Aussagen entfernt, die den Begriff des «Ich» nutzen, um eine Grundlage evidenter Erkenntnis definieren zu können. Konzeptionen des Subjekts als Ursprung kognitiver Akte gehören seit frühester Zeit zum Bestand philosophischer Theoriebildung. Allerdings erfüllt der Begriff des Subjekts in keiner Weise die Voraussetzungen, um in Rosenzweigs Verständnis Bestandteil des Neuen Denkens bleiben zu können. Denn das Subjekt ist gerade nicht im vielfältigen Geflecht seines Erlebens vereinzelt, sondern es fungiert im Gegenteil als zentraler Ausgangspunkt des Erkennens, das stets ein und dasselbe Erkennen ist, solange es durch seine formale Struktur gekennzeichnet wird. Rosenzweig folgert, dass auch der Gegenstand einer in diesem Sinne ent-individualisierten Erkenntnis stets nur ein und derselbe sein könne, nämlich «das All» in der abstrahierten Form seiner Denkbarkeit. «Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt.»11 Diese Vorstellung einer Einheit zerbricht mit dem Aufkommen des Neuen Denkens. «Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus.»12 Rosenzweig lässt keinen Zweifel an den immensen Konsequenzen dieser Fokussierung des Einzelnen: Die Philosophie hatte den Menschen, auch den Menschen als ‹Persönlichkeit›, in der Ethik zu fassen gemeint. Aber das war ein unmögliches Bestreben. Denn indem sie ihn faßte, mußte er ihr zerrinnen. Die Ethik, mochte sie noch so sehr grundsätzlich der Tat eine Sonderstellung allem Sein gegenüber geben wollen, riß in der Ausführung gleichwohl mit Notwendigkeit die Tat wieder hinein in den Kreis des wißbaren All; jede Ethik mündete schließlich wieder in eine Lehre von der Gemeinschaft als einem Stück Sein.13
Auf diese Diagnose wird im weiteren Verlauf der Überlegungen zurückzukommen sein. Denn sie benennt exakt jenes Problem, vor dem Existenzphilosophie 10 11 12 13
Confessiones, X, S. 527. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 10. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 11.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
steht, wenn sie eine Ethik des Einzelnen formulieren will. Mit seiner konsequenten Akzentuierung des Begriffes vom Einzelnen steht Franz Rosenzweig in nichts den Entwürfen nach, die Martin Heidegger, Karl Jaspers und einige Jahre später Heinrich Barth präsentieren werden. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass er sie als Erster in dieser Reihe vornimmt und die Herausforderung benennt, zugleich eine Vorstellung von Ethik zu entwickeln. Als Erster in dieser Reihe, doch nicht als Erster überhaupt. Denn bereits sein Lehrer und Mentor Hermann Cohen thematisiert diese Problematik in seiner 1918 postum erschienenen Abhandlung Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Rosenzweig betont immer wieder, dass wir vom Einzelnen nichts wissen können, weil die Kategorisierungstendenz des Wissens als abstrakte Erkenntnis über alles Individuelle hinweg urteilt – nicht aus Unachtsamkeit, sondern mit Bedacht. Denn Kategorien dienen gerade dazu, Aussagen über etwas treffen zu können, ohne dieses noch in seiner je eigenen Beschaffenheit berücksichtigen zu müssen. Für die Fixierung eines allgemeingültigen Begriffes von Wahrheit ist dieser Schritt der Abstraktion unverzichtbar, der ohne Frage durch den Gewinn kontextunabhängiger Erkenntnis besticht. Rosenzweig bewertet diese Kontextunabhängigkeit hingegen als größtes Manko der Philosophie. Fällt in seiner Konzeption die auktoriale Souveränität des Subjekts, insofern er es nicht mehr als autonomen Initiator des Erkenntnisstrebens begreift, wird auch der Begriff des Wissens, der auf dessen kognitiver Kompetenz allein basiert, obsolet. Rückblickend kommentiert er diesen Gedanken, den er in seinem Stern der Erlösung entwirft, wie folgt: «Jedenfalls ist das die Pointe meines ersten Bandes. Er will weiter nichts lehren, als daß keiner dieser drei großen Grundbegriffe des philosophischen Denkens auf den andern zurückgeführt werden kann.»14 Mit den drei Grundbegriffen meint er Gott, Welt und Mensch. Sein Verdikt einer Zurückführung betrifft vor allem die bereits kritisierte Annahme, aus der Denkbarkeit «Wißbarkeit» ableiten zu können. In frontaler Weise richtet er sich damit gegen die überkommene Sicht des Subjekts, das meint, alles, was es nicht ist, aus der Gewissheit seiner Selbst-Kenntnis erkennen zu können. Damit verliert nicht nur der Einzelne seine Möglichkeit, sich selbst situativ variierend immer wieder neu zu konstituieren. Das Andere, das nicht mit ihm identisch ist, kann nicht unabhängig von subjektiver Erkenntnis erschlossen werden. Denn nichts anderes heißt seiner Auffassung nach die Zurückführung des Anderen auf das Eine: Es wird nach einem ihm nicht notwendig entsprechenden Maßstab erfasst, der durch die subjektive Erkenntniserwartung diktiert wird. Hieraus ergibt sich die für Rosenzweigs Werk charakteristische Gleichsetzung der Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch, die für einen religiösen Denker so ungewohnt wirkt wie für einen Philosophen. Denn sie eröffnet eine Möglichkeit, jede der drei so wie sie ist zu erfassen und nicht in jenem perspektivischen Zuschnitt, der subjektivem 14
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Erkenntnisstreben vorangeht. «Gott ist nur göttlich, der Mensch nur menschlich, die Welt nur weltlich; man kann so tiefe Schächte in sie vortreiben, wie man will, man findet immer nur wieder sie selbst.»15 Nach herkömmlichem philosophischen Verständnis, das im Wunsch nach Wissbarkeit mündet, muss dieser Einschränkung der Erschließungsfähigkeit des Subjekts das Eingeständnis folgen, dass wir von Gott, Welt und Mensch im eigentlichen Sinne «nichts» wissen können. Droht damit das vermeintlich garantierte Gefüge der Wirklichkeit, die menschliche Daseinsorientierung zu gewährleisten schien, in einem verbindungslosen Nebeneinander dreier Vorstellungen zu zerfasern, setzt Rosenzweig jenen Begriff ein, der nicht nur sein Denken, sondern auch dasjenige Martin Heideggers kennzeichnet: den Begriff der Erfahrung. Denn er muss ja eine Möglichkeit aufzeigen, wie jene Elemente, die seiner Auffassung nach das menschliche Erleben prägen, diesem zugänglich werden. Nicht auf dem Wege des Wissens, so lautet seine Antwort, sondern der Erfahrung. Damit liegt das zweite Merkmal, das sein Denken als existenzphilosophisch ausweist, vor. Natürlich zählt dieser Terminus schon seit jeher zum Vokabular der Philosophie. Denn er benennt die Weise sinnlicher Wahrnehmung, die uns Einzelnes erfassen lässt. Zum tragenden Begriff eines ganzen philosophischen Systems – und nicht weniger als das will Rosenzweig entwickeln – konnte er hingegen bisher aufgrund seiner Bindung an den spezifischen Gehalt des Angeschauten nicht werden. Genau dieser Gehalt soll nun in den Mittelpunkt reflektierender Aufmerksamkeit gerückt werden und zwar in einer höchst bemerkenswerten Form. Nicht nur der einzelne Mensch wird jetzt fokussiert, sondern das einzelne Ding. Die Doppelung dieser Folgerung ist konsequent. Denn soll sich das Einzelne im personalen Kontext erschließen, muss Einzelnes auch in materialer Hinsicht thematisiert werden können. Nur so kann Rosenzweig auf der Seite menschlicher Daseins-Erfahrung von jener situativ bedingten Besonderheit ausgehen, die er einem Wissen um das All in seiner grundsätzlichen Erkennbarkeit absprechen will. Für die hier folgenden Überlegungen wird dieser Gedanke nicht von zentraler Bedeutung sein, obwohl seine generelle Wichtigkeit gar nicht genug hervorgehoben werden kann. Denn mit seinem Stern der Erlösung legt Rosenzweig eine frühe Philosophie des Dinglichen vor, die es wagt, dieses in seiner je eigenen Gestalt zu denken, die allzu oft zugunsten eines verallgemeinerbaren Erkenntniswertes ausgeblendet werden musste. Wenngleich es nicht in erster Linie um diesen außerordentlichen Schritt gehen wird, das materielle Einzelne zu thematisieren, soll doch die entscheidende Passage zitiert werden. Denn in der Weise, in der wir uns zu dessen Vielfalt verhalten, drückt sich unsere Relationsfähigkeit im Welt-Bezug aus. Letztlich ist auch sie von ethischer Relevanz:
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Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einziger Gegenstand, sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben von Dingen. Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit […] ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. […] Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen.16
Diese Beziehungen zu pflegen, zählt für Rosenzweig zu den herausragenden Fähigkeiten des Menschen. Es muss aber auch auf den Ursprung dieser Auffassung hingewiesen werden, die sich so schwer aus herkömmlich philosophischer Sichtweise begründen lässt. Der Stern der Erlösung stellt die drei Grundbegriffe Gott, Welt und Mensch dar, die er nicht über das Wissen oder den Glauben, sondern über die Erfahrung erschließen will. In jeder Form der Erfahrung entsteht eine Relationslinie, die detailliert untersucht wird. Diese Linien, die Rosenzweig als «Bahnen» bezeichnet, schließen sich am Ende zu jenem vielfältigen Beziehungsgeflecht zusammen, das unter dem Begriff der «Gestalt» als Wirklichkeit des Erfahrbaren erscheint. Zur Darstellung der Relationslinie Mensch – Welt nutzt Rosenzweig seine Erläuterungen der Dinge, denn nur in der Erfahrung ihrer unhinterfragbaren Präsenz wird Welt überhaupt zugänglich. Existenzphilosophischem Denken kann nicht völlig zu Unrecht entgegengehalten werden, dass es zu stark nur dem Begriff des menschlichen Selbst gelte. Oftmals wirkt es tatsächlich so, als fordere der Gewinn der Eigentlichkeit, jener vermeintlich individuellen Attribuierung der Existenz, sogar ein Ausblenden menschlicher Welt-Bezüge. Denn allzu schwer scheint sich die Vorstellung eines menschlichen Seins, das in Entschlossenheit und Verantwortung gewählt werden muss, mit der Annahme des Daseins verbinden zu lassen, das Sein in der Welt und damit Sein mit den Dingen ist. Bisweilen bedeutet die Ermutigung zur Existenz-Entscheidung sogar die ausdrückliche Abkehr von den konkreten Bedingtheiten des Daseins. Es ist das Verdienst von Martin Heidegger und Albert Camus, diese stark anthropozentrische Tendenz, die existenzphilosophisches Denken beinhalten kann, erkannt und eingeschränkt zu haben. Im Denken Franz Rosenzweigs erübrigt sich eine derartige Maßnahme, weil er von Anfang an Welt als Synonym für die vielgestaltige Konkretisierung des Dinglichen in seinen Entwurf menschlichen Seins integriert. Denn sie ist einer der drei Grundbegriffe des Seins und rangiert damit, so befremdlich es im ersten Moment auch klingen mag, prinzipiell auf derselben Wertigkeitsstufe wie das Grundwort «Gott». Welche Stellung kommt nun der Erfahrung innerhalb des systembildenden Denkens von Franz Rosenzweig zu? Ist sie geeignet, jene großangelegte Neuformulierung von Philosophie zu bewirken, die er plant? 1925, als er vom Neuen Denken spricht, handelt es sich nicht mehr um eine bloße Absichtserklärung, deren Gelingen sich noch zu erweisen hat. Vielmehr liegen die Ausführungen des
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Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148.
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Sterns der Erlösung mittlerweile seit vier Jahren vor, so dass deren Funktionieren bereits einige Zeit auf die Probe gestellt werden konnte. Ein erneuter Blick in den Text bestätigt Bedeutung und Wirkweise jener Erneuerung im Denken, die durch die Einführung der Erfahrung erreicht wurde. Zunächst kann noch einmal auf eine der zentralen Thesen des Sterns hingewiesen werden. Gott, Welt und Mensch sind keine wissbaren Einheiten, die sich nach Maßgabe subjektiven Erkenntnisstrebens denken lassen. Vielmehr sind es Komplementärgrößen individueller Erfahrung, die sich ausschließlich im situativen und temporären Erleben vergegenwärtigen können. Nur in den Augenblicken des Erfahrens gewinnen sie Relevanz für das menschliche Denken, das reflektiert, was individuelle Begegnungsmomente erschlossen haben. Auf eine wichtige Folgerung, die sich aus dieser Sichtweise ergibt, wurde bereits hingewiesen. Da alle drei Grundworte Erfahrungsinhalte des Einzelnen sind, besteht für Rosenzweig in diesem Kontext keine Notwenigkeit mehr, sie qualitativ zu differenzieren und dem Erleben des Göttlichen eine Sonderstellung in dem Gesamt möglicher Erfahrungen zu attestieren. Für existenzphilosophische Versuche, Sein als sich selbst tragendes System zu begreifen, das auf keinerlei Legitimationen oder kausale Bedingungen zurückgreifen muss, die ihm nicht inhärieren, stellt diese Auffassung Rosenzweigs ein höchst bedenkenswertes Muster dar. Denn obwohl er keinen Zweifel daran aufkommen lässt, wie groß der Anteil religiöser Bewusstheit innerhalb seiner Konzeption ist, führt dieser doch nicht zu einer Entwertung welthaften Seins, wie sie vielleicht zu erwarten wäre, wenn etwa das kommende Sein für wertvoller als seine irdische Vorbereitung gehalten würde. Doch noch aus einer weiteren Perspektive ist Rosenzweigs Einführung des Begriffes der Erfahrung in den Corpus philosophischer Theoreme aufschlussreich. Den Hintergrund all dieser Betrachtungen bildet die Frage, wie sich existenzphilosophisches Denken im Verhältnis zum bestehenden philosophischen Diskurs positioniert. Denn es soll in einem weiteren Schritt untersucht werden, ob dadurch von Anfang an ein Dialog mit Denkern ausgeschlossen ist, die die existentielle Akzentuierung explizit nicht teilen. Rosenzweig hat einen unmittelbaren Austausch nicht gesucht, was wahrscheinlich in Anbetracht der kompakten Eigenständigkeit seines Denkens auch nicht zu erwarten war. Um trotzdem ein Fundament für die Frage legen zu können, die die weiteren Überlegungen leiten wird, ist ein Blick auf den Stil des Sterns der Erlösung sinnvoll. In dem kleinen Text Das Neue Denken finden sich einige interessante Bemerkungen hierzu: Die Erfahrung entdeckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder nur Menschliches, in der Welt nur Weltliches, in Gott nur Göttliches. […] Finis philosophiae? Wäre es, dann um so schlimmer für die Philosophie! Aber ich glaube nicht, daß es
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so schlimm kommt. Vielmehr kann an diesem Punkt, wo die Philosophie mit ihrem Denken allerdings an ihrem Ende wäre, die erfahrende Philosophie beginnen.17
Die «erfahrende Philosophie» bestimmt sich durch ihre Arbeit der Dekonstruktion, mit deren Hilfe sie bisher für einzig denkbar gehaltene Gewissheiten in ihre vormals enthaltenen, dann aber im Zuge der Abstraktion überformten Bestandteile zerlegt. Hierin lag der Sinn jener Deutung der drei Grundworte als Grundverhältnisse, deren Möglichkeit der Einzelne erfahrend erfassen kann. Das Denken, das aus diesem Prozess keineswegs ausgeschlossen ist, sondern lediglich neu ausgerichtet wurde, wird damit gleichsam zu Grunde gerichtet, das heißt auf die fundamentalen Bestandteile seiner Reflexionstätigkeit zurückgeführt. Während der erste Part des Sterns der Erlösung durch seinen Gegenstand bestimmt wird, indem dort die Elemente des Denkens in einem Verfahren der Renaturierung in ihrer je eigenen Unbedingtheit sichtbar gemacht werden, betont Rosenzweig mit Blick auf den zweiten Teil seiner Schrift den Aspekt der Methode. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff der «erzählenden Philosophie». «An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens.»18 Der Sprechende beabsichtigt nicht, seinem Gegenüber eine Ansicht zu präsentieren. Stattdessen entsteht erst in Wort und Hören, Bedenken und Antworten jene Wahrheit, die zukünftig Gegenstand philosophischer Betrachtung sein sollte. Wieweit sich eine solche Auffassung in einem geschriebenen Text verwirklichen lässt, bleibt sicherlich unklar. Es geht aber letztlich auch gar nicht um diese Frage, sondern um die Informationen, die aus verschiedenen Schriften über Rosenzweigs Projekt des Neuen Denkens gewonnen werden können. Denn mit ihrer Hilfe wird zu überlegen sein, ob dieses Denken, so voraussetzungslos und vital es auch wirkt, jemals als diskursfähig betrachtet werden kann. Diese Bedingung müsste erfüllt sein, wenn Existenzphilosophie, der hier das Werk Franz Rosenzweigs zugerechnet wird, in einen behutsamen Dialog mit der zeitgenössischen Philosophie geführt werden soll. Warum ein solches Vorhaben sinnvoll sein könnte? Weil es ein weiterer Schritt in dem Bemühen ist, existentielles Denken als konkurrenzfähiges Denken unserer Tage auszuweisen. Dazu zählt zum einen die Feststellung, dass es – manch gegenteiliger Behauptung zum Trotz – durchaus Elemente enthält, die sich zu einer Konzeption ethischer Relevanz zusammenfassen lassen. Zum anderen wird ein Blick auf das Sprach-Verständnis erforderlich. Denn sollen sich die ethischen Aussagen der Existenzphilosophie in einem Vergleich zu bestehenden Konzepten der Gegenwartsphilosophie zeigen, muss der Aspekt ihrer sprachlichen Vermittlung berücksichtigt werden. Es ist nicht zu erwarten, dass deren Form eine Konsistenz aufweisen wird, wie sie von zeitgenössischen Entwürfen in Anspruch genommen 17 18
Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 144. Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 151.
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wird. Doch kann nachgewiesen werden, dass das Sprach-Denken der Existenzphilosophie eine bestimmte Form erkennen lässt, die weit von pseudo-poetischer Verschrobenheit entfernt ist, wie es gelegentlich behauptet wird. Die philosophische Artikulation ethischer Aussagen bedarf der sprachlichen Form, die ein Mindestmaß an Wiederholbarkeit ihres Aussagegehaltes gewährleistet. Dieses ist erforderlich, damit überhaupt von einem ethischen Konzept gesprochen werden kann, wären doch Handlungen, die sich nicht auf diese Grundlage berufen können, bestenfalls Ergebnis gelingender Einzelfall-Entscheidungen. Wie wenig diese vorbereitenden Gedanken der tatsächlichen Ethik der Existenz gerecht werden, wird sich im Verlauf der Überlegungen in überdeutlicher Klarheit zeigen. Zunächst könnten allerdings schwerwiegende Bedenken laut werden. Widerspricht nicht der Versuch, sprachliche Konsistenz und ethische Verbindlichkeit auf der Basis existenzphilosophischer Texte zu begründen, deren Intention in dramatischem Ausmaß? Warum wandten sich Denker der Existenz mit aller ihnen zu Gebote stehenden intellektuellen Leidenschaft, die sich sehr unterschiedlich ausdrückt, gegen ein Verharren im bestehenden wissenschaftlichen Diskurs, wenn nun, rund einhundert Jahre später, exakt nach jener Form gefragt wird, die sie ablehnten? Aber ist es exakt diese Form? Gewiss nicht. Es wird nach jener Form zu fragen sein, die sich den einschlägigen Texten selbst entnehmen lässt. Dabei wird nicht der Maßstab der Philosophie zu ihrer Extraktion angelegt, zumal es diesen wahrscheinlich ohnehin nie gegeben hat. Es gilt, nach den Anhaltspunkten zu suchen, die existenzphilosophische Texte selbst bieten, um ihre konzeptuelle Stimmigkeit, die eine Übereinstimmung der Vielfalt ist, herausstellen zu können. Eine erste Bestätigung auf diesem Wege bieten die Passagen in Franz Rosenzweigs Schriften, in denen er selbst «die Methode» anspricht. Deswegen stellt der kleine Text Das Neue Denken ein so wichtiges Zeugnis intellektueller Selbstreflexion dar: Er beleuchtet auch die methodische Vorgehensweise im Stern der Erlösung und lässt dessen innovative Brillanz sichtbar werden. Dabei geht es nicht um Innovation um ihrer selbst willen, sondern als Bedingung kreativen Sprach –und Form-Denkens. Rosenzweig prägt zwei Ausdrücke, die hier noch einmal betrachtet werden sollen: das «erfahrende Denken» und die «erzählende Philosophie». Sogar in dieser extrem reduzierten Gegenüberstellung wird schnell nachvollziehbar, dass beide zusammengehören. So individuell, wie die Struktur der Erfahrungen ist, muss auch die Form ihrer Vermittlung sein. Das Erfahrungsprofil von zwei Individuen kann sich niemals vollständig gleichen, da es durch früheres Erleben, situative Bedingtheiten und psychische Dispositionen, um nur diese Faktoren zu nennen, bestimmt wird. Folglich ist nach einem Ausdruck zu suchen, der zwar die Gemeinsamkeit feststellen kann, dass es sich in allen Fällen um Erfahrungen handelt, gleichzeitig aber das Variationsspektrum konkreter Erfahrungen in keiner Weise einschränkt oder gar negiert. Denn das wirft Rosenzweig der bisherigen Philosophie vor: Sie habe das Vielfältige des Konkreten zugunsten der Einheitlichkeit des Wissbaren aufgegeben. Ob er in
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dieser sehr plakativen Weise, in der er von dem Denken insgesamt spricht, ohne auch nur den Versuch präzisierender Differenzierungen zu machen, dem klassischen Denken gerecht wird, kann hier nicht entschieden werden. Mit Sicherheit ruft eine derart unspezifische Behauptung allein schon aufgrund ihres Mangels an verifizierender Sorgfalt Kritik hervor, die sogar noch weit mehr als ein Widersprechen sein könnte. Lehnt jemand in so offener Konfrontation das Regelwerk des Diskurses ab, sind seine Ansichten letztlich keines Blickes wert, so könnte eine naheliegende Reaktion aus der Sicht traditionellen Denkens klingen. Am Beispiel Franz Rosenzweigs kann der Mechanismus der Ignoranz, der weit über sachbezogene Ablehnung hinausgreift, besonders deutlich verfolgt werden. Sein Stern der Erlösung ist in Kreisen der Fach-Philosophen kaum rezipiert worden. Warum hätte es auch anders sein sollen, wenn jemand erklärtermaßen mit der Tradition bricht? Aber bricht er wirklich mit dem Denken der Vergangenheit? Bereits eine flüchtige Annäherung an den Aufbau seiner Schrift gibt Anlass zum Zweifel. Von «Metaphysik» ist die Rede, von «Metalogik» und «Metaethik», drei Überschriften, die jeweils gesonderten Kapiteln zugeordnet sind. Die Aussage Rosenzweigs in Erinnerung, dass sein Denken «ein System von Philosophie» sei, scheint diese Ankündigung nun dadurch bestätigt zu werden, dass die klassische Einteilung in thematische Kontexte sehr wohl auch hier zu finden ist. Doch folgt er damit nicht einem uneingestandenen Wunsch, den Klassifizierungsmustern der bisherigen Philosophie zu entsprechen. Die drei Postulierungen eines über die bisherigen Deutungen hinausgreifenden Denkens spiegeln seine Überzeugung, in den Begriffen von Gott, Welt und Mensch «Grundworte» des Denkens zu erkennen. Dass er den Anspruch zurückweist, auch nur eines von ihnen wissend erschließen zu wollen, ist bereits angedeutet worden. Auch dass «Wißbarkeit» durch Erfahrung zu ersetzen ist, hat sich gezeigt. Rosenzweig kann also in keinem Fall Physik, Logik und Ethik in herkömmlicher Weise verstehen, sondern muss zeigen, wie die Grundworte in Überschreitung der philosophischen Kontextzuweisungen zugänglich werden können. «Von Gott wissen wir nichts.»,19 so heißt es denn, wobei die Konstatierung des «nichts» tatsächlich nur dem Wissen, nicht jedoch der Erfahrung gilt. Der Begriff der Metaphysik ruft sicherlich Erinnerungen an jene Deutung hervor, die Aristoteles vornahm. Dabei lag der Fokus auf seiner Feststellung, dass ein erstes Denkbares gegeben sein müsse, um Einheit und Gültigkeit physikalischer Gesetzmäßigkeiten, zu denen vor allem die Kausalität zählt, zu gewährleisten. Auf eine solche Setzung des Denk-Notwendigen zur Sicherung der Denkbarkeit von Einheit und Struktur im Sein will Franz Rosenzweig nicht zurückgreifen. Die dreimalige Verwendung der Vorsilbe «meta» verweist nicht auf ein das Sein Überschreitendes und seine Konstitution Bedingendes. Sie soll vielmehr die Umdeutung der herkömmlichen Bestimmungen von 19
Der Stern der Erlösung, I,I, S. 25.
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physis, logos und ethos kenntlich machen. Deren gemeinsames Merkmal besteht seiner Ansicht nach in ihrem einheitsbildenden Aussagewert. Sie alle evozieren in den ihnen je eigenen Kontexten die Vorstellung eines Ganzen, das Gegenstand des Wissens werden kann, sobald sie auf das logische Denken zurückgeführt werden. Damit verlieren sie alle jedoch ihre vormals vielleicht noch vorstellbare Eigenheit und werden zu differenten Projektionsflächen ein und desselben Vorgehens, das das Allgemeine dem Besonderen vorzieht, weil so die Kenntnis stets auf dasselbe, nämlich das Denken selbst, zurückgeführt werden kann. Hiergegen setzt Rosenzweig folgende Forderung: «Aber eben jene Voraussetzung des einen und allgemeinen Alls haben wir aufgegeben. Wir suchen Gott, wie späterhin Welt und Mensch, nicht als einen Begriff unter anderen, sondern für sich, […] in seiner […] absoluten Tatsächlichkeit […].»20 In dieser gesuchten Tatsächlichkeit können die drei Elemente des Seins nicht Gegenstand des Wissens, sondern ausschließlich Inhalt der Erfahrung sein. Denn sie bilden für Rosenzweig jenes Medium der Erschließung, die das Besondere in seiner Vereinzelung zu erfassen vermag. Am deutlichsten wird diese Umkehrung, die Bestandteil des Neuen Denkens ist, mit Blick auf die Metalogik: Das System der Denkbestimmungen ist System nicht durch einen einheitlichen Ursprung, sondern durch die Einheit seiner Anwendung, seines Geltungsbereichs, – der Welt. […] Das All als ein eines und allgemeines kann nur zusammengehalten werden durch ein Denken, das aktive, spontane Kraft besitzt; indem so dem Denken eine Lebendigkeit zugeschrieben wird, muß sie dem Leben wohl oder übel abgesprochen werden […]. Erst die metalogische Weltansicht kann das Leben wieder in seine Rechte einsetzen.21
Denn diese Sicht wird von Rosenzweig nicht als ein Über-das-Vielfältige-Hinaus verstanden, das ihm nachträglich, doch unter Hinweis auf ein vermeintlich Ursächlich-Vorausgehendes Einheit attestiert. An verschiedenen Stellen ist vom «darüber hinaus» die Rede, womit jedoch nicht das Überformen des Tatsächlichen in seiner unkalkulierbaren Vielfalt, sondern das Überschreiten der Konstruktionen, die in der Philosophie notwendig erschienen, um alle Erscheinungen im Gedanken einer Einheit komprimieren zu können, gemeint ist. Ihrer Vielgestaltigkeit könnte der Mensch niemals erkennend Herr werden. Gerade hierin sieht Rosenzweig eine Triebkraft zur Entstehung des Logos, der «die sprudelnde Fülle [der Erscheinungen] zum toten Chaos des Gegebenen umfälschen» sollte.22 Im Neuen Denken geht es um eben diese sprudelnde Fülle der Erscheinungen, die der Mensch in einzelnen Momenten der Erfahrung vergegenwärtigt, das heißt über die Erfahrung hinaus zum Inhalt seines Reflektierens machen kann. Hiermit ist das immer wieder neu einsetzende und niemals zu einer Vision des Ganzen 20 21 22
Der Stern der Erlösung, I,I, S. 25. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46 und S. 50. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
führende Bedenken des Besonderen gemeint. In dessen Tatsächlichkeit will Rosenzweig Gott, Welt und Mensch denken und sie in ihrer faktischen Vereinzelung in eine Beziehung setzen, die in der Erfahrung – also dem Bezug des Gewahrens – geschaffen werden kann. Zerfällt das Bild der Wirklichkeit damit zunächst in die Vielheit ihrer Erscheinungen, wird es unmöglich, den Logos als umfassendes Prinzip zu denken. Stattdessen wird er nun als inneres Gestaltungsprinzip der Welt relevant.23 Bevor auf den letzten Teilbereich des Metaethischen geschaut wird, ist eine ergänzende Bemerkung notwendig. Die jeweiligen Vereinzelungsformen der drei elementaren Erfahrungen, die Rosenzweig in ihrer für sich bestehenden Gültigkeit darstellen will, sind keine Zielpunkte des Neuen Denkens. Wie aus den Hinweisen auf Entwicklungsstufen der Denkbarkeit von Gott, Welt und Mensch ersichtlich wird, liegt hier eine Genealogie der Vereinzelung vor. Diese ist nicht Ziel, sondern Voraussetzung des gewandelten Denkens. Denn würde es Rosenzweig als das Ziel seiner Argumentation ansehen, die drei in ihrer Eigenheit aus der Vorstellung einer umfassenden Allheit zu lösen, bliebe die entscheidende Frage ungestellt, deren Beantwortung er seinen Stern der Erlösung widmet. Gott, Welt und Mensch für sich nennen zu können, schafft die unverzichtbare Bedingung dafür, nach ihrer nun zu schaffenden Verbindung zu fragen. Diese sollte nicht durch das Denken der Einheit gesetzt werden, das Undifferenziertheit benötigt, um funktionieren zu können. Vielmehr sollte sie im Geschehen – performativ – ermöglicht werden. Aus dieser Perspektive wird noch einmal die immense Wichtigkeit der Erfahrung verständlich. Denn die verbindenden Akte, die Gott, Welt und Mensch aufeinander beziehen, nachdem sie zuvor in ihrer Tatsächlichkeit jeweils isoliert beleuchtet wurden, sind Geschehnis-Formen erfahrender Vergegenwärtigung. Nach dieser vorbereitenden Bemerkung ist es nun möglich, auf den letzten Bereich, den des Metaethischen, zu schauen. Rosenzweig verfolgt den Begriff des «Selbst», der sich aus jenem der Persönlichkeit des Menschen herausbildet, in einer Art entwicklungsgeschichtlicher Ausrichtung. So erscheint das Selbst in einem Moment äußerster Vereinzelung, in der es sich aus den selbstverständlichen Verbindungen zu anderen Menschen für einen Augenblick löst. Rosenzweig lässt keinen Zweifel daran, dass es dem Selbst jedoch nicht entspreche, in seiner «gebirgshaft ‹edel-stummen› Einsamkeit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst»24 zu verbleiben. Denn mit dieser Annahme sei eine Folgerung von erheblichem Gewicht verbunden: 23 «[…] der innerweltliche Logos, […] braucht nun nicht mehr mit einer Aktivität belastet zu werden, die seinem weltlichen Wesen, seiner Vielfältigkeit und Anwendbarkeit, gradezu widerspricht; er bewirkt die Einheit der Welt nur von innen, gewissermaßen nicht als ihre äußere, sondern als ihre innere Form.» Der Stern der Erlösung, I,II, S. 51. 24 Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79.
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Die ganze Welt, und insbesondere die ganze sittliche Welt, liegt in seinem Rücken; es ist ‹darüber hinaus›, – nicht als ob es sie nicht brauchte, aber in dem Sinn, daß es ihre Gesetze nicht als seine Gesetze anerkennt, sondern als bloße Voraussetzungen, die ihm gehören, ohne daß es hinwiederum ihnen gehorchen müßte.25
Mit diesen Worten antizipiert Rosenzweig, unwissentlich zwar, aber dennoch in höchster Präzision, das Problem existenzphilosophischer Ethik schlechthin. Obwohl er seine Vorstellung vom Selbst in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive bildet, trifft die Beschreibung seiner Entstehung exakt jene Auffassung, die von späteren Denkern der Existenz vertreten wird. Es gibt einen Moment, in dem der Mensch durch eine fundamentale Erschütterung zur Vereinzelung veranlasst wird. Karl Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von der Bedeutung der «Grenzsituationen», deren Erfahrungen den Einzelnen zur Reflexion seines Daseins und seiner Möglichkeit der Existenz führen. Für Martin Heidegger kommt dem Bewusstwerden der Endlichkeit die Funktion zu, den für selbstverständlich gehaltenen Seins-Bezug des Menschen zu hinterfragen. Søren Kierkegaard sieht in der Verzweiflung die Triebkraft, den Einzelnen mit der Notwendigkeit seiner Wahl zu konfrontieren, in der ganzen Widersprüchlichkeit, die dieser Akt mit sich bringt. Bei Franz Rosenzweig heißt es hingegen: «Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages wie ein gewappneter Mann und nimmt von allem Gut seines Hauses Besitz. Bis zu diesem Tag […] ist der Mensch ein Stück Welt auch vor seinem eigenen Bewußtsein; […] Er wird ganz arm, er hat nur sich, kennt nur sich, niemand kennt ihn; denn es ist niemand da außer ihm.»26 Noch einmal muss auf eine Besonderheit hingewiesen werden, die Rosenzweigs Sichtweise zukommt. Für ihn verschränken sich die Perspektiven individualpsychologischer und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, wenn er von dem unvermittelten Durchbrechen des Selbst-Bewusstseins spricht. In den späteren Formulierungen wird der zuletzt genannte Aspekt wegfallen, so dass das Geschehen der Selbst-Werdung als existentiell entscheidendes Kriterium der Genese des Einzelnen verstanden werden kann. Mit seiner Folgerung artikuliert Rosenzweig dann allerdings einen Gedanken, der in genuin existenzphilosophischen Texten fast unerwähnt bleibt. Das Selbst, das sich seiner selbst in «edel-stummer Einsamkeit» bewusst wird, weil es aller Bindungen an die Gemeinschaft und deren Werte entbunden ist, fühlt sich deren ethischen Weisungen nicht mehr verpflichtet. Die Frage, die auch für die folgenden Überlegungen von zentraler Wichtigkeit sein wird, muss daher lauten, welchem Gesetz sich das Selbst, in dessen freier Konditionierung sich der Einzelne erfasst, je wird anschließen können? Denn dass es in der völligen Isolation verharrt, die es seine Bindungslosigkeit im einen Augenblick erleben lässt, wäre ebenso unrealistisch wie unproduktiv. Es
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Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 77.
Versuch und Verweigerung – Franz Rosenzweig
würde bedeuten, dass Existenzphilosophie zwar Prozesse beschreiben kann, in denen der Mensch sich zum Einzelnen emanzipiert, der Frage aber eher ausweicht, ob dem Geschehen der Lösung aus bestehenden Strukturen gesellschaftlicher, religiöser oder auch philosophischer Natur eine genuin ethische, das heißt letztlich auch normative Qualität eignet? Wird schließlich nach der Diskursfähigkeit der Ansichten gefragt, die Franz Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung entfaltet, erscheint die Formulierung bereits als unpassend. Wie bereits diese knappen Bemerkungen gezeigt haben, bestand weniger im Dialog mit der bestehenden Philosophie als vielmehr in der Erneuerung ihres Denkens sein erklärtes Ziel. Die Erwähnung der drei Begriffe Metaphysik, Metalogik und Metaethik stellt keine Bezugnahme auf traditionelle Bereiche der Philosophie dar, um das eigene Denken in eine gültige Form wissenschaftlicher Zugehörigkeit zu fügen. Sie korrespondiert vielmehr Rosenzweigs Auffassung, in Gott, Welt und Mensch die Elemente menschlicher Seins-Erfahrung zu finden. Dreimal konstatiert er, dass wir von diesen nichts «wissen» können, um im weiteren Verlauf seiner Schrift zu zeigen, wie die drei Elemente, sind sie erst einmal aus der Verknüpfung gelöst, die aus ihrer vermeintlichen Einheit resultiert, in eine Beziehung zueinander gebracht werden können. Wenige Denker der Philosophie nennt Rosenzweig, um sich auf Teile ihres Werkes berufen zu können. Arthur Schopenhauer ist hier zu erwähnen. Rosenzweigs tiefe intellektuelle Verbundenheit zu Hermann Cohen liegt zwar wie ein sicherer Boden, auf dem das Denken aufbauen kann, seinen Ausführungen zugrunde. Doch seine Wertschätzung drückt er besonders in kleineren Texten aus, so etwa in einem Schreiben an die Verleger der Jüdischen Rundschau, in dem er notiert: […] was dieses Buch [Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums] in der Geschichte der Philosophie bedeutet? Dieses Buch, dessen Bedeutung gerade die ist, daß es den Durchbruch eines Systematikers, vielleicht des letzten Systematikers im alten Sinn, aus dem aristokratischen Hochmut der Philosophie hinaus in die freie, jedem offene Demut des natürlichen Denkens darstellt? Dieses Buch, das ein einziger Bericht ist von der philosophischen Entdeckung des Menschen?27
Cohen unterbreitet Rosenzweig in einem Brief mit dem Titel Zeit istʼs seine Pläne zur Einrichtung einer Akademie, die – in abgewandelter Form – 1920 zur Eröffnung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main führen werden. Ein Detail, das lediglich in sehr begrenztem Rahmen relevant ist, so könnte erwidert werden. Tatsächlich drückt sich darin Rosenzweigs bereits angesprochene Überzeugung aus, dass sich die Lehren der Philosophie zu bewähren hätten und zwar jenseits logischer Verifizierbarkeit. Der Bezug zum Gegenstand dieser Überlegungen, nach der Möglichkeit einer Ethik der Existenz zu fragen, ist offensichtlich. Denn in Rosenzweigs Verständnis ist es nicht Aufgabe von Philosophie, Aussa27
Hermann Cohens Nachlasswerk, in: Zweistromland, S. 230.
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gen über Ethik zu formulieren, sondern selbst ethisch zu wirken. Diese vielleicht unbedeutend erscheinende Unterscheidung greift in fundamentaler Weise auf das Menschenbild existentiellen Denkens zurück. In dessen Zentrum steht der Einzelne, der sich situativ bedingt in eine Existenz in der Zeit und im Raum, wie hinzugefügt werden sollte, entwirft. Hier werden noch einmal Rosenzweigs Gedanken zur Metaethik sichtbar. Der Einzelne in seiner Selbst-Bewusstheit hat die Satzungen der philosophischen Ethik hinter sich gelassen, weil sie ihm nicht mehr gelten können. Im Stern der Erlösung heißt es dazu, dass der Mensch das Gesetz, nicht das Gesetz den Menschen «haben müsse». Aus dem Entwurf des Neuen Denkens folgt unmittelbar die Suche nach einer Neuen Ethik, da deren bestehende Form in imperativischer Weisungskraft sich nur im Kontext jener Setzung des Allgemeinen als sinnvoll erweisen konnte, die Rosenzweig – und mit ihm die Denker der Existenz – ablehnen. Wird schließlich die kurze Liste der Denker angeschaut, denen sich Rosenzweig nach eigener Auskunft verbunden fühlt, mag sie überraschen. Denn sie enthält mit Eugen Rosenstock und Hans Ehrenberg, Victor von Weizsäcker und Ferdinand Ebner28 Namen, die nicht im ersten Moment einfallen werden, wenn nach der Philosophie jener Zeit gefragt wird. Sie repräsentieren vielmehr eine zweite geistesgeschichtliche Kultur, die sich parallel zum akademischen Diskurs gebildet hat, selbst in ihren Tagen selten zur Kenntnis genommen, aber deshalb beileibe nicht wirkungslos. Franz Rosenzweig verankert sein Denken mit Bedacht am Rande dieses Diskurses, um von dieser Position aus sein Werk der Erneuerung beginnen zu können. Denn er will in das philosophische Denken seiner Zeit eingreifen und es in der seiner Auffassung nach noch immer unrealisierten Weise gestalten. So changiert sein Anspruch an das eigene Wirken zwischen dem Versuch, wirksam zu werden, und der Verweigerung eines bestehenden Form-Kanons. Auch Martin Heidegger und Heinrich Barth verbinden mit ihrem Verständnis von Philosophie den Anspruch auf Erneuerung, wenngleich kaum in der Radikalität, die Rosenzweigs Entwurf auszeichnet. Wo positionieren sie also ihre Konzeptionen des menschlichen Seins im Verhältnis zum bestehenden philosophischen Denken?
Am Rande des Seins – Martin Heidegger Auch Martin Heidegger spricht sich immer wieder für eine Erneuerung des Denkens aus, die zum Teil sogar zu der Forderung führt, die Philosophie in ihrer vorliegenden Form aufzugeben. Denken ist also nicht zwangsläufig mit seiner philosophischen Repräsentation identisch, sondern greift weiter in den Grund eigentlicher Seins-Erfahrung, als es ein akademisch geprägter Begriff von Wissen28
Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 152.
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
schaftlichkeit überhaupt auch nur ansatzweise zu fokussieren vermag. Bereits in Sein und Zeit zeichnet sich die Bereitschaft ab, auf ein eklatantes Versäumnis seit der Antike zu reagieren,29 auch wenn Heidegger 1927 noch davon ausgeht, durch eine Korrektur der Fragestellung von Philosophie deren generelle Kompetenz im Kontext der Seins-Bestimmung bestätigen zu können. Nach dem «Sinn von Sein» zu fragen, erklärt zwar die Ausrichtung der traditionellen Ontologie für ungeeignet, das Wesen der Existenz in seiner Abhebung vom Dasein zu untersuchen, stellt deren grundsätzliches Bestehen jedoch nicht infrage. Heideggers Ablehnung all jener Interpretationen, die sein Werk mit Bezug zur Existenzphilosophie zu fixieren suchen, ist hinlänglich bekannt.30 So erklärt er zum Beispiel, dass weder Karl Jaspers noch Jean-Paul Sartre auch nur in die Nähe seines eigenen Ansatzes im Denken zu gelangen vermögen, räumt allerdings auch ein, dass er von Letzterem bisher kaum etwas zur Kenntnis genommen habe. Eine Rezeption der Heideggerʼschen Theorien in existenzphilosophischer Hinsicht müsste sich in Anbetracht solcher Feststellungen verbieten. Es gibt jedoch Anhaltspunkte in seinem Werk, die eine Lesart vor diesem Hintergrund nicht nur zulassen, sondern geradezu nahelegen. Zum Beleg sei nur auf die Erklärung des Begriffes der Existenz hingewiesen, die sich auf den ersten Seiten von Sein und Zeit findet: Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder selbst gewählt, oder es ist in sie hineingeraten oder je schon darin aufgewachsen. Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden.31
Dieses Verständnis verbindet sein Denken mit jenem der sogenannten Existenzphilosophie. Denn es akzentuiert den optionalen Charakter von Existenz, deren Verwirklichung Folge einer Möglichkeit ist, die im Dasein gründet. Die zuletzt formulierte Bedingung ist alles andere als beliebig. Denn es ist gerade Martin Heidegger, der seit frühen Tagen darauf besteht, dass Existenz nur im Dasein wurzeln könne und insofern auf dessen Bestand angewiesen sei.32 Eine Distanzie«Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert.» Sein und Zeit, § 1, S. 2. 30 Exemplarisch für seine zurückweisenden Kommentare sei folgende Eintragung in seinen Überlegungen II–VI, 244, S. 281 zitiert: «Namengebungen für Grundstellungen im philosophischen Denken sind immer verfänglich. […] Sofern im ersten Versuch nun die Weise, das Dasein zu sein, zu bestehen, mit ‹Existenz› bezeichnet wurde, […] geriet der Versuch unter die Kennzeichnung einer ‹Existenzphilosophie› im Sinne von Jaspers, der Kierkegaards Existenzbegriff im moralischen Sinne in die Mitte seines Philosophierens stellte […].» 31 Sein und Zeit, § 4, S. 12. 32 «Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ‹Welt› und 29
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rung, in deren Verlauf sich Existenz vom Dasein trennt und ihren vormaligen Ursprung damit weitgehend ausblendet, kommt für ihn nicht in Betracht. Das Verstehen des Daseins muss vorausgesetzt werden, damit Existenz stattfinden kann. Ihr Begriff bezeichnet insofern kein Vorhandenes, das in seinem ontologischen Befund zu erfassen wäre, sondern die Möglichkeit, sich verstehend zum Sein, das sich im Dasein zu erschließen beginnt, zu verhalten. Diese wenigen Sätze mögen hier ausreichen, um einen existenzphilosophisch motivierten Blick auf Heideggers Schriften zu rechtfertigen. Gedanken zu jenem Gestaltungsraum des Seins-Verstehens, der sich im Prozess des Existierens eröffnet, werden dessen Texte bis in die 1950er Jahre durchziehen, mit deutlich variierender kontextueller Einbindung. Für die anstehenden Überlegungen, die Heideggers Konzeption des Neuen Denkens gelten, sind speziell die Aussagen nach 1945 relevant. Warum ist diese zeitliche Eingrenzung erforderlich? In stark konturierender Weise kann festgestellt werden, dass das Projekt einer neuen Zentrierung des Denkens seit den 1920er Jahren nachzuweisen ist. Wird diese Forderung einer Erneuerung als solche betrachtet, erscheint sie als Konstante in Heideggers Werk. Wird hingegen nach ihrer Zielrichtung gefragt, zeigen sich zum Teil erhebliche Unterschiede. In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, deren Faszination sich Heidegger nicht hat entziehen können, decken sich seine Vorstellungen des Neuen Denkens in beunruhigender Weise mit der Idee einer geschichtlichen Zäsur, die den Untergang des Bestehenden voraussetzt, um das Neue erstehen zu lassen. Die gesamte Diktion, die philosophische Aussagen zu Proklamationen völkischen Erwähltheitsglaubens werden lässt, prägt Heideggers Schriften dieser Zeit. Eine Entscheidung wäre an dieser Stelle zu treffen, wenn sie nicht den vorliegenden Rahmen überschreiten würde. Es müsste gefragt werden, ob das Motiv des Untergangs tatsächlich genuiner Bestandteil Heideggerʼschen Denkens ist oder ob sich in diesen Jahren eine unheilvolle Verschränkung seiner philosophischen Ansichten mit ideologischen Überzeugungen abspielte. Dass beide in ihrem Ruf nach Neuem perfekt zueinander passen, lässt sich schwerlich bestreiten. Zu untersuchen bliebe, ob Heideggers philosophisch formulierte Forderung, die aus den Tagen von Sein und Zeit bekannt ist, von Anfang an eine weltanschauliche Dimension beinhaltete. Diese Untersuchung kann hier nicht geleistet werden. Was festgehalten werden kann, ist die Tatsache, dass Heidegger Philosophie – die nicht mit der derzeit betriebenen akademischen Disziplin zu verwechseln ist – eine grundsätzliche Bedeutung zuweist, weil sie ihrer Bestimmung nach das Sein zu denken vermag. So fragt er bereits 1931: «Müssen wir heute am Ende mit dem Philosophieren abbrechen […]?“33 und meint damit nicht die Arbeit an den Universitäten, sondern das Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird.» Sein und Zeit, § 4, S. 13. 33 Martin Heidegger, Überlegungen II–VI, II, 168, S. 66.
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
Denken an sich. Denn dieses erfordert andere Repräsentanten als solche Denker, die stets nur im Schatten ihrer Vorgänger wirken und deren Erfolge ebenso wie deren Versagen unendlich fortschreiben, ohne den einen notwendigen Bruch im Denken zu vollziehen. Eine Überblendung zweier Perspektiven zeichnet sich hier ab, die wohl kaum problematischer sein könnte. Auf der einen Seite steht der Wille zur Erneuerung eines Denkens, das es verlernte, die Frage nach dem «Sinn von Sein» zu stellen. Auf der anderen Seite zieht das Bild des einzig wahren Denkenden auf, der in stolzer Abkehr vom philosophischen Getriebe die Ahnung des Möglichen im Denken verwahrt. Was Heidegger hier vor Augen hat, ist nicht der «neue Begriff und Typ des Philosophen», für den Franz Rosenzweig warb, weil er einen Denkenden suchte, der aus der «Standpunkteinheit» seiner Erfahrungen urteilte. Heidegger verfolgt die Idee des Philosophen als «Alleingänger; aber nicht allein mit seinem kleinen ‹Selbst› – sondern mit der Welt».34 Während Rosenzweig mit der Leidenschaft, die seine verschiedensten Texte kennzeichnet, für den Übergang der Philosophie in den Dienst am Menschen plädiert, scheint Heidegger eine völlig andere Vorstellung zu verfolgen, wenn er zu Beginn der 1930er Jahre schreibt: «Die wirkliche Philosophie steht immer und notwendig abseits. Ab-seits – von wo aus gemessen? Von der scheinbaren Viel -und Allseitigkeit des Mittelmäßigen und Gängigen und unmittelbar Benötigten.»35 Denn «echte Philosophie» wirke seiner Auffassung nach «nie auf das Leben».36 Nicht, weil sie sich als wirkungslos erweist, so ist zu ergänzen, sondern weil sie als reines SeinsDenken zu verstehen ist. Als solches verfolgt es keine Ziele, dient keinen Zwecken, beansprucht keinen Nutzen, da das Denken damit an die absehbare Dominanz des scheinbar Notwendigen gebunden würde, die Heidegger jeder praktischen Anwendbarkeit attestiert. Entsprechend folgert er: Daß hier der Denker zum Knecht des vielgepriesenen ‹Lebens› und seiner Praxis, d. h. des Seienden herabsinkt, zeigt schon, inwieweit der ‹existentielle Denker›, der nicht ohne Grund in verschiedenen Gestalten heute gefordert und geschätzt ist, niemals das Denkersein erreicht – will sagen – den Bereich der Entscheidungen über die Wahrheit des Seyns gegen die Vormacht des seinsverlassenen Seienden (der Machenschaft) nirgends zu betreten vermag.37
Der höhere Sinn des Denkens, den Heidegger zu kennen meint, sperrt sich jedweder Inanspruchnahme. Diese Feststellung, so elitär und unattraktiv sie hier auch klingt, ist wichtig. Sie wird Heideggers gesamtes Denken durchziehen, in späteren Jahren allerdings eine deutlich gewandelte Intonation zeigen. Ab Mitte der 1940er Jahre wird das zweckunbedürftige Denken allmählich als das «scho34 35 36 37
Überlegungen II–VI, II, 144, S. 56. Überlegungen II–VI, IV, 125, S. 246. Überlegungen II–VI, IV, 243, S. 280. Überlegungen XI–XV, XII, 10, S. 20 f.
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nende Denken» bezeichnet werden, das zum tragenden Element des Denkens von «Geviert» und Welt-Bezug wird. Im Moment fügt sich Heideggers Aufruf zum reinen Seins-Denken in bedrückender Passgenauigkeit in das Portfolio ideologischer Verlautbarungen. Denn es scheint all das zu beinhalten, was diese kennzeichnet: die Vision einer Realität höherer Dignität, die jedoch nicht als pure Idee, sondern als Vorbild völkischen Selbstverwirklichungswillens gedeutet wird. Vom Nimbus des Geheimen umgeben, erschließt sich diese Ahnung des Kommenden nur Auserwählten, die zu Verkündern einer herbeiphantasierten Realität werden. Alles Geschehen in der Welt dient nur noch der Vorbereitung dieser Zukunft, die sich nicht von selbst einstellen wird, sondern als einzig wahres Sein den Untergang des Bestehenden verlangt. Die Verwirklichung der Vision, die hier in Aussicht gestellt wird, belässt diese jedoch keineswegs in der Möglichkeit vorstellbarer Entwicklung, die menschlicher Prägung bedarf. Sie degradiert diese vielmehr zu einem bloßen Stadium des Übergangs, dem an sich weder Wert noch Bedeutung zufallen kann. In einem absurden Sinn erweist sich das vermeintlich zielunbedürftige Denken dieser Phase als teleologisch. Denn es dient einem Zweck, auch wenn es dessen konkrete Gestalt nicht zu benennen vermag. Vor diesem Hintergrund muss das Neue Denken, für das Martin Heidegger bereits in den 1930er Jahren eintritt, als ideologisch kompatibel betrachtet werden. Dieser Befund wiegt umso schwerer, als dessen Eignung nicht nur von nationalsozialistischer Seite proklamiert, sondern von Heidegger selbst dargestellt wurde. Ist es in Anbetracht dieser Feststellung überhaupt noch möglich und vertretbar, zu einer Diskussion dieses Denkens zu finden, die seine philosophische Relevanz erwägt? Dass sich Begriffe wie Untergang und Volk in Heideggers Schriften nach 1945 kaum noch finden, verwundert nicht. Ob der Grund hierfür in intellektuellem Kalkül oder sich wandelnder Sicht zu suchen ist, wird sich wahrscheinlich niemals mit uneingeschränkter Sicherheit klären lassen. So bleiben nur die motivischen und terminologischen Spuren, die die späteren Äußerungen anbieten, um individuell eine Position im Umgang mit Heideggers Denken zu finden. Die Schwarzen Hefte, die seit 2000 veröffentlicht werden, bilden die hierfür wichtigste Grundlage, da sie den Eindruck vermitteln, spontaner und mitunter ungefilterter Ausdruck eines Denkens zu sein, das trotz allem bedenkenswerte Aspekte enthält. Eine ausführlichere Betrachtung der entsprechenden Hinweise ist nicht Thema dieser Überlegungen.38 Nur ein kurzer Überblick soll rekonstruieren, warum sie hier allen Widrigkeiten zum Trotz berücksichtigt werden. Denn eigentlich scheint Heideggers Denken so schlecht in diesen Zusammenhang zu passen: Er wehrt sich gegen dessen Titulierung als existenzphilosophisch und vertritt die Ansicht, das wahre Denken sei dem Erwirken reinen In meiner 2020 veröffentlichten Studie Spuren – Martin Heideggers Denkweg der späteren Jahre liegt ein Deutungsvorschlag vor. 38
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
Seins-Verstehens verpflichtet. Damit disqualifiziert es sich von Anfang an für eine Rezeption in ethischem Kontext, zumindest dann, wenn Verstehen nicht als ethischer Akt aufgefasst wird. Kaum ein Einwand kann gegen dieses knappe Fazit erhoben werden. Und doch beinhaltet Martin Heideggers Denken auch die so bedeutsame Fokussierung des Seienden, dem in der Repräsentationsgestalt des Dinglichen die entscheidende Funktion für die Genese des Seyns-Denkens zukommt. Sein Strukturmodell des Gevierts ist das wohl wichtigste Instrument, um dieses Seyns-Denken gerade nicht in eine diffuse Zukünftigkeit entgleiten zu lassen, sondern um ihm Daseinsbezug zu attestieren. Hier wird die eingangs angesprochene Bestimmung des Begriffes der Existenz aus Sein und Zeit interessant. Obwohl die Thematisierung des Heideggerʼschen Werkes in einem Text zur Ethik der Existenz also aus verschiedenen Perspektiven in Zweifel gezogen werden kann, reichen die Gründe aus, um diese zu rechtfertigen. Und Rechtfertigung erfordert eine philosophische Interpretation dieses Werkes ohne Frage. Im Folgenden geht es um die Überlegung, ob Martin Heideggers Aussagen zum Neuen Denken Überschneidungen mit den Konzeptionen von Franz Rosenzweig und Heinrich Barth zeigen. Denn letztlich soll hier keine grundsätzlich differenzierende Deutung der Schriften dieser drei Denker erfolgen. Es gilt vielmehr zu untersuchen, wo sie ihre Konzeptionen mit Blick auf den bestehenden philosophischen Diskurs platzierten. Sollten sie als Fortschreibungen verstanden werden, die sich dessen methodischen Vorgaben fügten, oder waren sie tatsächlich als Entwürfe radikaler Abkehr geplant? Von der Beantwortung dieser Frage wird die Entscheidung darüber abhängen, ob diese Entwürfe in einem gemeinsamen Profil existenzphilosophischer Theoriebildung zusammengefasst werden können, das sich weniger durch seine Inhalte als durch seine Form ausweist. Es wird sich zeigen, dass eine solche gemeinsame Kontur im Denken erkennbar ist. Diese kann schließlich dazu genutzt werden, zwei weiterführende Aspekte zu bedenken: Ist es auf der Grundlage eines gemeinsamen Form-Gedankens möglich, von einer existenzphilosophischen Ethik zu sprechen? Denn diese formulieren zu können, ist zu einem Großteil von der Form der Explikation abhängig, zumindest dann, wenn sie mit anderen Modellen vergleichbar sein soll. Aus dieser Feststellung wird der zweite zu betrachtende Aspekt sichtbar: Kann existenzphilosophische Ethik als konkurrenzfähiges Konzept gegenwärtiger Positionen verstanden werden? Noch immer sind Stimmen vernehmbar, die mit Blick auf Existenzphilosophie beides bestreiten – eine explizite ethische Konzeption und formale Konsistenz, die sie als diskursfähig kennzeichnet. Deshalb ist es so wichtig, die Aufmerksamkeit auf das Selbstverständnis existentiellen Denkens und sein Sprach-Verständnis zu lenken. Es handelt sich nicht um ein Denken, das sich in vielfältiger Beliebigkeit am Rande des Diskurses abspielt, sondern um ein Denken, das sich genau dort positioniert, um Anspruch und Geltungsbereich von Philosophie neu ausrichten zu können. Franz Rosenzweig ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm um «des Denkens vollkommene Erneuerung» geht. Nicht weni-
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ger hat Martin Heidegger vor Augen, wenn er die Umformulierung des «vorstellenden» in das «schonende Denken» fordert. Die Umsetzung dieser Forderung wird nun für einen Moment zu betrachten sein. Eine Feststellung aus dem Jahr 1946 eignet sich deshalb für den Einstieg in diese Betrachtung, weil sie grundsätzlich die «eigentliche» Aufgabe von Philosophie benennt: Die Philosophie ist im Wesen Ontologie. Aber die Ontologie denkt nicht den Unterschied von Seiendem und Sein. […] Die Ontologie denkt nicht das Sein als Sein, d. h. das Seyn als die Wahrheit des Seins des Seienden. Aber – wenn die Philosophie in ihrer Wesensgeschichte vollendet ist und sich deshalb die Not des Denkens ankündigt, […] dann muß das Denken die ‹Philosophie› verlassen. Aber das sagt: das Denken muß denkender werden. Es wird denkender, indem es den Schritt der ‹Transzendenz› zurück tut – aber wohin und wie?39
Einerseits geben diese Zeilen noch den Zeitpunkt ihrer Entstehung zu erkennen. Von der Vollendung der «Wesensgeschichte» der Philosophie zu sprechen, erinnert noch stark an die Vorstellung eines weltgeschichtlichen Umbruchs, die Heidegger in den Jahren zuvor vertrat. Andererseits kündigt sich bereits eine andere Konnotation an, wenn sie als Ausdruck einer notwendig werdenden neuen Ausrichtung der Denkbewegung gelesen werden. Die Linie, die beide Deutungsansätze trennt, ist filigran. Ein Schritt zurück, der einen für unzweifelhaft gültig gehaltenen Begriff hinterfragt, ist an sich gängiges Mittel philosophischer Theoriebildung. Wird eine solche Maßnahme allerdings im Kontext weltgeschichtlicher Abläufe betrachtet, erscheint ihre sachbezogene Neutralität plötzlich als problematisch. Denn es wird fraglich, woher das Wissen um Prozesse, deren Verlauf als geschichtlich notwendig erachtet werden, seine Legitimation bezieht. Bisher konnte sich Heidegger auf die besondere historische Stellung des deutschen Volkes beziehen, dem seiner Überzeugung nach kraft seiner Natur Einblicke in das gegenwärtige und zukünftige Geschehen zugänglich sind. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Begründung 1946 nicht mehr herangezogen werden kann. Die Verschmelzung zweier Perspektiven, die Heideggers Denken der vergangenen Jahre gekennzeichnet hat, beginnt sich nun zu lösen. Bereits in Sein und Zeit erklärt er die Notwendigkeit, das philosophische Denken neu zu fokussieren. Diese Auffassung bleibt bis in die späten Verlautbarungen erhalten. Die motivische Überlagerung, die ein Erfordernis innerhalb der Philosophie als Indikator weltgeschichtlicher Erfordernisse postuliert, tritt von nun an in den Hintergrund. Ob Heidegger sie aufgab oder nur nicht mehr erwähnte, wird sich vermutlich niemals mit Sicherheit entscheiden lassen. Im Wissen um die Unsicherheit jeder Interpretation, die sich Zeilen wie diesen zuwendet, kann mit Blick auf die weiteren Überlegungen Heideggers Differenzierung zwischen dem Denken und der Philosophie festgehalten werden. Dass das Denken «denkender» werden müsse, 39
Anmerkungen I–V, II, S. 163.
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
scheint insofern eine naheliegende Forderung zu sein, auch wenn die Klärung des Weges, auf dem sie zu realisieren sei, noch ausbleibt. In der Einleitung, die Heidegger seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? zwanzig Jahre später voranstellt, wird bereits deutlicher, was mit dem Denkender-Werden gemeint ist: Dahin kommt es, wenn das Denken, statt einen höheren Grad seiner Anstrengung zu bewerkstelligen, in eine andere Herkunft gewiesen wird. Dann wird das vom Seienden als solchem gestellte und darum vorstellende und dadurch erhellende Denken abgelöst durch ein vom Sein selbst ereignetes und darum dem Sein höriges Denken.40
Mit dem Begriff des vorstellenden Denkens verbindet Heidegger jene sachorientierte Zweckgebundenheit, aus deren vermeintlicher Dominanz er das Denken zu befreien sucht. Das zielunbedürftige Denken ist dem Sein «hörig» – vielleicht erinnert diese Formulierung noch an die Sprache der 1930er und 1940er Jahre, in der es im Sinne eines Wertes zu denken galt, dessen Legitimation aus obskuren Quellen ideologischer Natur erfolgte. Wird jedoch nicht das Gehorchen, sondern das Hören als entscheidender Bestandteil der Hörigkeit angenommen, deutet der Ausdruck in eine andere Richtung. Dann folgt das Denken nicht der autonomen Verwirklichungstendenz subjektiver Interessen, sondern der Anregung, der «Ansprache», wie es auch heißt, die es empfängt. Auf diesen Aspekt wird im Zusammenhang des Sprach-Denkens einzugehen sein. Denken als verstehendes Gewahren wird sich in Heideggers Texten immer klarer abzeichnen, was mit einer grundsätzlichen Umdeutung der Arbeit des Denkenden verbunden ist. Dieser ist nicht mehr auktorialer Mittelpunkt der Bewegung des Denkens, sondern ein Aufnehmender, der erfasst, was sich ihm zu denken gibt. Es wäre übertrieben, hier von Passivität zu sprechen, da eher eine Empfänglichkeit intendiert ist, die aus den Erfahrungen des Seins dessen Denkbarkeit erschließt. Die gerade zitierten Worte Heideggers könnten den Eindruck erwecken, als gelte es, die Beachtung des Seienden aufzugeben, um zu einem solchen Denken gelangen zu können. Tatsächlich wird dem Seienden eine immer größere Bedeutung zur Erlangung des Seyns-Denkens zukommen. Denn in ihnen erscheint jene Relationalität, die als dessen Merkmal bestimmt wird. Mittels der konkreten Formationen des Dinglichen verortet sich das Denken im Sein. Dieses Faktum nicht berücksichtigt zu haben, wirft Heidegger der Philosophie vor, und nicht nur ihr, sondern auch allem Denken. Für einige Zeit erscheint ihr Begriff auffällig selten in seinen Texten, bevor er Ende der 1950er Jahre wieder denkbar zu werden scheint. Nun heißt es: «Es ist an der Zeit, die Philosophie auf das von ihr notwendig vergessene, d. h. ihr verborgen vorenthaltene und so gleichwohl vorgehaltene […] Denken eingehen zu lassen.»41 Was ereignete sich also zwischen dieser Ankündigung und der rund zwölf Jahre zuvor konstatierten Notwendigkeit, die 40 41
Was ist Metaphysik?, S. 13. Winke I und II, II, S. 171.
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Philosophie zu verlassen? Es erfolgte die Er-eignung des Denkens, das nicht Aufgaben und Ziele nach subjektivem Maß setzt, sondern den Zusammenhang im Sein als solchen reflektiert. In dieser Bewegung der Rückwendung hinter die Erträge wissenschaftlichen Denkens, wie es sich im Formgefüge der Philosophie präsentiert, sieht Heidegger ein Zu-sich-Kommen des Denkens, das, um es nicht in eine nebulöse Vieldeutigkeit abgleiten zu lassen, mit dem Begriff der Zielunbedürftigkeit umschrieben werden kann. Ohne Ziel heißt nicht, beliebig zu denken, sondern in höchster Konzentration auf das Seiende dessen Bedeutung als Repräsentationsgestalten des Seyns zu begreifen. Heideggers Bewertung des Seienden könnte möglicherweise verwirrend wirken. Auf der einen Seite kritisiert er die Ausrichtung der Philosophie, die aus ihm Sein zu erkennen versucht,42 und auf der anderen Seite erklärt er das Seiende in seiner Dinglichkeit zum Maßstab des beziehungssetzenden Geschehens im Sein, das er im Strukturmodell des Gevierts veranschaulicht. An anderer Stelle ist dessen Aufbau und Funktion ausführlicher dargestellt worden. In dem ursprünglich aus typographischer Begrifflichkeit stammenden Vierungsmodell setzt Heidegger, darin auch seine Bewunderung für die Dichtung Friedrich Hölderlins zum Ausdruck bringend, vier Funktionsembleme jener Seins-Relation in Beziehung, die als Modell gelingenden Verstehens betrachtet werden kann. «In der Kreuzungsmitte des Seienden» begegnen sich «die Göttlichen» und «die Sterblichen», «Himmel» und «Erde» und umschreiben in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit den «Zeitspielraum» des Seyns. Dieser Begriff, der sich so signifikant von seinem Pendant – dem Sein – unterscheidet, bezeichnet nicht etwa eine differente ontische Gegebenheit, sondern eine Zustandsweise des Denkens, insofern es in vollständiger Zielunbedürftigkeit das relationale Gefüge des Seins erfasst. Dieses zu verstehen, bedeutet keine Leistung der Abstraktion, wie es vielleicht zunächst klingen könnte. Es ist kein «höherer Grad der Anstrengung» erforderlich, wie es in den oben zitierten Zeilen heißt, sondern ein Besinnen auf die ursprüngliche und grundsätzliche Beschaffenheit des Seins, das in der Verfassung als Seyn Erfahrung und nicht nur rationale Leistung ist. Entscheidend ist, dass das Geviert dazu dienen kann, die Bedeutung der Dinge in dem Relationsaustrag der vier Funktionsembleme zu reflektieren. Denn sie erfüllen die Kreuzungsmitte innerhalb des Gevierts, sind also die unverzichtbaren Elemente, um Entgegengesetztes aufeinander beziehen und in der einen Erfahrung des Seins-Erlebens zusammenfassen zu können: ‹Welt› ist für die Wendung In-der-Welt-sein […] keine kosmologische Bestimmung. Erde und Himmel – sind inskünftig nicht mehr kosmologisch zu denken, sondern im Ereignis – als dem Verhältnis des Gevierts. […] Wenn Da-sein, In-der-Welt-sein nicht
«Inwiefern hat die Philosophie dem Denken Ungemäßes zugemutet? Insofern sie versucht, das Sein aus dem Seienden als solchen zu ergründen.» Anmerkungen VI–IX, VII, S. 117.
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Am Rande des Seins – Martin Heidegger
mehr von der Subjektivität und dem Bewußtsein her, sondern aus der Lichtung des Seins gedacht sind, dann erweist sich der Bezug ‹des› Seins […] zum Menschenwesen als ein ganz anderer.43
Nicht mehr «von der Subjektivität und dem Bewußtsein her» zu denken – darin kann die Besonderheit des Neuen Denkens gesehen werden. Heidegger selbst verwendet exakt diese Bezeichnung nicht. Sie wird hier jedoch verwendet, um sein Projekt einer Verwandlung des Denkens in Parallelität zum Ansatz Franz Rosenzweigs thematisieren zu können. Doch reicht eine gleiche Benennung dafür wirklich aus? In den einleitenden Bemerkungen zu dessen Verständnis des Denkens, vor allem auch dessen Selbst-Verständnis als Denkender, wurde der unbedingte Wille sichtbar, es als «Dienst am Menschen» zu begreifen. Doch nichts scheint Martin Heidegger weniger zu interessieren. «Können wir dem Denken Aufgaben stellen? […] Man wird ihr eine Art von seelsorgerischen Auftrag zuweisen. Man wird dann, wenn sie solches nicht oder nur dürftig leisten kann, ihr allen Wert absprechen oder ihr gar vorwerfen, daß sie an der Not der Zeit vorbeigehe.»44 Diese Zeilen klingen wie eine Replik gegen Rosenzweigs PhilosophieVerständnis. Es ist noch immer eine offene Frage der Forschung, ob Heidegger dessen Stern der Erlösung gekannt hat. Manches spricht dafür, so wie auch diese kurze Passage, die so präzise jenen Anspruch an Philosophie skizziert, der auf den ersten Seiten dieser Schrift ausgedrückt wird, wenn es heißt, sie lächle «zu all dieser Not ihr leeres Lächeln». Das Versagen des Denkens im Format der Philosophie rührt nach Heideggers Auffassung also nicht aus ihrer mangelnden Ausrichtung am Dasein, sondern genau konträr aus ihrer zu starken Versenkung in dessen pragmatische Erfordernisse. So verwundert es umso mehr, dass Heidegger in seinen späteren Verlautbarungen explizit auf die Dinge und ihre seyns-tragende Bedeutung zu sprechen kommt. Es sind aber nicht die Dinge in ihrer Dienlichkeit, die ihn interessieren. Denn unter diesem Aspekt betrachtet, geht ihre Funktion vollständig im zweckgebundenen Denken auf, das es zu verwandeln gilt. Dinge werden vielmehr als Bindeglieder des Seins bedeutsam, indem sie, von ihrer situativen Dienlichkeit befreit, als Zeichen reinen zielunbedürftigen Denkens zu Inkunabeln der Seyns-Erfahrung werden können. Sie versichtbaren gerade in ihrer unverwechselbaren Materialität das subjektive Interessen außer Acht lassende Denken. Dieses ist als unbedingtes Denken der reinen Möglichkeit, Sein zu erfassen, die es in seiner Struktur der relationalen Verwirklichung erfahrbar werden lässt. Zweimal wurde mit Bezug auf Heideggers Ansichten von Erfahrung gesprochen. Ob es eine Ähnlichkeit dieses Begriffes zur Deutung bei Franz Rosenzweig gibt, wird sogleich zu fragen sein. Zuvor ist jedoch noch ein Hinweis erforderlich. Er betrifft 43 44
Vigiliae und Notturno, S. 254. Vigiliae und Notturno, S. 79.
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den bisher entstandenen Eindruck, beide Denker würden diametral entgegengesetzte Auffassungen von der Sinnhaftigkeit des Denkens vertreten: Rosenzweig als Dienst am Menschen, Heidegger als Reflexion der Seins-Struktur. Um diesen Eindruck zu überprüfen, sei an die Konzeption des Sterns der Erlösung erinnert, die zu Beginn in groben Zügen rekonstruiert wurde. Dort war von den Elementen des Seins Gott, Welt und Mensch die Rede, die Rosenzweig zunächst in ihrer Eigenständigkeit betrachtet, um sie anschließend in Relation zueinander setzen zu können. Um ihre Beziehungsstruktur veranschaulichen zu können, verwendet er die beiden sich überformenden Dreiecke des Davidsterns, denen er einmal die drei Elemente und einmal deren Relationsgeschehen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zuweist. Ohne hier auf einen detaillierten Vergleich der beiden Figuren von Stern und Geviert eingehen zu können, kann doch die Weise, in der beide Male ein graphisches Schema verwendet wird, um Bezogenheit sichtbar werden zu lassen, festgehalten werden. Ausgeblendet wird dabei die Tatsache, dass es sich das eine Mal zugleich um ein religiöses Symbol von äußerster emotionaler Signifikanz handelt. Der mögliche Einwand, dass es deshalb nicht zu verantworten sei, Stern und Geviert in einem Atemzug zu nennen, wäre verständlich. Die Rechtfertigung, es dennoch zu tun, ist auf argumentativem Wege nicht zu leisten. Auch Rosenzweig – das hat dieser ergänzende Blick gezeigt – beleuchtet das Sein in seiner allgemeinen Konstitution. Für ihn stellt diese Betrachtung jedoch nur eine Voraussetzung dafür dar, dass sich das Denken ins Leben erstrecken kann, wie die eindrucksvolle typographische Gestaltung der letzten Zeilen des Sterns der Erlösung zeigt. In sich zentrisch zuspitzender Schriftgestalt laufen die Zeilen auf den einen Ausdruck zu: «Ins Leben». In diesem Zusammenhang ist aber auch das für die Frage nach einer Ethik der Existenz relevante Faktum zu berücksichtigen, dass sich Rosenzweig im letzten Teil seiner Schrift in großer Ausführlichkeit der Bedeutung des Zeremonialgesetzes zuwendet. Dessen Geltung markiert jenen existentiellen Raum, in dem nach der normierenden Kraft des Gebotes gefragt wird. Damit, so könnte argumentiert werden, mag Rosenzweigs Sicht wohl dazu taugen, einen weiteren Blick auf das Phänomen «Existenzphilosophie» zu werfen. Doch für die weiterführende Frage nach deren Ethik ist sie nicht mehr repräsentativ, da sie Legitimation und Motivation des Handelns stets in der Gewissheit religiöser Prägung betrachten kann. Die entscheidende Frage im Kontext existentiellen Denkens lautet hingegen, woher dieses ethische Weisungskompetenz beziehen kann, wenn es sich primär als areligiös definiert? Für Rosenzweig besteht die Besonderheit von Gebot und Gesetz, wie sie Thora und Mischna zu entnehmen sind, darin, dass sie tief in das Dasein des Menschen zurückweisen. Sie dienen nicht in erster Linie einem zukünftigen Sein, sondern dem Sein in der Welt, dem vorbereitender Charakter zugesprochen werden kann. Zunächst steht damit die Überlegung im Mittelpunkt, wie religiöse Weisungen den Weltbezug des Menschen verändern. Dass sie dazu geeignet sind,
Am Rande des Seins – Martin Heidegger
wird aus der Beobachtung erkennbar, wie stark etwa die sich immer wiederholenden rituellen Handreichungen Zeiterleben beeinflussen können. Auch wenn Rosenzweig letztlich die Begründung der Gebote nicht im Sein selbst aufzeigen kann, sondern dazu auf die Wirkmacht des Göttlichen verweist, sind doch die Spuren, die ihre Befolgung im Dasein hinterlassen, unübersehbar. Wenn an dieser Stelle der Begriff vom Dasein verwendet wird, geschieht es nicht, um Rosenzweigs Denken um jeden Preis als existenzphilosophisch relevant auszuweisen. Er selbst greift auf die ontologische Begrifflichkeit zurück und führt, noch vor Martin Heidegger, eine graphische Signatur zu deren Anpassung an seine philosophische und theologische Intention ein. In der Schreibweise als «Da-sein» wird geradezu augenfällig, wie sehr das Religiöse das In-der-Welt-sein, wie es bei Heidegger heißen wird, verwandelt. Es fügt das Verstehen der Bezogenheit menschlichen Denkens und Handelns in ein Bild bloßer Gegebenheit des Daseins ein und macht aus dieser den Verwirklichungsraum gelingenden Seins. Für das Sein des Menschen bedeutet dieses, dass seine Realisierung noch aussteht, da sie Produkt der verstehenden Entwicklung zum ganzen Menschen ist. Dieser wird sich niemals nur als Subjekt des Denkens oder Handelns erfassen können. Erst in seiner Relation zu Gott und Welt erschließt sich eine personale Komplexität, die nach Rosenzweigs Dafürhalten weit über Ich-Bewusstheit hinausgreift. Es ist kein Zeichen individueller Souveränität, sich für unabhängig und autonom agierend zu halten, ganz im Gegenteil: Erst die Einsicht in die Bedingtheit des Daseins ergreift dessen Bedingungen als Ermöglichungsgründe des Selbst-Seins. Dieses zeichnet sich folglich nicht durch Isolation von allen übrigen Formen des Seins, wie sie im Sein Gottes und im Sein der Welt vorliegen, aus, sondern durch die Anerkennung jenes fortgesetzten Wechselgeschehens, das alle drei Elemente des Seins aufeinander verweist. Kein Wunder, dass für Rosenzweig dem Gedanken des Dialogischen solch außerordentliche Bedeutung zukam. Denn im Gespräch findet Beziehung aufeinander immer wieder von Neuem und immer wieder neu statt. Auf diese Feststellung wird bei der Darstellung der Heideggerʼschen Konzeption des Denkens zurückzukommen sein. Zwei zentrale Begriffe Rosenzweigs sollen, so wurde es bisher angekündigt, auch im Denken Martin Heideggers aufzufinden sein, und zwar nicht als Ausdrücke unter anderen, sondern in tragender Funktion. Es sind die Begriffe Gespräch und Erfahrung. Beide zählen zum klassischen Vokabular der Philosophie, werden aber von Rosenzweig und Heidegger als Elemente zeitgenössischen Denkens genutzt. Rosenzweigs Wille zu dessen kompletter Erneuerung hat sich gezeigt. Auch Heidegger ist davon überzeugt, mit seiner Arbeit der Erneuerung dem Denken bisher nicht erschlossene Räume zu öffnen: Die Summe meines Denkens – Sie besteht in dem einfachen Schritt aus dem vorstellenden zum bewegenden Denken. Der Schritt geht zurück; aber nicht dorthin, wo das Denken schon jemals war, sondern dorthin, wo es bisher noch nie sich aufhalten konnte. […]
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Der einfache Schritt ist das Erfahren des Ereignisses. […] Der einfache Schritt vom Seienden als Seienden […] zum Seyn. […] Der einfache Schritt im Seyn: daß zu seinem Wesen […] gehört das Wesen des Menschen […].45
Das Wort Seyn ist jeweils durchkreuzt, was als eindeutiger Verweis auf das Strukturmodell des Gevierts zu lesen ist. Denn Seyn bezeichnet das Verstehen der Beziehung von Seiendem zu Seiendem, die sich in der «Kreuzungsmitte» in dessen Zentrum ereignet. Dieses zu erlangen, heißt nach Heideggers Ansicht «eigentlich» zu denken.46 Ihm kommt die größte Wertigkeit möglicher Bewegungen des Denkens zu, die sogar noch die Bedeutung ethischer Reflexionen übertrifft: Wichtiger als alle Ethik ist das [ethos]. Wesentlicher als das [ethos] ist, sein Wesen als den sterblichen Aufenthalt im Verhältnis des Ratsals zu bedenken. Aber dieses Bedenken ist kein Vorstellen, kein Zu-Kenntnis-nehmen eines früheren Begriffes und seiner Auslegung. Dieses Bedenken ist Denken im Sinne des Entsprechens.47
Mit diesen Worten aus dem Jahr 1950 wird zu der Frage übergeleitet, wie Heidegger das Neue Denken verstanden wissen will. Nicht als Summe theoretischer Aussagen, so viel kann bereits festgehalten werden, sondern als Geschehen des «Entsprechens». Im weiteren Verlauf und besonders mit Blick auf das SprachDenken der Existenzphilosophie wird dieser Begriff entscheidend sein. Er kündigt ein Korrespondieren an, das zwischen dem Denkenden und dem, das sich ihm zu denken gibt, stattfindet. Darin drückt sich die Ablehnung einer traditionellen Vorstellung vom Subjekt, das sich sein zu Denkendes sucht, deutlich aus. Denn Denken ist für Heidegger kein Akt uneingeschränkter kognitiver Souveränität, sondern ein Angesprochen-Werden, in dem sich zeigt, was es zu «bedenken» gilt. Da der Denkende aber nur das erfassen kann, das ihm zu denken möglich ist, das heißt das er aus seiner Seins-Erfahrung überhaupt gewahren kann, ist Denken kein theoretisches Erwägen, das den Denkenden wesentlich unberührt lässt, sondern selbst Seins-Modifikation im Denkenden. So geht es im eigentlichen Sinne nicht darum, über das Seyn nachzudenken, sondern es denkend geschehen zu lassen. Aus diesem Grunde verwendet Heidegger speziell in den 1950er Jahren immer wieder den Begriff des «Wohnens», um zu veranschaulichen, was im Denken geschieht. Es stellt keine Prämissen auf, postuliert keine Prinzipien, sondern es findet Statt. So ist das Seyn niemals als Objekt subjektiver Initiative des Denkens zu verstehen. Es ist Denken, das sein vermeintliches Subjekt erfüllt und verwandelt – und mit ihm das Sein. Die Forderung, die HeidegAnmerkungen VI–IX, VI, S. 57 f. Anmerkungen I–V, II, S. 128. 47 Anmerkungen VI–IX, IX, S. 345. In den Anmerkungen I–V, I, S. 86 heißt es: «Sie rufen nach einer ‹Ethik› und sehen nicht, daß hier die gefürchtete ‹Theorie› sich noch überschlägt. Man meint, wenn die Philosophie ‹populär› werde, sei sie erst wahre ‹Philosophie›. ‹Ethik› ist ‹Technik› der Normen; unerfahren im [ethos].»
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ger 1948 notiert, klingt in Anbetracht dieser Auffassung nachvollziehbar: «Wir müssen verlernen, kausal […] und rational […] zu denken.»48 Denn das Handwerk des Denkens, wie er es von jetzt an immer wieder nennen wird, fordert eine andere Befähigung des Menschen. Dass darin die Beschäftigung mit Texten nach wie vor wesentlicher Bestandteil sei, bekräftigt er, verlangt aber auch dafür ein neues «Lesen lernen». Denn dieses sei «Denken lernen, erfahren lernen den Weg zum Seyn aus dem Seyn. ‹Weg› ist anders denn ‹Nach› und Hinter-her-laufen aus der Absicht der Bewältigung und Vergegenständlichung und Erfassung.»49 Ein Versuch, sich dem Neuen Denken zu nähern, um es zum Gegenstand einer Interpretation zu machen, birgt seine eigene Schwierigkeit. Denn im Grunde ist der Wunsch, seiner habhaft zu werden, der exakte Beleg für die «Absicht der Bewältigung». So unterschiedlich die Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger im ersten Moment auch erscheinen, verbindet sie doch ein gemeinsamer Anspruch. Sie wollen keine Theorien aufstellen, die geeignet wären, bestehende Theoreme zu entkräften und an deren Stelle zu treten. Ziel ihres Denkens ist es vielmehr, dieses selbst im Geschehen des Seins aufzulösen. Für Rosenzweig heißt das, im Dasein wirksam zu werden, indem es sich als Da-sein vergegenwärtigt. Sich verstehend im Sein zu halten – so könnte seine Vision des Neuen Denkens umschrieben werden. Denn Verstehen ist kein Erkennen, das folgenlos bleiben könnte, ganz im Gegenteil. Verstehen heißt, im Verhältnis zu Seiendem zu stehen. Sich verstehend im Sein zu halten – das könnte aber auch die Bedeutung von Heideggers Begriff des Seyns sein. Das erklärt die fast überbordende Bildlichkeit des Situierens, die sich in seinen späteren Texten findet. Dort ist vom Ort die Rede, von der Stätte als dem Statt-Geben, vom Aufenthalt und vom Bauen, um nur diese Beispiele zu nennen. Für Rosenzweig wie auch für Heidegger gilt: Denken verändert Sein, und zwar nicht durch Aussagen ethischer Relevanz, sondern als Geschehen des Sich-Verhaltens. Es gibt Befunde philosophischer Spurensuche, die man zur Kenntnis nimmt, ohne von ihnen in irgendeiner Weise berührt zu werden. Für die gerade getroffene Feststellung trifft das ganz gewiss nicht zu. Dass ausgerechnet Rosenzweig und Heidegger, die ihre individuelle Geschichte und ihr kultureller Hintergrund trennt, in ihrer Vision eines Neuen Denkens zu einer so ähnlichen Konzeption gelangen, überschreitet das Für-möglich-Gehaltene. Um Verwirrung jedoch in Verstehen übergehen zu lassen, wird nun der erste der beiden Begriffe, an deren Verwendung die Ähnlichkeit dieser beiden Konzep48 Anmerkungen VI–IX, VI, S. 63. Zur Logik heißt es: «Man kann jede These demonstrieren; denn sobald ein Vorstellen sich auf eine These verlegt, hat es eine Vorgestelltheit des Vorstellbaren festgemacht. […] Dieses Demonstrieren beweist immer nur, daß es selbst […] in seinen Thesen […] schlechthin dogmatisch auftritt und von einem Weisen in die Unverborgenheit des Seyns […] nicht die geringste Ahnung besitzt und darum auch keine zuläßt.“ Anmerkungen VI–IX, VI, S. 54. 49 Anmerkungen I–V, I, S. 72.
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tionen verdeutlich werden kann, betrachtet. Um Erfahrung wird es jetzt gehen; um Gespräch im Kontext des Sprach-Denkens. Um zu verstehen, was Martin Heidegger unter dem Erfahren versteht, ist noch einmal an seine grundsätzliche Kritik an der Philosophie, das heißt speziell an der Metaphysik zu erinnern: «Die Irre der Metaphysik und d. h. zugleich ihre Wahrheit besteht darin, daß sie das Seyn […], ohne es je bedacht zu haben, als Sein des Seienden, hinter dem Seienden […] – sucht – in der Transzendenz […].»50 Eine solche Suche muss zwangsläufig scheitern, da das Seyn keine Abstraktion ist, die in der Erkenntnis gewonnen werden könnte. Stattdessen handelt es sich bei ihm selbst um eine Seyns-Weise, nämlich die des verstehenden Stehens im Sein. So ähnelt es eher einer Haltung als einem Wissen. Ist uns ein vergleichbarer Gedanke nicht bereits aus dem Stern der Erlösung bekannt? Gott, Welt und Mensch sind nicht «wißbar», wie es dort hieß, sondern ausschließlich erfahrbar. Aber was war dort mit dem Begriff der Erfahrung gemeint? Franz Rosenzweig gibt keine Erklärung, die diese Frage ein für alle Mal beantworten könnte. Doch die Bedeutung des Begriffes erschließt sich aus seiner Verwendung. Es ist eine Veränderung, die ein Mensch in der Sicht seiner selbst und des Anderen – worunter bei Rosenzweig Gott, Welt und der andere Mensch fallen – bemerkt. Das ist das Entscheidende an der Erfahrung: Sie stellt sich als simultanes Erleben einer umfassenden Sichtweise dar, die eine funktionale Differenzierung zwischen Subjekt und Objektivem erübrigt. So könnte man niemals davon sprechen, dass eine Begegnung mit einem anderen Menschen stattfinden würde, die nicht auch in der Selbst-Erfahrung eine Erweiterung des Bekannten bewirken würde. Doch weder diese auf mich selbst fokussierte Veränderung kann bereits als Erfahrung bezeichnet werden noch die Begegnung mit einem Anderen, sondern erst die Vergegenwärtigung des Geschehens der wechselseitigen Einwirkung, also das Verstehen der Bedingtheit. Insofern könnte sich Erfahrung nach Rosenzweigs Auffassung nicht in ein bestehendes Konzept von Philosophie einfügen, da sie weder Erkenntnis noch Wahrnehmung, sondern deren situative Verschmelzung ist. Es wäre nicht zutreffend, von einem Gegenstand der Erfahrung zu sprechen, da sie selbst Gegenstand ist, und zwar das immer wieder von Neuem mögliche Verstehen der Relationalität des Seins. Fast klingt es wie ein Kommentar dieser Sichtweise, wenn Martin Heidegger Ende der 1940er Jahre schreibt: «Der Denker weiß Alles Seiende seyender zu erfahren, als man es gewöhnlich nimmt.»51 Weil Erfahren keinen Erkenntnisertrag erbringt, der einmal gewonnen und von da an jederzeit unverändert im Denken abrufbar ist, sondern situatives Verstehen, kann es sich zu einer Spur verdichten, die in der Erinnerung als fortschreitendes Verstehen, als Erfahrung, erscheint. Erfahren ist damit Verstehen in 50 51
Anmerkungen VI–IX, VII, S. 149. Anmerkungen I–V, I, S. 49.
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der Zeit. Entscheidend ist dabei, dass dieser Bezug zu dem Augenblick des Gewahrens wie auch zu der Fortsetzung dieser Augenblicke der Erfahrung gleichermaßen Spontaneität und Verlässlichkeit ermöglicht. Für Versuche einer stärkeren Fokussierung der menschlichen Bindung an das Dasein als Grund des SeinsVerstehens qualifiziert sich das Erfahren als optimale Weise der Erschließung. Dass eine solche Fokussierung auch von Heidegger angestrebt wird, zeigen solche Passagen seiner Texte, in denen er das Erfahren in ganz bildlichem Sinn verwendet, nämlich als Sich-Einlassen auf Welt: Alle Einübung des Denkens muß den Gang auf dem Feldweg lernen. Die gewöhnliche und eilige bloße Beschäftigung mit den Denkern übersieht den Feldweg. Man schätzt die großen Aussichten von den beliebten Standpunkten aus. Man scheut das Gehen; vollends das einsame Gehen über Feld, wo nur das Wenige begegnet. Ohne die lange Erfahrung des Wesens von Welt fehlt der Sinn für das Dimensionale des Denkens. Die Dimension ist die Durchmessung, die das Verhältnis-Mäßige in seinem Maß ermißt.52
Wege sind in seiner sprachlichen Ikonographie Ausrücke für Bewegungen des Denkens. Diese Bewegtheit unterscheidet es grundsätzlich vom «vorstellenden Denken», das sich in der einzigen Bezugnahme des Subjekts auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit erschöpft. Heidegger sieht es hingegen als Credo seiner eigenen intellektuellen Entwicklung an, «auf dem Weg des Denkens [zu] bleiben», also der Gefahr erstarrter Theoriebildung mit der scheinbaren Unbestimmtheit kreativer Denk-Vollzüge entgegenzuwirken. Aus traditionell philosophischer Sicht mögen solche Akte willkürlich und nicht sinnvoll vorhersehbar erscheinen und damit exakt ihre Absicht bestätigen. Der Begriff der Zielunbedürftigkeit wurde bereits angeführt, um den besonderen Freiraum zu kennzeichnen, den Heidegger für das Denken in Anspruch nehmen will. Es dient keinem Zweck, der außerhalb seiner selbst liegt und sich in vermeintlich objektiver Gültigkeit als denk-notwendig ausgibt. Dagegen könnte eingewendet werden, ob nicht auch das Seyns-Denken in höchstem Maße einem Ziel gilt? Es wird doch gerade als jene Qualität des Denkens ausgewiesen, sich über alle Nutzanwendung hinweg zum reinen Denken des Möglichen erklären zu können, so könnte erwidert werden. So liegt der scheinbare Nutzen nicht in einem Ziel, das verfolgt wird, und doch kommt diesem Denken eine Wirkung zu, die in der Modifikation des Seins-Denkens zur verstehenden Seyns-Erfahrung besteht. Wie wenig Heidegger darin allerdings eine planbare Ausrichtung sieht, für deren Verwirklichung zum Beispiel eine bestimmte Methodik ausgewählt werden müsste, wird daran erkennbar, dass sich seiner Auffassung nach der Inhalt des Denkens zu denken gibt. Das Subjekt folgt keinem Vorsatz, den es denkend umsetzt. Vielmehr hält sich der Denkende in jener Bereitschaft, sich angehen zu lassen, die Heidegger in der Bildlichkeit des Hörens zu artikulieren sucht. Auch hierin 52
Anmerkungen VI–IX, VI, S. 38.
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stimmt er mit Franz Rosenzweig überein – eine weitere Parallele in dieser sich abzeichnenden Geschichte unerwarteter Nähe im Denken. Für Rosenzweig ist der Bezug, der sich im Begriff des Hörens andeutet, religiös konnotiert, beinhaltet also immer noch die Vorstellung personaler Ansprache, die Heidegger weder zugrunde legen kann noch will. Ausdruck einer gewissen Paradoxie, die entsteht, wenn vom Hören und dem Anruf die Rede ist, deren Ursprung jedoch nicht mehr in tatsächlicher Ansprache gesehen werden kann, ist die Passage in Sein und Zeit, in der es heißt: «Der Ruf kommt aus mir und doch über mich».53 Dort geht es um den Ruf des Gewissens, also die Aufforderung, sich den Einflüssen des «Man» zu entwinden: Sich verlierend in die Öffentlichkeit des Man und sein Gerede überhört es [das Selbst] im Hören auf das Man-selbst das eigene Selbst. Wenn das Dasein aus dieser Verlorenheit des Sich-überhörens soll zurückgebracht werden können – und zwar durch es selbst – dann muß es sich erst finden können, sich selbst, das sich überhört hat und überhört im Hinhören auf das Man. Dieses Hinhören muß gebrochen werden, das heißt es muß ihm vom Dasein selbst die Möglichkeit eines Hörens gegeben werden, das jenes unterbricht.54
Auch wenn es in dieser frühen Formulierung noch um die Befähigung zum eigentlichen Denken geht, entspricht ihre Konzeption exakt jener, die sich in späteren Texten findet. Das scheinbar Selbstverständliche soll unterbrochen werden, sei es der alles Vorstellen lenkende Einfluss des Man, sei es die Zweckorientiertheit im Denken. Stattdessen gilt es, dem Unerwarteten und Unbestimmten Gehör zu schenken. Ein Detail obiger Aussage könnte vielleicht überlesen werden. Es heißt nicht, dass sich der Mensch entschließt, zukünftig auf anderes zu hören, sondern dass diese Möglichkeit «vom Dasein selbst» gegeben wird. Dasein ist der Mensch, so könnte sofort entgegnet werden, so dass es keinen Unterschied macht, wer oder was hier wirkt. Mit dem Hinweis, dass Dasein mehr als nur der sich selbst reflektierende Mensch ist, würde die Besonderheit der Formulierung wahrscheinlich noch nicht sichtbar. Entscheidend ist die Feststellung, dass die Möglichkeit «gegeben wird». Schon in den 1920er Jahren zeigt sich Heideggers Überzeugung, wonach der Weg zur Eigentlichkeit nicht vorsätzlich zu beschreiten sei. Dieser Aspekt tritt in den Bemerkungen der 1950er Jahre immer stärker in den Vordergrund. Ihm korrespondiert die Gewissheit, dass nicht das eine Gehörte durch ein anderes ersetzt wird. Es geht vielmehr darum, das Hören, das einem Ziel dient, auszusetzen, um der «Stille» Raum geben zu können. Sie ist für Heidegger die Form der Zielunbedürftigkeit. Sie dient nicht, sie nützt nicht und ist doch von höchster Relevanz im Verstehen des Seyns. Denn in ihr kommen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Welt und der Mensch zur Geltung, wie sie eigentlich sind, nämlich zwecklos. Ihre pure Präsenz wird nicht auf Maßein53 54
Sein und Zeit, § 57, S. 275. Sein und Zeit, § 55, S. 271.
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heiten der Nützlichkeit reduziert, deren Wert derjenige bestimmt, der ihn gebraucht. Sein zeigt sich in seinem Seyn, das heißt der Möglichkeit seiner Denkbarkeit. Diese schließt den Denkenden ja nicht aus, sondern fordert ihn zu einer verwandelten Haltung im Sein auf. Nicht der Maß-Gebende sollte er sein, sondern der Maß-Haltende, insofern er sich von der Gegebenheit des Seins ansprechen lässt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Heidegger das Neue Denken als das «schonende Denken» bezeichnet. Denn zu schonen bedeutet, sich auf einen Maßstab im Sein einzulassen, der nicht vom eigenen Gutdünken abhängt, sondern aus der stets neu zu erkundenden Relation alles Seienden entsteht. An diesem Punkt kommt erneut der Begriff des Erfahrens zum Tragen. Er ist Bestandteil des schonenden Denkens, das maßvoll in dem Sinne ist, dass es sich in die Gegebenheit des Seins einfindet, anstatt sie zu ergreifen und nach eigener Vorstellung in Anspruch zu nehmen. Erfahrend zieht das Denken Wege im Sein, die es nicht zu einem zuvor festgelegten Ziel führen werden. Es sind vielmehr Bewegungen im Denken, die unbedachte Perspektiven eröffnen können, als würde etwas zum ersten Mal erfahren. «Er-fahren ist Be-wegen, be-wegen ist Denken», heißt es 1949. Eine solche Auffassung weist Denken als Haltung im Sein aus. Weit scheint davon die eingangs gestellte Frage nach einer möglichen Diskursfähigkeit existentiellen Denkens entfernt zu sein. Aber ist diese mit Blick auf das Neue Denken, wie es den existenzphilosophischen Konzeptionen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger zugrunde liegt, überhaupt sinnvoll? Es deutet doch wirklich alles darauf hin, dass es beiden um eine Absetzung vom wissenschaftlich betriebenen Philosophieren geht. Wie sonst würden sich ihre Bemühungen erklären, sowohl hinsichtlich des Denkens selbst als auch seiner Form eigene Akzente zu setzen, die nicht nur diesen oder jenen Teil der bisherigen Philosophie betreffen, sondern das Verständnis ihrer Aufgabe. Beide sind sich darin einig, dass das Denken, wenn auch nicht zwingend im Bestand der Philosophie, so doch als alles Verstehen erfüllende Bewegung, eine Aufgabe von existentieller Bedeutung zu erfüllen hat. Diese gilt dem Erfassen der grundsätzlichen Beschaffenheit des Seins, das aus der Vielfalt des konkret Bestehenden zu erschließen ist. Doch ist das nicht seit jeher Ziel der Philosophie gewesen? Worin sehen Rosenzweig und Heidegger das Innovative ihrer jeweiligen Ansätze im Denken? Er besteht darin, dass das Besondere, das in der je eigenen Vereinzelung Ursprung des Erfahrens ist, zugleich dessen Inhalt bleibt. Damit fällt die Arbeit der Abstraktion, die das Besondere in einem Begriff des Allgemeinen auflöst, fort. Der neuen Ansicht zufolge ist das Einzelne, ob es nun als das Seiende oder das Tatsächliche bezeichnet wird, nicht nur mit dem Sein verbunden – es ist Sein und zwar in der Vielheit seines Erscheinens. Sein ist dementsprechend kein Begriff mehr, dem lediglich eine logische Funktion zusteht, sondern Inhalt des Erfahrens in der umfassenden Vereinzelung seiner Möglichkeit. Diesem Aspekt existentiellen Denkens ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es geht um
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Seins-Erfahrung und nicht um die Wissbarkeit einer aus dem Seienden abgeleiteten Konzeption. Mitte der 1950er Jahre notiert Heidegger in seinem Denktagebuch: Die Philosophie ist ‹abstrakt›; sie bewegt sich in dem, was vom Konkreten abgezogen ist und dieses preisgegeben hat. Das Abstrakte ist, vom partikular real Wirklichen her gerechnet, bloße Illusion. […] Die Verwissenschaftlichung des alltäglichen Erfahrens und die Veralltäglichung der Wissenschaften ergeben eine überall gängige Vorstellungs- und Redeweise, die sich schlechthin mit dem rechten Vorstellen gleichsetzt […].55
Konsequent klingt in Anbetracht dieser Auffassung die sich anschließende Frage: «Gibt es noch Wege, die solche Verwirrung entwirren helfen?» Inhalt des schonenden Denkens ist nach Heideggers Überzeugung nicht das Produkt der Abstraktion, sondern im Gegenteil die Einsenkung in das Erfahrbare, das sich zunächst, darin dem ursprünglichen Verständnis des Begriffes der Erfahrung ähnelnd, der Sinnlichkeit darbietet. Die Besonderheit des Heideggerʼschen Erfahrungs-Begriffes besteht jedoch darin, dass sinnliches Erfassen niemals nur ein isoliert vorzustellender Akt ist, sondern mit ihm stets das komplexe Vergegenwärtigen des Sinnlichen im Denken einhergeht. Am deutlichsten wird diese vielleicht befremdlich klingende Ansicht, wenn an Heideggers vielfache Erwähnungen des Schlichten erinnert wird. Es sind die Bilder des Bauern, der sein Tagwerk in der ruhigen Gelassenheit des Wissenden vollführt. Es ist der Anblick der grasenden Schafe und des Schlehdornzweiges, die alles andere als naturidyllische Reminiszenzen sind. In diesen Bildern, deren Deutung Heidegger selbst in seinem Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks vornimmt, drückt sich aus, was Erfahrung auszeichnet. Im selben Moment, in dem sich die sinnliche Wahrnehmung einstellt, besteht – wenn das Denken nicht mehr abstrahierend wirkt – das Verstehen des Zusammenhanges, in dem alles im Sein zueinandersteht. Das Denken muss den Eindruck, der sich eingestellt hat, ohne gewollt und gesucht zu sein, nicht eigens bearbeiten, um seine Bedeutung verstehen zu können. Vielmehr erschließt diese sich spontan und erfordert vom Denkenden kein spezielles Wissen um ihre logische Form, sondern nur das eine: die Offenheit des Hörens. Sich auf die Erfahrungen im Sein einzulassen, ist nach Heideggers Ansicht jener gesuchte Weg, der die Verwirrungen des Denkens zu entwirren hilft. Es ist keine Unsicherheit, die das Vertrauen in diesen Weg erschüttern könnte, wenn er selbst fragt: «Doch was heißt Denken? Welches Heißende ruft das Denken in sein Wesen? Stehen wir unter einem noch kaum gehörten, geschweige denn erhörten Geheiß zur Verwandlung des Denkens […]?» Viel eher ist es ein Moment der Selbst-Vergewisserung, dieser Spur im Denken tatsächlich folgen zu können. Gerade Zeilen wie diese erinnern jedoch daran, dass sie auch unter anderer Perspektive gelesen werden können. Denn in ihnen klingt – ob beabsichtigt oder 55
Vigiliae und Notturno, S. 147 f.
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nicht – jene Verschmelzung mit völkisch-endzeitlichen Visionen an, die Heideggers Verlautbarungen in den 1930er und frühen 1940er Jahren vermitteln. Der Begriff des Auftrages, der eben verwendet wurde, um die Ausrichtung des Neuen Denkens benennen zu können, kann ohne große Mühe auch in einer heilsgeschichtlichen Bedeutung ausgelegt werden, die sich in den Schriften jener Zeit so gefährlich leicht mit dem Bild des Auftrages verbinden konnte, der an das deutsche Volk erging und ihm die alleinige Daseinsberechtigung in der kommenden Zeit zusprach. Was unterscheidet also die beiden Lesarten des Begriffes «Auftrag»? Zunächst kein absolut gültiges Kriterium, da der Ausdruck als solcher keinen Anhaltspunkt über seine Einbindung in einen inhaltlichen Kontext enthält. So kann seine Denomination ausschließlich aus diesem Kontext gefolgert werden, der einmal im Wahn völkischer Identität und Auserwähltheit und einmal im Bedenken des Zusammenhanges im Sein besteht. Der erste Aspekt des Denkens bezieht seine interne Rechtfertigung aus der Vorstellung der Separation, ohne die die vermeintliche Einzigkeit des Volkes nicht postuliert werden kann. Der zweite Aspekt deutet auf die entgegengesetzte Annahme. Im Neuen Denken geht es nicht um Unterscheidung und Aussonderung, sondern um Bezugnahme und Sich-Einlassen auf das komplexe Vergegenwärtigungs-Geschehen der Erfahrung. Die Differenzierung dieser beiden grundsätzlichen Ausrichtungen im Denken rechtfertigt es, Heideggers Aussagen der späteren Jahre als Ausdruck der Suche nach einem Neuen Denken zu lesen.
Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth Der Blick auf die Bestrebungen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, ein Neues Denken zu begründen, soll nun durch eine kurze Betrachtung des Denkens von Heinrich Barth ergänzt werden. Warum er und nicht Karl Jaspers in dieser Auswahl genannt wird, lässt sich folgendermaßen erklären: Zwischen den bereits skizzierten Konzeptionen kann sowohl hinsichtlich des Anspruches als auch dessen formaler Einlösung eine nicht unerhebliche Parallelität festgestellt werden. Die Position von Karl Jaspers würde diesen Befund erweitern, aber nicht grundsätzlich infrage stellen. Genau das geschieht in Heinrich Barths umfassendem Werk Erkenntnis der Existenz, das 1965 postum veröffentlicht wurde. Diese Schrift stellt die Explikation einer Existenzphilosophie dar, was sie schon allein auszeichnet. Denn hier liegt eine Konstruktion vor, die sich explizit jener Titulierung bedient, die es zu Rosenzweigs Zeit noch nicht gab und die Heidegger vehement zurückweist. Für Barth ist es offensichtlich, dass bestehende Deutungen des existentiellen Denkens, zu denen er auch diejenigen von Jean-Paul Sartre zählt, nicht geeignet sind, als Existenzphilosophie bezeichnet zu werden. Denn diese versteht er als «Erkenntnis der Existenz» «im Zeichen der Transzendentalphilo-
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sophie».56 So beabsichtigt Barth auf der einen Seite, eine neue Deutung von Existenzphilosophie, man könnte sogar sagen, ihre erste wirkliche Darstellung, zu präsentieren. Auf der anderen Seite lehnt er ein Heraustreten aus der Kontinuität philosophischer Theoriebildung rigoros ab.57 Für die vorliegenden Überlegungen ergibt sich eine besonders interessante Konstellation. Heinrich Barth tritt mit dem Anspruch einer Neu-Gründung im Denken auf, will diese jedoch, anders als Rosenzweig und Heidegger, ausdrücklich im Formenrepertoire bisheriger Philosophie einrichten. Es wird sich zeigen, dass es in inhaltlicher Hinsicht durchaus Überschneidungen zu den zuvor angesprochenen Aussagen gibt. Dort wirkte es so, als sei eine formale Innovation zu deren Denkbarkeit unverzichtbar. Barth behauptet nun im Grunde das Gegenteil. Mit den Mitteln der überlieferten Philosophie sei es möglich, die Frage nach der Existenz zu stellen. Im Folgenden wird es nicht darum gehen, die eine Konzeption der anderen vorzuziehen, sondern zu schauen, ob das Denken der Existenz tatsächlich eine Abkehr vom philosophischen Diskurs erfordert. Die Entscheidung hierüber wird für die Suche nach der Ethik der Existenz von besonderer Bedeutung sein. Denn dabei wird nicht nur zu fragen sein, ob es eine solche Ethik gibt, sondern auch, ob sie in einen produktiven Dialog mit zeitgenössischen Entwürfen von Ethik treten kann. Unter dem Aspekt der Diskursfähigkeit scheinen den Ansichten von Heinrich Barth von Anfang an bessere Chancen offenzustehen. Denn er verlässt die Regelhaftigkeit traditionellen Philosophierens nicht. Gleichwohl setzt er sich mit seiner Sicht der Existenz von einigen Theoremen ab. Das könnte zu der Überlegung führen, ob eine Erneuerung der Philosophie, die einen ihrer zentralen Begriffe betrifft, sehr wohl von innen erfolgen kann. Der Anspruch von Rosenzweig und Heidegger, das Denken an sich zu reformieren, würde damit in einem intensivierten Licht erscheinen. Sie wollen nicht nur den Begriff der Existenz, sondern das Denken selbst, das ihn reflektiert, reformulieren, indem sie es gleichsam hinter die philosophische Erfindung der Abstraktion zurückführen. Heinrich Barth sieht es als notwendig an, sich in deutlicher Weise von bestehenden Erscheinungsformen sogenannter Existenzphilosophie zu distanzieren, wofür er mitunter deutliche Worte findet: Die gegenwärtige Philosophie scheint uns weithin den Charakter einer gewissen Geschichtsferne gewonnen zu haben. Bei allem Reichtum historischer Forschung scheint die Gefahr eines Vor-sich-hin-Redens auf der Linie eines festgelegten, in sich begrenzten Gedankenzuges zu bestehen. Und es ist eben die Existenzphilosophie, die bei aller Verschie-
Erkenntnis der Existenz, S. 9. «Wenn die nachstehenden Ausführungen im Zeichen einer ‹Philosophie der Existenz› stehen, dann sei schon hier angedeutet, daß sie nicht die Intention haben, aus der Kontinuität der Geschichte der Philosophie herauszutreten.» Erkenntnis der Existenz, S. 21. 56 57
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denheit ihrer Möglichkeiten im deutschen wie im französischen Sprachbereiche Gefahr läuft, allzu selbstgenügsam ihre je eigene Spur zu verfolgen.58
In klarer Kontrastierung erklärt Barth: «Wir möchten keine Existenzphilosophie verantworten, die sich ausschließlich in der Ausbreitung von Sachverhalten der Existenz ein Genüge tut.»59 So überzeugend diese Feststellung im ersten Moment klingen mag, könnte doch gefragt werden, ob nicht die meisten Ausführungen der Philosophie in irgendeiner Weise «Sachverhalte der Existenz» betreffen? Zur besseren Einordnung von Barths Aussage kann darauf hingewiesen werden, dass er nicht diesen Umstand als solchen, sondern eine Engführung philosophischer Betrachtung vor Augen hat, die er in Texten vor allem von Martin Heidegger zu finden meint. «Selbstgenügsam» ist danach nicht nur die vermeintliche Fokussierung eines einzigen Begriffes, sondern vor allem die irrtümliche Meinung, ohne Bezug zur philosophischen Tradition vorgehen zu können. Um in der Bildlichkeit des obigen Zitates zu bleiben, könnte erwidert werden, dass Rosenzweig und Heidegger all ihre argumentative Kraft darauf verwenden, «ihre je eigene Spur» im Denken zu ziehen, weil sie das, was sie beide suchen, im Repertoire der Philosophie nicht fanden. Damit bestätigen sie jedoch – wenn auch in kompletter Entgegensetzung – genau die Sichtweise, die Barth ablehnend formuliert. Denken sollte nicht aus einem Bedürfnis, sondern aus seiner eigenen Notwendigkeit entspringen. Für Philosophie bedeutet das: Die Philosophie ist nicht eine geistige Möglichkeit, die ausschließlich in ihr selbst den Quellpunkt einer Initiative des Denkens finden könnte. Sie darf sich nicht in dem selbstgenügsamen Heroismus einer absolut sich heraushebenden, auf keine Außenwelt angewiesenen Weise geistiger Existenz gefallen.60
Im Wesentlichen besteht Barths Kritik des existentiellen Denkens an dessen scheinbarer Voraussetzungslosigkeit. Es beruft sich nicht auf den Formenbestand philosophischer Tradition und gibt vor, aus dem Prinzip der Eigentlichkeit seinen Anspruch begründen zu können. Namen werden fast nie genannt, doch Anspielungen lassen erkennen, an wen sich Barths Aussagen richten, die keineswegs reine Polemik, sondern von der Sorge getrieben sind, dass ein Denken, das dem Transzendentalen entsagt, Gefahr läuft, sich in sich selbst zu verlieren. In sich selbst – darin soll jedoch erklärtermaßen das Denken gründen, für das Franz Rosenzweig wirbt. Denn das Denken des Anderen führt die Bewegung der Reflexion unweigerlich auf das denkende Selbst, das sich im Anderen und das Andere durch sich begreift. Barth konstatiert mit Blick darauf, wie Philosophie zu konzipieren sei: 58 59 60
Erkenntnis der Existenz, S. 21 f. Erkenntnis der Existenz, S. 24. Erkenntnis der Existenz, S. 80.
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Auf eine Einheit des ‹Grundes› darf auch die Philosophie der Existenz nicht Verzicht leisten. In Ausrichtung auf die Einheit des Grundes kann sie sich nur im ‹systematischen› Zusammenhange entfalten. Die Existenzphilosophie darf sich nicht als ein Reich ohne Mitte zu erkennen geben. Ihre Probleme sollen in der Perspektive ‹auf etwas hin›, auf eine begründende Einheit ihrer Problematik, zur Sprache kommen. Diese Einheit beruht auf der Einheit des Wahrheitsanspruchs, dem die Philosophie der Existenz gerecht werden soll.61
Auch wenn es verwundern mag – exakt diese Voraussetzung erfüllt das Denken von Franz Rosenzweig, indem es den Begriff der Standpunkteinheit ins Spiel bringt, von der aus alle Erfahrung und mit ihr alles Erkennen seinen Ausgang nimmt. Dabei hat Rosenzweig hier gewiss keine Vorstellung eines erkennenden Subjekts vor Augen, das interessegeleitet Wahrheit zu erfassen sucht. Sowohl für ihn als auch für Martin Heidegger tritt an dessen Stelle der empfängliche Denkende, der bereit ist, sich «angehen» zu lassen, wie es heißt. Heidegger formuliert diese Bereitschaft eindeutig: Alles Denken geht vom zu Denkenden aus, das jedoch nicht allein als solches, sondern zugleich als das zu Erfahrende in Erscheinung tritt. Barth verweist kurz auf dieses «Angehen», dem er grundsätzlich seine Funktion nicht abspricht. Ob es jedoch eine zutreffende Charakterisierung ist, zugleich vom «Interesse» zu sprechen, kann gefragt werden.62 Offensichtlich bezieht sich Barth dabei auf Heideggers Position, da er die «ontologisch fundierte Existenzphilosophie» nennt, die meinte, «daß es dem Seienden um das Sein geht». Ergänzend heißt es dann aber: «und das heißt doch wohl: ‹daß uns das Sein etwas angeht›».63 Mit aller Vorsicht kann hier vermutet werden, dass Barth Heideggers Anliegen in Sein und Zeit für gleichbedeutend mit allen späteren Aussagen hält. Hinsichtlich seines Zitates aus dem Text kann die Verbindung zum Begriff des Interesses, die er sodann herstellt, im weitesten Sinne noch als zutreffend betrachtet werden. Für Heideggers späteres Denken gilt eine mögliche Gleichsetzung von Interesse und Sich-angehen-Lassen dann jedoch nicht mehr. In Sein und Zeit wird ein Erkenntnisinteresse formuliert, daran besteht wohl kein Zweifel. Doch in späteren Vorstellungen tritt der Aspekt eines zielorientierten Fragens, wie es dem Interesse zugrunde liegt, gänzlich in den Hintergrund. Bei Barth heißt es: «Nur in der Ausrichtung auf den Vollzug der bestmöglichen existentiellen Entscheidung hat ein jedes Sich-angehen-Lassen, ein jedes Interesse ei-
Erkenntnis der Existenz, S. 25. «Ein unermeßlicher Bereich von Gegenständen existentiellen ‹Interesses› zeichnet sich hier ab – ein Bereich, der, ohne unmittelbare Aktualität zu besitzen, in einem weitern Sinne doch die Existenz ‹etwas angeht›. Dieses ‹Interesse› ist insofern in der Bedeutung der ‹Existenz› beschlossen, als es zu ihren unabdingbaren Voraussetzungen gehört, ohne doch mit ‹existentieller Erkenntnis› koinzident zu werden.» Erkenntnis der Existenz, S. 132. 63 Erkenntnis der Existenz, S. 133.
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Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth
nen Sinn, der zur Existenz in einer relevanten Beziehung steht.»64 Für Heidegger käme ein solches entscheidungsabhängiges Sich-angehen-Lassen in den 1950er Jahren nicht mehr in Betracht. Unter anderem beruht auf diesem Umstand seine Feststellung, den «Unterschied» von Seiendem und Sein 1927 nicht konsequent bedacht zu haben. Dort folgte er noch einer eher traditionell ausgerichteten Philosophie, die den Gegenstand ihres interessegeleiteten Fragens benennt und methodisch geeignet zu extrapolieren sucht. Wird die tiefgreifende Umorientierung innerhalb seines Denkens, die sich seither eingestellt hat, ernst genommen, fällt eine solche Vorgehensweise im weitesten Sinne selbst unter das Verdikt eines vorstellenden Denkens, das sich von Vorsatz und Interesse leiten lässt. Das schonende Denken, das besonders in den 1950er Jahren reflektiert wird, nimmt von beidem ausdrücklich Abstand. Es könnte insofern nicht gesagt werden, dass sich der Denkende entschließt, von nun an schonend zu denken, da eine solche planbare Korrektur selbst wiederum interessegeleitet wäre. Die Schwarzen Hefte, die uns seit einigen Jahren vorliegen, waren zur Zeit Heinrich Barths noch nicht zugänglich. Noch immer wurden Heideggers Aussagen in Sein und Zeit als repräsentativ für sein gesamtes Werk angesehen. Insofern konnte in den frühen 1960er Jahren, als Erkenntnis der Existenz entstand, kaum von einem anderen Befund ausgegangen werden. Vielleicht war dieses auch einer der wenigen Texte Heideggers, die noch als relativ frei von ideologischen Konnotationen gelesen werden konnten. Heute – in Kenntnis der zwar fragmentarischen, doch in Summe konzisen Äußerungen in den Schwarzen Heften – ist eine Kritik wie die Heinrich Barths vor einem erweiterten Hintergrund zu prüfen. So ergibt sich, dass sie lediglich unter Bezugnahme auf Sein und Zeit als gerechtfertigt betrachtet werden kann. Was bedeutet dieses nun aber für die Frage, ob etwa auf Rosenzweigs und Heideggers Philosophie Barths Kennzeichnung zutrifft, «Reich ohne Mitte» zu sein? Für Ersteren ist der Fall klar. Die Einheit des Gedachten resultiert nicht aus der einheitlichen Fragehaltung eines theoretisierenden Subjekts, sondern aus der Standpunkteinheit des erfahrenden Denkenden. Es könnte sich leicht der Eindruck erhalten, als handele es sich dabei nur um eine andere Formulierung für ein ego-zentrisches Denken, das sogar in extremem Maße die Vorstellung der Subjektivität fördert. Denn, so könnte argumentiert werden, den Denkenden interessiert nur das, was sich ihm im Rahmen seiner bisherigen Erfahrungen als vorstellbar zeigt. Gegen diese Vermutung kann jedoch auf Rosenzweigs generelle These des Sterns der Erlösung hingewiesen werden. Die vormalige Einheit des All, deren Annahme seiner Auffassung nach alle bisherige Philosophie kennzeichnete, dekonstruiert er, indem er die Grundbegriffe des Denkens von Gott, Welt und Mensch in ihrer je eigenen Besonderheit ermittelt. So separiert lässt er sie jedoch nicht bestehen, sondern setzt sie in Relation zueinander. Diese kommt allerdings 64
Erkenntnis der Existenz, S. 133.
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nicht auf dem Wege des theoretischen Denkens, sondern der Erfahrung zustande, was durch die drei Funktionsbegriffe von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung verdeutlicht wird. Rosenzweig betrachtet diese nicht ausschließlich als Fundamente religiöser Gewissheit, sondern zugleich als philosophisch relevante Beschreibungen des Erfahrungs-Geschehens, in dem sich die neue Konstitution der gerade dekonstruieren Einheits-Vorstellung abspielt. Denkbar, nicht «wißbar», wird diese nicht durch die Annahme eines denkenden Subjekts, dessen epistemologischer Rang innerhalb des konstruierten Einheits-Gedankens zu klären wäre, sondern durch die erfahrende Feststellung des Eigenen im Denken des Anderen. Die Annahme der Denkbarkeit einer Einheit zurückweisend, schreibt Rosenzweig: Worauf beruht denn jene Allheit? […] Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder jene ersterwähnte: die der Denkbarkeit der Welt. Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Begründung der Allheit der Welt. Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer Allheit. […] Darum bedeutet ein erfolgreicher Aufstand gegen die Allheit der Welt zugleich eine Leugnung der Einheit des Denkens.65
Diese Einheit des Denkens erfordert nicht die Eigenheit des Denkenden, da diese in dessen vorausgesetzter Einheit inbegriffen ist. Was sollte dem Bild vom Logos auch durch den Hinweis auf den einzelnen Menschen hinzugefügt werden? Gerade nach diesem fragt Rosenzweig aber. Aufgrund der potentiellen Vielfalt seiner Erfahrungen fällt der Einzelne aus einer auf der Einheit des Denkens basierenden Sicht der Einheit des Seins heraus. Exponiert sieht er sich einer vermeintlich unzusammenhängenden Vielfalt dessen gegenüber, das sich ihm darbietet, ohne dadurch zugleich als wissbar ausgewiesen zu sein. Der vereinzelte Mensch wird zur «Mitte» der Philosophie, auf die laut Heinrich Barth keinesfalls verzichtet werden kann. Nur ist es eben nicht mehr das Subjekt, das interessegeleitet fragt, sondern der Einzelne, der sich vom Sein «angehen» lässt. In dieser Fassung verliert der Denkende, der für Rosenzweig zugleich der Erfahrende ist, jene spontane Autonomie, die den Gedanken des erkennenden Subjekts ausmacht. Dadurch wird er jedoch nicht zu einer abwartenden Passivität verurteilt. Die Auffassung, zwischen Zuständen des Tätigseins und der Untätigkeit unterscheiden zu müssen, zählt zu jenen Relikten traditionellen philosophischen Dafürhaltens, die es laut Rosenzweig aufzugeben gilt. Einheit denken zu können, resultiert auch nach Heideggers Auffassung nicht aus der Beschaffenheit des Denkens, sondern des Seins. Jedoch muss diese Möglichkeit erst wieder geschaffen werden, indem sich das Denken auf seinen elementaren Seins-Bezug einlässt. Durch die Fülle zweckgebundenen und damit vorstellenden Denkens ist diese Möglichkeit bis zur Unkenntlichkeit verstellt. In65
Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12 f.
Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth
teressegeleitetes Fragen repräsentiert hier gerade jenen Typus des Denkens, den es zu korrigieren gilt. Die Deutung Heinrich Barths, die Interesse und Sich-angehen-Lassen weitgehend gleichsetzt, trifft die Konzeptionen des Neuen Denkens von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger nicht wirklich. Dass sich hinsichtlich der Darstellung in Sein und Zeit ein anderes Bild ergibt, ist allein schon dadurch zu erklären, dass Heidegger zu dem Zeitpunkt noch nicht dieses Projekt verfolgte. Doch unabhängig davon bleibt der grundsätzliche Einwand gültig, den Barth gegen eine Position wie die der Standpunkteinheit erhebt. Aus seiner Sicht ist es ein Fehler, den «Quellgrund» des Denkens in einer durch Erfahrung gebildeten individuellen Verstehens-Kompetenz sehen zu wollen. Nicht in der Konstitution des Menschen, sondern in der Natur des Denkens muss dieser seiner Auffassung nach liegen. Diese ist Gegenstand philosophischer Untersuchung als «immer wieder einsetzende Rückfrage nach sinngebenden Begriffen, Aussagen, Positionen, Theoremen, Gesichtspunkten, die geeignet sein können, zu einer wahrhaft relevanten Erhellung dessen, was unser Interesse in Anspruch nimmt, etwas Wesentliches beizutragen.»66 Doch was geschieht, wenn diese Begriffe und Theoreme nicht mehr geeignet erscheinen, um die situative Stellung des Menschen im Sein zu reflektieren? Aus dieser Feststellung leiten Rosenzweig und Heidegger ihren Willen zum Neuen Denken ab, den Barth jedoch als ungerechtfertigt kritisiert. Denn seiner Überzeugung nach taugen «altbekannte, präzise Fragestellungen» und die zur ihrer Klärung eingesetzten Mittel sehr wohl dazu, eine Konzeption von Existenzphilosophie zu tragen.67 Der Substanzverlust der Philosophie, den er in diesem Zusammenhang beklagt, ist nach Rosenzweigs und Heideggers Ansicht längst eingetreten und zwar nicht aufgrund der Zurückweisung traditionell philosophischer Denk-Regularien, sondern gerade aufgrund ihrer Einhaltung: «Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage alles andere etwa noch fragwürdige angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht.»68 In recht plakativer Weise kann der Unterschied zwischen den Wegen existentieller Philosophie so benannt werden: Rosenzweig und Heidegger suchen das Neue Denken, um einem gewandelten Anspruch an Philosophie Rechnung tragen zu können. Barth akzentuiert ein Element innerhalb des philosophischen Diskurses, das seiner Ansicht nach zu wenig berücksichtigt wurde. Es wundert nicht, dass sich trotz der deutlichen Divergenz beider Ansätze doch auch eine Erkenntnis der Existenz, S. 13. «Altbekannte, präzise Fragestellungen werden im gegenwärtigen Denken auf die Seite geschoben, wie wenn man ihrer überdrüssig geworden wäre, und dies, ohne daß sie von ferne ihre ‹Erledigung› gefunden hätten. Wie sollte es da nicht zu einem Substanzverlust der Philosophie kommen?» Erkenntnis der Existenz, S. 22. 68 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 6. 66 67
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Schnittmenge ergibt, in der das Fragen dieser drei Denker übereinstimmt. Obwohl sich Heinrich Barth zum Teil heftig gegen das Selbstverständnis der Existenzphilosophen ausspricht, räumt er doch selbst eine solche Übereinstimmung ein, allerdings nicht, ohne auch hier Kritik mitklingen zu lassen. Denn er kündigt an, «eine größere Präzision» bei der Frage nach dem «Menschen in seiner Konkretion» walten zu lassen.69 Den Menschen, so ist zu lesen, beabsichtige er nicht in Abstraktion zu denken, sondern als denjenigen, «der in Erscheinung tritt». In der Begründung dieses Vorhabens scheint eine Ähnlichkeit zu den bisher skizzierten Konzepten auf, insofern Barth in der Philosophie keine ausreichenden Hinweise für die Thematisierung des Individuums findet. Die Folgerung, die er aus dieser Feststellung zieht, ist interessant. Denn der in Erscheinung tretende Mensch führt ihn zum Gedanken der Kontingenz als Charakteristikum der Existenzphilosophie sowohl in ihrer bestehenden als auch in ihrer zu entwerfenden Form. Sogleich stellt Barth aber klar, dass eine Sicht des einzelnen Menschen in seiner Konkretion diesen als «philosophisches Ursprungsprinzip» disqualifiziere: Sollte unsere ‹Wissenschaftslehre› etwa darin bestehen, daß wir uns aufgefordert sehen, von dem kontingenten Ausgangspunkte in vielfachen Richtungen in indefinitum von einer Position zur andern fortzuschreiten, dann würden wir eben in der fortschreitenden ‹Setzung› auf der Ebene jener endgültig grundlosen Kontingenz verharren, […]. Der Nihilismus würde das letzte Wort behalten. Wenn wir hier von einer ‹Kontingenz› des Anhebens aller philosophischen Darlegung reden […] dann bedeutet uns ‹Kontingenz› doch nicht eine haltlos schwebende Beziehungslosigkeit. Wir dürfen vorläufig sagen, daß wir die Kontingenz im Horizonte des ‹Transzendentalen› denken.70
Den einzelnen Menschen in der Zufälligkeit seiner Erfahrungen zum Ausgangspunkt einer Erkenntnis der Existenz zu erklären, hält Heinrich Barth schlichtweg für unmöglich. Denn auf dieser Grundlage bestehe keine Verbindlichkeit von Erkenntnis in dem Sinne, dass sie allgemeinem Verstehen zugänglich wäre. Wie er im weiteren Verlauf seiner Darstellung zeigen wird, kann dieses nur durch den Gedanken des Transzendentalen gewährleistet werden, das als zu setzende Voraussetzung allen Erkennens wirkt. Wie auch Rosenzweig und Heidegger legt Barth Wert auf die Denkbarkeit des Einzelnen, fokussiert dabei aber die Überzeugung, dass Denken und Erkennen sich funktional bedingen. In dieser Gewissheit würden ihm weder Rosenzweig noch Heidegger folgen. Denn für beide steht fest, dass die Denkbarkeit des Einzelnen aus der Erfahrung seiner individuellen Präsenz resultiert. Nicht nur seine Denkbarkeit, so kann hinzugefügt werden, sondern auch sein Denken. Der Mensch erlebt sich durch seine Konfrontation mit der Kontingenz des Daseins immer wieder von Neuem. Darin liegt gerade die Vergewisserung seiner Individualität, die sich performativ in jedem Erfahrungs69 70
Erkenntnis der Existenz, S. 83. Erkenntnis der Existenz, S. 84.
Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth
Geschehen bestätigt. Der Einzelne erlangt eine Vorstellung von sich selbst in der fortgesetzten Erfahrung von anderem, die zu dem Begriff des Anderen unter der Denomination des Göttlichen oder des Seyns führt. Um die Frage der Selbst-Erfahrung geht es Barth in dem Moment jedoch nicht. Der Nachweis der Denkbarkeit als Erkennbarkeit, die Gewähr von Erkenntnis ist, ist sein Anliegen. Wie können Rosenzweig und Heidegger, deren Ansichten hier zum Zwecke der Kontrastierung weitgehend undifferenziert behandelt werden, die Frage nach der Erkenntnis beantworten? Zunächst durch den Hinweis, dass diese nicht um ihrer selbst willen angestrebt werde, sollte sie als ein theoretisches Erfassen gedeutet werden. Tatsächlich taucht der Begriff der Erkenntnis bei ihnen erstaunlich selten auf. Für den Stern der Erlösung trifft das uneingeschränkt zu; für Heideggers Texte der 1950er Jahre ebenso. Die Überlegung, wie Erkenntnis sichergestellt werden kann, wenn sie aus eine Vielfalt kontingenter Sachverhalte zu gewinnen ist, hat für beide keine vorrangige Bedeutung. Hier zahlt sich ihr Entschluss aus, Erkenntnis durch Erfahrung zu ersetzen und diese mit dem Geschehen des Denkens zu verbinden. Denn Denken hat es in einer solchen Konstellation von Anfang an mit Kontingentem zu tun, das nicht durch einen Begriff überformt werden muss, um denkbar werden zu können. So sehr Barth diese Auffassung abschreckt, so wenig scheint sie Rosenzweig und Heidegger zu beunruhigen. Kein Wunder, so könnte vermutet werden, kann sich doch zumindest Ersterer jederzeit auf die Gewissheit göttlicher Anwesenheit im Dasein berufen. Hier von Dasein zu sprechen, ist keine Achtlosigkeit, da Rosenzweig selbst auf diese Begrifflichkeit zurückgreift und damit seiner Ansicht Ausdruck verleiht, dass Philosophie und Theologie einander ergänzen können, ja einander sogar bedürfen. Wird unter Erkenntnis das Zurückführen des Einzelnen auf das Zugrundeliegende verstanden, so würde ein solcher Anspruch für beide Denker nur eingeschränkt gültig sein. Denn ihre Sichtweisen des Göttlichen beziehungsweise des Seins zeichnen sich dadurch aus, dass sie in keiner Weise kausal-begründend aufgefasst werden. So erstaunlich es in Anbetracht von Rosenzweigs Position als religiöser Denker auch ist – der Frage der Schöpfung als verursachendem Geschehen gilt nicht seine größte Aufmerksamkeit. Er betrachtet sie vielmehr als Initiationsgeschehen jener bedingenden Erfahrung, die Gott und Mensch aufeinander zugehen lässt. Doch auch die Frage nach einem einenden Prinzip des Denkens, das Erkenntnis ermöglicht, spielt für beide keine zentrale Rolle, ganz im Gegensatz zur Auffassung von Heinrich Barth. Denn die Vielfalt der Erfahrungsformen schließt sich bei ihnen nicht zu einem Bild der Homogenität, auf das sie dann wiederum als ihr Prinzip zurückgeführt werden könnte. Erkenntnis selbst unter den Bedingungen von Kontingenz gewährleistet Heinrich Barth durch den Bezug allen Erkennens auf das Transzendentale, das ihm als Referenzpunkt der existentiellen Erkenntnis dient. Einen solchen Punkt anzunehmen, erübrigt sich für Rosenzweig und Heidegger, da es ihrer Ansicht nach Kontingenz in ihrer Vielgestaltigkeit zu erfahren und zu denken gilt Aus ihrer Position wäre dem
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Konzept der Erkenntnis Heinrich Barths entgegenzuhalten, dass diese letztlich immer nur das Transzendentale in seiner Einheit und Sinn vermittelnden Funktion erschließt. Als Prinzip der Denkbarkeit geht es der Erfahrung im Kontingenten stets voraus beziehungsweise besteht sogar unabhängig von ihr, wodurch deren Bedeutung relativiert wird.71 Oder würden sie damit Barths Intention verfehlen? In jedem Fall ist immer wieder darauf zu achten, in dessen Denken Inhalt und Methode zu unterscheiden. So darf das Festhalten an der zentralen Begrifflichkeit der kantischen Philosophie, das Barth ausdrücklich bestätigt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er von dem Erfordernis eines «Umdenkens» ausgeht. «Wir meinen zu sehen, daß in gnoseologischer Hinsicht endlich eine Wendung von großem Ausmaß und von bedeutender Tragweite vollzogen werden muß».72 Diese Wendung besteht in der Abkehr von einem Begriff der Erkenntnis, der die notwendige Differenzierung in ein Erkanntes und in ein Erkennendes beinhaltet. Vor allem die Annahme, in allem Erkennen müsse auf ein Subjekt geschlossen werden, verwirft Barth.73 Denn dessen Annahme erweist sich als das wohl größte Hindernis für sein Vorhaben, existentielle Erkenntnis nicht als Vollzug des Verstehens, sondern als Erscheinung der Existenz zu deuten. Hierin unterscheidet sich existentielle von theoretischer Erkenntnis seiner Auffassung nach: Während Letztere es nahelegt, dass sich ein Subjekt etwas als Objekt setzt, funktioniert Erstere grundsätzlich anders. Hier gilt laut Barth, dass sich «etwas zu erkennen gibt». Es kommt dabei nicht darauf an, nach dem etwas als solchem oder demjenigen zu fragen, dem es sich zu erkennen gibt. Wichtig ist vielmehr das Geschehen des «Offenbarwerdens» in seiner existentiellen Bedeutung. In ihm verschiebt sich die begriffliche Akzentuierung von der Erkenntnis auf die Erscheinung, indem Erkenntnis nicht auf Erscheinung basiert, sondern sich selbst als Erscheinung zu erkennen gibt. Erkenntnis wird damit nicht mehr als eine kognitive Tätigkeit verstanden, die etwas zuvor Unbekanntes erschließt. Sie zeigt sich vielmehr selbst als Geschehen der Erschließung und zwar der Erschließung der «Bestimmung des Menschen». Diese Umwandlung, deren Reichweite Barth selbst angekündigt hat,74 kann als Kernstück seiner gesamten Existenzphilosophie betrachtet werden. Um ihre Bedeutung zu ermessen, ist ihr Zum Begriff der Transzendenz heißt es: «Mit der ‹Transzendenz› des Prinzips soll gemeint sein seine Priorität vor aller Realität des Weltseins. Im ‹transzendenten› Prinzip darf dasjenige Prius vermutet werden, in dem ein ‹Vorausgehen› vor aller Erfahrung […] wirksam ist. […] Eine sinnvoll aufgebaute Existenzphilosophie kann über die Probleme der Transzendenz nicht in vornehmer Resignation hinweggehen.» Erkenntnis der Existenz, S. 26. 72 Erkenntnis der Existenz, S. 172. 73 «Indem wir uns anschicken, von aller egozentrischen Philosophie Abstand zu nehmen, […].» Erkenntnis der Existenz, S. 182. 74 «Ein Umdenken von erheblicher Reichweite muß uns auch auf diesem für uns wesentlichen Problemfelde zugemutet werden.» Erkenntnis der Existenz, S. 181.
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Ablauf schrittweise zu rekonstruieren. Barth leitet seine Umdeutung ein, indem er zunächst nach der Natur von Erkenntnis fragt und diese von einem Verstehen zu einem «Offenbarwerden» umdeutet. Damit wird seiner Ansicht nach die überkommene Subjekt-Objekt-Differenzierung hinfällig, die wiederum die Frage nach demjenigen, was offenbar wird, in den Hintergrund rückt. Der Blick ist dadurch frei auf das Offenbarwerden als solches gerichtet, das heißt auf seine Bedeutung. Offenbarwerden bedeute, so erklärt Barth, eine «Manifestation»: «Sie bedeutet ein Sich-zu-erkennen-Geben, ein Sich-Erschließen, ein Offenbarwerden des begründenden Sinnes der Existenz.»75 Wenn sich etwas erschließt, dann gibt es sich zu erkennen, es tritt in Erscheinung: Wenn uns in der menschlichen Existenz ‹Erscheinen der Erscheinung› in der paradigmatischen Möglichkeit des ‹In-die-Erscheinung-Tretens› gegenwärtig ist, dann wird in dieser Auffassung der Existenz deren teleologische Grundbestimmung, ihr Sein in der Zeit, ihre Ausrichtung auf ein Zukünftiges, eindeutig zur Sprache gebracht. […] Darin, daß Existenz in Erscheinung tritt, vollzieht sich die Manifestation jener Bedeutung des Telos, die wir als ‹Bestimmung des Menschen› ausgesprochen haben.76
Die aus dieser Auffassung entstehenden Folgerungen ethischer Relevanz werden an späterer Stelle zu berücksichtigen sein. Im Moment geht es um die Bedeutung, die Heinrich Barth der Manifestation im Kontext existentieller Erkenntnis zuweist. Bei dieser handelt es sich nicht um Erkenntnis von Beliebigem, das letztlich durch jeden Inhalt des Verstehens repräsentiert werden könnte. Existentielle Erkenntnis erschließt Existenz als Sein, das nur dem Menschen zusteht. Hier kommt der bereits erwähnte Begriff des Transzendentalen zum Tragen. In der Erkenntnis manifestiert sich die sinn-setzende Bedeutung von Existenz, dem menschlichen Sein. An diesem interessiert Barth vor allem ein Aspekt: «Wenn uns ‹exsistere› ein ‹Hinaustreten› bedeutet, ein Hinaustreten in die offene Möglichkeit zukünftigen Seins des Menschen, dann verstehen wir dieses ‹Ex-sistieren› als einen Akt der Erkenntnis. Wobei uns nicht verborgen bleiben kann, daß diese Aussage den Zeitgenossen höchst befremdend erscheinen muß!»77 Darin, Existenz als Entwurfsgeschehen zu verstehen, in dem sich der Mensch auf ein zukünftiges Sein hin überschreitet, unterscheidet sich Barths Auffassung kaum von den Vorstellungen, wie sie Rosenzweig und Heidegger vertreten. In der Überschreitung wird gesetzt, was dann als Sinn erst erschlossen wird – wie sieht es aber mit dieser Annahme aus? Barth spricht in diesem Zusammenhang von der Bestimmung des Menschen, insofern in der Existenz die sinn-setzende Bedeutung der Entscheidung, in die Zukunft hinein sein zu wollen,
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Erkenntnis der Existenz, S. 184. Erkenntnis der Existenz, S. 185 f. Erkenntnis der Existenz, S. 129.
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in Erscheinung tritt.78 Dabei geht es nicht primär um diese oder jene partielle Überlegung, was es zu verwirklichen gilt, die sich dann in einer bestimmten Handlung ausdrückt Im Vordergrund steht die Erkenntnis des funktionalen Zusammenhanges aus Entscheidung und Sinn. Letzterer besteht nicht bereits durch eine Bestimmung des Menschen, die ihm auferlegt wird und sein Wollen und Tun bestimmt. Sinn entsteht mit dem Entwurf des Menschen in die Möglichkeit des Seins in der Zukunft, das noch nicht ist, jedoch sein soll. Dieser Gedanke wird an späterer Stelle aufzugreifen sein, da er erhebliche Konsequenzen für die Frage nach einer existenzphilosophischen Ethik hat. Doch auch im vorliegenden Rahmen ist er wichtig. Die Setzung des Sein-Sollens fungiert im Moment noch nicht als normativer Akt, sondern als der in der Existenz in Erscheinung tretende Sinn menschlichen Seins. Dieser ist aber kein anderer als der Sinn der Existenz selbst, die somit in der Verwirklichung ihre eigene Möglichkeit der Sinnhaftigkeit absolut setzt. Es ist das Verstehen dieses Zusammenhanges, das Heinrich Barth als Manifestation bezeichnet und das seinem Begriff von Existenz seine unverwechselbare Prägung gibt. Denn «Erkenntnis der Existenz» ist beides: das, was in der Existenz erkannt wie auch das, was durch Existenz erkannt wird. Gerade wurde davon gesprochen, dass Existenz ihre Möglichkeit der Sinnhaftigkeit absolut setzt. Auf die Frage, wie das erfolgen kann, antwortet Barth mit seinem Hinweis auf das Transzendentale: In dem die Zukunft vorausnehmenden Akte der Existenz, in dem sich die Aktualisierung einer offenen Möglichkeit ereignet, wird ein Akt der Transzendenz wahrgenommen. […] Solches Transzendieren ist aber anderer Ordnung als die Transzendenz des Transzendentalen. In dieser letztern geht es nicht um das Hinübertreten von der Erkenntnis der Vordergründe in diejenige der Tiefen des Wirklichen, […]. Transzendentale Überlegung verweist auf die Voraussetzung, die allein es erlaubt, Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Sinngebung in Rechnung zu ziehen und deren Aktualisierung in der Zeit zu bedenken.79
Im Gedanken des Transzendentalen erschließt sich die Bedingung der Möglichkeit, Existenz als sinn-setzend zu begreifen. In dieser zunächst vollkommen auf das Erkenntnisgeschehen konzentrierten Betrachtung unterscheidet sich Heinrich Barths Konzeption von Existenzphilosophie von den bisher angesprochenen Entwürfen in grundsätzlicher Weise. Denn er beleuchtet das Zustandekommen existentieller Erkenntnis, das im Denken des Transzendentalen mündet. Oder wird hier vorschnell geurteilt? Immerhin konnte auf den Versuch von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger hingewiesen werden, ein Neues Denken zu begründen. Ihre Auffassung von Existenz steht damit auch im Zeichen einer ganz 78 «Der ‹Sinn› wird offenbar im Vollzuge der ‹Sinngebung›, in der sich die Existenz in die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Sinn und Un-Sinn hineingeworfen sieht.» Erkenntnis der Existenz, S. 184. 79 Erkenntnis der Existenz, S. 224 f.
Tradition und Erneuerung – Heinrich Barth
bestimmten Sicht jener Prozesse, die ein Verstehen der Beschaffenheit des Seins erschließen. Beide machen allerdings unmissverständlich klar, dass ihnen wenig an einem Verbleiben im Theorie-Kontext des bestehenden philosophischen Diskurses liege. Barths Kritik der Formen existentiellen Denkens entzündet sich vornehmlich an dieser Abkehr von der Tradition. Dass er mit Heideggers Denken zumindest teilweise vertraut gewesen ist, legen seine verschiedenen Anspielungen nahe. Der Name Heidegger wird kein einziges Mal genannt. Inwieweit er auch das Werk von Franz Rosenzweig zur Kenntnis nehmen konnte, ist schwer zu beurteilen. Eine Bemerkung im Text könnte zwar darauf hindeuten, doch ist dieser eine Bezugspunkt nicht belastbar. Die Distanzierung von der philosophischen Tradition ist in Barths Auffassung unweigerlich mit der Gefahr der «Substanzlosigkeit» der Existenzphilosophie ontologischer Prägung verbunden. Denn sie meint, so zumindest stellt er es dar, auf das Prinzip der Denkbarkeit von Existenz – den Gedanken des Transzendentalen – verzichten und alles für den Erkenntniserwerb Erforderliche allein aus dem Sein ableiten zu können. Das Sein zu denken und das Transzendentale zu denken rangiert seiner Ansicht nach auf keiner vergleichbaren Ebene, aus der eine vergleichbare Wirkung hervorgehen könnte. Während Ersteres in Beliebigkeit zerfasert, vermag nur Letzteres jene Einheit zu gewährleisten, die Erkenntnis erfordert, um sich aus der Vielheit des Gegebenen abzuheben. Sie soll den allgemein gültigen Sachverhalt des Zustandekommens existentiellen Verstehens erschließen. Gerade diese Forderung würden Rosenzweig und Heidegger zurückweisen, wenn mit ihr die Aufkündigung realer Seins-Bezüge als Inhalt des Verstehens verbunden ist. Hierin liegt der Grund, warum beide nicht von Erkenntnis, sondern von Erfahrung als demjenigen sprechen, aus dem sich Existenz erschließt. Alle drei Denker versuchen, sich dem Geschehen der Existenz verstehend zu nähern, weil sie in ihm die dem Menschen mögliche Weise zu sein sehen. Sie alle fragen also in diesem Zusammenhang nach der formalen Struktur, innerhalb derer Existenz denkbar wird. Konkrete Entscheidungen für bestimmte Wünsche, die es zu verwirklichen gilt, muss daher zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen thematisieren. Es geht momentan niemandem um die Frage, wie bestimmte Handlungen, die dem Wollen folgen, Existenz verändern können, denn dann müssten sie nach dem Dasein als dem Ereignis-Raum tatsächlicher Veränderung fragen. Mit ihrer Fokussierung der Existenz richten sie ihren Blick auf die Ermöglichung existentiellen Werdens, nicht auf die Möglichkeiten der konkreten Entscheidungen, in denen sich Existenz verwirklichen kann. Das Neue Denken ist nicht Mittel zum Zweck gelingender Daseins-Gestaltung, sondern in sich bereits dessen Modifizierung. Es soll kein Instrument philosophischer Analyse durch ein anderes ersetzt werden, das sich dann letztlich in unveränderter Weise handhaben lässt. Stattdessen soll gefragt werden, auf welche Instrumente Philosophie grundsätzlich angewiesen ist, um ihre Aufgabe, das Sein des Einzelnen zu reflektieren, erfüllen zu können. Wird dabei die Annahme eines ersten Prinzips
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des Denkens hinfällig, auf der Heinrich Barth besteht? Das Neue Denken soll nicht generell die Annahme eines Prinzips bestreiten, sondern es nur dann ablehnen, wenn es zu denken Abstraktion erfordert. Daher gewinnt Erfahrung zentrale Bedeutung für das Verstehen der Struktur von Existenz. Wie sich bereits angedeutet hat, ist sie nicht Grundlage dieses Verstehens, von der es zu abstrahieren gilt, sondern bereits das Verstehen selbst. Dem Erlebnis der Offenbarung, dem Franz Rosenzweig so große Aufmerksamkeit widmet, folgt nicht ein darüber hinausgehendes Begreifen. Davon, dass ein solches nach religiösem Verständnis ohnehin nicht vorstellbar wäre, kann hier abgesehen werden. Vielmehr erschließt sich im Offenbar-Werden in einem simultanen Geschehen zu Erfahrendes als zu Denkendes. Eine allgemeingültig gefasste Erläuterung eines solchen Geschehens findet sich im Stern der Erlösung: «Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks [der Erfahrung] wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ‹Ding› umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen Offenbarens.»80 Der Begriff des Umfärbens ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Denn er signalisiert zweifelsfrei, dass Rosenzweig Offenbarwerden nicht als Kategorie des Erkennens begreift, die sich grundsätzlich vom Erfahren abhebt, sondern dessen Inhalt so erhellt, dass ein anderer Aspekt seiner Beschaffenheit in Erscheinung tritt. Damit dieses erfolgen kann, ist keine Abstraktion vonnöten. Und doch erlaubt das Offenbarwerden den tiefsten Einblick in die Struktur des Seins, die möglich ist. Im ersten Moment scheint Rosenzweig damit eine Sichtweise zu vertreten, die derjenigen Heinrich Barths kaum vergleichbar ist. Diese Feststellung vermag jedoch nicht zu überzeugen. Denn etwas drängt sich in den Blick, das die Auffassungen beider zumindest punktuell aneinander annähert. Dabei geht es nicht um den Gegenstand des Denkens, sondern dessen Funktion selbst. Das Neue Denken zielt auf das Verstehen der Struktur des Seins. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass es sich hierfür auf die Erfahrung konzentriert, deren Vielgestaltigkeit es zu erhalten sucht. Deren Preisgabe im Prozess der Abstraktion kommt für Rosenzweig nicht in Betracht. Gleichwohl soll das Neue Denken Einsicht in die relationale Beschaffenheit des Seins geben. Zu diesem Zweck wird ihm die Fähigkeit zugesprochen, im einen ein anderes zu erkennen, das heißt im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Dieses ist der Sinn des Umfärbens, dieses Ausdrucks, der so unspektakulär wirkt und doch unter erkenntnis-funktionaler Perspektive so aufschlussreich ist. Aufgrund des Transformationsprozesses, der Erfahrung als Verstehen ausweist, kann Rosenzweig auf die Annahme eines Prinzips des Denkens, das dessen Zusammenhalt während der Konfrontation mit dem Konkreten gewährleisten soll, verzichten. Denn dieser Zusammenhalt entsteht auch nach Barths Überzeugung aktuell erst im Entwurf, durch den der Mensch das zukünftig zu Wollende setzt. Diese Ak80
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180.
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tualität ist jedoch eine Aktualisierung eines zuvor bereits Denk-Möglichen, des Prinzips des Transzendentalen. Ohne die Voraus-Setzung der Möglichkeit von Erkenntnis wäre die Setzung des Sinns der Existenz, den Barth in der Erkenntnis findet, nicht zu begründen. Die Gültigkeit eines Prinzips des Denkens, das letztlich nur in diesem selbst vorgefunden werden kann, lehnt Rosenzweig ab. Wie Heinrich Barth will auch er Struktur-Erkenntnis ermöglichen, wie nicht zuletzt dadurch belegt werden kann, dass er den Stern der Erlösung als System verstanden wissen will. Es geht ihm also nicht um partielle und situativ bedingte Einsicht in einzelne Struktur-Elemente, die sich zu keinem Entwurf der Gesamtschau verdichten. Hierin folgt er seinem Lehrer Hermann Cohen. Die Erkenntnis des Neuen Denkens erschließt die Struktur des Seins, wohingegen die existentielle Erkenntnis im Sinne Heinrich Barths die Struktur des Denkens offenlegt, das Sein denkt. Die Funktion des Transzendentalen ist dabei entscheidend. Indem es gedacht wird, schlägt das Sich-Entwerfen in zukünftiges Sein in das Sein-Sollen um, das nach Barths Ansicht Merkmal existentieller Erkenntnis ist. Denn im Denken des Transzendentalen wird das Denken der Möglichkeit, sich in die Zukunft zu entwerfen, als Bedingung der regulativen Gültigkeit des Transzendentalen gesetzt. Es könnte daher gefragt werden, ob dieses wirklich als Prinzip verstanden werden kann, das das Denken aus sich heraus bedingt. Denn es ist letztlich Bestandteil des Denkvorgangs selbst und hängt sogar von dessen Aktualisierung ab. Wird das Transzendentale nicht gedacht, kommt ihm keine normative Wertigkeit zu. Diese Feststellung mag banal klingen. Allerdings bestätigt sie den Mechanismus des Setzungs-Geschehens, das Heinrich Barth seinem Konzept von Existenzphilosophie zugrunde legt. Der Mensch denkt, was sein Denken bestimmen soll. Diese begründende Selbstbezüglichkeit würde sich gut in das Verständnis existentiellen Denkens einfügen, wenn Barth ihm nicht durch seine Verweise auf die philosophische Tradition den Anschein absoluter Gültigkeit verleihen wollte. Seine teils vehemente Ablehnung anderer Entwürfe des Existentiellen erweckt zudem den Eindruck, dass ohne eine Bezugnahme auf ein Prinzip, das nicht aus dem Sein abgeleitet wird, keine ernstzunehmende Philosophie zu betreiben ist. Zur Überprüfung seiner Kritik wäre demnach zu fragen, ob auch bei Rosenzweig und Heidegger ein Moment im Denken ausgemacht werden kann, in dem Setzung in selbstrechtfertigende Gültigkeit umschlägt. Denn genau das geschieht, wenn ein Prinzip als absolut geltend betrachtet wird. Barth legt großen Wert auf die Feststellung, dass dieser Geltungsanspruch nur aus einem Akt des Denkens folgen und keinesfalls in ontologischer Fundierung gründen kann. Wäre es so, könnte ihm eben keine das Denken bestimmende Verbindlichkeit zukommen. Diese Verbindlichkeit ist für Heidegger, um mit einem Blick auf seine Auffassungen zu beginnen, gleichfalls unverzichtbar. Jedoch resultiert sie nicht aus einem Akt menschlicher Setzung, sondern in der Tat aus dem von Barth verworfenen Grund – dem Sein. Wie stehen Sein und Denken zueinander? Für Barth müssen
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sie als getrennt betrachtet werden, da andernfalls dem Denken niemals die Selbstreferentialität zuerkannt werden könnte, die er mit dem Begriff des Transzendentalen verbindet. Heidegger hingegen differenziert nicht zwischen Denken und Sein, wie bereits seine ersten Paragraphen aus Sein und Zeit verdeutlichen. Die Frage nach dem Sein kann nur derjenige stellen, der es irgendwie schon versteht. Diese Vorgängigkeit besteht aber nicht aufgrund der Funktion des Denkens, Prinzipien seiner eigenen Gültigkeit zu formulieren, sondern aufgrund der Tatsache, dass der Fragende aus seinem eigenen Sein heraus spricht. Eine SelbstBegründung des Denkens ist allein durch diese Tatsache immer schon gegeben. Das Umschlagen der konträren Bewegungen innerhalb des Denk-Prozesses, deren erste die Möglichkeit des Entwurfes in die Zukunft setzt und deren letztere diese Setzung als normativ gültig ausweist, erübrigt sich für Heidegger. Vielmehr folgt der Weisungscharakter des Denkens, den es selbst als Normativität auslegt, nicht aus dem Denken, sondern dem Sein. Hier greift Heideggers des Öfteren genutzte Formulierung, es gebe sich etwas zu denken. Eine autonome Entwurfsbewegung des Denkens im Sinne Barths, die der Mensch initiieren kann, ist für Heidegger gerade Inbegriff des vorstellenden Denkens, das es zu überwinden gilt. Vielmehr wird der Mensch durch ihm zu denken Gegebenes erst zu jenem Denken motiviert, das besser mit dem Begriff des Erschließens bezeichnet werden sollte. Heideggers Suche nach dem Neuen Denken ist keine Aufforderung zu wissenschaftlichem Fragen, ja im Grunde nicht einmal der Beginn der Theoriebildung, insofern diese als Sammlung von Aussagen über etwas verstanden wird. Aussagen sind für ihn vielmehr selbst Ausdruck, eine Auffassung, die es im Zusammenhang existentiellen Sprach-Denkens zu berücksichtigen gilt. Die Bewegung des Denkens, die Heinrich Barth beschreibt, kann als eine Ellipse vorgestellt werden, deren äußerster Punkt das Umschlagen im Denken des Transzendentalen ist. Sollte für Heideggers Sicht ein ähnliches Bild gesucht werden, so müssten Sein und Denken als zwei Linien erscheinen, die jederzeit parallel zueinander verlaufen und sich an jedem beliebigen Punkt berühren können. In diesen Momenten erschließt sich dem Menschen, dass sein Denken immer nur in Bezug zum Sein stattfinden kann. Diesen Umstand zu vergegenwärtigen, stellt die höchste Form der Strukturerkenntnis des Seins-Denkens dar. Und Rosenzweig? Auf seine Formulierung des «Umfärbens» wurde bereits hingewiesen. Ihre Bildlichkeit zeigt, dass auch für seine Konzeption des Neuen Denkens ein Umschlagen der Bewegung des Denkens, in der Selbstsetzung in vermeintlich absoluter Gültigkeit gedacht wird, nicht erforderlich ist. Auch für ihn läge das Prinzip des Denkens, wenn er es befragen würde, nicht in einem Akt der Selbstbezüglichkeit des Denkens, sondern in dessen Gründung in der Erfahrung und damit gleichermaßen im Sein wie auch in dessen Gewahren. Eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, die Ersterem die Aktualität spontanen Fragens, Letzterem die Passivität des Befragten zuschreibt, macht für Rosenzweig keinen Sinn. Denn der Denkende, den er als Erfahrenden bestimmt,
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agiert alles andere als selbstbestimmt. Hier kommt das Motiv der Ansprache zum Tragen, in der sich der Mensch von dem zu Denkenden in Anspruch genommen fühlt. Heidegger formuliert in aller Klarheit, dass das Denken vom zu Denkenden ausgeht.81 Ganz ähnlich wie Rosenzweig spricht er davon, dass uns etwas angeht, so dass das erfahrende Denken eher einer Resonanz als einem selbstgewählten Wissen-Wollen gleicht. An dieser Stelle ist nun daran zu erinnern, dass auch Heinrich Barth, so sehr er sich zur philosophischen Tradition bekennt, doch «in gnoseologischer Hinsicht endlich eine Wendung von großem Ausmaß und von bedeutender Tragweite» fordert. «Der uns vom 19. Jahrhundert her geläufige Erkenntnisbegriff, der mit der allzu fraglosen Voraussetzung eines ‹Subjektes› und eines ‹Gegenstandes› der Erkenntnis arbeitet, ist uns als ein unverkennbarer Exponent des natürlichen Bewußtseins einsichtig geworden.»82 Diese allzu fraglose Voraussetzung hebt Barth auf, indem er nicht mehr Subjekt und Objekt unterscheidet, sondern «‹Etwas› von seinem ‹Offenbar-› oder von seinem ‹Einsichtigwerden›».83 Diese Differenzierung scheint keinen Raum mehr für die Annahme eines tätigen Subjekts zu lassen. Barth fasst seinen Standpunkt folgendermaßen zusammen: So geläufig und so einleuchtend die Vorstellung von einem existentiell wirksamen Subjekte der existentiellen Erkenntnis immer sein mag, so können wir uns doch nicht verhehlen, daß der Regreß zu einem solchen Subjekte kaum überwindlichen Bedenken unterliegt. […] Nichts Geringeres steht auf dem Spiele, als daß die Hypostase des Ich, in der die Quelle aller Spontaneität theoretischer und praktischer Vernunft vermutet wird, eine Überholung erfahren muß – eine Überholung durch die Erkenntnislehre, die eben gerade nicht in der Lage ist, in einem Prinzipe ursprünglicher Subjektivität ihren Ausgangspunkt zu gewinnen.84
Seine Zurückweisung einer «Hypostase des Ich» als Quelle der Vernunft klingt im ersten Moment so, als würde sie auch Franz Rosenzweigs Annahme jener «Standpunkteinheit» treffen, aus der heraus der neue Typ des Philosophen agiert. Schnell wird jedoch klar, dass Kritik, sollte sie in diese Richtung weisen, ihr Ziel verfehlen würde. Denn Rosenzweig geht nicht von der funktionalen Bedeutung eines denkenden Subjekts aus, sondern – ganz im Gegenteil – von der Kompetenz des existentiell Fragenden, der bedenkt, was sich ihm zu denken gibt. In ihm vereinen sich die Empfänglichkeit für das, was es zu befragen gilt, mit der Bereitschaft, das Gedachte jederzeit verantworten zu können, das heißt, mit sei«Jedes Denken wird durch sein Zu-Denkendes bestimmt, durch die je und jäh aufleuchtende Unablässigkeit, in der jenes von diesem beansprucht wird. Je ursprünglicher ein Denken dem Einen und Selben zugehört, je größer sind die Wandlungen im Denken.» Vigiliae und Notturno, S. 115. 82 Erkenntnis der Existenz, S. 172 f. 83 Erkenntnis der Existenz, S. 174. 84 Erkenntnis der Existenz, S. 182.
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ner ganzen Persönlichkeit dessen Sinn bezeugen zu können. Dieser Aspekt wird an späterer Stelle relevant. Bereits hier kann auf eine Formulierung Rosenzweigs hingewiesen werden, die in der für seinen Sprachstil so typischen fast plakativen Schlichtheit doch Bedeutsames ausdrückt. Danach komme es nicht darauf an, dass Wahrheit die Wirklichkeit «bewähre», sondern dass diese Wahrheit bewahre.85 Ein erkenntnistheoretisches Konzept, das die Bildung eines Wahrheitsbegriffes nachweist, dem fortan die Funktion des Richtmaßes logischer Operationen zusteht, interessiert Rosenzweig nicht. Denn dieser könnte seiner Auffassung nach niemals die Ordnung des Denkens sicherstellen, an der er gleichwohl festhält. Er ist davon überzeugt, dass das Denken eine Systematik beinhaltet, die ihm jedoch nicht durch einen Akt der Abstraktion zugewiesen werden kann. «Das System der Denkbestimmungen ist System nicht durch einen einheitlichen Ursprung, sondern durch die Einheit seiner Anwendung, seines Geltungsbereichs, – der Welt. Ein einheitlicher Ursprung kann, und sogar muß, von diesem auf das Sein und nur das Sein gerichteten Denken wohl vorausgesetzt, aber nicht erwiesen werden.»86 Wenn er von einer existentiellen Wahrheit sprechen würde, so erfolgte deren Bewährung durch existentielle Seins-Bezüge, die letztlich das Bild des Daseins gestalten. Dieser prägenden Einflussnahme kommt so große Bedeutung zu, dass er sie der Schöpfung des Seins für nahezu gleichwertig erklärt. Gestaltet, nicht geschaffen, sei das Sein der Welt, so heißt es im Stern der Erlösung.87 Doch zurück zu Heinrich Barths Kritik an der Vorstellung vom Subjekt. Warum meint er, an ihr nicht länger festhalten zu können? Indem er auf die Gegenüberstellung von «Etwas» und dessen «Einsichtigwerden» verweist, verschiebt sich der Fokus unweigerlich von der erkenntnistheoretischen zur existentiellen Ebene der Betrachtung: Die Existenz existiert in der Konfrontation mit dem in der vorzüglichen Möglichkeit der Entscheidung sich geltend machenden ‹Anspruch›. Mit diesem ‹Anspruch› ist aber nichts anderes gemeint als das, was als die ‹Bestimmung des Menschen› längst ausgesprochen worden ist. […] Die Aktualisierung der Existenz beruht existentiell auf der ‹Bestimmung›, von der sie übergriffen wird – auf einer Bestimmung, in der ihr ‹Sinn› beschlossen ist.88
Dieses ist der Inhalt existentieller Erkenntnis, für deren Verstehen Heinrich Barth das theoretische Instrumentarium zur Verfügung stellen möchte. In der Rekonstruktion jener Bewegung des Denkens, das sich entschließend in die Zu«Die Wahrheit ist für die Welt nicht Gesetz, sondern Gehalt. Die Wahrheit bewährt nicht die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit bewahrt die Wahrheit.» Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 16. 86 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46. 87 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 57. 88 Erkenntnis der Existenz, S. 184. 85
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kunft entwirft und dadurch seiner Sinngebungs-Kompetenz einsichtig wird, schafft er die hierfür erforderliche Voraussetzung. Der Begriff des Transzendentalen gewährleistet die Möglichkeit, hier überhaupt von Sinn sprechen zu können. Denn dessen Annahme erfordert ein Mindestmaß von Verbindlichkeit und allgemeiner Geltung, das Barth meint, nirgends sonst nachweisen zu können, schon gar nicht unter Berufung auf das Sein. Daher wird seine Konzeption von Existenzphilosophie, wie er es selbst erklärt, niemals mit der Ontologie ihren Frieden machen, wobei die Frage mitschwingen kann, ob er wirklich das Denken des Seins meint oder die Tatsache, dass Martin Heidegger dieses Denken noch immer dominiert. Am Ende dieser ersten Überlegungen, die der Beschaffenheit existentiellen Denkens galten, ist ein erster Befund möglich. So heftig die Ablehnung existenzphilosophischer Ansätze auch ist, die Heinrich Barth formuliert, stimmt seine Sicht dessen, was sie sollen leisten können, doch grundsätzlich mit jener von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger überein. Am deutlichsten wird diese Parallelität in dem Moment, in dem Barth sich gegen die selbstverständliche Annahme der Subjekt-Objekt-Relation im Kontext traditioneller Erkenntnistheorie ausspricht – im Grunde das einzige Mal, dass er den Gebrauch eines Theorems der Philosophie verweigert. Der Hintergrund dieser Distanzierung begann sich abzuzeichnen. Sie dient Barth dazu, auf das Offenbarwerden eingehen zu können, das die Besonderheit existentieller Erkenntnis ausmacht. Denn es fungiert als Erschließung der Struktur von Existenz als der genuin menschlichen SeinsWeise. Bis zu diesem Punkt besteht Einhelligkeit zwischen den drei hier angedeuteten Positionen. In Abhebung von einem Gebrauch des Existenz-Begriffes im Sinne einer Aussage über Vorhandenes deuten alle ihn als Ankündigung der Möglichkeit, im Sein zu werden. Denn sie alle fassen Existenz als Geschehen, das in die Zukunft verweist, insofern es Entwurf des Möglichen ist. Barth erläutert diese zeitliche Dimension der Vorstellung von Existenz in großer Ausführlichkeit, da sie für ihn Grundlage jener Setzungs-Bewegung ist, die im Gedanken des Transzendentalen mündet. Heidegger geht auf den Begriff der Existenz äußerst selten ein. Die markantesten Belege sind in Sein und Zeit zu finden, wo er im Zusammenhang jener vorlaufenden Bewegung erläutert wird, die den Menschen die Endlichkeit seines Seins begreifen lässt. In der Unterscheidung vom Dasein als dem bloßen Faktum der Vorfindlichkeit zeigt sich Existenz auch bei ihm als eigentliche Seins-Weise des Menschen. In Rosenzweigs Stern der Erlösung wird die Vorstellung eines Werdens im Sein vor allem im Kontext seiner Beschreibung des Selbst-Werdens des Menschen erkennbar. Hier erfolgt die Verwandlung vom ahnungslosen zum verstehenden Selbst, das sich in Relation zum Sein stehend begreift. Im systematischen Aufbau seiner Schrift, in der die Reflexionen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung aufeinander folgen, ist es die Beschreibung des Offenbarwerdens, die zum Beleg herangezogen werden kann. Dabei ist es erstaunlicherweise kein Hindernis, dass es sich um einen religiösen Kontext
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handelt, der, so könnte eingewendet werden, keine primäre Aussagekraft in Fragen philosophischer Natur hat. Auch das ist Bestandteil des Neuen Denkens, dass sich die Inhalte philosophischen und religiösen Fragens in weiten Teilen decken. Eine eindeutige Festlegung, um welche Art Text es sich bei dem Stern der Erlösung handelt, erklärt Rosenzweig in seiner bereits erwähnten Schrift Das Neue Denken für überflüssig.89 Das Bild vom Selbst, dessen vormaligen Zustand er in einer Art entwicklungsgeschichtlicher Rekonstruktion als «edel-stumme Einsamkeit»90 bezeichnet, weil es nur für sich besteht und alles außer ihm noch fremd ist, findet sich im Bezug zum Anderen wieder.91 Auch darin besteht ein Moment existentieller Bewegung. Das Mögliche muss als solches erkannt und ergriffen werden. Entscheidend für die nähere Umschreibung dieses Gedankens ist nun die Frage, wie das Mögliche in Erscheinung tritt, damit der Mensch es wollen kann. Aus Rosenzweigs Sicht ist die Frage leicht zu beantworten: Innerhalb der Dreier-Konstellation als Gott, Welt und Mensch ist die Erfahrung göttlichen und welthaften Seins geeignet, den Blick vom Gegebenen auf das Noch-Ausstehende zu lenken, dessen Ergreifen als Möglichkeit existentieller Bewegung betrachtet werden kann. Das Mögliche muss in seiner Struktur als Noch-Nicht erkannt – das heißt bei Rosenzweig: erfahren – werden. In der Erscheinung des Tatsächlichen muss sich die Möglichkeit seiner Transformation in Werden-Könnendes abzeichnen. Wie erstaunlich nahe Heinrich Barths Sichtweise dieser Auffassung kommt, wurde an seiner Einführung des Begriffes vom Offenbarwerden deutlich. Ewas erschließt sich, das den Geltungsbereich theoretischer Erkenntnis überformt und von ihm als existentielle Erkenntnis bezeichnet wird. Gerade eben wurde nicht unaufmerksam formuliert, sondern so stellt Barth seinen Gedanken dar: Das Offenbarwerdende ist nicht Gegenstand der existentiellen Erkenntnis, sondern deren Beschaffenheit. Etwas offenbart sich als Möglichkeit, indem sich der Erkennende der existentiellen Relevanz seines Erkennens bewusst wird. Anders als Rosenzweig besteht Barth jedoch darauf, nicht in der Erfahrung, also den jeweils «Ich kann den Stern der Erlösung nicht zutreffender beschreiben, als dies in prägnanter Kürze jener Kritiker getan hat: er ist wirklich nicht für den Tagesgebrauch […] bestimmt. Er ist überhaupt kein ‹jüdisches Buch›, […] er behandelt zwar das Judentum, aber nicht ausführlicher als das Christentum und kaum ausführlicher als den Islam. Er macht auch nicht etwa den Anspruch, eine Religionsphilosophie zu sein – wie könnte er das, wo das Wort Religion überhaupt nicht darin vorkommt! Sondern er ist bloß ein System der Philosophie.“ Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 140. 90 «Das Selbst in seiner gebirgshaft ‹edel-stummen› Einsamkeit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst […].» Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79. 91 «Es war also eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.» Der Stern der Erlösung, II,II, S. 200. 89
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stattfindenden Seins-Bezügen, die Fundierung dieses Vorganges zu sehen. Er deutet diese vielmehr als Erkenntnis, die im Denken des Transzendentalen Zielpunkt und Begründung zugleich setzt. Wenn denn auch mit Blick auf Barths Konzeption von Existenz von einer Transformation gesprochen werden kann, und es deutet einiges darauf hin, dann besteht diese nicht in einer Um-Formung der menschlichen Seins-Bezüge, sondern in der partiellen Neuausrichtung des Erkenntnisbegriffes. In diesem akzentuiert er den Gedanken des Offenbarwerdens, der jedoch nicht mehr als Sich-Erschließen von etwas aufgefasst wird, das als Objekt der Erkenntnis dient. Stattdessen «manifestiert» sich im Begriff von existentieller Erkenntnis selbst das zu Verstehende, worin sie sich von theoretischer Erkenntnis unterscheidet. Martin Heideggers Position ähnelt eher derjenigen Franz Rosenzweigs. Denn die Bindung des Denkens an das Sein steht für ihn außer Frage, insofern Letzteres das Sich-zu-denken-Gebende ist. Eine Veränderung im Denken, wie er sie mit allem Nachdruck fordert, geht daher in jedem Augenblick mit einer Veränderung des Seins einher. Dass Heidegger dabei noch nicht zwangsläufig an eine tatsächliche Veränderung denkt, liegt nahe. Doch wird sich in jedem Fall das Relations-Gefüge beeinflussen lassen, wie er es in seinem Funktionsmodell des Gevierts skizziert hat. Gelingendes Sein, das sich im schonenden Denken ausdrückt, bedarf seiner Auffassung nach sogar einer eigenen Denomination, weshalb er den Begriff des Seyns einführt. Seyn ist transformiertes Seins-Denken, was in Heideggers Terminologie auch so übersetzt werden kann: Existenz ist transformiertes Seins-Denken, nicht als «vorstellend» verstanden, sondern als Denken, das die Möglichkeitsstruktur des Seins wahrt. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass das Vorfindliche jederzeit zugunsten seines Werden-Könnens um seiner selbst willen überformt werden kann. Alle Sachbezüge treten in Anbetracht dieser existentiellen Offenheit in den Hintergrund. In dem noch stärker dem philosophischen Diskurs verhafteten Stil von Sein und Zeit klingt diese Auffassung, auf die erkenntnis-initiierende Wirkung der Angst bezogen, folgendermaßen: «Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … […] die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.»92 Obwohl alle drei Denker also Existenz als transformiertes Sein verstehen, unterscheiden sich die Wege, die sie zur Einsicht in diesen Gedanken vorschlagen, deutlich. Rosenzweig fordert eine grundsätzlich neue Konzeption des Denkens, «die nicht etwa eine bloße ‹kopernikanische Wendung› des Denkens herbeiführen möchte, nach der, wer sie vollzogen hat, freilich alle Dinge verkehrt herum sieht, aber doch nur die gleichen Dinge, die er auch schon zuvor sah».93 Der bereits erwähnte Ruf nach einem 92 93
Sein und Zeit, § 40, S. 188. Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 140.
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«neuen Begriff und Typ des Philosophen» wirkt in Anbetracht dieser kühnen Formulierung, die selbst das kantische Denken für nicht ausreichend hält, um wahre Erneuerung zu begründen, konsequent. Es ist ein Verdienst Rosenzweigs, auf die enge Verknüpfung der Sichtweisen von Denken und Denkendem in der neueren Zeit aufmerksam gemacht zu haben. Allein dadurch verliert das Ideal allgemeingültiger Denkstrukturen viel von seinem ursprünglichen Reiz. Wird dann noch der Begriff der Erfahrung berücksichtigt, für den Rosenzweig wirbt, könnte das Neue Denken vollends der Gefahr ausgesetzt sein, als individuelle Betätigung verstanden zu werden, der die Einheit eines Prinzips fehlt. Wenn dieses Prinzip im Denken selbst liegen soll, mag diese Deutung nicht unberechtigt sein. Allerdings verlegt Rosenzweig jene Einheit stiftende Ursprungshaftigkeit, die ein Prinzip auszeichnen würde, in den Kontext der Welt-Erfahrung. Diese zersplittert keineswegs in eine disparate Vielheit ohne Grund und Zusammenhalt, da beides im Gedanken der «Anwendbarkeit» gründet: Denn indem es [das Denken] sich ganz zum angewandten, weltheimischen Denken machte, verzichtete es darauf, die Einheit seines Ursprungs nachweisen zu können: […] Das bloß vorausgesetzte Denken mag gedacht werden müssen, denkt aber nicht; bloß das wirkliche, das weltangewandte, weltheimische Denken denkt. So bleibt die Einheit des Denkens außerhalb; […]. Der Logos der Welt ist in seiner Nichts-als-Anwendbarkeit aber auch Überall-und-immer-Anwendbarkeit das Allgemeingültige.94
In Anbetracht der angesprochenen Ähnlichkeiten innerhalb der Konzeptionen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger verwundert es nicht, dass sich auch Letzterer zur Gestalt des Denkenden äußert. Es könnte so wirken, als würde in Sein und Zeit noch der Typ des Fragenden begegnen, der interessegeleitet und zielorientiert zu erkennen sucht. Doch wird auch dort bereits deutlich, dass das Fragen nach dem Sein nur auf der Grundlage eines Vorverständnisses erfolgen kann, das nicht theoretisch, sondern existentiell von ihm gedacht wird. Nur weil der Fragende im Sein steht, kann er verstehen wollen, was ihn bedingt. Jedes Verstehen-Wollen gründet damit im Sein – ein Umstand, den Heinrich Barth schlichtweg bestreitet. In seinen späteren Texten weist Heidegger immer öfter auf die Befähigung hin, die den Denkenden auszeichnet. Es ist sein Vermögen, aufmerksam für das Zu-Denkende zu sein, das sich ihm, ohne zuvor Gegenstand expliziter Entscheidung gewesen zu sein, darbietet. Die Offenheit, sich auf diese Weise angehen zu lassen, stellt keine Grundlage neu zu bestimmender Philosophie dar, wie sollte das auch möglich sein. Nach einer eventuellen Diskursfähigkeit eines solchen Denkens zu fragen, scheint von Anfang an ein unsinniges Unterfangen zu sein, denn Heidegger schreibt:
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Das Denken wird nicht durch die Denker verwandelt, sondern durch das Geheiß aus dem Ereignis, dem ein Denken jeweils als gebrauchtes folgt und nicht folgt. […] Hier liegt nichts an der Verbreitung einer neuen Lehre, nichts an der möglichst raschen Benützung von Sätzen; nichts an der irrigen Anmaßung, die Lebensführung zu bestimmen und ihr gar noch unmittelbar Kraftquellen zuzuleiten.95
Für eine Charakterisierung der Heideggerʼschen Sicht des Denkenden mögen diese Zeilen hilfreich sein, doch für den Versuch, Überlegungen zur Ethik der Existenz anzustellen, scheinen sie das Ende zu bedeuten. Unmissverständlicher kann die Absage an den Nutzen des Denkens wohl kaum formuliert werden. Doch ist im weiteren Verlauf zu klären, welche «Anmaßung» Heidegger hier als irrig bezeichnet. Neben dieser speziellen Frage zeigt die Selbstbeschränkung des Denkens, wenn sie denn als eine solche verstanden werden kann, aber noch eine weitere Problematik auf, die es im Folgenden zu bedenken gilt: Ist die Formulierung ethisch relevanter Aussagen an das Bestehen einer bestimmten DiskursForm gebunden? Und wäre damit lediglich die existenzphilosophische Konzeption Heinrich Barths dazu geeignet, solche Aussagen zu formulieren?
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Die vorliegenden Betrachtungen sind von dem Wunsch geleitet, die Diskursfähigkeit existenzphilosophischen Denkens zu betonen, um dessen Begriff von Ethik im Portfolio zeitgenössischer Konzeptionen stärker sichtbar werden zu lassen. Noch immer hält sich der Eindruck, dass gerade Aussagen ethischer Relevanz in diesem Denken zu kurz kommen und womöglich gar nicht enthalten sind. Ein solches Urteil beruht nicht nur auf einer bestimmten Vorstellung davon, wie ein entsprechendes Konzept beschaffen sein sollte, sondern auch auf dem Konsens darüber, wie es sprachlich zu vermitteln ist. An beiden Sichtweisen hat sich im Laufe der Philosophiegeschichte kaum Nennenswertes verändert. Natürlich gibt es unterschiedliche Auffassungen über die spezifischen Gegenstandsund Wirkungsbereiche von Ethik, doch handelt es sich hierbei um Variationen innerhalb der Binnenstruktur dieses Themenkomplexes. Eine grundsätzliche Infragestellung seiner Fundierung im Begriff der Vernunft und der Art sprachlicher Darstellung schien nicht erforderlich gewesen zu sein. So beinhalten Aussagen zur Ethik – wenn hier zunächst in großer Allgemeinheit gesprochen werden darf – an sich Normativität, die als ihr wesentlicher Bestandteil inhaltlicher Legitimität wirkt. Diese Grundlage unbezweifelbarer Verbindlichkeit erscheint Denkern der Existenz als problematisch. Denn der zentrale Gedanke, für dessen Etablierung im philosophischen Themenspektrum sie eintreten, fügt sich nicht ohne Weiteres in ein Konzept der Beurteilung und Motivation menschlichen Handelns, das auf der Vernunft basiert. Besonders zwei Denker, deren Bedeutung für die Genese der Existenzphilosophie erst allmählich in den Blick fällt, formulieren die sich hier abzeichnende Schwierigkeit in weitblickender Weise. Hermann Cohen und Franz Rosenzweig betonen, dass Sätze philosophischer Ethik den einzelnen Menschen nicht anzusprechen vermöchten. Denn sie operierten mit dem Begriff des Menschen schlechthin. Damit ist das Dilemma existenzphilosophischer Ethik benannt. Sie hat, um sich als existentiell relevant ausweisen zu können, den Einzelnen in seinem Sein und Handeln zu bedenken, findet aber nur eine Vorstellung der Werthaftigkeit des Handelns und Verhaltens vor, die einer anderen Zielgruppe gilt. Die Dimension, in der der Versuch, den Einzelnen als Gedanken konsequent in allen Bereichen der Philosophie zur Geltung kommen zu lassen, deren Konzeption erschüttert, wird allzu leicht unterschätzt. Es ist ja keineswegs damit getan, statt vom Menschen vom Einzelnen zu sprechen. Es muss vielmehr in jedem Kontext gefragt werden, was es bedeutet, wenn Philoso-
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II. Wege sprachlicher Vermittlung
phie sich dem Problem seiner Denkbarkeit stellt. Im ethischen Kontext wird das Aufeinanderprallen von tradierter Sichtweise und dem neuen Anspruch besonders drastisch erkennbar. Denn hier, so zumindest sehen es Cohen, Rosenzweig und Heidegger, greifen die bestehenden Mittel der Verifikation verbindlicher Setzungen nicht mehr. Im weiteren Verlauf wird also zu überlegen sein, wie die beiden Letztgenannten mit dieser Einsicht umgehen. Konzipieren sie neue Entwürfe im alten Form-Konstrukt der rationalistischen Philosophie? Schweigen sie zu diesem Kernstück jeder philosophischen Theorie? Oder kreieren sie eine neue Form, in der über ein Sollen zu sprechen ist, dessen Begründung nicht mehr allein aus der Vernunft resultiert? Unter Berücksichtigung der bisherigen Bemerkungen zum Neuen Denken kommt allein diese Lösung in Betracht. So selbstverständlich es auch klingt: Neues Denken bedarf der neuen sprachlichen Gestaltung. Denn nach jahrhundertelangem Gebrauch der philosophischen Terminologie sind deren Begriffe so eng mit dem Kanon der Lehrmeinungen verwachsen, dass es nicht immer möglich erscheint, sie zur Darstellung eines gewandelten Bildes philosophischen Denkens zu verwenden. Doch reicht noch nicht einmal eine oftmals graphische Umgestaltung von Begriffen aus, um ihr Potential, andere Akzente des Denkens sichtbar werden zu lassen, freizulegen. Hier wäre vor allem an das Durchkreuzen einzelner Worte in Texten von Martin Heidegger zu denken. Für ihn und Franz Rosenzweig steht fest, dass die Bedeutung von Sprache in ihrer Gesamtheit zu überprüfen ist. Manches Mal mag es so wirken, als würden die Texte gerade dieser beiden Autoren sprachlich ungezügelt die verschiedensten Ebenen der Darstellung ausschöpfen und darin eher dem Ziel eines philosophischen Expressionismus als den Regeln des bewährten Diskurses folgen. Spontaneität im Ausdruck verbindet sich mit kreativer Wort-Schöpfung, die die Nähe zur Dichtung keinesfalls scheut. Die ungebrochene Individualität des Stils, so erfrischend sie auch beim Lesen ist, kann jedoch mitunter den Eindruck erwecken, dass dieser wichtiger als das Ausgesagte selbst ist. Diesem Eindruck soll im Folgenden entschieden widersprochen werden. Im Sprach-Denken von Rosenzweig und Heidegger werden Reflexionen über die Bedeutung von Sprache sichtbar, die als bedenkenswerte Alternativen zu jenen sprachtheoretischen Entwürfen betrachtet werden können, die etwa zeitgleich entstanden. Das Bedürfnis, die Funktionsweise von Sprache und damit das Wesen der Sprachlichkeit zu diskutieren, zählt zu den Merkmalen der Philosophie in den 1920er Jahren. Die Ergebnisse dieser Bestrebungen sind aber nicht nur in den Schriften von Ludwig Wittgenstein, Bertrand Russell oder Gottlob Frege zu finden, sondern auch in den Texten von Franz Rosenzweig und – mit einer zeitlichen Verschiebung von rund dreißig Jahren – Martin Heidegger. Es klingt vielleicht allzu ambitioniert, hier wirklich von einer Vergleichbarkeit der Intention und ihrer theoretischen Umsetzung auszugehen. Es gilt also, die Plausibilität einer solchen Grundlegung der Vergleichbarkeit zu erweisen.
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig Der entscheidende Wandel in der Sicht der Wirklichkeit, der nach Franz Rosenzweigs Auffassung auch als Antwort auf den Deutschen Idealismus vollzogen wurde, ist bereits in seinen Grundzügen sichtbar geworden. Dem Begriff vom «All», dessen Einheit das Denken gewährleistet, weil es sich als alle Vielfalt durchdringend begreift, ist seine Gültigkeit abgesprochen worden. Denn die Allheit des Denkens verhindert es seit jeher, dass die Welt in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen erkannt werden kann. Erkenntnis beruht auf Erfahrung, so viel hatte sich bisher gezeigt. Im Stil seiner philosophiehistorisch-genealogischen Rekonstruktion, die den ersten Teil des Sterns der Erlösung ausmacht, schreibt Rosenzweig: «Die Erscheinung war die crux des Idealismus, und also der ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel, gewesen; er hatte sie nicht als ‹spontan› begreifen dürfen, weil er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte, […].»96 Doch nicht nur für die Philosophie stellt es eine Herausforderung dar, Erscheinungen in ihr Konzept von Erkenntnis zu integrieren, sind sie doch «Überraschung; nicht Gegebenes, sondern immer neue Gabe […] das Immerneue».97 Was in diesem Kontext als Kontingenz die einheitsstiftende Wirkung des Denkens infrage stellt, wird sich auch im Verständnis der Schöpfung als problematisch erweisen. Denn diese kann nicht mehr als einmaliger Akt der Hervorbringung aufgefasst werden, wenn damit die Vorstellung einhergehen sollte, dass dem so Hervorgebrachten die Einheitlichkeit des Geschaffenen eignet. Denn auch diese würde allein aus dem Denken beziehungsweise dem Wollen des Schöpfers resultieren und nicht aus sich selbst, das heißt aus der Vielfalt seiner Erscheinungen. Indem Rosenzweig dem Denken die Fähigkeit abspricht, das Kontingente unter seiner verbindenden Verbindlichkeit zu vereinheitlichen, emanzipiert er das Sein aus seiner scheinbar unauflöslichen Verwiesenheit an das Denken. «Die Philosophie hub erst an, wo sich das Denken dem Sein vermählte. Eben ihr versagen wir, und eben hier, unsre Gefolgschaft. Wir suchen nach Immerwährendem, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein.»98 Das Konkrete soll in seiner Vereinzelung erkennbar werden, so lautet die an Radikalität kaum zu übertreffende Forderung, mit der Franz Rosenzweig im Jahr 1921 die philosophische Bühne betritt. Konkret sind einzelne Dinge wie auch der Mensch als Einzelner, die beide in ihrer je eigenen Besonderheit in Erscheinung treten. Wird gleichzeitig die denkbare Einheit, die ihre Vielfalt einer vorgestellten Gesamtheit subsumiert, abgelehnt, scheint sich eine brisante Situation zu ergeben. Diese wird noch dadurch intensiviert, dass auch die Annahme eines erkennenden Subjekts, das als letzter Bezugspunkt verbindenden Denkens betrachtet 96 97 98
Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 22.
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II. Wege sprachlicher Vermittlung
werden könnte, aufgekündigt wird. Keines der drei Elemente, aus denen die Wirklichkeit aufgebaut ist, kann auf ein anderes als sich selbst zurückgeführt werden, so hatten es die einleitenden Betrachtungen gezeigt. Kann Vielheit aber tatsächlich unvermittelt gedacht werden? Ist dieses nicht genau jenes «Reich ohne Mitte», dessen fatale Wirkung Heinrich Barth in seinem Begriff des Transzendentalen aufzufangen suchte? Ein Auffangen, das auf ein Prinzip im Denken zurückgeführt werden soll, wäre nach Rosenzweigs Überzeugung gerade der verkehrte Weg, da er letztlich jene Vorstellung von Einheit erneut in ihr Recht setzen würde, der es zu entgehen gilt. An einer kurzen Stellungnahme zur Konzeption des «Denkens des Denkens», mit der Aristoteles «das ‹Prinzip› der Welt darstellen wollte», wird diese Gewissheit erkennbar, denn es kann nur Prinzip seiner selbst sein. «Das was er sucht, die Auflösung des Widerspruchs, der zwischen dem unendlichen All- und Einheitsanspruch des Denkens und der endlichen, nur unendlich reichen Ganzheit der Welt besteht, das hat er nicht gefunden.»99 Auch wenn die Identität von Denken und Sein, die Rosenzweig letztlich für unhaltbar hält, da sie die Bedeutung des Kontingenten negiert, seit frühesten Tagen die Philosophie kennzeichnet, ist der Versuch, sie umzuformulieren, nicht aussichtslos: Unsre Zeit hat es getan. Die ‹Kontingenz der Welt›, ihr Nuneinmalsosein, hat man wohl gesehen. Aber diese Kontingenz galt es eben zu bewältigen. Dies war die eigentliche Aufgabe der Philosophie. […] Der ‹Wille›, die ‹Freiheit›, das ‹Unbewußte› konnte, was die Vernunft nicht gekonnt hatte: über einer Welt von Zufall walten.100
Das Verdienst, diese Möglichkeit maßgeblich vorbereitet zu haben, kommt Arthur Schopenhauer zu, den Rosenzweig bereits in anderem Zusammenhang genannt hat. Dort ging es um die neu zu bestimmende Sicht des Philosophen, den Schopenhauer in unverblümter Vereinzelung zu denken wagte. Für die vorbereitenden Überlegungen, die in der Frage nach der Ethik der Existenz münden werden, ist diese Veränderung im Verständnis der Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Für gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang auf Søren Kierkegaards Beitrag verwiesen, der den Begriff des Einzelnen in die Sprach- und Sachkompetenz der Philosophie einführte. Fast niemals fällt der Blick auf das Werk von Franz Rosenzweig, das demjenigen Kierkegaards doch an innovativer Entschlossenheit in nichts nachsteht. Es bietet sogar einen deutlichen Vorzug: Während in dessen Schriften der Fokus auf dem Bild des Menschen liegt, der sich in Furcht und Zittern seiner existentiellen Möglichkeit bewusst wird, präsentiert Rosenzweig seine umfassende Deutung der Wirklichkeit, die nicht mehr auf der vorausgesetzten Gleichheit von Denken und Sein beruht, im Bewusstsein, eine Befreiung des Denkens zur Eigentlichkeit einleiten zu können. So begegnen wir 99 100
Der Stern der Erlösung, I,II, S. 58 f. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 13.
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einem emanzipierten Verständnis des Seins, das gleichermaßen als göttlich, menschlich und welthaft betrachtet werden kann. Der Begriff vom Sein dient hier nicht zur Bezeichnung einer nur im Denken vollziehbaren Einheit, sondern der Vielheit der Erscheinungen, die unter dem Testat des Kontingenten begriffen wird. Die Herausforderung, vor der Rosenzweig steht, wiegt doppelt schwer. Denn er will nicht nur den Menschen als diesen Bestimmten erfassen, sondern auch die Erscheinungen der Welt. Die Radikalität, mit der er die Vorstellung von Allheit dekonstruiert, könnte nicht größer sein. Gleichwohl ist auch ihm nicht an einem Bild disparater Wirklichkeit gelegen. Wo ist also jenes Band zu finden, das das Konkrete in seiner Vereinzelung verknüpft und es als Vereinzeltes der Erkenntnis zugänglich werden lässt? Um eine Verwirrung der Begrifflichkeit zu vermeiden, sei noch einmal daran erinnert, dass immer dann, wenn mit Blick auf Rosenzweig von Erkenntnis gesprochen wird, Erfahrung gemeint ist. Wenn hier dennoch von Erkenntnis die Rede ist, dann geschieht es, um auf die verstehenvermittelnde Bedeutung der Erfahrung hinzuweisen. Das Problem, vor dem Franz Rosenzweig in den ersten Kapiteln seines Sterns der Erlösung steht, ist dasselbe, das Philosophie seit ihren Anfängen umtrieb: Wie kann Kontingenz gedacht werden, ohne sie ihrer Natur zu berauben? Dass es sich hierbei nicht nur um eine terminologische Frage, sondern um ein Problem von existentieller Relevanz handelt, zeigen folgende Worte: Grundlos und richtungslos steigen die einzelnen Erscheinungen aus der Nacht; […] sie sind. Indem sie sind, sind sie einzeln, jedes ein eines gegen alle andern, jedes ein von allen andern gesondertes, ‹besonders›, ein ‹nicht-anders›. So tritt die innerweltliche Fülle der Besonderheit entgegen der innerweltlichen Ordnung des Allgemeinen. […] Jedes Besondere […] ist nichts als seiend. Seine Kraft ist nur das blinde Schwergewicht seines Seins.101
Auch wenn der Blick auf den Menschen als Einzelnen hier nur ein Teil der umfassenden Charakterisierung der Wirklichkeit ist, beschreibt diese doch den Gründungsmoment existenzphilosophischen Denkens. Dazu, nicht nur den Menschen, sondern auch die Welt in ihrer Besonderheit anzuerkennen, konnte es sich kaum entschließen. Rosenzweig zeigt in dieser Hinsicht größere Entschlossenheit – kein Wunder, so könnte erwidert werden, vertritt er doch ein religiöses Denken, aus dem die Welt als Schöpfung Gottes nicht auszuklammern ist. Genau das zeigt sich im Stern der Erlösung, allerdings in umgekehrtem Sinn. Er klammert weder Gott noch Welt noch den Menschen aus, um jeweils einem von ihnen einen Sonderstatus innerhalb der Erkenntnis zuweisen zu können. Jedes Element steht für sich, in seiner ihm eigenen Besonderheit und zunächst «grundlos und richtungslos». Hier liegt die Verbindung zum Denken der Existenz. Der Einzelne, der sich der Bestimmung durch allgemeingültige Maßstäbe des Denkens und Handelns entwunden hat, muss beide neu begründen. Der ein101
Der Stern der Erlösung, I,II, S. 49.
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zige Anhaltspunkt, der ihm hierfür dienen kann, besteht in seinem Vertrauen in die Möglichkeit der Entscheidung, die in ihrer Verwirklichung sich selbst rechtfertigendes Geschehen ist. Existenz ist Entwurf in die Zukunft, die als gültig setzt, was gelten soll. In dieser allgemeinen Form, die auf der Konzeption von Heinrich Barth basiert, kann Existenz-Geschehen insgesamt umschrieben werden. Teilt Rosenzweig diese Auffassung? Er könnte ihr zustimmen, würde jedoch dem Vertrauen in die Möglichkeit der Existenz das Vertrauen in die «blinde Schwerkraft» des Seins ergänzen. Dieser Ausdruck klingt im ersten Moment nicht nach gestaltender Potenz und nicht nach dem Vermögen, die Vielheit des Besonderen zu binden. Gleichzeitig ist aber auch von der «Kraft» die Rede, die dem Sein eignet. Aus ihm entsteht, was immer an vereinzelten Formen zu erkennen ist, so wie aus ihm auch das entsteht, was diese Formen verbindet. An diesem Punkt setzt Franz Rosenzweigs Konzeption von Sprache ein. Vielleicht verwundert die kaum differenzierende Weise, in der bisher vom Sein und dessen Tatsächlichkeit wie auch von dessen Erkenntnis, das heißt dessen Erfahrung, gesprochen wurde. Auch Rosenzweig trennt beide Kontexte, in denen vom Sein die Rede sein kann, nicht eindeutig, was aus seiner Sicht auch nicht erforderlich ist. Denn darin besteht gerade ein Ertrag seiner Arbeit der Dekonstruktion philosophischer Allheits-Vorstellungen: Es ist nicht mehr nötig, eine ontologische Perspektive der Betrachtung von einem erkenntnistheoretischen Blickwinkel zu unterscheiden, da jede Aussage über Gedachtes zugleich eine Auskunft über das Sein ist. Um für den weiteren Gedankengang eine eventuelle Quelle der Verunsicherung auszuschließen, ist ein kurzer Hinweis zur Relation der Begriffe «Denken» und «Sein» im Sinne Rosenzweigs erforderlich. Er lehnt eine Identifikation beider ab, wenn diese bedeutet, Sein nur unter Maßgabe des Denkens erfassen zu können. Doch er tritt für die Möglichkeit ein, Sein denken zu können, wenn dieses auf dem Grund der Erfahrung im Sein geschieht. Rosenzweig geht sogar noch einen Schritt weiter und ergänzt, dass jede Auskunft über das Sein eine Bezeugung der Offenbarung im religiösen Sinne ist: Nur noch über das Wie der philosophischen Vorwegnahme des Offenbarungswunders sei einiges […] zugefügt […]. Wie kann die Möglichkeit, das Wunder zu erleben, die uns in der Schöpfung aufging, wie kann diese Möglichkeit in der Schöpfung selber erkannt werden? Oder stofflicher – scheinbar stofflicher – gefragt: wo ist im Kreise der Schöpfung das ‹Geschöpf›, wo im Reiche der Philosophie der ‹Gegenstand›, der auf seinem Antlitz das sichtbare Siegel der Offenbarung trägt?102
Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, warum Konzeptionen Franz Rosenzweigs im vorliegenden Kontext thematisiert werden. Deren Bedeutung für die Genese des existenzphilosophischen Denkens ist bemerkenswert und zwar, obwohl sie auf religiösen Vorstellungen basieren. Die Unerschrockenheit, mit der «Ge102
Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 120 f.
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig
schöpf» und «Gegenstand» analog gesetzt werden, so dass beide ungeachtet ihres Deutungszusammenhanges Struktur-Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglichen können, sucht ihresgleichen. Sie erfordert es jedoch, dass Rosenzweig einen doppelten Nachweis führt, wie Vielheit erkennbar sein soll: für die Geltung des göttlichen Schöpfungswerkes auf der einen, für die Frage der Erkennbarkeit im philosophischen Verständnis auf der anderen Seite. Der vermittelnde Begriff, der beide Erfordernisse trägt, ist der der Offenbarung, oder besser des Offenbar-Werdens. Schöpfung erscheint im Stern der Erlösung nicht als Akt, der mit der Hervorbringung des Gegebenen abgeschlossen ist. Stattdessen ist von der «allzeit erneuerten Welt» die Rede, ein Begriff, der das Unmögliche ermöglichen soll, nämlich Kontingenz und Wesenhaftigkeit widerspruchslos zu vereinen: «Was wird damit bezeichnet? Ein Wesen der in den Strom der Wirklichkeit eingetretenen Welt, das nicht ‹immer und überall› ist, ein Wesen, das mit dem ganzen Inhalt des Besonderen, den es einschließt, jeden Augenblick neu entsteht. Das Wesen, das alle Besonderheit einschließt, aber selber allgemein ist und sich in jedem Augenblick als Ganzes erkennt, ist das Dasein.»103 Die Weise, in der hier der Begriff des Wesens verwendet wird, ist insofern auffällig, als in seiner Deutung auf eine Unterscheidung zwischen dem FormGebenden in seiner Allgemeinheit und den Ausformungen seiner Besonderheit verzichtet wird. Schöpfung kann daher als Geschehen verstanden werden, in dem beides denkbar wird: die «Gestalt», wie es auch heißt, und seine Gestaltung. Der hohe Wert der dynamischen Geschehnishaftigkeit, auf den hier der Fokus fällt, zeichnet Rosenzweigs Denken unverwechselbar aus. Denn durch ihn wird der Übergang zum zweiten Element der Systematik, die im Stern der Erlösung entfaltet wird, sichtbar. Gott, Welt und Mensch wurden bisher in ihrer je eigenen Tatsächlichkeit herausgestellt. Ihr isoliertes Für-sich-Bestehen, auf dessen Nachweis Rosenzweig außerordentliche Sorgfalt verwendet hat, wird nun durch die Wirkungs-Metaphern Schöpfung, Offenbarung und Erlösung in einen Entwicklungsgang gesetzt, der mit dem Bild der «Bahn» veranschaulicht wird. Für sich könnte Schöpfung in ihrer Doppelstruktur, Hervorbringung und zugleich Ermöglichung des Werdens zu sein, nicht erkannt werden. Es bedarf der Erfahrung, um diese Bedeutung erschließen zu können: Nun, nachdem Gott innerhalb und auf Grund der Offenbarung Sein gewonnen hat, ein Sein also, das er nur als offenbarer Gott gewann, ganz unabhängig von allem Sein im Geheimen: nun kann er sich auch seinerseits zu erkennen geben, ohne Gefahr für die Unmittelbarkeit und reine Gegenwärtigkeit des Erlebens. Denn das Sein, das er jetzt zu erkennen gibt, ist kein Sein mehr jenseits des Erlebens, kein Sein im Verborgenen, sondern es ist ganz in diesem Erleben großgewachsen, es ist ganz im Offenbaren.104
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Vielleicht mag es so wirken, als handele es sich um eine Aussage von ausschließlich religiöser oder theologischer Relevanz. Dieser Eindruck ändert sich jedoch schlagartig, sobald die Worte «kein Sein mehr jenseits des Erlebens» berücksichtigt werden. Sein wird im Erleben offenbar – und zwar sowohl das Sein der Welt als auch das Sein Gottes. Es ist kein Über-die-Erfahrung-Hinaus zu suchen, um Göttlichkeit erfassen zu können. Was Rosenzweig hier in religiöser Perspektive vorführt, funktioniert ebenso in philosophischer Blickrichtung. Es ist kein Überdie-Erfahrung-Hinaus erforderlich, damit Struktur-Erkenntnis möglich wird. Die Problematik, wie sich die Vorstellungen von Kontingenz und Erkenntnis vereinen lassen, findet im Hinweis auf das Offenbar-Werden eine Lösung. Erfahrung, die sich mit dem im Zitat verwendeten Begriff des Erlebens deckt, erfährt das Allgemeine im Besonderen. In nahezu perfekter Weise verschränken sich die Betrachtungsebenen religiösen und philosophischen Fragens, dem es in beiden Fällen um ein und dasselbe geht, nämlich darum, Vielfalt erkennen zu können. Diese Formulierung, die so unscheinbar wirkt, bedeutet innerhalb der philosophischen Diskussion mehr als nur einen Bruch mit der Tradition. Der Anspruch, Vielheit als Vielheit erkennen zu können, rechtfertigt allemal den Titel des Neuen Denkens, mit dem Franz Rosenzweig den Inhalt seines Sterns der Erlösung benennt. Wie weitreichend dessen Werk der Erneuerung ist, wird an den Folgerungen ablesbar, die es in den Bereichen des Sprachdenkens und der Ethik nach sich ziehen wird. Es mag ein sinnlos wirkendes Unterfangen sein, nach dem Sprach-Verständnis der Existenzphilosophie zu fragen. Zu offensichtlich entziehen sich zumindest die Auffassungen von Sprache wie auch ihr Gebrauch im Text, wie wir sie bei Rosenzweig und Heidegger beobachten können, den Gepflogenheiten wohlkonturierter Wissenschaftsprosa – mit Absicht, wie ergänzt werden muss. Nur Heinrich Barths Schriften entsprechen weitgehend dem Stil theoretischer Erörterungen. Wozu ist das Innehalten überhaupt erforderlich, das in einer Überlegung zur Ethik der Existenz den Blick für einen Moment auf die Sprache lenkt? Soll einer Konzeption von Ethik normative Gültigkeit zugewiesen werden, so muss diese sprachlich begründet und vermittelt werden können. Denn ihre Normativität beruht nicht nur auf dem philosophischen System, aus dem sie abgeleitet, sondern auch aus der Verbindlichkeit der sprachlichen Form, in der sie zum Ausdruck gebracht wird. Bisher galt es, in groben Zügen Aspekte des Neuen Denkens zu benennen, für das sowohl Franz Rosenzweig als auch Martin Heidegger in überraschender Einhelligkeit werben. Dass dabei dem Denken Rosenzweigs größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, liegt zum einen daran, dass es zu den eher unbekannteren Beispielen existentiellen Denkens zählt und dementsprechend etwas aufwendiger dargestellt werden musste. Zum anderen ist sein Bruch mit der Vorstellung einer im Denken gründenden Allheit von so exzeptioneller Bedeutung für das Verständnis von Existenzphilosophie, dass eine ausführlichere Berücksichtigung gerechtfertigt erscheint. Denn in seinem leidenschaftlichen Plä-
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doyer für die Sicht der Wirklichkeit in ihrer radikalen Vereinzelung trifft er nicht nur entscheidende Auskünfte über den ontologischen Status des einzelnen Menschen, sondern ebenso des einzelnen Dinges. Die Folgerung, die sich aus dieser Sicht für das Vorhaben, Ethik zu formulieren, ergibt, benennt er bereits in der Einleitung des Sterns der Erlösung: «Die Philosophie hatte den Menschen, auch den Menschen als ‹Persönlichkeit›, in der Ethik zu fassen gemeint. Aber das war ein unmögliches Bestreben. Denn indem sie ihn faßte, mußte er ihr zerrinnen.»105 Hierauf wird zurückzukommen sein. Eine fragmentarische Rekonstruktion seiner Anwendung des Begriffes vom Sein als gedankliche Formel, unter der Gott und Welt begriffen werden können, zeigte die außerordentliche Relevanz dieses Begriffes. Denn er dient Rosenzweig gerade nicht als Terminus, der auf dem Wege der Abstraktion gewonnen wurde, sondern als Kennzeichnung, die den Prozess immerwährender Veränderung des konkret Gegebenen in der Welt umschreibt. Entscheidend ist dabei, dass diese nicht auf dem Wege der theoretischen Erkenntnis denkbar, sondern im Geschehen des Offenbarens einsichtig wird. Da der Begriff des Seins das Sein der Welt in der Mannigfaltigkeit ihrer vereinzelten Erscheinungen vergegenwärtigt, wenn er offenbar wird, beruht dieser Moment des Sich-Erschließens auf derselben Erfahrung, die auch der Vielfalt des konkreten Einzelnen gilt. Von dieser muss daher alles Denken ausgehen, dass nach der Möglichkeit ethischer Aussagen fragt. Von ihr muss aber auch alles Denken ausgehen, dass die Möglichkeit sprachlicher Vermittlung dieser Aussagen untersucht. Klar unterscheidet Franz Rosenzweig zwischen dem Für-sich-Sein der Elemente Gott, Welt und Mensch, das er in der Vereinzelung von Dingen und Menschen bestätigt findet. Grundsätzlich betrachtet, stehen alle als mögliche Erscheinungen da, ohne von einer Idee der Gemeinsamkeit überformt und damit ihrer Eigenheit beraubt zu werden. Die Separierung des Für-Sich bedeutet jedoch kein Zerfallen der Wirklichkeit in sich fremd gegenüberstehende Einzelheiten. Sie kann vielmehr transformiert werden, indem sie als Relation des Einzelnen verstanden wird, und zwar nicht in ihrer reinen Möglichkeit, sondern in Verwirklichung. Jedes Einzelne für sich betrachtet mag in Erscheinung treten, doch erst das Offenbarwerden ihrer Verbundenheit erschließt Einsicht in die relationale Struktur des Seins. Hier wird noch einmal Rosenzweigs Begriff der Erfahrung interessant. Seine Funktion erschöpft sich nicht in einem sinnlichen Erfassen von Vorfindlichem, denn im Erfahren wird stets eine weitere Dimension des Begreifens mit-gedacht. Nur darum kann das Erfahren mit dem Erkennen gleichgesetzt werden. Es sind also zwei Ebenen, auf denen sich Erfahrung abspielt: die der Fokussierung von konkret Gegebenem und die des Mit-Denkens seiner SeinsStruktur. Wie kann Rosenzweig aber das Mit-Denken begründen, wenn er doch auf die Allheit stiftende Idee des Ganzen verzichtet? Das Mit-Denken bedeutet 105
Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 11.
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keine Verallgemeinerung des Erfahrenen, sondern greift hinter dessen situative Erfahrbarkeit auf eine Grundform möglicher Erfahrung zurück. Diese ist sprachlich vermittelt. Im Zusammenhang seiner Herauslösung der drei Elemente Gott, Welt und Mensch aus der ihre je eigenen Konturen verwischenden Vorstellung des Ganzen stand Rosenzweig vor einem Problem, das bisher aus Gründen der Gedankenführung nicht berücksichtigt wurde. Wie kann überhaupt von Gott, Welt und Mensch in ihrer Getrenntheit gesprochen werden? Schließlich greift das Denken dabei in einen Zustand vor dem möglichen In-Erscheinung-Treten zurück. Erfahrbar ist etwas aber erst als Erscheinung, davon ist Rosenzweig überzeugt. In der Form mathematischer Gleichungen hatte er zu zeigen versucht, wie etwas für-sich gedacht werden kann, was auf der anderen Seite bedeutet, dass seine Identität mit anderem negiert werden muss. Dieses Vorgehen rückblickend kommentierend, schreibt Rosenzweig: Wir hatten, als wir die Elemente des All in ihrem stummen Hervorgang aus den geheimen Gründen des Nichts schauten, ihre Stummheit redend gemacht, indem wir ihnen eine Sprache liehen, welche die ihre sein konnte, weil sie keine Sprache ist. Eine Sprache vor der Sprache also, […]. Es waren von der lebendigen Sprache her gesehen die ‹Urworte›, […] die den offenbaren Lauf der Sprache zusammensetzten, mathematische Elemente, aus denen die Bahnkurve zu entwickeln ist […].106
Der Begriff der Bahnkurve bezeichnet das Geschehen des Zueinander-in-Relation-Tretens, das das Sein erst eigentlich erfahrbar werden lässt, was bei Rosenzweig so viel heißt wie: erfahrbar werden lässt.107 Denn dass Schöpfung seiner Deutung nach ein Aufeinander-Zutreten im Offenbarwerden ist, hatte sich bereits angedeutet. Die Urworte, von denen die Rede ist, können nur als «bloße ideelle Möglichkeit einer Verständigung» aufgefasst werden. «In der lebendigen Sprache werden diese unhörbaren Urworte als wirkliche Worte hörbar, […]. Statt der Sprache vor der Sprache steht die wirkliche Sprache vor uns.»108 Damit diese vernommen werden kann, bedarf sie einer Geordnetheit, die die Ordnung der Ur-Sprache spiegelt. «An Stelle einer Wissenschaft stummer Zeichen muß eine Wissenschaft lebendiger Laute treten; an Stelle einer mathematischen Wissenschaft die Lehre von den Wortformen, die Grammatik.»109 Wenn Rosenzweig hier auf die lebendigen Laute der wirklichen Sprache hinweist, dann ist natürlich noch einmal nach deren Verhältnis zu den lautlosen Urworten zu fragen. In welDer Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. «Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun in ihr, alles ‹Machen›, ist, da es in ihr ist, Geschehen; der Vorgang ist mindestens der Grund der Wirklichkeit, in dem auch das Tun gegründet ist.» Der Stern der Erlösung, II,I, S. 147. 108 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. 109 Der Stern der Erlösung, II,I, S. 139. 106 107
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cher Weise sind sie deren Verlautbarungen? Macht es Sinn, sich die mathematischen Formeln als Ideen vorzustellen, durch die Elemente in Beziehung zueinander gesetzt werden können? Die Elemente als solche begreift Rosenzweig als für sich bestehende Eigenheiten, nach deren Ursprung nicht mehr gesucht werden kann. Ihr Für-sich-Sein ist insofern als selbstgründende Realität zu verstehen. Realität oder Idealität? Sollten sie in Idealität gedacht werden, würde es schwierig, ihr Aufeinander-zu-Treten erklären zu können. So sind die Elemente Gott, Welt und Mensch als Realitäten zu deuten, die zunächst in ihrer jeweiligen Eigenheit verharren. Durch die Anwendung der mathematischen Figur der Gleichung, die zwei Variable in Beziehung zueinander setzt, treten sie erstmals in Bewegung, auch wenn diese noch keine andere als eine erdachte Bewegtheit ist. Noch wären die Elemente als solche nicht erfahrbar, denn noch vermögen sie nicht zu erscheinen. Rosenzweig spricht daher hinsichtlich jenes Entstehens von Bezügen, die in der Gleichung erkannt werden können, vom «Gang in dem Raum vor aller Wirklichkeit»110. Diesen Gang, dieses Entstehen gilt es, in die wirkliche Sprache zu übertragen, denn auch in ihr ereignet sich Entstehen, doch dieses Mal in vernehmbarer Form. Eben weil Rosenzweig das «vor aller Wirklichkeit» als Raum vorstellt, zeigt er, dass dieser grundsätzlich von derselben Beschaffenheit wie die Wirklichkeit ist. Deren qualitative Entwertung, die unweigerlich aus ihrer Entgegensetzung zum ideell Gedachten folgen würde, findet in einer solchen Sicht keine Begründung mehr. Selbst in der mathematischen Gleichung werden Entitäten in Verbindung gesetzt und nicht nur formale Gebilde reiner Denkbarkeit. Die Frage der Verlautbarung dieser formalen Anzeigen ist daher keine Frage nach einer möglichen Vergegenständlichung, sondern es geht wirklich nur darum, die ursprüngliche Möglichkeit, Relationen sichtbar zu machen, nun auch vernehmbar werden zu lassen. Im Kontext seiner Erörterungen des Begriffes der Erlösung geht Rosenzweig auf die besondere Bedeutung des Hörens ein, die im Gebet entsteht.111 Denn der Ruf, der im liturgischen Geschehen ertönt, ergeht an all diejenigen, die zu hören vermögen. In beiden Kontexten, dem der Begründung der Sprache und demjenigen der Versammlung der Hörenden, drückt sich ein und dieselbe Auffassung aus. Das Verstehen der Wirklichkeit folgt der Möglichkeit, dass sie verständlich werden kann. Es ist ein Übersetzen erforderlich, das das Lautlose erklingen lässt. An die Stelle der Urworte treten die Worte unserer Sprache. Doch ebenso, wie jene nur dadurch im Stillen erfasst werden können, dass sie zueinander in Relation gesetzt werden, ergeben diese nur dadurch Sinn, dass sie in ihrer Beziehung verstanden werden. Aus diesem Grunde betont Rosenzweig die Bedeutung der «Dies Entstehen ist kein Entstehen in der Wirklichkeit, sondern es ist ein Gang in dem Raum vor aller Wirklichkeit.» Der Stern der Erlösung, Übergang, S. 96. 111 «Im gemeinsamen Hören wurde die Vorbedingung des gemeinsamen Lebens geschaffen.» Der Stern der Erlösung, III,I, S. 357. 110
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Grammatik, denn erst ihre Ordnung im Satz setzt Worte in Beziehung.112 Sie bezeichnet er auch als «Symbole lieferndes Organon», denn in ihrer Strukturierungsform verleiht die Grammatik den Satzteilen ihre Bedeutung, ja es ist sogar möglich, hier von ihrem Sinn zu sprechen. Verharren die Urworte noch im Zustand lautloser Beständigkeit, da sie nicht als Ausdruck des von ihnen genannten Seins, sondern als dieses selbst verstanden werden, gehören die ihnen korrespondierenden «Stammworte», zu denen das stets Bestätigung aussagende «Ja» zählt, bereits der Ebene der Klanglichkeit an. Im Modus stetiger Diversifizierung kommen die Worte hinzu, deren Zusammengehörigkeit in der Regelhaftigkeit der Grammatik ablesbar wird. Im Kontext dieser Ausführungen findet sich eine interessante Bemerkung Rosenzweigs. Die Ordnung, auf die er hinweist, sei nicht als eine «stammbaumartigen Darstellung», sondern allenfalls «tabellarisch» zu verstehen.113 Wozu erfolgt hier diese Abgrenzung? Eine ungesicherte, gleichwohl nicht gänzlich abwegige Erklärung könnte darin liegen, dass Rosenzweig einer Zuweisung seines Sprach-Denkens zum Herkunftsrahmen der Kabbalah vorbeugen will. Vor allem in der lurianischen Kabbalah, wie sie sich im 16. Jahrhundert in Spanien entwickelte, ist es üblich, die Emanationen des Göttlichen – die zehn Sefiroth – in Form eines Stammbaumes darzustellen. Damit entsteht natürlich die Frage, inwieweit Rosenzweig mit den entsprechenden Quellen wie dem Buch Zohar vertraut gewesen ist. Nach verlässlicher Einschätzung sind zumindest Kenntnisse aus zweiter Hand anzunehmen.114 Wenn davon also auszugehen ist, wäre die Anspielung auf den «Baum der Sefiroth» der Sache nach nicht ausgeschlossen. Doch welcher inhaltliche Grund könnte Rosenzweig zu einer Abhebung seines eigenen Verständnisses des Organons der Grammatik von derartiger Assoziation veranlasst haben? Eine plausible Erklärung könnte darin bestehen, dass er sein Sprach-Denken auch philosophischer Rezeption empfehlen wollte. Philosophischer, nicht sprachtheoretischer Rezeption, so ist zu ergänzen. Denn für eine Diskussion seiner Konzeption in letzterem Sinne steht der genealogische Aspekt seines Sprach-Denkens zu sehr im Vordergrund. Es geht ihm nicht um das Aufstellen eines Regelwerkes, das den rechten Gebrauch der Wörter festlegt, sondern um das Aufzeigen eines Verbund-Schemas, in dem Worte ihrer natürlichen Funktion gerecht werden. Diese besteht nicht darin, als Zeichen für das Bezeichnete zu supponieren, wobei die Beziehung des einen zum anderen auf allgemeiner Übereinkunft beruht. In dem Organon der Grammatik liegt uns, davon ist Rosenzweig überzeugt, ein Instrument in Händen, um das Entstehen des rela«Diese Aufgabe der Darstellung des Sinnes, diese Rolle des Symbole liefernden Organons übernimmt also in der sich äußernden, sich offenbarenden Welt ein anderer Träger […] die Lehre von den Wortformen, die Grammatik.» Der Stern der Erlösung, II,I, S. 139. 113 «Statt der Stammbaumform würde also hier die tabellarische für die Darstellung allein in Frage kommen.» Der Stern der Erlösung, II,I, S. 140. 114 Scholem in On Franz Rosenzweig and his familiarity with kabbalistic literature, S. 2. 112
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tionalen Weltgeschehens verstehen zu können. Dass es sich dabei um ein relationales Geschehen handelt, belegen die Funktions-Festschreibungen der Grammatik unverwechselbar und unverhandelbar. In seiner bereits mehrfach erwähnten Schrift Das Neue Denken nennt Franz Rosenzweig Denker, denen er sich verbunden, vielleicht sogar verpflichtet fühlt. Unter ihnen befindet sich auch Eugen Rosenstock, der Verfasser der 1916 erschienenen Schrift Angewandte Seelenkunde. Dort heißt es: Eine einheitliche Ordnung durchwaltet den Baum der Sprache vom Einzelblatt des Einzelsatzes bis in die Krone des höchsten Geisteslebens. Aufgepflügt werden muß die Oberflächengrammatik, die uns in der Schule abspeist, […]. Die Matrizen der Sprache liegen im Schweigen, im Verstummen vor der Wortwerdung. Sie sind die Vor-lagen, sie sind das, was vorliegen muß, damit gedacht und gedichtet und geboten und gebetet werden kann.115
Wort-Werden ist auch im Sinne Rosenstocks, mit dem Rosenzweig im Juli 1913 jenes berühmte nächtliche Gespräch führte, das ihn dazu veranlasste, sein Verständnis vom Judentum zu überdenken, nicht nur ein Akt der Verbalisierung, sondern ein Geschehen des Werdens, der realen Gestaltung, die nicht aus dem Chaos des Noch-Nicht, sondern aus der «Vor-lage» eines unausgesprochenen Schon-Je entsteht. Die Aussprache dieses Vorgängigen, das beide Denker mit der literarischen Anspielung auf das «Reich der Mütter» bezeichnen,116 erfolgt nicht als spontaner und autonomer Akt des Sprechenden, sondern als klangvolle Erwiderung auf das Hören, das diesem ein Verstehen dessen eröffnet, was es heißt, zu sprechen. Die Bedeutung des Hörens übersehen zu haben, hält Rosenstock für eines der schwersten Versäumnisse des bisherigen Denkens. So versteht er auch seine Deutung der Seelen-Grammatik als eine Form des Neuen Denkens, wobei der Begriff der Form nicht zu unterschätzen ist. Er verweist nicht auf eine beliebige neue Spielart des Denkens, sondern auf dessen formale Grundlegung. «Laßt uns also die Wendung des Kopernikus vollziehen. Und wir wollen uns nun auf Grund dieser Wendung die exzentrische Grammatik aufbauen. Exzentrisch ist sie, weil nicht ein einzelner Satz oder sein einsamer Sprecher im Mittelpunkt steht. Sie enteignet den Sprecher, und sie weist Teile seiner Macht anderen zu.»117 Auch Franz Rosenzweig verwendet das Bild der kopernikanischen Wende, wenn auch in etwas anderer Weise als sein Freund Eugen Rosenstock. Denn sein Entwurf des Neuen Denkens soll sogar noch deren Innovationspotential übersteigen. Beide Verwendungen deuten jedoch auf die Überzeugung hin, tiefgreifende VerDie kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, S. 47. «[…] und der Pflug muß graben bis hin zu ‹den Müttern›, den Matrizen aller Gestaltwerdung, deren Geltung in alles, großes und kleinstes, was zur Sprache kommt, hineinreicht.» Die kopernikanische Wende der Sprachphilosophie, S. 47. 117 Die kopernikanische Wendung der Sprachphilosophie, S. 54. 115 116
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änderungen im Denken oder des Denkens vorzunehmen. Teil dieses Werkes der Neugründung ist die Auffassung, dass sich im Sprach-Geschehen grundlegende Prozesse der Gestaltung zutragen – Gestaltung des Selbst und der Welt in sich durchwirkender Bezogenheit. Um diese nicht in, sondern durch Sprache zum Ausdruck bringen zu können, ist es notwendig, deren Ordnung in größtmöglicher Dichte zum Geschehen selbst vorzustellen. Auch wenn Franz Rosenzweig wiederholt auf die tabellarische Struktur hinweist, die sich in der Grammatik ablesen lässt, stellt er eines mit besonderem Nachdruck klar: Der Sprachlehre kann höchstens tabellarische Form gegeben werden; selbst diese Form bringt bloß nachträglich eine Ordnung hinein, die dem ursprünglichen Hervorgang der Kategorien nicht entspricht. Denn dieser Hervorgang geschieht ganz ursprünglich, ganz unmittelbar identisch mit dem wirklichen Vorgang, den sie kategorisieren. […] Die Sprache ist kein eigener Inhalt hier, der nach einer inneren Systematik sich entwickeln müßte, sondern die Beschreibung des Welttageslaufs […].118
Die Ordnung der Worte, deren Bezug in dem Gefüge des Satzes sichtbar wird, ist somit keinesfalls Ergebnis der Übereinkunft, die im Interesse einer logischen Strukturierbarkeit der Sprache getroffen werden könnte. Wie versteht Rosenzweig dann aber jene Ordnung, die zwar unter Zuhilfenahme von Kategorisierungen abgebildet, jedoch nicht durch diese selbst geschaffen werden kann? Zur Beantwortung dieser Frage kann auf einen Begriff gedeutet werden, der – ebenso unerwartet wie faszinierend – auch im Sprach-Denken Martin Heideggers zum Einsatz kommen wird. Es handelt sich um den Begriff des Entsprechens. Die «Beschreibung» der jeweiligen Vorgänge des Werdens ent-spricht deren Beschaffenheit.119 An welche Kategorien er denkt, erläutert Rosenzweig zwar. Doch wichtiger als deren exakte Benennung ist sein Verständnis der Bedingung jener Möglichkeit, der sie ihr Entstehen verdanken. Ob seine Konzeption unter Gesichtspunkten moderner Sprachphilosophie überzeugen kann, ist sicherlich zu überlegen. Doch würde ihr damit letztlich ein ihr fremder Maßstab auferlegt, anhand dessen über ihre Aussagekraft entschieden werden soll. Wird Rosenzweigs Sprachauffassung als originärer Bestandteil seines Projektes Das Neue Denken betrachtet, scheint sie sich in dessen Konturen passgenau einzufügen. Denn eine Deutung von Sprache, die dem Verständnis der Allheit im Sein zugeordnet würde, müsste exakt solche Mittel der Konstruierbarkeit dieser Vorstellung bereitstellen, die Rosenzweig ab118 Der Stern der Erlösung, II,I, S. 167. Welche Kategorisierungen Rosenzweig genau vor Augen hat, bleibt eher unklar. Wichtig ist jedoch weniger ihre Auflistung als die Feststellung, dass er sie zur Veranschaulichung einer Ordnung nutzt, die nicht durch den Menschen gesetzt, sondern durch ihn benannt wird. 119 «Bei den weiteren Vorgängen wird, der Eigenart des einzelnen Vorgangs entsprechend – wirklich ent-sprechend –, die Reihenfolge der Kategorien jedesmal ganz anders sein, obwohl jede Kategorie ihre Geschwister innerhalb der andern Vorgänge hat –, nur eben nicht an der gleichen Stelle.» Der Stern der Erlösung, II,I, S. 167.
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lehnt. Sollen Begriffe als Zeichen fungieren, die das Bezeichnete in Satz und Rede vertreten, würde sich deren Bildung der Denk-Möglichkeit des Alls, nicht der realen Beschaffenheit und Wandelbarkeit der Welt verdanken. Genau diese Entsprechung von Wort und Geschehen fordert Rosenzweig mit der Ergänzung, dass Kategorien der Worte den jeweiligen Geschehnis-Formen korrespondieren. Noch einmal ist in diesem Zusammenhang an seine Akzentuierung des Begriffes der Erfahrung zu erinnern. Hierunter versteht er nicht nur empirisches Erfassen in allgemeiner Weise, sondern das Erleben von Situations-Komplexen, in denen sich die Bezogenheit des Verstehens auf den «Vorgang» des Erlebten selbst erschließt. Insofern erübrigt sich für ihn die Unterscheidung der beiden Momente von Erfahrung und Erkenntnis. Ein Schwenk zurück zu seinem Sprach-Denken zeigt, dass seine Deutung des Entsprechens diese funktionale Einheitlichkeit im Prozess des Verstehens aufgreift. Es sind nicht zwei differente Aktionen, einmal Welt zu erfahren und einmal deren Beschaffenheit zu erkennen. Vielmehr ist es seiner Überzeugung nach möglich, in der Ordnung der Begriffe die Ordnung der Vorgänge in der Welt wiederzuerkennen. Ordnung heißt dabei nicht starres Konstrukt, in dem die einzelnen Komponenten gedacht werden, sondern variables Gefüge, das sich in beständiger Veränderung befindet. Auffällig oft verwendet Rosenzweig die Ausdrücke «Organon» und «System», was zunächst verwundern mag, scheinen sie doch seiner Sicht der Geschehnishaftigkeit im Werden zu widersprechen. Das System kann keine Struktur erzeugen, die nicht zugleich in den Vorgängen innerhalb der Welt stattfinden würde. Und das Organon kann keine Mittel der Denkbarkeit bereitstellen, die diesen Vorgängen nicht ent-sprechen. Aus dieser Warte betrachtet, ähnelt Franz Rosenzweigs Auffassung derjenigen Ludwig Wittgensteins, die er in seinem Tractatus logico-philosophicus zum Ausdruck bringt, wenn er schreibt: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.»120 Jedoch ist der Umfang dessen, was als «meine Welt» bezeichnet werden kann, unterschiedlich bemessen. Für Wittgenstein konzentriert sich die Aussagbarkeit auf ihre Sachverhalte, denen er ergänzend die Möglichkeit des Unsagbaren gegenüberstellt. Dessen Annahme erübrigt sich für Rosenzweig, da der Gebrauch von Sprache weit hinter dessen gegenwärtige Sinnhaftigkeit zurückgreift. Das Entstehen der Welt und das Geschehen seiner Gestaltung sind nicht nur in Sprache denkbare Vorgänge, sondern er versteht sie selbst als sprachliches Vorgehen. Seine Unterscheidung zwischen der lautlos vorgestellten Gültigkeit mathematischer Regelhaftigkeit und der ihr wortwörtlich korrespondierenden Sprache, deren Funktionsweise die Grammatik offenlegt, lässt keinen Raum, aber auch keine Notwendigkeit mehr für die Annahme des Unaussprechlichen. Dass daraus eine Reibungsfläche mit religiösen Vorstellungen entstehen könnte, schreckt Rosenzweig nicht. Denn es ließe sich noch immer darauf verweisen, dass der Gedanke des Unaussprechlichen, der in elementarem Sinne etwa mit dem Tetragramm YHWE, 120
Tractatus logico-philosophicus, 5.6, S. 89.
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dem vier Buchstaben umfassenden göttlichen Namen, den die Thora nennt, seine Begründung im Verständnis der Sprache der Welt findet. Die Sprache der Vorwelt, also die Mathematik, würde in dieser Zuweisung nicht berücksichtigt. Da für Wittgenstein die Sprache der Vorwelt – ein Ausdruck, der hier nur in übertragenem Sinne auf sein Denken angewendet wird – die eigentliche Sprache ist, bleibt aus seiner Perspektive eine Leerstelle in der genealogischen Vermittlung sprachgeleiteten Verstehens, die er als das Unaussprechliche bezeichnet. Es wäre eine überaus lohnende Aufgabe, die Sprach-Konzeptionen von Franz Rosenzweig und Ludwig Wittgenstein näher zu betrachten. Hier ist sie nicht zu erfüllen. Stattdessen soll ein anderer schlaglichtartiger Blick auf eine weitere Auffassung von Sprache geworfen werden, die als zusätzliche Rahmung des Rosenzweigʼschen Denkens dienen kann. Auf das Jahr 1918 datiert Walter Benjamins kurzer Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Inwieweit Rosenzweig und er um das Denken des anderen wussten, ist noch nicht im Detail geklärt. Über beider Bekanntschaft mit Gershom Scholem könnte zumindest eine indirekte ZurKenntnisnahme stattgefunden haben. 1929 nennt Walter Benjamin den Stern der Erlösung als eines jener «große[n] Werke deutscher Wissenschaft.»121 Im Moment geht es nicht um die Frage denkbarer Bezüge oder Verweisungen, die zwischen verschiedenen Ausprägungen des Sprach-Denkens möglicherweise festzustellen sind. Es soll vielmehr dem Eindruck entgegengewirkt werden, dass die Sprach-Auffassungen der Existenzphilosophie sich zu keiner gemeinsamen Form zusammenführen lassen und eher dem persönlichen ästhetischen Empfinden ihrer Urheber entstammen. Denn die Frage, ob eine Theorie der Ethik vor dem Hintergrund des existentiellen Denkens formuliert werden kann, führt zu der Überlegung, wie konsistent dieses Denken hinsichtlich seines Gestalt-Ausdrucks ist. Es sind folglich Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ausdrucksformen zu suchen, die es in einem weiteren Schritt erlauben, zu einer Figur des Sprach-Denkens komprimiert zu werden. Walter Benjamin zählt nicht zum Kreise der Existenzphilosophen. Gleichwohl kann sein Text dazu beitragen, die Position Franz Rosenzweigs unter Berücksichtigung ihrer Theoretisierbarkeit stärker zu konturieren. Dass er an einer solchen Möglichkeit, das Sprach-Denken hinsichtlich seiner Funktionselemente zu beleuchten, durchaus interessiert ist, hat sich gezeigt. Das System als Form ist keineswegs eine durch seinen Gebrauch im Deutschen Idealismus belastete Gestaltungsvariante der Textualität. Der Hinweis auf das Organon des Denkens bezeugt den Wunsch, verlässliche und in ihrer Anwendung konstante Instrumente der Strukturierung des Denkens zur Verfügung zu stellen. Auch Walter Benjamin ist daran gelegen, den methodischen
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Bücher, die lebendig geblieben sind, in: Gesammelte Schriften, III, S. 169.
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig
Aspekt seiner Betrachtung herauszustellen.122 Im Zentrum seiner Darlegung steht der Begriff der «Mitteilung». Jedes Wesen teilt sich mit, womit es die ihm eigene Möglichkeit essentieller Verwirklichung erfüllt. Es mag verwundern, wenn Benjamin in diesem Zusammenhang auch von der sprachlichen Mitteilung des Gegenständlichen spricht. Doch ist die Ausweitung insofern konsequent, als sie das Mitteilen zur wesentlichen Eigenheit eines Jeden erklärt, das in seiner ihm je eigenen Besonderheit erfasst werden kann. Sprache versteht Benjamin als Ausdruck des Wesens, wobei er auf einen Aspekt ausdrücklich hinweist: «Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.»123 Ist es Zufall, dass auch Walter Benjamin den Begriff des Entsprechens verwendet? Sicherlich nicht. Denn auch seine Auffassung von Sprache unterscheidet sich grundsätzlich von solchen Theorien, die sie als ein System von Zeichen verstehen wollen, die dem Bezeichneten zugewiesen werden, um es in der Rede zu repräsentieren. Doch könnte an dieser Stelle nicht festgestellt werden, dass die Relation des Zeichens zu dem von ihm Bezeichneten gerade diejenige der Entsprechung ist? Worin würde dann die Besonderheit des Sprach-Denkens bestehen, das Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Martin Heidegger in punktueller Ähnlichkeit vertreten? Die Art und Weise, in der Begriff und Ding aufeinander bezogen werden, ist für alle drei Denker von entscheidender Bedeutung. Für Rosenzweig und Benjamin zeigt sich darin die Verwurzelung des Sprach-Geschehens im Bild der Fort-Setzung, mit der der Mensch das göttliche Schöpfungswerk zu einem immerwährenden Werden erklärt. Letzterer schreibt: Gott ruhte, als er im Menschen sein Schöpferisches sich selbst überließ. […] Durch das Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden. Das menschliche Wort ist der Name der Dinge. Damit kann die Vorstellung nicht mehr aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der Dinge […] sei. Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen.124
Dieser Auffassung liegt der Gedanke zugrunde, dass Werden und Schaffen zwei zutiefst verwandte Vorgänge sind, insofern sie als Ins-Wesen-Setzen verstanden werden. Die Vorstellung der fortgesetzten Schöpfung drückt diese Überzeugung aus. Denn indem ein Ding benannt wird, wird ihm jene Signatur verliehen, die es als dieses und kein anderes identifiziert. Bisher ist damit jedoch noch keine ein«Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefaßt werden, und diese Auffassung erschließt nach Art einer wahren Methode überall neue Fragestellungen.» Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 9. 123 Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 10. 124 Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 18 f. 122
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deutige Differenzierung von der Zuweisung eines Begriffes erreicht, der als Zeichen fungiert. Auch dieses unterscheidet das Bezeichnete unverwechselbar. Hier wird erkennbar, dass es weniger auf die Natur des Begriffes selbst zu achten gilt als vielmehr auf den Prozess der Bezeichnung beziehungsweise der Benennung, um im Sinne Benjamins und Rosenzweigs zu sprechen. Durch die Nennung wird das Ding nicht nur zu diesem Bestimmten, sondern zugleich zu diesem Bestimmten in seinem Bezug zu Anderem. Dieser Aspekt ist entscheidend. Denn indem ein Ding benannt wird, wird es in einen Kontext gestellt, in dem es sich erst als dieses Einzelne zu erkennen gibt. Hier würden die Auffassungen von Benjamin und Rosenzweig nach eigenem Verständnis von einem als Zeichentheorie formulierten Sprachdenken abweichen. Das Einfügen in einen Zusammenhang, in dem das Einzelne als solches erscheint, gilt ihnen als Gestaltung der Welt, durch die sie in einem fortwährenden Prozess geschaffene Welt werden kann. Für Walter Benjamin besteht darin das Wesen des Menschen: «Der Mensch teilt also sein eigenes geistiges Wesen […] mit, indem er alle anderen Dinge benennt.»125 Indem dieser der göttlichen Weisung folgend anderes benennt, teilt er sich selbst mit. Der Meinung, hier handele es sich um das Mitteilen von etwas, attestiert Benjamin «Unhaltbarkeit und Leere», denn sie erfordert es, zwischen Mittel, Gegenstand und Adressaten zu differenzieren. Seiner Darstellung nach ist die Wesensartikulation eines Jeden reiner Ausdruck seiner selbst. Sprache ist dieser Ausdruck. Hier wird die Unterscheidung zu einem Verständnis von Sprache als Zeichensystem wohl am deutlichsten. Denn hier wäre es tatsächlich so, dass das Zeichen etwas bezeichnet. Eine darüber hinausweisende Rückbezüglichkeit auf den Zeichen Gebenden ist in diesem Rahmen weniger von Interesse. Für Benjamin und Rosenzweig ist jedoch gerade dieser Rückschluss von größter Wichtigkeit. Es geht ihnen nicht primär um eine Erklärung des regelgerechten Gebrauches der Grammatik und der Weise, in der sich ein Zeichen auf seinen Gegenstand bezieht. Vielmehr suchen sie in beiden Funktionen der Mitteilung den ihnen zugrunde liegenden Ausdruck der Wesenhaftigkeit des Welt-Seins. Insofern beinhaltet Sprache immer schon einen existentiellen Aspekt, da sie Ausdruck der Strukturmäßigkeit des Seins wie auch des Werden-Könnens ist. Im Bild der Schöpfung treffen diese beiden Gedanken in ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit aufeinander, die in Wahrheit eine Kernaussage existentiellen Denkens ist: Sein ist immerwährendes Werden. Noch einmal rückt Rosenzweigs Auffassung in den Vordergrund, wonach Kategorien, so unverzichtbar sie zur Funktionserklärung des Sprachgeschehens sind, doch zugleich als offene Verweisungszusammenhänge betrachtet werden müssen, die den Vorgängen, die sie denkbar werden lassen, entsprechen. 125 Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 12. Etwas später heißt es: «Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache selbst spricht.» S. 13.
Vom Sinn der Grammatik – Franz Rosenzweig
In dem vorliegenden Rahmen einen kurzen Blick auf den Text von Walter Benjamin zu werfen, ist deshalb hilfreich, weil er dazu beitragen kann, den Ansatz existentiellen Sprach-Denkens aufzuzeigen. Dieses definiert sich eben nicht als Theorie der Zeichen, sondern – wenn dieser Begriff überhaupt verwendet werden soll – als Theorie des Bezeichnens. Dieses ist nicht als formaler Akt zu verstehen, der sicherstellt, dass Dinge benannt und Sachverhalte ausgesagt werden können. Bezeichnen wird von Benjamin und Rosenzweig vielmehr als SelbstSetzung des Menschen gedeutet, in deren Vollzug er sich selbst in Relation zum Anderen setzt. Dieses Andere wird von beiden als göttlicher wie auch dinglicher Natur gedacht. In seinem Stern der Erlösung kann Rosenzweig dieser Tatsache weitaus größere Aufmerksamkeit schenken, die jedoch nur den Umfang der Darstellung, nicht die Beschaffenheit des zugrunde liegenden Gedankens betrifft. «Das einzelne […] festgelegte Ding kann nun also endlich mit Ruhe als Gegenstand bezeichnet werden. Es ‹steht› da, ein bestimmtes, bejahtes Ding im unendlichen Raum des Erkennens oder der Schöpfung.»126 Erst mit der Benennung und Kennzeichnung des Dinges wird es zu einem Bestandteil der Welt, die in zwiefältiger Weise der Erfahrung des Menschen zugänglich werden kann – im Erkennen, für Rosenzweig mit dem Erfahren identisch, und im Offenbar-Werden der Schöpfung. Eine markantere Engführung religiösen und philosophischen Denkens als in dem von ihm ausgesprochenen «oder» ist in neuerer Zeit kaum zu finden. Von Ferne erinnert sie an das kühne «deus sive natura», das Baruch de Spinoza dreihundert Jahre zuvor aussprach. Weitaus stärker als dieser betont Rosenzweig aber die Vorstellung, dass es in der Schöpfung auf das Mit-Wirken des Menschen ankommt, da sie nur dadurch als immerwährendes Geschehen betrachtet werden kann. Soll der Mensch diese Aufgabe erfüllen können, muss ihm eine schöpferische Potenz zuerkannt werden. Die Tatsache, dass überhaupt etwas ist, kann er nicht beeinflussen, wohl aber die Möglichkeit, dass dieses wird, was es noch über sein Sein hinaus zu werden vermag. Die Mathematik, so hat es Rosenzweig dargestellt, zeige das dass auf, die Grammatik hingegen, was es zu werden vermag. Denn sie fungiert als Ordnungsschema wechselseitiger Bezogenheit, in der Worte innerhalb des Satzes – das heißt auch Dinge innerhalb der Welt – zueinander stehen. Wenn Walter Benjamin von der Mitteilung spricht, in der sich der Mensch als der Namen-Gebende ausdrückt, skizziert er, was Rosenzweig zeitgleich formuliert. In der Benennung des Geschaffenen wird dessen Nun-einmal-schon-da-Sein zur gestalteten Welt: Die Welt ist vor allem, so lernen wir hier, da. Einfach da. Dies Sein der Welt ist ihr Schonda-sein – […]. Was wir als die Gestalt erkannten, in der die Welt sich als Kreatur offenbart, das erkennen wir nun, wo wir das Dasein als Da-sein, Schon-da-sein, nicht mehr
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bloß als allgemeines, aber alles einzelne in sich führendes Sein fassen, als das entscheidende Merkmal der Schöpfung überhaupt.127
Dieses Merkmal der Schöpfung ist die Relationalität des Seins, die nur durch den Menschen, der seinem Wesen ent-spricht, erwirkt werden kann. Sprach-Denken und Schöpfungsglaube verschmelzen hier in harmonischer Weise. Natürlich kann darauf hingewiesen werden, dass sich Franz Rosenzweig und Walter Benjamin auf die Worte der Thora stützen, wonach die Sprachfähigkeit das Wesen des Menschen ausmacht. Doch ist es eben nur die Fähigkeit, die ihm dort verliehen wird. Deren Entfaltung wird zur existentiellen Bewegung, in deren Verlauf der Mensch nicht nur verwirklicht, was er zu werden, sondern auch, was er zu wirken vermag. Diesen Aspekt akzentuiert Rosenzweig vor allem. Der Prozess des Selbst-Werdens erscheint zunächst als eine zunehmende Konzentration eines Menschen auf sein eigenes Denken und Erleben, öffnet sich dann jedoch zur erkennenden Haltung dem Anderen gegenüber. Der Einführung der drei Elemente des Seins gemäß, die in den ersten Kapiteln des Sterns der Erlösung vorgenommen wird, ist das Andere ein jedes: Gott, Welt und Mensch. Für die Suche nach einer Ethik der Existenz wird dieser Gedanke wichtig werden. Im Moment, da es Rosenzweigs Sprach-Denken zu betrachten gilt, kann die scheinbar selbstverständliche Feststellung getroffen werden, dass Sprache nicht primär Mittel der Verständigung über bestimmte Inhalte, sondern Medium des Ausdrucks ist. In ihm erfüllt der Mensch sein Wesen, was nichts anderes heißt als: In ihm existiert der Mensch. Doch ist das überhaupt Existieren? Verbinden wir mit diesem Begriff seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht die Möglichkeit, dass ein Individuum sich in freiem und spontanem Akt zu dem entwirft, was er zu werden wünscht? Dringt in Rosenzweigs Denken nicht doch ein großer Anteil traditioneller Vorstellung vom Wesen des Menschen durch, das seine Möglichkeiten und den Spielraum ihrer Verwirklichung festlegt? Keinesfalls. Die Möglichkeiten sind bestimmt, das trifft zu, doch muss der Raum ihrer Realisierung erst vom Menschen entworfen werden. Dieser Raum ist das Dasein, «das entscheidende Merkmal der Schöpfung überhaupt». Die Besonderheit der Positionen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, die hier tatsächlich in einem Atemzug zu nennen sind, besteht darin, dass existentielle Bewegung Daseins-Gestaltung ist. Denn warum sonst hätte Rosenzweig den durchaus kritisierbaren Schritt gewagt, Schöpfung und Sein analog zu betrachten? Sein ist geschaffen, doch Schöpfung ist ein immerwährender Prozess, der in der Kompetenz und Verantwortung des Menschen liegt. Und die Sprache? Sie bringt dieses Faktum zum Ausdruck. Bei Walter Benjamin heißt es: «Gott ruhte, als er im Menschen sein Schöpferisches sich selbst überließ. Dieses Schöpferische, seiner göttlichen Aktualität entledigt, wurde Erkenntnis. Der Mensch ist 127
Der Stern der Erlösung, II,I, S. 146.
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.»128 Sprache zu denken, bedeutet für ihn wie auch für Rosenzweig, die Funktionsstruktur des Seins zu verstehen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Benjamin den Versuch, sie als Zeichensystem deuten zu wollen, als den «Sündenfall des Sprachgeistes»129 bezeichnet. Fast bruchlos setzt sich dieser Gedanke in einer Äußerung aus der Mitte der 1950er Jahre fort: « Sprachphilosophie und jedes Denken über die Sprache ist die äußerste und darum verstellteste Subjektivität.“130 Diese Feststellung stammt jedoch weder von Franz Rosenzweig noch von Walter Benjamin, sondern von Martin Heidegger. Sein Sprach-Denken zeigt zum Teil frappierende Ähnlichkeit zu dem bisher skizzierten, so dass es nicht im mindesten verwundert, dass auch den Begriffen des Entsprechens und der Erfahrung darin eine bedeutsame Funktion zukommt.
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger Die ergiebigste Quelle zur Rekonstruktion dieses Denkens sind natürlich nach wie vor die Vorträge, die unter dem Titel Unterwegs zur Sprache herausgegeben wurden. Ergänzt werden sie durch eine Fülle von fragmentarischen oder aphoristischen Verlautbarungen, die nach und nach in den Bänden der Schwarzen Hefte zugänglich werden. Dass auch Heidegger sich nicht uneingeschränkt auf jenen Sprachgebrauch einlassen kann, den er in den Konzeptionen der Philosophie vorfindet, überrascht nicht. Wie auch für Rosenzweig ist damit allerdings keine Ablehnung philosophischer Terminologie im Ganzen verbunden, sondern die Notwendigkeit, das Wesen der Sprache grundsätzlich zu bedenken. Dabei hebt sich das Denken, das sich vom vorstellenden zum schonenden Denken wandelt, Stück für Stück vom Anspruch der Philosophie ab, Aussagen über das Sein treffen zu können. «Unterwegs, beim Verlassen der Philosophie, ist es nötig, noch ihre Sprache zu sprechen; unvermeidlich ist von der Seinsfrage die Rede. Aber die Frage nach der ‹Wahrheit des Seins› ist ein Antworten, das dem Seyn des Seins, dem Anspruch des Seyns entspricht.»131 Nicht das Fragen des Menschen, das Ausdruck seiner Subjektivität wäre, diktiert dem Neuen Denken, für das auch Martin Heidegger eintritt, seinen Gegenstand, sondern das Sein zu denken, führt ihn zum Fragen. Das Sein zu denken, das heißt, es in seiner Möglichkeitsstruktur zu erschließen, erscheint unter der sprachlichen Signatur des Seyns. Denn Seyn
Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 18. «Das Wort soll etwas bezeichnen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes.» Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 22. 130 Winke I und II, II, S. 106. 131 Anmerkungen I–V, III, S. 276 f. 128
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ist – wie sich bereits angedeutet hat – kein Ausdruck für eine ontische Beschaffenheit, sondern für das Denken des Menschen, das das Seyn zur Sprache bringt: Was heißt: das Seyn zur Sprache bringen? Es heißt nicht, das Seyn aussprechen, heißt nicht, das Seyn durch Aussagen darüber zur öffentlichen Erörterung und allgemeinen Kenntnis bringen. – Das Seyn zur Sprache bringen heißt (wörtlich): das Wesen des Seyns im Wesen der Sprache als dem Gespräche der Stille […] beruhen lassen.132
In fast programmatischer Dichte geben diese Zeilen über Heideggers Vorhaben Auskunft, das sein Denken speziell in den 1950er Jahren zunehmend einnimmt. Denn es ist ein Eingenommen-Werden, um das es geht. Am Anfang des Sprechens über die Sprache steht nicht der Entschluss des Forschers, sondern ein Angerührt-Werden, das Heidegger mit jenem Begriff benennt, der in den vorangegangenen Seiten schon so oft auftauchte: mit dem Begriff der Erfahrung. Franz Rosenzweig spricht vom erfahrenden Denken als jenem Vorgang des Verstehens, der die Struktur des Seins als Werden der Schöpfung erschließt. Walter Benjamin stellt den Begriff in den Mittelpunkt seines aus dem Jahr 1917 stammenden Textes Über das Programm der kommenden Philosophie, in dem sich zahlreiche Gespräche, die er mit Gershom Scholem geführt hatte, niederschlagen. Darin heißt es: «Es ist von der höchsten Wichtigkeit für die kommende Philosophie, zu erkennen und zu sondern welche Elemente des Kantischen Denkens aufgenommen und gepflegt, welche umgebildet und welche verworfen werden müssen.» Denn das Ziel bestehe darin, «unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffes vorzunehmen.»133 Das Merkmal dieses Erfahrungsbegriffes besteht darin, dass er «auch religiöse Erfahrung logisch ermöglicht». Benjamin ist keineswegs daran gelegen, Erfahrung als Akt empirischen Erlebens zu deuten. Wie auch Rosenzweig sieht er eine Möglichkeit, ihn dadurch als Synonym für Erkenntnis auszuweisen, dass er solches Erleben mit dem Verstehen des Strukturganzen verknüpft. Nach Benjamins Auffassung ist es dafür erforderlich, «Die Subjekt-Natur des erkennenden Bewußtseins zu eliminieren».134 Denn die Art von Erfahrung, die er als religiös bezeichnet, kann von keinem Verstehen-Wollen geleitet sein, sondern, um einen Ausdruck zu benutzen, den Benjamin nicht verwendet, nur vom Sich-angehenLassen. Und dieses ist nicht auf rationalem Wege zu erreichen. «Denken – nämlich das Zu-Denkende, heißt: Das Ungedachte, das auf das Denken wartet, erfahren»,135 so ist bei Martin Heidegger zu lesen. Der Bruch nicht mit den Begriffen
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Anmerkungen I–V, IV, S. 357. Über das Programm der kommenden Philosophie, in: Angelus Novus, S. 29 f. Über das Programm der kommenden Philosophie, in: Angelus Novus, S. 31. Martin Heidegger, Anmerkungen I–V, II, S. 206.
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
der Philosophie, aber mit deren Selbstverständnis, ist seiner Auffassung nach unvermeidlich:136 Man möchte sagen: die Forderung einer anderen Sprache; und möchte meinen, hierbei handle es sich um eine neue Ausdrucksweise. Indessen beruht die Verwandlung nicht im Neuartigen der Ausdrücke und Wendungen, sondern in der Unscheinbarkeit des Rückgangs der Sage in das hörende Ent-sagen, d. h. die Einkehr in die Stille.137
Für das Vorhaben, dem Sprachverständnis des existentiellen Denkens zu folgen, scheinen diese Worte bei erster Betrachtung fatale Wirkung zu haben, denn sie deuten auf eine Abkehr vom begrifflich Vermittelbaren. Soll Vermittlung durch Sprache erfolgen, wäre diese Feststellung in der Tat ein kaum zu überwindendes Hindernis für den Versuch, ein Konzept des Sprach-Denkens zu entwerfen. Findet Vermittlung hingegen in Sprache statt, wird sie selbst Gegenstand der Untersuchung, über die sie Auskunft gibt. Ein Rest der Befangenheit bleibt freilich bestehen. Kann dem Anspruch, den beide Denker an Sprache stellen, überhaupt gerecht werden, wer sie in eine – wenn auch behutsam geformte – Struktur einpassen will? Es geht aber nicht darum, sie einzupassen, sondern Elemente ihres Wirkens zu benennen. Denn hier liegt eine konsistente Deutung von Sprache vor, die den Vergleich mit Entwürfen der Sprachphilosophie keineswegs zu scheuen braucht, solange sie nicht nach deren Maßstäben bemessen wird. Für Franz Rosenzweig resultierte der Wunsch, Sprache zu bedenken, aus der Bedeutung, die er der Erfahrung im Erkenntnisprozess zugewiesen hatte. Obwohl deren Begriff im Stern der Erlösung wie auch in dessen Kommentierung Das Neue Denken in zentraler Funktion genannt wird, findet sich nirgends in diesen Texten eine genaue Darlegung dessen, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Sein Sinn ist aus seinem Gebrauch zu erschließen. Im Dezember 1957 hielt Martin Heidegger an der Universität Freiburg einen Vortrag mit dem Titel Das Wesen der Sprache. Darin gibt er eine Erklärung seines Verständnisses von Erfahrung, die unverändert auch dem Stern der Erlösung entstammen könnte: Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt. Die Rede vom ‹machen› meint in dieser Wendung gerade nicht, daß wir die Erfahrung durch uns bewerkstelligen; machen heißt hier: durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfangen, insofern wir uns ihm fügen.138
136 «Ist es nicht an der Zeit, das Bestimmen der Sprache, und ihre Kennzeichnung schon, aus Be-greifen durch Logik, Grammatik, Poetik und Rhetorik herauszunehmen, bei aller Achtung vor dem hier seit Jahrhunderten Geleisteten.» Vigiliae und Notturno, S. 37. 137 Vigiliae und Notturno, S. 163. 138 Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 159.
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Der empirische Charakter, der Erfahrung nach gängiger philosophischer Gepflogenheit attestiert wird, bezieht sich in dieser Deutung nicht mehr nur auf ihren Gegenstand, sondern eher auf ihre Natur selbst. Insofern ist es nicht mehr erforderlich, zwischen Erfahrung und Erkenntnis zu unterscheiden und ausschließlich in Letzterer die Garantin umfassenden Verstehens zu sehen. Erfahrung wird nicht durch etwas bedingt, sondern, wie Heidegger betont, mit etwas gemacht. Damit fällt der Fokus der Aufmerksamkeit schlagartig auch auf denjenigen, der sich durch sie «angehen» lässt, wie es etwas später im Text heißt. Und gerade weil Erfahrung nicht mehr im Prozess der Erkenntnis absorbiert wird, kann sie sich unmittelbar auf den Menschen auswirken und ihn «verwandeln». Wohin diese Verwandlung führt, bleibt im Status reiner Möglichkeit. Nur so viel kann festgehalten werden: Diese Verwandlung lässt den Menschen eigentlich werden. Sie erschließt ihm das Verständnis seines Wesens als des ihm Möglichen, das heißt, sie eröffnet ihm die Möglichkeit seiner Existenz. Wenn hier noch einmal an das Bild vom Geviert erinnert wird, in dem Heidegger die relationale Struktur des Seins veranschaulicht, wird sofort klar, dass Existenz nicht singuläre SelbstVerwirklichung bedeutet, sondern das Sich-Einfügen in den Zusammenhang des Seienden, das heißt: Seyn. «Etwas erfahren heißt: unterwegs, auf einem Weg, etwas erlangen. Mit etwas eine Erfahrung machen, heißt, daß jenes, wohin wir unterwegs gelangen, um es zu erlangen, uns selbst belangt, uns trifft und beansprucht, insofern es uns zu sich verwandelt.»139 Wege zu einer Erfahrung mit der Sprache will Heidegger in seinem Vortrag aufzeigen, womit deutlich wird, dass sie sich der Suche nicht gänzlich verschließt.140 Trotzdem ist hier nicht an Techniken zu denken, deren Anwendung zu einem sicheren Ziel führen wird. Heidegger geht es vielmehr darum, «achtsamer» für die Möglichkeit der Erfahrung zu werden, die Sprache eröffnet.141 Dichtungen von Georg Trakl und Gottfried Benn dienen ihm als Wegmarkierungen, die den Blick – oder richtiger: das Hören – für das Erleben empfänglicher werden lassen.142 Fast erübrigt sich der Hinweis, dass auch für ihn Sprache weitaus mehr als Mittel des Informationsaustausches ist. Nur in ihrer Form kann sich seiner Auffassung nach Seyn formieren und zu erkennen geben. Das, was er an den von ihm ausgewählten Dichtungen hervorhebt, ähnelt nicht einmal entfernt einer Auslegung, die die Verse als solche deuDas Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 177. «Was zu tun übrig bleibt, ist, Wege zu weisen, die vor die Möglichkeit bringen, mit der Sprache eine Erfahrung zu machen.» Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 161. 141 «Deshalb hören wir jetzt achtsamer dorthin, wo eine solche Erfahrung in einer hohen und edlen Weise zur Sprache kommt.» Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 165. 142 «[…] mit der Sprache eine Erfahrung machen. Hierfür braucht es nicht allein dies, daß wir auf dem eingeschlagenen Weg innerhalb der Nachbarschaft von Dichten und Denken bleiben. Wir müssen uns in dieser Nachbarschaft umblicken, ob und wie sie solches zeigt, was unser Verhältnis zur Sprache verwandelt.» Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 199. 139 140
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
ten soll. Diese sind vielmehr dazu geeignet, über ihre Bedeutung hinaus nach ihrem Sinn zu fragen. Und dieser liegt, wie vielleicht zu erwarten ist, in der Aufhebung der Aussage. Denn diese kann immer nur Verweis auf ein Bestimmtes sein, das sich im Wort aussprechen lässt, wohingegen dessen Sinn im Verstehen der Wirkung von Sprache insgesamt besteht. Noch einmal kommt Heideggers Bemerkung in Erinnerung, dass Sprachphilosophie Ausdruck höchster Subjektivität sei. Hier steht der Mensch im Zentrum, der die Gesetzmäßigkeiten von Sprache – von Sprachen – untersucht. In seinem Verständnis kann sie hingegen nur im Singular genannt werden, denn nur einen Sinn gibt es, der in der Sprache liegt: sie eröffnet Erfahrung. Vielleicht könnte hier an ein ästhetisches Erleben gedacht werden, was im weitesten Rahmen sogar zutreffen könnte. Die eigentliche «denkende Erfahrung», die Heidegger in seinem Vortrag thematisiert und zugleich erschließen möchte, legt die Struktur des Seins als Möglichkeit seines Werdens, als Seyn, offen. Der Hinweis auf den Begriff des Tao, den er diesem Kontext anfügt, kann diese Sichtweise aus anderer Herkunft stützen: Vermutlich ist das Wort ‹Weg› ein Urwort der Sprache, das sich dem sinnenden Menschen zuspricht. Das Leitwort im dichtenden Denken des Laotse lautet Tao und bedeutet ‹eigentlich› Weg. […] Indes könnte der Tao der alles be-wëgende Weg sein, dasjenige, woraus wir erst zu denken vermögen, was Vernunft, Geist, Sinn, Logos eigentlich, d. h. aus ihrem eigenen Wesen her sagen möchten.143
In dieser Verwendung mag der Begriff des Eigentlichen Verwunderung, vielleicht sogar Ablehnung hervorrufen. Denn wie ist ein Urteil darüber möglich, was Vernunft und Geist «eigentlich» sagen möchten? Sprachphilosophische Analysen taugen nach Heideggers Überzeugung nicht zur Aufklärung hierüber. Wenn Auskunft zu erhoffen ist, dann stammt sie von der Dichtung. Ist es verwunderlich, dass es von Seiten der analytischen Philosophie zum Teil massive Vorbehalte gegen eine solche Form des Sprach-Denkens gibt? Diese müssen Heidegger wohl kaum kümmern, lassen sie sich doch im Gegenteil sogar als Bestätigungen dafür deuten, auf dem rechten Weg zu sein. Zugleich verschließt sich existentielles Sprach-Denken aber zum Teil selbst die Möglichkeit, als Theorie eigener Legitimierung zur Kenntnis genommen zu werden. Es wäre fatal, an diesem Punkt auf einem einzig richtigen Weg bestehen zu wollen. Denn so würde der Blick für das jeweils andere Denken versperrt, das in seiner Andersheit einen eigenen, doch nicht den einzig wahren Geltungsanspruch vertritt. Die Frage, in der sich beide Theorien von Sprache am nächsten kommen, ist diejenige nach der Weise, in der Dinge benannt werden. Rosenzweig hat bereits gezeigt, dass Namen Dinge bezeichnen, worin seiner Überzeugung nach das Gestalten der Welt, das die Schöpfung fortsetzt, besteht. Indem ein Ding als dieses und kein anderes durch seine Benennung gekennzeichnet wird, wird es zu einem «eigenständigen» Ge143
Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 198.
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genstand, dessen Erfahrbarkeit Bestandteil der Seins-Erkenntnis ist. Martin Heidegger schreibt: «Erst wo das Wort gefunden ist für das Ding, ist das Ding ein Ding. So erst ist es. […] Das Wort verschafft dem Ding erst sein Sein.»144 Entschlossen weist Heidegger jede Vermutung zurück, wonach das Verhältnis vom Wort zum Ding etwa als beliebig oder gar Produkt konventioneller Übereinkunft aufgefasst werden könnte. Stattdessen beruft er sich auf ein ursprüngliches Verwiesen-Sein beider aufeinander.145 Dieses Verhältnis der beiden stellt eine unhinterfragbare Versicherung der jeweils einzig möglichen Benennung dar. Ein hierüber hinausgehender Nachweis der Legitimation des Namen-Gebens erübrigt sich seiner Ansicht nach. Ob diese Gewissheit jedoch überzeugt, kann überlegt werden. Ein Berufen auf die Ursprünglichkeit des abendländischen Denkens vermag wohl im religiösen, doch nicht zwingend auch im philosophischen Kontext zu wirken. Aber verortet Heidegger sein Denken überhaupt in Letzterem? Werden seine Vorträge zur Sprache zugrunde gelegt, müsste auf seinen Begriff des «Gegen-einander-über» von Denken und Dichtung hingewiesen werden. Dichtung erfüllt dabei die sonst eher dem Religiösen zugewiesene Funktion sinn-setzender Seins-Perspektive. Die Frage, wie Sein entstand, interessiert Heidegger nicht. Umso mehr Aufmerksamkeit schenkt er der Frage, auf welche Gründe und Begründungen sich das Denken berufen kann, wenn es jenen Weg der SelbstVergewisserung betreten will, der zugleich eine Seins-Vergewisserung ist. Beides wird durch die Erfahrung erschlossen, deren Natur er beschreibt. Für beide Aspekte des erkennenden, das heißt hier des vergewissernden Fragens ist Sprache von unverzichtbarer Wichtigkeit. Denn sie ist das Band, durch das das ausgesagte Ding zum erfahrbaren Ding und damit zur erkennbaren Signatur des Seyns werden kann. Um noch einmal daran zu erinnern: Seyn bedeutet in Heideggers Begrifflichkeit die verstehende Haltung zum Sein, die es in seiner Beschaffenheit wie auch in seiner Möglichkeit erfasst. Beim Seyn handelt es sich also nicht um eine eigene Seins-Art, sondern um ein Verhältnis, in das sich der Mensch zum Seienden setzen kann, wenn er es bedenkt. Diese Voraussetzung ist erforderlich, da nur so das vorstellende Denken und das zielorientierte Fragen nach dem Seienden zum Schweigen gebracht werden können. Einen Anhaltspunkt, wie die Unterscheidung zwischen dem Nutzungsanspruch des alltäglichen Sprach-Gebrauches von dem schonenden Sprechen vorzustellen ist, gibt Heidegger selbst. Im gewöhnlichen Sinn sprechen wir davon, dass jemand belangt wird, um zu zeigen, dass er zur Rechenschaft gezogen wird. «Wir können aber auch das Belangen in einem hohen Sinn denken: be-langen, be-rufen, be-hüten, be-halten.
Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 164. «Denn das Früheste, was durch das abendländische Denken ins Wort gelangt, ist das Verhältnis von Ding und Wort, und zwar in der Gestalt des Verhältnisses von Sein und Sagen.» Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 185. 144 145
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
Der Be-lang: das, was, nach unserem Wesen auslangend, es verlangt und so gelangen läßt in das, wohin es gehört.»146 Eine Weise, sich dem Denken der Sprache anzunähern, hebt sich von ihrem üblichen Gebrauch ab. In dieser zweckfreien Ausrichtung eröffnet sie demjenigen, der ihrer Spur zu folgen vermag, den Einblick in das Mögliche des Möglichen. Warum diese Doppelung? Würde davon ausgegangen, dass Sprache auf Möglichkeit deutet, wäre diese als Option konkreter Entscheidung zu verstehen. Die Möglichkeit der Möglichkeit zeigt hingegen die zu entwerfende Struktur des Sein-Könnens selbst an. Eine solche Erschließung gewährt einen ersten und zugleich einzigen Blick in die Natur des Seins. Denn was sollte noch über die Erkenntnis hinaus denkbar sein, dass das eigentliche Sein möglich ist? In diesem Zusammenhang findet sich folgende Formulierung: Für das sinnende Denken dagegen gehört der Weg in das, was wir die Gegend nennen. Andeutend gesagt, ist die Gegend als das Gegnende die freigebende Lichtung, in der das Gelichtete zugleich mit dem Sichverbergenden in das Freie gelangt. Das Freigebend-Bergende der Gegend ist jene Be-wëgung, in der sich die Wege ergeben, die der Gegend gehören.147
Was Heidegger hier beschreibt, ist eine Übertragung dessen, was in religiösem Kontext als Offenbarung verstanden wird. Dass in seiner Deutung nicht von einem göttlichen Akt des Sich-Offenbarens gesprochen werden kann, ist klar. Interessant ist, dass er das Geschehen des Offenbar-Werdens in räumliche Metaphorik kleidet. Hier kommt erneut der Gedanke der Erfahrung zum Tragen, die wir mit etwas machen können. Sie ist durch den Erfahrenden immer ein Geschehen an einem Ort, so banal diese Feststellung auch klingen wird. An früherer Stelle hat Heidegger in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass eine Erfahrung mit etwas zu machen, bedeute, verwandelt zu werden. Es verwandelt sich aber nicht nur eine Sichtweise, die ein Mensch bisher vertreten hat, sondern zugleich seine Haltung im Sein. Selbst-Verwandlung ist Seins-Verwandlung – in diese schlicht wirkende Formel kann der vor uns liegende Gedanke gefasst werden. Die Gegenüberstellung von «Gelichtetem» und «Sichverbergendem» in den zitierten Zeilen deutet auf die Erkenntnis der Möglichkeit des Möglichen, die gerade angesprochen wurde. Gelichtet ist die Struktur des Seins als in der Zeit und im Raum vorfindliches Werden-Können; sichverbergend bleibt das Mögliche, das seine Möglichkeiten erfüllt hat. In diesem Gedanken drückt sich der vielleicht deutlichste existentielle Bezug in Heideggers Denken aus. Der Blick in die Struktur des Seins wird freigegeben und im selben Moment dadurch geborgen, dass er dieses Sein niemals auf ein So-und-nicht-Anders wird festlegen können. Das ant-
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Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 197. Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 197.
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agonistische Geschehen des Sich-Verbergens im Sich-Erschließen kennzeichnet auch ein Verständnis von Offenbarung, das als religiös bezeichnet werden kann. Ein Blick auf Franz Rosenzweigs Deutung bietet sich an dieser Stelle an. Denn sie vereint in ganz ähnlicher Weise das Bild des Sich-zu-erkennen-Gebens mit der Überzeugung, dass ein solches Erkennen, das er als Erfahrung bezeichnet, stets mit einer Verwandlung des Erfahrenden einhergeht. Entscheidend ist im Begriff der Offenbarung, wie er im Stern der Erlösung entfaltet wird, dass es sich nicht um ein eindimensionales Sich-Zeigen handelt, sondern um ein WechselWirken von Gott und Mensch. Dieser ist als der Erfahrende unverzichtbar. Nur in seinem Verstehen ereignet sich das Offenbar-Werden, das Rosenzweig tatsächlich als Offenbar-Werden, also als Verwandlung im Sein, die einem neuen Werden gleichkommt, auslegt. Auf diesen Gedanken wurde bereits hingewiesen, als sein Begriff des Umfärbens zur Sprache kam. Umfärben ist dieses Verwandeln, das dem Sein in der Sicht des Menschen geschieht: «[…] es [das Offenbarwerden] darf nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, nichts als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens durch ein lautes Wort, einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick.»148 Rosenzweig legt großen Wert auf den Nachweis, dass sich nicht die göttliche Schöpfermacht zeigt, worin er ein solitäres Sich-Zeigen sehen würde. Ihn interessiert vor allem das, was sich im Augenblick des Offenbar-Werdens ereignet, wenn der Mensch sein Sein-zum-Werden begreift. Um diesen Gedankengang nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, die entsprechende Passage des Textes weitgehend ungekürzt zu zitieren: Um die ‹Tatsächlichkeit› Gottes, die in seiner Verborgenheit verloren zu gehen drohte, wiederzugewinnen, darf es nicht bleiben bei seinem ersten Offenbarwerden in einer Unendlichkeit voll schöpferischer Taten; da drohte Gott sich wieder hinter der Unendlichkeit der Schöpfung zu verlieren; […]. Es muß aus dem Dunkel seiner Verborgenheit ein andres hervorgehen als die bloße Schöpfermacht, etwas, worin die breite Unendlichkeit der schöpferischen Machttaten im Sichtbaren festgehalten wird, […].149
Vielleicht fällt es schwer, den Bezug dieser Zeilen zur vorliegenden Thematik auszumachen. Ausgangspunkt der zuletzt angestellten Überlegung war Martin Heideggers Deutung der Erfahrung, die den Menschen «angeht», indem sie ihn in seinem Selbst- und Seins-Verständnis verwandelt. Auch wenn in seinen Vorträgen zur Sprache der Begriff der Existenz nicht zur Sprache kommt, ist der Gedanke der Verwandlung durch Erfahrung doch für das Verständnis der existentiellen Bewegung – der existentiellen Be-wëgung, wie es auch heißen könnte, relevant. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Mensch aus Fremdbestimmtheit und Sachbezügen löst und zu einer unverstellten Sicht auf das Sein als 148 149
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 179. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 179.
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
Möglichkeit des Möglichen gelangt. Im Konkreten bedeutet diese Loslösung für ihn die Voraussetzung jener Entwürfe des Seins in die Zukunft, die auch gemeint sind, wenn im vorliegenden Kontext von Existenz gesprochen wird. In den frühen Konzeptionen existenzphilosophischen Denkens, wie wir sie in den Schriften von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger ausmachen können, ist die angesprochene Verwandlung des Menschen zugleich eine Verwandlung des SeinsVerständnisses, hat also explizit Bezug auch zum Sein der Welt. Der religiösen Verwurzelung seines Denkens gemäß tritt dieser Aspekt in Rosenzweigs Aussagen offensichtlicher hervor. Denn die Erfahrung, die die Sichtweise des Menschen verwandelt, besteht im Gefühl des Geliebt-Werdens durch Gott. Um nicht allzu weit von der Argumentationslinie abzuweichen, sei dazu nur so viel ergänzt: Das, was sich zwischen dem einzelnen Menschen und Gott ereignet, interessiert Rosenzweig zwar auch in psychologischer Hinsicht, vor allem jedoch als Beleg dialogischen Sprachgeschehens. Gott wendet sich im Liebesgebot, dem «Du sollst lieben», an den Menschen, der ihm mit dem «Ich bin dein» antwortet.150 Die Begrifflichkeit, die Martin Heidegger verwendet, wenn er vom Ruf und dem Angehen-Lassen, von der Erfahrung, die uns verwandelt, spricht, entspricht letztlich einem Gedanken, den auch Franz Rosenzweig parallel zu seinen Aussagen über die religiösen Vorstellungen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung entwickelt: Sein geht uns an. Es kann immer wieder darauf verwiesen werden, dass Rosenzweig Schöpfung und Sein analog setzt. Offenbarung kann damit, aller religiösen Inhalte eingedenk, als Selbst-Verständnis im Sein begriffen werden. Dieses geht mit der erwähnten Verwandlung im Menschen einher. Falsch wäre es, hier eine kausale Relation zu vermuten, wonach der Mensch verwandelt wird und infolgedessen die Beschaffenheit des Seins als Struktur des Möglichen erkennt. Beides sind Komponenten ein und desselben Prozesses, der, um es noch einmal zu erwähnen, als existentielles Verstehen oder verstehendes Existieren bezeichnet werden kann. Anders als Franz Rosenzweig kann sich Martin Heidegger nicht auf den Erklärungsgrund des Glaubens berufen, um Aussagen über das Sein treffen zu können. Doch auch er geht davon aus, dass es uns verwandelt, eine Erfahrung mit etwas zu machen. Die Erfahrung, die er beschreibt, machen wir mit der Sprache. «Dies nun jedoch, mit der Sprache eine Erfahrung machen, ist etwas anderes als sich Kenntnisse über die Sprache beschaffen.»151 Die Konstruktion, in der das Sich-angehen-Lassen einem Sich-auf«Indem die Seele vor Gottes Antlitz bekennt und damit Gottes Sein bekennt und bezeugt, gewinnt auch Gott, der offenbare Gott, erst Sein: ‹wenn ihr mich bekennt, so bin ich›. Was antwortet nun Gott diesem ihn bekennenden ‹Ich bin dein› der geliebten Seele? […] er greift zurück ins Vergangene und weist sich aus als der Urheber und Eröffner dieses ganzen Zwiegesprächs zwischen ihm und der Seele: ‹Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein›.» Der Stern der Erlösung, II,II, S. 203 f. 151 Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 160. 150
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gerufen-Fühlen gleicht, ist in seinen Schriften jedoch dieselbe wie im Stern der Erlösung. In seinem Vortrag mit dem Titel Die Sprache, den er 1950 auf der Bühlerhöhe zum Gedächtnis an den früh verstorbenen Dichter Max Kommerell hielt, wird das besonders deutlich. Nicht aus der Ferne göttlichen Ursprungs, sondern aus dem Gedicht empfindet sich der Mensch gerufen, seinen Bezug zum Sein zu reflektieren, nicht im Sinne eines Erkennen-Wollens, sondern als Sich-Einfinden in die Erfahrung mit der Sprache. Für Heidegger ist es selbstverständlich, dieses in räumlicher Metaphorik zu denken, da Sein kein über den Dingen der Welt schwebendes Abstraktum ist, das nur rational zu verstehen wäre, sondern ein Einfinden am Ort des Seins, der zugleich der Raum des Daseins ist: In solche Ankunft heißt der nennende Ruf kommen. Das Heißen ist Einladen. Es lädt die Dinge ein, daß sie als Dinge die Menschen angehen. Der Schneefall bringt die Menschen unter den in die Nacht verdämmernden Himmel. […] Die genannten Dinge versammeln, also gerufen, bei sich Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen. Die Vier sind ein ursprünglich-einiges Zueinander. Die Dinge lassen das Geviert der Vier bei sich verweilen.152
Was Heidegger hier ausspricht, ist von höchster ethischer Bedeutung, wie später zu zeigen sein wird. Die Sprache des Gedichts, so könnte in leichter Abwandlung des Gesagten auch formuliert werden, lädt den Menschen ein, auf dass er sich von den Dingen angehen lasse. Dieser Ausdruck leitet den markantesten Gegenentwurf zu einer Auffassung vom Denken ein, das sich den Dingen um eines Zweckes willen zuwendet. Sofort zeigt sich jedoch, wie schwierig ein reines, zweckfreies Denken zu erreichen ist. Denn selbst in der besten Absicht, Seiendes nicht zielorientiert auf seinen Nutzen zu befragen, scheint doch das fatale um zu hindurch. Sich der Wert abschätzenden Haltung zu enthalten, erfolgt, um das Seiende als solches erfassen zu können. Schonend zu denken, erfolgt, um dem Seyn Raum zu geben. Gibt es einen Ausweg aus dieser Falle des Sprachlichen? Die Bilder vom Ruf und der Ansprache erweisen sich hier als die einzigen Mittel. Denn der Ruf ergeht an den Menschen, ohne dass dieser ihn gewollt hat. Und er hat einen erstaunlichen Effekt: Er bringt zum Schweigen. In einer kaum überschaubaren Fülle von Erwähnungen findet sich der Ausdruck «das Geläut der Stille». Dieses, so ist zu hören, «ist nichts Menschliches. Wohl dagegen ist das Menschliche in seinem Wesen sprachlich.»153 Erinnert diese Sichtweise nicht überraschend klar an Franz Rosenzweigs Konzeption von menschlicher und lautloser Sprache? Ihr Sinn bestand darin, dass sich im Sprechen des Menschen mit unbezweifelbarer Sicherheit die Entsprechung zur Struktur des Seins erkennen
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Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 22. Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 30.
Annäherungen an die Sprache – Martin Heidegger
ließ. Heidegger schreibt: «Die Weise, nach der die Sterblichen, […] ihrerseits sprechen, ist: das Entsprechen.»154 Im Sinne beider Denker kann dieses als ein Korrespondieren verstanden werden, in dem sich zwei Weisen, Sprache zu denken, verbinden. Dass dieses selbst in Anbetracht der Unterschiedlichkeit beider vorstellbar ist, erklärt sich durch die Überzeugung, dass es sich in beiden Fällen um Sprachlichkeit handelt. Ihre Differenz liegt in der Klanglosigkeit auf der einen, der Aussagbarkeit auf der anderen Seite. Klanglos ist das Struktur-Denken des Seins beziehungsweise der Schöpfung, aussagbar dessen Funktions-Denken. Wichtig ist, dass sich beide formal, nicht grundsätzlich unterscheiden. Nur so können Rosenzweig und Heidegger davon ausgehen, dass ein Entsprechen als Verlautbarung möglich ist. Es ist hier nicht der Ort um zu entscheiden, in welchem Kontext ein solcher Gedanke die größere Wirkung entfaltet. Im religiösen Zusammenhang minimiert sich so die Distanz, die Schöpfung als Akt und Schöpfung als Geschaffen-Sein trennt, fast vollständig. Walter Benjamin fand hierfür eine prägnante Formulierung: «Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.»155 In ontologischem Zusammenhang, der, wie Rosenzweig zeigt, dem religiösen durchaus ähnelt, entsteht die Möglichkeit, Sein als innerweltliches Geschehen zu begreifen, worin es sich dem Gedanken der Schöpfung annähert. Der existentielle Ansatz beider Denker wird daran sichtbar, dass sie selbst das Entsprechen, also das Ausdruck-Werden einer vorgängig gedachten Struktur des Seins, nicht als abgeschlossen und in bestehendem Regelwerk fixiert begreifen. Beide betonen in den je eigenen Argumentationsfiguren ihrer Texte und Vorträge den immerwährenden Charakter des Entsprechens, das situativ und momenthaft immer wieder neu zu formulieren ist. Besonders gut erkennbar wird dieser Gedanke, wenn Franz Rosenzweig darauf hinweist, dass selbst der Geltungsbezug der Kategorien stets von Neuem zu setzen sei. In einer Notiz aus der Zeit um 1948/49 schreibt Heidegger: «Für das vorbauende Denken ist die Sprache nicht mehr nur ein Vehikel, um darin und damit das Mannigfaltige des Wirklichen und der Menschentümer innerhalb seiner zu erfahren (d. h. zur Kenntnis zu bringen), sondern die Sprache ist das noch ungesprochene Gespräch der Welt, […].»156 Hier klingt erneut das Motiv jener Erfahrung an, von der ein Mensch sich einnehmen lässt. Den fordernden und letztlich auch unterweisenden Anspruch, der aus einer solchen Erfahrung ergeht, insofern sie zu denken gibt, akzentuiert Heidegger durch das Bild des Rufes, dem sich schwerlich zu entziehen vermag, wer ihn vernahm. Denn allein das Hören bricht in den unreflektierten Sprachgebrauch ein und setzt diesen für Augenblicke – und vielleicht eines Tages sogar für längere Zeit – aus. Die implizit ethische Konnotation, die sowohl er als Franz Rosenzweig mit dem Hören als dem 154 155 156
Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 32. Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 18. Anmerkungen VI–IX, VI, S. 11.
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Empfangen einer Forderung verbindet, wird im folgenden Kapitel zu betrachten sein. Die ethische Dimension des Sprach-Denkens basiert auf der Überzeugung beider, dass sie ein permanent gültiger Ermöglichungsrahmen existentieller Bewegung ist. Insofern kollidieren hier zwei Vorstellungen, die an dem Verständnis von Sprache hängen, in fast unverminderter Stärke: auf der einen Seite die in Sprachtheorien verbreitete Gewissheit, dass ein regelgerechter Sprachgebrauch als Form wahrer Aussagen über die Wirklichkeit zu betrachten ist, auf der anderen Seite die Überzeugung, dass Sprache in Entsprechung zu einer als vorgängig zu denkenden Struktur des Seins zu verstehen ist. Da das Dasein diese Struktur nur in Abschattungen spiegelt, wird das Ent-sprechen als fortgesetzter Prozess der Annäherung gedeutet. Zumindest mit Blick auf Rosenzweigs Denken kann festgehalten werden, dass die logische Struktur der Welt, auf die sich zeitgenössische Sprachtheoretiker berufen, durch unsere Sprache nur in Entsprechung abgebildet werden kann. Zugleich gewinnt diese durch ihre lautlos-vorgängige Form, die auch Martin Heidegger in Anspruch nimmt, ihre formale Ausrichtung wie auch ihre funktionale Legitimation. Es erübrigt sich vor diesem Hintergrund, nach der Gültigkeit sprachbildender Regeln zu fragen, da diese immer schon logisch begründet sind. Für Rosenzweig und für Heidegger bedeutet das Entsprechen als Verlautbarung des Denkbaren jenes Wirken des Menschen, durch das er in größtem Maße wirklich wird. Denn er entspricht nicht nur stetig der Möglichkeit, die ihn als Menschen auszeichnet, sondern erwirkt auch die Gestaltung der Welt im Sinne verwandelten Seins. Es verwundert nicht, dass beide auf die Bildlichkeit des Hauses zurückgreifen, um Verortung im gestalteten Sein auszudrücken. Eine Eintragung Heideggers in sein Denktagebuch, bereits in kürzerer Form zitiert, scheint all diese Aspekte zusammenzufassen und für die weitere Betrachtung vorzubereiten: Wichtiger als alle Ethik ist das [ethos]. Wesentlicher als das [ethos] ist, sein Wesen als den sterblichen Aufenthalt im Ver-hältnis […] zu bedenken. Aber dieses Bedenken ist kein Vorstellen, kein Zur-Kenntnisnehmen eines früheren Begriffes und seiner Auslegung. Dieses Bedenken ist Denken im Sinne des Entsprechens. […] Da-sein: Das Da, die Lichtung des Anwesens aus-stehen. Das eksistential gedachte Da-sein birgt die Gewähr der Wahrheit des Anwesens für den Menschen.157
Dadurch, dass Rosenzweig und Heidegger in nahezu gleicher Weise von einem Entsprechen ausgehen, in dem ein Bezug des aktuell Ausgesagten zu einem als verbindlich gesetzten Grund der Aussagbarkeit hergestellt wird, können beide Sprache als sinn-vermittelndes Geschehen deuten. Noch einmal ist daran zu erinnern, dass Rosenzweig die Bedeutung von Schöpfung und Sein synonym bestimmt, insofern der Begriff des Seins eben nicht nur das Faktum benennt, dass etwas ist, sondern diesem zugleich eine den Menschen angehende Bedeutung zukommt. Vom Sein zu sprechen, impliziert daher schon immer eine Forderungssi157
Anmerkungen VI–IX, IX, S. 345.
Der Form vertrauen – Heinrich Barth
tuation, in der sich der Mensch vorfindet. Der Appell, der aus dieser Situation, die als existentiell bezeichnet werden kann, ergeht, besteht darin, dass der Mensch der Natur des Seins entspricht. Hier verschmelzen die beiden Bedeutungen des Ausdrucks Entsprechen. Zum einen realisiert sich in der Sprache das verbale Entsprechen, insofern sie die Analogisierung des vorgängig Denk-Möglichen ist. Zum anderen entspricht der Mensch so der sowohl im Gedanken der Schöpfung als auch in jenem des Seins liegenden Forderung der immerwährenden Fortsetzung. Die Unabgeschlossenheit der Schöpfung, auf deren Betonung Rosenzweig so großen Wert legt, weist sein Denken als genuin existenzphilosophisch aus. Erst durch das Gestalten des Geschaffenen wird Schöpfung nach und nach, was sie schon immer war: fortgesetztes Werden. Exakt diese Auffassung trifft auch auf seine Vorstellung vom Sein zu. Auch bei ihm handelt es sich nicht um ein bloßes Vorhanden-Sein, sondern um den Grund der Ermöglichung des Werdens. Diese Auffassung vertritt auch Martin Heidegger. Es könnte vor diesem Hintergrund gefragt werden, ob sein Denken mit der Titulierung als ontologisch überhaupt zutreffend charakterisiert wird? Zur Entscheidung hierüber müsste überlegt werden, ob der philosophische Begriff der Ontologie den Aspekt des dynamischen Entstehens, das Sein erst zu demjenigen werden lässt, das es sein kann, beinhaltet. Heideggers frühe Auskunft in Sein und Zeit deutet darauf hin, dass er selbst hiervon nicht ausging. Der Hinweis darauf, dass die Frage nach dem Sein als Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen sei, bestätigt dieses. Werden Schöpfung und Sein als Voraussetzungen des Werdens und nicht bereits als beständige Vorhandenheit verstanden, tritt der beiden inhärierende Forderungscharakter klar in den Vordergrund. Für Heidegger ist es irrelevant, warum Sein ist, und selbst Rosenzweig schenkt dem Prozess der Erschaffung auffällig geringe Beachtung. Beide setzen mit ihren Ausführungen in dem Moment ein, in dem sich dem Menschen erschließt, dass er in Anspruch Genommener ist. Denn er setzt das Sein fort, nicht in seiner ontologischen, sondern in seiner existentiellen Struktur. Diese wird als beständiges Fort-Setzen der Möglichkeit des Vorfindlichen erkennbar.
Der Form vertrauen – Heinrich Barth Diese Auffassung vertritt, seiner spezifischen Konzeption von Existenzphilosophie gemäß, auch Heinrich Barth. Vielleicht überrascht dieses vorweggenommene Ergebnis der folgenden kurzen Betrachtung. Der erste vergleichende Blick, der der Frage nach der Diskursfähigkeit des existentiellen Denkens galt, hat gezeigt, dass sich Barth sehr viel stärker als Rosenzweig und Heidegger auf die Terminologie der Philosophie verlässt. Am deutlichsten wurde dieses bei seinem Gebrauch des Begriffes vom Transzendentalen. Hinzu kam, dass er sich in teilweise drastischen Formulierungen von bestehenden Formen der Existenzphilosophie
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distanziert. Zugleich ist jedoch auch daran zu erinnern, wie entschieden Barth sich gegen die traditionelle Subjekt-Objekt-Konstruktion als Grundlage seiner Vorstellung von Erkenntnis ausspricht, die er als Sich-Erschließen von etwas begreift. Es ist an seine partielle Zurückweisung von «Theorie» zu denken, da diese seiner Auffassung nach ungeeignet ist, das Besondere der existentiellen Erkenntnis zu fixieren:158 Existenz existiert aber nicht nur in ihrer Beziehung zur Welt, sondern vor allem auch in ihrer Beziehung zum Menschen – zu sich selbst und zum Andern. Bedeutet auch dies eine Erkenntnisbeziehung? Oder haben wir die Beziehung zur menschlichen Umwelt zu verstehen als ein bloßes Gegenüber, als eine neutrale Gegenstellung, die dadurch entsteht, daß sich zwischen mir und dem Mitmenschen ein Nichts einschiebt? […] Wir reden von einem ‹Verstehen›, das des Sinnes der Existenz meiner selbst und des Andern inne zu werden vermag. ‹Verstehen› ist ein existentiell beteiligtes Erkennen, sofern in ihm das Selbst und der Andere in seinem existentiellen Anliegen zum eigenen Anliegen wird.159
Spätestens jetzt wird sichtbar, warum die Zusammenstellung der drei Denker im vorliegenden Kontext gerechtfertigt ist. Aller Differenz im formalen Sinne zum Trotz besteht eine starke Linie der Kongruenz, die die Schriften von Rosenzweig, Heidegger und Barth verbindet: «Es liegt aber auf der Hand, daß dieses ‹Angehen› und ‹Angelegensein› in den Horizont der existenzphilosophischen Erkenntnis mit allem Nachdruck einbezogen werden muß.»160 Eine Verwendung desselben Ausdrucks sollte jedoch nicht über eine eventuell unterschiedliche Akzentuierung im Detail hinwegtäuschen. So lehnt Heinrich Barth in seiner weit angelegten Konzeption einer Existenzphilosophie ein Sich-angehen-Lassen, das vom Sein ausgeht, ab.161 Ohne den Namen Heideggers zu erwähnen, ist doch offensichtlich, dass er sich vor allem gegen dessen Auffassung wendet. Es kann allerdings gefragt werden, ob er damit dessen Verständnis des Seins wirklich trifft oder eher von einer traditionellen Sicht der Ontologie ausgeht? Aus Heideggers Warte würde wohl kaum etwas dagegensprechen, Barths Deutung des Verstehens als «existentiell beteiligtes Erkennen» zuzustimmen, zumindest so lange nicht, bis dieser den Begriff des Interesses einführt. Handelt es sich dabei lediglich um eine begriffliche Variante des Sich-angehen-Lassens oder um eine Facette der Bedeutung, die kritisch zu reflektieren ist? Barth schreibt:
158 «Mag die ‹Theorie› noch so tiefe Möglichkeiten und Wirklichkeiten in sich schließen, so ist es doch nicht möglich, auch die Existenz als Theorie oder als Sache der Theorie zu verstehen.» Erkenntnis der Existenz, S. 131. 159 Erkenntnis der Existenz, S. 131. 160 Erkenntnis der Existenz, S. 132. 161 «Es wird aber nicht möglich sein, das Angehen, das Anliegen, das Interesse als Extrapolation des reinen Seins einleuchtend zu machen […].» Erkenntnis der Existenz, S. 133.
Der Form vertrauen – Heinrich Barth
Es [das Interesse] setzt voraus, daß etwas existentiell auf dem Spiele steht. […] Wir lassen etwas uns ‹angehen› in der übergreifenden Ausrichtung auf die Möglichkeit einer ‹vorzüglichen› Aktualisierung der Existenz, dies heißt aber: einer aktuellen Erfüllung der Existenz, die zufolge ihres – wahren oder vermeintlichen Mehrgehaltes an existentieller Bedeutung andern Möglichkeiten der Existenz vorgezogen wird.162
Hier hält in der Tat ein bisher kaum vorgeschlagener Gedanke Einzug in die Vorstellung des Angehens. Denn dieses ereignet sich nicht, wenn wir uns angehen lassen, und damit einer Bereitschaft folgen, die vielleicht am ehesten als präreflexiv bezeichnet werden könnte. In Barths Vorstellung hängt das Angehen-Lassen von der Entscheidung des Menschen ab, die er in Abschätzung «bestmöglicher» Bedeutung trifft.163 Die Begründung, wie eine solche Entscheidung getroffen werden kann, führt Barth über den Gedanken des Transzendentalen, das als Prinzip der Vernunft deren Ausrichtung ermöglicht. Mit dem Gedanken einer bestmöglichen Entscheidung sind die Überlegungen längst im Bereich ethischer Erwägungen angelangt. Denn das Bedeutung erwägende Abschätzen, wie es hier der Entscheidungsfindung zugrunde liegt, stellt eine Grundkompetenz ethischen Verhaltens dar. Das Abwägen, von dem hier die Rede ist, lässt sich zwar wohl durch den Begriff des Interesses näher umschreiben, nicht mehr hingegen durch den Begriff des Angehens, wenn er in Heideggers Sinne verwendet wird. In dessen Interpretation setzt das Angehen gerade die zielführende Entscheidungskompetenz des Menschen aus, womit nach Barths Verständnis allerdings auch jener Filter beseitigt würde, der es erlaubt, sinn-versprechende Entscheidungen zu präferieren. Wie stark der Begriff des Interesses sich im Gefüge ethischer Konzeptionen auswirkt, wird spätestens im Denken des Emmanuel Lévinas sichtbar. Auch er plädiert, dem Heideggerʼschen Gedanken nicht unähnlich, für eine Haltung des Desinteresses, in der die Wertungspriorität des Subjekts auf ein Minimum reduzieren werden kann. Auf diese Auffassung wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Denn im Moment geht es noch gar nicht um die Erörterung existentieller Ethik, sondern um die Frage, wie Heinrich Barth Sprache deutet. Schnell zeigt sich jedoch, dass der Versuch, sie zu beantworten und eventuelle ethische Implikationen für einen späteren konzeptuellen Rahmen aufzusparen, scheitert. Eine Erörterung der Sprache, die im Umfang derjenigen bei Rosenzweig und Heidegger ähnelt, findet sich in der Erkenntnis der Existenz nicht. In aller Kürze erklärt Barth, dass Sprache zwar auch ein Zeichensystem sei, vor allem aber jene Form, in der der Mensch «im Vollzuge seiner Erkenntnis in die Erscheinung» trete.164 Erkenntnis der Existenz, S. 133. «Nur in der Ausrichtung auf den Vollzug der bestmöglichen existentiellen Entscheidung hat ein jedes Sich-angehen-Lassen, ein jedes Interesse einen Sinn, der zur Existenz in einer relevanten Beziehung steht.» Erkenntnis der Existenz, S. 133. 164 Erkenntnis der Existenz, S. 388. 162 163
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Existenz ist also sprachlich vermitteltes Erkennen oder, wie es bei Barth heißt, «Verstehen».165 Der Begriff des Verstehens wird für ihn vor dem Hintergrund des Gedankens menschlicher Koexistenz relevant. Ausgangspunkt seiner Darlegungen ist die Frage, worin die «Begegnung mit der menschlichen Umwelt» liegt.166 Wird mit Bezug zur Welt vom Erkennen gesprochen, so ist der Begriff des Verstehens der Relation zum anderen Menschen vorbehalten. Diese Relation kennzeichnet Barth als «Begegnung», die ihrem Wesen nach sprachlich vermittelt stattfindet.167 Deutlich hebt sich diese Sichtweise vom Aufzeigen eines bloßen Mit-Seins ab, wie es Heidegger in der fundamentalontologischen Skizze in Sein und Zeit präsentierte. Anders als es sich bisher gezeigt hat, klammert Barth die mitteilende, Informationen austauschende Funktion der Sprache nicht komplett aus seiner Betrachtung aus. Ja mehr noch, er betrachtet sie sogar als Voraussetzung der Möglichkeit, «den Mitteilenden als einen Menschen [zu erfahren], dem eine Kenntnis, und damit eine Erkenntnis, zu eigen ist.»168 Weit scheint Heideggers Auffassung in die Ferne gerückt zu sein, wonach nur die Dichtung Aufschluss über das Wesen der Sprache geben kann. Der Dichtende tritt in dieser Sicht fast vollständig hinter dem Wort zurück – eine inakzeptable Vorstellung für Heinrich Barth, denn: «In einer Mitteilung lerne ich nicht nur ‹etwas›, sondern auch ‹jemanden› […] kennen.»169 Sachinformation und existentielle Begegnung schließen sich nach dieser Auffassung nicht aus. Mit der Betonung der interpersonellen Dimension von Sprache nimmt Barth eine wichtige Akzentverschiebung im Vergleich zu dem bisher skizzierten Verständnis vor. Denn das Verstehen der existentiellen Bedeutung von Sprache erschließt sich nur über das Verstehen existentiell erkennbarer Menschen. Die Situation, in der dieses stattfinden kann, ist die Begegnung. «Es sind durch Berufung ausgezeichnete Menschen, die sich begegnen.»170 Die Form der Begegnung erscheint in der kontrastierenden Bezugnahme des «Ich und Du». Mit diesem Wortpaar greift Barth eine gedankliche Bewegung auf, die sich in den 1920er Jahren fast sprunghaft entfaltete. An deren Anfang steht Ferdinand Ebners 1918/19 entstandene Schrift Das Wort und die geistigen Realitäten, in der bereits in ahnungsvollem Weitblick jener vermittelnde Aspekt innerhalb der Beziehung herausgestellt wird, den knapp fünfzig Jahre später Heinrich Barth aufgreift: «Das Wort vermittelt geistig zwischen Mensch und Mensch – im letzten Grunde jedoch zwi«Das ‹Wort› ist zu verstehen als eine Möglichkeit des In-die-Erscheinung-Tretens des Menschen, als dessen ausgezeichnete Möglichkeit.» Erkenntnis der Existenz, S. 386. 166 Erkenntnis der Existenz, S. 131. 167 «Begegnung unterscheidet sich aber von irgendeinem Zusammentreffen durch das Moment der wechselseitigen Erkenntnis.» Erkenntnis der Existenz, S. 132. 168 Erkenntnis der Existenz, S. 387. 169 Erkenntnis der Existenz, S. 388. 170 Erkenntnis der Existenz, S. 364. 165
Der Form vertrauen – Heinrich Barth
schen ihm und Gott, zwischen ihm und dem geistigen Grund seiner Existenz, bis zu dem der Verstand nicht hinunterreicht.»171 Ebenfalls wie eine Antizipation Barthʼscher Auslegung klingt es, wenn Ebner das Verhältnis vom Ich zu einem Du nicht als bloß kommunikatives Wechselspiel betrachtet, sondern die Bedeutung hervorhebt, die aus der Bezugnahme auf ein Du für die Selbsterfahrung des Ich entspringt. Denn diese Bezugnahme kann seiner Überzeugung nach nicht, besonders dann nicht, wenn sie dem göttlichen Gegenüber gilt, ohne den «Einsatz der Persönlichkeit» erfolgen: «Aber eben dieser ‹Einsatz› der Persönlichkeit ist das ‹Einsetzen› des geistigen Lebens im Menschen und seine Rettung: das Ich setzt sich in ein Verhältnis zum Du, durch das es erst wirklich existiert.»172 Der Einfluss, den das dialogische Denken auf die Entwicklung der Existenzphilosophie genommen hat, ist bislang noch nicht im Detail untersucht worden. Kein Wunder, so könnte argumentiert werden, stellt das Werk Ferdinand Ebners doch eine Randnotiz zum philosophischen Diskurs dar, der im Zuge einer Prüfung zwecks Veröffentlichung gar pathologische Züge attestiert wurden. Würde die Spur des Dialogischen damit verschwinden, noch bevor sie recht erkennbar wurde, verleiht ihr Hermann Cohen in seinem 1919 erschienen systematischen Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums erneut Tiefe und Kontur. Zu Beginn seiner weit ausholenden Darstellung thematisiert Cohen den Konflikt zwischen Religion und philosophischer Ethik, wenn es um die Frage geht, an wen deren Weisungen sich richten. Hier heißt es: Die Ethik kommt bei ihrem methodischen Gegensatze zu allem Sinnlichen und allem Empirischen am Menschen zu der gewaltigen Konsequenz, daß sie das Ich des Menschen der Individualität überhaupt zuvörderst entreißt, um diese ihm von einem höheren Gipfelpunkte aus in nicht nur erhöhter, sondern auch geläuterter Form wiederzugeben. Das Ich des Menschen wird in ihr zum Ich der Menschheit.173
Es liegt auf der Hand, dass sich mit exakt dieser Feststellung auch jede Ethik der Existenz auseinanderzusetzen hat. Denn ist diese Ausdruck individuell gewählten Seins, müssten sie nach Cohens Diagnose ethische Aussagen grundsätzlich verfehlen. Franz Rosenzweig, dessen tiefe Bewunderung für den Mentor und Lehrer Hermann Cohen durch seine verschiedenen kleineren Schriften belegt ist, führt genau diesen Gedanken in seinem Stern der Erlösung an. Cohen fragt nach einer Form des Menschhaften, die nicht mit dem Ich identisch, doch auch nicht reine Idee ist. Im Du meint er, diese Form zu finden: Sollte nun aber die Frage entstehen, welcher besonderer Wert dieser Anrede, dieser Auszeichnung des Du zukommt, durch welche die Identität der Menschheit bedroht scheinen
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Das Wort und die geistigen Realitäten, Fragment 5, S. 58. Das Wort und die geistigen Realitäten, Fragment 5, S. 59. Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Einleitung, S. 15.
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könnte, so gilt es nunmehr, diesen eigenen Beitrag für den Begriff des menschlichen Individuums zu erforschen, den die Entdeckung des Du zur Enthüllung bringt.174
Zwei längere Passagen aus der Religion der Vernunft zu zitieren, bot sich an, da sie für die weiteren Überlegungen Entscheidendes ankündigen. Hermann Cohen wird für gewöhnlich nicht als Repräsentant der Existenzphilosophie, allenfalls als einer ihrer Wegbereiter, angesehen. Doch seine Aussagen zum Ringen um die Eigenheit des Individuellen im ethischen Kontext treffen die Problematik, die sich noch in ihrer ganzen Dimension zeigen wird, exakt. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass er das Du in der Funktion einführt, dem Ich seine Individualität zurückzugeben, nachdem sie ihm von philosophischer Ethik abgesprochen wurde. Denn mit dem Du kann das Ich Mitleid empfinden und sich dadurch wieder erlauben, sich selbst – als ethisch kompetent – und als dieses Einzelne zu begreifen. Im Vergleich zu dieser philosophisch höchst brisanten Gedankenführung, deren Nachwirken in Franz Rosenzweigs Schrift sofort erkennbar wird, erscheint der wohl bekannteste Text des dialogischen Denkens, Martin Bubers 1923 erschienenes Ich und Du, vornehmlich religiös motiviert. Von der Sprengkraft, die Cohens Konzeption beinhaltet, indem sie behauptet, dass Ethik den Einzelnen nicht moralisch motivieren könne, ist vier Jahre später kaum noch etwas zu spüren. Und wie sieht es im Denken Heinrich Barths aus? Dass in der existenzphilosophischen Literatur «viel zu viel vom ‹Dialoge› als solchem» die Rede sei,175 deutet bereits eine gewisse Skepsis gegenüber dem Ereignismoment an, das in der Gegenüberstellung von Ich und Du wirksam wird. Ob Barth mit seiner Feststellung an die Aussagen von Karl Jaspers denkt, sei dahingestellt. Warum greift er aber überhaupt auf den Gedanken des Dialogischen zurück, bei dem grundsätzlich gefragt werden könnte, ob er zwangsläufig mit jenem des Ich und Du identisch ist? Es ist der thematische Kontext der Koexistenz, die Barth keinesfalls als ein Nebeneinander von Menschen, sondern als eine Möglichkeit erkennender Bezugnahme verstanden wissen will. Es ist ein Verdienst Heinrich Barths, dass er hier die grundsätzliche Problematik existentiellen Denkens aufgreift, der sonst relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn durch das Hervorheben des Bildes vom Einzelnen wird eine Erklärung der Art und Weise erforderlich, ob und wie sich die vielen Einzelnen jemals zueinander verhalten und zu einem gemeinschaftlichen Gefüge zusammenschließen. Eine der großen Leistungen der Existenzphilosophie in ihrer Phase der 1920er und 1930er Jahre bestand schließlich darin, Wege aufzuzeigen, wie sich der einzelne Mensch einer Gemeinschaft entwinden kann, um eigentlich er selbst werden zu können. Fast unwidersprochen herrschte die Überzeugung vor, dass diese Selbstwerdung im Miteinander 174 175
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Einleitung, S. 15. Erkenntnis der Existenz, S. 367.
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einer Gesellschaft nicht möglich sei. Die so aufgerissene Kluft zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, deren Einfluss auf dessen Denken und Entscheiden etwa von Heidegger sogar als Diktatur bezeichnet wurde, kann freilich nicht unvermittelt bestehen bleiben. Es droht andernfalls die Gefahr, dass Existenzphilosophie den Anschein erweckt, vornehmlich Strategien der Selbstfindung zu formulieren. In dem durch zwei Weltkriege und massive gesellschaftliche und technische Veränderungen aufgeladenen Bewusstsein der Zeit wäre dieser Ertrag zu gering und, so widersinnig es auch klingt, existentiell zu unbedeutend gewesen. Um es noch einmal zu betonen: Die Fokussierung des einzelnen Menschen, der nicht mehr als Repräsentant einer Gattung, sondern als Person mit individuellen Erfahrungen und Ängsten betrachtet wird, ist eine einzigartige Wendung innerhalb der Philosophiegeschichte und kann nicht genug wergeschätzt werden. Allein es kann bei dieser Entdeckung des Einzelnen nicht bleiben. Die Vorstellung einer Gemeinschaft von Einzelnen mag ein reizvoller Gedanke sein, der jedoch nicht einmal in seiner phantastischsten Perspektive die Frage unberührt lassen kann, wie Einzelne sich zu ihresgleichen verhalten. Im Mittelpunkt steht dabei die Überlegung, wie sich Einzelne denn als solche erkennen und sich verstehen können. Diese Problematik greift Heinrich Barth auf. Seine bisherigen Ausführungen galten vor allem dem Prozess der Erkenntnis, in der sich das Denken auf den allein notwendigen Fixpunkt des Transzendentalen, den es in existentieller Entscheidung setzt, ausrichtet. Von dieser Voraussetzung ausgehend, gilt es für Barth zu fragen, wie ein so verstandenes Ich sich einem Du zuwenden kann? Zunächst heißt es: In der vorstehenden Untersuchung hat das ‹Ich› die Bedeutung einer transzendentalen Voraussetzung der Aktualisierung der Erkenntnis gewonnen. Es liegt aber am Tage, daß bei diesem ‹reinen› Ich eine Gegenstellung gegen das Du nicht in Frage kommt. – Im Sinne einer eindeutigen Unterschiedenheit der Beziehungsglieder wird in der Formel ‹Ich und Du› eine Relation von streng existentieller Relevanz in den Blickpunkt gerückt.176
Die spezielle Schwierigkeit, vor der Heinrich Barth steht, wird in diesen Zeilen sichtbar. Einerseits geht er vom erkennenden Ich aus, das im strengsten Sinne gar nicht als Einzelnes betrachtet werden könnte. Denn in der Erfüllung der Möglichkeit der Erkenntnis gleicht eine Ich-Konzeption der anderen. Aus existenzphilosophischer Perspektive wäre eine solche Gleichsetzung jedoch nicht haltbar, da sie letztlich keinen Fortschritt gegenüber der Position bedeuten würde, wie sie etwa im Deutschen Idealismus vertreten wurde. Franz Rosenzweigs Kritik dieser Position ist ausdrucksstarker Beleg der Zurückweisung, die seinem Verständnis nach sogar die gesamte Philosophie seit der Zeit der Vorsokratiker trifft. Welche Kompetenz befähigt dann aber in Barths Deutung das Ich, das Du als Gegenüber zu erkennen. Genau diese Fähigkeit – das Erkennen. Die grundsätzliche Schwie176
Erkenntnis der Existenz, S. 364.
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rigkeit, vor der er steht, ist damit allerdings lediglich verschoben, nicht gelöst worden. Denn die Kompetenz des Ich erfasst am Anderen eben dasselbe Vermögen, das letztlich beide einander gleichstellt. Wird geschaut, wodurch der Einzelne in dieser Darstellung denn überhaupt vereinzelt wird, lässt sich ein Eindruck nicht völlig vermeiden. Da Barths Auskünfte hierüber mehr als spärlich ausfallen, könnte sich die Vermutung aufdrängen, dass er am Einzelnen nur in einer ganz bestimmten Funktion interessiert ist, nämlich als der individuell Entscheidende, der sein Sein als zukünftig setzt. Doch auch hier könnte gefragt werden, ob wirklich jeder als Einzelner entscheidet oder jeder Mensch für sich? Die Ansicht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Heinrich Barth mit seinem Begriff des Einzelnen ein Stück weit hinter die Errungenschaft des früheren existentiellen Denkens zurückfällt – oder besser: zurückgreift, da es ein gezielter Schritt wäre. Die Bedingungen zu erläutern, unter denen das leidende, von der Macht seiner Erfahrung in Beschlag genommene Individuum Aufnahme in den Kanon philosophischer Theoriebildung sucht, steht für ihn nicht im Mittelpunkt. Vielmehr sieht es so aus, als würde er sich diesem Thema vor allem deshalb zuwenden, weil es nun einmal zentraler Bestandteil der Existenzphilosophie ist. Oder verfehlt dieser Eindruck Barths Intention? «Daß das ‹Du› in seiner existentiell gehaltvollen Korrespondenz zum ‹Ich› in einen Brennpunkt der philosophischen Aufmerksamkeit getreten ist, bedeutet ein Erwachen sozialer Verantwortung in der Region eines gereiften Selbstbewußtseins unserer Zeit.»177 Handelt es sich also womöglich wirklich eher um ein Thema, dem sich stellen sollte, wer sich in dieser Zeit philosophisch äußert, als um eine Herzensangelegenheit, wie es sie noch für Hermann Cohen und Franz Rosenzweig war? Darauf könnte die weitere Formulierung deuten: «Wohl ist das ‹Ich und Du› nicht eben als die Formulierung einer philosophischen Position zu verstehen, vielmehr als so etwas wie ein wirkungskräftiges Losungswort, das geeignet ist, die Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken.»178 Diese Richtung scheint jedoch nicht die seine zu sein. Denn jetzt zeichnet sich in der weiteren Darlegung eine erstaunliche Wendung ab. Das Du kann gerade kein gleichrangiges Anderes sein, sondern nur «der Repräsentant jener erdrückenden Übermacht von Menschen, mit denen wir keineswegs auf vertrautem Fuße stehen». Denn das «Du» ist im Grunde nur eine Erscheinung des «Er», also des Menschen schlechthin. «Da es nicht möglich ist, mit ‹ihm› Auge in Auge in Kommunikation zu treten, schwebe ‹ich› in ständiger Gefahr, mir ‹ihn› zum Gegenstande werden zu lassen.» Eine im Kontext existentiellen Denkens ungewöhnliche Überblendung zweier Motivkreise liegt hier vor. Das Bild des Ich und Du, eingeführt, um die Relationsfähigkeit des Ich zum Anderen in der ganzen Breite seiner Möglichkeiten reflektieren zu können, wird von
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Erkenntnis der Existenz, S. 364. Erkenntnis der Existenz, S. 364.
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demjenigen überlagert, das an Jean-Paul Sartres Verständnis gewaltsamer Entfremdung innerhalb menschlicher Beziehungen erinnert. Philosophiehistorisch betrachtet, befindet sich Heinrich Barth an einer interessanten Schnittstelle, an der das existentielle Denken der 1920er Jahre bereits durch die existentialistischen Auffassungen ergänzt und teilweise verdrängt worden ist. Der einzigartige Gewinn der Denkbarkeit des Einzelnen, den die frühen Schriften ausdrückten, wird mittlerweile fast als Bürde betrachtet. Denn jeder Mensch muss als Einzelner die gesamte Last existentieller Verantwortung tragen, indem seine Entscheidungen, die er tagtäglich treffen muss, längst zur Belastung geworden sind. Die wohl bekannteste Formulierung des Existentialismus, wonach der Mensch zur «Freiheit verurteilt» ist, hat hier ihren Ursprung. Auch seit dieser das Denken einer ganzen Generation hypnotisierenden Parole Sartres sind fast zwanzig Jahre vergangen, als sich Heinrich Barth der Frage nach der Relation vom Einzelnem zu den Anderen stellt. Das Losungswort des Ich und Du vermag ihn nicht zu überzeugen,179 solange auf die beiden Personen geschaut wird, die sich in dieser Momentaufnahme gegenüberstehen. Ihn interessiert vielmehr, was sich zwischen beiden abspielt, denn damit verlagert sich die Betrachtung von der Frage nach ihrer Besonderheit zur Frage nach ihrem wechselseitigen Verstehen. Dieses kann er wiederum unter Bezugnahme auf seine generelle Erklärung des Erkennens erläutern. Barth selbst schreibt zum Ich und Du: «In bezug auf den formalen Charakter dieser leitenden Parole dürfen wir uns keine Illusionen machen. Aus dem ‹Ich und Du› können wir nicht entnehmen, welche Menschen es sind und welcher Art sie sein mögen, die in diese Konfrontation gestellt werden.»180 Soll die Rede als jenes Band benannt werden, das die Relation beider ermöglicht, zieht es Barth infrage, ob beide «überhaupt etwas miteinander zu bereden haben». Dass dieser Einwand den Möglichkeiten, die in der Konzeption des Ich und Du liegen, nicht gerecht wird, bedarf wohl keiner Erläuterung. Denn nie ging es in früheren Aussagen dazu um ein Bereden, sondern um eine grundsätzliche Struktur der Bezogenheit. Schließlich heißt es der Erkenntnis der Existenz: Es ist in der Tat die hier und dort wirksame Ausrichtung auf die transzendentale Idee der Erkenntnis, die wir als die unerläßliche Voraussetzung von allem ‹Zusammen› der Menschen ansehen müssen. Der ‹Dialog› in der Koexistenz bedeutet, daß die koexistierenden Menschen für ihr wechselseitiges Verständnis auf transzendental begründete Erkenntnis angewiesen sind – auf Vernunft, Sinn, Logos, die in ihrer wechselseitigen Manifestation «‹Ich und Du› erinnert uns an die ansprechendsten und vielleicht auch an die gehaltvollsten Möglichkeiten der Existenz. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß diese Selektion optimaler menschlicher Relationen umgeben ist von einem immensen Raume der Entfremdung, die sich bis zur toten, sachlichen Kenntnisnahme vom Vorhandensein zahlloser Menschen verflüchtigt.» Erkenntnis der Existenz, S. 365. 180 Erkenntnis der Existenz, S. 366. 179
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zwischen den Individuen eine menschliche Beziehung stiften. […] Dialogisches Gerede allein schafft noch keine Koexistenz.181
Bleibt Heinrich Barth mit Bedacht unterhalb der Möglichkeiten, die die Interpretation des Ich und Du bieten würde, wenn er vom dialogischen Gerede spricht? Fast kommt diese Formulierung schon einem gezielten Missverständnis gleich. Denn darin unterscheidet sich etwa nach dem Verständnis des Franz Rosenzweig das Gespräch im Ich und Du vom bloßen Meinungsaustausch, dass es eben kein Gerede ist. Dadurch unterscheidet sich das dichterische Denken im Sinne Martin Heideggers vom vorstellenden Denken, dass es dem Wort folgt und nicht der sachbezogenen Mitteilung. Im Mittelpunkt der zitierten Passage steht der Begriff des Verständnisses, in dem sich einander erkennende Menschen begegnen, wie es etwas später heißt. Dieses Verstehen ist durch den gemeinsamen Bezug auf das transzendentale Prinzip der Erkenntnis gewährleistet. Doch woran wird es erkennbar? Im Wort, denn: «Das ‹Wort› ist zu verstehen als eine Möglichkeit des In-die-Erscheinung-Tretens des Menschen, als dessen ausgezeichnete Möglichkeit.»182 Sofort bietet es sich an, hierbei an eine Wesens-Mitteilung des Menschen zu denken, der dadurch erst eigentlich Mensch ist, dass er als der Erkennende in Erscheinung tritt. Wird hierfür ein Akt der Selbst-Mitteilung erforderlich, bietet sich zweifellos das Wort oder besser: der Gebrauch der Sprachfähigkeit an. Der Mensch entspricht seiner ihm je eigenen Möglichkeit. Doch tritt er damit als Einzelner in Erscheinung? «Wenn der Andere so und so in die Erscheinung tritt, dann läßt sich ‹im Prinzip› aus dieser Erscheinung entnehmen, ‹wer er ist›, das will sagen: wie wir uns die Erfüllung seiner Existenz vorzustellen haben.»183 Der letzte Teil dieser Formulierung lässt aufhorchen. Wenn es wirklich darum geht, wie wir uns die Erfüllung seiner Existenz vorzustellen haben, scheint es im Prozess des Verstehens lediglich darum und nicht mehr um das Interesse daran zu gehen, wer der Andere, wer das Du, ist. Das Verstehen des Anderen bedeutet dann, sein Denken zu verstehen, das, so viel haben die kurzen Bemerkungen zu Barths Begriff der Erkenntnis bereits gezeigt, unabhängig von individueller Beteiligung funktioniert. Oder wird hier vorschnell geurteilt? Es kann noch einmal der Blick zu jenem Gedanken zurückgeführt werden, an dem sich Barths Interesse am Einzelnen am deutlichsten zeigt. Es ist der Gedanke der Entscheidung, die jede und jeder von uns trifft, indem wir als zukünftig setzen, was unser Denken bestimmen soll. Hier macht Barth die Forderung nach dem Einzelnen geltend, weil nur so die existentielle Dimension der Entscheidung sichergestellt ist. Diese ist jedoch, so viel kann auch festgehalten werden, eine Entscheidung für die Funktionalität des Denkens, das sich auf die Setzung des Transzendentalen be181 182 183
Erkenntnis der Existenz, S. 366 f. Erkenntnis der Existenz, S. 386. Erkenntnis der Existenz, S. 392.
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ruft. Dessen Gültigkeit ist universell und wird nur dadurch existentiell relevant, dass der Einzelne sie trifft. Sein Gedanke fungiert insofern als Vermittlungsglied zwischen der reinen Gültigkeit des Denkens und dessen Bedeutung für den Menschen. In seiner zusammenfassenden Erklärung des Begriffes vom Verstehen schreibt Barth: Ein Verstehen der Existenz dagegen vollzieht sich – wie wir wissen – in existentieller Beteiligung dessen, der Existenz versteht. Indem ihm diese Existenz wesensmäßig nicht ‹gleichgiltig› sein kann, indem sie ihn ‹etwas angeht›, berührt sie […] den Verstehenden so nahe, daß er sich zur Stellungnahme und zu eigener neuer Entscheidung aufgerufen sieht.184
Überrascht es, dass Heinrich Barth hier vom Angehen-Lassen spricht? Immer wieder differenziert er theoretische von existentieller Erkenntnis, was auch auf den Begriff des Verstehens angewendet werden kann. Im ersten Fall erschließt sich ein Funktionskonzept, im letzteren der Sachverhalt existentieller Beteiligung. Eine Erklärung dafür, warum er so auffällig selten in seinem umfangreichen Werk auf diesen Sachverhalt zu sprechen kommt, würde unweigerlich in Spekulationen ausarten. So kann letztlich nur konstatiert werden, dass es diesen Gedanken, der für Franz Rosenzweig und Martin Heidegger von besonderer Bedeutung war, zumindest fragmentarisch auch bei Heinrich Barth gibt. Weitaus mehr Gewicht liegt in seinen Betrachtungen jedoch auf der Darstellung der transzendentalen Begründung des Denkens, die in der Funktionalität des Denkmöglichen selbst wurzelt. Eine Berücksichtigung der Sprache, die in Weite und Intensität den bisher skizzierten Entwürfen ähnelt, gibt es nicht. Lediglich dort, wo Barth auf die Verwirklichung des den Menschen wesensmäßig Kennzeichnenden eingeht, findet sich eine fast beiläufig anmutende Erwähnung «des Wortes». Vor diesem Hintergrund ist es zu begründen, warum Barths Schrift Philosophie der praktischen Vernunft aus dem Jahr 1927, deren Lektüre im vorliegenden Zusammenhang höchst aufschlussreich hätte sein können, nicht berücksichtigt wird. Sie folgt eindeutig einem anderen Begründungskontext als jenem, der von den Vertretern des Neuen Denkens präferiert wird.
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Erkenntnis der Existenz, S. 396.
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III. Gebotenes
In aller Kürze wurde bereits auf einen Gedanken aus Hermann Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums hingewiesen, der nun die folgenden Überlegungen einleiten soll. Denn er benennt das Grundproblem existentieller Ethik in schneidender Klarheit. Da ethisch relevante Aussagen, um ihre Gültigkeit erweisen zu können, in größter Allgemeinheit formuliert werden, kann ihnen keine Bedeutung für den einzelnen Menschen zukommen. Die bereits zitierte Textpassage wird noch einmal aufgegriffen: «Die Ethik kommt bei ihrem methodischen Gegensatze zu allem Sinnlichen und allem Empirischen am Menschen zu der gewaltigen Konsequenz, daß sie das Ich des Menschen der Individualität überhaupt zuvörderst entreißt, […]. Das Ich des Menschen wird in ihr zum Ich der Menschheit.»185 Eine kurze Vergewisserung der Begrifflichkeit ist hier erforderlich. Denn es könnte zu Recht gefragt werden, ob das Ich, von dem die Rede ist, mit dem Einzelnen, der in existentiellem Sinne genannt wird, identisch sein kann? Die beiden einzigen Kriterien der Individualisierung, also der Vereinzelung, die Cohen anführt, sind das Sinnliche und das Empirische. Aufgrund dieser Kennzeichnung kann seine Aussage über das Ich auch als Aussage über den Einzelnen verstanden werden, da dieser sich von den Vielen zunächst durch das Quantum reflektierter Erfahrung unterscheidet, die im existentiellen Verständnis Form sinnlichen Erlebens ist. Sinnliches Erleben ist stets zugleich situatives und damit zeitbedingtes Erleben – zwei Bestimmungen, die angesichts der Idee der Menschheit irrelevant werden. Wenn trotz grundsätzlich gleicher Anwendbarkeit der Begriffe vom Ich und dem Einzelnen nach einer Abgrenzung ihres jeweiligen Bedeutungsumfanges gesucht wird, könnte diese mit Blick auf das mögliche Selbst-Bewusstsein vorgenommen werden. So wäre dieses für die Vorstellung vom Ich ein unverzichtbares Kriterium, für die Beschreibung des Einzelnen hingegen ein Bestandteil, der sich punktuell aus der komplexen Struktur des Erfahrens abheben kann. Individualität könnte in beiden Fällen als Indikator reflektierter oder erfahrend-reflektierender Eigenheit gedeutet werden. Dieses kurze Innehalten war notwendig, um Hermann Cohens Gedanken der ZuständigkeitsBeschränkung ethischer Aussagen auch im existenzphilosophischen Zusammenhang in Anschlag zu bringen. Denn es sei nochmals darauf hingewiesen, dass er zwar – noch unbeabsichtigt wahrscheinlich – dazu beigetragen hat, existentielles 185
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 15.
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III. Gebotenes
Denken vorzubereiten. Doch allein schon aufgrund seiner starken Akzentuierung der Vernunft als Regulativ des Denkbaren blieb der entscheidende Schritt aus dem Gültigkeitskontext philosophischer Theoriebildung zunächst noch aus. Franz Rosenzweig hat diesen Schritt vollzogen. Inwieweit können nun die Ausführungen von Hermann Cohen als Inspiration und Markierung des einzuschlagenden Weges dienen? Das Ich sei als Adressat ethischer Aussagen undenkbar geworden, so ist zu lesen. Der weitere Gedankengang nimmt eine interessante Wendung. Denn es wird nicht gefragt, wie eine ethische Konzeption beschaffen sein müsste, um diesem Befund entgegenzuwirken, sondern auf welche Weise Religion zu Hilfe kommen kann? Die seit Jahrhunderten gestellte Frage nach einer Vereinbarkeit religiöser und philosophischer Inhalte kulminiert für Cohen in der Relation von Ethik und Glauben.186 Die Herausforderung, vor der das Denken steht, ist damit eindeutig festgelegt: Es soll das Ich als Träger sittlicher Kompetenz ausweisen. Denn würde diese Maßnahme scheitern, würde Ethik ihre Unfähigkeit, dieses in seiner situativen Bedingtheit zu erfassen, wohl kaum ablegen können. In umgekehrtem Sinn könnte, solange allein die Weisungen der Ethik gelten, der Gedanke vom Ich nicht zugelassen werden. Denn er ist der Störfall im Selbstverständnis und im Legitimationsanspruch philosophischer Theorien der Sittlichkeit. Auf welche Weise ist dieser fast ausweglos wirkenden Problematik zu begegnen? Das Ich, so argumentiert Cohen, muss in die Lage versetzt werden, sich selbst erfahren zu können. Darin liegt der erste Schritt zu seiner ethischen Rehabilitierung. Eine solche Erfahrung ist aber nur im Bewusstsein des An-ein-anderes-Grenzens möglich. Die Idee der Menschheit kommt hierfür nicht in Betracht, da sie nur gedanklich zu erfassen, nicht jedoch situativ zu erfahren ist. Es bedarf eines dem Ich gegenübertretenden Analogons, das wie es selbst um seine philosophische Anerkennung ringt. An diesem Punkt führt Cohen den Gedanken des «Du» ein und präsentiert damit ein frühes Beispiel jenes Denkens, das gemeinhin als dialogisch bezeichnet wird. In der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums heißt es: «Vielleicht verhält es sich umgekehrt, daß erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewußtsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte.»187 Mit der Bezugnahme auf die Vorstellung vom Du ist die Aufgabe, vor der Cohen die Ethik gestellt sieht, allerdings noch nicht erfüllt. Denn es ist noch nicht geklärt, wie diese Vorstellung zur 186 «Entweder nämlich stellt es sich heraus, daß die Religion, als Lehre vom Menschen, in die Ethik hineinfällt, […] Oder aber es stellte sich wider alles Erwarten heraus, daß die Ethik, als ein Glied der systematischen Philosophie, […] nicht ausreichend imstande wäre, den ganzen Inhalt des Menschen zu beherrschen, und daß die Religion eine Ergänzung, eine Ausfüllung dieser ethischen Lücke ihrerseits zu leisten vermöchte.» Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 14. 187 Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 17.
III. Gebotenes
Anerkennung des Ich beitragen kann. Hier kommt die Religion zu Hilfe. Unter ihrem Einfluss erlangt ein Begriff, dessen Wert im philosophischen Verständnis nicht zu überzeugen vermochte, Geltung. Indem Mitleid für gewöhnlich als Affekt gedeutet wird, der stets nur eine Reaktion des Menschen auf eine äußere Einwirkung sein kann, wird ihm oftmals Relevanz im ethischen Kontext abgesprochen. Cohen unterscheidet an dieser Stelle zwischen dem pragmatischen Aspekt, unter dem Mitleid durchaus als wirkmächtig betrachtet werden kann, und der Unmöglichkeit, es als «prinzipiellen Begriff» zum Bestandteil ethischer Theoriebildung zu erklären.188 Diese Differenzierung ist insofern bedeutsam, als sie Hermann Cohens Verständnis dessen veranschaulicht, was Ethik zu leisten hat. Hier geht es nicht um Wert und Nutzen einer bestimmten Handlung, sondern um deren Begründung. Doch verfolgt er diese Abgrenzung, die bis in die Gegenwart für Diskussionen sorgt, nicht, sondern wendet sich der Frage zu, wie Mitleid zu einem tragenden Begriff einer zu entwerfenden Ethik-Konzeption werden kann. Es müsse in seiner grundsätzlichen Bedeutung erkennbar werden, so lautet die Antwort. Diese erlangt es aber erst dann, wenn es in Verbindung zu einer existentiellen Kennzeichnung des Daseins gesetzt wird. Cohen verwendet diese beiden Ausdrücke nicht. Wenn sie hier dennoch angeführt werden, wird darin bereits die Bedeutung für die weiteren Überlegungen sichtbar. Um seinen Gedanken auszudrücken, wählt Cohen eine eher poetische Formulierung: Und es ist nur von einer falschen Metaphysik dirigierte Unkenntnis von dem Eigentümlichen des Menschenwertes, welche das Mitleid zu einer Reflexbewegung herabwürdigt. Im Leiden geht mir plötzlich und unaufhaltsam ein grelles Licht auf über die Flecken an der Sonne des Lebens. […] es ist gar kein theoretisches Interesse, welches durch diese Beobachtung in mir erregt wird. Es ist der ganze Sinn der Ethik, […] an dem ich verzweifeln muß, […]. Der Sinn der Menschheit wird mir hinfällig, geschweige daß ich überhaupt noch ein Interesse an meiner Selbstexistenz nehmen könnte.189
In diesen Zeilen finden wir einen frühen Ausdruck jener Daseins-Erkenntnis, die die späteren existenzphilosophischen und vor allem existentialistischen Konzepte prägen wird. Einsicht in die Natur des Daseins liegt auch in jenen Erfahrungen vor, die etwa Martin Heidegger beschreibt, wenn er das Vorlaufen zur Erkenntnis des Todes erläutert. Einsicht in die absurde Situation des Menschen thematisiert Albert Camus. Erfahrung der Todesfurcht benennt Franz Rosenzweig als Ursprung aller Erkenntnis. Dadurch, dass Hermann Cohen auf das Leiden in der Welt hinweist, schafft er den generellen Bezugspunkt, um sein Verständnis des «[…] die Lösung der Frage kann sie [die Ethik] nicht durch die Aufstellung eines prinzipiellen Begriffes erteilen. Sie muß dann eben, […] zum Pragmatismus werden. Das Mitleid wird eine förderliche Illusion, durch die das Leiden in der Teilung geringer wird. Über diese Illusion hinaus gibt es keine Hilfe.» Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 20. 189 Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 21. 188
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III. Gebotenes
Mitleids kontextuell verorten zu können. Es erschöpft sich eben nicht in dieser oder jener mitfühlenden Tat, so willkommen diese als solche auch sein mag, sondern es dient ihm als Antwort auf die Einsicht in die Natur des Daseins, das Leiden ist. Damit gewinnt Mitleid die gesuchte Funktion als – wie es in Anlehnung an spätere Denomination heißen kann – Existential. Ganz ist sein Argumentationsziel damit noch nicht erreicht. Denn es geht noch immer um die Frage, wie das Ich Bestandteil ethischer Theorie werden kann. Nicht auf dem Wege philosophischer Begründung, sondern unter Zuhilfenahme religiöser Stellungnahme. Sie vermag die generelle Beschaffenheit des Daseins, das Leiden ist, auszusprechen. «So berühren wir hier den Grenzpunkt, an dem die Religion entsteht, an dem sie mit dem Leiden den Horizont des Menschen lichtet.»190 Vermittelt hier noch die Religion existentielle Erkenntnis, wird dieser Erklärungsrahmen in späteren Texten teilweise oder auch vollständig ausgesetzt werden. Entscheidend ist es, welche Kompetenz-Zuweisung Cohen hier vornimmt. Ethik ist im Gegensatz zur Religion zur Benennung der Daseins-Struktur ungeeignet. Diese Feststellung wird in den weiteren Betrachtungen fortzuführen sein. Die noch anstehende Frage nach dem Ich klärt sich folgendermaßen: Das Konstatieren des Leidens in der Welt rechtfertigt Mitleid als ethischen Affekt, der nicht nur reaktiv, sondern selbstlegitimierend zu verstehen ist. Indem der Mensch des Mitleids fähig ist und darin der existentiellen Beschaffenheit seines Seins folgt, gewinnt er die Möglichkeit, sich selbst als Ich und den anderen Menschen als Du zu erfahren.191 In diesem Moment der Erfahrung ereignet sich nach Cohens Auffassung eine Konfiguration eigener Art: «Es ist ja auch die Frage, […] ob ich selbst überhaupt schon vorhanden bin, bevor der Mitmensch entdeckt ist.» Der Fehler bisheriger Ethik besteht darin, dass sie den Begriff des «Mitmenschen» noch nicht hat denken, ihn vielmehr bestenfalls als «Nebenmenschen» hat betrachten können. Ihn in ersterem Sinne zu erfassen, bedeutet, dass «ein neuer Begriff vom Menschen gedacht wird».192 Diesen neuen Begriff des Mitmenschen zu formulieren, bedeutet eine folgenreiche Erweiterung des gedanklichen Potentials, das im Zusammenwirken von Philosophie und Religion entsteht. Denn nun wird es möglich, dass Ethik, in der sich dieses Zusammenspiel ausdrückt, in der Lage ist, Relationen zu denken. Bislang war ihr diese Möglichkeit dadurch verschlossen, dass sie anstelle des Einzelnen im Bewusstsein seiner Selbst nur die Idee der Menschheit zur Grundlage ihrer Aussagen machte. Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 22. Auf S. 19 heißt es:«Der Prophet hingegen sieht nicht gleichmütig […] auf das Menschengeschlecht herab: er hofft, daß einstmals Gott ‹die Träne tilgen wird von jeglichem Angesicht›». 191 «Ist nun aber jetzt durch Leid und Mitleid das Du des Menschen entdeckt, so kann auch das Ich, von dem Schatten der Selbstsucht befreit, wieder hervortreten.» Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 22. 192 Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 164 f. 190
Die unbedingte Weisung – Franz Rosenzweig
Indem die Religion, die für Cohen die jüdische Religion ist, Einsicht in die existentielle Beschaffenheit des Daseins bietet, wird das Ich ethisch rehabilitiert. Es reflektiert sich an seinem Gegenüber – dem Du – mit dem es nicht in der Relation der Erkenntnis, sondern der Einfühlung verbunden ist.
Die unbedingte Weisung – Franz Rosenzweig Der kurze Schwenk zum Denken Hermann Cohens legt eine Problematik offen, die für den Versuch, Ethik des Existentiellen zu erfragen, von maßgeblicher Bedeutung ist. Für ihn ist es offensichtlich, dass der Adressat ethischer Aussagen nicht mit dem Menschen, den sie ihren Postulaten zugrunde legt, übereinstimmt. Auf der einen Seite sieht er das Ich in der Tatsächlichkeit seiner Individualität, auf der anderen die Idee des Menschen. Kann dieser Auffassung uneingeschränkt zugestimmt werden? Es hat sich angedeutet, dass Cohen es nicht als Aufgabe der Ethik ansieht, einzelne Handlungen zu motivieren, sondern die Begründung der Handlungsfähigkeit vorzunehmen. Darum bezeichnet er sie als «Lehre vom Menschen und vom Menschenwerte».193 Sie nähert sich in diesem Verständnis eher einer Wesensbeschreibung des Menschen an, als einer begründenden Handlungstheorie, in deren Zentrum etwa die Klärung des Begriffes vom Guten steht. Für den Übergang von einer fragmentarischen Betrachtung des Sprach-Denkens zum Kernthema der vorliegenden Überlegungen gibt diese Sichtweise eine erste Orientierung. Denn natürlich wird zu fragen sein, worin sich Ethik der Existenz möglicherweise von bestehenden Konzeptionen abhebt? Es wird zu untersuchen sein, wie im existentiellen Denken Normativität begründet werden kann, wenn sie weder durch Bezug zum Göttlichen noch durch Berufung auf die Setzungskompetenz der Vernunft allein legitimierbar ist. Beide Fragen hängen auf das Engste zusammen, so dass ihre Beantwortung in einem einzigen Gedanken erfolgen wird. Um die Möglichkeiten existentieller Ethik abschätzen zu können, bietet sich ein vorbereitender Blick auf die Texte von Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und Heinrich Barth an. Bereits hinsichtlich ihrer Forderung nach Neuem Denken und einem Verständnis von Sprache, die dieses vermitteln kann, hatten sich teilweise erhebliche Differenzen gezeigt. Setzen sich diese nun im anstehenden Zusammenhang fort? Es wurde bereits auf eine Besonderheit in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung hingewiesen, indem sich zwei Betrachtungsebenen scheinbar bruchlos überlagern. Auf einer Ebene stehen seine Aussagen zur Gestaltung des ganzen Menschen, auf einer anderen ein Entwurf menschheitsgeschichtlicher Entwicklung. Dass sich beide Perspektiven nicht beeinträchtigen, erklärt sich durch seine dem religiösen Denken verpflichtete Überzeugung, wonach alles Sein ein permanentes 193
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 21.
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III. Gebotenes
Noch-Nicht sei, das er als entwerfende Fortsetzung des Schöpfungsgeschehens begreift. Gestaltung des Seins in diesem Sinne und das Gestalt-Werden des Menschen erscheinen hier als analoge Prozesse. Nur am Rande sei daran erinnert, wie sehr diese Sichtweise der von Martin Heidegger vertretenen Position ähnelt, der zu Folge Seyn Werden zum Eigentlich-Sein ist. Unter Ausblendung der menschheitsgeschichtlichen Dimension in Rosenzweigs Darstellung soll eine erneute Durchsicht des Sterns jene Aspekte zusammenfassen, in denen ethische Relevanz erkannt werden kann. In deutlicher Verwandtschaft zu Hermann Cohens Skizzierung der Grundproblematik von Ethik heißt es zunächst: Indem aber das Selbst die Besonderheit der Individualität so zu seiner bloßen ‹besonderen Voraussetzung› macht, wird nun gleichzeitig auch die ganze Welt ethischer Allgemeinheit, […] in diesen bloßen Hintergrund des Selbst geschoben. Mit der Individualität zusammen sinkt also auch die Gattung, sinken Gemeinschaften, Völker, Staaten, sinkt die ganze sittliche Welt zur bloßen Voraussetzung des Selbst herab.194
Dieser Aspekt existenzphilosophischer Theorie kann nicht deutlich genug akzentuiert werden. Ganz gleich, ob vom Selbst-Werden oder vom Weg zur Eigentlichkeit gesprochen wird, immer bedeutet die Betonung der Eigenheit die zumindest vorübergehende Distanzierung von wertbildender Gemeinschaft. Existentielle Bewegung ist insofern per se Bewegung aus dem Kompetenzbereich der Ethik. Dass die Vereinzelung eines Menschen, die mit seiner Titulierung als «Selbst» angezeigt wird, konträr beurteilt werden kann, zeigt besonders Franz Rosenzweig, wenn er von der «gebirgshaft ‹edel-stummen› Einsamkeit» des Selbst, von «seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst» spricht. Vereinzelung um den Preis der Bindungslosigkeit – so erscheint hier die Diagnose, die über das Selbst im Zustand seines vermeintlich erstrebenswerten Bei-sich-Seins gestellt wird. Gerade die Brechung in dieser Beschreibung signalisiert jedoch, dass diese «stolze Vereinzelung» nicht das Ziel sein kann, dem ein Mensch entgegenstrebt. Der Vereinzelung folgt Bindungsbereitschaft, die mit einem Verstehen des dem Menschen Möglichen einhergeht. Diese Dynamik zweier antagonistischer Phasen im existentiellen Werden erinnert durchaus an die Sichtweise Søren Kierkegaards, der seine 1845 erschienene Schrift Stadier på livets vej – Stadien auf des Lebens Wege betitelte. Auch dort ist von einem Durchleben verschiedener Entfaltungsstufen die Rede, das den Einzelnen zu sich selbst im Angesicht Gottes finden lässt. In Rosenzweigs Sicht wiegt die Verwandlung, die an den Etappen der Selbstbewusstheit eines Menschen abzulesen sind, so schwer, dass er sogar von einer «Umkehr» des Seins spricht. «Als wesenhaftes, eigenschaftliches Sein war die Tatfreiheit in der Schöpfermacht offenbar geworden; jetzt muß das schicksalgebundene Sein in entsprechender Umkehr sich offenbaren als augenblicksent194
Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79.
Die unbedingte Weisung – Franz Rosenzweig
sprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis.»195 In anderem Rahmen könnte es sich lohnen, die Begriffe vom Ereignis bei Rosenzweig und Heidegger im Detail zu vergleichen. Dabei würde sich eine grundsätzliche Parallelität zeigen, die das Ereignishafte als Merkmal der Seins-Verwandlung begreift. Für beide Denker ist der Gedanke von herausragender Bedeutung, dass der Terminus Sein nicht das Faktum bloßer Vorhandenheit benennt, sondern der Gestaltungs-Fähigkeit, ja man kann sogar von einer Gestaltungs-Bedürftigkeit ausgehen. Denn Sein ist nicht, was es sein könnte, darin stimmen Rosenzweig und Heidegger, die ansonsten so vieles trennt, überein. In Rosenzweigs Schrift findet sich eine kurze Passage, in der der Gedanke der Fortsetzung der Schöpfung als Gestaltung des Seins auf die Spitze getrieben wird. Ausgangspunkt ist eine Betrachtung des Hohelieds Salomos, speziell der ersten Textzeile «Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist [lieblicher] besser als Wein.»196 In dem «besser als» drückt sich nach Rosenzweigs Überzeugung eine Steigerung des verbalen Testats aus, mit dem Gott im sechsmaligen «daß es gut war» das Werk seiner Schöpfung versieht.197 In freierer Übertragung ergibt sich daraus, dass die gestaltete Welt besser als das geschaffene Sein ist – eine im Grunde unglaubliche Feststellung, würde nicht das besser als je schon Bestandteil des Geschaffenen sein. Auch wenn es so wirken könnte, als würden sich die Überlegungen gerade in einer Betrachtung von rein theologischem Interesse verirren, bieten die genannten Gedanken Rosenzweigs doch höchst seltenen Aufschluss über sein Verständnis der Existentialität des Seins. Es bedarf der «Umfärbung», wie es an früherer Stelle hieß, damit das bloße Vorhandensein Gestalt annehmen kann. Hierfür ist der Mensch gefordert und zwar der Einzelne, der sich zunächst zum einsamen Selbst befreit, um sich schließlich zur «sprechenden Seele» zu verwandeln. Vereinzelung und Bindungsbereitschaft grenzen aneinander, insofern erst die Erfahrung der völligen Isolation von allen Formen menschlichen Miteinanders dazu befähigt, aus freien Stücken die Begegnung mit dem Anderen zu suchen. In Hermann Cohens Vorstellung wurde an dieser Stelle die Funktion des Mit-Leids relevant, das den Nebenmenschen zum Mit-Menschen werden lässt. Dieser bedeutsamen Umformung im Prozess der Begegnung liegt eine Erfahrung zugrunde, die als ein er ist wie ich und doch nicht mit mir identisch bezeichnet werden könnte. Die Formulierung ist sperrig, keine Frage, doch sie zeigt die feine Trennungslinie, die Einfühlung von Gleichsetzung unterscheidet. Rosenzweig geht nicht auf den Begriff des Mitleids, sondern auf denjenigen der Liebe ein und zwar zunächst der Liebe der Seele zu Gott. Doch «besser als» diese ist die Liebe zum anderen Menschen. «Du bleibst Du und sollst es bleiben. Aber er [der Andere] soll dir nicht ein Er bleiben und also für dein Du bloß ein 195 196 197
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 178. Das Hohelied Salomos, I.2. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 225.
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Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du, ein Du wie Du, ein Ich, – Seele.»198 Auch wenn es vielleicht nicht so wirkt, war doch auf den letzten Seiten von nichts anderem als dem Weg zur Ethik der Existenz die Rede. Denn die Probleme, die Hermann Cohen und Franz Rosenzweig im klaren Bezugsrahmen religiöser Gewissheit diskutieren, sind exakt die Fragen, vor denen auch existenzphilosophisches Denken steht. Wie kann der Einzelne Adressat und Thema ethischer Aussagen werden? Wie findet der Einzelne, der eigentlich er selbst ist, den Weg zu dem anderen Menschen? Cohen und Rosenzweig berufen sich, um diese letzte Frage beantworten zu können, nicht auf ein rationales Verstehen, sondern auf die Wirkmacht der Emotionen beziehungsweise Affekte. Mitleid und Liebe schaffen den Bezug zu dem anderen Menschen, der in beiden Fällen erst durch die Perspektive des Mitfühlenden oder des Liebenden als solcher erkannt wird. Rosenzweigs Formulierung signalisiert diesen Umstand anschaulich, wenn er von der Verwandlung vom Nebenmenschen zum Mit-Menschen spricht. Interessant ist es aber auch, dass in der Fokussierung des Anderen kein selbstloser Akt besteht, der sich in der Hinwendung, egal aus welchem der beiden Motive, erschöpft. Beide weisen auf die immense Bedeutung hin, die dieser Akt auch für die SelbstWahrnehmung des Mitfühlenden und Liebenden hat. Für Cohen liegt sie darin, dass Ersterer sich wieder als Ich begreifen kann. Denn diese Möglichkeit war ihm von der Ethik aberkannt worden, zumindest so lange, bis sie ihm durch die Einflussnahme der Religion wieder zuerkannt und damit auch ethisch gerechtfertigt wurde. Denn durch das Mitleid wird das Leiden als Beschaffenheit des Seins sichtbar und als jene existentielle Konstitution benannt, der sich auch die Ethik in ihrem Bestreben, Gründe des Wirkens zu bezeichnen, zuwenden konnte. In Rosenzweigs Sicht verwandelt sich nicht nur der Erlebnisstatus des Anderen, sondern auch der des Selbst, das aus seiner Vereinzelung tritt und «redende Seele» wird.199 Diese Etappe in der Entwicklung zum ganzen Menschen200 stand noch aus. Es fehlte hierfür keine rationale Kompetenz, kein spezialisiertes Wissen, sondern die Bereitschaft zur Bindung an den Anderen und – in Rosenzweigs Konzeption höchst bemerkenswert – das Andere, womit er die Welt in der Fülle ihrer Dinglichkeit meint. Nun könnte natürlich betont werden, dass von diesen beiden Denkern letztlich nichts anderes zu erwarten gewesen wäre, da sie beide aus einem religiösen Empfinden argumentieren. Diese Feststellung trifft unbestritten zu, bedarf jedoch einer Ergänzung. Für Cohen und Rosenzweig bildet ReDer Stern der Erlösung, II,III, S. 267. «Wir hatten die Offenbarung als das unter der Liebe Gottes geschehende Mündigwerden des stummen Selbst zur redenden Seele erkannt.» Der Stern der Erlösung, II,II, S. 221. 200 «Er spricht wohl, aber was er spricht, ist nur Antwort, nicht Wort, sein Leben nur Warten, nicht Wandeln. Aber nur ein Mensch, dem aus Antwort das Wort, aus dem Warten auf Gott das Wandeln vor Gott erwüchse, nur das wäre ein wirklicher, ein voller Mensch.» Der Stern der Erlösung, II,III, S. 232. 198
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ligion den Rahmen, innerhalb dessen überhaupt Aussagen über die Welt und den Menschen getroffen werden können. Zugleich bekräftigen aber beide, dass es sich dabei nicht um die alleinige Perspektive ihrer Betrachtung handelt. Religion kann der Philosophie zu Hilfe kommen und ihr grundsätzlich Aufschluss über das Sein vermitteln. Was dieses bei Cohen bedeutet, hat sich gerade gezeigt. Aber auch Rosenzweig geht auf die Möglichkeit, in seinen Augen sogar eine Notwendigkeit, der Verbindung von Religion und Philosophie ein. In Letzterer hat sich, so rekonstruiert er ihren Entwicklungsgang, eine extreme Subjektivierung der Standpunkte vollzogen, was sich sowohl auf ihren Gegenstand, die Denkbarkeit der Einheit, als auch ihre Darstellungstypik auswirkt, insofern für sie «nur eine vieldimensionale Form, und gehe sie bis an die äußerste Grenze eines Philosophierens in Aphorismen»201 infrage kommt. Diese veränderte Auffassung von Philosophie trifft zum Teil auch auf Rosenzweigs eigenes Denken zu, wobei ihm auch die Warnung vor einem Objektivitätsverlust, die er ausspricht, gilt. «Wo findet sich diese verbindende Brücke zwischen extremster Subjektivität, zwischen, man möchte sagen, taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objektivität? […] Jene Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten schlägt der Offenbarungsbegriff der Theologie.»202 Zugleich kann aber auch die Philosophie, die subjektives Denken aus individuellem Erleben zulässt, ein Defizit auf Seiten der Theologie auszugleichen helfen. Denn an eben dieser Bereitschaft zum persönlichen Standpunkt mangelt es ihr Rosenzweigs Überzeugung nach. Unklar bleibt dabei, welche theologischen Positionen er genau vor Augen hatte, als er diesen Mangel konstatierte. «Was für die Philosophie eine Forderung im Interesse der Objektivität war, wird sich für die Theologie erweisen als eine Forderung im Interesse der Subjektivität. Sie sind aufeinander angewiesen und erzeugen so miteinander einen neuen, zwischen Theologie und Philosophie gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp.»203 Weder für Cohen noch für Rosenzweig greift also der Einwand, dass sich ein Denken, das auf religiöser Überzeugung basiert, philosophisch disqualifiziert – ganz im Gegenteil. Nur im Zusammenspiel beider kann ein der Zeit angemessenes Denken gründen. Unter religionsphilosophischem Blick, der das Ringen beider Disziplinen um ein Miteinander seit der Spätantike verfolgt, ist dieser Befund ohne Frage relevant. Doch wie sieht es in einer Perspektive aus, die existenzphilosophisches Denken fokussiert? Haben die Vorstellungen von Cohen und Rosenzweig hier überhaupt Bedeutung? Gerade Der Stern der Erlösung ist in diesem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass darin Schöpfungswerk und Sein parallel gesetzt werden, was dazu führt, dass Aussagen über den jeweils einen Begriff in relativ weitem Umfang zugleich 201 202 203
Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 117. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 117. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 118.
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auch für den anderen gelten. Schöpfung sei unvollständig, so erklärt Rosenzweig, wie auch das Sein der immerwährenden Gestaltung bedürfe. Diese onto-theologische Sichtweise erlaubt es schließlich, die Gedanken über die Gestaltungsbedürftigkeit des Seins auch dann philosophisch zu diskutieren, wenn ihr theologisches Pendant, die Fortschreibungsbedürftigkeit der Schöpfung, ausgeklammert wird. Für Rosenzweig käme diese Trennung keinesfalls infrage. Doch bedeutet das rückblickend nicht, dass genau dieser Schritt als Gründungsmoment existenzphilosophischen Denkens gewertet werden kann?
Sprache denkend werden – Martin Heidegger Es ist keine Verwirrung der Gliederung, wenn in diesem Kapitel, das den Übergang zum Begriff des Ethischen vorbereitet, noch einmal auf das Sprachverständnis Martin Heideggers eingegangen wird. Der Grund dieses thematischen Übergreifens aus vorangegangenen Bemerkungen liegt darin, dass die Frage nach einem möglichen ethischen Gehalt seines Seyns-Verständnisses sich ausschließlich über die Betrachtung der Sprache wird beantworten lassen. Denn in ihr, nicht im Tun und Agieren unter pragmatischer Ausrichtung, findet das eigentliche Können des Menschen statt. Vielleicht weckt dieser Ausdruck Assoziationen an hochentwickelte Fertigkeiten und technische Vermögen, durch die sich der Mensch immer tiefer im Sein verwirklicht, indem er es seinen Bedürfnissen und Vorstellungen gemäß bearbeitet. Vielleicht tritt sogar noch einmal Franz Rosenzweigs Begriff des Gestaltens in Erinnerung, das aus der Schöpfung geformtes Sein macht. Doch wäre dieser Gedanke schlecht erklärt worden, wenn er in diesem Sinne verstanden würde. Gestalten heißt bei Rosenzweig Sich-Verhalten zu Anderem, worin per se bereits ein hoher Wert ethischer Deutung angelegt ist. Es sei noch einmal daran erinnert, dass dort nicht im Selbst-Werden das Ziel des menschlichen Werden-Könnens besteht, sondern im Seele-Sein. Nicht zufällig fügt Rosenzweig das Attribut hinzu, «sprechende Seele» zu werden, denn nur so kann ein Einzelner zum ganzen Menschen wachsen. «Ganz» meint hier, in der Fülle seiner entfalteten Möglichkeiten zu existieren, wobei mit dem Bild vollständiger Entfaltung die Vorstellung eigentlichen Seins verbunden ist. Woher diese Vorstellung stammt? Es wäre einfach, zur Beantwortung auf Rosenzweigs religiöses Denken hinzuweisen. Durch göttlichen Plan bei der Erschaffung des Menschen ließe sich jede Vision des ganzen Menschen legitimieren. Doch wäre dieser Schritt zu einfach, da die Begründung, die uns im Stern der Erlösung vorliegt, weitaus komplexer ist. Gott, Welt und Mensch, die drei Elemente im Sein, stehen im Augenblick der Schöpfung zunächst verbindungslos und ganz für sich nebeneinander. Erst im immer wieder von Neuem ansetzenden Sich-Beziehen auf Anderes nimmt die Welt nach und nach Gestalt an. Für diese Entwicklung ist das Denken des Menschen ebenso wie sein Sprechen konstitutiv. Denn Sprechen ver-
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
steht Rosenzweig als Ent-Sprechen, das heißt, der potentiellen Bindungsbereitschaft vom einen zum anderen gemäß zu verfahren. Am deutlichsten wurde diese Auffassung durch die Beschreibung des Benennens, worunter er nicht nur ein Namen-Geben versteht, sondern beispielsweise auch das Zufügen des bestimmten Artikels, der ein Beliebiges zu einem Bestimmen und damit relational Eingebundenen macht. Gibt es hier eine Ähnlichkeit zu Martin Heideggers Sichtweise? Dass die Begriffe des Erfahrens und des Entsprechens für beide Denker zentrale Bedeutung haben, wurde bereits angedeutet. Eine solche Parallelität zweier Konzepte, die weit über den sprachtheoretischen Kontext hinausweisen, mag in Anbetracht der Tatsache überraschen, dass beide ein unterschiedlich wirkendes Seins-Verständnis vertreten. Aber unterscheidet es sich wirklich? Würden in einem hart an der Grenze des Unstatthaften entlangführenden gedanklichen Experiment aus dem Stern der Erlösung alle Bezüge auf religiöse Inhalte für einen Moment ausgeklammert, bliebe eine Seins-Vorstellung übrig. Dafür hat Rosenzweig gesorgt, als er Schöpfung und Sein als Benennungen ein und desselben eingeführt hat. Beide, Schöpfung wie Sein, bedürfen seiner Darstellung nach der Gestaltung, da sie erst im Bezug ihrer Elemente zueinander als erfüllt verstanden werden können. Erfüllt heißt bei Rosenzweig, dass es einem Bild des entfalteten Möglichen nachzustreben gilt, zugleich aber auch, dass das Sein der Welt erfüllt von gelebten Relationen ist. Die wohl schönste Formulierung dieses Gedankens findet sich in den Worten: «Leben und Dasein decken einander – noch nicht.»204 Sein erscheint insofern als ein Offenes, das der Gestaltung bedarf, weil es unfertig geschaffen wurde. Wird diese Auffassung auf Martin Heideggers Denken übertragen, würde sie möglicherweise so lauten: Seyn erscheint als ein Gefährdetes, das des Schonens bedarf, weil es vergessen wurde. Deutlich stärker als Rosenzweig akzentuiert Heidegger den Gedanken, dass menschliches Wirken das Seyn aus dem Blick verloren hat, als es sich dem pragmatischen und zweckorientierten Wollen verschrieb. Etwas unklar bleibt in seinen Schriften, ob es einen Zustand des SeynsDenkens jemals gegeben hat oder sogar noch gibt. Vereinzelte Hinweise könnten diese Vermutung nahelegen. Denn es gibt in seinen Texten Metaphern des grundständischen Daseins, die immer dann aufleuchten, wenn vom Bäuerlichen und Einfachen, vom Handwerk des Denkens, die Rede ist. Hier scheint noch immer ein rechtes Maß zu walten, das Mensch und Welt in einen schonenden Bezug zueinander setzt. Während das Neue Denken bei Heidegger also vornehmlich als Arbeit der Renaturierung zu begreifen ist, steht bei Rosenzweig die Vorstellung eines von Anfang an auf Gestaltung angelegten Seins im Vordergrund. Beide Sichtweisen kommen in der Überzeugung überein, dass das entscheidende Werk der Seins-Formung noch unvollendet ist. Eine solche Deutung 204
Der Stern der Erlösung, II,III, S. 249.
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weist dem Verhalten des Menschen vom ersten Moment ihrer Denkbarkeit an höchste Relevanz zu. Darf diese als ethisch bezeichnet werden? Wird die Auslegung des Begriffes von Hermann Cohen zugrunde gelegt, spricht alles dafür. Denn er interpretierte Ethik als Lehre «vom Menschen und Menschenwerte». Faktizität und Möglichkeit menschlichen Seins schließen sich darin zu einer unartikulierten Weisung zusammen. Es würde dem Gedanken des Menschenwertes widersprechen, wenn ihm nicht motivierende Potenz zugewiesen würde. Und es würde dem Wesen widersprechen, wenn nicht ihm entsprechend gehandelt würde. Im Ent-Sprechen liegt bei Rosenzweig wie auch bei Heidegger der Versuch des Menschen, diesen Widerspruch, der sich im Sprechen zeigt, lange bevor er im Handeln sichtbar wird, zu vermeiden. Denn im Sprechen selbst liegt bereits der Unterschied eines bloß verwaltenden Aussprechens funktionaler Intention zur Einsicht, dass Sprechen Gestalten ist. Im Sommer 1958 notiert Heidegger: «Welches sind die Handlungen des Denkens? Dem Anschein nach handelt es nicht, ist nicht und wird nicht ‹praktisch› und wirkend.»205 Dennoch zeigt Denken, vom Sprechen kaum noch zu unterscheiden, Wirkung, die im Aussetzen des Pragmatischen besteht. Wie stark dieses unseren Glauben an das uns Mögliche begrenzt und wie notwendig der Befreiungsschlag ist, der diese Eingrenzung aufbricht, könnte kaum plastischer formuliert werden: «Um die groben Mauern abzutragen, die das Denken vermauerten und es nur als Kulturleistung, Weltansicht, Lehre, Wissenschaft auftreten ließen, bedürfte es auch grober Hammerschläge und des mühsamen Sichlösens aus der Umklammerung, in der auch die Destruktion beginnen müßte; […].»206 Vielleicht wirkt es abschreckend, dass Heidegger auch Errungenschaften, die in unserem Verständnis eher positiv besetzt sind, zu den Erscheinungen des umschlossenen Denkens zählt. Seine Kritik richtet sich gegen alle Formen zweckdienlicher Betriebsamkeit, die das Maß ihrer Möglichkeiten nach dem im Voraus gesetzten Ziel definieren. In diesen Formen des Ausdrucks bleibt kein Raum für jene Bewegung im Denken, die unseren Blick über diese definierbaren Zielsetzungen hinausführt.207 Wenn Ethik nicht zunächst als Theorie des guten und sinnvollen Handelns, sondern als Lehre vom Menschen verstanden wird, ist Heideggers Auffassung als ethisch zu bezeichnen, auch wenn etwa ein Kernbegriff ethischer Theorien, jener der Glückseligkeit, in seinen Texten nicht ein einziges Mal in zentraler BedeuWinke I und II, II, S. 172. Winke I und II, II, S. 156. 207 Zur Veranschaulichung kann ein Beispiel angeführt werden: «Eines nur wünsche ich – und lasse auch diesen Wunsch des Denkens noch fahren –: der Versuch, dem Sprachwesen nachzudenken, nämlich in seiner Be-wegung durch die Sage, solcher Versuch möchte helfen, einiges Licht zu bringen in die Besinnung Hölderlins, die er in den weitgespannten Satzbögen der Sprache gewidmet hat, […] Man weicht diesen Gedanken nicht einmal aus, weil man selbst dies nicht vermag, da man sie nicht kennt und die ‹Kenner› so tun, als seien sie nicht gesagt.» Winke I und II, II, S. 157. 205 206
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
tung genannt wird. Doch es gibt die Unterscheidung, die das eine Verhalten vom anderen trennt, wobei es schwerfällt, beide qualitativ zu benennen. Ist das schonende Denken das richtige Denken, das eigentliche, das wertvolle oder das gute? Es ist das einzig angemessene Denken, so könnte mit Blick auf Heideggers Verlautbarungen der späten Jahre geantwortet werden. Und woher stammt die Festlegung des Angemessenen? Aus dem Sein. Um diese Feststellung aus ihrer fast naiv klingenden Schlichtheit zu befreien, ist die Erinnerung an das Konzept vom Geviert hilfreich, jenes Konstrukt, in dem die Bezogenheit der Elemente im Sein dargestellt wurde. Sein ist nicht als bloße Vorhandenheit zu verstehen, sondern – und damit kommt erneut der einleitende Gedanke dieses Abschnittes zum Tragen – Vorhandenes, von dem eine Forderung ausgeht. Dieser Aufforderung zu entsprechen, wird für Martin Heidegger der Sinn des Sprach-Geschehens. Dass es nicht dazu dient, Informationen zu übermitteln, ist längst sichtbar geworden. Dient es denn überhaupt irgendeinem Zweck? Auch diese Frage verfehlt die Bedeutung, die ihm zugewiesen wird, denn es soll zielunbedürftiges Geschehen schlechthin sein. Ein Einwand könnte hier allerdings erhoben werden, der letztlich alle Versuche trifft, nicht motiviertes Wollen zu erklären. Bereits in Arthur Schopenhauers Darlegung der Selbstverneinung des Willens zeigte sich diese Problematik, insofern selbst der Wunsch, nicht mehr dem Wollen zu folgen, dessen Ausdruck ist. Vor einer ähnlichen Schwierigkeit scheint auch Heidegger zu stehen, wenn er Zielunbedürftigkeit als Ziel des Denkens und der Sprache versteht. Doch gibt es für ihn einen Ausweg aus diesem vermeintlichen Dilemma. Die Abkehr von pragmatischer Ausrichtung ist nicht das Ziel des Denkens, kann aber gleichwohl als dessen Sinn bezeichnet werden. Ersteres würde dem Wollen vorangestellt und dessen Artikulation bestimmen, Letzterer zeigt sich erst im Geschehen der Sprache. Es wäre ebenfalls möglich, die Unterscheidung zwischen Nutzen und Wirkung heranzuziehen, insofern Ersterer an dem zuvor gesetzten Ziel gemessen wird, Letztere sich als Unerwartetes zu erkennen geben kann. Um den Nutzen einer Bemühung ermitteln zu können, ist abwägendes Denken erforderlich; um die Wirkung von etwas erfahren zu können, bedarf es der unvoreingenommenen Offenheit und – wie Heidegger immer öfter hervorhebt, der Bereitschaft, zu «hören». Wie gewichtig das Vermögen ist, sich angehen zu lassen, wird in zwei Zeilen aus dem Jahr 1947 erkennbar: «Anwesender ist, wohnender, der Mensch im Lassen als im Tun; […]. Die Kehre aus dem ‹Sehen› in das ‹Hören›.»208 An Komprimiertheit wird diese Feststellung nur noch durch diese Formulierung überboten: «Denken: ist Gehörthaben […] in Gehör haben: gehören.»209 Zeilen wie diese, die keinem unmittelbaren argumentativen Zusammenhang entstammen und doch ihren Platz im Gesamt des Denkens haben, mögen fast 208 209
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enigmatisch anmuten. Und doch erschließt sich ihre Aussage in bemerkenswert konsequenter Weise. Sie verweisen auf die Vorstellung, dass der Denkende oder der Sprechende – die in Heideggers Sinn zwei sich überschneidenden Konturen gleichen – nicht von sich aus denkt, um etwas zu ergründen, sondern zum Denken bewegt wird. Um hierbei möglichst alle sich noch erhaltenden Assoziationen an ein willentlich zu verfolgendes Vorhaben auszuklammern, ist zweimal von einer Form des Sich-Enthaltens die Rede: vom Hören und vom «Lassen». «Anwesender ist der Mensch im Lassen als im Tun», so drückt Heidegger seine Überzeugung aus. Es geht hierbei nicht um eine Aufforderung zur Passivität oder Indifferenz. Das Lassen erweist sich als höchste Form des menschlichen Könnens, wobei nicht das Tun-Können im Mittelpunkt steht, sondern das UnterlassenKönnen. Mit ihm geht die Wirkung einher, dass Eingriffe in das Seiende, die planendem Streben folgen, unterbleiben und dieses in seinem Sein belassen wird. Und wo nicht um eines Zieles willen gefragt wird, gerät das Denken erst eigentlich in Bewegung und schafft Raum für die Erfahrung des Seins, was so viel heißt wie: Das Verstehen der Zugehörigkeit zu Anderem, veranschaulicht in der Figur des Gevierts. «Er-fahren ist Be-wegen, be-wegen ist Denken. […] Das Denken ist das eigentliche und darum einzige Erfahren.»210 Interessant ist in diesen Worten, die bereits ganz in der Sprach-Gestalt der späten Texte erscheinen, eine zunächst selbstverständlich wirkende Gleichsetzung: Das Eigentliche ist das Einzige. Es gibt keine Alternative zum Eigentlichen, wodurch es im strengen Sinne niemals Inhalt einer Entscheidung, sondern allenfalls eines Versäumens werden kann. Für die Frage danach, wie Heidegger seine Vorstellung davon, was dem Menschen angemessen, das heißt ihm zu eigen ist, verstanden wissen will, bedeutet es, dass keine Begründung oder gar Rechtfertigung erforderlich ist, weil sie aus keiner möglichen Vielfalt von Optionen ermittelt werden könnte. Das einzige, was uns angemessen ist, ist unser Vermögen, auf unser Können zu verzichten. In diese knappe Form kann Heideggers Auffassung gefasst werden. Dass es sich dabei jedoch nicht um ein bloßes Nicht-Tun handelt, zeigen folgende Zeilen: Die Gegenstände in Ruhe lassen, wie sie gerade sind und zu sein scheinen, ist ein anderes als: das Anwesende aus seinem Anwesen in die Ruhe des Dinges […] einkehren lassen. […] Das gewöhnliche Lassen beschränkt sich darauf, ins gegebene Gewöhnliche sich zu bequemen. Das schonende Lassen dagegen ist hohes Tun.211
Es geht nicht darum, etwas nicht zu tun, wozu der Mensch in der Lage wäre, sondern aus einer bestimmten Perspektive nicht auf das Sein zu schauen, um dessen wirklicher Erscheinung Raum zu geben. Das zielunbedürftige Denken ist hier gemeint, dem Heidegger unter der Bezeichnung des schonenden Denkens die 210 211
Vier Hefte I und II, II, S. 106 f. Vier Hefte I und II, II, S. 122.
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
seiner Überzeugung nach einzig wahre Konzeption gegenüberstellt. Dass es sich nicht um zwei Alternativen handelt, ist bereits angedeutet worden, denn die Vorstellung des schonenden Denkens lässt kein gleichwertiges Anderes zu. Nur Überschattungen durch das zielführende Denken sind nicht dauerhaft zu vermeiden. Die eingangs angesprochene Forderung, die aus dem Sein an den Menschen ergeht, wird sichtbar. Es geht darum, diese Überschattungen aufzulösen, um den unverstellten Blick auf die Natur des Seins, die erst in seiner Struktur reiner Bezüglichkeit sichtbar wird, zu eröffnen. Zu Beginn dieses Kapitel hieß es, dass erneut auf Heideggers Sprach-Denken einzugehen sei. Doch bisher war davon – so mag es zumindest wirken – kaum die Rede. In Analogie zum Lassen als «hohes Tun» kann «Stille» als Form des Sprechens betrachtet werden: In aller Metaphysik ist die Sprache noch Werkzeug des Denkens. […] So mit der Sprache hantierend und vorgeblich auf ihren strengen Gebrauch dringend, hört man nie den Hall der Stille […]. Man vernimmt nur den Lärm von Ausgesagtem, den man sich zurechtordnet. Man verlangt Verständlichkeit, nachdem man sich zuvor des Gehörs beraubte. Man sticht sich die Augen aus; macht sich auf den Weg und klagt diesen an, daß er kein Licht bringe.212
Es wurde bereits mehrfach auf jene Tatsache hingewiesen, dass sowohl Franz Rosenzweig als auch Martin Heidegger ein Neues Denken fordern. Aus den Nachbemerkungen zum Stern der Erlösung geht klar hervor, dass damit nicht neue Gesetzmäßigkeiten für das Denken gemeint sind, sondern dessen «vollkommene Erneuerung». Nicht dessen Binnenstruktur steht auf dem Spiel, sondern dessen Selbst-Verständnis. Martin Heideggers Formulierung, die gewiss zu seinen bekanntesten Wort-Prägungen zählt, lautet, dass «das Denken denkender werde». Auch hier wird eine grundsätzlich korrigierte Ausrichtung des Denkens gefordert, die am deutlichsten im Wandel vom zielgerichteten zum schonenden Denken ausgemacht werden kann. Angesichts der extremen Engführung, in der beide ihre Betrachtungen von Denken und Sprache vornehmen, ist es nicht zu erwarten, dass sie sich für eine Überarbeitung sprachlicher Regeln im Detail einsetzen. Stattdessen plädieren beide dafür, Sprache nicht als System von Zeichen, sondern als Geschehen zu werten, in dem der Mensch letztlich seinem Wesen am deutlichsten zu entsprechen vermag. Heidegger erklärt: «Man möchte sagen: die Forderung einer anderen Sprache; und möchte meinen, hierbei handle es sich um eine neue Ausdrucksweise. Indessen beruht die Verwandlung nicht im Neuartigen der Ausdrücke und Wendungen, sondern in der Unscheinbarkeit des Rückgangs […] in das hörende Ent-sagen, d. h. die Einkehr in die Stille.»213 Formulierungen wie diese zeigen, dass Sprache als Wesens-Ausdruck und Sprechen als Haltung der Eigentlichkeit verstanden werden kann. Damit sind wir 212 213
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weit von einer Auffassung linguistischer oder sprachphilosophischer Natur entfernt, obwohl den Aussagen über die Sprache besondere philosophische Relevanz zukommt: Es handelt sich um ihre existentielle Bedeutung. Für Heidegger, der das Tun als Denken ausgewiesen hat, ist es sicherlich nicht einfach zu erklären, woran sich die rechte Haltung im Sein, für die er eintritt, erkennen lässt. Hier werden seine Gedanken zur Sprache aufschlussreich. Denn sie ist Ausdruck menschlichen Bezugs zur Welt, lange bevor dieser in Handlungen abzulesen wäre. Erinnern wir uns noch einmal daran, dass er den Wandel vom Sehen zum Hören proklamiert, das heißt der aktiv-erfassenden zur aufnehmend-empfangenden Hinwendung zur Welt, die er tatsächlich als Raum des Dinglichen betrachtet. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht mehr, dass auch von Seiendem in seiner konkreten dinglichen Präsenz Inspiration zur Enthaltung vom aussagenden Sprechen und zielgerichteten Denken ausgehen kann. Die Erwähnungen des Ländlichen, Bäuerlichen und Naturhaften, das als dieses Bestimmte in dieser unverwechselbaren Situation anspricht, können als Belege hierfür angesehen oder – wie im Sinne Heideggers zutreffender gesagt werden müsste – erhört werden. Es ist nicht einfach, Formulierungen, die den Schlehdorn nennen und die weidenden Schafe, den Weg und das abendliche Läuten der Glocken, philosophischen Sinn zu attestieren. Sie können allzu leicht als Zeugnisse naturidyllischer Schwärmerei anmuten, von der Verlockung, sie als Zeugnisse einer Blutund-Boden-Ideologie zu interpretieren, ganz zu schweigen. Doch sie sind weitaus mehr als Reminiszenzen an die Heimat im Schwarzwald. Sie können als die seltenen Zeichen jener hörenden Haltung des Menschen gelesen werden, die nicht nur Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit, wie Heidegger schreibt, erfordern, sondern die zugleich Zugehörigkeit zum Beziehungsgefüge des Seins signalisieren. Es ist immer wieder wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass er darunter keinen Begriff versteht, der ein Abstraktum bezeichnet, sondern Benennung der Vorfindlichkeit in der Welt. Den Schlehdornzweig zu nennen und das Bild aufzunehmen, das diese Nennung ist, ist keine Vermittlung einer Information, sondern selbst bereits sich mitteilendes Hören. Aufmerksamkeit auf das Unscheinbare, das sich in unverfälschter Weise mitteilt, muss der Mensch nach Heideggers Überzeugung erst erlernen, da ihn sein pragmatisches Denken zu weit von dieser Unmittelbarkeit des Ausdrucks entfernt hat. Doch warum ist es offenbar so wichtig, diese Fähigkeit wieder zu entdecken? Würde die Antwort lauten, dass sie das Wesen des Menschen ausmacht, könnte der Eindruck entstehen, als schwebe Heidegger für diesen das Ideal beschaulicher Untätigkeit vor. Dass dem nicht so ist, kann unter Bezugnahme auf seinen 1951 gehaltenen Vortrag Bauen. Wohnen. Denken gezeigt werden. Dort beschreibt er das Beispiel einer Brücke, deren Entwurf die Gegebenheiten der Landschaft nicht in sein Funktionskonzept zwingt, sondern sie aufgreift und in seine Planung einbezieht. Daran zeigt sich, dass das pragmatische, planend-entwerfende Denken nicht per se verwerflich ist. Seiner Dominanz gilt es zu widersprechen, wenn es zum Inbegriff des Denkens
Sprache denkend werden – Martin Heidegger
schlechthin zu werden droht. Nicht zufällig kommt Heidegger in seinem Vortrag auch auf das Geviert zu sprechen, das sich spätestens dort als Modell gelingender Seins-Relation empfiehlt. Von den vier Elementen, die sich darin gegenüberstehen, ist jedes für sich gleich-wertig und verdient daher gleich-berechtige Achtung: die Göttlichen und die Sterblichen, Erde und Himmel. Wenn wir dieses Modell im vorliegenden Kontext anwenden, zeigt sich eine weitere Deutungsmöglichkeit dieser Struktur-Darstellung. Die Göttlichen können ebenso das unpragmatische Denken repräsentieren wie der Himmel die zielunbedürftige Reflexion der Erde. Dadurch, dass den Begriffen des Menschen und der Erde, die in ihrer ganzen welthaften Tatsächlichkeit zu verstehen sind, jeweils Möglichkeitsformen zweckfreien Denkens gegenübergestellt werden, pendelt sich das Geviert in seiner schlichten Dynamik perfekt zwischen pragmatischer und frei reflektierender Haltung des Menschen, der nicht ohne Grund «in der Kreuzungsmitte des Seienden» steht, aus. Häufig variiert Heidegger den Begriff des Eigenen, dessen Ableitung des Eigentlichen wie kein zweiter sein Denken zu repräsentieren scheint. Eine später auftauchende Form liegt im Begriff des Eigentums vor, dessen Deutung die vorangegangenen Bemerkungen ergänzen kann. Dass damit nicht der Besitz des Menschen gemeint ist, bedarf wohl kaum der ausdrücklichen Erwähnung. Die Nennung «Eigentum» steht vielmehr für die Einkehr in das Ursprüngliche, in das wir nach Heideggers Auffassung ge-hören. In etwas weniger rätselhafter Weise besagt der Ausdruck, dass es eine Relation zur Welt gibt, die wir betreiben, weil sie für unser Dasein unverzichtbar ist, und eine Relation, die wir pflegen können, weil sie uns über jeden Nutzungsanspruch hinaus Welt erfahren lässt. Der Gedanke des Gevierts zeigt, dass beide Relationskreise notwendig sind. Doch jede einseitige Akzentuierung kann die fragile Balance der Markierungselemente unseres Denkens stören. Das gilt – auch wenn Heidegger selbst diesen Aspekt nicht erwähnt – auch dann, wenn eine einseitige Betonung des zielunbedürftigen Denkens erfolgen würde. Es sollte in diesem Kapitel noch einmal das SprachDenken Martin Heideggers im Mittelpunkt stehen. In einer Formulierung aus dem Jahr 1959 kommt dieses in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck: Die Frage: was ist Sprache? Muß fragen: Was ist eigentlich das Sprechen? Die Antwort weist in das Eigentümliche des Eigentums. […] Erst wenn wir die Sprache in das Eigentum entlassen, als dessen Weise, sie hörend, lassen, gelangen wir in das Entsagen, das keine Reflexion über die Sprache mehr zuläßt und so auch keiner Sprachphilosophie mehr bedarf. Erst wenn wir erfahren, angefangen stets, daß und wie die Sprache spricht, vermögen wir unser Sprechen hinreichend, vermögen wir das Entsagen.214
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Winke I und II, II, S. 123 ff.
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III. Gebotenes
Das Sollen wählen – Heinrich Barth Eines der deutlichsten Anliegen in Heinrich Barths großer Darlegung aus dem Jahr 1965 besteht darin, die Existenz-Frage als Erkenntnis-Frage auszuweisen. Es verwundert insofern nicht, dass Überlegungen ethischer Relevanz darin eher selten angestellt werden. Völlig anders steht es in seinen Vorlesungen Grundriß einer Philosophie der Existenz, die er in den drei Semestern 1951/52, 1954/55 und 1957/58 an der Universität Basel gehalten hat. Soweit es der relativ begrenzte Rahmen dieser Darstellungsform zulässt, skizziert Barth dort die wichtigsten Probleme, die sich für die Konzeption einer Philosophie der Existenz aus ethischer Perspektive ergeben. Damit leistet er dort einen Großteil jener Argumentation, den wir in den Schriften von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger vergeblich suchen. Aus einer übergeordneten Ebene hatte Hermann Cohen die grundsätzliche Schwierigkeit angesprochen, ob ethischen Aussagen Bedeutung für den Einzelnen zukommen kann. Seine Antwort bestand in dem Hinweis, dass nur dem Begriff des Mitleids, sofern er vor religiösem Hintergrund als Ausdruck der Leidhaftigkeit des Daseins anerkannt wird, existentielle Grundsätzlichkeit eignet. Diese wiederum ist erforderlich, um den Einzelnen als Adressaten und als Thema der Ethik zu rechtfertigen. Damit ist zwar der Einzelne zu seinem Recht gekommen, doch bleibt die Frage zunächst ungeklärt, ob er sich dadurch auch von Ethik angesprochen fühlt. Drei Jahre später wird sie von Rosenzweig gestellt und negativ beantwortet. Die Möglichkeit, sich als Einzelner in dieser Weise ansprechen zu lassen, beruht auf der Möglichkeit, Einzelner in einem Bindungsgeflecht sein zu wollen, dessen Inbegriff für ihn in der Gemeinschaft des jüdischen Volkes besteht. Doch selbst diese Feststellung, die für eine letztgültige Kompetenztrennung von Philosophie und Religion sprechen könnte, enthält für unsere Themenstellung einen aufschlussreichen Aspekt. Denn in ihr klingt die Frage an, aus welchem Grund der Einzelne, der sich unter Mühen aus der Dominanz gesellschaftlicher Normen zur Selbst-Bewusstheit befreit hat, den Weg in eine neue Gemeinschaft suchen sollte. Für den Versuch, eine existentielle Ethik vorzubereiten, hängt an dieser Erwägung Sinn und Wert der Vorstellung vom Einzelnen. Denn ist er letztlich nur eine Erscheinung des Übergangs, indem er eine kurze Phase der Vereinzelung durchlebt, die Voraussetzung neuerlicher Bindung ist, wird die Akzentuierung dieser Individualisierung bezweifelbar. Andererseits wäre Existenzphilosophie, die ausschließlich hierauf bestehen würde, schnell unglaubwürdig. Denn sie vermag das drängende Bedürfnis, Modelle menschlichen Miteinanders zu diskutieren, nicht zu befriedigen. An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, dass es doch im existentialistischen Denken sehr wohl derartige Überlegungen gibt, wie Individuum und Gesellschaft zueinander stehen. Unter ausdrücklicher Bekräftigung dieser Feststellung ist jedoch zu betonen, dass es sich bei Existenzphilosophie und Existentialismus – manch üblicher Auffassung zum Trotz – um grundsätzlich unter-
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
schiedliche Konzeptionen handelt. Existenzphilosophie macht als ein Denken nach dem Ersten Weltkrieg besonders in den 1920er und 1930er Jahren von sich reden. Ihr markantester Beitrag zum philosophischen Szenario der Zeit besteht im Hinweis auf den Einzelnen, dessen Denkbarkeit einer Revolution gleichkam. Zum ersten Mal trat der eine Mensch so in den Fokus philosophischer Betrachtung. Die Faszination, die von dieser Neuerung ausging, ist heute vielleicht kaum noch nachzuvollziehen. Zum ersten Mal ging es nicht mehr um den Menschen schlechthin, sondern um den Einzelnen. Existentialismus ist hingegen ein Denken nach dem Zweiten Weltkrieg, als auf die hohe Wertschätzung des Individuums bereits eine Phase der Ernüchterung folgte. Am deutlichsten wird dieser Umstand in der berühmten Formulierung Jean-Paul Sartres, der Mensch sei zur Freiheit verurteilt,215 das heißt, dazu verurteilt, als Einzelner immer wieder von Neuem entscheiden zu müssen, um seine Handlungen rechtfertigen zu können. Der kostbare Ertrag existenzphilosophischen Denkens ist binnen kürzester Zeit zu einer Bürde geworden. Die auffällig vielen Beschreibungen fast gewalthaften Miteinanders, die sich vor allem in Sartres L’Être et le Néant – Das Sein und das Nichts finden, können als Beleg hierfür gelesen werden. Umso spannender ist die Frage, welcher Form existentiellen Denkens wir in Heinrich Barths Schriften begegnen, die in die 1960er Jahre hineinreichen. Es ist kein Denken, das in die Beschreibung tiefer emotionaler Betroffenheit des Menschen einstimmt, wie wir sie in den ersten Seiten des Sterns der Erlösung kennenlernen. Es ist aber auch kein Denken, dass die Existenzphilosophie widerstandslos einer vermeintlich unheilvollen Vermengung mit der Ontologie überlassen will. Sprachlich deutlich konventioneller als Rosenzweig und Heidegger beruft es sich explizit auf Vernunft und die Bedeutung des Transzendentalen. Aber wird es dadurch zu einem konservativeren Denken, das die ursprüngliche Verve früher existenzphilosophischer Entwürfe kaum noch enthält? Unbestreitbar schlägt Heinrich Barth einen anderen Ton an als seine Vorgänger, von denen er sich zum Teil mit deutlichen Worten distanziert. Doch liegt darin auch ein großer Vorzug. Denn gerade weil er sich grundsätzlich zur philosophischen Tradition bekennt, ist es ihm möglich, Fragen, die dort diskutiert werden, auch vor existenzphilosophischem Hintergrund zu beleuchten. Im Zusammenhang ethischen Denkens bedeutet dieses in der Tat einen Vorteil von unschätzbarem Wert. Die einleitend gestellte Frage nach der Diskursfähigkeit existentiellen Denkens konnte mit Blick auf Rosenzweigs und Heideggers Schriften, die hier zugrunde gelegt wurden, eindeutig beantwortet werden. Ihr Ziel besteht kaum in einem Dialog mit der akademischen Philosophie, sondern in deren Erneuerung. Hier sei nur noch einmal an Heideggers Formulierung erinnert, man müsse sich «aus der
«Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.» Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 155. 215
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‹Philosophie› herausphilosophieren».216 Und Rosenzweig kündigt als Zeugnis seines intellektuellen Selbstverständnisses letztlich sogar das Mitwirken an einer Fortsetzung theoretischer Gelehrsamkeit auf. Auch das ist ein – wenn auch extremes – Verständnis existentieller Verantwortung. Doch so berührend eine solche Form höchster persönlicher Stellungnahme auch ist, lässt sie eine Vielzahl von Problemen unberührt, die angesprochen werden müssten, wenn die ethische Relevanz der Existenzphilosophie zu diskutieren ist. Welche Erträge bietet also der Blick auf Heinrich Barths Denken, das er in seinen Vorlesungen entwickelt? Eine richtungweisende Feststellung findet sich dort, die als Einleitung in die weiteren Betrachtungen geeignet ist: Existenz ist «Sein in der Entscheidung. In der ‹Entscheidung› liegt uns die Grundbedeutung der ‹Existenz›, […].»217 Bereits an dieser Stelle ist auf eine eventuelle Differenz zu den beiden bisher skizzierten Konzeptionen hinzuweisen. Für Rosenzweig und Heidegger – die in diesem Kontext tatsächlich in einem Atemzug genannt werden können – besteht in der Sprache ein Geschehen elementarer Bedeutung. Denn beide sind davon überzeugt, in ihr weitaus mehr sehen zu können als ein Informationssystem, nämlich den Ort, an dem sich die Fortsetzung der Schöpfung und die Verwandlung des Seins zum Seyn ereignet. Der Begriff des Ortes wurde mit Bedacht gewählt. Seins-Verwandlung, die auch Rosenzweig so deutet, ist kein Abstraktum, sondern die konkrete Schaffung von Bezügen im Sein, die beide, wenn auch aus unterschiedlichen Begründungen, als Verortungs-Geschehen betrachten. Das Dasein selbst wird verwandelt und zwar in der Weise der Handhabung des Dinglichen. In Heideggers späten Texten tritt der Gedanke des «Weltens» der Dinge immer deutlicher in den Vordergrund. Und Rosenzweig widmet im letzten Teil seines Sterns der Erlösung jenem Umgang mit rituellen Gegenständen, der im jüdischen Zeremonialgesetz festgelegt ist, größte Aufmerksamkeit. Beide Bezugnahmen auf Dingliches spielen sich jedoch nicht nur in hand-greiflicher Weise ab, sondern vor allem im Sprechen, das Gegenstände durch Benennung überhaupt erst zu solchen Dingen werden lässt, zu denen ein Bezug der Verweisung hergestellt werden kann. Heinrich Barth legt Wert darauf, Existenz als In-Erscheinung-Treten des Menschen in seinem Sein vorzustellen. Eine der Möglichkeiten dieses Erscheinens besteht seiner Auffassung nach im Wort: Das ‹Wort› kann als die sinn- und gehaltvollste Weise des In-die-Erscheinung-Tretens der menschlichen Existenz verstanden werden; die es wohl verdient, daß sie zum Gegenstande eines besonderen Zweiges der Philosophie gemacht wird, zum Gegenstande der Sprachphilosophie; der wir hier ihre Stelle in der Existenzphilosophie zuweisen.218
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Überlegungen II–VI, 51, S. 20. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 22. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 29.
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Heinrich Barth erläutert nicht, welche Art der Sprachphilosophie er vor Augen hat. Allein der Begriff deutet jedoch darauf hin, dass er hier keine grundsätzliche Neu-Schöpfung meint, sondern eine im bestehenden Konzept philosophischer Disziplinen aufgehobene Betrachtung des Wortes. Doch was ist darunter zu verstehen? Geht es um die Analyse von dessen Zeichenfunktion oder um einen existentiellen Blick auf die Bedeutung von Sprache? Letzteres scheint nahezuliegen, da sie doch auch hier als Bestandteil sich äußernder Existenz interpretiert wird. Ihr wird also eine zusätzliche Relevanz zugewiesen, die über logische Funktionsweise hinausgreift. Es ist jedoch ein weit ausholender Gedanke erforderlich, um auch in dieser Sichtweise eine Ähnlichkeit zu den Auffassungen von Rosenzweig und Heidegger ausmachen zu können. Indem der Mensch in seiner Existenz in Erscheinung tritt, was neben der «visuellen» Form auch im Wort geschieht, gibt er sich seinem Gegenüber zu erkennen. Es wird dadurch ein Verstehen unter Menschen gestiftet, das – so könnte in freier Fortführung des Gedankens gefolgert werden – letztlich zu einer Verwandlung des Seins führen könnte. Ob diese Folgerung allerdings in Barths Sinne wäre, bleibt fraglich. Im Vorgriff auf zu Zeigendes kann davon ausgegangen werden, dass er das sinn-setzende Durchwirken der Kontingenz in der Welt für möglich und erstrebenswert hält. Damit ist letztlich auch eine Verwandlung der Lebensrealität des Menschen intendiert. Hier wird sie jedoch nur einmal als Aufgabe an sich bezeichnet und sonst eher als Effekt, der durch existentielle Erkenntnis erschlossen werden kann. Aber macht es überhaupt einen Unterschied, ob der Mensch seiner Möglichkeit entsprechend agiert, weil er zur Verwandlung des Seins beitragen will oder ganz einfach deshalb, weil er es vermag? Es macht einen Unterschied, der im Begriff des Sinns erkennbar wird. In den beiden zugrunde gelegten Schriften von Heinrich Barth spielt dieser Begriff eine herausragende Rolle, da er mit dem Gedanken des Transzendentalen verbunden ist. Dadurch, dass dieses gedacht wird, wird der Sinn der Erkenntnis gesetzt, der folgende Entscheidungen auszurichten vermag. Auffällig selten wird hingegen bei Rosenzweig und Heidegger von Sinn gesprochen, obwohl die ganze Zeit über von nichts anderem die Rede ist. Doch handelt es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Bedeutung dieses Begriffes? Es könnte so wirken, als würde Barth ihn stärker im Kontext der Erkenntnis verankern, womit er zu einem Indikator umfassenden Verstehens würde. Denn im Gedanken des Sinns zeigt sich der Erkenntnis ausrichtende Wert des Transzendentalen, der dadurch zustande kommt, dass es gedacht wird. Obwohl Barth auf die Differenz von theoretischer und existentieller Erkenntnis verweist und Letzterer die Möglichkeit attestiert, die Konstitutionsdynamik der Sinn-Setzung als solche zu erschließen, scheint sein Augenmerk doch selbst dann, wenn er vom Existentiellen spricht, auf den Bedingungen seiner Erkennbarkeit zu liegen. Allein schon der Titel seiner großen Abhandlung Erkenntnis der Existenz bestätigt diesen Eindruck. Hieraus könnte nun gefolgert werden, dass Barth an Fragen der Ethik weniger interessiert ist, zumindest dann nicht, wenn diese auch den Aspekt mögli-
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cher Handlungsrechtfertigung einschließen. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu. Denn auch hier geht es Barth um das Verstehen der Bedingungen des Ethischen. Um auf den Begriff des Sinns zurückzukommen, heißt dieses, dass er als Testat des Verstehens der existentiellen Bewegung gedeutet werden kann. Vor diesem Hintergrund wird ein Stück weit Barths Distanzierung von ontologischem Denken nachvollziehbar. Denn seiner Ansicht nach ist jeder Versuch, aus dem Sein Sinnhaftigkeit ableiten zu wollen, zum Scheitern verurteilt, insofern es sich um den Sinn des Faktischen handeln würde, wohingegen er für den Sinn als Verstehen plädiert. Dieser erschließt sich in den Erscheinungen des Existentiellen. «Existenzphilosophie darf Erscheinung nicht übersehen oder mißachten; […]. Worin eine Gefahr von Heideggers Existenzphilosophie liegt. Man weiß nicht, ob seine Existenz in die Erscheinung tritt oder nicht.»219 Aus Heideggers Sicht könnte erwidert werden, dass dieses sehr wohl der Fall ist und zwar in der Sprache. Im Grunde ist Barth mit seiner Darstellung des Erkennens der In-Erscheinung-Tretenden, das ihm als Basis seiner Aussagen zum Verstehen der Menschen dienen wird, nicht weit von Heideggers Position entfernt. In der Sprache teilt sich die Existenz mit, so kann diese zusammengefasst werden. Vordergründig differieren dann allerdings die Konnotationen, die beide Denker dem Erkennen des Anderen in der Existenz zuweisen. Für Barth liegen sie im Verstehen des Prozesses des Erkennens; für Heidegger im Erfassen des Seins in seiner Möglichkeits-Struktur. Ob diese beiden Sichtweisen wirklich so stark divergieren, wie es momentan den Anschein hat, wäre zu fragen. Zunächst wird es darum gehen, die Implikationen der eingangs zitierten Feststellung zu erkunden, wonach Existenz Sein in der Entscheidung ist. Noch bevor eine nähere Betrachtung dieses Gedankens überhaupt beginnt, stellt der Begriff der Entscheidung an sich einen Bezug zum Ethischen oder doch zumindest zum Optionalen her. Denn der Auswahlcharakter einer jeden Entscheidung verlangt nach Kriterien ihrer Ausführung. Sofort ist damit aber auch die Gegenüberstellung verwirklichter und verworfener Abwägungen gegeben und damit die Frage, was letztlich zur Umsetzung einer Entscheidung führt. Doch treffen diese Aspekte überhaupt für Barths Begriff der Entscheidung zu, die doch existentielle Bedeutung signalisieren soll? Ein Blick in die Geschichte des existentiellen Denkens kann hier einen ersten Hinweis bieten. Bereits Søren Kierkegaard weist in seiner 1843 unter dem Pseudonym Victor Eremitus veröffentlichten Schrift Enten – Eller, Entweder – Oder darauf hin, dass es nicht auf diese oder jene Möglichkeit und deren eventuelle Werthaftigkeit ankomme, die in der Entscheidung gewählt werde, sondern auf das Wählen als solches. Denn in ihr löst sich der Einzelne aus seiner Unreflektiertheit, die ihn indifferent auf die verschiedensten Möglichkeiten des Daseins reagieren läßt, und tritt als Gestalter des eigenen SeinKönnens hervor. «Mein Entweder – Oder bezeichnet nicht zunächst die Wahl 219
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 23.
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
zwischen Gut und Böse, es bezeichnet die Wahl, durch die man Gut und Böse wählt oder sie ausschließt. Die Frage ist hier, unter welchen Bestimmungen man das ganze Dasein betrachten und selber leben will.»220 Entscheidung, von der auch im Sinne Heinrich Barths vornehmlich im Singular zu sprechen ist, ist keine Entscheidung zwischen Wahl-Möglichkeiten, sondern zwischen Seins-Weisen und damit immer auch Ausdruck des eigentlichen Existieren-Wollens. Gemeinsam ist der optionalen und der existentiellen Entscheidung, dass in ihnen aus einem Moment gegenwärtigen Entschließens eine Vorwegnahme dessen stattfindet, das zukünftig sein soll. Barth schreibt: «Mit der ‹Entscheidung› wird freilich in der Auslegung der Existenz nur eine neue Formulierung angeboten. Denn im ‹Vorziehen› ist auch die Bedeutung der ‹Entscheidung› schon beschlossen.»221 Und etwas später heißt es: «In der als Akt existentieller Erkenntnis verstandenen Entscheidung erschließt sich der Horizont einer Sinngebung der Existenz.»222 Wir haben es also mit dem Ausdruck menschlichen Existieren-Könnens und nicht seiner funktionalen Auswahl-Kompetenz zu tun. Doch so oder so würde aus der Möglichkeit, einem Noch-Nicht zur Verwirklichung zu verhelfen, die unausgesprochen damit einhergehende Setzung eines Sollens ersichtlich, insofern in der Entscheidung beschlossen wird, was in Zukunft sein soll. Während nun das optionale Abwägen auf die Zuhilfenahme bestimmter Kriterien angewiesen ist, die ihm – sei es unter dem Aspekt persönlicher Neigungen, sei es unter dem Aspekt einer Entscheidung für das Gemeinwohl – eine Alternative erstrebenswerter erscheinen lässt als eine andere, verhält es sich bei der existentiellen Entscheidung offenbar anders. Kierkegaard zeigte es auf: Es gibt nur die Alternativen zwischen Wählen oder Nicht-Wählen. Hebt sich damit das Erfordernis entscheidungsleitender Richtlinien auf? In gewisser Weise tatsächlich, insofern aus einem – wie wir vielleicht sagen würden – intuitiven Wissen entschieden wird, dass nur erstere Möglichkeit dem Selbst-Sein-Wollen entspricht. Die Kraft dieser Triebfeder, die im existentiellen Denken stärker als jede andere zur Geltung kommt, ist selten als solche thematisiert worden. Karl Jaspers’ Darstellungen sind hier zu nennen, in denen sich gerade an diesem Punkt seine psychiatrische Schulung und das damit einhergehende Interesse an der Entwicklungsgeschichte seelischer Phänomene am klarsten niederschlägt. Für den vorliegenden Kontext muss die Feststellung genügen, dass an dem Wert des Selbst-Seins, ob er nun unter dem Titel der Eigentlichkeit oder der inErscheinung-tretenden Existenz firmiert, zu keinem Zeitpunkt gezweifelt wurde. Auch Heinrich Barth setzt ihn über jede andere Artikulation menschlichen Wollens, sogar noch über den von ihm geschätzten Wert der Erkenntnis. Um diese Abhebung des Selbst-Sein-Wollens zu verdeutlichen, führt er eigens seinen Be220 221 222
Entweder – Oder, S. 718. Erkenntnis der Existenz, S. 137. Erkenntnis der Existenz, S. 138.
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griff existentieller Erkenntnis ein und kontrastiert ihn der theoretischen Erkenntnis. Seine existenzphilosophische Konzeption in ihrer Gesamtheit würde ins Ungleichgewicht geraten, wenn es lediglich als Darlegung des Gedankens vom Transzendentalen verstanden würde. Ebenso wichtig wie die Möglichkeit, diesen Gedanken zu fixieren, ist die Tatsache, dass der Mensch ihn erfassen kann, und zwar nicht als ein vorgegebenes Prinzip des Denkens, sondern als Produkt jenes Setzungsaktes, dem wir bei der Betrachtung der Entscheidung begegnen. Denn im Entwurf eines zukünftigen Sein-Sollens geht es, wie sich bereits abzuzeichnen beginnt, nicht primär um die Folgen einer bestimmten Handlung, die sich erst in der Zukunft auswirken mögen, sondern in einer metatheoretischen Betrachtung um die Bedeutung, die dem entscheidenden Entwurf als solchem zukommt. Er setzt in ganz und gar unpragmatischer Hinsicht das Noch-Nicht als Sein-Sollen, womit diesem Sein die Legitimierung des Sollens in Zukunft und Gegenwart zukommt. Den Gedanken dieses Umschlagens einer Setzung in ein sinn-setzendes Unbedingtes verbindet Barth mit dem Begriff des Transzendentalen als der absoluten Begründung der Denkbarkeit von Sinn. Der Begriff des Sollens, der in diesem Zusammenhang von ihm verwendet wird, zeigt eine Eigentümlichkeit. Denn einerseits verweist er natürlich auf eine Bestimmung dessen, was in Zukunft sein soll, beinhaltet jedoch darüber hinaus nicht zwangsläufig imperativischen Gehalt. Hierin unterscheidet sich Barths Verständnis klar von Jean-Paul Sartres auf den ersten Blick verwandt wirkender Auffassung. Ein Wert, den der einzelne Mensch kraft seines Entscheiden-Müssens wählt, weil er sich auf keine bestehenden Werte berufen kann, wird danach für alle Menschen bestätigt: Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. […] der Mensch, der sich engagiert und sich bewußt wird, daß er nicht nur jener ist, der zu sein er wählt, sondern auch ein Gesetzgeber, der mit sich die gesamte Menschheit wählt, dieser Mensch kann dem Gefühl seiner totalen und tiefen Verantwortung nicht entrinnen.223
Auch in Sartres Worten finden wir das Bild der Entscheidung über zukünftig Sein- Sollendes, doch besteht in diesem Fall kein Zweifel daran, dass dieses Sollen in erster Linie dem Faktum menschlichen Seins in seiner Konstitution als Existenz gilt. Die Formulierung vom Gesetzgeber deutet zwar auf Einzelfallentscheidungen hin, deren partikuläre Gültigkeit einzuhalten ist, doch wichtiger ist es für Sartre, den Aspekt der Affirmation des Seins durch den Menschen zu betonen. In seinem vielbeachteten Vortrag, den er im Oktober 1945 in Paris hielt, ging es ihm vor allem darum, eine Begründung der Verantwortung des Menschen für die Menschen vorzulegen, die in dieser historischen Situation den Wert des Engagements vorführen sollte. Die einzige Möglichkeit, das Füreinander-Sein zu erklären, nachdem religiöse und gesellschaftliche Wertvorstellungen durch die Erfah223
Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 151 f.
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rungen zweier Weltkriege fragwürdig geworden waren, bestand im Hinweis auf das Für-Einander der Menschen. Diese Bedingung der Möglichkeit des Einstehens für den Anderen zu erkennen, könnte – in Analogie zur Benennung bei Heinrich Barth – als existentialistische Erkenntnis bezeichnet werden. Der Einzelne demonstriert seine «tiefe und totale Verantwortung» und setzt sie damit als Wert für jeden Menschen. In der Aussage, dass diese Verantwortung für alle zutrifft, wird insofern auch ein Sollen gesetzt, da sich diese allgemeine Beschaffenheit menschlichen Miteinanders auch demjenigen als verbindlich zeigen soll, der sie möglicherweise nicht in ihrer uneingeschränkten Gültigkeit erschließt. Liegt eine vergleichbare Ausweitung individueller Entscheidung auf alle Menschen auch bei Heinrich Barth vor? In einer Hinsicht kann diese Frage zustimmend beantwortet werden. Der Entscheidung darüber, was zukünftig sein soll, kommt auch bei ihm den Einzelfall überschreitende Relevanz zu. Jedoch betrifft diese nicht die existentielle Begründung der Verantwortung, sondern des Wertes von Erkenntnis. Es ist interessant, wie lange Barth in seiner Gedankenführung bei der Deutung des «‹Sein-Sollen[s]› dessen, was entworfen ist»224 verharrt. Eine Erklärung hierfür könnte in der inzwischen fast selbstverständlich klingenden Feststellung liegen, dass er Existenz auf Erkenntnis bezieht. Mit der Überlegung, ob dem setzenden Sollen auch ethisch imperativische Weisungskraft zukommen sollte, würde er seine Betrachtung zum Teil auf eine andere Ebene verlagern. Umso bemerkenswerter ist es zu sehen, wo der Aspekt verbindlicher Gültigkeit bei ihm auftaucht: […] ‹Entscheidung› ist ein sinnafter Akt: ein Akt verpflichtender Erkenntnis. Sie ist das Entwerfen eines Zukünftigen in der unmittelbaren Bezogenheit des Entwurfes auf sein Gegenwärtig-Werden. […] Entscheidung ist ‹existenzielle Erkenntnis›, d. h. Erkenntnis, die die Existenz praktisch in Anspruch nimmt. Das aller Entscheidung bedeutungsmäßig innewohnende Sinnmoment kann vom ‹Ex-sistere›, von der Aktualisierung, nicht abgelöst werden.225
Die Abfolge der angesprochenen Aspekte zeigt Barths Priorisierung an. Zunächst geht es um die Klärung der Funktionsweise von Erkenntnis. «Existieren ist zu verstehen als ein Heraustreten in eine Aktualisierung der Erkenntnis.»226 Dadurch, dass diese nicht als situationsfernes Geschehen stattfinden kann, kommt ihr existentielle Bedeutung zu. Doch in erster Linie gilt: «Die Existenzfrage ist als Erkenntnisfrage eine Wahrheitsfrage.»227 Auf den ersten Blick scheinen hier zwei Bestandteile einer Annahme zu kollidieren, die nicht sofort ihre Vereinbarkeit zeigen. Auf der einen Seite steht der Begriff der Existenz, mit dem, wie sich gleich 224 225 226 227
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 25. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 36. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 32. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 38.
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erweisen wird, auch Barth ein individuelles Existieren verbindet. Auf der anderen Seite sehen wir den Wahrheitsbegriff, der seiner Definition nach auf allgemeine Verbindlichkeit deutet. Andernfalls würde es sich um berechtigte Meinungen handeln, doch nicht um Wahrheit. Wie schon beim Begriff der Erkenntnis unterscheidet Barth theoretische von existentieller Wahrheit. Allein Letzterer attestiert er «ethische Bedeutung, in der sie verpflichtenden Charakter hat»:228 Die Existenz wird von dieser Wahrheit in Anspruch genommen; dahin, daß sie in der aktuellen Erkenntnis des Vorzüglichen, d. h. in der entwerfenden Entscheidung zu der bessern Möglichkeit des Entwurfes, in die Erscheinung tritt. Diese Wahrheit ist aber aller denkenden Objektivierung unzugänglich. Nur in der Entscheidung, nicht neben ihr, vollzieht sich der Akt der Erkenntnis existenzieller Wahrheit; eben in ihr macht sich ihre verpflichtende Bedeutung geltend.229
Der Gedanke, dass jede Entscheidung aus einer existentiellen Situation erfolgt und insofern immer entsprechende Bedeutung hat, wird hier mit einem Begriff von Wahrheit verbunden, der ihr zusätzlich ethisches Gewicht verschaffen soll. Doch wie überzeugend ist die damit einhergehende Begründung verpflichtender Bedeutung? Wie passt der Begriff des Vorzüglichen in die vorliegende Argumentation? Wahrscheinlich würde sich bei dessen Erwähnung sofort die Assoziation an eine aktuell vollzogene Abwägung anbieten, bei der nach Prüfung der bestehenden Möglichkeiten die bessere, vorzüglichere favorisiert wird. Diese Assoziation würde hier allerdings auf eine falsche Spur führen. Denn es geht Barth, auch wenn er von der Unzugänglichkeit für «denkende Objektivierung» spricht, nicht primär um die Ausrichtung der Einzelfallentscheidungen und die damit einhergehende Frage ihrer Motivation in der Präferenz einzelner Optionen. Sein Anliegen besteht vielmehr darin, logische Wahrheit von – diesen Ausdruck verwendet er nicht – Wahrhaftigkeit zu unterscheiden. Darauf deutet seine Bezugnahme auf den Wahrheits-Begriff des Neuen Testaments hin.230 Vielleicht wirkt die folgende Verbindung überraschend. Aber Barths Vorstellung ähnelt Franz Rosenzweigs Auffassung, wonach sich Wahrheit zu «bewähren» habe, da sie kein starres Gefüge theoretisch begründeter Wertigkeit sei, sondern Denken, das unser Handeln motiviere und infolgedessen nur an unseren Handlungen zu erkennen sei. So wird es möglich zu erfahren, ob ein Tun Ausdruck existentieller Haltung ist. Barth würde dieses vermutlich In-die-Erscheinung-Treten der Erkenntnis nennen.
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 39. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 39. 230 «[…] ‹in der Wahrheit stehen›. Eine Wahrheit, die in Einem Ziel und Voraussetzung unserer Existenz ist; aber nicht als ein-für allemal vorhandene Grundlage.» Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 39. 228
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Das Sollen wählen – Heinrich Barth
Vor diesem Hintergrund wird es möglich, eine Frage zu formulieren, die letztlich jede existentielle Konzeption betrifft, sofern diese auf den Gedanken von Wahl und Entscheidung als genuin menschlichen Aktionen beruht: Ist die Verwirklichung existentieller Möglichkeit per se als gut zu bezeichnen? Es ist faszinierend, dass sich eine solche Fragestellung kaum findet. Ohne Bedenken wird davon ausgegangen, dass ein Mensch im Existentiellen das ihm Eigene verwirklicht. Doch an der Stelle brechen die Überlegungen zumeist recht unvermittelt ab. Oder wurde es schlichtweg für überflüssig erachtet, auszusprechen, was sich von selbst versteht? Diese Erklärung wiegt nicht schwer genug. Denn natürlich ist die Verwirklichung jener Möglichkeit, über die nur wir verfügen, an sich erstrebenswert, weil sich selbst rechtfertigend. Aber ist sie deshalb auch gut? Hier könnte sich eine generelle Schwierigkeit in dem Versuch ergeben, die Gedanken des Existentiellen und des Guten zu verbinden. Wenn es eine existentielle Definition des Guten gäbe, müsste sie nicht danach fragen, was gut ist, sondern für wen es gut ist. Eine Klärung, die dem Begriff als solchem gilt, würde gerade dem Anspruch des existentiellen Denkens widersprechen, aus bestimmten Situation gebildet und folglich in bestimmten Situationen für den Einzelnen gültig zu sein. Eine Umfangsbeschreibung des Begriffes an sich würde diese Prämisse – im Grunde die einzige, die Existenzphilosophie kennt – missachten. Hier kann noch einmal an die Feststellungen von Hermann Cohen und Franz Rosenzweig erinnert werden, wonach Ethik, die als wissenschaftliche Disziplin den Rahmen einer Definition des Guten liefern würde, nicht imstande sei, den Einzelnen zu berücksichtigen. Scheidet damit die Frage danach, was gut ist, aus, bleibt diejenige übrig, für wen es das ist. Jean-Paul Sartre fällt an dieser Stelle das Verdienst zu, eben diese Überlegung angestellt zu haben. Auf seinen Gedanken wurde hingewiesen: Indem ein Mensch für sich wählt, wählt er die Menschen, was im Detail bedeutet, dass individuelle Wahl einen Wert von allgemeiner Verbindlichkeit setzt. Doch warum ist das so? Weil es eine individuelle Wahl gar nicht gibt, da das Wählen an sich bereits Affirmation des Menschhaften und als solches die Wahl des Guten ist. Sartre spricht diesen Punkt tatsächlich an und bestätigt damit eine Konsequenz, die so selten benannt wurde: «Wählen, dies oder das zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir wählen, zu bejahen, denn wir können niemals das Schlechte wählen; was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann gut für uns sein, ohne es für alle zu sein.»231 Der Begriff des Guten, den Sartre hier verwendet, rekurriert auf das Faktum menschlichen Mit-Seins oder der «Koexistenz», wie Heinrich Barth es nennt. Im 231 Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 151. Zum Vergleich diese extrem wichtige Passage im Original: «Choisir d’être ceci ou cela, c’est affirmer en même temps la valeur de ce que nous choisissons, car nous ne pouvons jamais choisir le mal; ce que nous choisissons, c’est toujours le bien, et rien ne peut être bon pour nous sans l’être pour tous.» L’existentialisme est un Humanisme, S. 32.
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Handeln verwirklicht der Einzelne sein Vermögen, das Sartre allerdings eher als eine Verpflichtung interpretiert, da sich der einzelne Mensch nicht anders als entscheidend und agierend verhalten kann. Seinen einzelnen Handlungen gehen Abwägungen dessen voraus, was verwirklicht werden soll. Diese Überlegungen orientieren sich noch nicht an einer Vorstellung des Guten, das möglicherweise gut für alle Menschen ist, sondern sie können durchaus von individuellen Präferenzen, die der jeweiligen Situation geschuldet sind, geleitet sein. Wo tritt dann aber das «für alle» Gute hervor? Im Moment, in dem die Tatsache zu Bewusstsein gelangt, dass individuelles Agieren immer in einem Umfeld menschlicher Bezogenheit stattfindet. Das Wichtige an Sartres Auffassung besteht darin, dass wir das Gute nicht als Ziel unserer Handlungen erstreben, sondern dass es sich erst in unserem Handeln zu erkennen gibt. Es gibt, so banal es auch klingt, kein solitäres Handeln, sondern nur Umfeld-bezogenes Agieren. Der Unterschied, auf den in diesem Fall geachtet werden muss, resultiert daraus, dass Handeln einmal als Ausdruck der individuellen Entscheidungen und ein andermal als Konstituens existentieller Bezogenheit betrachtet werden kann. Wird diese Sichtweise mit den Aussagen Heinrich Barths verglichen, zeigt sich eine nicht unbedeutende Ähnlichkeit. Zunächst scheint sich eine Differenz abzuzeichnen, wenn er in seiner Erkenntnis der Existenz erklärt: «Wir haben uns die ‹Handlung› klar gemacht als die teleologisch ausgerichtete Erkenntnis eines ‹Vorzüglichen›, […].» Bis hierher könnte es so klingen, als würde das Vorzügliche die Handlung ausrichten. Dann heißt es aber: Das Telos der Handlung manifestiert sich in seiner Bedeutung, es gibt sich in seiner Bedeutung zu erkennen, indem es als ‹vorzüglich› einleuchtet und die Aktualität dieser Vorzüglichkeit, dieses aus der ‹Erwägung› des Vorzüglichen herausspringenden Sein-Sollens, in einer Aktualisierung kundgibt – in einer Aktualisierung, die auf das Wirklichwerden des Telos ausgerichtet ist.232
Nun wird deutlich, dass die Handlung, indem sie sich realisiert, zugleich den Wert dessen, worauf sie sich ausrichtet, als richtungweisend setzt. Der Handelnde könnte eine andere Entscheidung verwirklichen und doch würde die Gültigkeit dieser funktionalen Regel davon nicht betroffen sein. Für Barth geht es nicht darum, zu erklären, wie wir uns für das Gute entscheiden können, sondern wie überhaupt möglich ist, etwas als das Gute zu erkennen. Wir erkennen es, so lautet seine Antwort, weil es mit dem Verstehen von Existenz identisch ist. Dieser Gedanke formiert sich in strikter Analogie zu jenem, der dem Zustandekommen der Erkenntnis von Sinn gilt. Sinn motiviert nicht unsere Sicht des Möglichen, sondern er wird durch dessen Verwirklichung gesetzt. Aus dieser Perspektive wird seine Zurückweisung einer Vorstellung des Transzendenten nachvollziehbar. Es gibt kein der existentiellen Bewegung des Menschen Vorgängiges, ganz 232
Erkenntnis der Existenz, S. 200.
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
gleich, ob es als Wahrheit, Sinn oder das Gute bezeichnet werden soll. Jeder dieser Begriffe benennt, wenn sie denn nach Barths Auffassung überhaupt zu unterscheiden wären, ein und denselben Vorgang, in dem der Mensch die Bedeutung seines Verstehens für seine Existenz – und damit Existenz schlechthin – bestimmt. An diesem Punkt liegt die Versuchung nahe, umso bereitwilliger auf den Gedanken des Transzendenten zurückzugreifen, weil Barth nicht die Formulierung von Einzelfall-Regelungen fokussiert, die im Handeln befolgt oder verworfen werden, sondern die Bedingung der Möglichkeit, etwas als gut zu denken. Dieser Verlockung wirkt er jedoch sofort entgegen: Wir haben uns nun aber weiterhin klar gemacht, daß es nicht weniger unmöglich ist, der Erfahrung des je Einzelnen die Begriffe in der inhaltlichen Erfüllung ihrer Bedeutung als ein ‹a priori› vorangehen zu lassen. […] Wir meinen damit nicht nur jene platonische Ablösung des Eidos von der Erdenwelt, derzufolge es wie mit ehernem Griffel in die Fundamente einer ewigen Ordnung der Dinge eingeschrieben ist.233
Bedeutung kommt wert-vermittelnden Begriffen nicht an sich zu. Sie wird ihnen vielmehr im Erkennen des Menschen, das sich auf die Bedingungen seines Handelns richtet, attestiert. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als nur in der Vielfalt realisierter Handlungsvollzüge sinnvoll nach ihrer Gemeinsamkeit, die Inhalt der Erkenntnis sein wird, gefragt werden kann. Hierin sieht Barth, um auf diese Differenzierung noch einmal hinzuweisen, die Besonderheit existentieller Erkenntnis: «In theoretischer Erkenntnis wird uns einsichtig etwas, das ‹ist›. In existentieller Erkenntnis wird uns einsichtig etwas, das ‹wird›. Dieses ‹Werden› können wir durch keine ‹Erklärung›, die außerhalb der existentiellen Erkenntnis ihre Grundlage hat, überholen.»234 Nur vor diesem Hintergrund macht das Verständnis des Sein-Sollens, dem wir hier begegnen, Sinn. Denn das Werden ist einerseits immer ein Werden in bestimmter Situation, andererseits aber auch in seiner Struktur, ein Vorwegnehmen zu sein, erkennbar. Eine der größten Herausforderungen scheint für Barth darin zu bestehen, diese Bipolarität in seiner Konzeption existentieller Entscheidung, die auch als Handlung erkennbar wird, plausibel darzustellen. Der Fokus, das kann festgestellt werden, ohne eine verkürzte Deutung vorzunehmen, liegt auf der Darlegung der Funktionsweisen des Erkennens und Verstehens von Existenz. Doch könnte nicht ausschließlich dieser Präferenz gefolgt werden, da dann fraglich würde, worin das Interesse an der Existenz besteht. Die Darstellung würde sich auf dem Feld erkenntnistheoretischer Erwägungen bewegen, ganz so, wie es Barth selbst als einen Teil des Erkenntnisbegriffes ausweist. Im Gegensatz zu der Ausführlichkeit und Akribie, mit der «das Existenzproblem als Erkenntnisproblem» erörtert wird, wirken die Aussagen zur existentiellen Erkenntnis und 233 234
Erkenntnis der Existenz, S. 142 f. Erkenntnis der Existenz, S. 202.
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gar zur Überlegung, welche Folgen aus Handlungen resultieren können, spärlich und fast ein wenig beiläufig. Barth weist zwar darauf hin, dass im existentiellen Bezug des Menschen ein Angehen im Sinne eines «Angelegen-Seins» enthalten ist, doch bleibt es in der Erkenntnis der Existenz letztlich bei dieser Feststellung. Im Grundriß einer Philosophie der Existenz schenkt er diesem Begriff etwas größere Aufmerksamkeit und gelangt sogar zu einer Einschätzung gesellschaftlicher Verantwortung. Während auch im Interesse eine Erscheinung des AngelegenSeins zu sehen ist, fehlt ihm «noch jede Ausrichtung auf existentielle Wahrheit»,235 die erst das eigentliche Anliegen kennzeichnet. Und dann folgt eine Bemerkung, deren Sonderstellung in den beiden Texten nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann: Die Gesellschaft darf sich aber nicht nur die ‹materielle› Existenz ihrer Glieder etwas angehen lassen; vielmehr auch die geistige, die ethische, die kulturelle Existenz; ihre ganze persönliche Existenz. […] Ein guter, humaner Sozialismus wird die wirkliche Existenzlage der Einzelnen, ihre innern und äußern Lebensbedingungen, im Auge behalten und ihre Verschiedenheit respektieren.236
Sind es nicht letztlich Äußerungen wie diese, die von Existenzphilosophie erwartet werden? Nicht die Stellungnahme für eine bestimmte Gesellschaftstheorie vielleicht, aber eine Erwägung, wie dieses Denken dem Menschen in seiner je individuellen Situation gilt, vom Nutzen ganz zu schweigen. Reicht es aber aus, zwar theoretische von existentieller Erkenntnis zu unterscheiden, doch die Bedeutung der Letzteren in starker Verkürzung zu beleuchten, obwohl die Begründung der Denkbarkeit des Begriffes der Bedeutung in detaillierter Weise vorgenommen wird? Existenzphilosophie präsentiert sich bisher in drei Phasen, in denen dieses Denken auf sehr verschiedene Anforderungen intellektueller Natur reagiert. Die 1920er Jahre mit ihrem immensen Bedürfnis nach einer philosophischen Konzeption des Einzelnen, die 1940er Jahre, in denen unter dem Titel des Existentialismus mit dem Erbe der Existenzphilosophie gerungen wird, und schließlich die 1960er Jahre, in denen der existenzphilosophische Impuls sich zum Teil unter anderen Denominationen wiederfinden lässt. So wird es eine lohnende Aufgabe sein, ihn auf sein mögliches Fortbestehen im Denken der Postmoderne zu befragen. Heinrich Barth tritt in dieser Phase mit dem Vorsatz an, eine Existenzphilosophie zu begründen, die sich nach eigener Aussage teilweise massiv von bestehenden Entwürfen abheben soll. Einer der Unterscheidungspunkte betrifft sein Verständnis vom Sein-Sollen, dem in der Entscheidung zur Aktualisierung verholfen wird:
235 236
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 159. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 164 f.
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
Das, wozu sich der Handelnde entscheidet, ist weder ein Seiendes, noch ein schlechthin Nicht-Seiendes, sondern Ziel, Entwurf, Vorsatz – also ein Sein-Sollendes, das sich als solches der Ebene des Ontischen nicht einordnen läßt. […] In der gegenwärtigen Existenzphilosophie taucht das ‹Sein-Sollen› mehr nur am Rande der Überlegungen auf. Es gilt nicht als ein wahrhaft bedeutungsvolles Prinzip.237
Diese Aussage verdeutlicht, was Barth unter dem Sollen nicht versteht, nämlich imperativische Weisung, die unmittelbaren Einfluss auf die Handlungsbegründung der Menschen haben könnte. Stattdessen interpretiert er diesen Begriff als eine Funktionskomponente des Wollens, insofern ohne den Aktualisierung diktierenden Aspekt des Sollens dessen Gewolltes nicht realisierbar wäre. Damit erhält die Formulierung des Sein-Sollens formale, nicht ethische Bedeutung. Es könnte gefragt werden, ob damit nicht ein Begriff für die Diskussion von Ethik verlorengeht, der unter Umständen noch immer relevant wäre. Dass es Barth tatsächlich um die funktionelle Interpretation des Sollens im Aktualisierungsprozess geht, die nicht zwangsläufig mit einer Präferenz-dominierenden Wirkung verbunden ist, zeigt folgende Bemerkung: Worauf beruht denn imgrunde die Handlung? Offenbar darauf, daß ein Telos in seinem Sein-Sollen ‹sich zu erkennen gibt› oder ‹einleuchtet›. Indem es aber einleuchtet nicht wie ein Lehrsatz, sondern wie ein Vor-Satz, manifestiert es sich in seinem Sein-Sollen, und dies nicht ohne in der Aktualisierung der Handlung diese Bedeutung des Sein-Sollens zu bewähren.238
Eine immer wiederkehrende Dynamik zeigt sich in Barths Ausführungen. In ihrem Mittelpunkt steht sein Interesse an dem Erkenntnisvollzug, den er als Geschehen der Existenz betrachtet. Erst in einem Nachsatz erfolgt der Hinweis auf Implikationen dieses Gedankens im Kontext existentieller Bedeutung, so wie sie bisher im Zentrum dieser Philosophie standen. Es wäre übertrieben, daraus auf ein nur mäßiges Interesse Barths an diesem Teil existentiellen Denkens schließen zu wollen. Doch von einer auffälligen Gewichtung seiner Argumentationsschwerpunkte kann gesprochen werden, ohne in den Bereich der Spekulation abzudriften. Eben weil Aussagen zu den Konsequenzen der Erkenntnis für einen Begriff der Existenz, der auch deren Verortungsgeschehen im Sein reflektiert, so selten sind, liegt auf ihnen ein besonderes Gewicht. Das trifft auch für den Ausdruck des Bewährens in obigen Zeilen zu. Sein-Sollen als «Vor-Satz» bedeutet, dass es als jener ausrichtende Impuls gilt, der für jede Aktualisierung eines Gewollten unverzichtbar ist. Die damit ausgesprochene uneingeschränkte Gültigkeit kann letztlich nur in einem Funktionsmodell aufrechterhalten werden, das der Erklärung eines generellen Ablaufes dient. Sollte es in einem anderen Bereich zur Anwendung kommen, müsste sein universeller Geltungsanspruch explizit be237 238
Erkenntnis der Existenz, S. 186 f. Erkenntnis der Existenz, S. 187.
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gründet werden. Mit dem Versuch einer solchen Begründung würde das Denken jedoch leicht in die Nähe zu den von Barth so klar zurückgewiesenen Versuchen geraten, sich hierfür auf das Sein als letztgültige Basis der Verbindlichkeit zu berufen. Im weiteren Verlauf dieser Überlegungen werden exakt diese Versuche näher zu beleuchten sein. Denn sie scheinen trotz der Ablehnung, der wir hier begegnen, ein vielversprechender Ansatz für das Vorhaben zu sein, die Möglichkeiten einer existentiellen Ethik auszuloten. Um die Abhebung der Barthʼschen Konzeption von Existenzphilosophie von deren ontologischer Ausrichtung abschließend noch einmal zu veranschaulichen, bieten sich die Äußerungen zum Begriff der «Güte» an, die im Grundriß einer Philosophie der Existenz zu finden sind. Ausgangspunkt ist eine kurze Betrachtung des Bösen in seinem Verhältnis zum Guten, die auf der Basis philosophiehistorischer Erwägungen geführt wird. Sehr schnell gelangt Heinrich Barth dann auch dort zu einer Ablehnung der ontologischen Perspektive, die seiner Auffassung nach beiden Begriffen einen «Seinsgehalt» zuweisen würde. In Abgrenzung davon heißt es: Wir suchen das Problem des Bösen nicht von der Ontologie, sondern von der Existenzphilosophie her aufzuwerfen. Für sie besteht ‹Güte› der Existenz in ihrer Ausrichtung auf existentielle Wahrheit. Das Mehr oder Weniger dieser Güte ist ein Mehr oder Weniger an existenzieller Erkenntnis.239
Der Gebrauch des Begriffes der Güte dort, wo vielleicht derjenige des Guten zu erwarten gewesen wäre, ist bemerkenswert. Nach landläufigem Verständnis bezeichnet er nicht etwas, das positiv als Qualität besetzt ist, sondern eine Haltung, in der sich die Eigenschaft der Mildtätigkeit ausdrückt. Doch will Barth auf diese Bedeutung anspielen? Sein auch hier vorgenommener Hinweis auf den Zusammenhang von Existenz und Erkenntnis spricht im ersten Moment dagegen. Wenn es sich nicht um eine beliebige Wortwahl handelt, was im Grunde auszuschließen ist, liegt in dem Begriff der Güte die wohl kompakteste Zusammenführung des herkömmlichen und des von Barth eingeführten Verständnisses von Existenz. Auch in den Entwürfen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger ging es nicht nur darum, Existenz als pure Weise des Da-Seins zu bezeichnen, die sich in der unmittelbaren Erfüllung von Entscheidungen realisiert. Auch dort wurde auf den Prozess des Verstehens abgezielt, der sich in der Erschließung des Zusammenhanges von Erfahren und Entsprechen abzeichnet. Gleichwohl hielten sich die Aussagen zu Verstehen und persönlichem Beteiligtsein zumindest bei Ersterem noch die Waage. Heinrich Barth verlagert die Gewichtung der Betrachtung nun eindeutig auf die Seite des Erkenntniswertes von Existenz und lässt die Frage, was dieses Verstehen für den Menschen bedeutet, gleichsam mitlaufen, ohne sie extensiv zu thematisieren. Die Vorstellung von Güte beinhaltet Erken239
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 80.
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
nen und Sich-zu-erkennen-Geben im «Mehr oder Weniger». Denn nur auf das verstehende Erschließen bezieht sich die Möglichkeit, ein Mehr an Güte überhaupt denken zu können. Es geht also nicht darum, etwa ein stärkeres oder vermindertes Befolgen von Geboten oder Weisungen zu erklären, da diese für Barth von sekundärem Interesse sind. Ein besseres Existieren lässt sich nicht an absoluten Maßstäben abschätzen, da es diese nicht gibt. Auch Ethik kann nicht wertsetzend und handlungs-motivierend in einem Sinn aufgefasst werden, der die jeweilige Handlung des Einzelnen in seiner Situation umgreift und sie damit letztlich ohne Berücksichtigung der je bestehenden Bedingungen auszurichten beansprucht. So kann auch «das Gute» nicht als Bezeichnung einer absoluten Korrelationsgröße menschlichen Wollens und Agierens verstanden werden. Lediglich von partiellen guten Aktualisierungen kann gesprochen werden, die dann das Maß existentieller Erkenntnis meinen. Diese Zurückweisung einer alle Einzelfälle umfassenden Vorstellung des Guten hängt für Barth mit seiner Ablehnung ontologischen Denkens zusammen. Denn dem Sein könnte seiner Auskunft nach ein solcher absoluter Wert zuerkannt werden, wenn es denn zum tragenden Prinzip des Existenz-Verständnisses erklärt würde. Eine sehr gute Möglichkeit, diesen Gedanken Barths zu vertiefen, bieten seine Bemerkungen zur Frage der Sinnhaftigkeit der Existenz. Auch dort stehen zwei alternative Betrachtungsweisen zur Verfügung: auf der einen Seite die partikulär-individuelle Bestätigung von Sinn und auf der anderen Seite dessen übergeordnete Gültigkeit. Strikt weist Barth den Versuch, hier auf «übergreifende Zwecke» zu verweisen, denen menschliches Agieren zu dienen hat, zurück.240 Denn andernfalls würden die einzelnen Momente individuellen Wirkens «ausschließlich den Charakter des Mittels zur Realisierung ‹höherer Zwecke›» haben. Bisher hatte Heinrich Barth seine Bemühungen, die Individualität existentieller Entscheidungen zu betonen, zugunsten seiner Betrachtung der Funktionsweise der Erkenntnis dieser Entscheidungen in den Hintergrund gerückt. Bisher hatte sich auch das Bild ergeben, dass der Sinn der Existenz durch die Bezugnahme des Denkens auf ein Transzendentales, das es denkend setzt, sichergestellt wird. Diese Deutung könnte zunächst als der Versuch gewertet werden, einen Sinn zu formulieren, der zwar von Entscheidung zu Entscheidung bewahrheitet wird, an sich aber im Gedanken des Transzendentalen begründet liegt. Denn darin sieht Barth gerade mit Blick auf die Frage der Erkenntnis die Funktion dieses Gedankens: Er soll gewährleisten, dass die unendliche Vielfalt individueller Erkenntnisakte nicht in einem unvermittelten Nebeneinander zerfasert, sondern dass sich Einzelerkenntnisse im Wissen um das Transzendentale verstehen lassen. Auf die Frage nach dem Sinn übertragen bedeutet dieses, dass alle einzelnen Akte, mit deren Hilfe Sinn erkennbar wird, doch nur zu einem Begriff des gemeinsamen, nicht zu einer Behauptung umfassenden Sinns führen. Insofern 240
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 73.
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können sie niemals Mittel zum Zweck sein, sondern stellen jeder für sich Affirmation von Sinnhaftigkeit dar: Allein auch hier kommt nicht absolute, nur relative, begrenzte Sinnerfüllung in Frage; nie geht es auch auf diesem Felde um die Möglichkeit einer totalen, in sich abgeschlossenen und vollendeten Sinngebung. Darum kann der einzelne Existenzakt nie durch seine Sinnbezogenheit auf irgendein Telos als unbedingt sinnvoll beglaubigt werden; auch nicht in dem Sinne, daß er es freilich nur relativ zu realisieren vermöge.241
Weder bei Franz Rosenzweig noch bei Martin Heidegger wurde der Begriff des Sinns einer eingehenden Prüfung unterzogen. Tatsächlich wäre das auch unnötig gewesen, da seine Bedeutung für die Bewegung der Existenz nicht eigens nachgewiesen werden musste. Für beide liegt die Bedingtheit der Existenz im Sein, eine Auffassung, die für Heinrich Barth keinesfalls in Betracht kommt. Denn seiner Überzeugung nach würde dadurch die Möglichkeit behindert, die Bedeutung einzelner Existenz-Akte akzentuieren zu können. Auf diese legen jedoch auch Rosenzweig und Heidegger wert. Wie können sie diese also, aus der Position von Barth gefragt, behaupten? Letztlich in genau derselben Begründungsweise, die auch er anwendet. Den Gedanken eines Zieles, auf das sich alles Wirken ausrichtet, will er nicht zur Erklärung menschlichen Handelns in Anspruch nehmen. Stattdessen beruft er sich auf die Begründung der Möglichkeit sinnhaften Handelns, indem er den Begriff des Transzendentalen in sein Konzept der Existenzphilosophie einführt. Der Gefahr gänzlich zusammenhangloser Einzelaktionen entgeht er, indem er es trotzdem als begründet ansieht, und zwar nicht durch einen Grund, aus dem etwas geschieht, sondern einen Grund, auf den sich etwas ausrichtet. Nicht das Ziel, sondern die Möglichkeit sinn-setzenden Wirkens ist für ihn entscheidend. Nicht nach dem Woher, sondern dem Woraufhin der existentiellen Bewegung ist zu fragen. Dieser Gedanke kann allerdings kaum für ein religiös geprägtes Denken geltend gemacht werden, wie wir es bei Franz Rosenzweig finden. Oder täuscht dieser Eindruck? Es wurde bereits mehrfach auf dessen besondere Sichtweise hingewiesen, die als onto-theologisch bezeichnet wurde. Mit dem Glauben an die Schöpfung verbindet Rosenzweig seinen Begriff vom Sein, was dadurch ermöglicht wird, dass beide als Geschehnis-Grundlage gedeutet werden. Mit der Erschaffung der Welt setzt ihre eigentliche Gestaltung erst ein, diese Auffassung ist dem Stern der Erlösung zweifelsfrei zu entnehmen. Gleiches trifft aber auch zu, wenn der Begriff des Seins zur Bezeichnung der Grundlage aller Gestaltung verwendet wird. Nun könnte diese Feststellung allein noch nicht überzeugend wirken, weil noch darauf verwiesen werden kann, dass er dem Bild der Vorwegnahme des Erlösungsgeschehens im letzten Teil seiner Ausführungen größte Aufmerksamkeit schenkt. Im Gebet und in rituellen Handreichungen ist eine solche Vorwegnahme vorstellbar. 241
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 74.
Das Sollen wählen – Heinrich Barth
Bevor auf diesen Einwand reagiert wird, ist kurz ein anderer Gedanke in den Vordergrund zu rücken. In der Vorwegnahme realisiert sich im Grunde genau das, was Heinrich Barth als das Sein-Sollen unter funktionalem, nicht unter ethischem Aspekt bezeichnet. Der Mensch im Gebet trifft die Entscheidung über das, was in Zukunft sein soll, so als läge es in seiner Hand. In diesem Moment ist es für Rosenzweig fast irrelevant, ob Erlösung über den Menschen kommen wird oder nicht. Allein die gemeinsame Geste der Betenden schafft, weil sie aus dem Grund der Möglichkeit, in dieser Weise wirken zu können, entspringt, existentielles Sein, das heißt Sein aus der Entscheidung. Doch zurück zu der ursprünglichen Überlegung. Würde in der Erlösung das Ziel jener Art bestehen, die Heinrich Barth ablehnt, weil sie den Wert der einzelnen existentiellen Akte nivellieren würde, verlöre nach Rosenzweigs Auffassung die Schöpfung ihre wichtigste Bedeutung. Sie wäre dann das Initiationsmoment eines Prozesses, der letztlich als eine kontinuierliche Annäherung an seinen Abschluss zu betrachten wäre. Es würde genau das eintreten, wovor Barth warnt: Die Bedeutung der individuellen Entscheidung würde hinfällig. Rosenzweig betrachtet Schöpfung zwar als Ausgangspunkt, jedoch versucht er zu zeigen, dass es die Voraussetzung existentiellen Wirkens ist, wodurch das Welt-Sein erst gestaltet wird. Erinnern wir uns: Auch Rosenzweig betont – sogar stärker als Heinrich Barth – die Notwendigkeit einer philosophischen Fokussierung des Einzelnen. Würde er dessen existentielle Bewegung als eine vorgeprägte Bewegung verstehen, würde er seine Konstituierung, die aus individuellen Erfahrungen resultiert, weitgehend für belanglos erklären. Handelt es sich hingegen um eine Bewegung, die aus dem Sein hervorgeht, werden die Einflüsse, die die Persönlichkeit des Einzelnen prägen, Teil dieses Ermöglichungsgrundes von Existenz. Ein Gedanke, der sowohl Rosenzweigs als auch Barths Konzeptionen betreffen könnte, gilt der Auffassung von Existenz als solcher. Wenn der Mensch Sein gestaltend wirkt oder wenn er in seinem Denken des Transzendentalen sinn-setzend wirkt, agiert er in höchster Übereinstimmung mit seinem Vermögen, das ihn als Menschen auszeichnet. Keiner der beiden Denker greift zur Benennung dieser Tatsache auf den Begriff des Wesens zurück, den die philosophische Terminologie hierfür anbieten würde. Doch sogar Heinrich Barth spricht einmal von der «Bestimmung» des Menschen, womit er auf dessen Fähigkeit, zu erkennen, anspielt. Aus dieser Warte betrachtet, wirkt die Zurückweisung eines Sinn garantierenden Telos des Denkens und Handelns problematisch. Denn der existentiell erkennende Einzelne bewegt sich exakt in dem Rahmen des ihm Möglichen, der zugleich sein menschliches Sein als Existenz ausweist. Und bei Rosenzweig? Hier verhält es sich nicht anders. Der Rahmen dessen, was uns möglich und damit angemessen ist, steht fest. Wenn Barth sich gegen die Annahme eines absolut gültigen Telos ausspricht, geht es im Grunde um die Zurückweisung der ontologischen Sichtweise, deren Nähe zu seinem Verständnis von Existenzphilosophie er mehrfach zu verhindern sucht. Doch wie hängen die Vorstellungen vom Sein und vom Telos zu-
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sammen? Nach Barths Deutung sind sie dadurch verbunden, dass Sein als Prinzip verstanden jedes Agieren, das ihm folgt, bestimmt. Die beiden gerade skizzierten Ausrichtungen von existentiellen Bewegungen würden dadurch zusammenfallen. Genau das würde aber seiner Überzeugung nach die Nivellierung der Entscheidungskompetenz des Einzelnen bedeuten. Existenz wäre letzten Ende ein vorgegebener Vorgang, der entfaltet, was nicht anders sein könnte. Im Vergleich zu dieser Auffassung bietet sich ein Blick auf Heinrich Barths eigenes Verständnis von Existenz an, die er als Sein in Erkenntnis versteht. Die Annahme eines Prinzips der Existenz weist er zurück. Doch dann steht er vor dem Problem, das er gerade unter Bezugnahme auf ontologisches Denken benannt hat. Auf seine eigene Konzeption bezogen lautet es: Wie individuell kann das Erkennen des Einzelnen sein, wenn es seiner Definition nach Erkennen im Wissen um das Transzendentale ist? Erkennen ist nur in der einen Form möglich, doch jeder Mensch realisiert dessen Möglichkeit individuell, so lautet seine Antwort. Es geht momentan nicht darum zu fragen, ob diese Erwiderung zu überzeugen vermag. Ihre Betrachtung weist vielmehr auf eines der schwerwiegendsten Probleme existentiellen Denkens hin. Wie ist die Forderung, den Einzelnen zu denken, mit der Notwendigkeit vereinbar, gemeinsam gültige Strukturen im Denken zu formulieren? Wir sind dieser Schwierigkeit bereits zu Beginn dieses Kapitels anlässlich Hermann Cohens Feststellung begegnet, es könne keine Aussagen ethischer Gültigkeit für den Einzelnen geben. Es ist ohne Zweifel ein verführerischer Gedanke, dem Einzelnen einen Platz in philosophischer Theoriebildung zu verschaffen, zumal dieser Schritt schon in den 1920er Jahren längst überfällig war. Wenn dieser Zeitpunkt genannt wird, soll damit nicht das Verdienst von Søren Kierkegaard geschmälert werden, die Stadien individueller Entwicklung aufgezeigt zu haben. Es soll nicht das Werk Friedrich Nietzsches übergangen werden, das in bis dahin kaum vorstellbarer Radikalität dem Wollen des Einzelnen zu seinem Recht verhelfen sollte. Es kann nur immer wieder betont werden, dass – diese Phasen einer Vorgeschichte des existentiellen Denkens eingerechnet – dessen eruptive Artikulation nach dem Ersten Weltkrieg stattfand. Zur Erklärung kann auf den Umstand hingewiesen werden, dass dessen Auswirkungen in den unterschiedlichsten Bereichen menschlichen Erfahrens und menschlicher Lebenswirklichkeit derart einschneidend gewesen sein müssen, dass eine neue Formsprache der Philosophie gesucht wurde, die deren verändertem Selbstverständnis gerecht werden konnte. Einige Aspekte wie eben die Ausrichtung auf den Einzelnen, was auch die Persönlichkeit des Philosophen einschließt, wurden im ersten Kapitel angesprochen. So notwendig und so lange erwartet also der Versuch ist, das Bild des Einzelnen in die verschiedenen philosophischen Resorts einzuführen, so massiv sind die Folgeschwierigkeiten, deren Gewicht im ersten Moment vielleicht noch gar nicht absehbar gewesen ist. Zu ihnen zählt, wie sich gerade abgezeichnet hat, vor allem die Frage, was aus den philosophischen Konzeptionen wird, die bisher nicht auf den Einzelnen, sondern
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den Menschen als Gattungswesen zugeschnitten waren. Bislang war die Überlegung weitgehend unnötig, ob diese eventuell Raum für individuelle Differenzen oder erfahrungsbedingte Präferenzen lassen sollten, da das, was für einen Menschen galt, für alle Menschen zutraf, eben weil es nach den Erfordernissen der Allgemeingültigkeit konzipiert war. Dieser kurze Abriss ist zugespitzt und vereinfachend formuliert, keine Frage. Doch ist er in dieser Weise vielleicht hilfreich, um den Schwierigkeitsgrad existenzphilosophischer Positionierung zum Beispiel im Bereich der Ethik ermessen zu können. Damit ist die Betrachtung an dem Punkt angelangt, an dem das nächste Kapitel einzuleiten ist. In ihm wird jene Frage gestellt, deren Beantwortung entscheidend für die Erwägung sein wird, wie allgemeingültig Aussagen der Existenzphilosophie sein können. Sollen sie für mehr als ein Individuum zutreffen, muss überlegt werden, worin zwei Individuen übereinstimmen können. Konkret heißt das, nach der Bindungsfähigkeit des Einzelnen zu fragen.
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IV. Vereinzelungen
In aller Klarheit notiert Heinrich Barth in seiner Vorlesung an der Universität Basel: «Bis dahin stand die Existenz in ihrer Aktualisierung durch den Einzelnen im Blickpunkt. Wie gelangen wir zur ‹Gemeinschaft›?»242 Ein gemeinsames Verfolgen eines Zieles, an dem sich eine beliebig große Anzahl von Einzelnen beteiligt, genügt als Begründung seiner Ansicht nach nicht. Denn, so kann in Erinnerung an das kürzlich Erwähnte vermerkt werden, auch dann würden nicht dessen Wert und Besonderheit im Vordergrund stehen. Vielmehr würde jeder sich Beteiligende Mittel zum Erreichen eines gemeinschaftlich verfolgten Zwecks sein. Eine Sichtweise, die Vergemeinschaftung als pragmatische Maßnahme darstellt, die dazu beiträgt, die Interessen der Menschen im Verbund effektiver zu erreichen, scheidet insofern von vornherein aus. Damit fällt letztlich jeder auf gesellschaftlichen oder individuellen Interessen basierender Zusammenschluss von Menschen als Erklärung aus, so dass nur eine Begründung, die nicht auf Interesse basiert, infrage kommt. Interesse darf nicht mit existentiellem Angelegen-Sein verwechselt werden, so viel hat sich bereits gezeigt. Denn Ersteres führt im günstigsten Fall zur Ausbildung theoretischer Erkenntnis, Letzteres hingegen zu existentiellem Verstehen. Bereits überlagert die erkenntnistheoretisch akzentuierte Betrachtung ihr mögliches ethisches Pendant. Es kann danach gefragt werden, welche pragmatischen Gründe Menschen dazu veranlassen, sich miteinander zu verbinden. Keine Antwort, die auf diese Frage gegeben werden könnte, würde jedoch genügen, da der Maßstab existentieller Verwirklichung nach Barths Auffassung nicht im Bereich des Wirkens, sondern des Erkennens liegt. Entsprechend schreibt er: ‹Gemeinschaft› ist aber auch mehr als die vorzüglichste unter den vorhandenen Sozialbeziehungen. Sie ist die geschichtlich erfüllte Koexistenz der Menschen, sofern sie auf der transzendentalen Voraussetzung aller Existenz beruht. Sofern dieses transzendentale Prinzip die Existenz des Einzelnen begründet, führt es zur ‹Persönlichkeit›; sofern es die Koexistenz begründet, zur ‹Gemeinschaft›.243
Das Prinzip, das hier erwähnt wird, besteht in der Erkennbarkeit der in Erscheinung tretenden Existenz, die hier mit dem Begriff der Persönlichkeit in Verbin242 243
Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 153. Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 155 f.
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IV. Vereinzelungen
dung gebracht wird. Sobald wir uns als existentiell kompetente Persönlichkeiten zu erkennen geben, kann ein zunächst zweckorientiert anmutendes Bündnis in Koexistenz verwandelt werden.244 Auf den ersten Blick könnte es so wirken, als würde Barth hier doch auf den zuvor zurückgewiesenen Gedanken vom Telos, das das Tun ausrichtet, zurückgreifen. In der Erkenntnis der Existenz spricht er sogar selbst vom Sich-Ausrichten auf «sinngebende Transzendenz».245 Dagegen kann jedoch darauf verwiesen werden, dass das In-Erscheinung-Treten der Persönlichkeit nicht Ziel der existentiellen Bewegung, sondern deren Folge ist. Ein Restgehalt der Schwierigkeit scheint jedoch nicht vollständig aufgelöst werden zu können. Denn indem ein Mensch in der Entscheidung das Sein-Sollen setzt, setzt er damit automatisch die Gültigkeit des Transzendentalen. Existentielle Entscheidung ist insofern zielgerichtet. Zielgerichtet ist sie, doch entsteht das Telos dieser Auffassung nach erst im Moment seiner Aktualisierung und fungiert nicht als jene umfassenden Sinn gewährende Vorstellung, gegen deren Annahme sich Barth wendet. An einem anderen Punkt der anstehenden Fragestellung könnte jedoch überlegt werden, ob seine Aussagen stichhaltig sind. Wir sind dem Aspekt bereits im Themenkreis der Sprache begegnet. Die Äußerungen zum «Ich und Du», die in dem Zusammenhang angeführt wurden, entstammen Barths Überlegungen zum Begriff der Koexistenz. Dass mit dem Gedanken des Du «ein Erwachen sozialer Verantwortung in der Region eines gereiften Selbstbewußtseins unserer Zeit» einhergeht, wurde bereits angesprochen. Dieser Effekt, und um einen solchen handelt es sich Barths Ansicht nach, ist allerdings nicht geeignet, eine wirklich substantielle Einsicht in das Wesen der Koexistenz zu verschaffen: Hinter dem ‹Du› steht ‹Er›. Und er ist Repräsentant jener erdrückenden Übermacht von Menschen, mit denen wir keineswegs auf vertrautem Fuße stehen. Uns ist es wahrscheinlich nicht einmal verstattet, mit ihnen in die Relation des Dialogs zu treten. […] Aber ‹ihm› vermag ich nicht zu begegnen. Denn er ist mir ferne oder er wendet sich von mir ab.246
Damit sich der Blick nicht in verschiedenen Bezugspunkten verirrt, ist darauf hinzuweisen, dass mit diesen Überlegungen der im weiteren Verlauf zu reflektierende Boden betreten wird. Denn um die Frage klären zu können, wie eine Gemeinschaft von Existierenden entstehen könnte, muss zunächst erläutert werden, «Alle nur denkbaren Sozialgebilde können sich selbst als ‹Gemeinschaft› verstehen, sofern sie sich nicht nur von dem spezifischen Momente her verstehen, das eben diese Sozialgebilde stiftet, sondern dem übergreifenden Gesichtspunkte her, der die Glieder solcher Sozialgebilde als koexistente menschliche Persönlichkeiten erkennen läßt.» Grundriß einer Philosophie der Existenz, S. 156. 245 Erkenntnis der Existenz, S. 362. 246 Erkenntnis der Existenz, S. 364.
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IV. Vereinzelungen
wie sich diese Existierenden als ihresgleichen erkennen. Die Relation des Ich und Du reicht aus Barths Perspektive offensichtlich nicht als Begründung aus. Doch hier öffnet sich die eben angekündigte Frage: Unterschätzt er damit nicht deren Bedeutung? Das Ich und Du wird als reine Verbal-Beziehung gedeutet, die in einen Dialog als Meinungsaustausch mündet. Damit verkürzt Barth das argumentative Potential dieser Beziehung dramatisch. Denken wir noch einmal an die kurzen Bezugnahmen auf Stellungnahmen von Hermann Cohen, Franz Rosenzweig oder Ferdinand Ebner, kann als einhellige Meinung eines festgestellt werden: Es handelt sich nach deren Verständnis nicht um eine Verbal-Beziehung auf Gesprächsniveau. Kein Wunder, so kann sofort eingewendet werden, denken doch alle drei in religiösem Kontext. Würde die Formulierung lauten «vor religiösem Hintergrund», könnte ihr zugestimmt werden. Denn besonders für Cohen und Rosenzweig beansprucht der philosophische Hintergrund fast ebenso viel Raum. Im Ich und Du drückt sich also nicht die einzige Beziehung zwischen Gott und Mensch aus, sondern, ohne eine verzerrende Qualitätsminderung zu erfahren, auch die Möglichkeit der Beziehung zwischen Menschen. Hier darauf zu achten, dass diese Beziehung nicht immer schon gegeben ist, wenn zwei miteinander sprechen, so wie es Barth erscheinen lässt, ist wichtig. Denn die Ich-DuRelation ist Möglichkeit, die der Verwirklichung bedarf und eben keine Selbstverständlichkeit. Im Grunde erfüllt diese Deutung genau Barths Anspruch als Begründung entstehender Koexistenz. Denn auch diese ist – wie allein schon der Ausdruck zu erkennen gibt – keine Selbstverständlichkeit und keine formalontologische Bestimmung im Sinne eines «Mit-Seins», sondern qualitativ wertige Bezugnahme. Wodurch diese nach Rosenzweigs Ansicht zustande kommt, wird sich noch zeigen. Doch zurück zu Barths Kritik: Für eine sinnvolle Koexistenz genügt es nicht, daß sich zwei Individuen in der Intention eines Dialoges begegnen. Denn Erkenntnis wird uns nicht wohlfeil geschenkt. Sie manifestiert sich nicht bei der ersten besten Gelegenheit. In unserer existenzphilosophischen Literatur ist viel zu viel vom ‹Dialoge› als solchem die Rede […]. Wir dürfen uns nicht erlauben, in unsere Darlegungen über ‹Existenz›, als ein allenthalben feilgebotenes Inventarstück, auch das ‹Gespräch› einzufügen.247
Wäre es nachzuweisen, dass Heinrich Barth den Stern der Erlösung kannte, müssten diese Zeilen als absichtsvolles Missverstehen erscheinen. Als Adressat seiner Stellungnahme kommt Karl Jaspers in Betracht, dessen Auffassung von Transzendenz diesen andernorts schon einmal zu heftiger Polemik herausgefordert hat. Die Relation dieser beiden Denker ist jedoch noch viel zu wenig erforscht, um an dieser Stelle Spekulationen über die vermeintlich wahren Gründe der Distanzierung anzustellen. Da im Bild des Dialoges «die geringste Sorge um
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Erkenntnis der Existenz, S. 367.
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seinen Erkenntnisgehalt bemerkbar würde»,248 scheidet diese Form der Bezugnahme der Menschen zur Erklärung des Zustandekommens von Koexistenz aus. Diese Zurückweisung ist umso bemerkenswerter, als Barth etwas später im Verlauf seiner Bemerkungen zur Koexistenz auf «das Wort» zu sprechen kommt, in dem sich die Bedeutung des Anderen erschließt. Auf diese Passage seines Textes wurde bereits mit Blick auf sein Sprachverständnis kurz hingewiesen. Mit dem Begriff der Bedeutung wird allerdings in dieser Auslegung nicht die Relevanz des anderen Menschen als dieses bestimmten Einzelnen angezeigt, sondern das Faktum, dass er innerhalb der Erkenntnis in Erscheinung tritt. «Im ‹Wort› erscheint nicht ‹Etwas›, sondern der Akt der Erkenntnis von Etwas.»249 Was im ersten Moment wie ein Ausweichen vor der Persönlichkeit des Einzelnen aussehen könnte, insofern er mir lediglich als erkennbar, nicht als Erkannter begegnet, soll nach Barths Ansicht die Möglichkeiten gewährleisten, Koexistenz zu denken. Dass er diese von der Vorstellung eines Mit-Seins, wie sie Martin Heidegger in Sein und Zeit eingeführt hat, unterscheiden will, hat sich bereits angedeutet.250 An diesem Punkt scheint Barth jedoch zwei Auffassungen von unterschiedlichem argumentativen Status zu vergleichen. Auf der einen Seite die Feststellung Heideggers, die der Konzeption von Sein und Zeit entsprechend lediglich ein fundamentalontologisches Kriterium benennt. In dem Rahmen geht es ja gar nicht darum, wie eine eventuelle Interaktion unter Mit-Seienden erfolgen könnte. Es wird lediglich das Faktum zeitgleichen Seins genannt. Nicht einmal von einem Gegensatz «des Einen» und «des Anderen», von dem Barth spricht, ist hier die Rede. Auf der anderen Seite steht Heinrich Barths Begriff der Koexistenz, der kein ist benennt, sondern ein Werden-Können. Menschen können einander angehen und zwar dann, wenn sie einander verstehen. Und das ist genau dann der Fall, wenn sie einander zu erkennen geben, weil sie in Erscheinung treten. Hier steht die Begegnung von existierenden Individuen im Fokus. Die Möglichkeit der Existenz steht in Heideggers Hinweis auf das Mit-Sein noch gar nicht zur Diskussion. Weiter heißt es: Es ist aber wesentlich, das ‹Verstehen des Andern› in seiner existentiell erfüllten Bedeutung zu erkennen. Wir erkennen es als die existentiell gehaltvolle Reflexion auf eine Aktualisierung der Existenz, die nicht die meinige ist. So gelangen wir zum Probleme der auf eine uns fremde Existenzgeschichte reflektierenden Erkenntnis. Es ist dies eine Geschichte, die mich ‹etwas angeht›. Warum geht sie mich etwas an? Weil es mir nicht gleichgiltig sein kann, ob sich die Aktualisierungen meiner Existenz für die Existenz des Andern so oder so auswirken.251 Erkenntnis der Existenz, S. 367. Erkenntnis der Existenz, S. 387. 250 «Von einem neutralen, unpersönlichen Gegensatz ‹des Einen› und ‹des Anderen› her wird uns keine Auseinandersetzung mit diesem Probleme gelingen.» Erkenntnis der Existenz, S. 372. 251 Erkenntnis der Existenz, S. 374.
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Barth vollzieht hier einen gedanklichen Übergang, der die Einführung des Begriffes der Verantwortung vorbereitet. Indem der Andere mir als existierend erscheint, erkenne ich ihn als ebenso existentiell betroffen wie mich selbst. Verantwortung «gewinnt ihren Sinn von einer und derselben transzendental begründeten Sinngebung.»252 Die Frage, wie der Andere mir zum Nächsten, das heißt zum mich angehenden Gegenüber werden kann, wird durch den Bezug auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen beantwortet, eine Erklärung, die keineswegs selbstverständlich ist. Hermann Cohen etwa hat in der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums auf das Mitleiden verwiesen, eine Antwort, mit der das genaue Gegenteil dessen erreicht wird, was Arthur Schopenhauer rund siebzig Jahre zuvor intendierte. Ihm dient die Akzentuierung des Mitleids zwar auch dazu, das Wiedererkennen der existentiellen Situation am Anderen zu belegen. In einem weiteren Schritt führt dieses dann aber dazu, dass das Individuum die Selbstbezogenheit seines Leidens zu überwinden vermag. Cohen zeigt im Gegensatz dazu, dass der Mensch sich, gerade weil er dazu in der Lage ist, mit dem Anderen mitzufühlen, erst eigentlich als Einzelnen erfahren kann. Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht treffender, vom Mitgefühl als vom Mitleid zu sprechen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema unter phänomenologischer Perspektive nahm Edith Stein 1916 in ihrer Dissertation Zum Begriff der Einfühlung bei Edmund Husserl vor. Selbst bei oberflächlichster Betrachtung zeichnet sich der Unterschied eines solchen Ansatzes, der auf emotional-selbstreflexiver Ebene angesiedelt ist, vom Konzept Heinrich Barths ab, das als erkennend-reflexiv bezeichnet werden könnte. Einfühlung basiert auf der Überzeugung, dass Menschen in vergleichbarer Weise affektiv auf ihre jeweilige situative Bedingtheit reagieren. Dieses Wiedererkennen eines aus eigener Erfahrung vertrauten emotionalen Repertoires ist möglich, weil der Andere in der Artikulation eben dieses Repertoires in Erscheinung tritt. Als letzte Begründung wäre das jedoch noch nicht ausreichend, da die Vielfalt vorstellbarer Einfühlungsakte durch ein verbindendes Element, in diesem Fall ein verbindliches Gefühl, vereinheitlicht werden müsste. Edith Sein, auf deren Denken sich die letzten Bemerkungen beziehen, weil Hermann Cohens Aussagen an dieser Stelle nicht detailliert genug sind, setzt als begründendes Prinzip die Liebe an. Weit von diesem Ansatz, das Mich-Angehen des Anderen zu erklären, ist Heinrich Barths Erläuterung entfernt, so scheint es zumindest. Wenn er von der «transzendental begründeten Sinngebung» spricht, deren Wirkung sich in Erkenntnis erschließt, scheinen Gedanken emotionaler Verfasstheit deutlich in den Hintergrund zu treten. Ein etwas anderer Eindruck stellt sich vermutlich ein, wenn jener Teil seines Denkens betrachtet wird, der dem Verstehen gilt. Wir verstehen den Anderen, der uns – in Erscheinung tretend – begegnet, weil wir seinen Ausdruck als Ausdruck existentieller Erkenntnis deuten können. Spätestens 252
Erkenntnis der Existenz, S. 375.
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an dieser Stelle wird die Doppelfunktion des Erkenntnis-Begriffes sichtbar. Ein Mensch erkennt die Sinnbezogenheit seiner Existenz und wird dadurch als Verstehender erkennbar. In dieser Weise kann Erkenntnis als jenes Band fungieren, das über jede physische Nähe oder Ferne des Einzelnen hinweg Koexistenz stiftet: Gibt es zwischen der Reflexion auf die von uns aktualisierte Existenz und der reflektierenden Vergegenwärtigung der Existenz des Andern einen grundsätzlichen Unterschied? […] Ich reflektiere auf eine Aktualisierung, in der ich, der Reflektierende, aktuell existiert habe. […] Es ist aber ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der existentiellen Behaftung, die der Andere zu tragen hat, und von der ich, der in Beteiligung Reflektierende, betroffen werde. – Wesentlich ist aber das Erwachen der Erkenntnis, daß ‹seine› Existenz mich ‹etwas angeht›. Solche Erkenntnis schafft diejenige Atmosphäre, in der erkennbar wird, was wir dem koexistierenden Menschen schuldig sind.253
Dieses Angehen stellt die Voraussetzung des Gefühls der Verantwortlichkeit dar. In den beiden zuletzt zitierten Textpassagen ist von diesem Angehen die Rede, zunächst in der Weise, dass es nicht gleichgültig lassen kann, wenn sich meine Existenz auf die des Anderen auswirkt. Doch warum ist es so? Die Antwort bietet der zweite Textauszug. Reflexion der eigenen Existenz findet nach Barths Auffassung als ein Sich-Beziehen auf das eigene Gewesen-Sein als Existiert-Haben statt. Für diese Weisen der Existenz ist der Einzelne verantwortlich, insofern sie aus seiner Entscheidung resultieren. Da ich dieses Zusammenspiel von Entscheidung, Verantwortung und Existenz unter Bezugnahme auf die Verbindlichkeit seiner transzendentalen Begründung auch am Anderen erkennen kann, trage ich zwar nicht für seine Entscheidungen als solche Verantwortung, bin aber unter Anerkennung des genannten Wirkmusters für sie mit-verantwortlich. Mit-Fühlen und Mit-Verantwortung markieren die beiden Extreme einer Skala möglicher Begründungen des Sich-angehen-Lassens. Obwohl Barth versucht, ihm entgegenzuwirken, bleibt doch der Eindruck, dass der einzelne Mensch in seiner Konzeption vielleicht gar nicht so bedeutsam sein könnte, wie es die sich stetig bewahrheitende Gültigkeit der transzendentalen Begründung von Existenz ist. Dafür spricht zum Beispiel, dass ein Ausdruck wie der der «existentiellen Behaftung» einmal gebraucht, aber nicht erläutert wird. Selbst die in diesem Rahmen am häufigsten von ihm verwendete Formulierung des Sich-angehen-Lassens bleibt in letzter Konsequenz unkommentiert. Dadurch wirken Aussagen über die reale Beziehung von Individuen immer dann ein wenig enttäuschend, wenn sie nicht deren wechselseitiges Erkennen betreffen. Natürlich könnte darauf gedeutet werden, dass mich allein schon die Erkenntnis des Anderen als erkennend wie ich nicht unberührt lassen kann und mich folglich etwas angeht. Doch könnte sich daraus eine nicht unbedeutende Konsequenz ergeben. Meine Mit-Verantwortung bin ich 253
Erkenntnis der Existenz, S. 372.
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nur demjenigen «schuldig», dem ich in Koexistenz begegne, den ich also als erkennend wie ich verstehe. Trifft das aber ausnahmslos auf jeden Menschen zu? Was ist mit demjenigen, der nicht in Erscheinung tritt, dessen existentielle Behaftung sich mir nicht erschließt? Oder könnte dieser Fall gar nicht eintreten? Das wäre allerdings nicht wahrscheinlich. Nicht jeder Mensch wird sich des Bezuges seiner existentiellen Erkenntnis auf ihr transzendentales Prinzip bewusst sein. Auch wenn dieses als transzendentales uneingeschränkt gilt, heißt das noch lange nicht, dass es auch von jedem erkannt wird. Zwar ist Barth sichtlich darum bemüht zu zeigen, dass Existenz kein exklusives Sein ist, doch können manche seiner Aussagen gerade diese Folgerung nicht gänzlich verhindern. An dieser Stelle könnte gefragt werden, ob Heinrich Barths Auffassung der Reflexion, in der ich ausschließlich mein Gewesen-Sein erfassen kann, nicht sehr deutliche Ähnlichkeit zur Sichtweise Jean-Paul Sartres zeigt. Knapp zwanzig Jahre zuvor hatte dieser in Das Sein und das Nichts eine Theorie menschlicher Interaktion entworfen, die nicht vom Gedanken einer berührenden Begegnung, sondern von rein funktionalem Verständnis geprägt ist. Aufgrund der zeitlichen Entwicklung unserer Existenz, in der stets ein Entwurf auf das zukünftige Sein den vermeintlichen Status quo gegenwärtigen Seins überformt, ist uns eine Reflexion unserer momentanen Existenz versperrt. Erst im Blick des Anderen wird uns eine Momentaufnahme unseres Gerade-so-Seins geboten, da wir dessen Inhalt zum Gegenstand unseres Bewusstseins machen können. Zeitlichkeit der Existenz denkt auch Heinrich Barth, so dass bis zu diesem Punkt tatsächlich eine Ähnlichkeit festgestellt werden könnte. Diese würde auch die grundsätzliche Ausrichtung der Argumentationen beider betreffen. Denn beiden geht es nicht primär darum, eine philosophische Reflexion der existentiellen Natur menschlichen Seins einzuleiten, die auf dem Verständnis emotionaler Empfänglichkeit beruht, wie sie vor allem von Karl Jaspers vertreten wird. Stattdessen fokussieren sie den Vorgang des Erkennens als ein Erfassen existentieller Bedingtheit. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von der Funktion des Bewusstseins als jener Ermöglichung eines Seins-Bezuges des Menschen. Struktur-Erkenntnis steht im Mittelpunkt, was nicht bedeutet, dass nicht auch darauf eingegangen würde, welche Wechselwirkungen zwischen Bewusstsein und Emotion möglich sind. Inzwischen sind die Überlegungen bei der Frage angelangt, wie der Einzelne, das nicht verhandelbare Kernstück existentiellen Denkens, Relevanz für den anderen Menschen erlangen kann. Die Antwort von Heinrich Barth hat sich soweit geklärt, dass in einem ersten Schritt festgehalten werden kann, dass dieses ausschließlich auf der Basis existentieller Erkenntnis vorstellbar ist. Doch noch immer vermag diese Aussage nicht vollständig zu überzeugen. Denn sie scheint eine Problematik zu beinhalten, die sich nicht ohne Weiteres wird auflösen lassen. Auf der einen Seite könnte davon ausgegangen werden, dass ich den Anderen verstehe – der Begriff, der für Barth entscheidend ist –, weil er mich in seiner existentiellen Verfassung berührt. In dem Fall wäre es unnötig, weiterhin auf die
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Bedeutung der transzendentalen Begründung von Erkenntnis zu verweisen, da es sich hier um ein Einfühlen und nicht um ein Erkennen, das der Begründung bedarf, handeln würde. Barths Einführung des Begriffes vom Transzendentalen würde sich also an diesem Punkt der Existenzphilosophie als nicht zwingend erforderlich erweisen. Auf der anderen Seite könnte auf dem Sinn dieser Einführung bestanden werden. Denn sie soll nach Barths eigener Auskunft gewährleisten, dass die Vielfalt individueller Existenzakte dennoch unter einem gemeinsamen Begriff gedacht werden kann. Da Barth, wie bereits mehrfach zitiert, die Existenzfrage als Erkenntnisfrage begreift, wäre diese Möglichkeit aus seiner Sicht extrem wichtig, weil nur so von gemeinsamem Existieren gesprochen werden kann. Diese Gemeinsamkeit basiert dann jedoch auf dem Prinzip der Erkenntnis, was ihre Deutung unter dem Aspekt existentieller Relevanz deutlich erschwert. Die Profilierung als Einzelner ist letztlich vor dem Hintergrund der Erkenntnis-Funktion verzichtbar. Verstärkt wird diese Vermutung durch die bereits angesprochene nähere Ausführung dieses Gedankens. Ich erkenne den Anderen als Erkennenden. Heißt das nicht letztendlich, dass es für mich bedeutungslos wird, welche Erfahrungen ihn zu diesem bestimmten Menschen formten oder aus welcher spezifischen Situation er agiert? Es kann auch noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, dass Barth sehr wohl versucht, gerade diesem Zweifel unter anderem dadurch vorzubeugen, dass er die Gestik eines Menschen, seine physische Anwesenheit, die sich in seinem Antlitz komprimiert, als Ausdruck existentieller Präsenz wertet, die in Erscheinung tritt. Doch geraten wir damit in eine zirkuläre Gedankenführung. Denn es könnte wiederum gefragt werden, wozu ich das Wissen um das Transzendentale als das Prinzip von Erkenntnis benötige, wenn der Andere mir in seinem Antlitz gegenübersteht. Inwieweit Barth mit dem Begriff des Antlitzes, der sonst von ihm kaum in Anspruch genommen wird, in eine ähnliche Richtung wie Emmanuel Lévinas weist, wird sich in Kürze klären. Um die Überlegungen hier auf eine allgemeinere Ebene zu stellen, könnte gefragt werden, ob das Vorhaben, Existenzphilosophie transzendental begründen zu wollen, grundsätzlich zum Erfolg führen kann. Oder müssen nicht in dem Moment, in dem diese Begründung erfolgt, zwangsläufig die Errungenschaften des existentiellen Denken – die Begriffe vom Einzelnen und der Erfahrung – preisgegeben werden? Oder, aus einer etwas anderen Perspektive gefragt: Wird der Rückgriff auf das Transzendentale wirklich benötigt, um existentielles Denken zu ermöglichen? Für dieses Denken, soweit es denn tatsächlich als Denken verstanden wird, das sich noch nicht in der Form von Philosophie manifestiert, ist die Notwendigkeit keineswegs gegeben. Wenn es hingegen um Philosophie als ein Argumentieren geht, das seine Regelhaftigkeit und seinen Geltungsanspruch aus der Berufung auf ein Prinzip bezieht, muss die Antwort anders ausfallen. Denn hier auf die Einheit vielfältiger Existenzakte, wie sie sich problemlos unter dem Begriff der Erfahrung fassen ließe, verzichten zu wollen, würde möglicher-
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weise Heinrich Barths Befürchtung bestätigen, dass zwischen diesen Akten keine Gemeinsamkeit und damit kein Verstehen mehr zu erkennen ist. Dieses Verb ist entscheidend. Gemeinsamkeit könnte nicht erkannt, doch sehr wohl erfahren werden, da sie als eine immer wieder neu zu erlebende Bestätigung existentieller Gleichheit gedeutet werden kann. Die Entscheidung von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, ihr existentielles Denken nicht im Format bestehender Philosophie darzulegen, erweist sich aus diesem Blickwinkel als berechtigt, ja sogar als unvermeidlich. So entgehen sie beide den Schwierigkeiten, mit denen Heinrich Barth besonders in seiner Erkenntnis der Existenz spürbar ringt. Damit wird auch der Bezug zur einleitenden Frage nach der Diskursfähigkeit von Existenzphilosophie nachvollziehbar. Je weiter die Überlegungen fortschreiten, desto klarer zeichnet sich ab, was nicht möglich ist: existentiell unter den Vorgaben des philosophischen Diskurses zu denken. Barths Konzeption ist ein so berührendes Zeugnis innerhalb der Entwicklungsgeschichte dieses Denkens, da es genau den Spagat zwischen zwei kaum vereinbaren Extremen des Denkens zu leisten versucht.
Dieser wie er – Franz Rosenzweig Die Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Wie findet der Einzelne, der sich der anonymen Mehrzahl der Menschen entwand, Bezug zum Anderen? Widerspricht es nicht am Ende dem Anliegen von Existenzphilosophie, an diesem Punkt weiter zu denken? Worin besteht der Gewinn, den der Begriff vom Einzelnen verspricht, wenn er schließlich doch nur ein Provisorium ist, gerade einmal für wenige Augenblicke vorstellbar, bevor er sich in seiner endgültigen Position zum Gegenüber einfindet? Heinrich Barth präsentiert eine in sich problematische, doch nach außen stimmig wirkende Erklärung. Weil Erkenntnis transzendental begründet ist, stehen alle Erkennenden in der Relation, sich als solche erkennen zu können. Die Frage, ob das nur für diese zutrifft, wurde bereits gestellt und wird hier nicht noch einmal thematisiert. Die Verbindung der Menschen beruht auf dem gemeinsamen Erkennen-Können, das jeder Einzelne individuell verwirklichen kann. Einzig auf dieser Grundlage kann Koexistenz erkennender, das heißt existierender Individuen gedacht werden. Zur Beantwortung jeder Folgefrage kann folglich auf diesen Gedanken zurückgegriffen werden, wie an einem Beispiel gezeigt werden soll. Barth spricht das Zustandekommen von Mit-Verantwortung an und erklärt, dass es uns nicht gleichgültig lassen könne, wenn unser Handeln Folgen für die Existenz eines – oder nach seiner Auffassung – eines jeden Menschen habe. Aus diesem Grunde schuldeten wir dem Anderen Verantwortung, insofern wir zwar nicht für dessen Entscheidungen einstehen könnten, doch teilweise Ursache der Umstände seien, die ihn beträfen. Verantwortung schuldig zu sein, erscheint hier nicht explizit als ethische Weisung, sondern als Konsequenz, die sich aus der Möglichkeit von Koexistenz ergibt, die wiederum
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auf der Denkbarkeit des Transzendentalen als Prinzip der Erkenntnis basiert. Das von Barth relativ häufig verwendete Wort des Angehens muss in diesen Kontext eingepasst werden. Ein anderer Mensch geht mich etwas an, weil er Erkennender ist wie ich. Auch das ist Bestandteil der transzendentalen Fundierung von Existenz im Sinne von Erkenntnis. Doch wird es schwer zu vermitteln, wie ein Prototyp des Erkennenden die Grenze, die Individuen voneinander unterscheidet, durchbrechen kann, um wirklich zu mir vordringen und mich betreffen zu können. Es bleibt für Heinrich Barth nur der Weg, auf die individuelle Gestik des Anderen hinzudeuten, in der er individuell und doch erkennbar in Erscheinung tritt. Im Begriff des Verstehens findet die Verbindung beider Aspekte statt. Ich verstehe die Gestik des Anderen, weil ich in ihm den Existierenden erkenne. Diese Deutung schöpft die zum Teil kargen Andeutungen, die sich in den beiden hier betrachteten Texten finden, vollständig aus. Festzustellen bleibt, dass die Relation, die koexistentiell gedacht wird, eindimensional vorzustellen ist. Ich bin dem Anderen Verantwortung schuldig. Natürlich kann dieses Etwas-schuldigSein auch umgekehrt werden, insofern es dem Anderen ebenso mit mir ergeht. Doch scheint der Andere in einer aktualisierten Beziehung mir gegenüber eher unbedeutend zu bleiben. Oder eröffnet er mir Möglichkeiten, die ich in meiner isolierten Existenz nicht erschließen könnte? Finde ich in ihm zum Beispiel einen Reflexionsgrund, der mich mehr erkennen lässt, als ich alleine zu erfassen vermag? Ist er mir Grund der Freude, oder nur jemand, dem ich etwas schuldig bin? Punktuelle Bezugnahmen auf den Stern der Erlösung haben bisher einzelne Ansätze jener Antwort gezeigt, die Franz Rosenzweig auf diese Frage formuliert, ohne sie explizit stellen zu müssen. Nun soll deren Konstruktion im Ganzen zusammengefasst werden. Von Anfang an fällt auf, dass sie sich über zwei Kapitel des Buches erstreckt, nämlich auf den Teil zur Offenbarung und den Teil zur Erlösung. Bereits dieses Faktum lässt erahnen, dass zwei unterschiedliche, doch einander ergänzende Aspekte der Frage relevant werden. Werden diese direkt im Anschluss an Heinrich Barths Aussagen angesprochen, mag leicht der Eindruck entstehen, dass zwei Konzepte nebeneinandergestellt werden, die wenig miteinander zu tun haben. Dem nüchtern wirkenden Funktionalismus von Barths Existenz-Begriff steht Rosenzweigs Deutung des biblischen Liebesgebotes gegenüber. Hier ein Übermaß an individueller Gefühlsbetontheit, dort ein Übermaß an sachlicher Strukturanalyse, so könnte es wirken. Doch gibt es eine argumentative Ebene, auf der sich die Ansichten beider Denker zumindest für einen kurzen Augenblick begegnen können. Es wurde bereits Rosenzweigs Deutung der Begriffe von Selbst und Seele angesprochen. Dabei zeigte sich, dass «Selbst» ein in sich verschränktes individuelles Bewusstsein bezeichnet, das zwar ganz auf sich und seine Eigenheit konzentriert ist, jedoch weder über Interesse noch Möglichkeit verfügt, sich dem Anderen zuzuwenden. Diese Charakterisierung kommt der existenzphilosophischen Sichtweise des Einzelnen am nächsten. Denn auch dieser wird zunächst
Dieser wie er – Franz Rosenzweig
nicht unter dem Gesichtspunkt seiner Bindungs-Willigkeit betrachtet. Rosenzweig macht unmissverständlich klar, dass das Stadium des Selbst-Seins zwar unverzichtbar im Entwicklungsgang der Persönlichkeit ist, doch noch nicht dessen Möglichkeiten ausschöpft. Daher thematisiert er diesen Begriff im Kapitel zur Offenbarung, die auch im Gestaltungs-Geschehen der Welt nicht die Vollendung bedeutet. Die Begrifflichkeit, die er zur Beschreibung des Selbst-Seins verwendet, ist eindeutig. Besonders kann hier an die Formulierung des «edel-stummen» Selbst erinnert werden, das zwar vorbereitet ist, insofern es sein Eigen-Sein begreift, dieses jedoch noch stumm in sich verharrt. In diesen Zusammenhang fügt Rosenzweig eine kurze Betrachtung der beiden Grundworte des Ich und Du ein, die er interessanterweise nicht mit Blick auf den Menschen, sondern auf Gott entfaltet. Denn auch in ihm wird der Verlauf reflexiver Selbstbeschränkung zur Hinwendung zum Anderen vorstellbar, eine unter theologischem Blickwinkel mehr als bemerkenswerte Parallelisierung der Abläufe in Gott und Mensch. Nach dem mehrmaligen monologischen Wort der Schöpfung, in dem das Werk als gut bezeichnet wird, verharrt auch Gott in der Selbstbezogenheit, die nur ein Ich, doch noch kein Du kennt. Dieses ändert sich im Bericht des Sündenfalls in dem Moment, als die Frage an den Menschen gerichtet wird «Wo bist Du?»: Es ist nichts als die Frage nach dem Du. Nicht etwa nach dem Wesen des Du; das ist in diesem Augenblick noch gar nicht in Sichtweite, sondern zunächst nur nach dem Wo. Wo überhaupt gibt es ein Du? Diese Frage nach dem Du ist das einzige, was von ihm schon bekannt ist. Aber diese Frage genügt dem Ich, sich selbst zu entdecken; es braucht das Du nicht zu sehen; indem es nach ihm fragt […] spricht es sich selber als Ich an und aus.254
Aufgrund der kühnen Parallelführung der Betrachtung für Gott und Mensch können wir diese Zeilen als relevant auch für existentielles Denken auffassen. Entscheidend ist die Frage nach dem Wo nicht nur in exegetischer Hinsicht. Gerade die Verortungsmetapher eröffnet einen gewichtigen Bezug zum später zu diskutierenden Denken des Seins, das, so viel wird sich zeigen, nur unzureichend mit der Titulierung als ontologisch getroffen wird. Für unsere Überlegungen ergibt sich aus der zitierten Formulierung, dass an der grundsätzlichen Präsenz des Anderen nicht zu zweifeln ist. Doch wird nach ihm nicht im Sinne Heinrich Barths gefragt, indem das Wie seiner Erkenntnis, sondern das Wo seiner Anwesenheit geprüft wird. Die Abfolge, die Rosenzweig als Deutung des biblischen Berichtes skizziert, lässt aufhorchen. Denn es ist nach der ursprünglichen Schilderung nicht möglich, die Frage nach dem Du an ein Gegenüber zu richten, dessen wir schon ansichtig sind. Vielmehr wird aus dem grundsätzlichen Wissen um die Präsenz des Anderen nach seinem In-Erscheinung-Treten gefragt. Es wird also die Beziehung gesucht, noch bevor sie aktuell besteht. Zugleich positioniert sich 254
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 195.
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der Ich-Sagende damit als In-Beziehung-Stehender, was ihm unverzichtbaren Aufschluss über das Selbst-Sein gewährt. Damit geht aber nicht in erster Linie Selbst-Bewusstheit, sondern Relations-Bewusstsein einher. Auf das «Wo bist Du?» der Sündenfall-Schilderung folgt schließlich in Rosenzweigs Darstellung das «Liebe mich.» In diesem Zusammenhang findet sich eine kurze Betrachtung der Unterscheidung von Gebot und Gesetz. Auch hier könnte eingewendet werden, dass ihr keine Bedeutung im philosophischen Kontext zukommt. Und auch hier kann das Gegenteil festgestellt werden, da Rosenzweig ohne es direkt zu erwähnen, die Frage existentieller Ethik streift. «Der Imperativ des Gebots trifft keine Voraussicht für die Zukunft; er kann sich nur die Sofortigkeit des Gehorchens vorstellen. […] Das Gesetz rechnet mit Zeiten, mit Zukunft, mit Dauer.»255 Im Vorgriff auf die weiteren Betrachtungen kann bereits hier überlegt werden, ob nicht ein Begriff, der auf die Unmittelbarkeit der Umsetzung aktueller Ansprache abzielt, für die Umschreibung existentieller Aufforderung geeignet sein könnte. Doch zurück zu Rosenzweig. Im Kapitel zur Erlösung folgen die Erläuterungen zum Begriff der Seele, jener Bewusstseinsstufe, deren Erreichen den «ganzen Menschen» ausmacht. Dass dieses nicht in der Ausrichtung auf Gott allein erfolgen kann, zählt sicherlich zu seinen bemerkenswertesten Aussagen. Und wieder verknüpft Rosenzweig theologisches und philosophisches Denken. In der Hinwendung zu Gott, so bedeutsam sie an sich ist, liegt eine einmalige Ausrichtung des Willens, die, so kann ergänzt werden, noch keine existentielle Relation abzubilden vermag. Denn diese gründet zwar in der Gewissheit des Mit-Seins, aktualisiert sich jedoch nicht in ihr. Dafür bedarf es der situativen Bedingtheit, die ein immer wieder von Neuem zu bekräftigender Ausdruck dieser Gewissheit ist. Mit Blick auf das Gebot, den Nächsten zu lieben, schreibt Rosenzweig: «Jetzt bleibt die Willensrichtung Willensrichtung; aber sie ist nun nicht mehr einfürallemal festgelegt, sondern in jedem Augenblick stirbt sie und wird erneut.»256 Nur an wenigen Stellen im Stern der Erlösung ist vom Willen die Rede. Rosenzweig nutzt diesen Begriff dazu, die Bezogenheit auf ein Anderes, das Gott, Welt oder der Mensch sein kann, zu erläutern. Sie ist seiner Deutung nach vom Augenblick der Schöpfung an gegeben und zeigt in der Relation des Menschen zu Gott ihre grundsätzliche Stabilität. Doch selbst sie würde den Menschen nicht zum Vollbild seiner Persönlichkeit finden lassen, solange sie nur Einem gilt. Sie muss sich vielmehr zur Vielfalt des Seienden auffächern können, das heißt zum Dinglichen und zum anderen Menschen, der nun unter dem Begriff des Nächsten eingeführt wird. Dieser Begriff bezeichnet denjenigen, der nahe ist, was potentiell auf jeden Menschen ungeachtet eventueller persönlicher
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Der Stern der Erlösung, II,II, S. 197. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 238.
Dieser wie er – Franz Rosenzweig
Bindungen zutrifft. Der Nächste könnte ebenso gut das Nächste sein, also alles, zu dem ein Bezug hergestellt werden kann.257 Das Wunderbare an diesem Gedanken besteht darin, dass er in der Interpretation Franz Rosenzweigs auch für das Sein zutrifft, sofern es nicht mehr unter religiösem Primat gedeutet wird. Dass dieses möglich wird, ist das Ergebnis seiner Gleichsetzung von Gott, Welt und Mensch am Anfang der Schrift. Eine Identifizierung ist hiermit keinesfalls gemeint, sondern die Überzeugung, jedes dieser Elemente für sich und in Relation denken zu können. Eine grundsätzliche Differenz der Denkbarkeit, die das Göttliche aus dem Kontext menschlichen Erkennens abheben würde, weist Rosenzweig damit zurück. Hinzu kommt, dass sich das Werk Gottes nicht mit dem Hervorbringen der Welt erschöpft. Er bleibt vielmehr im Welt-Geschehen präsent, das als Welt-Gestaltung durch den Menschen verstanden wird. Soweit es möglich ist, wenn von Gott die Rede ist, geht er in das geschaffene, doch gestaltungs-bedürftige Sein ein, ohne doch ganz in ihm aufzugehen. Aus diesem Grund ist der im Ursprung gesetzte Bezug von Einem zum Anderen im Sein auszumachen. Hier könnten nun massive Einwände erhoben werden. Denn den Rahmen, in dem überhaupt über den Nächsten gesprochen wurde, bildet das göttliche Liebesgebot. Wie kann also allen Ernstes behauptet werden, Bezogenheit im Sein könnte auch losgelöst davon bestehen? Die Antwort knüpft an den gerade formulierten Gedanken an. Gerade weil Rosenzweig so viel Wert darauf legt, Gott nicht als den absolut Anderen, sondern den relativ Anderen vorzustellen, der in der Welt-Gestaltung anwesend ist, ohne sie selbst bewerkstelligen zu können, wird Gott – so unglaublich es auch klingt – in dieser Interpretation selbst zum Nächsten. Sofort bietet sich erneuter Widerspruch an. Hatte Rosenzweig nicht soeben darauf hingewiesen, dass sich die Liebe zu Gott von der Liebe zum nächsten Menschen dadurch unterscheidet, dass Erstere ein für alle Mal, Letztere hingegen immer wieder von Neuem stattfindet? Doch auch hierfür bietet der Stern der Erlösung eine Interpretation an. Die Liebe zu Gott kann als das Lieben-Können verstanden werden, das in einmaliger Ausrichtung das reine Können setzt, wohingegen die Liebe zum Nächsten die immer neu ansetzende Aktualisierung ist. In dem Gedanken, dass Gott als Nächster verstanden werden kann, fallen beide Aspekte zusammen und erlauben folgende Deutung: Bisher wurde lediglich davon ausgegangen, dass es auf der Basis des Rosenzweigʼschen Denkens möglich ist, Schöpfung und Sein gleich zu verstehen. Nun wird dieser Gedanke radikalisiert, indem festgestellt wird, dass auch Gott und Sein analog gedacht werden können. Die Möglichkeit, den Nächsten zu lieben, wäre nicht gegeben, wenn sie nicht gegeben würde, durch ein Gebot Gottes oder durch eine Weisung, die aus «[…] die Liebe geht, […] in Wahrheit auf den Inbegriff Aller – Menschen und Dinge –, die ihr jemals diesen Platz des ihr Nächsten einnehmen könnten, sie geht letzthin auf alles, auf die Welt.» Der Stern der Erlösung, II,III, S. 243.
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dem Sein ergeht. Mit dieser Annahme ist der Boden dessen, was Rosenzweig selbst formuliert, fast verlassen. Doch die Vorgaben, die seine Aussagen enthalten, sprechen nicht gegen eine solche fortschreibende Deutung, die auf spätere Überlegungen hinweist. Relationsfähig ist der Mensch, weil er geschaffen wurde – so kann Rosenzweigs Sichtweise schlicht zusammengefasst werden. Die sich hieran anschließende Frage lautet, ob er auch aufgrund seines Seins als relationsfähig verstanden werden kann? Es spricht zunächst nichts dagegen, eine positive Antwort zu erwägen. Im Zusammenhang mit dem Begriff des Liebesgebotes geht Rosenzweig für einen kurzen Moment auf die Überlegung ein, wie Weisungen ihre Verbindlichkeit begründen. Gebot und Gesetz basierten auf unterschiedlichen Voraussetzungen: Die moralischen Gesetze wollen in der Freiheit nicht bloß wurzeln –, sondern keine andre Voraussetzung anerkennen als die Freiheit. […] Die natürliche Folge dieser Forderung ist, daß die Gesetze, die diese Tat bestimmen sollen, allen Inhalt verlieren; denn jeder Inhalt würde eine Macht ausüben, durch welche die Autonomie gestört würde; man kann nicht ‹etwas› wollen und trotzdem nur ‹überhaupt› wollen; […]. Und weil so das Gesetz zu keinem Inhalt kommt, so kommt infolgedessen auch die einzelne Tat zu keiner Sicherheit. Im Moralischen ist alles ungewiß, alles kann schließlich moralisch sein, aber nichts ist mit Gewißheit moralisch.258
Diese Textpassage wurde nahezu vollständig zitiert, weil sie Franz Rosenzweigs einzige Aussagen zum Begriff der Freiheit enthält. Ob sein Gedanke als solcher überzeugt, sei dahingestellt. Wichtig ist es an dieser Stelle, dass er Freiheit nicht als Voraussetzung von Moralität gelten lässt, weil in ihrer Vorstellung Ermöglichung und Realisierung des Wollens kollidieren. Freiheit soll das Handeln ermöglichen, dessen einzelne Handlungen jedoch nicht durch ein konkretes Ziel bestimmt sein dürfen, um nicht ihrem Ermöglichungsgrund zu widersprechen. Es folgt einer der spannendsten Abschnitte des Sterns der Erlösung, in dem Rosenzweig betont, dass das Gebot einer «Voraussetzung jenseits der Freiheit» bedürfe: «[…] dem daß Gott ‹befiehlt, was er will›, muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben, das göttliche ‹schon Getansein› dessen, was er befiehlt, vorangehen. […] Gott muß sich erst zum Menschen gekehrt haben, ehe der Mensch sich zu Gottes Willen bekehren kann.»259 Was geben diese wenigen Zeilen zu erkennen, wenn sie nicht in theologischer, sondern existentieller Perspektive gelesen werden? Die Legitimierung einer Weisung resultiert nicht aus einem Jenseits-des-Seins, sondern aus dem Erfahrungsraum des Seins selbst. Weil dieser Raum relational gesetzt ist, ist die Forderung, die im Grunde erst zu erfüllen ist, bereits faktisch gegeben. Daraus könnte freilich der Eindruck entstehen, dass eine Verwirklichung, die der individuellen 258 259
Der Stern der Erlösung, II,III, S. 239. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 239 f.
Dieser wie er – Franz Rosenzweig
Entscheidungskompetenz entspricht, gar nicht mehr erforderlich ist, da sie bereits besteht. Würde diese Folgerung auf das Handeln angewendet, würde sich allerdings eine widersinnige Situation zeigen. Denn der Handlungsspielraum würde das tatsächliche Agieren erübrigen. Bei dem Liebesgebot, das Rosenzweig anspricht, handelt es sich hingegen nicht um eine Weisung, die das Handeln und Verhalten betrifft, sondern um eine generelle Ankündigung gegenseitiger Bezugnahme. Das Gebot fordert nicht etwas, das der Einzelne zu erfüllen hat, damit sich auch Gott ihm zuwende. Die Handlung ist nicht Voraussetzung der Reaktion. Vielmehr ist die Reaktion des Menschen Ausdruck der Tatsache, dass er bereits der Geliebte ist. Auf eine allgemeingültige Ebene übertragen bedeutet dieses, dass wir nicht erst auf eine Forderung, die wir dem Sein entnehmen, antworten, sondern die Möglichkeit, uns überhaupt vom Sein gefordert zu fühlen, aus dem Faktum resultiert, dass wir uns immer schon in ihm und in Relation zu Anderem befinden. Heinrich Barth hat wiederholt die Verbindung existenzphilosophischen und ontologischen Denkens unter anderem deshalb zurückgewiesen, weil aus dem Sein seiner Auffassung nach keine existentielle Inanspruchnahme hervorgehen kann. Werden die onto-theologischen Aussagen Franz Rosenzweigs in der besonderen Weise betrachtet, in der sie das Göttliche in die existentielle Bewegung des Einzelnen einbeziehen, könnten Zweifel an der Berechtigung dieser Zurückweisung entstehen. Als letzte Antwort auf all jene Stimmen, die auf dem religiösen Charakter des Sterns der Erlösung bestehen, kann nur noch auf Rosenzweigs Kommentar in seinem Text Das Neue Denken hingewiesen werden, in dem er feststellt, es handele sich nicht um ein jüdisches, ja nicht einmal um ein religiöses Buch. Die Überlegung wird an dieser Stelle nicht zum ersten Mal angestellt, inwieweit Existenzphilosophie noch Restbestände religiösen Denkens beinhaltet, obwohl sie unter anderem angetreten war, Denken für diejenigen zu sein, denen der Glaube nicht mehr in ihrer existentiellen Situation zu helfen vermochte. Dennoch oder vielleicht sogar darum teilen beide eine Schnittmenge von Fragen, zu denen zum Beispiel die nach der Sinnhaftigkeit der Existenz, der zukünftigen Bedeutung unserer Entscheidungen oder die Bewältigung der Angst angesichts der Endlichkeit des Lebens zählen. Bei Søren Kierkegaard greifen beide Betrachtungsweisen noch Hand in Hand, da der Einzelne im Entwicklungsgang seiner Persönlichkeit den Bezug zum Göttlichen niemals ganz verliert und ihn letztendlich sogar ausdrücklich sucht. Ob der vielzitierte Atheismus der Existentialisten tatsächlich zu recht behauptet wird, kann zumindest mit Blick auf die Schriften von Albert Camus angezweifelt werden. Karl Jaspers postuliert in seiner Vorlesung, die er 1947 an der Universität Basel hielt, eine Denkform, die er als «philosophischen Glauben» bezeichnet. Heinrich Barth räumt in seiner Erkenntnis der Existenz dem Religiösen zumindest eine Stellung in der Nähe der Existenzphilosophie ein. Martin Heidegger erscheint in dieser Aufzählung, die nicht vollständig ist, unter den Existenzdenkern als der Einzige, der tatsächlich versucht, aus
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dem Sein abzuleiten, was für die Seins-Weise des Menschen von Bedeutung ist, das heißt die Ermöglichung der Existenz in ihrer Verwirklichungsdimension. Und Franz Rosenzweig? Sein Denken zeigt eine Art von Hybrid-Gestalt, da es in zwei Kontexten interpretiert werden kann. Das Besondere ist dabei, dass die beiden Kontexte nicht als ein Entweder-Oder aufzufassen sind, sondern als ein Sowohl-als-Auch. Es ist ein nahezu übergangsloses Gleiten von einer Perspektive zur anderen möglich, ohne dass dadurch einer der beiden Seiten Abbruch getan würde. So erscheint es zumindest aus philosophischer Sicht. Ob dieser Eindruck auch aus theologischer Warte geteilt werden kann, sei dahingestellt. Denn für den Gedanken der Einzigkeit und Unvergleichbarkeit Gottes könnte die Deutung seiner Einbindung in das Weltgeschehen, die Rosenzweig erstaunlich konsequent durchführt, eine Beeinträchtigung darstellen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Kapitels bildete die Frage, wie der Einzelne, für dessen Denkbarkeit Existenzphilosophie eintritt, in Relation zum anderen Menschen treten kann. Weitere Erwägungen schließen sich hier an: Bedeutet die neuerliche Hinwendung zum Anderen eine Minderung der Eigenheit des Einzelnen? Ist mit dem Bezug zum Anderen zugleich Bezug zu einer Gemeinschaft verbunden? Was unterscheidet das Bild von Gemeinschaft, von dem sich der Einzelne gerade abhob, von jener Gemeinsamkeit, die in existentiellem Bezug gestiftet werden könnte? Und ist es überhaupt zutreffend, davon auszugehen, dass die Entgegensetzung zur gesellschaftlichen Norm vom Einzelnen gewollt werden kann? Könnte sie, falls dieses zutreffen sollte, als ethisch wertvoller Akt bezeichnet werden? Zur Beantwortung der beiden zuletzt genannten Fragen muss eine genauere Betrachtung des Prozesses der Vereinzelung erfolgen, denn ein vorschnelles Urteil würde die Sachlage unter Umständen verzerren. Es ist schwierig, von der Existenzphilosophie zu sprechen. Allein die hier zugrunde gelegten Schriften zeigen eine solche Vielzahl von Unterschieden, dass an der Berechtigung dieser Titulierung gezweifelt werden kann. Doch auf der anderen Seite gibt es einen Bestand vergleichbarer Elemente, der diese Bezeichnung rechtfertigt. Zu diesen Elementen zählt neben der Deutung des Einzelnen die starke Akzentuierung solcher Emotionen, die den Menschen unerwartet affizieren. Bereits Søren Kierkegaard weist Mitte des 19. Jahrhunderts auf die exzeptionelle Bedeutung der Angst hin, die, obwohl als Emotion negativ besetzt, doch unverzichtbar für das InGang-Setzen des individuellen Reflexionsprozesses ist. Eine ganz ähnliche Sicht findet sich im Werk von Karl Jaspers, was vor allem mit Blick auf seinen Begriff der «Grenzsituation» belegt werden kann. Das Erleben einer Situation von existentiell gefährdendem Ausmaß löst die Aufmerksamkeit aus ihrer Vereinnahmung im Selbstverständlichen. Das jähe Bewusstwerden über die Tatsache der Endlichkeit, die Martin Heidegger in Sein und Zeit beschreibt, setzt das Bewusstsein eines Entscheidungsspielraumes frei, der zuvor nicht als solcher erkannt wurde. Die berühmten Einleitungszeilen des Sterns der Erlösung sprechen von
Dieser wie er – Franz Rosenzweig
nichts anderem als der «Furcht des Todes». Und selbst Albert Camus, dem existenzphilosophischen Denken bisweilen eher verwandt als dem Existentialismus, beschreibt das Zusammenbrechen des bislang für verlässlich Gehaltenen. Eines wird in dieser extrem reduzierten Auflistung sichtbar: In all den erwähnten Konzeptionen spielen die Emotion der Angst und das Gefühl der Verunsicherung im Dasein eine entscheidende Rolle. Dabei führen sie im ersten Moment zu einer Art affektiver Vorbereitung, insofern sie den einzelnen Menschen aus seiner Routine im Alltäglichen herausreißen. Damit wird die Möglichkeit zur Reflexion des Seins geschaffen, die zuvor durch allerlei Betriebsamkeiten nicht zur Geltung kommen konnte. Es scheint sich aber tatsächlich erst um die Möglichkeit der Reflexion und nicht bereits um deren Aktualisierung zu handeln. Würden nicht jene Erschütterungen des bisher Selbstverständlichen erfolgen,260 das auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen einschließt, wäre nicht von einem dem Menschen eigenen Impuls zur Vereinzelung auszugehen. Insofern wäre es falsch, davon zu sprechen, dass er zu diesem Zeitpunkt Einzelner im existentiellen Sinne werden will. Dass emotionale Erschütterungen im Regelfall nicht dem Wollen unterliegen, versteht sich von selbst. Gleichwohl vermögen diese die existentielle Bewegung zu initiieren, die bis hierher mithin nicht gewollt werden kann. Sie könnte – zumindest nach weit verbreiteter Auffassung – daher auch nicht als Bestandteil moralisch wertigen Verhaltens eingefordert werden. Die sich nun anschließende Frage ist nicht auf Anhieb zu beantworten, obwohl ihr besondere Gewichtung für die Beurteilung dieser Bewegung zukommt. Kann der Mensch, dessen Für-belangreich-Gehaltenes im Moment emotionaler Betroffenheit seine Verbindlichkeit verliert, in den Zustand zurückkehren wollen, der als prä-reflexiv zu bezeichnen ist? Und weiter: Kann er sich gegen die existentielle Reflexion entscheiden? Dass er es sich vielleicht mehr als alles andere wünscht, wäre nur nachvollziehbar. Wer verzichtet bereitwillig auf Sicherheit in Erwartung einer unkalkulierbaren Zukunft? Es ist schwierig, zur Klärung auf eindeutige Aussagen zurückzugreifen, da genau dieser Punkt selten thematisiert wird. So bleibt letztlich nichts anderes übrig, als die Antwort aus den vorliegenden Konzepten zu schließen. Zunächst kann festgehalten werden, dass es aus existenzphilosophischer Sicht unsinnig wäre, die durch Erschütterung ausgelöste Gelegenheit, das Tun und Wollen zu reflektieren, nicht zu ergreifen. Denn das hieße, die Chance existentiellen Werdens zu verschenken. Bei ihr handelt es sich schließlich nicht um eine beliebige Gelegenheit, sondern um den Initiationsmoment des Existentiellen schlechthin, das als die reflektierende Erschließung des Möglichen verstanden werden kann. Das Mögliche ist aber nur deshalb möglich, weil sein Verwirklichungsspektrum in der einen oder anderen Weise bedingt ist. Bei den hier be260 Franz Rosenzweig erklärt hierzu: «Es war also eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte.» Der Stern der Erlösung, II,II, S. 200.
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trachteten Entwürfen resultiert die Bedingung aus dem Faktum der Zeitlichkeit menschlichen Seins, die sich auf die Natur menschlichen Handelns und Entscheidens auswirkt. So ist es vorstellbar, in Entscheidungen Zukünftiges vorwegzunehmen, wie am deutlichsten Heinrich Barth mit seiner Einführung des Gedankens des Sein-Sollens zeigt. Einer anderen Typik des Denkens folgt Martin Heidegger, wenn er das Vorlaufen in die Denkbarkeit des Todes skizziert. Und Franz Rosenzweig bietet vor religiösem Hintergrund seine Darstellung des Gedankens der Vorwegnahmen, indem der Mensch im Gebet das Eintreten der Erlösung zu antizipieren vermag. Weil Dasein Sein in der Zeit ist, bleibt es ein fortlaufendes Geschehen, das als Existenz bezeichnet die Gestaltung des Noch-Nicht in die Entscheidungskompetenz des Menschen legt. Hier sehen wir den in der Existenzphilosophie fokussierten Aneignungsmodus des Seins. Was als Möglichkeit aufgrund seiner Zeitlichkeit von jeher gegeben ist, erscheint zugleich als die Bedingung dieser Aneignung, in der exakt das geschieht, was der Ausdruck benennt: Der Mensch macht sich Sein zu eigen. Der bisweilen polemisch kommentierte Begriff der Eigentlichkeit gibt diese Möglichkeit zu erkennen, die als das den Menschen Kennzeichnende erscheint: Er macht sich die Entscheidung für sein Sein zu seiner Sache. Aus einer doppelten Perspektive ist diese Feststellung für die Beantwortung der Frage, ob wir uns auch gegen unsere Existenz entscheiden könnten, aufschlussreich. Zunächst kann aus formaler Sichtweise darauf verwiesen werden, dass zwar eine Entscheidung für Optionen des Möglichen vorstellbar ist, nicht jedoch für das Bestehen der Möglichkeit der Entscheidung selbst. Denn diese ist – nun nicht mehr formal, sondern ontologisch betrachtet – im Sein aufgrund der Zeitlichkeit gegeben. Sollte es für vorstellbar erklärt werden, Existenz nicht zu wollen, so müsste das Sein als solches abgelehnt werden. Aus dem Gesagten müsste sich folglich ergeben, dass es uns nicht möglich ist, uns gegen die Möglichkeit der Existenz zu entscheiden, solange wir am Sein festhalten. Das wiederum bedeutet, dass Existieren nicht als Wert betrachtet und daher nicht als Gegenstand ethischer Weisung ausgewiesen werden kann. Auch aus einer anderen Richtung wird diese Annahme bekräftigt. Hier führen uns die Überlegungen zurück zum gerade angesprochenen Gedanken der Erschütterung, die überhaupt erst existentielle Reflexion in Gang setzt. Da diese weder gewollt noch gemieden werden kann, sondern ihre Kraft aus ihrem unerwarteten Eintreten schöpft, unterliegt sie nicht unserer Entscheidung. Vielmehr zwingt sie uns zur Reaktion, ob wir es wollen oder nicht. Die emotionale Erschütterung ist unverzichtbare Bedingung existentiellen Werdens und als solche nicht unserem Wollen verfügbar. Es gibt mithin keine Aufforderung, die dieses nahelegen könnte. Wird dieser Befund mit den gerade angestellten Überlegungen verknüpft, spricht im Grunde alles dafür, dass wir Existenz nicht wollen können. Ihre Initiierung liegt nicht in unserer Hand. Die Möglichkeitsstruktur des Seins, deren Denkbarkeit für die Begründung des Existenz-Begriffes unverzichtbar ist, kann von uns nicht gewählt wer-
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
den. Gehen wir in allgemeiner Begriffsbestimmung davon aus, dass ein Wert ein Gedanke ist, der unserem Wollen als präferabel erscheint, der also auch nicht gewollt oder durch einen anderen Wert ersetzt werden kann, müssen wir zu dem Schluss gelangen, dass Existenz keinen Wert für menschliches Wollen darstellen kann. Wird weiter vorausgesetzt, dass sich ethische Weisungen stets auf einen Wert beziehen, der entweder absolut gesetzt wird oder sich einem System von Wertvorstellungen einfügt, würde sich ergeben, dass Existenz nicht Gegenstand ethischer Forderung sein kann. Vor diesem Hintergrund gewinnen noch einmal die Aussagen Franz Rosenzweigs zum Liebesgebot Bedeutung, auch wenn deren Bezug zur anstehenden Frage im ersten Moment unwahrscheinlich wirken mag. Ein Gebot, so hat er in genereller Abgrenzung vom Funktionieren von Gesetzen erklärt, verlange sofortige Umsetzung, was zu der Vermutung führe, dass eine Entscheidung gegen diese Umsetzung nicht vorstellbar sei. Ausdrücklich erklärt Rosenzweig, dass ein Gebot auf einer «Voraussetzung jenseits der Freiheit» basiere. Die Formulierung wurde bereits angesprochen. Die weitere Kommentierung innerhalb dieses Abschnittes des Sterns der Erlösung, der kaum mehr als eine Textseite umfasst, legt eine faszinierende Wendung nahe. Das, was Gott gebietet, muss er bereits selbst «getan» haben.261 Dieses «schon Getansein» ist mitnichten nur unter theologischer Ausrichtung interessant. Das Gebotene ist Voraussetzung, nicht Folge des Gebotes. Natürlich muss, um diesen Gedanken für die vorliegende Thematik fruchtbar machen zu können, seine ganze Interpretationsweite ausgeschöpft werden. Ist das zu Erfüllende bereits grundsätzlich als Möglichkeit gesetzt, befindet sich der Mensch in einer einzigartigen Entscheidungssituation. Seine Umsetzung des Gebotenen ist nicht als freie Entscheidung, sondern als Verwirklichung des Möglichen zu verstehen, das bereits aus sich zur Aktualisierung drängt.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas Eine Rezeption des philosophischen Denkens von Franz Rosenzweig hat nicht wirklich stattgefunden. So ist es noch immer wie ein ungeborgenes Juwel, das seine Kostbarkeit bisher kaum zur Geltung bringen konnte. Ihm in diesem Sinne gerecht zu werden, ist auch in diesem Kontext nicht möglich. Aber es können Facetten seiner Ansicht betrachtet werden, die in besonderer Weise veranschaulichen, wie sich der Gedanke des Seins mit dem Glauben an einen einzigen Gott verbindet und trotzdem den Weg seiner eigenständigen Geltung ankündigt. Es gibt jedoch einen Text, in dem sein Verfasser mit Blick auf den Stern der Erlösung erklärt: «Diese Schrift ist zu häufig in diesem Buch gegenwärtig, um zitiert zu
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Der Stern der Erlösung, II,III, S. 239.
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werden.“262 Es handelt sich um die 1961 erschienene erste große Arbeit von Emmanuel Lévinas mit dem Titel Totalité et Infini – Totalität und Unendlichkeit. Bevor der wichtigste Punkt benannt wird, in dem sich Lévinas dem Rosenzweigʼschen Denken verbunden fühlt, muss eines geklärt werden. Lévinas zählt nicht zu jenen Denkern, die man auf Anhieb mit Existenzphilosophie in Verbindung bringen würde. In der Regel sind es zwei Bereiche, denen sein Werk zugeordnet wird: die Phänomenologie, mit der er während seines Studiums an der Universität Freiburg in den Jahren 1927 und 1928 als Schüler von Edmund Husserl und Martin Heidegger bekannt wurde, sowie die jüdische Philosophie. Die Frage, was genau diese Titulierung bezeichnet, ist nicht weniger problematisch als im Fall der Existenzphilosophie. Ist es der religiöse Hintergrund, der ein Denken als jüdisch ausweist, oder sind es die Themen, die behandelt werden? Unter den Schriften des Emmanuel Lévinas sind Texte scheinbar unterschiedlicher Herkunft zu finden. So gibt es die Quatre lectures talmudique – Vier Talmudlesungen, aber auch Arbeiten, in denen eine Auseinandersetzung vor allem mit der Ontologie stattfindet. Hierzu zählen neben Totalität und Unendlichkeit vor allem Autrement qu’être ou au-delà de l’essence – Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht und Le temps et l’autre – Die Zeit und der Andere. Hier von Unterschiedlichkeit zu sprechen, ist allerdings nur teilweise berechtigt. Denn es ist im Grunde ein Anliegen, dass Lévinas zeit seines Lebens verfolgt und in variierender argumentativer Akzentuierung umgesetzt hat: Ethik im Mit-Sein zu begründen. Aber ist das nicht seit jeher der Ort gewesen, an dem ethische Überlegungen entstehen und wirken, sofern ihnen eine Wirkung zugeschrieben werden kann? Bereits der erste Satz aus Totalität und Unendlichkeit lässt aufhorchen. «Jeder wird uns ohne weiteres darin zustimmen, daß es höchst wichtig ist zu wissen, ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden.»263 Über die begriffliche Differenzierung von Ethik und Moral kann im Augenblick noch hinweggesehen werden. Entscheidend ist der Hintergrund, der Lévinas zu dieser Feststellung veranlasst. Es ist die Auffassung, dass Sein Krieg bedeutet. Für einen Denker, der den Holocaust erlebt hat, drängt sich der Gedanke des Krieges in einer Weise in den Vordergrund, die letztlich mit nichts anderem vergleichbar wäre. Dabei betont Lévinas nicht die Erfahrungen von Tod und Vernichtung, was er aus dem schrecklichsten persönlichen Erleben hätte tun können, sondern betrachtet Krieg als Synonym für die Verzerrungen, die im Denken durch den Primat der Ontologie entstehen können und tatsächlich entstanden sind. Es ist also keine hypothetische Gefährdung, vor der hier gewarnt wird, sondern philosophische Bestandaufnahme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. «Das Gesicht
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Totalität und Unendlichkeit, S. 31. Totalität und Unendlichkeit, S. 19.
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des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im Begriff der Totalität. Dieser Begriff beherrscht die abendländische Philosophie.»264 Sofort wird klar, worin die erwähnte gedankliche Verbundenheit zum Werk von Franz Rosenzweig besteht. Im Stern der Erlösung ist vom «All» die Rede, jener Vision, unter deren alle Differenzen nivellierendes Diktat die Philosophie das Denken zwang. Lévinas spricht von «Totalität», meint aber exakt diese Vereinheitlichung um der Denkbarkeit willen. Rosenzweig hatte das gesamte erste Buch seines Sterns für den Nachweis genutzt, dass sich Gott, Welt und Mensch nicht auseinander, das heißt aus dem Begriff Gottes oder der subjektiven Erkenntnis des Menschen ableiten lassen. Jedes der drei Elemente des Seins steht für sich, so dass es gilt, es als Eigenheit zu begreifen. Lévinas schreibt, Rosenzweigs Gedanken fortsetzend: «Die Fremdheit des Anderen, der Umstand, daß er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen Besitzt zurückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als Infragestellung meiner Spontaneität, als Ethik.»265 Rosenzweigs Gedanken führt er damit insofern fort, als dieser die Unableitbarkeit des Anderen aus dem Wesen der Erkenntnis gefolgert hatte. Nur in der Erfahrung kann eine Vorstellung vom jeweils Anderen gewonnen werden. Lévinas verlagert die Perspektive dadurch, dass er das interaktive Geschehen zwischen dem Subjekt und dem Anderen beleuchtet. Daher wird die im Erkennen gründende Ermöglichung, den Anderen um seiner selbst willen zu erfahren, bei ihm sofort zum Ausdruck von Ethik. Doch wie kann «meine Spontaneität» infrage gestellt werden? Und worin besteht sie überhaupt? Beide Formulierungen verfehlen das Ansinnen von Lévinas. Denn letztlich lautet die eine entscheidende Frage: Warum wird sie infrage gestellt? Die Antwort folgt in überwältigender Schlichtheit: «Meine Freiheit ist nicht das letzte Wort, ich bin nicht allein.»266 Auch hier finden wir keine Konzeption von Ethik, die gebildet werden soll, um das Miteinander in einer Gemeinschaft zu erleichtern. Ethik ist vielmehr im Faktum des Miteinanders initialisiert. Damit erübrigen sich etwaige Erwägungen, warum es geboten sein sollte, sich moralisch zu verhalten. Denn Moralität ist Synonym für Mit-Sein. Wie kann jedoch eine Eigenschaft gleichbedeutend mit dem Faktum des assoziativen Seins sein? Weil es sich nicht um eine Eigenschaft handelt, sondern – um einen Begriff zu benutzen, den Lévinas nicht verwendet – um ein Wesensmerkmal. Als solches ist es kein beliebiges Vermögen, sondern eine Escheinungsform, die zu negieren die Aufhebung des Seins-Denkens bedeuten würde. Und genau das hat sich in der Vergangenheit gezeigt:
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Totalität und Unendlichkeit, S. 20. Totalität und Unendlichkeit, S. 51. Totalität und Unendlichkeit, S. 143.
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Aber die Gewalt [des Krieges] besteht nicht so sehr im Verletzen und Vernichten; sie besteht vielmehr darin, die Kontinuität der Personen zu unterbrechen, ihnen Rollen zuzuweisen, in denen sie sich nicht wiederfinden, sie zu Verrätern nicht nur an ihren Pflichten, sondern an ihrer eigenen Substanz zu machen, sie Taten verrichten zu lassen, die jede Möglichkeit einer Tat zerstören.267
Lévinas spricht von der «eigenen Substanz» und drückt damit seinen Glauben an das zwar gefährdete, doch letztlich unverletzbare Eigene des Menschen aus. Gerade weil er diese Überzeugung vertritt, wirken seine Ausführungen umso bedrückender. Denn sie demonstrieren, wie stark die Gefährdung tatsächlich ist. Doch woher geht sie aus? Krieg ist nicht ihre Ursache, sondern deren Erscheinung. Der Ursprung jener Bewegung, in der sich der Mensch selbst die Möglichkeit nimmt, seiner Natur gemäß zu agieren, besteht im Gedanken der Souveränität. Dieser Begriff bezeichnet in diesem Kontext die alleinige Bestimmungsgewalt über die Selbstreflexion, in der sich das Bewusstsein im Erfassen vermeintlicher Freiheit bildet. Insofern ist Souveränität nicht Ausdruck von Freiheit, sondern deren Begründung – deren irrtümliche Begründung, wie Lévinas aufzeigt. Grund der eigenen Selbstreflexion sein zu wollen, mag zwar wohl ein reizvoller Gedanke sein, da er garantieren würde, dieses in jedem Augenblick sein zu können. Selbstbestimmtheit bedeutet daher für Lévinas nicht die Befähigung, jederzeit ohne einschränkende Berücksichtigung fremder Interessen die eigenen Ziele verfolgen zu können. Sie bedeutet vielmehr die für erstrebenswert gehaltene Fähigkeit, unabhängig vom Anderen das eigene Selbst erfassen zu können. Auch wenn Lévinas sehr schnell in seinem Text den Begriff der Ethik einführt, ist beispielsweise keine Handlungstheorie zu erwarten. Vielmehr schwenkt er zur Perspektive zurück, die Franz Rosenzweig eingenommen hatte, als er die Ableitbarkeit des Einen aus dem Anderen zurückwies, nämlich die Perspektive der interaktiven ErkenntnisRelation. Im Stern der Erlösung kommt der Ertrag der einleitenden Erklärung, die das Eine wie das Andere für sich zur Erscheinung kommen lässt, am deutlichsten in der kurzen Kommentierung des Hohelieds Salomos zum Ausdruck, in der die Liebe als Situation gelingenden Mit-Seins ausgesprochen wird: «Ein Schauer von Imperativen geht belebend über die immergrüne Wiese der Gegenwart nieder, von verschieden klingenden, doch immer das gleiche meinenden Imperativen: zieh mich dir nach, tu mir auf, komm, mach dich auf, eile – es ist immer der gleiche eine Imperativ der Liebe.»268 Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, dass es uns trotz dieser Ausrichtung auf ein religiös verstandenes Motiv möglich ist, diese Zeilen auch in Totalität und Unendlichkeit, S. 20. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 226. Zum besseren Verständnis hier die ersten Zeilen aus dem Hohelied Salomos, I, 2–4: «Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn seine Liebe ist lieblicher als Wein. Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Mädchen. Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen.» 267 268
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philosophischem Blickwinkel zu lesen. Dazu müssen sie freilich auf die ihnen zugrunde liegende Aussageebene hin befragt werden. Danach kann eine Relation zweier Menschen im Moment ihrer Begegnung erkannt werden, die zwar auch als emotional betrachtet werden kann. Wichtiger ist allerdings gerade die Frage nach der Bedingtheit beziehungsweise Unmittelbarkeit im relationalen Geschehen. Der Imperativ ergeht in der Deutung von Franz Rosenzweig nicht nur von demjenigen, der Liebe fordert, sondern ebenso von demjenigen, der sie gewährt. Dadurch entsteht eine äußerst dynamische Situation des Gegenüber-Seins, in der die Kompetenzen imperativischer Weisung keineswegs einseitig ausgerichtet sind. Auch in den weiteren Aussagen innerhalb dieses Kontextes war aufgefallen, dass Rosenzweig selbst Gott nicht als den alleinig Fordernden denkt, sondern zugleich als denjenigen, der das, was er fordert, so weit wie irgend möglich selbst erfüllt, um so dem Menschen einen gangbaren Weg der Erfüllung zu bereiten. Wird dieses Bild in seiner allgemeinsten Ebene verstanden, bedeutet es, dass kein Imperativ – nicht einmal der zentrale der Hinwendung zum Anderen – auf eine externe oder sagen wir besser: transzendente Begründung zurückgeführt werden kann. Stattdessen kann er nur dem Seins-Geschehen selbst entspringen und folglich nur das einfordern, was im Grunde schon in der einen oder anderen Weise Wirklichkeit ist. Doch warum ist es dann notwendig, noch eine Forderung danach zu formulieren? Nicht deshalb, so macht Rosenzweig deutlich, weil dem Sein eine neue Qualität hinzugefügt werden soll, sondern deshalb, weil eine bestehende Qualität überschattet ist. Dieser Gedanke ist geeignet, auch das Denken von Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas zu erschließen. Auf den letzten Seiten ist es still um Heidegger geworden, so als wären seine Aussagen für die fortschreitende thematische Ausrichtung nicht mehr hilfreich. In einer Hinsicht trifft dieser Eindruck sicherlich zu. Heidegger spricht nach seiner Erläuterung des Mit-Seins in Sein und Zeit kaum noch vom Menschen und seinem Gegenüber, vom Nächsten ganz zu schweigen. Vielleicht wirken hier seine Verlautbarungen während der Zeit des Nationalsozialismus nach, in der er Gemeinschaft vornehmlich als Kampfgemeinschaft dargestellt und deren Aufgabe als Erstreiten des Kommenden bezeichnet hat. Ist es nach einer solchen Deutung noch möglich, zu einer unvoreingenommenen Sicht auf Gemeinschaft zurückzufinden? Der einzige Rahmen – im ganz wörtlichen Sinne verstanden –, in dem in den späteren Texten Belangreiches für seine Deutung von Relationalität zu finden ist, besteht im Gedanken des Gevierts. Zur Erinnerung: Damit wird jene Quadratur der Gegenüberstellung benannt, in der sich die Göttlichen und die Sterblichen, Himmel und Erde konfrontieren. Eine Deutung dieses Schemas, die sich auf die exakte Positionierung der in ihm enthaltenen Elemente konzentriert, könnte feststellen, dass eine Gegenüberstellung von Mensch und Mensch darin nicht vorgesehen ist. Doch was sind die Göttlichen nach Heideggers Verständnis anderes als die idealisierten Menschen, die Menschen im Seyn? Dass an dieser Stelle der Blick noch einmal auf das Geviert fällt, geschieht nicht zufällig. Emmanuel Lé-
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vinas bezieht sich in Totalität und Unendlichkeit ebenfalls darauf, allerdings in ablehnender Haltung, die sich auf den Begriff des «Gehorsams» bezieht: Gehorsam, der sich als Bauen und Pflegen vollzieht, welches die Einheit des Ortes ausmacht, der den Raum trägt. Heidegger versammelt den Aufenthalt auf der Erde und unter dem Gewölbe des Himmels, die Erwartung der Göttlichen und das Geleit der Sterblichen im Aufenthalt bei den Dingen; […]. Damit begreift er, wie die gesamte abendländische Geschichte, die Beziehung mit den anderen Menschen als etwas, das sich im Schicksal der seßhaften Völker, der Völker, die die Erde besitzen und bebauen, abspielt. Der Besitz ist in ausgezeichneter Weise die Form, unter der das Andere das Selbe wird, weil es meines wird.269
Muss eigens erwähnt werden, dass dieser Deutung nicht zugestimmt werden kann? Selbst wenn von «Besitz» gesprochen wird, der dem Seienden «Gehorsam« abverlangt, wäre das nicht Heideggers Position. Der Gedanke des Gehorsams ist ihm nicht fremd, allerdings als Ableitungsform des Gehorchens und Gehörens. Doch nun kommt es darauf an, von wem er verlangt wird. Nicht in übertragenem Sinn von den Dingen, sondern vom Menschen, der der Welt gehört, zugehört, wie ergänzt werden kann. Hier entfaltet sich die ganze begriffliche Vielfalt um das Schonen, das Hören, das Erfahren, Formen der Begegnung, die nicht mit dem Begriff des Besitzes zusammenpassen. Der Aufruf zur Achtsamkeit, für uns heute eine Selbstverständlichkeit, dient dazu, das Aufgehen des Menschen in der Welt zu ermöglichen. Würde das gefordert, wenn es darum ginge, diese als das Andere seiner Andersheit zu berauben? Wenn Heidegger ein Vorwurf gemacht werden kann, dann besteht er darin, die besondere Art der Welt-Relation nicht auch explizit für die Relation zum anderen Menschen in Anspruch genommen zu haben. Sie wird nicht ausgeschlossen, das kann festgestellt werden. Doch ob das hohe Ideal der Empfänglichkeit, das er dem Menschen zutraut, der der Stille der Welt zu trauen vermag, auch für den Nächsten gilt, bleibt zunächst ungesagt. Ungesagt, doch nicht fraglich, so lautet die Einschätzung, die diesen Überlegungen zugrunde liegt. Im Werk von Emmanuel Lévinas ist der Verweis auf Bauen. Wohnen. Denken nur eine Facette der Auseinandersetzung mit dem Denken Martin Heideggers, des früheren Lehrers in Freiburg. Grundsätzlich kontrastiert Lévinas die Bedeutungen von Ethik und Ontologie, so dass eine Verknüpfung beider seiner Auffassung nach ausgeschlossen ist. Angesichts dieser deutlichen Entgegensetzung könnte allerdings die Frage auftreten, ob er dabei nicht unter Umständen genau jenen Begriff vom Sein vor Augen hat, gegen den sich auch Heidegger wendet? Es wurde bereits mehrfach die außergewöhnliche Nähe einiger Konzeptionen Heideggers zu Aussagen Franz Rosenzweigs angesprochen. Ein solcher Hinweis allein genügt natürlich nicht, um die lévinasische Kritik zu relativieren. Er kann aber zumindest dazu 269
Totalität und Unendlichkeit, S. 56.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
beitragen, die Berechtigung des eigenen Standpunktes zu stützen. Denn wenn es zutrifft, was sich in diesen Überlegungen abzeichnet und durch eine intensivere Betrachtung bestätigt werden kann, ist die gedankliche Differenz zwischen Lévinas und Heidegger am Ende kleiner als erwartet. Lévinas erklärt zwar, dass er diesen für einen der größten Denker halte, räumt aber zugleich ein, sich mit dessen späteren Schriften nicht wirklich auszukennen. So wäre vielleicht durch diesen Umstand nachvollziehbar, wie ein Eindruck des Denkens entstehen konnte, der in Anbetracht genau dieser Texte möglicherweise hätte revidiert werden können. Um das in aller Klarheit zu betonen: Es geht nicht darum, einen Denker vor der Kritik eines anderen in Schutz zu nehmen. Die Zielsetzung dieser Überlegungen besteht vielmehr darin, aus den Konzepten, die uns vorliegen, diejenigen Elemente kenntlich zu machen, die für den Entwurf einer existentiellen Ethik fruchtbar gemacht werden können. Dem Heideggerʼschen Konzept des Hörens in seiner Transformation zur Hörigkeit kommt hierbei eine nicht unwesentliche Bedeutung zu. Daher scheint es gerechtfertigt zu sein, eine Deutung, die diese Begriffe der Vorstellung des Besitzens subsumieren, zu hinterfragen. Das trifft auch auf die folgende Formulierung aus Totalität und Unendlichkeit zu: Wer die Priorität des Seins im Verhältnis zum Seienden behauptet, spricht sich schon über das Wesen der Philosophie aus; er ordnet die Beziehung [la relation] zu jemandem, der ein Seiendes ist (die ethische Beziehung) der Beziehung mit dem Sein des Seienden (einer Beziehung des Wissens) unter; das unpersönliche Sein des Seienden gestattet den Zugriff auf das Seiende, die Herrschaft über es; die Gerechtigkeit wird der Freiheit untergeordnet.270
Der französische Begriff «la relation» muss nicht zwingend im Sinne einer personalen Beziehung verstanden werden, wie es die deutsche Übersetzung nahelegen könnte. Dennoch kann gefragt werden, ob es sinnvoll ist, in vermeintlich beiden Fällen – dem des Ethischen und dem des Wissens – von einer Relation zu sprechen. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Es gilt vielmehr zu fragen, ob die Ableitung des Herrschaftsgedankens aus der vermeintlichen Priorität des Seins berechtigt ist. Und in welcher Weise würde Heidegger sie behaupten? Schon mit Blick auf Sein und Zeit könnten hier Bedenken erhoben werden. Zum einen finden wir dort seine erklärte Absicht, die Frage nach dem Sein durch diejenige nach dem Sinn von Sein zu ersetzen. Ein Begriff ohne Bedeutungsumfang, wie er nach dieser Auffassung im traditionellen ontologischen Terminus des Seins vorliegt, wird durch einen Begriff mit existentieller Relevanz ersetzt, die sich in Sein und Zeit allerdings erst im formalen Aufriss ihrer Ermöglichung, der durch die fundamentalontologischen Analysen geschaffen wird, zu erkennen gibt. Wenn von «Priorität» gesprochen wird, wäre zu überlegen, wie dieses Zuerst-Vorangehen zu verstehen ist. Als Bedingung der Möglichkeit, Seiendes den270
Totalität und Unendlichkeit, S. 54, Einschub: Totalité et infini, S. 36.
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ken zu können, so könnte geantwortet werden. Diese Priorität würde der ethischen Wertigkeit des Seienden, um die Lévinas fürchtet, jedoch keinen Abbruch tun – ganz im Gegenteil. Gerade seine aus einem gemeinsamen Begriff resultierende Denkbarkeit würde für dessen ontische Gleichwertigkeit sprechen, die alles andere wäre als die Begründung des Gedankens der Ungerechtigkeit. Ob Lévinas auf diese Form von Priorität abzielt, ist zu überlegen, wenn er von eine «relation de savoir» spricht. In diesem Begriff ist, anders als im deutschen Begriff des «Wissens», ein stärkerer Bestandteil des Könnens enthalten. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil unterschiedliche Akzentuierungen die zitierte Aussage verändern würden. Es ginge dann eben nicht nur um ein Wissen, das der Begriff des Seins möglicherweise erlauben würde, sondern um eine ethische Komponente, die Wissen und Können verbindet. Die «ethische Beziehung» würde so, wenn der erweiterte Umfang des Begriffes «savoir» zugrunde gelegt wird, durch eine Beziehung des Vermögens ersetzt. Und dieses würde sich als Vermögen dessen erweisen, der von der Priorität des Seins vor dem Seienden ausgeht. Wir hätten es folglich nicht nur mit einer zeitlichen Vorgängigkeit zu tun, sondern mit einer das eigene Können rechtfertigenden Priorisierung. Dass Lévinas gegen eine solche Annahme argumentiert, ist vollkommen nachvollziehbar. Denn sie würde tatsächlich als Rechtfertigung einer Haltung der Ungerechtigkeit in den Beziehungen zwischen Menschen fungieren können. Als Priorität, der der Rang eines Prinzips entspricht, würde sie selber keiner Begründung, geschweige denn einer Rechtfertigung bedürfen. Doch ist das Heideggers Ansicht? Gerade die Auflistung der Vorkommensweisen des «unpersönlichen» Seins in Sein und Zeit, in der nicht zwischen dem Mit-Sein der Menschen und der Zuhandenheit des Dinglichen differenziert wird, bietet zunächst keinen Anhaltspunkt, ethische Wertigkeiten unter Rückgriff auf den Begriff des Seins begründen zu wollen. Diese wertneutrale Perspektive wird in den späten Aussagen Heideggers insofern relativiert, als nun sogar – um die Formulierung von Lévinas aufzugreifen – von einer Priorität des Seienden in der Erscheinungsform des Dinglichen auszugehen ist. Denn diese, und nicht etwa eine gesteigerte Abstraktionsstufe innerhalb des Seins-Denkens, führt zur Erfahrung des Seyns. Lévinas kannte Bauen. Wohnen. Denken, den Vortrag Heideggers aus dem Jahr 1951. Was er nicht kennen konnte, sind die Denktagebücher, die mittlerweile unter dem Titel der Schwarzen Hefte veröffentlicht werden. Speziell in diesen Notizen, Fragmenten und kurzen Betrachtungen finden sich die deutlichsten Hinweise auf diese wirkliche «Kehre» im Denken, die Heidegger selbst als solche bezeichnet. Denn er erklärt, die Differenz zwischen Sein und Seiendem in früheren Jahren nicht klar genug zum Ausdruck gebracht zu haben. Diese Differenz verhindert es letzten Endes, dass von einer Priorität des Seins gesprochen und aus seiner vermeintlichen Vorgängigkeit eine Haltung der Ungerechtigkeit abgeleitet werden kann, die so weit reicht, dass sie die Gerechtigkeit der subjektiv verstandenen Freiheit unterordnet. Diese Formulierung von Lévinas könnte für Irritation sorgen. Denn wenn es die Freiheit ist,
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der etwas untergeordnet wird, und sei es auch die Gerechtigkeit, können die Folgen nicht allzu besorgniserregend sein. Freiheit ist für Lévinas ein Begriff mit ambivalenter Bedeutung, deren negative Facette hier erkennbar wird: Wenn die Freiheit die Weise bezeichnet, der Selbe inmitten des Anderen zu bleiben, so enthält das Wissen (in dem sich das Seiende durch die Vermittlung des unpersönlichen Seins hingibt) den eigentlichen Sinn der Freiheit. Die Freiheit wäre der Gerechtigkeit entgegengesetzt; denn die Gerechtigkeit umfaßt Verpflichtungen gegen ein Seiendes, das sich weigert, sich hinzugeben, […].271
Einige Zeilen später fasst Lévinas seinen Gedanken wie folgt zusammen: «Dies ist die Definition der Freiheit: sich trotz aller Beziehung mit dem Anderen gegen das Andere halten, die Autarkie eines Ich sichern.»272 Begriffe, die im herkömmlichen philosophischen Verständnis eher positiv besetzt sind, zeigen hier eine neue Seite. So deuten Freiheit und Autarkie auf eine solitäre Sicht des Menschen, die insofern von Anfang an fragwürdig erscheint, als der Mensch niemals vom Mitmenschen isoliert gedacht werden kann. Davon ist zumindest Lévinas überzeugt. «Ich kann mich aus der Gemeinschaft mit dem Anderen nicht losreißen, selbst wenn ich das Sein des Seienden betrachte, das er ist.»273 Diese Formulierung erweckt den Eindruck, der Gedanke des Seins diene exakt diesem Ziel, sich vom Anderen loszureißen. Doch was wird mit diesem Verb angedeutet? Geht es hier um eine strategische Absicht, Sein zu denken, um nicht die Relation zum Anderen denken zu müssen? Der Effekt, auf den Lévinas anspielt, scheint durchaus bekannt zu sein, wenn an die Aussagen von Franz Rosenzweig gedacht wird. Abstraktion verfehle den Einzelnen, so war es in seinem Stern der Erlösung zu lesen. Doch ist es ihr Ziel, ihn nicht denken zu müssen, oder besteht die Begründung des Seins-Denkens auch darin, das letzte Verbindende alles Seienden benennen zu können? Die Wirkung ist ein und dieselbe, doch wären die verfolgten Intentionen zu unterscheiden. Lévinas verwendet die Begriffe des Seins und der Ontologie in Totalität und Unendlichkeit undifferenziert. Besonders mit Letzterem verbindet er die Assoziation gewalthafter Einvernahme des Anderen. Entsprechend heißt es: Wir widersprechen daher auch grundsätzlich Heidegger; statt in der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einen ursprünglichen Zugang zum Anderen jenseits aller Ontologie zu gewahren, ordnet Heidegger die Beziehung zum Anderen der Ontologie unter (er bestimmt die Ontologie im übrigen so, als könne die Beziehung zu dem Gesprächspartner und zu dem Meister [le Maître] auf sie reduziert werden).274
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Totalität und Unendlichkeit, S. 54 f. Totalität und Unendlichkeit, S. 55. Totalität und Unendlichkeit, S. 58. Totalität und Unendlichkeit, S. 123 f.
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In seinen späteren Texten spricht Heidegger kaum noch von Ontologie, wohl aber vom Seins-Verstehen, das nicht mit dem Wissen um den Begriff des Seins identisch ist. Während er sich selbst von der Tradition abendländischer Ontologie distanziert, tritt er für die Weise ein, Sein in seinem Forderungscharakter zu erfassen, oder, besser formuliert: den Forderungscharakter des Seins zu erfassen. Ohne diese Abhebung des Seins-Denkens von der Ontologie würde sein Begriff des Seyns keinen Sinn machen. Denn er signalisiert ja gerade die größte TheorieFerne des Seins-Denkens, indem er die größte Nähe zur Erfahrung des Dinglichen schafft. Diese wenigen Bemerkungen mögen ausreichen, um eine Vermutung zu bekräftigen. Im Grunde wenden sich Emmanuel Lévinas und Martin Heidegger beide gegen Ontologie als Theorie abstrakten Seins. Noch einmal sei in diesem Zusammenhang auf Heideggers Bildlichkeit des Hörens hingewiesen. Diese verwendet er, um die aufnehmende Haltung des Menschen der Welt gegenüber benennen zu können, ohne sie definieren zu müssen. Der andere Mensch wird dabei nicht explizit ein- oder ausgeschlossen, worin ohne Frage eine Schwäche des Motivs der Hinwendung zu Anderem besteht. Doch gerade weil der Nächste von ihm nicht eigens thematisiert wird, spricht nichts dafür, ihn aus dem Gedanken sich hinwendender Relationalität auszuschließen – so wie auch nichts dagegenspricht. Es bleibt eine offene Möglichkeit der Denkbarkeit. In seiner Kritik der Ontologie, in die Emmanuel Lévinas Martin Heidegger einschließt, zeichnen sich bereits die ersten entscheidenden Züge seiner Konzeptionen ab, in deren Mittelpunkt der Begriff der Gerechtigkeit steht: Die Existenz des Anderen betrifft uns in der Gemeinschaft. Der Andere affiziert uns nicht als jemand, den es zu überwinden, einzunehmen, zu beherrschen gilt – sondern als Anderer, der von uns unabhängig ist: Hinter jeder Beziehung, die wir mit ihm unterhalten könnten, taucht er immer wieder als absoluter auf. Diese Weise, ein absolutes Seiendes zu empfangen, entdecken wir in der Gerechtigkeit […]; sie vollzieht sich in der Rede [discours], die wesentlich Unterweisung [enseignement] ist.275
Worin unterscheidet sich diese Aussage, die in kompakter Form den Kern des lévinasischen Denkens präsentiert, von den bisher angesprochenen Ansichten? Denn es muss einen Unterschied geben, würde doch sonst eine stillschweigende Fortsetzung existenzphilosophischen Denkens vorliegen. Dass Lévinas eine solche Einschätzung seines Standpunktes nicht teilt, wird sich sogleich bestätigen. Ein erster Hinweis liegt in seinem Gebrauch des Begriffes der Existenz. Er bezeichnet nicht, wie es sich bisher gezeigt hat, die spezielle Seins-Weise des Menschen, die er durch Vereinzelung und Entscheidung erlangen kann, sondern das Faktum des Da-Seins schlechthin. Beide Voraussetzungen der Existenz wurden bisher als positiv bewertet, da nur sie den Schritt zum eigentlichen Sein-Können eröffnen. Doch wie sieht Lévinas die Möglichkeit der Vereinzelung? Sie ist seiner 275
Totalität und Unendlichkeit, S. 124, Totalité et Infini, S. 89.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
Ansicht nach Ausdruck der Freiheit, doch keinesfalls Ausdruck der Gerechtigkeit. Hier gilt es nun, zwei Gedanken zu unterscheiden. Auf der einen Seite ist die Trennung von mir und dem Anderen seiner Auffassung nach unverzichtbare Bedingung für das Walten von Gerechtigkeit. Diese Formulierung wird eventuell verwundern. Es wäre nicht zutreffend, hier etwa von einer Haltung der Gerechtigkeit zu sprechen, da diese im Sinne von Lévinas nicht willentlich präferiert und gezielt eingenommen werden könnte. Gerechtigkeit ist vielmehr ein Merkmal interpersonalen Geschehens, auf das gleich näher einzugehen ist. Eine Voraussetzung dieses Denkens muss jedoch zuvor erläutert werden, da ansonsten der gesamte Motivkomplex von Besitz und Vereinnahmung, der bereits kurz im Zusammenhang der Heidegger-Kritik gestreift wurde, unverständlich bleiben könnte. In einer seiner frühesten Arbeiten, dem 1935 publizierten De l’évasion – Ausweg aus dem Sein nimmt Lévinas eine Charakterisierung des Seins-Bewusstseins des Menschen vor, die stark an existentialistische Texte erinnert. Denn dort beschreibt er ein Gewahren des Menschen, das jenem des Romanhelden aus dem drei Jahre später erschienenen Roman La Nausée – Der Ekel von Jean-Paul Sartre außerordentlich ähnelt. Lévinas schreibt: «Die elementare Wahrheit, daß es Sein überhaupt gibt – Sein, das kostet und lastet –, enthüllt sich in einer Tiefe, die ihre Unerbittlichkeit und ihren Ernst beweist. Das harmlose Spiel des Lebens büßt seinen Spielcharakter ein.»276 Diese noch im Ton philosophischer Feststellung gehaltene Einsicht, die einen Menschen unerwartet und unvermittelt überfallen kann, erweitert Sartre um die Dimension affektiver Bedrängnis: «Ein Baum kratzt die Erde unter meinen Füßen mit einem schwarzen Nagel. Ich würde mich so gern gehenlassen, mich vergessen, schlafen. Aber ich kann nicht, ich ersticke: die Existenz dringt von überallher in mich ein, […].»277 Und wie in einer vorgreifenden Analyse dessen, was Sartre beschreiben wird, erklärt Lévinas: «Im Ekel, der Unmöglichkeit zu sein, was man ist, ist man zugleich an sich selbst gekettet, eingeschlossen in einem engen Kreis, der erstickt.»278 Mit Blick auf existenzphilosophisches Denken wurde auf den Augenblick der Erschütterung hingewiesen, der einen Menschen aus der Selbstverständlichkeit des Daseins herausreißt und zur Reflexion des Seins zwingt. In den Deutungen von Kierkegaard, Jaspers und Heidegger kommt diesem an sich höchst unangenehmen Erleben die Bedeutung zu, Auslöser der Wendung zur Eigentlichkeit zu sein. Diese ermöglicht es mithin, als Selbst, das heißt selbst-bestimmt und selbst-reflektiert, zu existieren, womit ein Mensch das Potential des ihm Möglichen ausschöpft. Die Wirkung des Erlebens, über das Lévinas und Sartre schreiben, ist damit nicht vergleichbar. Auch in ihrer Sicht wird der Mensch zu einer Einsicht gezwungen, doch gilt sie nicht dem Dasein, sondern dem Sein. Worin 276 277 278
Ausweg aus dem Sein, S. 9. Der Ekel, S. 144. Ausweg aus dem Sein, S. 49.
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besteht der Unterschied? Im Moment der Erschütterung erschließt sich uns die Endlichkeit unseres Daseins, die Ausdruck der Zeitlichkeit des Seins ist. Gerade weil diese Einsicht uns ganz unmittelbar betrifft, stellt sie unser bisheriges Tun infrage. Als wollte Lévinas seine Aussagen von genau dieser Sicht abgrenzen, erklärt er, warum das unreflektierte Dasein, das er als «das harmlose Spiel des Lebens» bezeichnet, zerbricht: «Nicht, weil die Leiden, die es bedrohen, das Leben unangenehm werden lassen, sondern weil die Unmöglichkeit, diese Leiden zu unterbrechen, und das quälende Gefühl des Angekettet-Seins den Grund dieser Leiden bilden.»279 Es steht hier also das Sein, nicht das dem Menschen zunächst noch Zuverlässigkeit vortäuschende Dasein auf dem Spiel. Insofern wiegt das Gewicht der Ernüchterung doppelt schwer, so scheint es zumindest. Faktisch ist die Machtlosigkeit, das eine wie das andere zu verändern, gleich groß. Doch was im Anblick des Daseins in seiner menschliches Agieren infrage stellenden Natur noch durch den Willen zum Ertragen dieser Einsicht bewältigt werden kann, lässt im Begreifen des Seins nur einen einzigen Wunsch, ein einziges Bedürfnis, wie es heißt, zu – das Bedürfnis, dem Sein zu «entkommen».280 Mit dem Begriff des Bedürfnisses klingt bereits in Ausweg aus dem Sein eines jener zentralen Motive an, das knapp dreißig Jahre später detailliert betrachtet wird. Doch dort ist es nicht der eigentliche Gegenstand der Untersuchung, den vielmehr der Begriff des Begehrens, genauer des «metaphysischen Begehrens» bildet. Die Thematisierung des Bedürfnisses in den 1930er Jahren resultiert aus der Diagnose, die Lévinas dem modernen Menschen in seinem Unwohlsein stellt. In dem Moment, in dem er sich der Unausweichlichkeit des Seins bewusst wird, wird ihm diese Einsicht zum Grund seines Leidens, das umso intensiver erlebt wird, da es keinen «Ausweg aus dem Sein» zu geben scheint. Das Bedürfnis – le besoin –, einen solchen Ausweg dennoch zu finden, drückt «die Anwesenheit unseres Seins und nicht seine Mangelhaftigkeit» aus.281 Eine solche emotionale Resonanz ist aus existenzphilosophischen Schriften nicht bekannt. Und selbst wenn ein Leiden am Sein erwogen würde, wäre dessen Bedrängnis nur von vorübergehender Dauer, da der Ausweg in der Bewegung der Existenz immer schon im Sein angelegt ist. Insofern wäre es kein wirkliches Entfliehen des Seins, sondern die individuelle Aneignung seiner Bedingtheit. Existenz ist nur im Sein möglich. Das heißt aber auch, scheinbar selbstverständlich klingend, dass SelbstSein nur im Sein möglich ist. Ein grundsätzliches Misstrauen dem Sein gegenüber, wie es Lévinas’ Denken kennzeichnet, fände hier keinen Anlass. Die AufAusweg aus dem Sein, S. 9. «Dem Bedürfnis nach Evasion erscheint das Sein nicht nur als Hindernis, das ein freies Denken zu überwinden hätte, noch als Starrheit, die zur Routine einlädt und nach einer Anstrengung der Originalität verlangt, sondern als Gefängnis, dem es zu entkommen gilt.» Ausweg aus dem Sein, S. 15. 281 Ausweg aus dem Sein, S. 31. 279
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fassung, dass Selbst-Sein nur im Sein möglich ist, teilt er. Allerdings nimmt sie in seinem Werk eine andere Wendung: Dem Bedürfnis nach Evasion [nach dem Ausweg] erscheint das Sein nicht nur als Hindernis, das ein freies Denken zu überwinden hätte, […] sondern als Gefängnis, dem es zu entkommen gilt. Die Existenz ist ein Absolutes, das sich behauptet, ohne auf etwas anderes Bezug zu nehmen. Es ist die Identität. […] In der Identität des Ich offenbart die Identität des Seins sich wesenhaft als Verkettung, da sie als Leidensform auftritt […]. So ist die Evasion auch das Bedürfnis, aus sich selbst herauszugehen, d. h. die radikalste, unwiderruflichste Verkettung zu durchbrechen, nämlich die Tatsache, daß das Ich es selbst ist.282
Identität erscheint hier nicht als das aktuelle Bewusstsein, zu sein, sondern in einer Weise sein zu müssen, die dem eigenen Vermögen der Aneignung permanent Widerstand leistet. Insofern ist diese Sicht genau das Gegenteil der existenzphilosophischen Auffassung. Eine faktische Veränderung des Seins, sofern es sich im Bewusstsein zu erkennen gibt, ist auch dort nicht möglich, doch kann die Einstellung der Faktizität des Seins gegenüber modifiziert werden. Das geschieht im Zuge der existentiellen Bewegung. Manch einem mag sie als die größte vorstellbare Selbsttäuschung erscheinen, da sie der menschlichen Verfügungsmacht zu unterstellen vorgibt, was ihr in Wirklichkeit niemals unterliegen kann. Der Glaube, in der Existenz Sein eigener Prägung gestalten zu können, das dann als das menschliche Sein bezeichnet wird, mag tatsächlich ein Glaube sein. Doch er ist letztlich die einzige Alternative zu dem Bedürfnis, dem Sein zu entfliehen, das Lévinas beschreibt. Die Bedingtheit des Seins zu erkennen und die menschliche Erkenntnis dieser Bedingtheit zu verstehen, stellt Heinrich Barth in den Mittelpunkt seiner existenzphilosophischen Konzeption. Aufgrund dieser starken Akzentuierung der Erkenntnisfunktion fällt es ihm mitunter schwer, den Übergang zu der Frage nach einer möglichen Auswirkung der Existenz auf Dasein und Miteinander zu finden, eine Schwierigkeit, die für Franz Rosenzweig und Martin Heidegger in geringerem Maße besteht. Oder ist es an dieser Stelle übereilt, beide Denker in einem Atemzug zu nennen? Für Rosenzweig trifft die Feststellung gewiss zu. Denn sein Denken zielt darauf ab, «ins Leben» integriert und dort wirksam zu werden. Ist damit aber auch gemeint, dass Sein an sich veränderbar ist? Die Frage ist falsch formuliert, da Sein an sich aus seiner Warte undenkbar ist. Vom ersten Moment an, in dem sich der Mensch in der Welt begegnet und das Denken dafür den Begriff des Seins entwirft, geht es nicht um die abstrakte Möglichkeit, das Faktum zu benennen, dass etwas ist. Vielmehr fungiert der Begriff «Sein» als Bezeichnung der Bezogenheit im Dasein, nach Rosenzweigʼscher Deutung Synonym für die Welt. Dass Dasein veränderbar ist, signalisiert er eindeutig durch die bereits angesprochene Verwendung zweier differenter Schreibweisen: «Dasein» meint Vorfindlichkeit, «Da-sein» gestaltetes Miteinander. 282
Ausweg aus dem Sein, S. 15 ff.
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Für Lévinas fällt nun das Bedürfnis, das Sein zu verlassen, mit jenem zusammen, die eigene Identität, deren Begriff er hier aus der philosophischen Terminologie übernimmt, aufzulösen. Denn letztendlich handelt es sich in beiden Fällen um die Selbst-Vergewisserung, die stattfindet, wenn sich das Bewusstsein auf sein eigenes Wirken richtet. Da dieses niemals als eine Art Leerlauf erfolgen kann, sondern sich das Bewusstsein immer auf ein Objekt richten muss, ist es in diesem Zusammenhang gleichgültig, ob dieses im Sein oder im Selbst-Sein gefunden wird. Folglich flieht die Evasion «das Sein selbst, das Selbst-Sein und nicht das Begrenzt-Sein. Das Ich flieht sich in der Evasion nicht, weil es der Unendlichkeit dessen, was es nicht ist oder was es niemals werden kann, entgegengesetzt ist, sondern weil es überhaupt ist oder wird.»283 Doch inwieweit sind diese Bemerkungen für die vorliegende Thematik von Interesse? Schließlich könnte es so wirken, als zeige sich in dem Bedürfnis, einen Ausweg aus dem Sein zu finden, eine lediglich den Einzelnen betreffende Befindlichkeit, die er am Ende mit sich selbst auszumachen hat. Genau dieser Folgerung greift Lévinas jedoch im weiteren Verlauf seines Denkens vor. Gleich auf der ersten Seite von Totalität und Unendlichkeit findet sich ein Begriff, der unmittelbar an die frühen Ausführungen anknüpft: das «metaphysische Begehren» – le désir métaphysique. Und sofort stellt sich die Frage, ob dieses mit dem «Bedürfnis» aus Ausweg aus dem Sein gleichbedeutend ist? Eine im Grunde selbstverständlich klingende Bemerkung ist hier voranzustellen. Zwischen beiden Texte liegt die dramatische Zäsur der Erfahrung von Krieg und Holocaust, die Lévinas als Denker jüdischen Glaubens nun reflektiert. In der Einleitung seines Textes, auf die bereits kurz eingegangen wurde, heißt es: «Der Krieg […] zerstört die Identität des Selben. Das Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im Begriff der Totalität. Dieser Begriff beherrscht die abendländische Philosophie.»284 Um diese Sätze einordnen zu können, ist es erforderlich, für einen Moment der geläufigen Ansicht entgegenlaufend zu denken. Identität, das hat bereits der frühe Text gezeigt, wird hier nicht als sich punktuell aktualisierendes Bewusstsein der Selbstheit verstanden, sondern als Bewusstheit des unbegrenzten Seins und damit einhergehend des Unbegrenzt-Seins. Diese Auffassung kollidiert nun mit dem Gedanken der Totalität, der zwar formal das Umfassende bezeichnet, an dieser Stelle jedoch in der spezifischen Deutung des Begrenzenden gebraucht wird. Von Begrenzung ist nun kaum noch die Rede, dafür aber vom Unendlichen, dessen Begriff Lévinas, wie bereits der Titel seiner Abhandlung zeigt, als antagonistische Dimension der Totalität kontrastiert. Vom Unendlichen ist nun aber kein Wissen möglich, nur Erfahrung, wie das suchende Erkennen-Wollen eingestehen muss und damit zugleich bestätigt, dass ihm kaum eine Begrifflichkeit zur Verfügung steht, um vom 283 284
Ausweg aus dem Sein, S. 17. Totalität und Unendlichkeit, S. 20.
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Unendlichen zu sprechen.285 Eine formale Möglichkeit, von Erfahrung des Unbegrenzten, wie vielleicht noch etwas passender übersetzt werden könnte, zu sprechen, findet Lévinas in der Eschatologie. Warum verwendet er gerade diesen Begriff, der nach traditionellem Verständnis von den letzten Dingen und der Erfüllung des Schicksals am Ende der Tage kündet? Es geht nicht um die Ausrichtung auf eine Art von Inhalten endzeitlicher Bedeutung, sondern um das Form-Schema eschatologischen Denkens. Dieses nimmt vorweg, ohne jemals bezeichnen zu können, was ist. Eine erstaunliche und in dieser Weise nicht unbedingt zu erwartende Bezugnahme zum existentiellen Denken zeichnet sich zur Vorstellung der Vorwegnahme als vorlaufender Vergegenwärtigung ab. Doch sollte über dieser strukturellen Ähnlichkeit die Platzierung in den jeweiligen gedanklichen Konzeptionen nicht unberücksichtigt bleiben. Im existentiellen Sinn zielt die Vorwegnahme als Entscheidung über das Zukünftige auf Verwirklichung, ja sogar auf das Sein-Sollen, wie Heinrich Barth zeigt. Für Lévinas öffnet das vorlaufende Gewahren, das er als Eschatologie bezeichnet, ein unbegrenztes Seins-Spektrum, das unabhängig vom Menschen besteht und gerade nicht der Verwirklichung durch ihn bedarf. Da die gesamten Überlegungen, die hier angestellt werden, der Frage nach einer existentiellen Ethik dienen, ist diese Sichtweise von enormer Brisanz. Denn sie würde letzten Endes bedeuten, dass Ethik eine Weise des Verstehens ist, das niemals zum Dingfest-Machen eines Verstandenen führen kann: Das eschatologische Sehen zielt nicht ab auf das Ende der Geschichte des Seins – Sein als Totalität verstanden –, sondern stellt eine Beziehung zum Unendlichen des Seins her, das die Totalität überschreitet. Die erste ‹Vision› der Eschatologie […] erreicht die eigentliche Möglichkeit der Eschatologie, d. h. den Bruch der Totalität, die Möglichkeit einer Bedeutung ohne Kontext. Die Erfahrung der Moral folgt nicht aus dieser Vision – sie vollbringt diese Vision; […].286
Bevor auf diese Auffassung näher eingegangen werden kann, steht allerdings noch der Begriff des metaphysischen Begehrens zur Erläuterung an. Dass es zu keinem Zeitpunkt durch das Erreichen des Begehrten zu vollenden sein wird, zeichnet sich bereits ab. Der Begriff des Bedürfnisses, der in Ausweg aus dem Sein das Verlangen bezeichnet, dem Sein zu entfliehen, wird nun in modifizierter Bedeutung verwendet. Denn nun zielt es auf Erreichbares, das das Verlangen stillt. «Gerade dadurch geht ihre Andersheit [die der Dinge] in meiner Identität, der «Freilich kann die Beziehung mit dem Unendlichen nicht in Termini der Erfahrung ausgedrückt werden – denn das Unendliche überschreitet das Denken, das es denkt. In diesem Überschreiten geschieht eine Infinition […] dergestalt, daß man die Beziehung mit dem Unendlichen in anderen Ausdrücken wird ausdrücken müssen als denen der objektiven Erfahrung.» Totalität und Unendlichkeit, S. 26. 286 Totalität und Unendlichkeit, S. 23. 285
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Identität der Denkenden oder Besitzenden, auf. Das metaphysische Begehren strebt nach ganz Anderem, nach dem absolut anderen.»287 So gleicht dieses Begehren einer fortgesetzten Bewegtheit, die ihr Ziel nicht kennt und folglich in keinem vermeintlichen Endpunkt ihren Abschluss finden wird. Mehrfach war in den Zitaten die Formulierung «Beziehung mit dem Unendlichen» aufgetaucht, die möglicherweise für Verwunderung sorgt. Denn wie soll eine solche Beziehung vorstellbar sein. Für Lévinas wird sie in der Begegnung mit dem Anderen ermöglicht, das er ausdrücklich nicht primär als diesen anderen Menschen versteht, der in einem bestimmten Moment gegenüber tritt, sondern als das absolut Andere. In ihm wird Unendlichkeit denkbar, auch wenn der absolut Andere immer nur durch das Angesicht des anderen Menschen zum Ausdruck kommen kann. Um den Zusammenhang dieses zentralen Gedankens vom Antlitz – le visage – mit dem bisher Angesprochenen näher zu beleuchten, bietet sich folgende Passage an: «Das Unendliche im Endlichen, das Mehr im Weniger, das sich durch die Idee des Unendlichen vollzieht, ereignet sich als Begehren. […] Ganz und gar uninteressiertes Begehren – Güte. […] Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.»288 Obwohl Intonation und Sprach-Gestus sich deutlich unterscheiden, erinnern diese Zeilen doch in einem Aspekt an Heinrich Barths Konzeption des In-Erscheinung-Tretens. Und mit Blick auf beide Konzepte könnte sich die Frage stellen, ob sie nicht die personale Einzigartigkeit des anderen Menschen dem Gedanken des Anderen in seiner Repräsentationsfunktion opfern. Selbst bei Franz Rosenzweig, der von den drei momentan im Fokus stehenden Denkern dem Begriff des Einzelnen die größte Aufmerksamkeit schenkt, fanden wir die Äußerung, dass der Nächste, an dem sich das göttliche Liebesgebot realisiert, der beliebige Nächste sein kann, oder, um die Negativität dieser Formulierung ein wenig zu brechen: dass der Nächste als Manifestation der Menschheit verstanden werden kann. Doch diese kleine Korrektur vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es aus einer Sicht, die das Existentielle betont, in letzter Konsequenz kaum möglich zu sein scheint, am Gedanken des Einzelnen bis zur Frage nach der Ethik festhalten zu können. Denn dieser Frage dienten Rosenzweigs Überlegungen zum Nächsten: Wie kann das Gebot, das sich grundsätzlich vom Gesetz unterscheidet, erfüllt werden? Nicht in der einzelnen Tat, so würde seine Antwort lauten, sondern in der Hinwendung zum Anderen, in der sich das Bekenntnis zum Sein ausspricht. Heinrich Barths Sicht unterscheidet sich zwar formal massiv von derjenigen Franz Rosenzweigs. Doch sie stimmt insofern mit dieser überein, als auch er davon ausgeht, dass sich in der Erscheinung des Anderen etwas ausdrückt, das die Erscheinung des Anderen übersteigt. Denn die Möglichkeit, den Anderen zu erfassen, bestätigt die Möglichkeit der Erkennt287 288
Totalität und Unendlichkeit, S. 35. Totalität und Unendlichkeit, S. 63.
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nis der Existenz. Wenn Emmanuel Lévinas nun den theologisch höchst bedeutsamen Begriff des Antlitzes einführt, um die Beziehung zum Anderen als Beziehung zum Unendlichen erläutern zu können, wiederholt sich diese Beobachtung. In einer Begegnung, die eigentlich als Begegnung zweier Menschen in der unverwechselbaren Eigenheit ihrer Person verstanden werden könnte, geht es um etwas Anderes. Die Begegnung ist Anlass und Ermöglichung für die Einsicht in die Struktur des Seins. Es ist nicht unproblematisch, diesen Begriff auch mit Blick auf Lévinas’ Denken zu verwenden. Doch es hatte sich angedeutet, dass seine Vorbehalte gegen diesen Terminus einer ganz bestimmten Lesart gelten, die hier ausdrücklich nicht geteilt wird. Das Seins-Denken drückt weder Besitzanspruch noch Vereinnahmungstendenzen aus, sondern den Versuch, eine neutrale Basis der Denkbarkeit des Miteinanders in der ganzen Weite seiner Möglichkeiten zu schaffen. Die Struktur des Seins stellt sich in Rosenzweigs Text als Verwiesenheit auf das Andere in den denkbaren Formen von Gott, Welt und Mensch dar. Für Barth bestand sie in der Verwiesenheit auf die Möglichkeit des Transzendentalen, dessen Gedanke die Erkenntnis erschließt. Und für Lévinas? Er begreift die Struktur des Seins – auch wenn er diesen Ausdruck nicht verwenden würde – als Verwiesenheit auf den Gedanken des Absoluten, der jedoch in keiner Weise mit der Vorstellung einer Ganzheit, einer Totalität im Seienden, zu verwechseln ist. Dreimal tritt eine Strukturanalyse an die Stelle der Thematisierung individueller Beziehung. Und dreimal geschieht dieses, um die Bedingung der Möglichkeit von Verweisung darstellen zu können. Das Gebot, die Erkenntnis und das Unendliche sind Signaturen zur Benennung der Relationsfähigkeit des Menschen. In den beiden ersten Fällen deuten die Begriffe auf ein Vorgängiges, das mit einiger Vorsicht als Prinzip bezeichnet werden kann. Vorsicht ist insofern geboten, als gefragt werden könnte, ob dieser Ausdruck gleichermaßen für einen Gott, der das Gebot erlässt, und für das Transzendentale, das die Einheit von Erkenntnis gewährleistet, angewendet werden kann. In beiden Fällen beinhalten die Begriffe Vorstellungen von begründender Verbindlichkeit. Ohne das göttliche Gebot würde die von Rosenzweig angeführte Unmöglichkeit bestehen, dass Gesetze zu moralischem Verhalten motivieren. Und ohne den Gedanken des Transzendentalen würden die individuellen Erkenntnisakte nicht zur Erkenntnis der Existenz führen. Zweimal liegt damit die Annahme einer das menschliche Agieren tragenden Gewährleistungsmetapher vor, die es verhindert, dass die Konsequenzen des Denkens der Existenz wie disparate Partikularerscheinungen wirken. Ein Gesetz könnte auf ein anderes folgen, ein Erkenntnisakt könnte einen anderen ergänzen – doch es blieben einzelne Gesetze und einzelne Erkenntnisakte. Bemerkenswert ist, dass dieser Umstand sowohl in einem ethisch zentrierten als auch in einem erkenntnistheoretisch ausgerichteten Denken gelten würde. Für Rosenzweig und Barth geht es letztlich darum, die Folgen der Individuation als Gedanke existentieller Vereinzelung aufzufangen. Diese Folgen sind interessanterweise als solche existenzphilosophisch
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kaum benannt und entsprechend reflektiert worden. Sie als möglicherweise problematisch zu benennen, hätte vermutlich die Faszination getrübt, die die Vorstellung vom Einzelnen in den 1920er Jahren ausübte und die in den 1960er Jahren bereits zum festen Themenkorpus existenzphilosophischer Theoriebildung zählte. Auf die Inanspruchnahme einer Gewährleistungsmetapher will Lévinas ganz offensichtlich nicht zurückgreifen. Worin sollte diese auch bestehen, da sein Gedanke des Unendlichen jede Benennung eines Verbindlichen, das als Gebot oder Erkenntnisprimat Handeln und Erkennen stützt, für unmöglich erklärt. Oder trifft diese Feststellung in der Form nicht zu? Das Liebesgebot und der Gedanke des Transzendentalen sind nicht deshalb als Prinzipien zu bezeichnen, weil sie etwas gebieten und das Erkennen ausrichten, sondern weil sie – wie der Ausdruck der Metapher nahelegt – Funktionssignaturen einer Erstbegründung sind. Nur deshalb können beide überhaupt zugleich genannt werden und wären unter bestimmten Bedingungen sogar austauschbar, da nicht ihre spezifische Wirkweise ihre Vergleichbarkeit garantiert, sondern die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um Ermöglichungsbedingungen menschlichen Mit-Seins handelt. Denn die Wirkung beider besteht darin, Bezüge in einem an sich diversifizierten Miteinander zu schaffen, wie es im Fall menschlicher Beziehungen und menschlichen Erkennens vorliegt. Exakt deshalb ist es ausgeschlossen, dass der Nächste bei Rosenzweig als dieser Eine mit seiner individuellen Geschichte und Kontur im Liebesgebot auserkoren wird. Und deshalb ist es bei Barth von sekundärer Bedeutung, wer den Gedanken des Transzendentalen fasst. Die Vereinzelung des Menschen zu denken, kann für die Denkbarkeit des Gebotes und des Transzendentalen keine Legitimation, sondern allenfalls eine Bestätigung bedeuten, insofern Anwendung findet, was in seiner Funktion die Ebene individueller Realisierung überformt. Vielleicht ist es sinnvoll, noch einmal auf die Unterschiedlichkeit der beiden Konzeptionen der Gewährleistungsmetapher bei Rosenzweig und Barth hinzuweisen, um eine Unschärfe im Gedankengang zu vermeiden. Auf der einen Seite steht eine religiöse Weisung und auf der anderen ein Erkenntnisprinzip. Gerade ihre extreme Verschiedenartigkeit lässt Zweifel an der Notwendigkeit aufkommen, sie überhaupt in Anspruch zu nehmen, zumindest dann, wenn sie dazu genutzt werden, menschliche Beziehung und menschliches Erkennen zu begründen. Denn es wird der Eindruck einer Vorgängigkeit erzeugt, die in irgendeiner Weise erklären soll, warum überhaupt individuelle Akte des Menschen, seien sie affektiver oder kognitiver Natur, als Akte des Menschen bezeichnet werden können. In der Erinnerung zeigen sich hier noch einmal Heinrich Barths Bemühungen, trotz seiner Fokussierung der Wirkweise des Transzendentalen ein Minimum an Berücksichtigung der erkennenden Person in seine Überlegungen einzuflechten. Wirklich überzeugend konnten sie nicht erscheinen. Und Franz Rosenzweig versucht es an diesem Punkt seiner Gedankenführung angelangt
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nicht einmal mehr, den Anschein von Individualität in der Erfüllung des Liebesgebotes zu erwecken. Oder wird mit dieser Behauptung das Spezifische seines Denkens verfehlt? Was folgte im Stern der Erlösung der Entwicklung vom edelstummen Selbst zur Seele, dem Inbegriff des «ganzen Menschen»? Erst in diesem Stadium – die Assoziation an Søren Kierkegaards Terminologie ist beabsichtigt – seines Werdens erweist sich der Einzelne als bindungsfähig. Doch was folgt jetzt? In dem Moment, in dem die Bindungsfähigkeit erwiesen ist, erübrigt sich scheinbar jede weitere Aussage theoretischer Natur. Denn was nun folgt, ist nach Franz Rosenzweigs Verständnis nur noch Anwendung. Wird sein Gedankengang auch als ein Stück ethisch relevanter Argumentation gelesen, ergibt sich, dass seiner Ansicht nach die Begründung des Sollens, wie es im Gebot ausgesprochen wird, nicht aus einer Analyse menschlicher Relationen ermittelt werden kann. Stattdessen wird auf einen Ursprung des Gebotes Bezug genommen, der ihn letztlich trotz aller Bemühungen Rosenzweigs, ihn als wirksam auch noch im Gestalten der Welt zu denken, als das Andere des Seins erscheinen lässt. Die Begründung einer Weisung, die im religiösen Kontext als Gebot, im ethischen Kontext als Imperativ zu bezeichnen wäre, kann dieser Auffassung zufolge nicht aus dem Sein abgeleitet werden. So wird der Rückgriff auf den Gedanken eines Anderen des Seins erforderlich. Die Gültigkeit dieser Sichtweise wird zu hinterfragen sein. Wenn bisher die Auffassungen von Rosenzweig und Barth als vergleichbar in Bezug auf die Funktion des Prinzipiellen betrachtet wurden, müsste sich das gerade Gesagte auch mit Blick auf den Gedanken des Transzendentalen bestätigen. Kein Gedanke, den wir zu bilden vermögen, ist an sich transzendental, kann aber sehr wohl in jener Einheitlichkeit erscheinen, die der Gedanke des Transzendentalen garantiert. Andernfalls würde das Prinzip unseres Denkens mit dessen Eigenschaft zusammenfallen, was widersinnig wäre. So wie nicht das Gebot als solches in der Welt wirkt, sondern dessen Wirkung, die durch das Erfüllungsstreben des Menschen entsteht, wirkt nicht das Transzendentale – so wie es Heinrich Barth darlegt – im Erkenntnisprozess, sondern das Erkennen der Möglichkeit, es zu denken. Die Möglichkeit an sich ist jedoch ebenso wenig wirksam wie das Gebot an sich. Damit ist der Begriff des Transzendentalen nicht selbst Gegenstand des Denkens, sondern dessen Bedingung. In sehr konstruierter Analogie zum Anderen des Seins kann vom Anderen des Denkens gesprochen werden. Die Einheitlichkeit unserer Erkenntnis, die im weitesten Sinne auch eine Form von Bezogenheit ist, nämlich der Bezogenheit der einzelnen Erkenntnisakte aufeinander, kann mithin laut Barth nicht aus dem Erkennen selbst ermittelt werden. Doch woher dann? Ebenso wie das Gebot dem Handeln vorgeordnet ist, bedingt der Gedanke des Transzendentalen die Einheit unserer Erkenntnis. Beide Gewährungsmetaphern sind nur in ihren Wirkungen für das Handeln und auf das Erkennen denkbar. An sich können sie lediglich benannt werden, wie es zum Beispiel in Form religiöser Erzählung erfolgt.
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Allzu weit scheinen sich die Überlegungen gerade vom ursprünglichen Thema dieses Kapitels, dem Denken des Emmanuel Lévinas, entfernt zu haben. Doch der Eindruck täuscht. Denn so wurde der Boden bereitet, um den Einsatz des Begriffes vom Unendlichen leichter nachvollziehen zu können. Sein Kontext wird durch die Frage gebildet, ob im existenzphilosophischen Ansatz die Möglichkeit, den Einzelnen zu denken, im Endeffekt zugunsten der Möglichkeit, den Menschen zu denken, preisgegeben wird. Nicht um der Möglichkeit willen, den Menschen zu denken, sondern um dasjenige aufzeigen zu können, das die Einzelnen verbindet. Die Formulierung, die Franz Rosenzweig gebrauchte, zeigt es deutlich: Der Nächste vertritt mir vollgültig die gesamte Menschheit. Damit ist etwas anderes gemeint, als dass der Mensch nur nach seinem Wesen, das er mit allen Menschen teilt, beurteilt wird. Vollgültig die Menschheit zu vertreten bedeutet, dass der Einzelne ähnlich wie im Denken des Wesens, das alle Menschen teilen, dasjenige zeigt, das alle auszeichnet. Doch anders als im Fall der Wesens-Definition, die von Anfang an bestimmt, was es denn sei, das uns alle kennzeichnet, erwirbt der Einzelne im existenzphilosophischen Verständnis seine Fähigkeit der Stellvertretung aller erst im Laufe seines existentielles Werdens. Ein dürftiger Unterschied, so könnte argumentiert werden. Doch erinnern wir uns, auf welchem Wege dieses Werden abläuft und vor allem, wie es beginnt. Es ist immer der Moment der Erschütterung erforderlich, um den Menschen gleichsam von seiner wesentlichen Bestimmung zur existentiellen Möglichkeit aufbrechen zu lassen. Zum Aufbruch zu zwingen, so würde die Formulierung treffender lauten, denn dieses Aufbrechen ist weder gewählt noch gewollt. Diesen Gedanken gilt es an späterer Stelle aufzugreifen. So viel nur noch für den Moment: Der Einzelne vertritt alle Menschen. Wie passt diese Aussage zu Emmanuel Lévinas’ Begriff des Unendlichen? Es ist kein Zufall, dass sich dieser im Vorwort von Totalität und Unendlichkeit mit dem Hinweis auf Franz Rosenzweig beruft, er sei zu präsent in diesem Werk, um genannt zu werden. Eine erste massive Übereinstimmung hatte sich bereits in dem Gedanken gezeigt, dass kein Anderes auf das Selbe zurückgeführt werden soll. Um die Erinnerung an diese wichtige Überzeugung aufzufrischen, sei noch einmal der entscheidende Satz zitiert: «Die Fremdheit des Anderen, der Umstand, daß er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen Besitz zurückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als Infragestellung meiner Spontaneität, als Ethik.»289 Die zweite bedeutsame Übereinstimmung mit Franz Rosenzweigs Denken besteht in der eben skizzierten Vorstellung der Stellvertreterschaft des Menschen. Um sie in seiner Argumentation zur Geltung zu bringen, muss Lévinas sie allerdings neu aufstellen. Der Nächste kann mir die Menschheit vertreten, weil er in dem speziellen Moment nicht als Einzelner gefordert ist. Bei Lévinas liest sich der Gedanke folgendermaßen: Der Andere vertritt die Andersheit schlechthin, weil er nicht auf 289
Totalität und Unendlichkeit, S. 51.
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«meine Gedanken und meinen Besitz zurückgeführt werden kann». Ein solches Zurückführen kann aber nur dadurch verhindert werden, dass der Andere im Moment der Begegnung nicht als dieser Bestimmte, als Einzelner, in Erscheinung tritt, sondern als Manifestation des Unendlichen. Denn er ist nicht als jemand gefragt, dessen Eigenschaften, Verhaltensweisen und Charakterzüge ich auf mir Bekanntes zurückführen könnte, sondern als jemand, der eine Wirkung ausübt, die mich betrifft. Aus gar nicht allzu großer Ferne taucht hier der gerade verfolgte Gedanke auf, wonach weder das Gebot noch das Transzendentale an sich Gegenstand des Denkens sein, sondern stets nur als Wirkung erfasst werden kann. So trifft es auch für die Konzeption des Anderen bei Lévinas zu: Nicht an sich, doch in seiner Wirkung tritt er in Erscheinung. Doch nun beginnen sich seine Auffassungen von denen Rosenzweigs und Barths zu unterscheiden, so wirkt es zumindest. Beide nutzen die Wirkung des Denkbaren, um zur Vorstellung des Einheit gewährenden Prinzips zu gelangen. Lévinas setzt den Begriff des Unendlichen ein, um den Gedanken einer Totalität zu vermeiden. Denn dieser würde seiner Überzeugung nach nur dadurch gebildet werden können, dass die oben genannte «Infragestellung meiner Spontaneität» nicht stattfindet. Das Fremde könnte ungehindert auf mein Denken, das in dem Fall Denken von etwas wäre, zurückgeführt werden. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass der Andere gleichsam ein Individuum ohne Eigenschaften ist, damit ich nichts an ihm ausmachen kann, das ich aus meiner Erfahrung und meinem Wissen meine, erschließen zu können. Gleichwohl ist dieses Bestreben, an das ich gewöhnt bin und das sich gewiss in mancher Situation bewährt hat, noch aktiv. Es will wiedererkennen, was es bereits kennt. Doch diesem Streben bietet der Andere keine Ansatzmöglichkeiten, da er keine mir bekannte Eigenschaft zu erkennen gibt, auf die ich mein Wissen um ihn gründen könnte: «Wir meinen, daß nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung der letzte Sinn des Wissens ist. […] die Infragestellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen […].»290 Diese Rückkehr zur Gegenwart des Anderen verbindet die Konzeptionen von Rosenzweig und Lévinas, auch wenn die Formen, in denen sie möglich werden sollen, sich stark zu unterscheiden scheinen. Im Stern der Erlösung ist es Liebe als Ausdruck der Hinwendung zum Anderen, in Totalität und Unendlichkeit die Unterweisung, die vom Anderen an mich ergeht: «Du wirst keinen Mord begehen.»291 Der an Ausdrucksschwere kaum zu überbietende Begriff des Mordes meint beides – die Annihilation des eigenschaftlichen wie auch des konkreten Anderen. Was diese Aussage von Lévinas so bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass sie eben kein grausames Extrem als SonTotalität und Unendlichkeit, S. 122. «Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Antlitz, ist sein Antlitz, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ‹Du wirst keinen Mord begehen›.» Totalität und Unendlichkeit, S. 285. 290
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derfall menschlichen Miteinanders bezeichnet, sondern das jederzeit und jedermann zur Verfügung stehende Können. Seine Anwendung erfordert keine außergewöhnliche moralische Skrupellosigkeit. Sie zählt vielmehr zu unserem Vermögen. Die Übergänge von der einen Art der Auslöschung zur anderen, von der Negation der Eigenheit des Anderen bis zum Mord, sind fließend. Auch wenn dieser Hinweis nicht unmittelbar in den anstehenden Kontext gehört, ist doch an jene Analyse des Bösen zu denken, die Hannah Arendt 1961 anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann anstellte. Der Gedanke der «Banalität des Bösen», der unmittelbar nach seiner Formulierung für heftigste Kritik von verschiedenen Seiten sorgte, bedeutet keine Verharmlosung des Bösen, sondern die Feststellung, dass es, so furchtbar es auch ist, zu unseren Vermögen zählt, die grundsätzlich in jedem Moment und mit erschreckend niedriger Hemmschwelle aktiviert werden können. Gerade weil es sich nicht um eine Ausnahmeerscheinung im menschlichen Handlungsspektrum handelt, ist es für Lévinas extrem schwierig, einen Grund zu finden, der seine Anwendung verhindern kann. Drei der in diesem Zusammenhang entscheidenden Begriffe sind auf den letzten Seiten bereits genannt worden, ohne in dem Moment näher betrachtet werden zu können: die Unterweisung, der Meister und vor allem das Antlitz. Der Andere zeigt mir nicht nur sein unverborgenes und ungeschütztes Gesicht, sondern er erscheint als Antlitz. Eine höhere Form der Öffnung ist zumindest für Lévinas nicht vorstellbar, drückt sich in ihr doch auch die Begegnung mit dem Anderen schlechthin – dem Göttlichen aus. Der äußerste Augenblick dieser Begegnung klingt zum Beispiel in der Thora an, wenn es heißt: «Und Jakob nannte die Stätte Pniel Angesicht Gottes; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.»292 Besonders diese Zeilen veranschaulichen die Exzeptionalität des von Angesicht zu Angesicht. Es übertrifft menschliche Begegnung nicht um ein Vielfaches, sondern um ein Unendliches, wodurch es das menschliche Erkenntnisvermögen über-fordern müsste, wäre es nicht gewollt und dargeboten. Wird diese Vorstellung nun auf das Maß menschlicher Begegnung übertragen, wird die Dimension der Bedeutung erahnbar, die Lévinas mit ihr signalisieren will. Wurde eben mit Blick auf die Thora-Verse von gewollt und dargeboten gesprochen, betraf diese Kennzeichnung die Schau des Höchsten, die nur dann dem Menschen möglich ist, wenn sie von diesem zugelassen wird. Der Begriff der Schau wurde gerade nicht zufällig verwendet. Es ist der Ausdruck, der geeignet erscheint, die Qualität der Begegnung, auf die Lévinas verweist, anzudeuten. Denn dieser Begriff, der häufig zur Bezeichnung der Formen mystischen Erlebens verwendet wird, deutet an, dass es sich um ein Erleben handelt, welches ganz und gar nicht in der Verfügungskompetenz des Erkennen-Wollenden steht, sondern dass es gewährt werden muss. Es zeigt die vollständige Machtlosigkeit des Menschen angesichts der Tatsache, dass 292
Genesis, 32,13.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
diese Begegnung einzig von der Großmut des Anderen abhängt. Es zeigt aber auch die äußerste Empfänglichkeit für die Mitteilung des Anderen, die Lévinas als «absolute Erfahrung» bezeichnet: «Die absolute Erfahrung ist nicht Entdeckung, sondern Offenbarung: Koinzidenz des Ausgedrückten und dessen, der ausdrückt; eben dadurch ist sie ausgezeichnete Manifestation des anderen Menschen, Manifestation eines Antlitzes jenseits der Form.»293 Im Begriff der Offenbarung fallen schließlich die beiden sich sonst ausschließenden Formen des Wollens und Nicht-wollen-Könnens zusammen. Denn sie kann nicht erstrebt, wohl aber zugelassen werden. Das Antlitz als das form-freie Gegenüber, das unterweist – macht dieser Gedanke nur vor dem Hintergrund der religiösen Vorstellung Sinn? Lévinas steht vor einer ähnlichen Herausforderung wie Franz Rosenzweig vierzig Jahre zuvor. Auch sein Denken wurzelte im Religiösen und sollte doch für die Erneuerung der Philosophie fruchtbar gemacht werden. So wurde das Sein zum Sein der Schöpfung und der Welt. Denn das getane Werk ist Werk in der Zeit, ganz gleich, ob für Gott oder den Menschen. Als solches ist es unabgeschlossen und der fortgesetzten Gestaltung empfohlen. Und da Rosenzweig Gott, Welt und Mensch als drei Elemente unseres Denkens darstellt, die in größtmöglicher Eigenständigkeit nebeneinanderstehen, trifft dieses auch für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit zu. Auch sie ist im weitesten Sinne ein Werk, das der fortgesetzten Verwirklichung bedarf. Wenn die Bedeutung des Begriffes der Existenz in grundlegendster Weise verstanden wird, liegt hier ein Ursprungsgedanke der Existenzphilosophie. Emmanuel Lévinas versucht dank der Verwurzelung seines Denkens im Religiösen, die seiner Überzeugung nach unheilvolle Vorherrschaft der Ontologie im philosophischen Diskurs zu brechen. Die Frage stellt sich, ob dieses Vorhaben nur in dieser Weise gelingen kann, vorausgesetzt, ihm wird Gelingen bescheinigt. Wie die verschiedenen Bruchstücke des Denkens zeigen, die hier in loser Formation zusammengefügt werden, hängt das Gelingen komplett von der Vorstellung ab, dass eine Unterweisung des Menschen stattfindet, die die Unzulänglichkeit von Ethik, wie sie Lévinas der Philosophie bescheinigt, ausgleicht. Deshalb setzt er die Begriffe des Unendlichen und der absoluten Erfahrung ein, Begriffe, die uns in ihrer Bedeutung zugänglich, doch in ihrem Inhalt nicht zu erschließen sind, Begriffe, die mehr bedeuten, als sie bezeichnen. Worte der Unterweisung sind keine Imperative, obwohl sie gebietend wirken. Die Anwesenheit des eigenschaftslosen Anderen unterweist mich, indem sie mein metaphysisches Begehren weckt und zugleich als Bewegung ins Unendliche aussetzt. Der Gedanke bietet sich an, dass sich der Andere im Moment der Unterweisung als derjenige zu erkennen gibt, der meinem Begehren, seine Fremdheit meiner Selbstbewusstheit zu assimilieren, Einhalt gebietet. Daraus würde sich eine extrem starke Einseitigkeit innerhalb der Begegnung ergeben. Der Andere unterweist und ich habe diese 293
Totalität und Unendlichkeit, S. 87.
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massive Einwirkung auf mein autonomes Begehren zu akzeptieren. Diese Sichtweise bedarf allerdings der Überprüfung, die mit Hilfe der folgenden Textpassage zum Motiv des metaphysischen Begehrens möglich wird. Dieses deutet Lévinas so: Nicht als ein Begehren, das der Besitz des Begehrenswerten stillt, sondern als das Begehren des Unendlichen, das vom Begehrenswerten nicht befriedigt, sondern statt dessen geweckt wird. Ganz und gar uninteressiertes Begehren – Güte. […] Denn die Gegenwart vor einem Antlitz, meine Orientierung auf den Anderen hin, kann die Gier des Blickes nur dadurch verlieren, daß sie sich in Großmut verwandelt, unfähig, den Anderen mit leeren Händen anzusprechen. Diese Beziehung über die Dinge, die von nun an der Möglichkeit nach gemeinsam sind, d. h. fähig, gesagt zu werden – ist die Beziehung der Rede.294
Diese außergewöhnliche Wertschätzung der Rede im Geschehen gelingenden Miteinanders überrascht insofern kaum, als sie sich bereits bei Franz Rosenzweig und Martin Heidegger zeigte. Doch bevor auf Lévinas’ Interpretation eingegangen werden kann, muss der Weg betrachtet werden, der ihn zu diesem wichtigsten Thema seines Buches führt. Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen war der Hinweis auf eine sich allzu schnell anbietende Lesart, wonach das Ich durch die Unterweisung des Anderen zu Passivität veranlasst werde, die als ein massiver Einbruch individueller Freiheit erscheinen könnte. Denn das Können, über das ein Mensch eigentlich verfügen würde, wird unterbunden. Die in eine Sprachform gekleidete Unterweisung «Du wirst keinen Mord begehen» ist nur deshalb wirkmächtig, weil sie ein Können untersagt, also eine Handlung, die durchaus im Rahmen des Möglichen liegen würde. Es gibt zwar in den Schriften von Lévinas Formulierungen, die diesen Eindruck der Entmachtung des Ich erwecken. Doch führt nur obige Ausführung zur Bedeutung der Rede, die als Geschehen von Ethik betrachtet wird. Aber wie funktioniert die Begründung? Alles hängt an der Formulierung: «uninteressiertes Begehren – Güte». Denn in ihr schlägt die vermeintliche Passivität des Ich, die nur als Reaktion auf die Unterweisung durch den Anderen erklärlich ist, in eine Haltung des neuerlichen Könnens um. Es ist nicht mehr das Können, das die Spontaneität des Selben ausdrückt, das am Anderen interessiert ist, sondern das Können, das den Anderen nicht dem Rahmen des eigenen Begehrens unterwirft. Es ist das Können, das den Anderen nicht vereinnahmen will, sondern als uneinnehmbar Fremden empfängt. Die Verwandlung der «Gier des Blickes» in «Großmut», was für ein wunderbarer Gedanke. Ob diese Umwandlung tatsächlich möglich ist, bleibt eine Frage, die an dessen Schönheit zunächst nichts ändert. Erst in einer weiteren Betrachtung, die das Denkbare an seiner Umsetzbarkeit misst, würde sie relevant.
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Totalität und Unendlichkeit, S. 63.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
Da diese Ebene momentan noch nicht zur Diskussion steht, wird der Blick auf eine interessante Ähnlichkeit innerhalb der Begründungsstruktur des Gedankens frei. Er führt uns erneut zurück zum Werk von Franz Rosenzweig. Dort ging es an zentralem Punkt des Textes um das göttliche Liebesgebot und die Frage, ob Liebe überhaupt geboten werden könne. Diese zu stellen war für Rosenzweig deshalb wichtig, weil an der Vorstellung des Gebotes seine Begründung des Wandels vom Selbst zur Seele hing. Dieser Wandel erfolgt seiner Auffassung nach nicht aus eigenem Impuls oder individueller Initiative, sondern muss durch den Anderen eingefordert werden, der in diesem Fall Gott ist. Zugleich wies Rosenzweig aber darauf hin, dass vom Gebot eine andere Weisungsdynamik ausgehe als vom Gesetz, das immer auf die willentliche Zustimmung dessen, der es befolgt, angewiesen sei. Die Wirkung des Gebotes entfaltet sich hingegen in einem ethischen Raum, in dem keine von Autonomie getragene Entscheidung des Menschen soll gelten können. Es setzt auf sofortige Befolgung, die mehr einem Entsprechen gleicht als einem Akt der Befolgung. Denn nach Rosenzweigs Überzeugung ruft das Gebot den Menschen dazu auf, zu werden, was er sein kann: der sich dem Anderen Zuwendende. Das Gebot setzt damit nicht auf die Akzeptanz dieser oder jener Regel, sondern auf die Erfüllung des ihm Möglichen: Existenz. Fast nebensächlich wirkt im Vergleich zu dem Gewicht dieser Überzeugung der Umstand, dass der Mensch für diese Erfüllung des ihm Möglichen seiner Entscheidungskompetenz entledigt wird. Wenn wir Rosenzweigs Ausführungen zum Begriff der Liebe, die in existenzphilosophischer Terminologie Relationalität meint, noch für einen Augenblick verfolgen, zeigt sich eine Deutung zum Hohelied Salomos, die nicht übergangen werden sollte. Dort geht es um die Frage, ob der Hirte und der König, von denen in der Hochzeitsmetaphorik die Rede ist, ein und dieselbe Person sind. Sich gegen die These zweier Personen wendend, plädiert er dafür, zwei Momente im Leben des Bräutigams zu unterscheiden: […] schon da überhöht einen sinnlichen Sinn eine übersinnliche Bedeutung; den Hirten, welcher der Bräutigam ist, der König, als den er sich fühlt. Das aber ist der Punkt, auf den wir hinauswollen. Die Liebe kann gar nicht ‹rein menschlich› sein. Indem sie spricht – und sie muß sprechen, denn es gibt gar kein andres aus sich selber Heraussprechen als die Sprache der Liebe – indem sie also spricht, wird sie schon ein Übermenschliches; denn die Sinnlichkeit des Worts ist randvoll von seinem göttlichen Übersinn; die Liebe ist, wie die Sprache selbst, sinnlich-übersinnlich.295
Eine bemerkenswerte Passage, die in ihren wenigen Zeilen einen Gedanken von allerhöchster Bedeutung entfaltet, nicht nur innerhalb des Sterns der Erlösung, sondern auch mit Blick auf die Ausführungen von Emmanuel Lévinas. Aufgrund ihrer Bedeutung wäre es ein großer Verlust, sie unter Hinweis auf ihren scheinbar rein theologischen Charakter nicht zur Kenntnis zu nehmen. Denn inzwischen 295
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 224.
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hat sich vielleicht zur Genüge erwiesen, dass Rosenzweigs Aussagen über Religiöses stets auch als Aussagen über Philosophisches und hier besonders den Begriff des Seins gelesen werden können. Worum geht es also in obigen Zeilen? Eine feine Unterscheidung zu den Äußerungen zum Liebesgebot und seinen Folgen zeichnet sich ab. Dort hieß es, dass der Geliebte in den Liebenden «hinüberstirbt»,296 womit eine tatsächliche Verwandlung innerhalb der Persönlichkeit angezeigt wird. Ein wenig technisch könnte formuliert werden, dass sich der Status der Relationsfähigkeit des Menschen ändert. Denn nun realisiert er sein grundsätzliches Bindungsvermögen, das nach Rosenzweigs Ansicht die Entwicklung zum «ganzen Menschen» ausmacht. Im Gegensatz dazu ist im Hohelied Salomos, so wie es Rosenzweig auslegt, von einer Überhöhung die Rede, die also keine grundsätzliche Veränderung der Persönlichkeit mit sich bringt. Der existentielle Status des Menschen ändert sich, da er nun in einer zusätzlichen Weise erkannt werden kann, nämlich als Manifestation eines Sinns, den das momentane Geschehen zugleich trägt und ausdrückt. Anstatt von Sinn könnte auch von Bedeutung gesprochen werden, da der Hirte, der sich als König fühlt, auf etwas deutet, das sein Empfinden zu erkennen gibt. In dem Bezug biblischer Schilderung ist es eine Überhöhung, die sich hier zeigt. Und in philosophischer Begrifflichkeit? Dort wäre es das Sich-Zeigen existentieller Bedeutung. In der Bindung des Menschen zeigt sich die existentielle Bestimmung der Relationalität. Es ist ja nicht ein und dasselbe, das in beiden Begriffen zum Ausdruck kommt. Seine Bindung an den Anderen ist so real wie seine Liebe und doch verweisen beide im selben Moment auf das ihnen zugrunde liegende Vermögen der Bindungsfähigkeit. In einer Aufbereitung, die darauf abzielt, eine Theorie der Existenz zu formulieren, wird diese unter dem Titel der Relationalität gefasst. Wenn das Geschehen, das in den Thora-Versen beschrieben wird, als ethisches Geschehen betrachtet wird, dann kann dasjenige, das Rosenzweig daraus folgert, als Ausdruck meta-ethischer Überlegungen gewertet werden. Es ist jedoch noch nicht an der Zeit, dieser gedanklichen Spur zu folgen. Zunächst gilt es, den Bezug zum Bild der Unterweisung herzustellen, das Emmanuel Lévinas skizziert. In diesem Kontext kann nun auch die Verbindung zum Verständnis der Sprache in den zitierten Zeilen hergestellt werden. Der begehrende Blick verwandelt sich im Angesicht des Anderen in Güte, so war es in Totalität und Unendlichkeit zu lesen. Und zwar genau deshalb, weil von diesem Angesicht eine Unterweisung ausgeht, der sich das Ich nicht zu entziehen vermag. Die gebotene Güte, so könnte gefolgert werden, entbindet den Menschen von seiner Entscheidungskompetenz, ganz so, wie es Franz Rosenzweig ausgeführt hat. Doch wird diese Wirkung der Unterweisung nicht als Verlust individueller Autonomie empfunden, da der Unterwiesene aus eigenen Stücken meint, 296 «[…] der Mensch stirbt in den Liebenden hinüber und steht in ihm wieder auf.» Der Stern der Erlösung, II,II, S. 182.
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dem Anderen nicht «mit leeren Händen» entgegentreten zu können – zu können, nicht zu wollen. Was beim ersten Lesen wie eine Selbsttäuschung zugunsten des Anderen erscheinen könnte, ist eine Verwandlung der Art, von der Rosenzweig spricht. Das Selbst, das sich vom göttlichen Liebesgebot angesprochen fühlt, verwandelt sich zur Seele, zum bindungsfähigen Selbst, so kann ergänzt werden. Mit dieser Wandlung geht eine Veränderung in der Selbst-Wahrnehmung einher, die Rosenzweig präzise beschreibt: Und doch wäre die Liebe nicht das Erschütternde, Ergreifende, Umreißende, wenn die erschütterte, ergriffene und umgerissene Seele nicht sich bewußt wäre, daß sie bis zu diesem Augenblick unerschüttert und unergriffen gewesen wäre. Es war also eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.297
Fällt es mittlerweile ein wenig leichter, in dieser Beschreibung den Initiationsmoment existentieller Bewegung zu erkennen? Dass eine Erschütterung hierfür erforderlich ist, hat sich gezeigt. Nur ist es in diesem Fall nicht Angst, Verzweiflung oder ein anderes zumeist negativ besetztes Erleben, sondern die Liebe, und zwar nicht als romantisches Gefühl, sondern als gebotenes Sich-Verhalten. Ebenso wenig wie derjenige, den die Angst ergriffen hat, dieser Erfahrung in einen Zustand der Ahnungslosigkeit ausweichen kann, ist es demjenigen, der sich vom Liebesgebot aufgerufen fühlt, möglich, dieser Forderung zu entgehen. Rosenzweig fügt nun eine besonders unter psychologischem Gesichtspunkt aufschlussreiche Feststellung hinzu, indem er den Begriff der Scham einführt, über zwanzig Jahre bevor er in Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts zu einem tragenden Element menschlicher Selbstbewusstheit erklärt wird. Es ist die Scham darüber, nicht alleine den Durchbruch zum ganzen Menschen erreicht zu haben. Vielleicht wirkt gerade dieser Begriff in diesem Zusammenhang befremdlich, so wie es auch in Sartres Deutung wirken kann. Für beide Denker signalisiert dieses Empfinden eine Möglichkeit der Selbstreflexion, die ausschließlich durch die Konfrontation mit dem Anderen zustande kommen kann. Sartre nutzt das berühmte Schlüssellochbeispiel zur Veranschaulichung dieser Überzeugung. Ein Mensch, der die Vorgänge in einem Raum durch das Schlüsselloch beobachtet, fühlt sich plötzlich dem Blick eines Fremden ausgesetzt, der ihn – zum ersten Mal – zur Reflexion seines Tuns veranlasst. Vielleicht ist es nicht erforderlich, zur Verdeutlichung auf die Schilderung des Sündenfalls zurückzugreifen, in der Entsprechendes zum Ausdruck kommt. Sich erkannt in der Anwesenheit des Anderen zu fühlen, ist auch für Rosenzweig das Empfinden, das sich als Scham, als Selbsterkenntnis ausdrückt. Sich erkannt in der Anwesenheit des Anderen zu fühlen, das ist auch für Emmanuel Lévinas die entscheidende Erfahrung der Unterweisung. Bemer297
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kenswert an ihr ist, dass von ihr kein Imperativ ausgeht, sondern dass der ursprünglich vereinnahmende Blick auf den Anderen von dessen Gegenwart zur Reflexion des eigenen Könnens gebrochen wird. Der deutsche Begriff der Unterweisung zeigt eine doppelte Bedeutung. Zum einen kann er als Ausdruck einer Aufforderung verstanden werden, bestimmte Handlungen nicht zu vollziehen. Doch zum anderen steht er auch für eine Belehrung, ein Einführen in das Verständnis von Zusammenhängen oder Anwendungsmöglichkeiten. Auf beide Aspekte bezieht sich auch Lévinas. Denn es geht immer dann, wenn er von der Unterweisung – l’enseignement – spricht, nicht nur um eine Maßregelung, die einem Fehlverhalten des Anderen vorbeugen soll. Viel wichtiger ist die Bedeutung der Einführung in ein Verstehen, was beinahe wie die Einweihung in eine fundamentale Wahrheit erscheint. Zwar gibt es die Aussagen, in denen Lévinas den Verlust der Freiheit des Ich anspricht, der mit der Unterweisung einhergeht. Doch heben sich von ihnen die anderen Aussagen deutlich ab, die von dem Wissen berichten, das der «Meister» mit demjenigen teilt, der zu hören versteht. Es mag wie eine allzu schlichte Überleitung zum nächsten Motiv klingen, wenn nun darauf hinzuweisen ist, dass Teilhabe Trennung voraussetzt. Schon die frühe Form, in der dieser Umstand in der Scholastik unter dem Gedanken der Seins-Teilhabe diskutiert wurde, zeigte, dass diese nur demjenigen zuteilwerden kann, der an sich über das Sein nicht verfügt, gleichwohl jedoch dazu in der Lage sein muss, es zu empfangen. Eine eigenwillige Annahme, so scheint es. Denn setzt nicht die Fähigkeit der Partizipation selbst schon eine Beteiligung an demjenigen voraus, das erst zu erwerben ist? Diese Überlegung trifft zumindest für Lévinas’ Denken zu, weshalb er den Gedanken der Teilhabe ablehnt: Entgegen den Thesen der Philosophie der Existenz lebt dieser Kontakt [des Selben zum Anderen] nicht von einer vorherigen Verwurzelung im Sein. […] Die Verwurzelung, eine ursprüngliche vorausgehende Bindung, würde die Teilhabe als eine der herrschenden Kategorien des Seins aufrechterhalten; […] Teilhabe ist eine Weise, sich auf das Andere zu beziehen: sein Sein so zu haben und es so zu vollziehen, daß in keinem Augenblick und nirgends die Berührung mit ihm verloren geht.298
Für die weiteren Überlegungen wird die Frage richtungweisend sein, inwieweit die Vorstellung einer Teilhabe am Sein durch jene des geteilten Seins ersetzt werden kann. Lévinas geht eindeutig von der ersteren Annahme aus und sieht in ihr die Rechtfertigung jener Bewegung der Erkenntnis, die nur dadurch zustande kommt, dass sie den Anderen seiner Besonderheit beraubt. Um diese seiner Überzeugung nach fatale Folge, die zugleich Voraussetzung von Erkenntnis ist, zu vermeiden, ist die Annahme von Totalität, die auch nur im Ansatz Vergleichbarkeit und damit Rückführbarkeit des Anderen auf das Selbe erlaubt, abzulehnen. Da eine Korrektur des Prozesses der Erkenntnis hierfür nicht ausreicht, 298
Totalität und Unendlichkeit, S. 79.
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muss der Gedanke einer «Verwurzelung» in einem Gemeinsamkeit schaffenden Sein ebenfalls zurückgewiesen werden. Der Selbe und der Andere sind seiner Auffassung nach in einem Ausmaß unterschieden, das keine unmittelbare Berührung zwischen ihnen zulässt. Berührung meint in diesem Fall noch nicht einmal eine Begegnung, die so ausgeschlossen wird, sondern eher die Feststellbarkeit einer Ähnlichkeit, die Vergleiche zuließe. Eine solche Vergleichbarkeit anzunehmen, würde bedeuten, dass der Begriff einer Totalität der Seienden gebildet werden könnte, der das Geschehen der Unterweisung letztlich erübrigen würde. Denn unter Totalität versteht Lévinas jenen die Fremdheit des Anderen nivellierenden Gestus der Vernunft, der alle Andersheit auf eine Vorstellung des Selben, das in jedem Augenblick verfügbar ist, zurückführen kann. Die Übereinstimmung dieser Auffassung mit der Sichtweise Franz Rosenzweigs ist eingangs angesprochen worden. Der Impuls, der Emmanuel Lévinas an diesem Punkt zur Ablehnung eines Gedankens von Gemeinsamkeit veranlasst, ist gewiss nachvollziehbar. Ob er zwingend notwendig nur in dieser Weise umgesetzt werden kann, ist zu überlegen. Er radikalisiert die Ansichten von Franz Rosenzweig und Heinrich Barth, so viel kann hier bereits festgestellt werden. Beide setzen auf das Bild des Einzelnen, auch wenn sie ihm unterschiedliche Gewichtung in ihren Darstellungen einräumen. Für Rosenzweig ist die Entwicklung des Einzelnen vorrangiges Thema, da diese die sich wandelnde Relation des Menschen zu seinem Nächsten und zur Welt spiegelt. Heinrich Barth verweist zwar ab und an auf den Einzelnen, scheint dessen Denkbarkeit jedoch eher als problematisch zu bewerten. Denn wäre jeder wirklich vereinzelt, würde die Frage aufkommen, wie die so entstehenden einzelnen Erkenntnisakte zu einem einzigen Begriff von Erkenntnis zusammengefasst werden können, der den Sinnbezug der Existenz ausdrückt. Barth begegnet dieser Gefahr mit dem Gedanken des Transzendentalen. Hier deutet sich genau jene Bestrebung an, vor der Lévinas warnt. Die Schwierigkeit, die in der Sichtweise von Barth liegen könnte, wurde bereits gestreift. Sie gipfelt in der Überlegung, ob er nicht den Gedanken des Einzelnen dem Begriff von Erkenntnis opfert. Repräsentiert Barths Konzeption damit im Grunde die Bestrebung, Totalität zu denken, würde Lévinas’ Kritik an der Vorstellung einer Verwurzelung im Sein, aller sonstigen Übereinstimmung zum Trotz, Rosenzweigs Denken treffen. Denn an der Situierung in einer Gemeinsamkeit schaffenden Existenz-Möglichkeit zweifelt Rosenzweig nicht. Selbst seine Ablehnung gegenseitiger Rückführung des Anderen auf das Selbe ändert an der Überzeugung nichts, dass das Jeder-für-Sich ein Jeder-für-sich-Sein ist. Es wird daher umso faszinierender zu beobachten, wie Lévinas dieser Voraussetzung zu entgehen sucht. Bisher hat sich gezeigt, dass dem Begriff des Unendlichen zentrale Bedeutung innerhalb seines Denkens zufällt. Als Antagonist zum Begriff der Totalität ist seine Denkbarkeit zu erweisen, wobei sich ein massives Problem ergibt: Wie kann er gedacht werden, ohne selbst der vermeintlichen
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Gesetzlichkeit des Denkens unterworfen zu werden? Diese Frage stellt sich hier nicht zum ersten Mal, nicht in der Geschichte der Philosophie und nicht im Rahmen dieser Überlegungen. Auch wenn Lévinas sie auf die Spitze treibt, weil er allein schon in Begriffen, die Vergleichbarkeit von Verschiedenem suggerieren, eine Gefahrenquelle für das Denken der Gerechtigkeit sieht, ist seine Intention doch derjenigen des existentiellen Denkens nicht unähnlich. Wie kann der Einzelne gedacht werden, ohne ihn als Teil der Allheit ausweisen zu müssen – so hätte Franz Rosenzweigs Frage lauten können, die er durch seinen Entwurf des Neuen Denkens beantwortet. Es handelt sich letztlich um die gleiche Frage, die nun Emmanuel Lévinas unter Verwendung anderer Terminologie stellt: Wie kann dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren? Auf den ersten Blick wirken beide Formulierungen zu different, um Ausdruck ein und derselben Absicht sein zu können. Doch eine weitere Betrachtung kann das Gegenteil bestätigen. Rosenzweigs Sorge, dass der Einzelne im Denken der Philosophie nicht zur Geltung kommt, weil sie das abstrakte Konzept der Allheit favorisiert, konnte die Folgen der Ent-Individualisierung, von denen Lévinas ausgehen muss, nicht kennen. So war es für ihn noch in stärkerem Maße ein philosophisches Problem, das nach Lösung verlangte, die er durch seine Einführung der Begriffe von Erfahrung und Entsprechung formulierte. Für Lévinas bedeuten die Erlebnisse von Holocaust und Krieg eine Realisierung des Gedankens der Totalität, die nicht mehr primär als philosophisches Problem betrachtet werden kann. Sie stellen vielmehr – auch wenn der Ausdruck von ihm selbst abgelehnt würde – eine existentielle Herausforderung dar. Der Unterweisung, von der bereits die Rede war, kommt vor diesem Hintergrund enorme Bedeutung zu. Denn sie soll gewährleisten, dass jegliche Bestrebungen der Vereinnahmung des Anderen, von der Missachtung seiner Besonderheit beginnend, unterbunden werden, noch bevor sie überhaupt als möglich erscheinen. So erlangt die vom Meister gelehrte Kunst der Vermeidung erkenntnistheoretische, vor allem aber ethische Relevanz. Entscheidend ist dabei, dass auf beiden Seiten, der des Unterweisenden wie auch der des Unterwiesenen, nicht auf ein willentliches Vermögen gesetzt wird, das aktualisiert werden kann, da in dem Moment das Wollen als optionaler Entscheidungsraum zu betrachten wäre. Und immer dort, wo dieser gegeben ist, besteht nach Lévinas’ Überzeugung die Möglichkeit, sich gegen die Gerechtigkeit, das heißt gegen die Anerkennung des Anderen in seiner Fremdheit, zu entscheiden. Der Reiz seiner Theorie besteht sicherlich darin, dass sie den Menschen unterhalb der Schwelle seiner Rationalität anspricht, also genau dort, wohin sich klassische Entwürfe von Ethik nicht wagten, weil dort das unkontrollierbare Wirken von Willkür und dunkler Affektivität erwartet wurde. In positiver Weise auf Affekte zu setzen, ist zwar an sich nicht neu in der Geschichte philosophischer Relationsbestimmungen, wie der Hinweis etwa auf Arthur Schopenhauer oder auch Hermann Cohen belegt. Doch der Vernunft die Verfügungskompetenz über ethisches Verhalten gänzlich aus den Händen zu nehmen, bedeutet einen extre-
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men Schritt, der radikale Entschlossenheit erfordert. Noch bevor eine Weisung wie die, den Anderen zu achten, greifen kann, muss der Mensch seiner Vermögen, sich auch entgegengesetzt zu verhalten, entledigt sein. Darin sieht Lévinas die einzige Chance, dem Verlangen des Ich nicht nur zu begegnen, sondern zuvorzukommen. Denn dieses beinhaltet eine psychologische Komponente, die seine Eindämmung umso mehr erschwert. Es ist ja nicht allein egoistische Absicht, die mich den Anderen auf mir vertrautes Maß reduzieren soll. Vielmehr drückt sich darin eine mein Selbstbewusstsein zutiefst erschütternde Unsicherheit aus, die mich dazu treibt, mich im Anderen bestätigt zu finden. Von einer Identifizierung zu sprechen, würde zu weit gehen, doch als eine Bestätigung kann dieses Bedürfnis verstanden werden, das an die ersten Bemerkungen zu Lévinas in diesem Kontext erinnert. Der gesuchte «Ausweg aus dem Sein» führt über diese Bestätigung im Anderen, die das Übermaß des Fremden und Über-Fordernden reduziert. Aus diesem Grund ist es nur zu verständlich, warum Lévinas von der unüberbrückbaren Differenz spricht, die mich vom Anderen trennt, unüberbrückbar bis ins Unendliche. «Das Bedürfnis dagegen ist eine Leere der Seele, es geht vom Subjekt aus.»299 Im Gegensatz dazu ist das Begehren, das eingangs als metaphysisch bezeichnet wurde, ein Streben, das «vom Begehrten belebt wird; es entsteht von seinem ‹Gegenstand› her, es ist Offenbarung.» Durch diese Betonung eines nicht-subjektiven Verlangens versucht Lévinas, den Impuls, der überhaupt erst dazu führt, das etwas verlangt wird, gar nicht erst zur Geltung kommen zu lassen. Noch bevor ich meinem Bedürfnis gemäß zu agieren beginne – ein Agieren, das immer zu einer Haltung der Ungerechtigkeit führt –, empfange ich die Unterweisung, die ich weder suchte, noch ablehnen kann: Die Wahrheit wird im Anderen gesucht; es sucht aber der, dem nichts fehlt. Der Abstand ist unüberbrückbar und zugleich überbrückt. Das getrennte Seiende ist befriedigt, autonom, und dennoch auf der Suche nach dem Anderen; weder der Mangel eines Bedürfnisses noch das Gedächtnis eines verlorenen Gutes sind der Antrieb für die Suche. Eine solche Situation ist Sprache. […] Die Sprache berührt den Anderen nicht, auch nicht bloß wie eine Tangente; sie erreicht ihn, indem sie ihn anruft, ihm befiehlt, oder indem sie ihm mit der ganzen Geradheit dieser Beziehungen gehorcht.300
Vielleicht war es zu erwarten, dass Lévinas diesen Weg einschlagen würde? Denn es gilt, getrennte Seiende verbunden zu denken, ohne dass ihr Agieren eine direkte Einwirkung aufeinander ausüben könnte. Es gilt, die Vorstellung absoluter Trennung aufrechtzuerhalten, wohl wissend, dass dieser Gedanke, wenn er nicht an irgendeinem Punkt aufgefangen wird, keine Hinwendung zum Anderen zulassen würde. Daher scheint das Paradox die einzige Form der Denkbarkeit zu sein, das Paradox, in das flüchtet, wer die überbrückte Unüberbrückbarkeit behauptet. 299 300
Totalität und Unendlichkeit, S. 81 Totalität und Unendlichkeit, S. 81.
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IV. Vereinzelungen
Es ist damit die Grenze des logisch eindeutigen Denkens erreicht, von der es heißen könnte, es sei der Weg in den Glauben, wie ihn vor allem Søren Kierkegaard demonstrierte. Mit seiner Einführung des Begriffes der Sprache setzt Lévinas auf dasselbe Mittel, das auch Franz Rosenzweig und Martin Heidegger nutzten, um ethische Beziehung denken zu können. Bislang wurde es vermieden, diesen Ausdruck zu verwenden. Doch nun spricht nichts mehr dagegen, ihn zur Kennzeichnung dieser einzig exzeptionellen Art der Beziehung, die die vorgestellten Konzeptionen zulassen können, auszusprechen. Wie sich bestätigen wird, ist diese Auffassung mit einer Besonderheit verknüpft, die für die weiteren Überlegungen entscheidend sein wird: Sprache ist kein Mittel, um ethische Relation zu ermöglichen, sondern ist selbst ethischer Natur. Denn das bedeutet mit Blick auf die Gedanken von Rosenzweig, Heidegger und Lévinas, dass Ethik nicht als Theorie des wertschätzenden Verhaltens zu betrachten ist, sondern dass sie selbst wertschätzendes Verhalten ist. Aus diesem Grund kann Lévinas in der größten Eindeutigkeit erklären: Weit davon entfernt, Universalität und Allgemeinheit vorauszusetzen, macht die Sprache sie allererst möglich. Die Sprache setzt Gesprächspartner voraus, eine Pluralität. Ihr commercium, ihre Gemeinschaft, besteht weder darin, daß der eine den Anderen vorstellt, noch besteht sie in der Teilhabe an der Universalität, an dem Gemeinsamen der Sprache. Ihre Gemeinschaft – wir werden es gleich sagen – ist ethischer Art.301
Vermögen diese Zeilen bereits zu überzeugen? Sollte es nicht der Fall sein, liegt es möglicherweise daran, dass hier noch von der Sprache – langage – die Rede ist. Und gerade sie trägt noch klar erkennbar die Züge ihrer Begründung in der Vernunft, wie Lévinas zeigt. Derjenige, der sie anwendet, unterliegt der stillschweigend über lange Zeit fortgetragenen Übereinkunft, Teilnehmer einer Gemeinschaft von Sprechenden und, was noch weitaus schwerer wiegt, von Denkenden zu sein. Denn das Denken in seiner traditionell im philosophischen Diskurs betriebenen Weise ist sprechendes Denken, das heißt, es drückt aus, was es denkt und sagt damit zugleich, wie es denkt. Doch dieser Übereinkunft misstraut Lévinas grundsätzlich, reproduziert sie doch die selbstdefinitorische Kompetenz des Ich in jede Beziehung,302 der es sich zuwendet, als wäre sie ein Akt des Wollens. Dass dieses nicht der Fall ist, hat sich bereits angedeutet. Mit Blick auf die Bedeutung der Rede wird es sogleich näher zu beleuchten sein. Der Denker ist an die Sprache gebunden, in der sich der Universalisierungsanspruch der Vernunft ausdrückt, so kann der Gedanke, den Lévinas im Vorfeld seiner Ausführungen zum Begriff der Rede entfaltet, zusammengefasst werden. Aus ihm folgt: «Indem man aber den Denker zu einem Moment des Gedankens macht, begrenzt man die ofTotalität und Unendlichkeit, S. 99. «Für das europäische Denken vermochte das Ich der Empfindung nicht die Vernunft zu begründen, das Ich definierte sich durch die Vernunft.» Totalität und Unendlichkeit, S. 98. 301
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fenbarende Funktion der Sprache auf ihre Kohärenz, in der sich der Zusammenhang der Begriffe ausdrückt.»303 Und dieser Ausdruck, um eine etwas plakativ wirkende Verbindung herzustellen, unterdrückt die Andersheit des Anderen. Gegen diese Auffassung, in der das Funktionieren der Sprache des Denkens nach Lévinas sichtbar wird, setzt er seine Sicht, die unverändert so dem Stern der Erlösung entstammen könnte: «Aber eben darum stiftet die Sprache eine auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht zurückführbare Beziehung: die Offenbarung des Anderen.»304 Und worauf gründet Lévinas sein «eben darum»? Darauf, dass Sprache den Anderen in keinem Moment voraussetzen kann. Er begegnet dem Ich, tritt ihm entgegen, stellt ihn infrage, präsentiert sich ihm in seiner uneinnehmbaren Andersheit, fügt dem Ich keinen Inhalt seines Wissens hinzu, obwohl er es unterweist. In dieser Kennzeichnung laufen jene Vorstellungen der Relation vom Einen zum Anderen zusammen, die gerade als «Offenbarung» bezeichnet wurden: Die Sprache [langage] wird da gesprochen, wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muß. Die Sprache steht in dieser Transzendenz. Also ist die Rede [discours] Erfahrung von etwas absolut Fremdem, reine ‹Erkenntnis› oder ‹Erfahrung›, Trauma des Staunens. Nur das absolut Fremde kann uns unterweisen.305
Bevor auf diese Feststellung näher eingegangen werden kann, drängt sich eine Frage in den Vordergrund. Wie sich gezeigt hat, lehnt Lévinas die Annahme einer gemeinsamen Verwurzelung im Sein ab. Ebenso wurde gerade die Kohärenz der Sprache aus der Verwendung dieses Begriffes, die Lévinas überhaupt noch für möglich hält, ausgeklammert. Auf welcher Vorstellung basierend soll es dann aber möglich sein, eine «gemeinsame Ebene» zu konstituieren? Das einzige Element, das hierfür bisher infrage kommt, ist die Annahme der Unendlichkeit des Abstandes, der den Einen und den Anderen voneinander trennt. Doch ist Trennung eine Gemeinsamkeit? Wird die Frage so formuliert, wirkt sie natürlich unsinnig. Denn es ist nicht die Trennung, die als gemeinsame Ebene geschaffen werden kann, sondern die Beziehung zweier sich in absoluter Getrenntheit Gegenüberstehender. Dass dieser Gedanke nur unter Inanspruchnahme der Denkfigur des Paradoxen funktioniert, hat sich bereits abgezeichnet. Denn wäre die Trennung absolut, wäre eine Beziehung ins Unendliche offene Möglichkeit, die sich als Möglichkeit in jedem Augenblick selbst aufhebt, in dem sie sich zu realisieren scheint. Genau diesen Gedanken verfolgt Lévinas jedoch. Und was unterscheidet Sprache und Rede voneinander? Sprache ist Form, trotz aller Ablehnung der Gültigkeit logischer Formgebung, und Rede ist Geschehen. Hier von Gesche303 304 305
Totalität und Unendlichkeit, S. 98 f. Totalität und Unendlichkeit, S. 99. Totalität und Unendlichkeit, S. 100.
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hen zu sprechen, knüpft an die Betrachtungen zu Rosenzweigs und Heideggers Sprach-Denken an, ohne dabei das momentan zur Diskussion stehende Verständnis zu verfehlen. Eine erste Andeutung dieses Umstandes, den es gleich zu bestätigen gilt, findet sich in der Formulierung «Trauma des Staunens» – traumatisme de l’etonnement. So sehr sie im ersten Moment auch überraschen mag, verweist sie doch bereits sehr klar auf die Art jenes Gegenübers vom Einen zum Anderen, die so eigener Natur ist, dass es sich fast verbietet, hier von einer Begegnung oder gar einer Beziehung zu sprechen. Die Irritation, die die Formulierung eventuell hervorruft, würde dadurch erklärlich, dass sie die als negativ besetzte Erfahrung des Traumas mit dem positiv konnotierten Begriff des Staunens vereint. Doch wird sie als extreme Erfahrung verstanden, die die Maßstäbe gewöhnlichen Erlebens unvorhersehbar sprengt, wird dadurch genau jenes Staunen im Angesicht des Anderen angedeutet. Über diesem Versuch einer Erklärung könnte aber der wichtigste Aspekt der zitierten Zeilen übersehen werden: Auch Lévinas versteht Rede als Erfahrung. Dieser Begriff hatte bereits in den Texten von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger seine Bedeutung zu erkennen gegeben. Denn für keinen dieser drei Denker ist das Geschehen der Rede kraft der Rationalität zu erschließen. Dass auch Lévinas sich den beiden anderen anschließt, ohne es explizit zu betonen, wird aus folgenden Worten ersichtlich: «Das Werk der Sprache […] besteht darin, mit einer Nacktheit in Beziehung zu treten, die von aller Form entblößt ist, aber durch sich selbst einen Sinn hat, […].»306 Diese Beziehung ist Rede. Der Begriff wird mit Bedacht in unbestimmter Weise verwendet, um den Eindruck zu verhindern, es könne sich um einen realen Dialog oder eine geführte Unterhaltung handeln. Nichts von dem trifft zu. So scheint ein angemessener Versuch, Rede zu erklären, darin zu bestehen, sie als Geschehen aufzufassen. Genau diese Deutung begegnet uns im Rahmen dieser Betrachtungen nicht zum ersten Mal. Sie zeigte sich bereits im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger. Dort ging es nicht darum, den Charakter einer Mitteilung zu untersuchen, die vorgenommen wird, um eine Information oder Botschaft gezielt und willentlich an ein Gegenüber zu senden. Vielmehr stand die Auffassung im Vordergrund, dass sich etwas mitteilt, das heißt, dass es sich zu verstehen gibt, ohne auf das Verstehen-Wollen des Menschen zu antworten. Deshalb war es für beide Denker extrem wichtig, eine Umdeutung menschlicher Rezeptionsfähigkeiten vorzunehmen, die Heidegger als den Weg vom Sehen zum Hören beschrieb. Anders als das Sehen unterliegt das Hören nicht dem menschlichen Wollen, zumindest nicht jene Weise des Hörens, die hier zur Diskussion steht. Es ist also nicht verwunderlich, dass ihm dort, wo es um die Thematisierung menschlicher Empfänglichkeit geht, besondere Beachtung geschenkt wird. Empfänglichkeit als Bereitschaft zu deuten, wäre allerdings nicht präzise genug. 306
Totalität und Unendlichkeit, S. 101.
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
Denn sie setzt ein Vorbereitet-Sein für das Empfangen einer Mitteilung voraus, das in den Interpretationen von Rosenzweig, besonders aber von Heidegger ein vom Menschen ausgehendes Verstehen-Wollen zeigen würde. Empfänglichkeit wäre demnach eher als eine Gestimmtheit zu begreifen, die als grundsätzliche Befähigung nicht erst der Aktualisierung bedarf, um verwirklicht zu sein. Doch ist das genau die Auffassung, die auch Emmanuel Lévinas vertritt? Bisher hat sich gezeigt, dass er die Anwesenheit des Anderen in der absoluten Trennung vom Selben als Gewährleistung für eine Begegnung ansieht, in der eines nicht mehr erfolgen kann: die Zurückführung des Fremden auf das Selbe. Denn darin besteht das Problem einer Beziehung des Erkennens wie auch der Ethik. Das Bild einer Tangente kann diese Grundbeschaffenheit menschlicher Relationalität veranschaulichen. Zwei Linien laufen parallel zueinander, ohne sich zu einem einzigen Zeitpunkt zu berühren. Und doch verlaufen sie nicht in zufälligem Nebeneinander, sondern haben in ihrer unvermittelbaren Getrenntheit Sinn. Dieser drückt sich in ihrer bloßen Ansichtigkeit aus, was auf die Frage nach der Rede übertragen heißt: Das Antlitz ist eine lebendige Gegenwart, es ist Ausdruck. […] Das Antlitz spricht. Die Manifestation des Antlitzes ist schon Rede. […] was in dieser Weise die Form, die dem Selben angeglichen ist, zerstört, um sich als Anderes zu gegenwärtigen, das bedeutet oder hat einen Sinn. Sich im und durch das Bedeuten gegenwärtigen, heißt sprechen.307
Rede ist das Geschehen, in dem sich das Sprechen ereignet. Sprache vermittelt keine Bedeutung in der Weise, dass erst durch sie bedeutungsvolle Zusammenhänge des Denkens geschaffen würden. Sie ist Bedeutung, da sie auf ein Anderes deutet. Darin liegt ihr Sinn. Es wäre in Anbetracht dieser Auffassung illusorisch, Bedeutung unter der Voraussetzung erfragen zu wollen, dass sie als etwas dem Anderen erst Zuzusprechendes verstanden werden sollte. Sie zeigt sich vielmehr in der Anwesenheit dessen, was sich der vereinnahmenden Zurückführung auf das Selbe entzieht. Von hier aus schlägt Lévinas einen Weg ein, der mittlerweile vertraut erscheint: Die Bedeutung oder die Verstehbarkeit liegt nicht an der Identität des Selben, das in sich bleibt, sondern am Antlitz des Anderen, […]. Die Bedeutung entsteht nicht, weil das Selbe Bedürfnisse hat, weil ihm etwas fehlt und weil alles, was diesen Mangel zu erfüllen geeignet ist, eben dadurch sinnvoll wird. Die Bedeutung liegt in dem absoluten Überschuß des Anderen im Verhältnis zum Selben, der ihn begehrt; […]. Die Bedeutung hängt vom Anderen ab, der die Welt sagt oder versteht; sein Sagen oder sein Verstehen thematisiert eigentlich die Welt.308
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Totalität und Unendlichkeit, S. 87. Totalität und Unendlichkeit, S. 136 f.
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Es ist das eine, dem Anderen Bedeutung zu attestieren, das andere, sie zu verstehen. Wahrscheinlich erübrigt sich mittlerweile der Hinweis, dass Verstehen hier kein subjektives Entschlüsseln einer Mitteilung meint, die so gefasst wurde, um verstanden werden zu können. Es geht nicht um Verstehen als Erfassen der logischen Form eines Gedankens oder einer Aussage. Es handelt sich nicht um ein Erschließen, das immer von demjenigen ausgehen würde, der verstehen will, sondern um das Empfangen einer Ansprache, die nicht erfragt wurde. Hier kommt noch einmal das Bild der Unterweisung zum Tragen. In ihr sieht Lévinas eine Ansprache, die den Menschen unerwartet in eine Beziehung des Sinnhaften einbezieht. «Einen Sinn haben, das heißt unterweisen oder unterwiesen werden, reden oder gesagt werden können.»309 Bis zu diesem Punkt steht die Sichtweise von Lévinas im Mittelpunkt, da er den Gedanken der absoluten Trennung des Selben und des Anderen in einer Radikalität formuliert, die für Rosenzweig zu denken unnötig gewesen ist. Doch nun wird diese Ansicht von einer Deutung überformt, die uns aus dem Stern der Erlösung bekannt ist. Der Mensch benennt die Dinge und schafft sie damit zu Dingen der Welt. «Erst das Wort stiftet die Gemeinschaft kraft der Gabe, indem es das Phänomen als das Gegebene präsentiert; […].»310 Diese Formulierung stammt nicht von Rosenzweig, sondern von Lévinas, wie der Begriff des Phänomens, der nicht zur Terminologie des Sterns zählt, erkennen lässt. Gemeinschaft ist dabei nicht vornehmlich als Sozietät zu verstehen, die nur das menschliche Miteinander umfasst, sondern auch und vor allem als Bezug zur Welt, die die Welt der Dinge ist. Dinge zu benennen, macht sie nicht dem menschlichen Wollen verfügbar. Es lässt sie als Dinge einer Welt erscheinen, die gemeinsam und doch unverfügbar ist. Es ist Unterweisung: «Die Unterweisung als Ende der Zweideutigkeit oder der Verwirrung ist eine Thematisierung des Phänomens. Derjenige, der sich an sich selbst zeigt, indem er die Akte der Thematisierung, die die Zeichen sind, wiederaufnimmt, indem er spricht, hat mir das Phänomen gewiesen, es mich gelehrt; […].»311 Keine Frage, die Quellen, auf die sich Lévinas beruft, sind andere als die, die Franz Rosenzweig nutzte. Doch ändert das nichts an der grundsätzlichen Übereinstimmung, die hier zu beobachten ist. Für Lévinas stellt die Phänomenologie jenes Ursprungsdenken dar, dem er sich, wie er selbst im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit betont, verpflichtet fühlt. Insofern besteht für ihn die Frage, wie Dinge Gegenstand unseres Bewusstseins werden, die er unter Hinweis auf den Begriff des Phänomens allein beantworten könnte. Ein Bezug zur Zeichentheorie Ferdinand de Saussures klingt in den zitierten Zeilen an und doch geht es ihm nicht darum, in den Spuren dieser Denkformen zu verbleiben. Denn sie sind Argumentations-Fragmente, die er für die Verdeutlichung des Gedankens der 309 310 311
Totalität und Unendlichkeit, S. 137. Totalität und Unendlichkeit, S. 139. Totalität und Unendlichkeit, S. 140 f.
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Unterweisung nutzt. Erkenntnis ist für ihn das Verstehen jener Gabe, in der in das Verstehen-Können überhaupt erst eingeführt wird. Dieses geschieht nirgendwo anders als in der Unterweisung, die ein Teilnehmen-Lassen ohne Vereinnahmung bedeutet. Dass damit nicht an eine Vorstellung der Teilhabe als Partizipation an einem gemeinsamen Grund des Seins oder der Erkenntnis angeknüpft wird, ist erwähnt worden. Teilnehmen-Lassen bedeutet im Gegensatz dazu das Schaffen eines Bezuges über den Abstand der Trennung hinweg, der das Selbe und das Andere in ihrer uneinnehmbaren Eigenheit aneinander verweist. Doch handelt es sich nicht bereits bei der Verweisung um eine Gemeinsames, auch wenn dieses nicht vorausgesetzt, sondern im Moment der Aussprache erzeugt wird? Ist es tatsächlich möglich, die Vorstellung überzeugend zu vertreten, dass der Selbe und der Andere nichts miteinander teilen, das sie von Anfang an aufeinander beziehen würde? Bedeutet die Möglichkeit, diesen Gedanken auszusprechen, zugleich die Möglichkeit, das Gesagte zu denken? Fällt der Versuch, absolute Trennung zu denken, nicht schon deshalb, weil selbst die Trennbarkeit ein Merkmal ist, das zwei Seienden gleichermaßen zukommt? Hier könnte sich eine Lösung abzeichnen, auch wenn sie nicht wirklich zu überzeugen vermag. Über ein Merkmal ebenso wie der Andere zu verfügen heißt nicht, dass beide ein und dasselbe Merkmal teilen, es sei denn, dieses Ebenso-Wie würde für jedes Seiende vorurteilslos und unvoreingenommen ermittelt. Doch wäre es in dem Augenblick, in dem es sprachlich mitgeteilt wird, als Zeichen einer Vergleichbarkeit ausgewiesen. Die Weise, in Paradoxen zu sprechen, die sich so häufig in Totalität und Unendlichkeit wie auch in anderen Texten von Lévinas findet, wiegt als Ausdruck seiner Intention, die Vereinnahmung des Anderen zu verhindern, extrem schwer. Doch als Mittel der Darstellung erschöpft sie sich letztlich in einer Zirkularität, der zu entkommen sich als äußerst schwierig erweist. Das Begehren dessen, dem nichts fehlt, ist eine dieser Formulierungen, die an die einleitenden Bemerkungen anschließt. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass das Begehren erst in dem Moment entsteht, in dem ihm das Begehrenswerte erscheint, richtet es sich doch auf dieses aus. Die uninteressierte Beziehung ist nur solange ohne Interesse, solange sie keine Beziehung ist. Der unüberwindbare Abstand ist in der Situation überbrückt, in der ein Ausdruck als Unterweisung verstanden wird. Oder wird hier schlichtweg aus einer allzu traditionellen Perspektive geurteilt, die dem Gedanken sich ausschließender Widersprüche verhaftet ist, ohne sich dessen Gültigkeit explizit unterwerfen zu wollen? Bereits in den vorangegangenen Überlegungen hat sich gezeigt, dass es unter existenzphilosophischem Blickwinkel unmöglich ist, sich den Regeln des Diskurses, wie er seit der Antike in seinen Grundelementen besteht, anzuschließen. Die Suche nach einem Neuen Denken war das Ergebnis dieser Feststellung, die zumindest Franz Rosenzweig und Martin Heidegger bereits bis an die Grenze des Sagbaren geführt hatte. Heinrich Barths Konzeption schert aus diesem sich abzeichnenden Muster aus, da er aus-
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IV. Vereinzelungen
drücklich auf philosophische Theorien der Vergangenheit und deren Terminologie zurückgreift. Und nun steht das Werk von Emmanuel Lévinas vor uns, mit keinem anderen Werk vergleichbar, auch wenn es dem Stern der Erlösung in zentralen Ansichten mehr als nur ähnelt. Vielleicht wirkt es zu naheliegend, es der PostAuschwitz-Philosophie zuzuordnen, so als könnte ein einziger Hinweis alle Besonderheit erklären. Und wäre das überhaupt eine angemessene Weise, sich diesem Denken nähern zu wollen? Gibt es nicht eine unausgesprochene Aufforderung, sich interpretierend einem Text gegenüber so zu verhalten, wie er es selbst demonstriert? Aus dieser Warte betrachtet, erweisen sich die gerade formulierten Fragen zwar als berechtigt, doch zugleich unangemessen. Berechtigt sind sie, wenn sie den Maßstab eines Denkens an diesen Text legen, den er selbst abzulehnen sucht. Unangemessen sind sie, weil sie die Form dieses Denkens unterschätzen und ihr keinen Raum geben, um in der eigenen Deutungs-Erfahrung Wurzeln zu schlagen. So wiederholt sich in höchst subtiler Weise in der Begegnung mit dem Text von Lévinas das, was er über die Begegnung vom Selben und Anderen aussagt. Der Wunsch dominiert, das Fremde, die Grenzen des bisher für denkbar Gehaltenen Ausweitende, auf bekannte Stereotypen des philosophischen Argumentierens zurückzuführen. Spätestens seit Rosenzweigs Erläuterung, wonach jedem Teil seines Sterns eine eigene Sprach-Figur zugeordnet wird, ist das Thema des Sprach-Denkens nicht mehr nur ein Gegenstand der Philosophie, sondern ihr Merkmal. So steht derjenige, der Texte von Rosenzweig und Heidegger deutet, nicht nur vor der Herausforderung, ihren Inhalt zu erfassen, sondern dieses in einer Form zu artikulieren, die dem interpretierten Denken zumindest nicht vollständig widerspricht. Wenn diese Feststellung, die im Übrigen auch für den Entwurf existentieller Ethik nicht folgenlos bleiben wird, schon mit Blick auf deren Texte gilt, um wie viel mehr trifft sie dann für die Schriften von Emmanuel Lévinas zu? Es ist eben schwer möglich, sie aus der gesicherten und sich selbst gewissen Position erlernter Interpretationstechniken zu deuten. Denn auch ein Text ist ein Anderes, dem Gewalt angetan werden kann. Vielleicht regt sich hier sofort Widerstand. Wie kann ein Text mit einem leibhaftigen Gegenüber verglichen werden? Hier geht es nicht um einen Vergleich, sondern um eine Feststellung. Die personale Beziehung zweier Menschen kann ebenso wenig zum Maßstab der Relation Text – Interpret erklärt werden, wie es umgekehrt möglich ist. Dafür spricht zumindest, was Lévinas über die Nicht-Rückführbarkeit des Einen auf das Andere ausgesagt hat. So spielt sich denn im Moment der Lektüre eine mittlerweile vertraut erscheinende Situation ab. Auch der Lesende sollte sich dem Text nicht in der Erwartung des Verstehen-Wollens nähern. Vielmehr sollte dieser für ihn das Element einer Unterweisung beinhalten, womit, um es noch einmal ganz klar zu betonen, keine auktoriale Belehrung gemeint ist, sondern eine Einführung, eine Einübung in einem bisher Unvertrauten:
Ohne Eigenschaften – Emmanuel Lévinas
Die Anwesenheit des Meisters, […] bietet sich keinem objektiven Wissen dar; kraft seiner Anwesenheit ist er in Gesellschaft mit mir. […] Hier wird der Vollzug meiner Freiheit in Frage gestellt. Nennen wir moralisches Bewußtsein eine Situation, in der meine Freiheit in Frage gestellt wird, so ist die Assoziation oder der Empfang des Anderen das moralische Bewußtsein.312
In beiden Fällen, dem Umgang mit dem Anderen im anderen Menschen und im Text, handelt es sich um eine exemplarische Situation, exemplarisch in der Weise, dass die Ermöglichung einer ethischen Relation erkennbar wird. So befremdlich es auch wirken mag – das gilt eben auch für das Verhalten einem Schriftstück gegenüber, das in so offensichtlicher Weise die Regeln des Bekannten außer Kraft setzt. Eine ethische Relation ist ebenso zur Natur wie zum Tier möglich und gefordert. Denn Ethik ist kein Privileg des Menschen. In der Konfrontation mit dem Anderen, welcher Gestalt es auch sei, kann die Notwendigkeit des entsprechenden Verhaltens überhaupt erst vermittelt werden und zwar in der Doppeldeutigkeit, die dieser Begriff anbietet: als Mitteilung, die empfangen und als Aktion, die mit dem Anderen geteilt werden kann, ohne sich mit ihm zu verbinden. Das ist die Einsicht, die Lévinas dem moralischen Bewusstsein zuschreibt. In seinen Worten hört es sich folgendermaßen an: Das Anwachsen der Forderungen, die ich an mich stelle, verschärft das Urteil, das über mich ergeht, erhöht meine Verantwortung. In diesem sehr konkreten Sinne wird das Urteil, das über mich ergeht, nie von mir übernommen. Diese Unmöglichkeit, das Urteil zu übernehmen, ist das eigentliche Leben – das Wesen – dieses moralischen Bewußtseins.313
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Totalität und Unendlichkeit, S. 142 f. Totalität und Unendlichkeit, S. 143.
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V. Zur Form
Selbst der Versuch einer lückenlosen Rekonstruktion des Gedankens des Einzelnen, die in den 1920er Jahren beginnt und bis in unsere Tage reicht, muss scheitern. Zu vielfältig sind die motivischen Verzweigungen, die in die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen führen. So wären zum Beispiel soziologische, psychoanalytische oder auch kunsttheoretische Betrachtungen heranzuziehen, um die Entwicklung und Bedeutung eines Begriffes einschätzen zu können, der wie kein zweiter mit existenzphilosophischem Denken verbunden ist. Nur aus einer Perspektive wären keine Antworten auf die Frage nach dem Einzelnen zu erwarten und zwar aus jener der Existenzphilosophie. Denn welcher Denker würde sich heute noch zu dieser kurzen Tradition bekennen, der gerade einmal vierzig Jahre zugeschrieben werden können? Nahezu lautlos scheinen ihre Elemente Bestandteil von Poststrukturalismus und Dekonstruktion geworden zu sein, wobei die Vermittlungsfunktion des Heideggerʼschen Denkens sicherlich nicht zu unterschätzen ist. Bis heute ist kaum eine Philosophie in Frankreich zu finden, die sich nicht polemisch, affirmativ oder radikal ablehnend an diesem Denken reibt und mitunter dadurch sogar die eigenen Konturen schärft. Schon die wenigen Überlegungen zur Stellungnahme von Emmanuel Lévinas können hierfür als exemplarischer Beleg dienen. Eine philosophische Rezeption dieses Denkens in Deutschland hat aus triftigem Grund mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die zwar wohl ein Nach-Denken zulassen und sogar fordern, doch ein Mit-Heidegger-weiter-Denken größtenteils verhindern. Eine besondere Brisanz gewinnt die Feststellung der Bedeutung seiner Konzeptionen in Frankreich dadurch, dass diese in einem nicht zu übersehenden Umfang Ähnlichkeiten zum Denken von Franz Rosenzweig aufweisen. Dessen Ansichten sind mithin noch immer präsent, auch wenn sie – die Erklärung von Lévinas ausgenommen – nicht als seine Auffassungen deklariert werden. Die immense Bedeutung, die seinem Gedanken der Unmöglichkeit einer Zurückführung des Einen auf ein Anderes für die zeitgenössische Theoriebildung besonders in Frankreich zukommt, könnte daher leicht übersehen werden. Lévinas greift diesen Gedanken auf und aufgrund seiner Bemerkung im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit können wir davon ausgehen, dass er dabei tatsächlich den Stern der Erlösung vor Augen hat. Wenn Eines nicht auf ein Anderes zurückgeführt werden kann, stehen getrennte Entitäten einander gegenüber, deren Begriffe sich nicht mehr unter der Idee einer Einheit zusammenfassen lassen. In dieser Konstellation der Alterität finden wir den ei-
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V. Zur Form
nen Gott, den einzelnen Menschen und die Welt der Dinge. Besonders hervorzuheben ist der Aspekt der Auffassung Rosenzweigs, durch den selbst der Begriff der Welt nicht mehr als Einheit des Dinglichen gedacht werden kann. Denn jeder Gegenstand ist einzelnes Ding, der Eigenheit des einzelnen Menschen grundsätzlich gleichwertig, insofern dessen ontische Stellung des Eigen-Seins berücksichtigt wird. Gott, Welt und Mensch bestehen als getrennte Eigenheiten, die in einem dynamischen Geschehen existentieller Bewegung in Relation zueinander denkbar werden. Eine der entscheidenden Fragen, die an so bedingtes existentielles Denken zu stellen ist, gilt mithin der Erklärung eben dieser Möglichkeit der Relation im Denken und im Sein. Doch scheint gerade diese Frage bis heute nicht in abschließender Weise beantwortet worden zu sein. Denn sie inspiriert als Problem der Alterität noch immer den philosophischen und soziologischen Diskurs. Andersheit als Andersheit denken zu können, erfordert die Ausklammerung vorgängig geltender Begriffe von Gemeinsamkeit und Einheit. Diese Voraussetzung noch einmal zu benennen, ist mit Blick auf den weiteren Verlauf der Überlegungen sinnvoll. Schließlich markiert sie die Problematik, die der Vorstellung von Alterität inhäriert: Andersheit ist keine Eigenschaft, die einem Zugrundeliegenden zugeordnet werden könnte, das sich mit weiteren Zugrundeliegenden derselben Attribuierung unter einem verbindenden Begriff zusammenfassen ließe. Alterität ist im Gegensatz dazu Wesens-Aussage. Zwei Wesenheiten ein und derselben Bestimmung anzunehmen, wäre widersinnig, denn es könnte überlegt werden, warum sie nicht zu einem einzigen Begriff kombiniert werden. Genau diese scheinbare Widersinnigkeit prägt jedoch die Frage nach der Alterität. Sie zu stellen, erfolgt auf einer anderen Ebene als die Beschreibung zweier Objekte, die sich durch sichtbare Merkmale unterscheiden. Alterität denken zu wollen, setzt voraus, sie als ontologische Bestimmung zu begreifen, die sich nicht auf dieses und jenes Wesen, sondern auf das Sein bezieht. Es wäre mit Sicherheit verfehlt, behaupten zu wollen, dass ein solcher Begriff der Alterität bereits in Franz Rosenzweigs Konzeption des Unrückführbaren expliziert wird. Doch ist er darin angelegt, wie auch die Folgerung bestätigt, die aus deren Gedanken gezogen wird. Dasjenige, das nicht auf ein anderes zurückgeführt werden kann, kann nicht in herkömmlichem Verständnis Gegenstand des Wissens sein. Hier ist an die dreimalige Behauptung des Nicht-Wissen-Könnens zu erinnern, die Rosenzweig im ersten Teil seines Sterns der Erlösung vornimmt. Denn ein Wissen um ein Anderes durch ein Selbes würde es seiner Auffassung nach erfordern, das Andere seiner Eigenständigkeit zu berauben, womit es letztlich wieder unter die Verfügungsmacht jenes Gedankens einer verbindenden Allheit geriete, die er so entschieden ablehnt. Dass er diese Überlegungen als Fundament seiner gesamten weiteren Ausführungen anlegt, zeigt die immense Bedeutung, die er ihnen beimisst. Für ihn geht es dann im weiteren Verlauf seiner Darstellung darum, die drei getrennten Wesenheiten, denen der moderne Be-
V. Zur Form
griff der Alterität zugesprochen werden kann, in Beziehung zueinander zu denken. Dass ihm dabei die religiösen Vorstellungen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als Hintergrund dienen, trübt nicht die Originalität seiner Vorgehensweise. Es genügt hier wohl, nur noch einmal auf seine Aussagen zur fortgesetzten Schöpfung und zur Welt-Gestaltung durch die ihre Eigenheit bestätigende Benennung der Dinge zu erinnern. Für Denker der folgenden Jahre, die gleichermaßen vom Gedanken der Alterität ausgehen, besteht diese Möglichkeit, auf einen argumentativen Rahmen zurückzugreifen, in der Weise nicht mehr beziehungsweise sie nehmen sie nicht in Anspruch. Auf den ersten Blick wirkt es so, als würde auch Emmanuel Lévinas keine Ausnahme bilden. Doch zeigt sich in seinen Schriften das Gegenteil. Auch wenn er in seinen philosophisch fokussierten Texten nicht explizit vom Geschehen der Schöpfung, der Offenbarung und der zu erwartenden Erlösung spricht, lässt doch die entsprechende Begrifflichkeit den niemals verstummenden Bezug zum Religiösen erkennen. Die beiden Begriffe des Antlitzes und der Eschatologie mögen als Beispiele ausreichen. Unabhängig von der verwendeten Terminologie steht vor allem bei ihm das Bild der unüberbrückbaren Trennung des Anderen und des Selben im Mittelpunkt, was eventuell noch einmal die Frage hervorrufen könnte, was dieses Bild mit der existenzphilosophischen Konzeption des Einzelnen zu tun hat. Der Hinweis auf Franz Rosenzweigs These der Unrückführbarkeit benennt den formalen Teil dieses Bezuges. Die Vorstellungen von Alterität und Trennung, die dadurch denkbar werden, verweisen auf den anderen Teil, der ethischer Natur ist. Erst mit der Aussprache des Gedankens vom Einzelnen werden diejenigen von Alterität und Trennung relevant – eine im Grunde überflüssige Feststellung, die an dieser Stelle die motivische Spur nachzeichnen soll, die sich von den 1920er Jahren in unsere Gegenwart zieht. In plakativer Weise, der es im Moment nicht auf eine feinteilige Begründung ankommt, kann festgehalten werden, dass die philosophische Thematisierung des Einzelnen speziell in jenen Jahren erfolgte. Auf entscheidende Vordenker dieser Thematisierung wie Søren Kierkegaard wäre in anderem Kontext einzugehen. Mit der Herausstellung des Einzelnen, die über die Erläuterungen existentieller Erschütterungen erfolgt, ist das primäre Anliegen der meisten Existenzphilosophen erfüllt. Was aus rückblickender Perspektive heute einfach nur festgestellt werden kann, weil wir uns längst im Geltungsrahmen dieses Denkens bewegen können, erforderte in den 1920er und 1930er Jahren manch argumentative Kraftanstrengung. Denn immerhin galt es, der Einheits-Idee, wie sie in der westlichen Rationalität nicht nur von den Deutschen Idealisten, auf die Franz Rosenzweig sein Augenmerk richtete, vertreten wurde, eine starke und überzeugende Konzeption entgegenzusetzen. Diese beiden Attribute für die Darstellung des Einzelnen in Anspruch nehmen zu wollen, verstand sich gewiss nicht von selbst. Doch mit dessen Kontextualisierung war eben nur der erste, wenn auch entscheidende Schritt getan. Die Folgeprobleme, auf die auf den vorangegangenen Seiten bereits angespielt wurde, be-
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V. Zur Form
gannen sich erst allmählich abzuzeichnen. Im Zentrum stand dabei immer wieder die Frage, wie ein Einzelner zum Anderen findet, erkennend, sich verhaltend und verstehend. Franz Rosenzweig griff auf die biblische Liebes-Metaphorik zurück. Für Martin Heidegger schien diese Frage nie besondere Dringlichkeit besessen zu haben. Und Heinrich Barth führte den Begriff der Koexistenz in seine Systematik ein, einer Existenz, deren Merkmal im wechselseitigen Erkennen der Existierenden besteht. Sein umfassendes Werk Erkenntnis der Existenz erschien 1965. Interessant ist es, dass Emmanuel Lévinas’ erste kompakte Darstellung Totalität und Unendlichkeit, die im letzten Kapitel in ihren Grundzügen betrachtet wurde, aus dem Jahr 1961 stammt. Und Ausweg aus dem Sein erschien sogar bereits 1935, acht Jahre vor Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts. Dieser kurze Blick auf einige Erscheinungsdaten soll veranschaulichen, dass es sich beim Denken von Emmanuel Lévinas, obwohl es vielleicht so wirken könnte, nicht um eine deutlich spätere Artikulation handelt, sondern um eine Theorie, die durchaus noch in die Zeit der genuin existenzphilosophischen Verlautbarungen fällt. Natürlich soll Lévinas damit nicht zu einem Existenzphilosophen erklärt werden. Aber sein Denken thematisiert Probleme, die seit den 1920er Jahren bestanden und im Grunde nur in geringem Umfang reflektiert wurden. Die Rolle, die den Schriften von Karl Jaspers in diesem Entwicklungsgang zufallen würde, wäre an anderer Stelle zu untersuchen. Erstaunlicherweise sind seine Arbeiten in Frankreich nicht annähernd so leidenschaftlich – im positiven wie auch im negativen Sinne – rezipiert worden wie diejenigen Martin Heideggers.314 Wenn eben von den Problemen die Rede war, die auf die Formulierung des Gedankens vom Einzelnen folgten, hat sich die Themenlage geringfügig verschoben. Es ging Lévinas nicht mehr darum, das Denken des Einzelnen als philosophischen Ertrag zu erweisen. Vielmehr bestand für ihn die drängendste Herausforderung im Nachweis, wie der Einzelne Einzelner bleiben könnte. Denn mit dessen Ausrufung durch die Existenzdenker war ihm noch lange kein gesicherter Bestand im Repertoire philosophischer Motivik zuteilgeworden. Dass in Lévinas’ Perspektive Bedrohungen durch theoretische und physische Annihilierung zu einer einzigen Gefährdung verschmelzen, hat sich gezeigt. Wie kann der Einzelne also endlich das bleiben, was er in philosophischer Reflexion so lange nicht hat sein dürfen: Einzelner im absolut unverwechselbaren Bestand seiner Erfahrun314 Ein Zeugnis aus erster Hand liegt uns in Jean Beaufrets A propos de l’existentialisme von 1945 vor, enthalten in: Ders., De l’existentialisme à Heidegger: «Mais l’œuvre déjà publiée par Heidegger paraît bien être l’expression de la pensée la plus originale et la plus profonde qui se soit fait jour depuis longtemps. Il existe d’ailleurs, même en français, outre un petit recueil de textes bien choisis et bien traduits, de bonnes études sur Heidegger. Citons l’article publié par M. Levinas dans la Revue philosophique de 1932, et le livre de M. de Waehlens, paru en 1942 à Louvain.» S. 18. Es war Jean Beaufret, auf dessen Frage «Comment redonner un sens au mot ‹Humanisme› Heidegger 1946 mit seinem Brief über den ‹Humanismus› antwortete.
V. Zur Form
gen? Für Lévinas gibt es nur eine einzige mögliche Antwort: Er muss als Manifestation der Alterität, also der Unverwechselbarkeit an sich, betrachtet werden. Die Intention dieser Auffassung ist uns schon einmal begegnet und zwar genau dort, wo Franz Rosenzweig seine Deutung des «Nächsten» vornahm. Dieser ist auch nicht dieser Bestimmte, der um seiner selbst willen geliebt wird, sondern er vertritt mir gleichsam «vollgültig» die gesamte Menschheit. Fast wirkt es wie eine Ironie der Philosophiegeschichte, dass über denjenigen, dessen Denkbarkeit so mühsam errungen wurde, nur in einer Form der Verallgemeinerung gesprochen werden soll. Doch dürfen sich hier nicht zwei Ebenen der Betrachtung vermischen. Es gibt den Einzelnen und seine intellektuelle Biographie und es gibt den Begriff des Einzelnen, über den philosophisch zu sprechen ist. Und nun gibt es darüber hinaus noch das Konzept der Alterität, das zur Erläuterung der Begriffsstruktur verwendet wird. Diese Differenzierung sollte zumindest dazu taugen, das Bild des Einzelnen der Reflexion zugänglich werden zu lassen. Doch hat sich der gerade artikulierte Zweifel damit noch lange nicht zerstreut. Ist diese Differenzierung nicht Beispiel genau jenes Verfahrens der Abstraktion, gegen das jemand wie Franz Rosenzweig polemisierte? Wie viel zählen noch die Erfahrungen des Einzelnen, seine Not und seine Verzweiflung, wenn wir von Alterität sprechen? Es ist nun einmal die Arbeit der Philosophie, allgemeine Strukturen aufzudecken und das heißt in diesem Fall auch allgemeine Strukturen der Denkbarkeit des Einzelnen. Doch noch gibt sich nicht zufrieden, wer den Stern der Erlösung gelesen und gesehen hat, wie flexibel philosophische Sprache tatsächlich sein kann. Sie muss sich nicht zwangsläufig der Technik der Abstraktion und ihrer Versprachlichung in Begriffen des Allgemeinen bedienen, sondern kann zum Beispiel in eine Art von Erzählung changieren. Sie kann mit graphischen Mitteln arbeiten, wie dem Bindestrich, der bekannten Worten zu neuem Ausdruck verhilft. Was bei Rosenzweig noch relativ zurückhaltend praktiziert wird, erfährt bei Martin Heidegger zum Teil fast exzessive Anwendung, in deren Verlauf Gedanken mitunter nur noch in Form graphischer Darstellung präsentiert werden. Wenn Sprache auch im Bestreben, existentielles Denken auszudrücken, also offenbar mehr zu bieten hat als die altbekannten und wohlvertrauten Formen, könnte dieser Umstand doch auch genutzt werden, um vom Einzelnen zu sprechen, ohne ihn im Allgemeinen aufgehen zu lassen. Genau das geschieht in den Texten von Emmanuel Lévinas und in noch weitaus stärkerem Maße in jenen von Jean-Luc Nancy. Auf konzeptueller Ebene thematisieren beide die Andersheit des Einzelnen als existentielles Merkmal. Doch auf textueller Ebene schaffen sie die Möglichkeit der Erfahrung des Anderen, in der sich die Erfahrung des Einzelnen spiegelt. Denn sie dekonstruieren die systematische Form, unter der ein Text vorgibt, unbezweifelbare Wahrheit auszudrücken, und bieten stattdessen Fraktale der Sinngebung, die nicht in ihrem Zusammenschluss, sondern jedes für sich bestehend zu wirken vermögen. In den Schriften von Lévinas kommt diese
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Dekonstruktion erst in Ansätzen zum Ausdruck, doch in den Werken von JeanLuc Nancy zeigt sie sich als favorisiertes Mittel der Darstellung. Das Aufheben der systematischen Geschlossenheit eines Textes reflektiert das sich wandelnde Verständnis aussagbarer Wahrheit. Denn diese wird nicht mehr in der Differenzen nivellierenden Konzeptualisierung von Erscheinendem gesehen. Sie ist kein Testat, das über eine beliebig zu komprimierende Vielheit des Erkannten ausgesagt werden kann. Als solche gewinnt sie Gültigkeit, die nicht mehr von situativen Bedingungen abhängig ist. Diese Sichtweise vertritt vor allem Franz Rosenzweig, der davon spricht, dass sich Wahrheit zu bewähren habe. Doch ist das durch ihre traditionelle Deutung, wenn denn überhaupt von einer Deutung ausgegangen werden kann, unmöglich? Trifft ausgesagte Wahrheit nicht immer noch für jeden von ihr umfassten Einzelfall zu, der jedoch zur Verifikation einer solchen Aussage nicht mehr eigens überprüft zu werden braucht? Genau darum geht es Rosenzweig. Die zeit- und situationsübergreifende Gültigkeit so verstandener Wahrheit ist seiner Auffassung nach für die Explikation existentieller Sachverhalte ungeeignet. Stattdessen geht er davon aus, dass nicht die Wahrheit an sich, aber ihr existentieller Wert, das heißt ihre Bedeutung für den Augenblick, immer wieder von Neuem aus den jeweiligen Situationen zu gewinnen sei. Aber was heißt das? Ein wenig erinnert sein Gedanke an die Deutung von Sinn, die Heinrich Barth vornimmt. Es gibt nicht den Sinn, der Sein und Denken und Handeln rechtfertigt und bestimmt. Es müssen vielmehr Setzungen von Sinnhaftem erfolgen, die mit der existentiellen Entscheidung des Einzelnen einhergehen. Ebenso gibt es für Rosenzweig nicht die Wahrheit, sondern Momente von Wahrhaftigkeit, in denen sich dem Menschen das Verstehen des Seins – in seiner Deutung dem Verstehen der Schöpfung entsprechend – erschließt. Weder Setzungen von Sinnhaftem noch Momente von Wahrhaftigkeit führen zu der Bildung umfassender Begriffe von Sinn und Wahrheit, in denen ihre performative Bestätigung zu einem Ende gelangen würde. Sie bleiben vielmehr Konzepte grundsätzlicher Offenheit, die in besonderer Weise von der spontanen Konstituierung abhängen, die in diesen beiden Interpretationen an das existentielle Bewusstsein gekoppelt ist. Dessen Gegenstand besteht in der Einsicht, dass nicht nur die Bedeutung von Wahrheit und Sinn für das existentielle Geschehen erkennbar sein muss, sondern dass auch die Bildung dieser beiden Konzepte immer wieder situativ und zeitrelevant erfolgen sollte. In ihrem Erkenntniswert rekurrieren beide Begriffe auf das Verstehen grundsätzlicher Beschaffenheit von Sein, das für beide in ein und demselben Gedanken besteht: der strukturalen Relationalität. Bisher wurde nahezu synonym von Wahrheit und von Sinn gesprochen. Hier ist nun eine Präzisierung erforderlich. Existentielle Wahrheit kann als Inhalt der Erkenntnis betrachtet werden, existentieller Sinn als dessen Bedeutung. Beide funktionieren nur im wechselseitigen Bezug, da Wahrheit, deren Bedeutung nicht einsichtig wird, letztlich jene Schwäche zeigt, die Rosenzweig vor allem dem Denken des Deutschen
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Idealismus attestierte. Sie ist, um seine Formulierung zur Philosophie speziell auf den Begriff der Wahrheit zu fokussieren, «leeres Lächeln». Sinn, dessen Vorstellung nicht in einem erkennbaren Zusammenhang gründet, kann nicht erschließen, was dieser Zusammenhang bedeutet. Ein gedanklicher Umweg scheint in den letzten Überlegungen vorzuliegen, der unverständlich wirken mag, da es doch um die Vorbereitung des nächsten Kapitels, das der Philosophie Jean-Luc Nancys gewidmet ist, gehen soll. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Umweg jedoch bereits um eine Annäherung. Denn in einer vielleicht unerwarteten und daher umso interessanteren Weise finden sich motivische Bezüge zwischen dem existentiellen Denken und dem Denken der différance. Sehr plakativ kann hier an erster Stelle darauf hingewiesen werden, dass beide Bewegungen sich als Suche nach der neuen Form verstehen. Neu an der Form ist zwar auch das begriffliche und methodische Instrumentarium, doch vor allem der Anspruch, der mit ihr verbunden wird. Sie soll den Bruch mit der auktorialen Dominanz des Denkenden bewirken, indem sie Textualität als Mittel dieser höchst produktiven Brechung erweist. Ein Text wie Der Stern der Erlösung erfüllt ganz gewiss nicht die Erwartungen der gebildeten Leserschaft, wie Rosenzweig selbst im Nachhinein kommentiert. Was geschieht aber, wenn Erwartungen nicht bestätigt werden? Im günstigsten Fall setzt ein Prozess der Reflexion ein, der darüber Aufschluss geben kann, warum ein Text irritiert, verunsichert oder sogar enttäuscht. Die gewohnte Haltung der Rezeptivität, die das Lesen als Haltung des Nachvollziehens kennzeichnet, schlägt in eine Haltung sich einbeziehender Stellungnahme um, die – wie auch immer sie im Detail ausfallen mag – doch eines zu erkennen gibt: die Umdeutung der Relation zwischen dem Autor und dem Lesenden, die in freier Übertragung als Relation zwischen dem Selben und dem Anderen gedeutet werden kann. Wird die alles Verstehen vorgängig ausrichtende Konzeption von Wahrheit und Sinn obsolet, hat das auch für diese Relation schwerwiegende Konsequenzen. Denn es kann nicht mehr selbstverständlich von einem Konsens ausgegangen werden, der Autor und Leser verbindet, indem die Funktionen beider klar definiert sind. An dieser Relation, die exemplarisch für Relation schlechthin stehen kann, zeigt sich stattdessen das spontane Geschehen, in dem sich Positionen verschieben, Ansprüche aufheben und Erwartungen ad absurdum geführt werden. Im Vorwort seines Büchleins vom gesunden und kranken Menschenverstand entscheidet sich Franz Rosenzweig zu einer sehr ungewöhnlichen Maßnahme. Er spricht den Leser als «lieber alter Freund» an, als Kamerad aus Schultagen, an den er sich mit folgenden Worten wendet: «Und hoffentlich ist am Ende unsres Zusammentreffens auch dir die gemeinsame Schulzeit wieder so lebendig, daß auch du wieder kennst Deinen dich also für jetzt auf der Schwelle begrüßenden Verfasser.»315
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Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 27.
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Gewiss ist es möglich, die Zeilen nur als literarisches Stilmittel zu betrachten, das dazu dienen soll, Interesse zu wecken. Aber zu dieser Lesart gesellt sich sogleich eine zweite, die sich auf den Begriff der Schwelle bezieht. Aus dem Stern der Erlösung ist bekannt, wofür dieser Ausdruck steht, nämlich für den Übergang von der Theorie zum Leben, von der Formulierung von Wahrheit zu ihrer Bewährung. Rosenzweig stellt die Gültigkeit von Theorie nicht prinzipiell infrage, erkennt ihr aber nur vorbereitende Geltung zu. Letzten Endes ist sie seiner Ansicht nach ein Mittel, das so lange Berechtigung hat, bis sich seine Notwendigkeit erübrigt. Für sein Verständnis der Beziehung zwischen Verfasser und Leser bedeutet dieses, dass Ersterem nur so lange Bedeutung zukommt, bis Letzterer sich in ausreichendem Maße an sein eigenes Können erinnert fühlt und fortan seinen Weg allein zu gehen vermag. In diesem Vorwort, das wie eine kleine literarische Spielerei wirken mag, verbirgt sich ein bemerkenswertes Zeugnis philosophischen Selbstverständnisses. Der Gebrauchswert theoretischer Aussagen ist begrenzt, sowohl zeitlich als auch inhaltlich. Sie sind nie Selbstzweck, sondern Mittel zur Selbst-Autorisierung des Verstehens. Im Vergleich zu Texten, die dem Gedanken der différance folgen, zeigt der Stern der Erlösung noch einen konventionellen Aufbau, den Rosenzweig selbst sogar als «System von Philosophie» bezeichnet. Allerdings finden sich dort Ansätze, die bis in unsere Tage verfolgt werden können. Zu dem Begriff des Neuen Denkens, der bereits erläutert wurde, tritt nun ein besonders unter formalem Aspekt bedeutsames Merkmal hinzu. Sollen die Begriffe von Wahrheit und Sinn performativ ausgesetzt werden, indem ihr jeweiliger Geltungsumfang Gegenstand interaktiver Affirmation wird, wird es letztlich unsinnig, an einer Text-Form festhalten zu wollen, die dennoch vorgibt, Aussagen über diese beiden Begriffe in vorgebender Weise treffen zu können. So spiegelt sich das Verständnis situativer Eruierung auch im Verhältnis zwischen Verfasser und Leser. Auch sie treten in eine Relation des Mit-Wirkens, deren Ergebnisoffenheit die herkömmliche Vorstellung einer Vermittlung von Verstehen ersetzt. Diese Umstrukturierung kann letztlich dazu führen, dass im Text erfahrbar wird, was Emmanuel Lévinas in seinen Schriften thematisiert: die Aufhebung einer Relation der Ungleichheit zwischen dem Selben und dem Anderen. Wie in seinen Darstellungen das Begehren des Ich, sich im Anderen zu identifizieren, indem dessen Fremdheit negiert wird, ins Leere läuft, bleibt der Wunsch des Lesenden, im Text Verbindlichkeit der Erkenntnisvermittlung zu finden, unbefriedigt. Denn auch er präsentiert sich, wie der Andere in personaler Relation, als Gegenüber in einer Fremdheit, die nicht auf das Eigene zurückführbar ist. Darin liegt gerade der große Reiz dekonstruktivistischer Texte: Sie fügen sich keinem Diktat, das ihre Gestalt im Vorhinein bestimmt. Sie bleiben unkalkulierbar und setzen das ein für alle Mal Verstehen-Wollen als unabschließbaren Prozess aus. Für Lévinas besteht die Voraussetzung dafür, dass eine Relation als gleichwertig aufgefasst werden kann, darin, dass die beiden sich in ihr Begegnenden in absoluter Trennung gedacht werden. Nur so kann seiner Überzeugung nach jeder Ver-
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
such der Vereinnahmung des Anderen unterbunden werden. Miteinander ist Sein in unüberbrückbarer Ferne, die doch immer die Entfernung zweier Seiender ist. Mit diesem Bild kehren die Überlegungen zu der ursprünglichen Frage dieses Kapitels zurück. Was wird aus dem existenzphilosophischen Gedanken des Einzelnen? Kann die Vorstellung seiner Eigenheit auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie unter dem Aspekt einer Vergemeinschaftung gedacht wird? Emmanuel Lévinas lehnt die Annahme eines Verbindenden, in dem Miteinander ermöglicht werden könnte, strikt ab, da diese zu stark an die Deutung des Seins im Sinne Martin Heideggers erinnert. Und doch stehen das Ich und der Andere in Bezug zueinander, der in nichts anderem als ihrer Distanz besteht. Wie ist aber der Bezug zweier eigenschaftsloser Wesen zueinander möglich? In der Rede, so lautet die Antwort. In einer Rede, die weder Vermittlung noch Mittelung ist, sondern Ausdruck der Anwesenheit – An-Rede. Doch wo findet diese statt?
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy Besonders in seiner 1996 erschienenen Schrift être sigulier pluriel – singulär plural sein sowie dem fünf Jahre später verfassten Werk La pensée dérobés – Das nackte Denken wendet sich Jean-Luc Nancy, den mit Jacques Derrida nicht nur Freundschaft, sondern auch das Vertrauen in die Formsprache der Dekonstruktion verband, dem Begriff des Mit-Seins zu. Zur Einstimmung in dieses Denken möge eine Text-Passage dienen, die erläutert, was unter dem «mit», dem unmittelbaren Konstituens des Mit-Seins, verstanden wird: […] die Fähigkeit, dass etwas, oder eher einige Dinge, und einige Leute, da sind, das heißt sich mit- oder unter-einander befinden – wobei das mit oder das unter/zwischen (entre) genau genommen nichts anderes ist als der Ort selbst, das Milieu oder die Welt der Existenz. Ein solcher Ort wird Sinn genannt. Mit-sein heißt Sinn machen, heißt im Sinn oder dem Sinn gemäß sein – wobei dieser ‹Sinn› nicht ein auf die Epiphanie einer Bedeutung ausgerichteter Vektor ist, sondern die Zirkulation der Nähe in der ihr eigenen Entfernung, […].316
Kennzeichnende Merkmale dekonstruktivistischen Denkens aufspüren zu wollen, ist gewiss kein Vorhaben, das diesem gerecht zu werden vermag. Denn es hieße, genau jene Festlegung des Ausgesagten auf einen eindeutig zu identifizierenden Aussagewert vornehmen zu wollen, die die formale Fragmentarisierung entsprechender Texte aufschieben soll. Denn Bedeutung wird nicht vermittelt, sondern geschaffen, zwischen dem Ich und dem Anderen, dem Ich und dem Text, «Zirkulation der Nähe in der ihr eigenen Entfernung». Dadurch findet eine faszinierende Akzentverschiebung innerhalb des Denkens statt, das sich nun we316
Das nackte Denken, S. 147.
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niger um die Klärung dessen kümmert, was das Ich und den Anderen ausmacht, als vielmehr darum, wie der Raum, der beide trennt, thematisiert werden kann. Dort, wo von Trennung und Entfernung, Nähe und Abstand die Rede ist, wird die Frage nach Verortungsmetaphern drängend, die geeignet sind, das «zwischen», das sich nicht mehr als Bindung vermeintlicher Bezogenheit erfassen lässt, zu verbildlichen. Es geht also nicht darum, ein Sinnbild für diesen Raum zu finden, sondern ihn in seiner Bildlichkeit zu erfassen. Warum wird nicht einfach davon gesprochen, ihn in seiner Bildlichkeit zu denken? Weil diese je und je erfahren, aber nicht als notwendiges Prinzip des Mit-Seins begründet werden kann. Die Formulierung, die Nancy in obigen Zeilen wählt, um diesen Sachverhalt kenntlich zu machen, zeigt das geschehnishafte Immer-wieder-von-Neuem im Begriff der Zirkulation an. Es wäre insofern irreführend, von dem Bestehen eines Zwischen-Raumes auszugehen, der als schon bestehende Distanz vorgestellt werden sollte. Wir begegnen hier einem Motiv, das uns in leichten Variationen von den ersten Seiten an begleitet. Es handelt sich um die Auffassung, dass weder Schöpfung noch Sein schon da sind und den Grund abgeben, auf dem sich Existenz abspielt. Soweit es Rosenzweig in Anbetracht der religiösen Prägung seines Denkens behaupten konnte, sind Schöpfung und Sein selbst als Existenz-Raum zu verstehen, dessen Dimensionierung mit der Verwirklichung der existentiellen Möglichkeit steht und fällt. Diese spezielle Sichtweise ist erforderlich, um die Vereinheitlichung des Verschiedenen in der Idee von Allheit auszuschließen. Denn in ihr besteht, um es noch einmal zu betonen, die größte Gefährdung des Denkens des Einzelnen. Aus dem Schon-Da des Geschaffenen könnte so zum Beispiel der Gedanke einer planvollen Erzeugung abgeleitet werden, der wiederum die Folgerung einer Ordnungsstruktur erlauben würde, die sich letztgültig als teleologische Ausrichtung des Seins deuten ließe. Gegen eine solche Folgerung aus dem Gedanken des Vorfindlichen, wie immer dieses auch tituliert wird, wendet sich auch Jean-Luc Nancy mit seiner Erklärung, Sinn sei keine Bedeutung, die es zu erschließen gelte. Die starken Bilder des Vektors, der in geradliniger Ausrichtung auf etwas zielt, und der Zirkulation, die sich in beständiger Selbst-Setzung und Selbst-Aufhebung ununterbrochen am selben Ort bewegt, veranschaulichen diese Auffassung in prägnanter Weise. Die Vorstellungen eines Schon-Da brechen sich somit in der Annahme fortgesetzter Bewegtheit, die eben nicht mehr die Bewegung von etwas ist, das schon besteht, sondern die Bewegtheit im Werden-Können. Diese Bewegtheit bezeichnet Nancy mit dem Begriff des «Zwischen-Uns» – entre-nous. «Das Zwischen-uns ist exakt der Ort des Sinns des Sinns: der Übergang in alle Richtungen/Sinne zu sein. Übermittlung und Überschreitung, Schritt vom einen zum anderen und Schritt des anderen über das/den eine/n hinaus.»317 317
Das nackte Denken, S. 39 f.
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
Dass es hier tatsächlich nicht um eine Erklärung dafür geht, wie zwei Bestehende in Relation gesetzt werden können, die die Trennung zwischen ihnen zwar nicht aufhebt, aber überbrückt, wird daran ablesbar, dass Nancy die Bestehenden in ihrer Nacktheit denkt. Nur uneigenschaftliches Sein kann in dieser Weise aufeinander bezogen werden, das hat sich bereits bei Lévinas gezeigt. Uneigenschaftlichkeit bedeutet hier zugleich ein Höchstmaß an Verletzlichkeit und Offenheit, zwei Beschreibungen, die sich zunächst auszuschließen scheinen. Sich in der Blöße ihrer Anwesenheit darbietend und zugleich dem Begehren des Anderen Widerstand leistend – so wäre dem Begriff der Nacktheit in diesem Kontext möglicherweise näherzukommen. Verlangen und Sich-Entziehen, Anwesenheit und Verweigerung, Unvoreingenommenheit bis zur Selbstaufgabe. Um die Weise zu benennen, in der so Beschreibbares aufeinandertrifft, bietet sich der Begriff der Konfrontation an. Denn zunächst ist es tatsächlich nicht mehr als dieses: ein Aneinander-Grenzen zweier unendlich bedürftiger und zugleich unendlich selbstgenügsamer Wesen. Diese Vorstellung trifft nicht nur für das personale Geschehen zu, sondern ebenso für die Konfrontation mit Welt, die zu unbestimmt ist, um sie durch das Hinzufügen eines Artikels bestimmen zu können: Es ist diese Welt hier und nichts anderes, diese Welt hier ohne jegliches dort, aber in einer Weise, dass die ganze Evidenz und Prägnanz eines ‹hier›, eines hier-und-jetzt von neuem errungen werden müssen, und zwar gemäß einer völlig neuen Disposition der und Herangehensweise an die Präsenz. Es handelt sich vor allem um eine Schwebe der Präsenz und eine in die Schwebe versetzte Präsenz: über sich selbst schwebend, unvollendet, unvollendbar, unendliche Präsenz […]. Entblößte Präsenz, Präsenz einer Präsenz-Blöße.318
Es ist die Anwesenheit und Gegenwart des nicht auf ein Anderes Zurückführbaren, die hier anklingt. Eine motivische Konstante zieht sich durch die Schriften von Rosenzweig, Heidegger, Lévinas und Nancy. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich stets als identisch erweist, sondern dass sich ein Gedanke, der in einer ganz bestimmten Situation intellektueller Positionierung entstand, auch in anderen Situationen und Zeiten erhalten und vielleicht sogar bewähren kann. Für Rosenzweig bedeutete intellektuelle Standortbestimmung die Forderung eines Neuen Denkens, das in grundsätzlicher Weise auch die Funktion des Denkenden justiert. Neue Formen des Sagbaren waren auch für Heidegger und Lévinas erforderlich, da die bestehenden Formen einen nicht mehr haltbaren Begriff von Wahrheit vermittelten, die, wie Lévinas zeigte, auf einer Relation der Ungleichheit zwischen dem Selben und dem Anderen, dem Denkenden und seinem Gedachten, beruht. Dass Heinrich Barth in dieser Reihe nicht genannt wird, erklärt sich durch sein Verständnis der Möglichkeiten und Instrumente der Philosophie, das deren Tauglichkeit nicht prinzipiell infrage stellt. Wäre es in Anbetracht dieses kurzen Rückblickes nicht zu erwarten, dass auch Nancy nicht nur eine neue 318
Das nackte Denken, S. 16.
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Form des Sagbaren anwendet, sondern sie auch kommentiert? Wir kennen die Begriffe des «erfahrenden Denkens» von Rosenzweig, des «schonenden Denkens» von Heidegger. Und nun kommt der Begriff des «nackten Denkens» hinzu. Denn: «Nackte Welt und nacktes Denken stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.»319 Längst ist der Anspruch aufgegeben, dass der Denkende sich den Gegenstand, dem er sich zuwenden will, sucht und dem eigenen Verständnis gemäß reflektiert. Deutlich sind noch die Worte Martin Heideggers in Erinnerung, wonach der Gegenstand das Denken bedingt, weil er den Denkenden «angeht». Ob ein solches Sich-angehen-Lassen trotz seines externen Initiationsmomentes Interesse beim so Angesprochenen auslöst, belässt Heidegger im Rahmen des Möglichen. Bereits Lévinas wird in dieser Frage unmissverständlich Stellung beziehen. Denn Interesse drückt selbst dann, wenn es Anzeichen ehrlicher Anteilnahme im Verstehen des Anderen ist, jene Haltung der Ungleichheit aus, die er kritisiert. Allein schon im wörtlichen Sinn, dem inter-esse als dem Eindringen in ein Anderes, wird seiner Auffassung nach erkennbar, dass eine interessierte Haltung, die dem Anderen keine Gewalt antut, nicht vorstellbar ist. Gewalt liegt in seiner Sicht in jedem Moment vor, in dem das Selbe sich zum Ursprung des Verstehens und des Begehrens setzt. Fraglich bleibt dabei allerdings, ob der Andere in einer Begegnung, die von Des-Interesse geprägt ist, noch als dieser Andere entgegentritt oder als Repräsentationsmoment der Andersheit, der Alterität? Jean-Luc Nancy spricht vom nackten Denken, das nicht thematisiert und nicht argumentiert, sondern bedeutet. Es ist nicht Ausdruck eines Prinzips und nicht formale Bestimmung der Möglichkeit, Sagbares zu denken, sondern Öffnungs-Metapher. Es führt zu keinem Ziel, erstrebt keinen Abschluss, beinhaltet keinen Sinn, sagt keine Wahrheit aus, sondern räumt ein. Es wird nicht enthüllt und entblößt nicht, ja es ist nicht einmal Offenbarung, sondern Vergegenwärtigung. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Begriff des nackten Denkens eine Dimension, die zugleich überrascht und doch an Bekanntes erinnert: Das, worum es im Zusammenhang mit dieser Nacktheit geht, hat bislang einen philosophischen Namen: Endlichkeit. […] ‹Endlichkeit› bedeutet das Ende der Präsenz als beständiges, dauerhaftes, verfügbares, unerschütterliches Sein – als gegebenes Ding und als gezeichnete Figur, als geschaffener Mythos oder als etabliere/r Vernunft/Grund (raison). Über diesem Ende schwebt – und folglich belebt und bewegt sich – die Beständigkeit oder Unerschütterlichkeit der Präsenz. Die Präsenz trennt sich dort von sich selbst, sie geht sich voraus und folgt sich nach, eine praes-entia, die aus sich selbst herausgeht und von Anfang an für immer über jegliches Wesen (essence) hinausgeht (excède): Ebendies heißt Existenz.320
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Das nackte Denken, S. 17. Das nackte Denken, S. 19 f.
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
Wenn es der besondere Sprachgestus, in dem diese Zeilen verfasst wurden, für einen Moment zulässt, nach dem Ausgesagten zu fragen, dann zeigt sich etwas Bemerkenswertes. Denn was Nancy hier ausdrückt, ähnelt dem Verständnis von Existenz, wie es sich seit den 1920er Jahren entwickelt. Oder kann sogar in einem weiteren Schritt festgestellt werden, dass es diesem gleicht? Das Sich-vorweg-Sein klingt ebenso an wie die Aufhebung einer Wesensbestimmung im Werden-Können sich selbst gründender Existenz. Eine Übereinstimmung liegt hier sicherlich vor. Nancy treibt das Denkmuster des Existentiellen jedoch auf die Spitze, weil er einen Aspekt fokussiert, der zwar auch zuvor in ihm enthalten war, ohne jedoch im Rahmen der Existenzphilosophie explizit benannt worden zu sein. Diese Eingrenzung ist erforderlich, weil sich mit Blick auf das existentialistische Denken Jean-Paul Sartres ein anderer Befund ergeben würde. Bisher konnte es so wirken, als würde die existentielle Bewegung zwar zu einer Befreiung aus herkömmlicher Wesensdeutung führen, dann aber, sobald diese erreicht ist, ihr dynamisches Potential nur noch in verminderter Intensität nutzen. So könnte der Eindruck entstehen, dass Existenz zwar performativ erreicht, aber eben doch erreicht wird, das heißt Existenz bleibt Existenz. So würde es in Zukunft eher um eine Erhaltung des Existenz-Status als um ständige Neu-Gründung gehen. Es gibt zwar bei Franz Rosenzweig den Gedanken des Immer-wieder-von-Neuem, der den Selbstwerdungsprozess begleitet, doch selbst ihm könnte mit der Frage begegnet werden, ob das Instrumentarium des existentiellen Werdens wirklich ununterbrochen und fortgesetzt anzuwenden ist. Es gibt einen Grund, der dagegenspricht. Denn immer wieder stoßen die Überlegungen auf den Begriff des Einzelnen. Sein Werden steht im Mittelpunkt existenzphilosophischen Fragens. Es spricht manches dafür, dass in dem Moment, in dem das Werden des Einzelnen beschrieben worden ist, die Aufgabe von Existenzphilosophie weitgehend erfüllt ist. Die im Rahmen der vorliegenden Betrachtungen formulierte Frage, wie Einzelne in einer Form von Gemeinschaft zueinanderfinden können, ohne ihre Besonderheit zu verlieren, beruhte auf dem Eindruck, den die betrachteten Texte hinterließen. Der Gedanke einer Sozietät Einzelner wäre vor diesem Hintergrund sinnvoll zu artikulieren. Als Beleg kann auf Heinrich Barths Begriff der Koexistenz hingewiesen werden. Als koexistent weist er Existierende aus, die sich als solche zu erkennen geben. Haben sie damit einen Status erreicht, den sie ausdrücken, oder muss sich ihr Existieren-Können immer wieder von Neuem bestätigen? Diese Frage wird nicht eigens thematisiert. Doch worauf deuten seine Äußerungen? Existenz, also seiner Auffassung nach Sein, das nur dem Menschen zukommt, eignet demjenigen, der den Gedanken des Transzendentalen in seiner Erkenntnis-fundierenden Bedeutung erfasst. Diesen Gedanken als solchen immer wieder von Neuem erfassen zu müssen, würde seiner Funktion widersprechen, die darin besteht, die Vielfalt der einzelnen Erkenntnisakte zu vereinheitlichen. Ist das Transzendentale gedacht, kann es folglich nur noch darum gehen, diese Erkenntnis immer
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V. Zur Form
wieder zu bestätigen. Eine grundsätzliche Infragestellung ist nicht mehr erforderlich, ob sie überhaupt möglich wäre, sei dahingestellt. In den Zeilen von Jean-Luc Nancy erleben wir nun die Radikalisierung des Gedankens von Existenz. Denn sie zeigen, dass Existenz darin besteht, sich immer wieder zu verwerfen und neu zu gründen, sich in der unendlichen Zirkulation zwischen dem Einen und dem Anderen sein zu machen. Um es noch einmal in aller Klarheit festzuhalten: Die Möglichkeit dieses Denkens hätte auch in den zuvor betrachteten Texten bestanden. Doch ist sie nicht mit jener Entschlossenheit ergriffen worden, der wir nun begegnen. So haftet dem Bild von Existenz, wenn auch in verstecktester Form, noch das Element der Befriedung an. Von Erfüllung zu sprechen, würde zu weit gehen, da deren Vorstellung zurückgewiesen wurde, doch der Gedanke der Befriedung ist damit nicht ausgeschlossen. Ein Blick zurück zum Stern der Erlösung kann hier helfen. Das Selbst ist so lange nicht Inbegriff des ganzen Menschen, wie es sich nicht zur Seele entwickelt hat. Sie kann diese Verwandlung nicht aus eigener Kraft vollziehen, sondern ist dafür auf ein Gegenüber angewiesen. Doch in jedem Fall steht etwas aus, das der Entfaltung bedarf. Befriedung wäre dann erreicht, wenn ein Seiendes das ihm Mögliche verwirklicht, wenn es existiert. Was zuvor für das Denken von Emmanuel Lévinas festgestellt wurde, gilt umso mehr nun auch für dasjenige Jean-Luc Nancys. Es soll nicht der Existenzphilosophie zugerechnet werden. Doch es greift Aspekte auf, die dort bislang unreflektiert und als Probleme ungelöst geblieben sind. Dazu zählt sicherlich die angesprochene Überlegung, ob Existenz als dauerhaftes Sein zum Werden – bereits an sich ein Paradox – betrachtet werden kann oder ob ihr doch eine Tendenz zur Situierung innewohnt, die letztlich das Entwurfs-Potential, das sie ursprünglich kennzeichnet, zum Stillstand kommen lässt. Nancy plädiert dafür, Existenz als «Präsenz» zu verstehen, womit jedoch keine identische Anwesenheit gemeint ist. Es wäre sogar irreführend, von der Existenz eines Individuums zu sprechen. Denn tatsächlich begreift er sie als Geschehen der Vergegenwärtigung, das sich «zwischen uns» vollzieht, indem der Raum, der eines vom anderen trennt, Präsenz-Raum der Anwesenheit wird. Nicht der Anwesenden, sondern ihrer Anwesenheit, die sich niemals konstant erhalten kann, da sie ein Zirkulieren von Erscheinung und Verschwinden ist. Diese Unterscheidung zu den Auffassungen, wie sie sich bisher zeigten, ist von entscheidender Bedeutung für die weiteren Überlegungen. Auch wenn Existenz bisher als Seins-Weise des Menschen betrachtet wurde, lag der Fokus ihrer Thematisierung doch auf der Existenz des einzelnen Menschen. Nancy geht im Gegensatz dazu davon aus, dass es sinnlos sei, von singulärer Existenz zu sprechen. Der Begriff bezeichnet jetzt die Geschehnisstruktur des «zwischen». Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass es «singuläre Präsenz» und eine «Pluralität von Existierenden» gibt. Doch treten diese nicht in ihrer Singularität in Erscheinung, sondern bilden Anfang und Ende des zwischen uns:
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
Aber auch eine praes-entia, die kein ‹Sein› mehr ist, sondern ‹Sein in/zu› (être à): in der Welt und somit in der unendlichen Pluralität der Existierenden, […]. Die Unendlichkeit ist folglich nicht anderen Wesens als das endliche Sein: Sie ist die Existenz selbst der praes-entia, […] mit anderen Worten die Nacktheit der Welt ohne Ursprung und Ziel/Ende, die sich voll und ganz sich selbst aussetzt.321
Fast unmerklich findet hier eine Wiedereinführung des Begriffes vom Sein statt. Gemeint ist damit jedoch kein ontischer Bestand und keine ontologische Kennzeichnung, die in irgendeiner Weise der Pluralität des Existierenden vorausgehen oder sie bedingen würde. Viel eher kann hier von einem Sein-Als gesprochen werden. Das Als benennt dabei keine Spezifizierung des Existierenden, die es von Anderem unterscheiden würde, sondern die Erfahrung, dass Sein immer nur als singulär-plural zu verstehen ist. So werden die Existierenden zu Bedingungen eines solchen Seins, indem sie als dessen Ermöglichungsfaktoren betrachtet werden können. Diese Funktion, die ihnen damit zufällt, dient jedoch keinem Zweck in dem Sinne, dass sie erforderlich wäre, um Sein zu konstituieren. Sie besteht stattdessen darin, das Bestehen bestandhaften Seins in jedem Moment auszusetzen. So schiebt sich eine Deutung in den Begriff von Sein, die kaum Vorbilder in der Geschichte seiner Denkbarkeit hat: Sein als permanenter Aufschub. Und zwar Aufschub seiner Möglichkeit, etwas anderes zu bedeuten als die ununterbrochene Vergegenwärtigung der Doppelstruktur vom Einen und Anderen. Bisher wurde in den Überlegungen an dieser Stelle von Bezogenheit und Verweisung gesprochen, um zu zeigen, in welcher Relation diese beiden zueinanderstehen können. Diese Formulierungen taugen nun nicht mehr. Denn das Eine und das Andere sind niemals anders als sich gegenüberstehend zu denken, ein Faktum, das sich auf die Konzeption des «Mit» im Sinne Nancys auswirkt. Bevor auf deren Bedeutung und die Figur des Singulär-Pluralen geschaut werden kann, ist eine Rückkehr zum Begriff des nackten Denkens sinnvoll. Es wurde in den einleitenden Sätzen dieses Kapitels als Entsprechung zu den Entwürfen des Denkens von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger vorgestellt. Denn ihnen ist die Bestrebung gemeinsam, dem Modell eines logisch-erkennenden Denkens, wie es in der philosophischen Tradition vorherrschte, eine neue Form entgegenzustellen. Über diese Form, die nicht nur Gestalt des zu Sagenden, sondern Gestalt des Gesagten selbst ist, schreibt Nancy: Was Denken nunmehr vollzieht, ist keine Operation, ja nicht einmal eine Aktion. Es ist eine Geste und eine Erfahrung. Eine Geste: ein Verhalten, eine Weise, sich irgendwohin zu bewegen oder etwas kommen zu lassen, eine Disposition […], die aller Bedeutungsherstellung vorausgeht. Eine Erfahrung: ein Überschreiten aller gegebenen Bedeutung
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Das nackte Denken, S. 20.
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und Annäherung an eine Realität, die der Sinn in seinen Netzen nicht festzuhalten vermag.322
Die Nähe, die diese Zeilen zu der Position Martin Heideggers zeigen, ohne sie vielleicht gesucht zu haben, ist unübersehbar. Festzustellen ist aber auch, dass jener die Bedeutung des Seienden in seiner je und je eigenen Gegebenheit anders einschätzt. Darauf wird zurückzukommen sein. Die Begriffe der Geste und der Erfahrung stellen aber auch unmittelbaren Bezug zum Verständnis des Neuen Denkens von Franz Rosenzweig her. Die deutlichste Gemeinsamkeit, die festgehalten werden kann, ohne damit vollständige Übereinstimmung zu behaupten, besteht in der Auffassung, dass sich etwas zu denken gibt. «Keine Operation, ja nicht einmal eine Aktion», so formuliert es Nancy. Für Rosenzweig und Heidegger würde sich dann allerdings die Bemerkung anschließen, dass uns dasjenige, das sich zu denken gibt, angeht. Gibt es auch dafür eine Entsprechung in der Konzeption von Nancy? Auf den ersten Blick will es nicht so scheinen: Das nackte, sich entziehende Denken denkt dies: Wir sind da für nichts, die Welt ist da für nichts, wir sind in der Welt für nichts – und genau dies will ‹in der Welt sein› sagen. Dieses ‹nichts› zu denken, heißt, das nackte Denken (pensée nue) zu denken: das Denken, das nur seinen Übergang zum anderen aufruft, ohne Intention, jenseits aller Intention, für nichts, nur dafür, unter uns zu sein, nur dafür, in der Welt zu sein – […].323
Ist dies die Haltung der Enthaltung, zu der Heidegger aufruft? Nicht um eines Zweckes willen zu denken, stellt nach seiner Auffassung das Merkmal des schonenden Denkens dar. Wie der Titel aber sogleich zu erkennen gibt, bedeutet das Sich-Enthalten eine ethische Verhaltensweise. Deren Sinn besteht darin, Seiendes in sein Sein kommen zu lassen, was bisher als Umschreibung dafür gelesen wurde, es nicht dem eigenen Wollen und Planen zu unterwerfen. Seiendes sein zu lassen, bedeutet in diesem Kontext nicht nur eine ethische Haltung, sondern die eigentlich ethisch zu nennende Haltung des Menschen. Zum Beleg kann noch einmal auf das Modell des Gevierts hingewiesen werden, das in seiner Gegenüberstellung des aufeinander Verwiesenen zu dieser Haltung aufruft. Denn durch den Entwurf dieses Modells wird sichtbar, dass alles in Bezug zu anderem steht, so dass jede Aktion unmittelbare Auswirkungen für die Mit-Seienden hat. Aus der Perspektive, die eine Lektüre von Nancys Text nahelegt, kann nun gefragt werden, ob es Heidegger um die Wahrung des Anderen als Anderes geht oder um den Raum, den ihre Gegenüberstellung markiert – dieser Raum, den er als «Kreuzungsmitte des Seienden» bezeichnet? Hier auf ein Entweder – Oder zurückzugreifen, ist unnötig und sogar unsinnig. Es kann schließlich die Kreuzungsmitte nicht gedacht werden, wenn das Seiende, zwischen dem sie sich situ322 323
Das nackte Denken, S. 11. Das nackte Denken, S. 41.
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
iert, eigenschaftlich individualisiertes Seiendes wäre. Das führt zu der Feststellung, dass Heidegger das Geviert als Strukturmodell des Seyns dient, in dem Seiendes als denkbar Mögliches, nicht als dieses Bestimmte erscheint. Dieser Punkt ist bereits mehrfach angesprochen worden und sollte doch hier noch einmal erwähnt werden. Wir befinden uns auf einer Ebene der Ermöglichung von Denkbarkeit, nicht der Wahrnehmung von Einzelnem. «Denken, das nur seinen Übergang zu anderem aufruft», so schreibt Nancy, und es ist erneut zu fragen, ob er damit Denken in der Kreuzungsmitte des Seienden benennt? Anders als Emmanuel Lévinas hatte er die Möglichkeit, die Schwarzen Hefte und die vor allem darin thematisierte Verwandlung des Denkens zur Kenntnis zu nehmen, die Heidegger fordert. In einer detaillierten Auseinandersetzung – nicht mit den Schwarzen Heften, sondern mit dem Brief über den Humanismus, in dem Heidegger 1946 auf eine Anfrage Jean Beaufrets reagierte, – geht Nancy auf dessen Feststellung ein, dass Denken Handeln sei. Um diese Spur zu verfolgen bietet es sich an, Handeln nicht als tätiges Agieren, sondern als ein Sich-Verhalten zu anderem zu verstehen. Und dieses liegt bereits in der Weise vor, in der wir denken. Zielunbedürftigkeit ist dabei für Heidegger wichtigstes Kennzeichen, da alle Zweckbindung Seiendes eben nicht sein lässt, sondern es in Anspruch nimmt. «In Wirklichkeit ist ‹Denken› der Name für das Handeln, weil es im Handeln um den Sinn geht. Das Denken […] ist keine herausragende Form des Handelns, […] sondern das, was in allem Handeln den Sinn (des Seins) ins Spiel bringt, ohne den es kein Handeln gäbe.»324 Den Sinn des Seins ins Spiel zu bringen, bedeutet nicht, dass von einem Sein auszugehen wäre, das besteht und dem im Nachhinein Sinn attestiert werden könnte. Sinn von Sein meint hier vielmehr Sein in seiner eigentlichen Bedeutung, nach Heideggerʼscher Terminologie: Seyn. Sein zu denken, bringt Seyn hervor, so könnte diese Auffassung ausgedrückt werden, wobei es klar ist, dass es nicht um Hervorbringung als Erzeugen geht, sondern um das Geben des Seyns, Geben als Gabe sinnhaften Seins.325 Bei Nancy klingt es folgendermaßen: «Die ‹Gegebenheit› aber ist genau die ‹Gabe des Wesens› […] , und zwar insofern, als das Sein sich hier wesentlich als Handeln des Sinns gibt.»326 Zur Sicherheit sei noch einmal betont, dass es hier nicht darum geht, sinnvolles Handeln zu empfehlen. Vielmehr ist das Denken, sofern es in der Weise seiner eigensten Möglichkeit verstanden wird, selbst Geschehen von Sinn. Es geht nicht als Planen und Abwägen einer sinnvollen Handlung voraus, die, wenn dieser Gedanke nur lange genug verfolgt wird, als moralisch wertvolle Handlung betrachtet werden kann. Es ist selbst wertvoll, weil es Das nackte Denken, S. 109. «Es gibt kein ‹faktisch Gegebenes›, bevor es die Gabe des ‹es gibt› selbst gibt. Es gibt keine ‹Tatsache› vor der Gabe des Seins, welches selbst die Gabe, oder die Preisgabe, an den Sinn darstellt.» Das nackte Denken, S. 114. 326 Das nackte Denken, S. 111.
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Sinn zu erkennen gibt, der nirgends sonst seinen Ursprung finden könnte als eben dort. Das Bild der Gabe findet sich bereits im Stern der Erlösung – kein Wunder in Anbetracht der vielfältigen motivischen Antizipationen, die dieser Text enthält. Rosenzweig verdeutlicht, dass das Seiende nicht Gegebenes ist, das «einfürallemal» da ist, sondern «Überraschung; […] immer neue Gabe; noch eigentlicher Geschenk, denn im Geschenk verschwindet das geschenkte Ding hinter der Gebärde des Schenkens».327 Hier wird die Deutungsdimension, die zum Begriff des Ethischen führen wird, klar sichtbar. Sich zu Seiendem zu verhalten, das heißt, Seiendes zu denken, ist ein übergreifender Prozess, der sich nicht in einer singulären Weise des Verhaltens erschöpft. Seiendes zu denken, teilt sich mit, wie Rosenzweigs Thematisierung der Sprache in diesem Zusammenhang zeigt, es schenkt sich dem Anderen, mit dem es den Raum des Seins bereitet. Besser wäre es noch zu sagen, dass es sich Anderem mitteilt, weil für diese Handlung nicht der bestimmte Andere gefragt ist, sondern der Nächste, «der mir vollgütig alle Welt vertritt».328 Nancy spricht in diesem Zusammenhang von der «Gabe des Wesens», was an Heideggers Gedanken erinnert, etwas in sein Wesen kommen zu lassen. In beiden Formen steht keine Vorstellung eines Wesens mit Mittelpunkt, das bestimmt, was etwas zu sein hat, bevor es ist. Wesen entsteht vielmehr in der Enthaltung vom zielbedürftigen Denken und fällt insofern mit Sein-Lassen zusammen, das eben nicht vorgibt, was zu werden habe, sondern ermöglicht, was immer schon möglich war, nur durch vielgestaltige Verhaltensweisen, die nicht Ausdruck eigentlicher Haltung sind, verdeckt wurde. Aber sind wir damit nicht beim Gedanken der Existenz angelangt, ohne ihn gerade zum Zielpunkt unserer Überlegungen gemacht zu haben? In seiner Kommentierung des Briefes über den Humanismus findet Nancy den entsprechenden Ausdruck: «Sie [die Existenz] ist ‹Ek-sistenz›, eine Weise oder ein Verhalten des Seins als ‹Außer›-sich-sein, das heißt als Sein-zum Sinn, was wiederum heißt: als Sinn-machen oder Handeln.»329 So faszinierend es auch ist, hier auf einen vertraut anmutenden Gedanken zu stoßen, bleibt doch nach Differenzen zu fragen, die ihn möglicherweise vom Existenz-Denken der 1930er und 1940er Jahre abheben. An diesem Punkt kann tatsächlich von Übereinstimmung ausgegangen werden, was insofern nicht überrascht, als Nancy sich auf Heideggers Brief bezieht. Und in welcher Weise geschieht es? Das Besondere an Texten, die sich in dekonstruktivistischer Weise präsentieren, besteht unter anderem in ihrem Umgang mit den Quellen, auf die sie sich berufen. Der Begriff des Berufens deutet an, dass es dabei nicht um Interpretation im Sinne der Rekapitulation des Geschriebenen geht, sondern um ein Anknüpfen 327 328 329
Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 263. Das nackte Denken, S. 114.
Dekonstruktion und Ausdruck – Jean-Luc Nancy
an Schriften, das einer anderen Intention und vor allem einer bestimmten Auffassung von Textualität folgt. Diese wird eben nicht mehr als Struktur der Sinnvermittlung verstanden, wobei dieser sich aus dem Gelesenen erschließen ließe. Ein Text ist ein Gefüge von Bedeutungs-Fragmenten, in dessen Figur jederzeit eingegriffen werden kann, um Verweisungen nachgehen – nachdenken – zu können, die er enthält. Der diesem Denken oder besser noch: diesem Schreiben bisweilen entgegengehaltene Vorwurf der Beliebigkeit trifft den Geist der Dekonstruktion nicht. Denn sie dient keinem Spiel von Assoziationen, in denen sich der Lesende einen Text förmlich aneignet. Vielmehr findet zwischen ihm und dem Verfasser des Textes, auf den er sich bezieht, eine Bewegung statt, die als die Bewegung des Zwischen bezeichnet werden kann. Erst das, was sich in dem Raum, der so entsteht, ereignet, kann als Geschehen von Sinn verstanden werden, also weder das vom Text scheinbar Vorgegebene noch das vom Interpreten daraus Entnommene. Das hohe Maß der Verflüchtigung vorschreibender Sinn-Aussagen macht das Verfahren der Dekonstruktion, das keinesfalls als Methode oder Stil zu bezeichnen ist, zu einem formalen Pendant der existentiellen Bewegung. Weniger bei Heinrich Barth, doch umso klarer bei Franz Rosenzweig und Martin Heidegger war die Suche nach einer Form erkennbar, in der diese Bewegung darstellbar wird, ohne in das Muster traditionellen Wesens-Denkens zurückzufallen. Linearität und Stringenz als Kennzeichen einer Argumentation, die auf die Vermittlung unbezweifelbarer Wahrheit zielt, finden sich im Neuen Denken nicht mehr. Der Stern der Erlösung, so könnte eingewendet werden, zeige diese Form aber noch, zumal er von seinem Verfasser selbst als «System» bezeichnet wurde. Dieser Einwand trifft auf die Gesamtkonzeption des Textes zu, nicht jedoch auf seine Binnenstruktur, die in thematischen Sprüngen und stilistischen Variablen die Bruchlinien eines Denkens auf dem Weg zur Fraktalisierung der Form zeigt. Bezugnahmen auf die Philosophie von Hegel und Kant, die noch am ehesten herkömmliche Methodik zu erkennen geben, stehen nahezu unvermittelt neben Verweisen auf biblische Texte und jüdische Liturgie wie auch neben fast bis zur Unkenntlichkeit reduzierten Anspielungen auf Kunst und Dichtung. Denn davon ist Rosenzweig überzeugt: Der existentielle Weg ist auch ein intellektueller Weg, womit nicht gemeint ist, dass er nur dem Kenntnisreichen offensteht, sondern dass er sich durch vielfältigste Bezüge individueller Standortbestimmung ausdrückt. Worin dieser Prozess seine Orientierungen und Markierungen im Denken, das für Rosenzweig immer auch ein Erfahren ist, findet, ist nicht entscheidend. Doch dass es eine Bewegung ist, die sich entfaltet und so sukzessiv, nicht linear zum Verstehen führt, ist von maßgeblicher Bedeutung, um sie als individuelle Bewegung kenntlich machen zu können. Diese Auffassung findet sich im Denken der Dekonstruktion, das auch als Denken der différance bezeichnet wird, wieder. Mit aller Vorsicht, die Bewertungen dieser Art angemessen ist, kann daher von einer formalen Fortsetzung des Neuen Denkens gesprochen werden. Stil und Sinn-Verständnis entsprechen sich
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in unübersehbarer Weise. Philosophiegeschichtlich wäre die Feststellung interessant, dass das Denken der Dekonstruktion dasjenige der Existenz abgelöst hat. Doch würde sie das Bild hervorrufen, dass es an dessen Stelle getreten ist, was letztlich das Ende des existentiellen Denkens bedeuten würde. Passender scheint es zu sein, von einer Fortsetzung zu sprechen, die die Frage nach dem Sinn der Existenz unter verwandelten gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Verhältnissen formuliert. So klingt es wie eine spätere, doch grundsätzlich demselben Verständnis verpflichtete Feststellung, wenn Jean-Luc Nancy erklärt: «Von nun an ist es an uns, uns von neuem dem zu nähern, was weder Wissenschaft noch Religion noch Philosophie ist – was nicht ein Sinn gibt, der auszutauschen wäre, sondern was der Sinn des Austauschs oder der Austausch selbst als Sinn ist: unser gemeinsames Existieren.»330 Es wurde von grundsätzlicher Übereinstimmung gesprochen, die sich zwischen diesen Zeilen und dem Verständnis von Existenz zeigt. Diese Einschränkung war insofern wichtig, als sich in den Worten von Nancy eine Akzentuierung zeigt, die über den Schwerpunkt existentiellen Denkens hinausweist. Es steht außer Frage, dass es um «unser gemeinsames Existieren» geht. Die Gewichtung dieser Feststellung ist deshalb extrem, weil sie im Kontext einer programmatischen Erklärung artikuliert wird. Es steht damit nicht mehr die Frage nach der Existenz-Möglichkeit des Einzelnen im Mittelpunkt, sondern nach dem Faktum der Gemeinsamkeit. Diese besteht nicht zunächst als Möglichkeit, die unter günstigen Bedingen und willentlicher Befürwortung verwirklicht oder auch durch entgegengesetzte Faktoren verhindert werden kann. Der Gedanke der Gemeinsamkeit erweist sich vielmehr als Bedingung des Seins-Denkens. Insofern verwundert es nicht, dass sich Nancy immer wieder auf den Begriff des Mit-Seins bezieht, den Heidegger in Sein und Zeit eingeführt hat. Dass eine solche Bezugnahme auch noch nach dem Erscheinen der Schwarzen Hefte nicht abgebrochen wurde, ist Nancy zum Teil mit großer Vehemenz vorgeworfen worden. Darin bestätigt sich einmal mehr die Problematik aktueller Heidegger-Deutungen, auf die bereits hingewiesen wurde. Können und dürfen wir uns noch auf Aspekte seines philosophischen Denkens beziehen, weil wir sie als Aspekte philosophischen Denkens betrachten, dessen Artikulation nicht per se Ausdruck nationalsozialistischer Ideologie ist? Die Position, die Nancy vertritt, scheint eindeutig. Würde der Begriff des Mit-Seins aus diesem Grunde ein unerwünschter Begriff werden, wäre eine wichtige Grundlage, auf der Sein heute diskutiert werden kann, verloren. Für Nancy ist das Sprechen von Sein mit der Aussprache des «mit», das es fundamental kennzeichnet, identisch. Dass dieses nicht in Deckungsgleichheit mit Heideggers Erwähnung des Mit-Sein geschieht, wird sich nun zeigen. Für die vorliegenden Überlegungen zeichnet sich damit bisher folgender Stand ab: Wird nach der Form gefragt, in der existentielles Denken kon330
Das nackte Denken, S. 49.
Mit-Sein
zipiert werden kann, ergibt sich eine starke Parallele zwischen Dekonstruktion und Neuem Denken. In beiden drückt sich, wie auch Nancys Worte zeigen, der Wille zu einer Ermöglichung des Denkbaren jenseits der formalen Grenzen der Philosophie aus. Für beide resultiert daraus letztlich eine Position am Rande des Diskurses, die zwar selbst gewählt ist, doch die Rezeption in nicht unerheblichem Maße beeinträchtigt. Diejenigen, die sich diesem Denken verbunden fühlen, teilen dessen Anspruch, da er Ausdruck eigener Erwartungen an Philosophie ist. Doch einer Diskussion im weiteren Umfeld ist diese eigene Standortbestimmung nicht unbedingt zuträglich.
Mit-Sein Zum Einstieg in die weiteren Betrachtungen ist ein Rückblick auf Martin Heideggers Erwähnung des Mit-Seins in Sein und Zeit sinnvoll. Ausgangspunkt ist dort die Nennung des «In-der-Welt-seins» zum Zweck der Analyse der «Weltlichkeit der Welt». Mit ihr ist die Frage nach dem «Wer des alltäglichen Daseins» verbunden.331 Die Hinführung zum Begriff des Mit-Seins erfolgt über den Hinweis auf den Anderen, der als der Gebrauchende der Dinge, die sich zeigen, immer mit diesen zugleich erscheint. Diese Feststellung wird wichtig werden: «Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang ‹begegnenden› Anderen werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese ‹Dinge› begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind, welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist.»332 Die Anderen begegnen folglich nicht in einer Weise, die dem Erscheinen der Dinge entsprechen würde, sondern sind diesem insofern vorgängig, als die Bedeutung, in der sie erscheinen, durch die Anderen bestimmt ist. Wenn an dieser Stelle ein weiterer Rückgriff auf Rosenzweigs Denken erfolgen sollte, dann besteht er in dieser Ergänzung: Dinge werden zu diesen Dingen erst durch die Benennung, die der Mensch vornimmt. Die Vorgängigkeit einer Sinn-Beziehung ist damit in beiden Sichtweisen angelegt, wenn zugestanden wird, dass Benennung und Gebrauch der Dinge als ein Moment von Sinn-Setzung zu betrachten sind. Wichtig ist dabei, dass es nicht um die spezifische Benennung oder den bestimmten Gebrauch geht, sondern um die Möglichkeit, überhaupt Bezüge dieser Art zu Seiendem zu schaffen. In ihrer strikt formalen Struktur, wie sie sich bei Rosenzweig und Heidegger findet, ist diese Ansicht davor geschützt, als Anzeichen menschlicher Priorität im Sein gewertet zu werden, aus der dann etwa ein unreflektierter Nutzungsanspruch von Welt abgeleitet werden könnte. Die Welt, in der Dinge erscheinen und in ihrem Erscheinen auf den Anderen verweisen, ist «schon immer 331 332
Sein und Zeit, § 26, S. 117. Sein und Zeit, § 26, S. 118.
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die meine», so heißt es in Sein und Zeit. Hieraus könnte nun eine Besonderung des «Ich» gefolgert werden, von dem alles Fragen nach dem Anderen und damit dessen Kennzeichnung ausgehen könnte. Heidegger greift dieser Annahme vor: Zur Vermeidung dieses Mißverständnisses ist zu beachten, in welchem Sine hier von ‹den Anderen› die Rede ist. ‹Die Anderen› besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, unter denen man auch ist. Dieses Auch-da-sein mit ihnen hat nicht den ontologischen Charakter eines ‹Mit›-Vorhandenseins innerhalb einer Welt. Das ‹Mit› ist ein daseinsmäßiges, das ‹Auch› meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. ‹Mit› und ‹Auch› sind existenzial und nicht kategorial zu verstehen.333
Aus der Auflistung der drei Klassifizierungsmöglichkeiten, unter denen das Mit der Anderen gesehen werden könnte, bleibt am Ende nur die Kennzeichnung als «existenzial» übrig. Damit wird auf jene Ebene der Betrachtung des Seins gedeutet, in der dessen Sinn zur Diskussion steht. Der Begriff des Sinns steht bei Heidegger in engster Verbindung zu dem der Bedeutung. So kann gefragt werden, was es bedeutet, dass Seiendem diese oder jene Möglichkeit seins-relevanten Werdens zur Verfügung steht. Denn Existentialien sind allgemeine Kennzeichnungen des Seins, die zur Bezeichnung innerweltlicher Möglichkeitsstrukturen dienen. In der Welt drückt sich aus, was dem Denken als existential, das heißt seins-relevant, erscheint. In zwei Formalisierungsschritten konstatiert Heidegger dann: «Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen.»334 Noch einmal ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um formale Bestimmungen handelt, die das Mit als ein Auch-Da fassen. Dieses bedingt ein ursprüngliches «Verständnis Anderer», womit nicht das Kennen dieses oder jenes anderen Menschen gemeint ist, sondern das Wissen um das Sein Anderer, das dem eigenen Sein in seiner Weise, sein zu können, entspricht. Der Raum des Sein-Könnens, den Heidegger hier angibt, ist der Raum der Welt, in dem Sein eigentlich es selbst werden kann. Diese existentiale Bestimmung trifft für das Mit-Sein zu. «Als Mitsein ‹ist› daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.»335 Damit wird nicht behauptet, dass etwa die Anderen dem Dasein Sinn geben, den der Einzelne zu respektieren und zu erfüllen hat. Es geht an dieser Stelle überhaupt nicht um die Frage konkreter Verhaltensweisen, sondern um die Bestimmung des Seins durch sein Mit. So steht in Sein und Zeit auch nicht die Frage im Mittelpunkt, welche Konsequenzen sich aus dem Denken des Mit-Seins eventuell ergeben könnten. Denn Existentialien haben keine Konsequenzen. Es handelt sich um allgemeine Aussagen über Sein, die allenfalls einen Bedeutungszusammenhang aufzeigen, in dem Handlungen als sinnvoll oder bedeutsam er333 334 335
Sein und Zeit, § 26, S. 118. Sein und Zeit, § 26, S. 118. Sein und Zeit, § 26, S. 123.
Mit-Sein
scheinen können. «Der Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit ist festgemacht im Sein des Daseins zu seinem eigensten Sein, […] das vielmehr das Sein ist, worumwillen das Dasein selbst ist, wie es ist.»336 Diese knappen Bemerkungen zu Heideggers Verständnis des Mit mögen genügen, um den Hintergrund zu Jean-Luc Nancys Auffassung zu bilden. Dieser führt aus, was nicht im Kontext der vorliegenden Betrachtungen, vermutlich jedoch mit Blick auf eine bisweilen geäußerte Meinung überraschen wird: Nur ein blindes Lesen oder der komplette Verzicht auf die Lektüre hat glauben können, dass Heidegger ethische Fragestellungen fremd seien. […] Es gibt keine ‹Moral› bei Heidegger, wenn man darunter einen entweder autoritativ oder durch – kollektive oder individuelle – Wahlentscheidungen festgelegten Korpus von verhaltensleitenden Prinzipien versteht. […] Denn hier wie auch sonst lautet die allererste Bestimmung eines Denkens, und insbesondere eines Denkens in Bezug auf ‹Ethik›: Mittels ebendieses Denkens selbst zu denken, gleichzeitig aber auch mit dem oder ausgehend vom Anderen zu denken.337
Was hier wie eine doppelte Aufgabe erscheinen mag, die ein Denken von einem Denken mit dem Anderen unterscheidet, erweist sich tatsächlich als ein und derselbe Akt, da es nach Heideggers Bestimmung, der Nancy folgt, nicht möglich ist, Dasein ohne den Anderen zu denken. Ebenso wenig ist es möglich, Denken vom Handeln unterscheiden zu wollen, da beide darin übereinkommen, Sich-Verhalten im Sein zu sein. Sich im Sein zu verhalten, ist jedoch nicht mit einem Handeln identisch, das sich auf Seiendes bezieht. Es geht diesem vielmehr voraus, nicht im Sinne temporärer oder kausaler Vorgängigkeit, sondern in der Weise grundsätzlicher Ausrichtung. In seinem Brief über den Humanismus geht Heidegger auf die an ihn gerichtete Frage ein, wann er eine Ethik schreiben werde. Zwar kann er das Bedürfnis, aus dem ein solches Fragen entstanden ist, angesichts der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen nachvollziehen, erteilt dem Projekt als solchem jedoch eine Absage. Dies geschieht nicht aus mangelnder Bereitschaft, sondern weil alles zum Verständnis von Ethik Notwendige bereits in seiner Ontologie gesagt ist. Insofern geht es der Unterscheidung in Theorie, die begründet, und Praxis, die Regeln der Umsetzung formuliert, voraus. Ohne Ergebnis und ohne Wirkung genügt das Denken des Seins «seinem Wesen, indem es ist».338 Diese Feststellung Heideggers könnte in der Tat als eine Weigerung gelesen werden, sich mit den Nöten, die zum Verlangen nach einem Praktisch-Werden des Denkens führen, auseinanderzusetzen. Es könnte der Eindruck entstehen, als würde er sich auf die Warte seines Seins-Denkens zurückziehen und letztlich genau das tun, was Rosenzweig der Philosophie vorwarf: zur Not des Menschen nur «leeres Lächeln» zu zeigen. Eine solche Einschätzung würde 336 337 338
Das Sein und das Nichts, § 26, S. 123. Das nackte Denken, S. 104 und S. 107. Brief über den Humanismus, S. 42.
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allerdings den Gedanken des Mit-Seins, den Heidegger in Sein und Zeit zur Kennzeichnung der Beschaffenheit des Seins verwendet, außer Acht lassen. Hier setzen Jean-Luc Nancys Aussagen ein, die in dieser Feststellung gipfeln: «Heideggers Denken selbst hat sich durch und durch als eine Fundamentalethik entworfen.»339 Bereits fünf Jahre zuvor erklärte er in seinem ersten größeren Text singulär plural sein, dass alles spätere Denken «in der Schuld» der existentialen Analytik in Sein und Zeit stehe, ganz gleich, in welcher Nuancierung die Auseinandersetzung damit erfolge. In dieser Klarheit ist die Bedeutung der Heideggerʼschen Konzeption selten artikuliert worden, die nicht strikte Vorgabe des ZuDenkenden, sondern Herausforderung des Denkens selbst ist, denn sie hat «das seismische Beben eines endgültigen Bruchs in der Konstitution und Betrachtung des Sinns vorgenommen[…]. Gerade deshalb übrigens ist sie nicht vollendet, sondern die von ihr ausgelöste Erschütterung ist bis zu uns spürbar.»340 Und an früherer Stelle heißt es: «Wir müssen die Fundamentalontologie […] noch einmal aufnehmen – und dieses Mal entschieden ausgehen vom singulär Pluralen der Ursprünge, das heißt ausgehen vom Mit-sein.»341 Damit hat Nancy den Rahmen aus Verwurzelung und eigenem Anspruch abgesteckt, in dem sich sein Denken bewegen wird. Dabei wird er aufgreifen, was von Heidegger letztlich mehr benannt als erläutert wurde, und den Gedanken des Mit-Seins, der in Sein und Zeit als Konstitutionsmerkmal des Seins eingeführt wurde, nun seinerseits auf seine Struktur hin untersuchen. Hierbei rückt er einen Aspekt des Denkens vom Mit-Sein in den Vordergrund, den Heidegger weitgehend unkommentiert ließ: den Begriff des «Ursprungs». Dieser Gedanke begegnet uns nicht zum ersten Mal, doch seine herausragende Akzentuierung versammelt zuvor Angedachtes nun zu einer grundsätzlichen Erklärung des Seins. Eines der Kennzeichen existentiellen Denkens besteht in seiner Ablehnung einer vorgegebenen Wesensbestimmung, der gemäß menschliches Sein verstanden werden kann. Stattdessen liegt die Besonderheit eines Seins, das als Existenz gedeutet wird, darin, in Entscheidung und Entwurf die Entwicklung zum eigenen Sein, das ein So-Sein ist, einleiten zu können. Im Kontext dieser massiven Umwertung menschlicher Seins-Möglichkeit hatte sich auch gezeigt, dass vom Sinn der Existenz nur unter Voraussetzung ihrer Entwicklungsspontaneität gesprochen werden kann. Der Mensch folgt nicht einer Sinngebung, die etwa mit der Erschaffung der Welt oder der Proklamation des Seins einhergehen würde, sondern setzt Sinn individuell und situativ. Die sich anschließende Frage musste dann aber lauten, ob diese Sinn-Setzung nur für ihn oder auch für den anderen Menschen, ja vielleicht sogar für alle Menschen relevant ist? Heinrich Barth ist derjenige Denker, der diese Frage wohl am leichtesten beantworten kann. Denn 339 340 341
Das nackte Denken, S. 107. singulär plural sein, S. 141. singulär plural sein, S. 52.
Mit-Sein
indem er zeigt, dass Sinn-Setzung Bezug des Denkens auf das Transzendentale ist, bestätigt jeder individuelle Denk-Akt, der seiner Auffassung nach mit dem existentiellen Akt identisch ist, die Sinnhaftigkeit des so gesetzten Sinns. Eine Stellungnahme zu dieser Frage, die ähnlich dezidiert wie bei Barth ausfallen würde, findet sich weder bei Franz Rosenzweig noch bei Martin Heidegger. Damit ist nicht gesagt, dass die Begriffe Sinn und Bedeutung in ihren Konzeptionen keine Rolle spielen, sondern nur, dass sie den Übergang vom individuellen Wirken zur Wirksamkeit auf das Miteinander nicht in vergleichbarer Form reflektieren. Wenn ein Denker hinzugezogen werden sollte, der nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Überlegungen steht, dann wäre es Jean-Paul Sartre. Auf seine knappen Bemerkungen zur Geltung individuell gewählter Werte für die gesamte Menschheit wurde bereits kurz geschaut. Die weitaus umfassenderen Ausführungen zu diesem Thema finden sich in Das Sein und das Nichts, wo sie unter dem Begriff des «Für Andere Seins» erörtert werden. Jean-Luc Nancy wendet sich nun explizit der Frage zu, welche Bedeutung das Wirken des existentiell Einzelnen haben kann, und kommt zu dem Ergebnis, dass die Vorstellung eines solchen Einzelnen im Grunde unmöglich ist. Denn in seinem Sein ist er immer Mit-Seiender. Bisher liefen die Aussagen, die sich auf die ausgewählten Texte stützten, vor allem darauf hinaus, dass eine potentielle Existentialität durch das Mit-Sein anderer bedingt ist, womit das Sein als Einzelner zur erstrebenswerten Seins-Weise des Menschen wird. Der Aspekt des Ursprungs dieser existentiellen Bewegung schien nicht von vorrangigem Interesse zu sein, da es darum ging, die Ermöglichung der Existenz-Gewinnung zu erklären. Der Sinn der Existenz wurde folglich in einer Bewegung der Separation vermutet, die den Einzelnen zumindest vorübergehend von den Mit-Seienden distanziert. Aus dieser Perspektive betrachtet, werden vielleicht sogar jene Vorbehalte gegen das Seins-Denken nachvollziehbar, die Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas – wenn auch aus unterschiedlichen Intentionen – artikulierten. Denn aus dem Begriff des Seins lässt sich ihrer Überzeugung nach kein Aufschluss über den Sinn der Existenz gewinnen. Dieser ereignet sich, um den Titel eines wichtigen Werkes von Lévinas aufzugreifen, «Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht». Derartige Vorbehalte gegen den Gedanken des Seins, die vielleicht eher Martin Heidegger als dem Begriff selbst gelten, weist Jean-Luc Nancy entschieden zurück. Dieser Gedanke muss lediglich auf seine Struktur-Konsistenz hin befragt werden. Sein ist nur in einer einzigen Weise sinnvoll zu denken: als «singulär plural». Da damit den wichtigsten Einwänden bereits ein Stück weit vorgegriffen ist, besteht keinerlei Notwendigkeit, einen «Ausweg aus dem Sein» zu suchen, um das Problem möglicher Koexistenz klären zu können. Am offensichtlichsten wird diese Deutung des Begriffes in ihrer Anwendung auf die Frage nach Sinn. Bisher wurde sie durch die Antwort gelöst, dass Sinn durch den Menschen gesetzt werden kann, weil diese Möglichkeit seinem Sein entspricht. Nancy präzisiert nun, indem er auf die Beschaffenheit des Seins-Denkens selbst zurück-
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V. Zur Form
blickt, eine Perspektive, die vor allem für Lévinas nicht in Betracht gekommen wäre. Sein ist nur als Mit-Sein denkbar, so dass die Frage nach dessen Sinn auch nur über den Aspekt des Mit-Seins beantwortet werden kann. Für die Sprachfindung, die sich dieser Thematik anzunähern sucht, bedeutet dieses, dass Sinn weder verliehen noch gefunden, sondern «geteilt» wird: Es gibt keinen Sinn, wenn der Sinn nicht geteilt wird, nicht, weil es eine –letzte oder erste – Bedeutung gäbe, die allen gemeinsam wäre, sondern weil der Sinn selbst als Teilen (partage) des Seins ist. […] Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert.342
Der Ausdruck «Zirkulation» wurde bereits gestreift. An dieser Stelle weist Nancy ihm nun zentrale Funktion zu, die dazu beitragen soll, den Geschehnischarakter der Sinn-Formation zu beleuchten. So wird diese nicht etwa in einem linear verlaufenden Verwirklichungsprozess zu erreichen sein, sondern in dem Raum des Zwischen, der zwischen Mit-Seienden immer schon besteht. Dort zirkulieren Bezüge in unendlicher Vielfalt,343 weshalb von der Sinn-Formation gesprochen wurde. Denn in diesem Raum, der allein aus dem Denken des Mit zwangsläufig folgt, da Mit nur zwischen getrennt Seiendem denkbar ist, bestätigt sich die Formierung von Sinn als Form des Seins. Dass in dieses Zirkulieren tatsächlich alles Seiende eingeschlossen ist und nicht nur der Mensch in der exzeptionellen Stellung seines Existieren-Könnens, zeigt sich in folgenden Worten: «Alle Dinge, alles Seiende, alles Existierende, […] die Steine, die Pflanzen […] und ‹die Menschen›, sprich, diejenigen, die Teilen und Zirkulation als solche exponieren, indem sie ‹wir› sagen, indem sie zu sich wir sagen in jedem möglichen Sinn des Ausdrucks, und indem sie zu sich wir für die Totalität des Seienden sagen.»344 Die Annahme einer Totalität von Seiendem hätte sich für Emmanuel Lévinas strikt verboten. Denn aus ihr hätte der Anspruch folgen können, alles Seiende unter die Verfügbarkeit subjektiven Denkens zu bannen. Der Unterschied zu dem Begriff, wie er nun bei Nancy auftaucht, ist jedoch zu berücksichtigen. Lévinas verstand den Gedanken der Totalität als Produkt eines Denkens, das auf der Rückführbarkeit alles Denkbaren auf das kognitive Zentrum des Selbst-Bewusstseins basiert. Der Begriff der Totalität ist jenem des Seins hinzugefügt. Für Nancy bezeichnet dieser Begriff hingegen die Summe des Seienden, die als unendlich verstanden werden kann. Er ist damit bereits im Denken des Seins enthalten. Im Denken des Seins, diese Formulierung ist insofern wichtig, als damit ausgeschlossen wird, dass von einer Begrenztheit des Seins zu sprechen ist. singulär plural sein, S. 20 f. «Es gibt keinen anderen Sinn als […] den Sinn der Zirkulation – und diese dringt gleichzeitig in alle Richtungen, durch die Präsenz in die Präsenz, in alle Richtungen aller offenen Raum-Zeiten.» singulär plural sein, S. 21. 344 singulär plural sein, S. 21. 342 343
Mit-Sein
Diese würde auch Nancy negieren. Das «wir», das wir aussprechen, ist keine Bekundung des Willens zur Gemeinschaft, die aus einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Solidarität entspringt, sondern zunächst lediglich eine SeinsAussage. Und diese kann nicht anders als in dieser Form stattfinden, weil Sein auszusagen immer bedeutet, das Mit-Sein auszudrücken. Eine Seins-Aussage in dieser Form ist zugleich das Aussprechen von Sinn. Da dieses jedoch nicht auf Anhieb einleuchten mag, hält es Nancy für angebracht, nach dem Ursprung dieser Gleich-Setzung zu forschen. Dieser liegt im Gedanken der Alterität, jedoch nicht so verstanden, dass er die Unterscheidbarkeit des Einen vom Anderen bezeichnet, sondern so, dass er auf die Pluralität in einander verweist. Dieses InEinander findet sich nicht im Begriff des Seins, sondern in demjenigen der Welt. Mit Blick auf den Ursprung, der nach Nancy das Verstehen von Sinn bedeutet, kann daher festgehalten werden: «Es geht nicht um Anderes […] als die Welt, es geht um Alterität – oder Alteration – der Welt.»345 Welt ist nicht anders als etwas, sondern sie ist in jener Alterität denkbar, die der Begriff des Mit-Seins anzeigt. Aus existenzphilosophischer Warte verwundert diese Ansicht keineswegs. Denn dort ging es, von einigen Ausnahmen abgesehen, darum, einen Bezug der Welt auf ein Außerhalb, dem sie Sein und Sinn verdankt, für unnötig zu erklären. Letztlich liegt darin auch der Reiz, den dieses Denken noch immer ausübt: Aus dem uns unmittelbar Zugänglichen zu erklären, was immer der Erklärung bedarf. Erneut könnte eingewendet werden, dass doch Franz Rosenzweig sehr wohl auf ein Anderes der Welt als Anderes des Seins Bezug nimmt, wenn er von der Schöpfung spricht. Der Sache nach ist dieser Einwand, wie sich bereits mehrfach gezeigt hat, berechtigt, wenn mit der Vorstellung von Schöpfung automatisch der Gedanke des Anders-Als ihrer Ursache verbunden ist. Rosenzweig minimiert die Folgen dieser Annahme insofern, als er das Geschehen der Seins-Gestaltung in den Mittelpunkt rückt, nicht dessen Erstverursachung. Alles, was an Sinnhaftem, das heißt an existentiell Relevantem von ihm beschrieben wird, ereignet sich in diesem gestaltungsfähigen und gestaltungsbedürftigen Sein. So wird die Vorstellung Gottes – aus theologischer Sicht gewiss nicht unproblematisch – so weit wie irgend möglich in das Geschehen integriert, das Nancy als Zirkulation im Raum des Zwischen bezeichnet. Und als wollte dieser selbst auf den gerade formulierten Einwand eingehen, schreibt er zum Begriff der Schöpfung in «jüdischer-christlich-islamischer Gestalt»: Wenn die ‹Schöpfung› eben diese singuläre Ex-Position des Seienden ist, dann ist ihr wahrhafter Name Existenz. Die Existenz ist die Schöpfung – unsere Schöpfung –, der Ursprung und der Zweck, die wir sind. Dieses Denken ist das Denken, welches uns am notwendigsten ist: Wenn es uns nicht gelingt, es zu denken, finden wir keinen Zugang zu
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singulär plural sein, S. 33.
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V. Zur Form
dem, was wir inzwischen sind, wir, die wir nichts anderes mehr sind als ‹wir› in einer Welt, die nichts mehr ist als Welt […].346
Diese Beschreibung trifft das In-der-Welt-Sein exakt, jedoch nicht als ontologische Bestimmung verstanden, sondern als Sein, das uns angeht, wie unter Rückgriff auf einen Begriff der Existenzphilosophie ergänzt werden kann. Diese Welt, die «nichts mehr ist als Welt», spiegelt Sein, das nichts ist als Sein – Être singulier pluriel. Hierbei handelt es sich nicht um eine eigenschaftliche Bestimmung, die zu anderen Bestimmungen hinzutreten könnte. Es ist vielmehr die einzige Kennzeichnung des Seins. «Singulär plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen (co-essence). […] Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will.»347 Dasjenige, das in der Teilung erkennbar wird, im Mit-einander-Teilen, das zugleich Diversifikation des Seienden bedeutet, ist keine Facette des Seins, die ihm unter anderem zufällt, sondern unter Anderen seiend, mit einander seiend, Sein im Mit der sich pluralisierenden Differenz: Nehmen wir also den Faden wieder auf: Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem Sein als Mit-einander seiend. Singulär plural: derart, dass eines jeden Singularität von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tatsächlich und im Allgemeinen Singularität von Pluralität nicht zu trennen ist.348
Die zuletzt erwähnte Begründung, wonach vom Singulären nur dann sinnvoll zu sprechen ist, wenn ihm der Gedanke des Pluralen kontrastiert wird, wirkt fast überflüssig angesichts der zuvor getroffenen Feststellung ontischer Inklusion. Eine Vorgängigkeit jedweder Art, die ein Wissen um das Sein zum Verständnis des Seienden erfordert, erübrigt sich in dieser Sichtweise. Wie nahe Nancy damit letztlich der Auffassung Heideggers kommt, wird sichtbar. Denn wozu sonst diente diesem die Frage nach dem Sinn von Sein als dazu, auf die Bedingung hinzuweisen, unter der Sinn im Sein gebildet werden kann. Die auf den ersten Seiten von Sein und Zeit vorgenommene Zurückweisung der an traditioneller Ontologie orientierten Frage nach dem Sein ist formal interessant, hätte jedoch auch noch im Kontext ontologischer Argumentation diskutiert werden können. Allein der Wunsch, das Geschehen von Sinn in das Sein des Seienden, das immer interaktiv miteinander verbunden ist, zu verlegen, erfordert die Artikulation einer Fundamentalontologie. Denn nur sie, davon ist zumindest Heidegger überzeugt, kann den Ursprung des Sinns im Seienden aufzeigen, das Einzelnes, doch im Bezug Verbundenes ist. 346 347 348
singulär plural sein, S. 41. singulär plural sein, S. 59. singulär plural sein, S. 61.
Mit-Sein
In Sein und Zeit mag es noch so erscheinen, als würde die Bestimmung des Mit-Seins eine Bestimmung des Seins sein, womit sie hart an der Grenze zur Eigenschaftlichkeit rangiert. Diese Gefahr einer Deutung, die trotz entgegengesetzter Absicht doch in die Spurbreite ontologischen Denkens zurückfällt, sieht JeanLuc Nancy als besonders drängend an, so dass er ihr zu begegnen sucht. Die obigen Zeilen zeigen seinen Vorschlag, wie ein solches Vorgreifen gelingen kann. Wird etwa gefragt, was das Sein über das Seiende hinaus sein könnte, würde die Antwort nun lauten, dass es den Charakter des Seienden zu erkennen gebe, MitSein zu sein. Der Begriff der «Mit-Wesentlichkeit», der soeben angesprochen wurde, ohne reflektiert werden zu können, ist nun noch einmal aufzugreifen. Wenn das Sein in nichts über das Seiende in seinem Mit hinausgeht und es daher einzig als Mit-Sein angesprochen werden kann, besteht keine Möglichkeit, die Frage nach dem Wesen des Seins zu beantworten, die nicht ebenfalls über das Konstatieren des Mit führen würde: «Aber man muss an die Skizze [des MitSeins in Sein und Zeit] noch einmal herangehen und die Linien soweit nachziehen, bis deutlich wird, dass die Mit-Wesentlichkeit des Mit-Seins nichts Geringeres ins Spiel bringt als eine Mit-Ursprünglichkeit des Sinns – […].»349 So viel hat sich bereits abgezeichnet: Sinn wird nach Nancys Deutung dem Seienden weder im Voraus aus einer Wesens-Bestimmung noch im Nachhinein aus einer Begründung aus der Erfahrung attestiert. Er besteht vielmehr mit-ursprünglich, da er nicht von der Bewegung der Zirkulation, in der sich das Zwischen des Getrennten doch Mit-Seienden konstituiert, zu unterscheiden ist. In einem Text aus dem Jahr 1993 mit dem Titel Le sens du monde – Der Sinn der Welt präsentiert er diesen Gedanken in engster Verknüpfung mit dem Begriff der différance. Präsentieren heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass ein abgeschlossenes Produkt vorangegangener Überlegungen in der Erwartung vorgestellt wird, dass die Lesenden es in seiner Gänze aufnehmen und ihm bestenfalls zustimmen. Der Sinn des so Vorgestellten wäre in dem Moment erfüllt, in dem die Präsentation beendet wird, denn es ginge um die Aufnahme des Gedachten, das in einer Form dem Gegenüber dargeboten wird, die vielleicht hier und da auf Unverständnis, doch niemals auf grundsätzlichen Zweifel stößt, der der Darstellungsform gilt. Was immer der Aufnehmende mit dem Präsentierten anfängt, ob er es zum Bestandteil seiner eigenen Konzeptionen macht oder es vielleicht sogar keines weiteren Gedankens würdigt – der Sinn der Vorstellung ist erfüllt, denn das Präsentierte deckt sich exakt mit seiner Form: in sich geschlossen, nachvollziehbar, auf keine Fort-Setzung angelegt. Im vorliegenden Kontext von Präsentieren zu sprechen, meint im Gegensatz zu dieser Sichtweise, einen Gedanken zu vergegenwärtigen. Er gibt nicht vor, wie ihm zu folgen ist, fordert kein Verständnis, dessen Grenzen exakt den Begrenzungen des Gedachten entsprechen. Der in diesem Sinn verwendete Begriff des Präsentierens deutet 349
singulär plural sein, S. 141.
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eher auf ein Darbieten, eine Geste der Einladung, am Denken selbst teilzunehmen. Die Relation, die der Darbietende und der Eingeladene miteinander einnehmen, unterscheidet sich fundamental von derjenigen, die ein Verfasser und sein Leser zeigen. Bereits in der Wahl der Form eines Textes kündigt sich das elementare Verständnis des Mit-Seins an. Denn dieses basiert nicht mehr auf der Annahme einer Angewiesenheit, in der der Eine dem Anderen etwas schuldig ist, sondern auf der Überzeugung der Gleich-Ursprünglichkeit beider. Gleich-ursprünglich im Sein heißt aber auch, dass es keine Priorität des Seins mehr zu denken gibt, die aus seiner ontischen Beschaffenheit abzuleiten wäre. Gleich-ursprünglich im Sein bedeutet ebenso wenig, dass hier ein Begriff in seiner allgemeinen Aussagefunktion verwendet wird, der bezeichnet, was immer ist. Es deutet vielmehr auf die Gewissheit, dass Sein nur in seiner Relationalität besteht. Die Annahme kausaler oder logischer Vorgängigkeit erübrigt sich vor diesem Hintergrund. Alles, was über das Sein ausgesagt werden kann, bezieht sich auf den gegenwärtigen Moment, in dem sich ereignet, was sich im Mit-Sein ereignen kann: das Sich-Zeigen von Sinn. Auf diesen Moment spielt der Begriff des Präsentierens an. Es ist das eine, diesen Gedanken zu entwerfen, das andere, ihn zu artikulieren. Denn eine Form etwa der systematischen Darlegung würde zwar von Vergegenwärtigung von Sinn sprechen, ihn jedoch nicht hervorrufen können. JeanLuc Nancy verweist auf genau dieses Verständnis von Sinn, wenn er schreibt: Von Sinn zu sprechen heißt nicht, die Kategorie der Wahrheit aufzugeben oder geringzuschätzen. Man wechselt vielmehr das Register. Die Wahrheit ist das So-Sein (l’être-tel) oder genauer, sie ist die Eigenschaft der Präsentation des So-Seins, und zwar so als solches (l’être tel en tant que tel). Der Sinn, seinerseits, ist die Bewegung des Sein-zu, oder das Sein als Kunft (venue) in die Präsenz, […].350
Es ist mithin nicht so, dass eine Wahrheit besteht, die als Sinn eines Geschehens oder einer Aussage erkannt wird. Sie entsteht vielmehr im Zuge der Präsentation von Sinn. Damit grenzt sich diese Auffassung vor allem von zwei Deutungen des Begriffes von Wahrheit ab. Sie wird weder als Ausdruck unbezweifelbarer Gewissheit verstanden noch als Produkt eines logischen Urteilsaktes. Im ersten Fall wäre sie dem, worüber sie ausgesagt werden soll, vorgeordnet, im zweiten Fall dem Bestehen der Begriffe, über deren Zugehörigkeit sie urteilen soll, nachgeordnet. Niemals wäre sie dem von ihr Gekennzeichneten gleich-ursprünglich – in ihm präsent. Vielleicht wäre es hilfreich, angesichts dieser massiven Bedeutungsverschiebung eher von Bewahrheitung als von Wahrheit zu sprechen, da so das Entstehen im Moment der Sinn-Ereignung ausgedrückt würde. Denn genauso verhält es sich nach Nancys Auffassung mit dem Sinn des Seins: Er ist diesem weder vorgängig, weil er beispielsweise durch einen Schöpfungsakt geschaffen ist, noch nachgeordnet, weil er als Qualität erfolgter Seins-Artikulationen verstanden 350
Der Sinn der Welt, S. 23.
Mit-Sein
wird. Er entsteht aus der Zirkulation, in der sich der Eine und der Andere in unaufhörlicher Annäherung umeinander formieren. Die «Kunft», die in obigen Zeilen erwähnt wird, bezeichnet den Raum des Zwischen, der das Mit-Sein kennzeichnet. Es ist nicht an diesem oder jenem Ort, sondern abwesend in der Präsenz. Mit einigen Vorbehalten könnte in traditioneller Begrifflichkeit davon gesprochen werden, dass das Zwischen das Mögliche des Seins ist. Sogar für Denker der Existenz war diese Benennung noch akzeptabel, als es für sie darum ging, Existenz von Sein zu unterscheiden. Sie ist die Möglichkeit des Seins, die ein Mensch, jeder Mensch, verwirklichen kann. Doch darin liegt der Aspekt des Gedankens der Existenz, der sie in ihrer bestehenden Form als problematisch zeigen kann. Mit dem Gedanken der Verwirklichung geht allzu schnell die Vorstellung einher, dass das Potential des Möglichen im Augenblick seiner Realisierung ausgeschöpft ist. Für Emmanuel Lévinas und Jean-Luc Nancy, um nur diese beiden zu nennen, ist das ein unhaltbarer Gedanke. Die Versuche von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, Verwirklichung als Prozess darzustellen, greifen ihrer Ansicht nach bei Weitem nicht tief genug. Noch immer besteht die Möglichkeit, Existenz als Sein zum Werden in der Wahrheit zu deuten, wodurch ihr dynamischer Charakter ganz offensichtlich eingegrenzt würde. Denn so würde Existenz als jene Bewegung verstanden, in der sich der Einzelne seiner Bestimmung annähert. Und tatsächlich taucht dieser Begriff selbst noch im Werk von Heinrich Barth auf. Es zählt zu den Bruchstellen der Existenzphilosophie, dass sie zwar die traditionelle Vorstellung vom Wesen, das den Entwicklungsgang im Sein vorgibt, theoretisch ablehnt, eine eindeutige Distanzierung jedoch nicht recht zu gelingen scheint. Denn noch immer wirkt die existentielle Bewegung eher wie eine Bewegung auf etwas hin, als ein aus dem Sein heraus. Damit ist wohlgemerkt kein Bezug zum Denken von Emmanuel Lévinas gemeint, der den Gedanken des Seins grundsätzlich überwinden will. Es geht hier nicht darum, das Sein zu fliehen, sondern genau im Gegenteil, aus seinem Grund zu agieren. Die Formensprache eines Denkens, das sich in dieser Weise von Existenzphilosophie abhebt, muss diese Abhebung nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern selbst vollziehen, um vor der Gefahr gefeit zu sein, selbst wiederum in die Muster des Wesens-Denkens zurückzufallen. Ein Ursprung der Sprache der différance kann hier gesehen werden: Sie nicht als ein erworbenes Konzept behandeln, denn sie ist ‹weder Wort noch Begriff›. Nicht den Fetisch, den Schlüssel oder das Siegel eines irgendwo hinterlegten Sinns daraus machen. Sie ist – wenn sie ‹ist› – der Index des Sinns als abwesender Sinn ohne Entbehren von Sinn. Es ist also – oder es ist nur eine Schreibwendung, die man unentwegt neu schreiben, umschreiben (transcrire) muss, und die man daran hindern muss, um sich geschlossen zu bleiben und dabei Sinneffekte zu schaffen […].351
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Der Sinn der Welt, S. 53.
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Den Begriff der différance führte Jacques Derrida in dieser charakteristischen Schreibweise ein, um jene Öffnung des Textes als vermeintliche Form der SinnVermittlung zu erreichen. Text ist nicht mehr Form, sondern Geschehen, in dem vor allem auch die Terminologie dem Ziel der Sinn-Verweigerung dient. Dass damit keine generelle Negation von Sinn gemeint ist, ist offensichtlich. Nur jenes Verständnis, das ihn als vorgängig oder nachgeordnet, also nicht als präsent, betrachtet, ist zu verabschieden. Was für den Gedanken der Wahrheit zutrifft, gilt gleichermaßen für den Begriff vom Sinn. Verfasser und Leser eines Textes werden zu Repräsentanten des Einen und des Anderen, die im Sein, das Mit-Sein ist, gleich-ursprünglich bestehen. Folglich kann die Aussage eines Textes, sein Sinn, auch nur gleich-ursprünglich entstehen. Dasjenige, das im Miteinander entsteht, ist jedoch nicht als ein ein für alle Mal bestehender Sinn zu verstehen, sondern von Augenblick zu Augenblick variiert seine Kontur. Insofern ist das InfrageStellen so unabdingbar für seine Artikulation wie diese selbst. Es ist kein Zufall, dass zum widerholten Male die Erinnerung an Franz Rosenzweigs Auffassung denken lässt, Wahrheit solle sich bewähren. Es ist kein Zufall, dass Martin Heideggers unablässige Bemühungen einfallen, Endgültigkeit im Moment des Offenbar-Werdens einer Einsicht auszuschließen. So deutet er an, dass jedem derartigen Moment ein Sich-Verschließen folgen muss, um die seins-getragene Bedeutung von Wahrheit immer wieder von Neuem zu vergegenwärtigen. Denn auch er geht davon aus, dass diese kein Testat ist, das etwa über das Sein ausgesprochen werden kann, sondern dass sie je und je aus dem Geschehen von Sein – «in der Kreuzungsmitte des Seienden» – entsteht. Obwohl beide in ihren Schriften außergewöhnlichen Willen zur formalen Erneuerung zeigen, sind ihre Versuche, Text dem Seins-Verständnis analog zu fassen, nur ein erster Schritt auf einem Weg mit offenem Ende. Dass beide aus ihrer je eigenen Perspektive das bestehende Konzept von Philosophie hinterfragen und es für erneuerungsbedürftig erklären, ist angesprochen worden. Kein Einzelfall, so könnte eingewendet werden. Denn Philosophie fordert ein beständiges Überprüfen des Instrumentariums und der Ausrichtung von Theoriebildung, so dass letztlich die meisten Entwürfe als Reaktion, mitunter auch als Ablehnung bestehender Konzeptionen zu begreifen sind. So berechtigt dieser Einwand grundsätzlich auch ist, ist doch eine Differenzierung unerlässlich. Nicht jede neue philosophische Theorie verfolgt das Ziel, Philosophie in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Traditionsbindung zu prüfen. Für Rosenzweig, Heidegger, Lévinas und Nancy ist genau diese Tauglichkeitsprüfung unumgänglich, da sie alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln an der Funktion der Vernunft und der ihr dienenden Erkenntnis zweifeln. Rosenzweig und Heidegger setzen zum Zweck der neuen Formatierung philosophischen Denkens, das nicht zwangsläufig mit der Philosophie als Strukturgefüge identisch ist, auf den Begriff der Erfahrung, der Erkenntnis ergänzen und zum Teil sogar ersetzen soll. Erfahrung spielt sich in ihren Darstellungen jedoch eher im existentiellen Geschehen und erst in recht rudimentärer Form auch im Ge-
Mit-Sein
schehen der Text-Erfahrung ab. Hier setzt Jean-Luc Nancy eindeutig einen anderen Akzent. Der Begriff der Erfahrung wird von ihm zwar nicht in exponierter Stellung verwendet. Doch die Gestaltung seiner Texte schafft das, was Rosenzweig und Heidegger ankündigten: die Erfahrung im Text. So ist der Gedanke des Mit-Seins kein Theorem mehr, über das zu urteilen ist, sondern Geschehen im Zwischen, das in diesem Fall den Namen des Lesens trägt. Inwieweit Nancy glaubt, diese Auffassung dem Korpus des bestehenden philosophischen Diskurses hinzufügen zu können, zeigt die folgende Passage, die seine Erläuterungen des Begriffes der différance beschließen: Zweifellos hat diese summarische Skizze zur Erhellung der différance noch eine zu sehr phänomenologisch-konstituierende Wendung. Die Kunft […] verlangt etwas anderes – und zweifellos zunächst ein Kommenlassen und Aufkommen, eine – notwendig unfähige – Fähigkeit zur Überraschung des Sinns und auch dazu, ihn gehen zu lassen. Diese andere Wendung, wenn es denn eine gibt, ist an den Grenzen […] der Philosophie, ist indes weder Wissenschaft noch Dichtung. Ist also noch Philosophie. Wie die Philosophie in ihrem Ende immer noch Philosophie ist, […] oder wie sie […] über sich hinausgeht.352
Darin, über das bestehende Konzept von Philosophie, dessen hier vorausgesetzte Homogenität vielleicht gar nicht besteht, hinauszugehen, sind sich vor allem Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und Jean-Luc Nancy einig. Dazu ist es erforderlich, auch über jene Sprache hinauszugehen, die seit der Antike als Ausdruck der Wahrheitsfindung dient und den Sinn dieser Suche vermittelt. In kaum gekanntem Ausmaß rückt damit die Frage nach der Form des Gedankens als Erscheinung des Textes in den Fokus der Aufmerksamkeit und verlangt nach Gestaltungskriterien des Geschriebenen, die es aus seiner sekundären Funktion befreien. Denn selten wurde zuvor im Rahmen westlicher Rationalität Text als etwas anderes betrachtet denn als Träger der Aussage. Nun wird er selbst zur Aussage. Dass es sich bei dieser Umdeutung beileibe nicht nur um eine stilistische Neuerung handelt, hat sich bereits abgezeichnet. Was sie für den Versuch, Ethik der Existenz zu formulieren, bedeutet, gilt es nun zu fragen.
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Der Sinn der Welt, S. 55.
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VI. Ringen um das Sein
Obwohl zumindest die ersten der drei hier vorgestellten Denker im Wissen darum, dass eine derartige Zuordnung nicht unproblematisch ist, dem Kontext der Existenzphilosophie zugerechnet werden können, sind doch zum Teil erhebliche Unterschiede innerhalb ihrer Theorien und ihrer Methodik sichtbar geworden. Am deutlichsten wurde diese Differenzen bei der Frage nach dem Sein. Das Ringen um diesen Begriff verbindet alle Denker, deren Konzeptionen hier betrachtet werden, wobei es nicht immer darum ging, ihn für das eigene Verständnis von Existenz fruchtbar zu machen. Während Rosenzweig, Heidegger und Nancy dieses Ziel verfolgten, ging es Barth und Lévinas um dessen Ablehnung, deren Motive sich wiederum drastisch unterscheiden. Für Heinrich Barth besteht die Besonderheit existentiellen Denkens darin, es auf einen Gedanken der Begründbarkeit zurückführen zu können, den er im Begriff des Transzendentalen ausgedrückt findet. Der Bezug allen Erkennens auf die Einheit gewährende Setzung dieses Gedankens verhindert seiner Überzeugung nach, dass die unbegrenzte Vielfalt individueller Erkenntnisakte in ein zusammenhangloses Nebeneinander mündet, das Erkenntnis ebenso unmöglich erscheinen lässt wie Verstehen. Angesichts dieser Ausrichtung seiner Konzeption von Existenzphilosophie, die seiner eigenen Auskunft nach eine Philosophie der Erkenntnis ist, leuchtet es ein, dass er an einer Vorstellung von Sein, die aus seiner Sicht allenfalls die Frage materialer Grundlegung der Erkenntnistätigkeit klären könnte, nicht interessiert ist. Seine Einstellung zum Seins-Gedanken verbleibt jedoch nicht in neutraler Gleichgültigkeit, sondern führt zu einer recht heftigen Ablehnung, die sich vor allem auf Heidegger als den vermeintlichen Urheber der zurückzuweisenden Seins-Deutung bezieht. Dabei ist es schwierig einzuschätzen, welche Texte Heideggers ihm bekannt waren. Seine Formulierungen zeigen eindeutig Bezugnahmen auf Sein und Zeit. Was ihm darüber hinaus als Grundlage seiner Ablehnung gedient haben könnte, ist unklar. Mit Blick auf seine eigene Konzeption von Existenzphilosophie – eine der wenigen, die von ihrem Verfasser selbst so bezeichnet wurde – wäre ein Revidieren seiner Bewertung allerdings auch dann nicht zu erwarten gewesen, wenn er nachweisbar spätere Schriften Heideggers einbezogen hätte. Sein Begriff des Transzendentalen ist denkbar, ohne dass eine Klärung des ontologischen Status der Denkenden hätte vorausgehen müssen. Kritisch grenzt er sich von nicht benannten existenzphilosophischen Entwürfen ab, die es seiner Ansicht nach versäumen, sich eindeutig von ontologischen Einflüssen zu distanzieren, die die
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VI. Ringen um das Sein
Sichtweise dessen, was Existenz ist, möglicherweise eintrüben könnten. Seiner Interpretation nach kann Existenz als das Verstehen der sinn-setzenden Funktion der Erkenntnis begriffen werden. Diese Zuspitzung des existentiell Kennzeichnenden, die er explizit durch die Feststellung unterstreicht, dass es sich dabei um die Seins-Weise des Menschen handelt, bekräftigt die ohnehin vorherrschende Meinung, menschliches Sein sei Sein besonderer Art. Die naheliegende Folgerung, es daher auch als Sein einzigartiger Dignität betrachten zu können, versucht er zwar aufzuhalten, doch allein schon in der Vorstellung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen gründet eine klare Wesens-Differenzierung, die ihn aus dem Kreis des Seienden exponiert – kein Nachteil nach Barths Verständnis, sondern genau das Gegenteil. Die Möglichkeit einer solchen Exposition des Menschen würde unter Umständen durch dessen Betrachtung vor ontologischem Hintergrund beeinträchtigt. Denn in seiner Beschaffenheit erfordert der Begriff des Seins keine qualitative Diversifizierung dessen, was von ihm bezeichnet wird. Im Grunde würde er sie sogar ausschließen, da Sein als Vorfindlichkeit weder Quantifikation noch differenzierende Wertigkeiten erlaubt. Beides wird erst in dem Augenblick denkbar, wenn Sein eigenschaftlich konnotiert als Seiendes verstanden wird. Erkenntnisfähigkeit im Sinne Heinrich Barths wäre eine solche Eigenschaft, die ausschließlich dem Menschen eignet. Ist aber erst einmal diese Befähigung thematisierbar, aus der dann ein verbindendes Element menschlicher Erkenntnisakte konstruiert werden kann, ist der Bezug auf die Vorstellung vom Sein, das Grund und Verbundenheit alles eigenschaftlich Bestimmbaren sein könnte, überflüssig. Es muss nicht mehr nach dem Seins-Status des Menschen gefragt werden, um seine Erkenntnisfähigkeit, die für Barth mit seiner Befähigung zur Existenz identisch ist, erklären zu können. Es hatte sich jedoch bereits angedeutet, dass der Ausschluss der Seins-Vorstellung zwar gut im erkenntnistheoretischen Kontext funktioniert, sich im ethischen Zusammenhang aber als problematisch erweisen kann. Barth verwendet große argumentative Sorgfalt auf den Nachweis, dass die Bedeutung des Transzendentalen in der Bestätigung der Fähigkeit besteht, aus der existentiellen Entscheidung auf ein ihr inhärentes Sein-Sollen zu schließen. Wird dieses durch die Denkbarkeit des Transzendentalen gerechtfertigt, könnte von einem absolut Anderen ausgegangen werden, das menschlichem Erkennen Sinn verleiht. Soll die Bedeutung des Transzendentalen erst durch menschliche Sinn-Setzung denkbar werden, wäre ihre einheit-stiftende Wirkung nicht mehr einleuchtend. Denn nur deshalb, weil alle Menschen grundsätzlich dazu in der Lage sind, diesen Gedanken zu bilden, ist seine Bedeutung nicht bestätigt. Würde nach dem moralischen Wert der auszeichnenden Bestimmung der Existenz, sinn-setzendes Erkennen zu sein, gefragt, würde sich zeigen, dass er auf einer Entscheidung beruht, zu der jeder Mensch kraft seiner Vernunftbegabtheit fähig wäre. Dann könnte jedoch gefragt werden, warum überhaupt existentiell gedacht werden sollte? Was trägt
VI. Ringen um das Sein
diese spezifische Akzentuierung zu einem Konzept der Erkenntnis, das auf der Voraussetzung der Rationalität beruht, noch bei? An mehreren Stellen hat sich gezeigt, wie Barth dieses Andere der Relevanz, das existentieller Erkenntnis theoretischer Erkenntnis gegenüber zugesprochen werden kann, deutet. Es zeichnet sich als Form individueller Bedeutungs-Erfahrung ab, insofern eine Erkenntnis den Erkennenden «angeht», das heißt ihn nicht unberührt lässt. Ein wenig überraschend wird auf diesen Aspekt jedoch hingewiesen und zwar nicht nur deshalb, weil er nicht zu erwarten war, sondern auch deshalb, weil er im Grunde keiner Erwähnung bedurft hätte. Die Konsistenz der Erkenntnisakte, die Barth als «theoretisch» bezeichnet, ist bereits durch den Bezug zum Begriff des Transzendentalen sichergestellt. Hier kann der Hinweis auf eine existentielle Bedeutung nichts Nennenswertes beitragen, das nicht bereits erwiesen ist. Zudem ist nicht völlig einsichtig, ob es sich um ein und denselben Erkenntnis-Akt handelt, dem über die theoretische Legitimation hinaus nun auch noch existentielle Bedeutung zukommt, oder ob Barth hier von zwei distinkten Erkenntnis-Formen ausgeht. Sollte dieses der Fall sein, wäre zu überlegen, wodurch die Akte existentiellen Erkennens ihre Konsistenz beziehen und ob diese überhaupt zu erwarten ist? Wird in allgemeiner Weise Erkenntnis als Einsicht in das sinn-setzende Wirken des Menschen verstanden, kann damit zwar eine provisorische Annäherung der beiden Erkenntnis-Varianten erreicht werden. Letztlich wird sie allerdings dadurch wieder infrage gestellt, dass von einer Sinn-Stiftung nur mit Blick auf theoretische Erkenntnis gesprochen werden kann. Hier wird der Bezug des Denkens zum Begriff des Transzendentalen wirksam, insofern Sinn als das Sich-immer-wieder-Bestätigen der Möglichkeit dieses Bezuges erfasst wird. Was käme dem entsprechend im Fall existentieller Erkenntnis in Betracht? Es könnte auf den Bezug des Gedachten auf das individuelle Erleben hingewiesen werden. Eine solche Rückkoppelung wäre in der Tat belangreich, da sie das Denken des Transzendentalen davor schützen könnte, reines Konzept der Sinn-Bestimmung zu werden, was aus existenzphilosophischer Sicht nicht unbedingt erstrebenswert wäre. Existentielle Erkenntnis könnte dann immer noch als Sinn-Bestätigung interpretiert werden, indem sie aus dem meta-theoretischen Element der Gültigkeit unter Ausschluss jeden Falsifikationsrisikos auf die SinnSetzungs-Fähigkeit des Menschen schließen könnte. Diese wäre durch Ausblendung individuierender Faktoren, wie sie beispielsweise die spezifische Situation eines Menschen darstellt, zu bestätigen, würde damit jedoch gerade diejenigen Faktoren, die den Menschen aus sonst vertretener existenzphilosophischer Warte zum Einzelnen machen, schwerlich berücksichtigen können. Und wenn dafür plädiert würde, dass das Denken des Transzendentalen Inhalt existentieller Erkenntnis ist? Dann würde zwar dessen Bedeutung als existentiell relevant aufgezeigt, die Frage aber, was dann noch als Eigenes dieser Erkenntnis übrig bliebe, würde umso schwerer wiegen. Der Aspekt des Angehens würde schließlich kaum noch erklärbar sein.
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Die Furcht davor, eine doppelte Wahrheit denken zu müssen, weil sich die beiden Quellen, aus denen sie entspringen könnte, nicht vereinheitlichen lassen, trieb manchen Gelehrten der Scholastik um. Denn unweigerlich droht daraus die Notwendigkeit einer Priorisierung der einen oder der anderen Quelle – der Wissenschaft nach aristotelischem Vorbild oder des Glaubens. Entfernt erinnert die Doppelung des Erkenntnis-Begriffes von Heinrich Barth an dieses intellektuelle Dilemma, da auch hier eine Vereinheitlichung von theoretischer und existentieller Erkenntnis nur unter einer schwer aufrechtzuerhaltenden Prämisse durchführbar wäre, nämlich dann, wenn Letztere die Bedeutung Ersterer für den einzelnen Menschen erweisen sollte. Das Modell einer Existenzphilosophie ohne Bezugnahme auf den Gedanken des Seins führt somit ihre eigene Problematik vor. Der Spannungsbogen zwischen transzendentaler Einheitsbegründung und existentieller Bedeutung scheint auf zwei Fundamenten zu ruhen, die zu weit voneinander entfernt sind, um überzeugend in Relation gedacht werden zu können. Erkenntnis und das Sich-angehen-Lassen sind diese Fundamente, deren Distanz nicht aus eigenem argumentativen Potential überbrückbar zu sein scheint. So würde es möglicherweise einer Konzeption bedürfen, der beide subsumiert werden könnten. Hierfür käme vermutlich nur der Ausblick auf religiöses Denken in Betracht, dem Barth jedoch keine zentrale Bedeutung zuweist. Lediglich in einer extrem komprimierten Betrachtung wird ihre mögliche Annäherung an Existenzphilosophie thematisiert. Wird hingegen, um diesen Gedankengang abzuschließen, existentielle Erkenntnis als Erweiterung der theoretischen Erkenntnis verstanden, wie es gerade erwähnt wurde, bleibt der vage Eindruck, dass eine der beiden Formen überflüssig ist. Das Denken des Transzendentalen bedarf keiner Ergänzung, falls es eine solche denn überhaupt zulässt. Das existentielle Denken wiederum war in seiner Gründungsphase gerade angetreten, um Erkenntnis durch Erfahrung zu ergänzen und soweit möglich im Kontext existentieller Gültigkeit sogar zu ersetzen. Erfahrung wurde besonders von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger nicht als Erschließungsform empirischer Realität verstanden, sondern als persönliches Erleben affektiver Natur. Allein dieses Verständnis hat es gerechtfertigt, sie in die Konzeption des Neuen Denkens zu integrieren. Denn Aussagen zur Erfahrung im ersteren Sinne lagen in Theorien der Philosophie bereits vor und trugen dort zur Fundierung jener Bildungsbedingungen des Allheits-Gedankens bei, gegen den ein neues Konzept der Begründung existentiellen Verstehens in Position gebracht wurde. Die Ablehnung der Seins-Vorstellung bei Emmanuel Lévinas zielt zwar auf den ersten Blick auf dessen Formulierung in Sein und Zeit, gilt aber in erweiterter Perspektive vor allem der Zurückführung des Anderen auf ein Selbes. Dieses wird nicht als ein sich selbst Gleichbleibendes verstanden, wie es etwa im Bild eines Subjekts zu sehen ist, das über die Zeit hinweg mit sich identisch bleibt. Ein Selbes steht vielmehr für den Gedanken der Einheit, ist also nicht personaler, sondern konzeptioneller Natur. Hierin sieht Lévinas die wohl größte Bedrohung
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von Beziehungen, die seiner Auffassung nach von Gleichheit geprägt sein sollten. Dabei fällt auf, dass Gleichheit kein Ideal ist, das es durch entsprechendes Verhalten zu erwirken gilt, sondern eine Grundtatsache dessen, was als Sein zu bezeichnen wäre, wenn sich dieser Begriff für Lévinas nicht als so problematisch erweisen würde. Bereits in seiner frühen Schrift Ausweg aus dem Sein beschreibt er das Faktum des Seins als Last, der der Mensch zu entrinnen sucht. Dieser Text, 1935 erschienen, zeigt noch die deutlichste Nähe zum existentialistischen Denken, wie sich allein anhand des Motivs des Ekels angesichts der Seins-Verwurzelung bestätigt, den Lévinas noch vor Jean-Paul Sartres Thematisierung benennt. Hier geht es noch in verstärktem Maße um die Beschreibung einer emotional-affektiven Reaktion und weniger um die Kritik einer philosophischen Konzeption. Spätestens mit Totalität und Unendlichkeit steht sie im Mittelpunkt. Wie hängen aber die Begriffe von Totalität und Sein zusammen? Durch die Vorstellung der Einheit, die beide evozieren. Als Totalität versteht Lévinas jenes Ziel, das alles Erkennen verfolgt. Denn es strebt danach, die Mannigfaltigkeit des Noch-nicht-Erkannten unter Voraussetzung seiner Erkennbarkeit zu einem Gesamt des Wissbaren zu komprimieren. Unnötig ist der Hinweis, dass dieses Verfahren nur unter Ausblendung individuierender Merkmale zum Erfolg führen kann. Die Erkennbarkeit wird eben nicht in jedem neuerlichen Akt des Erkennens aus empirischer Grundlage ermittelt, sondern sie wird vorausgesetzt. Damit erfüllt Erkenntnis nach Lévinas’ Beurteilung exakt jenes Muster der Zurückführung eines Anderen auf ein Selbes, das schon Franz Rosenzweig ablehnte, allerdings mit einer abweichenden psychologischen Konnotation. Denn Lévinas akzentuiert den Gedanken, dass das Selbe sich seiner selbst im Anderen zu vergewissern suche und daher von dem Begehren getrieben werde, im Anderen nur das zu finden, was als bekannt betrachtet werden könne. Das generelle Problem der Erkenntnis als Totalität stiftende Bewegung verschmilzt an dieser Stelle mit einer Sichtweise, die noch an Ausweg aus dem Sein erinnert. In den späteren Schriften rückt allerdings die Dimension ethischen Fragens in den Fokus, insofern das Identifizierungsbestreben des Selben im Anderen als Verhaltensweise der Ungerechtigkeit ausgewiesen wird. Anstatt in der Erkenntnis des Anderen ein Gegenüber zu finden, das sich der Vereinnahmungstendenz widerstandslos preisgibt, zeigt dieser nun seine Wehrhaftigkeit, die zur Unterweisung des Selben wird. Das, worin es unterwiesen wird, ist die Einsicht in die abständige Relationalität, durch die es mit dem Anderen verbunden ist, ohne ihm jemals gleichkommen zu können. Die Uneinnehmbarkeit des Anderen, die seine Alterität absolut setzt, wird häufig als Schutz betrachtet, der die gewaltsame Übernahme durch das Ich verhindert. Daraus könnte der Eindruck entstehen, als ginge es Lévinas nur um die Darstellung dieser Selbst-Behauptung des Anderen, die ihn vor der Vereinnahmung durch den Selben bewahrt. In einer konkreten Situation des Einander-Begegnens bedeutet das, dass die Eigenschaftlichkeit des Anderen das Erkennen des Ich unendlich übersteigt. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um
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einen einseitig funktionierenden Mechanismus, der ausschließlich Konsequenzen für den Anderen bewirkt. Für das Ich bedeutet die Unmöglichkeit, sich mit dem Anderen zum Zweck der Selbst-Vergewisserung zu identifizieren, das unbegrenzte Aussetzen der Möglichkeit, Selbst-Bewusstheit als Erkenntnis-Totalität zu begreifen. Denn der Andere steht nicht mehr als Projektionsfläche zur Verfügung, auf der sich das Ich bestätigt findet. Doch in welcher Weise bestätigt? Aus JeanPaul Sartres Das Sein und das Nichts ist eine vergleichbare Auffassung bekannt, die die Bedeutung des Anderen für die Bewusstheit des Selbst-Seins hervorhebt. Dort ist es relativ eindeutig, dass die gesuchte Selbst-Vergewisserung dem veränderlichen Sein in der Zeit geschuldet ist, insofern momenthafte Reflexionen des So-und-nicht-anders-Seins immer nur durch die zeitgleiche Präsenz des Anderen erfolgen können. Seine Funktion für die Bildung des Selbst-Bewusstseins ist damit elementar. Doch was versucht das Ich nach Lévinas im Anderen bestätigt zu finden? Weder sein Sein noch sein So-Sein kommt hierfür in Betracht, weil diesem damit eine – wenn auch marginale – Bedeutung zuerkannt würde. Lévinas’ Darstellung läuft auf den Begriff der Erkenntnis hinaus. Die Erkennbarkeit des Anderen wird aus der Selbst-Erkenntnis des Ich gefolgert, womit dieses eine Gleichheit des Anderen mit sich behauptet. Dieses ist nicht die Gleichheit, die als erstrebenswerte Qualität menschlicher Relationen bezeichnet wurde. Es handelt sich vielmehr um eine Gleichheit, die dadurch entsteht, dass das Ich in der Erkenntnis des Anderen auf sich schließt. Gilt es also, die Rückführbarkeit des Unbekannten auf das Bekannte zu verhindern, weil damit dem Noch-nicht-Bekannten seine Eigenständigkeit abgesprochen würde, müssen beide als gleich in ihrer absoluten Trennung vorgestellt werden. Doch selbst Trennung bedarf des gemeinsamen Grundes. An diesem Punkt könnte sich eine Schwierigkeit im Denken von Emmanuel Lévinas zeigen. Von Trennung zu sprechen, macht nur dann Sinn, wenn es die Unmöglichkeit des Zusammenfallens in Eines meint. Auf welcher Ebene der Betrachtung könnte sich dieses Risiko aber zeigen? Für Lévinas ist es vornehmlich die Ebene der Erkenntnis als Identifizierungsprozess verstanden. Dennoch verweist er auf die seiner Überzeugung nach inakzeptable Konzeption des Seins, das er als statisches Sich-gleich-Bleiben interpretiert. Aus diesem Blickwinkel provoziert der Seins-Begriff seiner Ansicht nach den heftigsten Widerspruch. Denn dieser wird zum Inbegriff der Totalisierbarkeit im Erkennen, der er durch die Vorstellung unendlicher Widerständigkeit des zu Erkennenden entgegenwirken will. Im Erkennen wird somit ständig versucht, jener sich gleichbleibenden Präsenz des Seins nachzustreben, des Seins zumindest, wie es Lévinas versteht. Dieser Vorstellung einer erstarrten Totalität setzt er daher das Bild der unendlich unerfüllt bleibenden Bewegung entgegen, in der die Selbst-Vergewisserung des Ich ständig ausgesetzt wird, weil sich der Andere fortwährend dem Bestreben, ihn als bekannt vorauszusetzen, entzieht. Doch welche Funktion fällt in diesem Konzept wirklich dem Begriff des Seins zu?
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Werden-Können Schon Franz Rosenzweig, der hier nicht als Problemlöser schlechthin, sondern als höchst bemerkenswerter Denker zitiert wird, brach die Vorstellung einer starren Vorfindlichkeit des Seins dadurch auf, dass er auf dessen Gestaltungs-Bedürftigkeit hinwies, die aus seiner Gestaltungs-Fähigkeit resultiert. So bezeichnet der Begriff hier die Tatsache, dass etwas ist, das der Formung bedarf. Aus religiöser Sicht konnte er diese Auffassung freilich im Sinne einer Beauftragung deuten, die an den Menschen als denjenigen, der dem Sein zugehört, ergeht. Der teleologische Aspekt, der damit der Vorstellung des Seins als des zu Gestaltenden inhäriert, insofern diese in zukünftiger Zeit erfüllt sein wird, mag nicht von der Hand zu weisen sein. Doch Rosenzweig akzentuiert das gegenwärtige Geschehen des immer wieder anhebenden Prozesses der Gestaltung des gemeinsamen Seins, das sich, solange dieser Prozess währt, niemals zu einer Totalität zusammenschließen wird. Und worin besteht die nun schon mehrfach genannte Gestaltung? Darin, dass Einzelnes mit Einzelnem umgeht, weil es einander angeht. Der außergewöhnliche Reiz dieses Gedankens ist bereits sichtbar geworden, soll aber dessen ungeachtet noch einmal betont werden. Denn er stellt die konsequenteste Umsetzung der Forderung, den Einzelnen denken zu können, im Rahmen existenzphilosophischer Betrachtungen dar. Seine mehr als schlicht klingende Formulierung sollte über seine Bedeutung nicht hinwegtäuschen. Existenzphilosophie fragt nach dem Einzelnen – darin stimmen im Grunde die meisten Darstellungen überein. Genügt es dann aber, lediglich diesen zu thematisieren? Rosenzweig kann nur eine verneinende Antwort geben. Was macht in seiner Sicht denn den Menschen zum Einzelnen? Die Selbst-Werdung, die aus einem Konvolut individueller Erfahrungen anhebt, und die Benennung. Der erste Aspekt ist vermutlich hinlänglich nachvollziehbar, wohingegen der zweite der erinnernden Erklärung bedarf. Hierfür ist der Blick auf die Besonderheit der Dinge erforderlich, denn Rosenzweig zeigt, wodurch sie überhaupt zu diesen bestimmten Dingen werden. Der Mensch benennt sie und zeichnet sie durch den bestimmten Artikel aus, der sie «vorzeigbar» werden lässt, wie es heißt. Aus dem unüberschaubaren NebenEinander der vorfindlichen Gegenstände werden so einzelne Dinge hervorgehoben und unverwechselbar gesiegelt. Unvorstellbar wäre es für Rosenzweig an dieser Stelle, dass sich aus der Formulierung «das Ding» jemals ein «an sich» entwickeln könnte, das eben nicht mehr das Einzelne, sondern jedes Einzelne dieser Kategorie benennen würde. Wird von den Dingen wieder zurück zur Frage nach dem einzelnen Menschen geschwenkt, zeigt sich hier ein analoger Vorgang. Ein Mensch wird zu diesem Menschen auch durch seine namentliche Kennzeichnung, die Voraussetzung jeder Anrede ist. Die Funktion, die der Sprache im Geschehen der Vereinzelung zukommt, wird nur noch von Martin Heidegger in ähnlicher, doch nicht gleicher Weise bewertet. Ihm dient sie nicht dazu, den Prozess der Vereinzelung zu erklä-
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ren, sondern jene Seins-Modifikation auszudrücken und zu vollziehen, in deren Verlauf Sein zu Seyn verwandelt werden kann. Warum ist der Gedanke, dass Einzelnes mit Einzelnem umgeht, nun so bemerkenswert? Und worin liegen seine Vorzüge gegenüber anderen existenzphilosophischen Konzeptionen, die den einzelnen Menschen als existenz-fähig reflektieren, ohne dabei die Aufmerksamkeit auf nicht-menschliches Sein auszuweiten? Mehrfach wurde bereits der Begriff des Angehens verwendet, der zum Beispiel Heinrich Barth dazu dient, die existentielle Relevanz von Erkenntnis zu bezeichnen. Sich-angehen-zu-Lassen erscheint etwa in Heideggers Texten als Ausdruck für die Empfänglichkeit, Sein als Aufforderung zu begreifen, sich in bestimmter Weise zu verhalten, womit kein generelles Stellung-Beziehen gemeint ist, sondern eine Stellung im Sein einzunehmen. Sich so zu positionieren, ist allerdings nur möglich, wenn dasjenige, dem gegenüber ein Sich-Verhalten erforderlich ist, grundsätzlich vergleichbarer Beschaffenheit ist. Diese Strukturgleichheit des Seins wollte Rosenzweig aufzeigen. Irreführend wäre es, wenn an dieser Stelle von Strukturgleichheit im Sein gesprochen würde, da so der Eindruck vermittelt würde, den es gerade zu vermeiden gilt: dass Sein ein Grund ist, aus dem Seiendes sich abhebt. Rosenzweig ersetzt diese Auffassung, die wohl einer traditionellen Deutung am nächsten kommt, durch die Vorstellung von Sein als in sich variablem Kontext, der eigentlich erst vom Augenblick der Gestaltung an als Sein bezeichnet werden sollte. Dieser Augenblick ist nicht mit der Vollendung der Schöpfung abgeschlossen, sondern nimmt in ihr seinen Anfang. Es gibt nicht das Sein, das sich in der einen oder anderen Form konkretisiert, sondern Vorfindlichkeit als Möglichkeit verstanden. Mit dem nächsten Schritt beginnt sich die Auslegung von dem Fundament des Rosenzweigʼschen Denkens zu lösen. Wenn Sein Potentialität ist, deckt sich sein Charakter des Werden-Könnens mit jenem, der sonst der Existenz zugeschrieben wurde. Es steht damit nicht mehr eine Vorstellung von Sein, die durch Stabilität gekennzeichnet ist, der Dynamik existentieller Bewegung letztlich unvermittelbar gegenüber, wie es bisher den Anschein erwecken konnte. Auf der Grundlage dieser Sichtweise hatte es sich ja überhaupt erst als sinnvoll erwiesen, Existenz von Sein zu unterscheiden, insofern Letzterem eine grundlegende Funktion zugeordnet wurde. Von diesem Grund-Sein sollte sich Existenz als SeinsWeise des Menschen qualitativ unterscheiden. Grund zu sein, bedeutet zweierlei: Bedingung und Ursache zu sein. Bedingung der Existenz war Sein in einer Deutung, die es hier zu überformen gilt, weil Existenz als Erscheinungsform betrachtet wurde, die aber immer noch Sein – wenn auch in modifizierter Form – zur Erscheinung brachte. So erscheint Existenz beispielsweise in ihrer Zeitlichkeit, weil sie Sein in der Zeit ist. Als Ursache der Existenz kann Sein betrachtet werden, insofern sie Ausdruck sich absetzender Eigenständigkeit ist. Hier könnte an die Beschreibung von Lévinas erinnert werden, wonach der Ausweg aus dem Sein nur deshalb gesucht wird, weil das Sein in seiner Last als unerträglich empfunden
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wird. Existenzphilosophie basiert zu einem Großteil auf der Kontrastierung von Sein und Existenz, was leicht als qualitative Unterscheidung verstanden werden kann. Erst durch die Entscheidung des Menschen zum Werden-Wollen empfängt Sein seine ihm mögliche, das heißt seine eigentliche Gestalt. Diese Auffassung findet sich, wie sich gerade noch einmal bestätigt hat, vor allem bei Franz Rosenzweig und Martin Heidegger. Bei beiden ist die Auffassung erkennbar, dass Sein an sich nicht eigentlich sei, solange nicht der Mensch in ihm wirksam zu werden beginne. Dass damit kein willkürliches Agieren, sondern ein Wirken in Achtsamkeit gemeint sei, hebt besonders Heidegger hervor. Es ist jedoch auch zu betonen, dass beide die Möglichkeit der Vollendung der Seins-Gestaltung nicht ausschließen, auch wenn diese selbst als Option nicht benennbar ist. Gerade an dieser Stelle bietet sich ein Blick zum Denken Friedrich Nietzsches an, der allerdings nur in äußerster Kürze möglich ist, um den Gedankengang nicht zu unterbrechen. Dass persönliches Werden – und vielleicht nicht nur dieses – kein linearer Prozess der Entwicklung ist, der irgendwann als abgeschlossen bezeichnet werden kann, zeigt kaum jemand deutlicher als er. Denn seine Feststellung, dass es immer wieder notwendig sei, das Bestehende zu verwerfen, betont den zyklischen Charakter des Werdens als Zu-sich-selbst-Finden. Wird diese Auffassung in historischer Perspektive betrachtet, bietet sich freilich eine Interpretation an, wie sie von den Nationalsozialisten propagiert wurde. Altes müsse zugrunde gehen, damit Neues auf dessen Trümmern entstehen könne. Es ist gewiss kein Zufall, dass auch Heideggers Konzeption des Seins im Werden Anknüpfungsmöglichkeiten für derartige Auslegungen bietet. Die Frage, ob sie von ihm intendiert sind, wird in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Im Augenblick geht es darum, dem Gedanken des Seins im Werden ein Stück weit zu folgen, weil es den Anschein hat, als würde er eine vielversprechende Deutung des Begriffes vom Sein zulassen. Gerade lag mit Blick auf Friedrich Nietzsche der Fokus auf der Unmöglichkeit, Aussagen über das Ende, ja sogar über den Verlauf dieses werdenden Seins zu treffen. Was auf der einen Seite unbefriedigend wirken mag, erweist sich auf der anderen Seite sogar als höchst bedeutsam. Denn die Offenheit, die damit dem prozessualen Sein attestiert wird, setzt genau jene reine Möglichkeitsstruktur frei, die auch der Vorstellung der Existenz, wie sie hier vertreten wird, eignet. Der Begriff der Existenz besagt nicht, dass etwas ist, wie es in gegenwärtigen Diskussionen einer neuen Ontologie vorausgesetzt wird. Vielmehr kündigt er an, dass etwas werden kann. An die Stelle einer Seins-Aussage tritt das Options-Testat, das nicht nur für dasjenige gilt, das tatsächlich besteht, sondern auch für jedes nur vorstellbare Seiende. Die Unterscheidung der beiden Begriffe des Seins und des Seienden erweist sich vor diesem Hintergrund als besonders nützlich, erfordert allerdings eine Präzisierung im Gebrauch, die so aussieht: Sein ist die gemeinsame Möglichkeit aller Seienden. Damit rückt es merklich von seiner Deutung als Grund des Seienden ab und nähert sich jener der gemeinsamen optionalen Natur, die alle Seienden, nicht nur den Menschen, einschließt.
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In seinen Denktagebüchern notiert Martin Heidegger mehrfach, dass dem Gedanken der ontologischen Differenz auch von seiner eigenen Seite nicht genügend Beachtung geschenkt worden sei. Damit kündigt er seine Bereitschaft an, über seine Aussagen in Sein und Zeit insofern hinauszugehen, als dem Seienden größere Beachtung zu schenken ist. Seine zahlreichen Verweise auf die Motivkreise von «Welt» und «Ding» sind Ausdruck dieser Auffassung, die eine Gewichtung, die in Sein und Zeit angelegt war, nun aufgreifen soll. Dort ging es um die Frage, wie Sein zugänglich werden kann. Die Auflistung der Weisen etwa des Alltäglichen oder der Zuhandenheit dient dazu, zu zeigen, wo Sein begegnet. So werden Erscheinungskomplexe benannt, anhand derer sinnvoll vom Sein zu sprechen ist. Die Veränderung zum Begriff des Seyns relativiert diese Akzentuierung. Denn es geht nun weniger um den Nachweis der Weise, in der sich Sein zeigt, als um die Ankündigung der Möglichkeit, was Sein werden kann. Es ist nicht leicht, diesen Gedanken vom hohen Pathos Heideggerʼscher Terminologie und eventuell sogar von eschatologischen Konnotationen unabhängig zu lesen. Doch sollten beide Erschwernisse nicht die Möglichkeit verhindern, ihn hinsichtlich seiner philosophischen Tragfähigkeit zu prüfen. Heideggers Entschluss, mit dem «Seyn» einen neuen Begriff einzuführen, ist kritisch zu betrachten. Der Wunsch, durch ihn eine gewandelte Sichtweise des Seins auszudrücken, ist nachvollziehbar. Doch kann der neue Ausdruck die Erwartung wecken, dass er zur Benennung eine Veränderung in allen dem Menschen betreffenden Bereichen dienen soll. Würde er also für Umwertungen im Sozialen, Politischen und Ökonomischen stehen, würde eine Frage aufkommen, die für den Gedanken des Seins im Werden an sich nicht erforderlich ist, wie zu zeigen sein wird. Es müsste dann nämlich nach jenen Kräften gefragt werden, die die Verwandlung von Sein in Seyn vorantreiben. Daraus könnte gefolgert werden, dass es sich um ein elitäres Projekt handelt. Denn wem kann es schon zugetraut werden, in dieser Weise aktiv zu werden, oder anders formuliert: Wer nimmt für sich das Recht und die Kompetenz in Anspruch, entsprechend zu agieren? Wie sich zeigt, lässt Heidegger zumindest den Gedanken zu, dass das Werk der Umdeutung nur von Wenigen zu leisten ist. Der nächste Schritt mag für nur allzu nachvollziehbare Empörung sorgen, soll aber dennoch in aller Vorsicht gegangen werden. In seinem Stern der Erlösung spricht Franz Rosenzweig von der Möglichkeit, «das Reich zu erbitten». Der Konzeption seines Textes in die drei großen Einheiten Schöpfung, Offenbarung und Erlösung folgend, thematisiert er diese am Ende der Schrift, womit in diesem Fall tatsächlich das Ende der Schrift gemeint ist. Denn hier drückt sich seine Überzeugung aus, dass Theorie und damit das geschriebene Wort immer nur ein Weg sein kann, der bis zu jenem Punkt des Verstehens führt, an dem kein weiteres Verstehen notwendig und vielleicht sogar möglich ist, da es fortan nur noch um eines geht: das Leben. Auf die typographisch einzigartige Gestaltung der letzten Zeilen des Stern der Erlösung kann hier noch einmal hingewiesen werden.
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Am Ende stehen nur noch die beiden Worte «Ins Leben», die zwar den Abschluss des theoretisch Sagbaren markieren, zugleich aber Öffnung für eine andere Form des Ausdrucks sind, in dem sich das Gesagte zu bewähren hat. Doch zurück zu der möglichen Parallele, die zu denken äußerste Behutsamkeit verlangt. Die Möglichkeit, das Kommen des Reiches zu erbitten, legt Rosenzweig in die Hände derer, die sich im gemeinsamen Gebet artikulieren. Der Kreis dieser Personen ist durch ihr klares Bekenntnis zum Inhalt ihres gemeinsamen Glaubens definiert. Absicht und einzusetzendes Mittel sind durch die Form des Gebetes bestimmt. Das Reich, um das in der gemeinsamen Geste der Hinwendung zum Anderen gebetet wird, kann Rosenzweig nur benennen, nicht beschreiben – wie sollte Letzteres auch möglich sein, ist es doch noch nie der Erfahrung zugänglich gewesen. Auch das Seyn kann Martin Heidegger nur benennen, nicht beschreiben, denn auch dieses ist noch niemals Gegenstand der Erfahrung gewesen, zumindest nicht zur Gänze. Konzeptuell zeigen beide Vorstellungen Ähnlichkeit, wobei es sich im einen Fall um Glaubens-Gewissheit, im anderen Fall um ontologisches Postulat handelt. Es war Rosenzweigs Denken, das es überhaupt zuließ, hier von Ähnlichkeit zu sprechen, hatte er doch in seinen Aussagen zu Schöpfung und Sein den Weg gewiesen, zwei unvereinbar erscheinende Konzeptionen in Analogie zu setzen. Werden beide Konzepte nun auf ihre strukturelle Ähnlichkeit befragt, zeigt sich in der Tat ihre grundsätzliche Vergleichbarkeit. Beide – das Reich wie auch das Seyn – stehen für eine Modifikationsform menschlichen Denkens in Bezug auf Zeitlichkeit. Sie erlauben es, Sein als grundsätzlich veränderbar zu betrachten. Auf dieser Ebene der Deutung muss nicht nach eventuellen Konsequenzen einer solchen Seins-Modifikation gefragt werden, die sich etwa im gesellschaftlichen oder ethischen Kontext ablesen ließen. Hier geht es vielmehr um die rein funktionale Bestimmung, die beide Begriffe dem Gedanken des Seins ergänzen. Diese besagt, dass eine essentielle Umdeutung des Begriffes in der Weise möglich ist, dass Faktoren in der Gestaltung und im Erleben des Seins prägend werden können, die nicht schon immer in ihm wirksam gewesen sind. Dass diese Faktoren sich nicht nur auf einzelne Bereiche erstrecken, sondern der Denkbarkeit des Seins insgesamt gelten, ist dabei besonders hervorzuheben. Ein Blick auf Martin Heideggers Auffassung einer solchen Umdeutung mag veranschaulichen, was dort stattfindet. Die zweckorientierte Sichtweise des Wollens und Handelns, die stets auf Erfüllung in absehbarer Zukunft gerichtet ist, drückt sich auch im Verständnis des Seins aus, das anderen Zwecken unterworfen wird. So ist letztlich nur noch Seiendes von Interesse, das nach dem Maß seiner Nützlichkeit in Anspruch genommen wird. Hier kann die Seins-Modifikation einsetzen, die nicht damit anhebt, den Begriff als solchen neu zu fassen, sondern das Verhältnis des Menschen zum Seienden zu überdenken. An die Stelle des zweckgebundenen Interesses kann eine Haltung der Zielunbedürftigkeit gesetzt werden, die Dinge – und damit das Sein – nicht um eines Zweckes, sondern um ihrer selbst willen erkennt. Die
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Seins-Modifikation ist also eine Veränderung im menschlichen Verhältnis dem Seienden gegenüber, die sich als dessen Achtung ausdrückt, die keinem Zweck dient. Der Vorgang dieser Umwandlung ist keinesfalls als ein Ablauf zu begreifen, der sich mehr oder minder selbsttätig vollzieht und irgendwann zu einem Abschluss führen wird. Denn jeder Abschluss würde wiederum einen Zweck darstellen, dem die Bewegung der Seins-Modifikation dient. So ist dieser Vorgang seiner Bestimmung nach unabgeschlossen. Zudem bedarf er der Initiative, die nur vom einzelnen Menschen, der Zielunbedürftigkeit als eigentliche Konstitution des Seins erkannt hat, ausgehen kann. Werden die Merkmale des Prozesses der Umwandlung genau betrachtet, zeigt sich etwas Faszinierendes: Es sind die Merkmale der existentiellen Bewegung – Zielunbedürftigkeit, fortgesetzte Bewegtheit und individuelle Initiierung. Sollten bis zu diesem Moment noch Zweifel daran bestanden haben, dass Martin Heideggers Denken im Rahmen einer Betrachtung zur Existenzphilosophie thematisiert wird, können diese nun vermutlich aufgegeben werden. Für sein Denken kann die Möglichkeit geltend gemacht werden, dass sich der Begriff der Existenz über jenen des Seins legt. Nur lässt Heidegger diese Überblendung, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, nicht seinen Aussagen zum Menschen zukommen, sondern den Ausführungen zum Sein, womit im Grunde ein und dasselbe gemeint ist. Die Gründe, die ihn zu dieser Darstellungs-Präferenz veranlassten, sind wohl am ehesten in innerphilosophischen Vorbehalten zu sehen. So wäre ein Einschwenken auf die Argumentationsinteressen etwa der Lebensphilosophie oder auch der Existenzphilosophie, wie er sie Karl Jaspers zuschrieb, nicht in Betracht gekommen. Seinen Auskünften zum Seins-Wandel sollte die besondere Wertigkeit des Ontologischen zukommen, das in Grundsätzlichkeit Aussagen über jenes Fundament trifft, auf dem die beiden genannten Philosophien seiner Überzeugung nach basieren. Im Sinne der gerade angesprochenen Parallelität dieser Deutung des Seins-Wandels zu derjenigen auf der Grundlage des Sterns der Erlösung müsste sich dieser Befund einer Überlagerung des Seins-Denkens durch die Vorstellung von Existentialität auch dort nachweisen lassen. Daran, dass Franz Rosenzweig Entwicklung als wesentlichen Wandel begreift, besteht kein Zweifel. Zur Bekräftigung muss nur noch einmal an den Wesens-Wandel vom Selbst zur Seele erinnert werden. Zwar artikuliert sich darin das Motiv nicht so plastisch wie etwa in Friedrich Nietzsches Bild der drei Verwandlungen und wird vielleicht im Interesse philosophischer Interpretation geringer geschätzt, weil es auf religiösem Grund steht, doch seine Bedeutung ist offensichtlich. Das Verhältnis des Menschen zum ihn Umgebenden ändert sich fundamental. Die Selbstverschränkung, die noch das Selbst kennzeichnete, löst sich in der Hinwendung zum Anderen. Wichtig ist es dabei, noch einmal darauf hinzuweisen, dass Rosenzweig dort keine Theorie der Liebe formulieren will, in der die Zuneigung eines bestimmten Menschen zu seinem Gegenüber erörtert wird. Es geht ihm stattdessen um die Kennzeichnung der Relationsfähigkeit des Menschen, die ungeachtet der Indivi-
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dualität und Besonderheit eines Einzelnen gilt. Für ihn besteht anders als für Martin Heidegger keine Notwendigkeit, vor der Zweckgebundenheit des Denkens zu warnen. Seine Sorge gilt vielmehr der Bindungsunfähigkeit. Strukturell stimmen beide Akzentuierungen jedoch deshalb überein, weil sie die Aufmerksamkeit auf das Ganze des relationalen Gefüges lenken, das Rosenzweig als Sein versteht. Vom Ganzen zu sprechen, ist an dieser Stelle möglich, weil damit nicht auf eine vermeintliche Gesamtheit verwiesen wird, die sich dem Verstehen niemals darbieten könnte, sondern auf ein Kompositum unendlicher Seins-Bezüge. Der Seins-Wandel, von dem auch Rosenzweig ausgeht, besteht folglich darin, aus einer Haltung der Unaufmerksamkeit dem Anderen gegenüber zu einer grundsätzlichen Bereitschaft zu finden, sich auf eben dieses Andere einzulassen – immer und immer wieder von Neuem. Darin, dass für ihn dieses Sich-Einlassen Reaktion auf göttliches Gebot ist, scheint sich seine Auffassung nun allerdings eindeutig von derjenigen Martin Heideggers zu unterscheiden. Denn eine gebietende Instanz gibt es in seinem Denken nicht. Oder doch? Die vielen Beispiele der Metaphorik des Hörens lassen an der allzu schnell gefällten Entscheidung zweifeln. Dem Sein hörig zu sein, ist formal etwas anderes als der gebietenden Stimme Gottes zu gehorchen, keine Frage. Doch wiederum erweist es sich als lohnend, die Basis dieser beiden Vorstellungen aufzudecken. Was geschieht in beiden Fällen? Die interesse-leitende Motivation des eigenen Wollens wird einem Anderen übertragen. Ob dieses als Verzicht auf die zuvor bestehende vermeintliche Selbstbestimmtheit aufzufassen ist, sei dahingestellt. Wahrscheinlich ist mit einer solchen Reaktion eher nicht zu rechnen, weil unausgesprochen der Aufforderung durch ein Anderes höhere Wertigkeit beigemessen wird. Sich einer Weisung aus solcher Quelle anzuschließen, mag sogar eine Aufwertung des eigenen Wünschens bewirken, das nicht etwa aus praktischen Gründen aufgegeben wird, sondern um sich einem höheren Sinn unterzuordnen. Damit kann sogar eine Aufwertung des moralischen Selbstwert-Empfindens einhergehen. Denn einer Weisung zu folgen, bestätigt das Vermögen des Menschen, sie als Ausdruck des eigenen Wollens zu begreifen, wodurch die moralische Kompetenz des Einzelnen eine nicht unerhebliche Steigerung erfährt. Diese mögliche Seite der Hörigkeit zu betonen, ist wichtig, um den Eindruck zu vermeiden, bei ihr handele es sich um einen Beleg der Selbstaufgabe. Das Gegenteil ist der Fall: Das Gebotene zum eigenen Wollen zu erklären, zeigt die Bindungsfähigkeit des Menschen im Sein. Dieser Aspekt wird durch die im ersten Moment widersinnig anmutende Erklärung Franz Rosenzweigs bekräftigt, wonach das Befolgen des Gebots nicht der menschlichen Entscheidungsfreiheit unterliege. Seiner Ansicht nach ist kein moralisches Abwägen möglich, das am Ende dafür spricht, dem Gebotenen zu entsprechen, da dieses seine Befolgung unmittelbar erfordert. Ebenso wenig finden sich in Heideggers Texten Anzeichen dafür, dass der Mensch dasjenige, wozu er sich aufgerufen fühlt, einer Prüfung unterziehen könnte, die über Erfüllung oder Ablehnung urteilt. Es ist wohl denkbar, dass der
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Ruf überhört wird, weil die Betriebsamkeit alle Aufmerksamkeit des Menschen in Anspruch nimmt. Doch ist er einmal vernommen, ist die Freiheit des eigenen Wollens, auf die in der Philosophie zumeist besonders großer Wert gelegt wird, nicht mehr gefragt. Bereits in früherem Zusammenhang hatte sich eine vergleichbare Situation gezeigt und zur Frage nach der Bedeutung des Wollens geführt. Es ging um die Überlegung, ob es möglich wäre, dass die existentielle Bewegung, die als Folge situativer Erschütterung als Möglichkeit erscheint, auch nicht gewollt werden kann? Der Vergleich mit den beiden Fällen moralische Kompetenz außer Kraft setzender Weisungen, die sich mit dem Gebot und dem Ruf des Seins gezeigt haben, hilft nun dabei, die Frage eindeutig zu beantworten. Zeichnet sich die Möglichkeit von Existenz ab, ist der erste Schritt zu ihrer Verwirklichung bereits getan. Denn allein durch die Tatsache, dass ein anderes Verhalten als das bisher gewohnte und für selbstverständlich gehaltene vorstellbar wird, ist die Prägungsdominanz bisheriger Verhaltensweisen gebrochen. Zu einer Hälfte sind die Überlegungen nun bereits in das nächste Kapitel vorgelaufen, während ihre andere Hälfte noch der Frage nach dem Seins-Wandel bei Rosenzweig und Heidegger galt. Dessen Verständnis zeigt klar erkennbare Parallelitäten, die unabhängig davon bestehen, ob von Sein oder von Schöpfung gesprochen wird. An einem entscheidenden Punkt divergieren die Ansichten beider Denker allerdings, der deshalb so gravierend ist, weil sich aus ihm schwerwiegende Konsequenzen ergeben können. Der Rahmen, in dem Seins-Wandel nach Rosenzweigs Ansicht nur stattfinden kann, ist durch den Glauben klar gezeichnet. Der Ursprung des Seins kann vor diesem Hintergrund ebenso erklärt werden wie die Ausrichtung des menschlichen Zu-sich-Findens, das hier nicht als SelbstWerdung bezeichnet werden darf, da das Selbst nach Rosenzweigs Überzeugung ein Stadium des Übergangs ist, das durch das Seele-Werden abgelöst wird. Das gesamte Geschehen des Seins-Wandels spielt sich innerhalb dieser stabilen und zuverlässigen Umrandung ab. Heidegger löst das Geschehen des Seins-Wandels aus dieser Umrahmung. Die Folgen sind zunächst unüberschaubar. Am geringsten fällt dabei noch die Frage nach dem Ursprung des Seins ins Gewicht, da schlichtweg erklärt werden kann, sie sei nicht von Belang. Doch dann fangen die Probleme an, sichtbar zu werden. Das göttliche Gebot, von Rosenzweig exemplarisch als Liebes-Gebot vorgestellt, konnte als Weisung eines personalen Anderen aufgefasst werden. Kaum zu übersehen ist die Not, aus der heraus Heidegger in Sein und Zeit erklärt, der Ruf des Gewissens komme «aus mir und über mich». Angesprochener und Ansprechender werden so zu ein und derselben – nicht Person, sondern – Instanz, die sich selbst zu einem Verhalten motivieren soll, das ihr bis dahin fremd war. In späteren Texten verschiebt sich die Perspektive derart, dass dann vom Ruf des Seins gesprochen wird. Das Sich-angesprochen-Fühlen, mit dem ein Mensch reagiert, kündet zumindest von einer grundsätzlichen Empfänglichkeit für das Sein des Anderen. Die gewichtigste Schwierigkeit wird mit Blick auf die Natur der Forderung sichtbar, die mit dem Sich-angesprochen-
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Fühlen einhergeht. Denn diese besteht nun nicht mehr in einer konkreten Anweisung wie derjenigen, zu lieben, sondern schwebt in einem wertfreien Raum ohne moralisches Regulativ. De facto läuft sie zwar auf ein und dasselbe hinaus, nämlich darauf, das Andere in das eigene Denken und Wollen zu integrieren. Doch fehlt die Gewissheit des Glaubens, um sie legitimieren zu können. Woher weiß der Mensch in Heideggers Verständnis, wozu er aufgerufen ist? Nicht durch den Glauben, so kann geantwortet werden, sondern durch die Sprache. Darum muss Heidegger mit allem ihm zur Verfügung stehenden sprachbildenden Geschick demonstrieren, dass es sich bei ihr nicht um ein Mittel zum Informationsaustausch handelt. Ihr kommt vielmehr die eminente Aufgabe zu, absolute Gültigkeit in einem Sein ohne Ausrichtung und Regulativ zu repräsentieren. Vor diesem Hintergrund ist es sogar nachvollziehbar, warum Heidegger die Bildlichkeit des Gevierts zur Veranschaulichung des Raumes wählte, in dem sich der Seins-Wandel vollzieht – überhaupt nur vollziehen kann, wie aus seiner Sicht ergänzt werden könnte. Die Versichtbarung des Rahmens existentiellen Geschehens ist in einem Denken umso unverzichtbarer, das auf die tragende Struktur des Glaubens verzichtet. Auf einen weiteren Aspekt dieser Auffassung vom Sein, das sich selbst Grund und Begründung sein soll, muss schließlich hingewiesen werden. Er betrifft die Frage ideologischer Verführbarkeit beziehungsweise ideologischer Vereinnahmung. Für Heidegger steht fest, dass Sein Sein im Werden ist. Da dieses Werden aber seine Ausrichtung ausschließlich aus sich selbst schöpfen kann, ist es im Grunde ein Leichtes, genau an dieser Schwachstelle des Denkens anzusetzen und definitorische Dominanz dort zu beanspruchen, wo sie der Seins-Konzeption nach nicht mehr gegeben ist. So kann dem Werden eine Ausrichtung und dem Wollen eine Motivation gegeben werden, die das Gestaltungspotential dieser Seins-Konzeption nach Belieben im eigenen Interesse ausnützen können. Was bedeutet die Vorstellung des Seins im Werden nun genau? Sie ist sowohl bei Franz Rosenzweig als auch Martin Heidegger zu finden, mit dem entscheidenden Unterschied, der gerade angesprochen wurde. Wir haben einmal die Konzeption vor uns, die im religiösen Denken ruht und von dort ihre Ausrichtung und Reglementierung, soweit dieser Begriff hier angebracht ist, empfängt. Ein anderes Mal muss sie beides aus ihrem Verständnis des Seins selbst ableiten. In ihrer Struktur stimmen beide jedoch überein. Zwar gehen beide davon aus, dass der Begriff des Seins auch Vorfindlichkeit bedeutet, an deren Gegebenheitsstatus nicht zu zweifeln ist. Wichtiger ist für sie jedoch die Überzeugung, dass er sich nicht darin erschöpfen kann, Aussage faktischer Vorhandenheit zu sein, denn letztlich zielen sie nicht darauf, die Tatsache zu benennen, dass etwas ist. Sie wollen vielmehr auf die Möglichkeit aufmerksam machen, dass und wie das, was ist, gestaltet werden kann. Hier zeigt sich noch einmal, dass die Kritik von Emmanuel Lévinas, der im Heideggerʼschen Seins-Begriff Ausdruck des sich immer gleich Bleibens in der stummen Massivität des Bestehenden sah, sich, wenn
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überhaupt, nur auf die ontologische Analyse in Sein und Zeit beziehen kann. Die Wendung, die sich in den späteren Texten abzeichnet, läuft hingegen in weiten Teilen sogar dem Denken von Lévinas parallel, wie zum Beispiel das Motiv des Sich-angehen-Lassens durch ein Anderes verdeutlichen könnte.
Expression Die vergleichende Engführung der Seins-Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger gibt den Blick auf einen bemerkenswerten Umstand frei: Beide sprechen über Sein in einer Weise, die sonst in Aussagen zur Existenz verwendet wird. Gestaltungs-Möglichkeit und Gestaltungs-Bedürftigkeit sind die ersten Anzeichen hierfür. Denn warum sollte dem Begriff vom Sein, der nur als Feststellung des Ist-Zustandes dient, Optionalität zugewiesen werden, wie es doch eigentlich nur mit Blick auf den Gedanken der Existenz erfolgt? Gestaltbarkeit erfordert – so banal es auch klingt – jemanden, der sich dieser Aufgabe annimmt. Die Herausstellung individueller Initiative stellt die nächste Kennzeichnung von Existenz dar, die nun auch auf den Seins-Gedanken Anwendung findet. Im Motiv der Ergebnisoffenheit der existentiellen Bewegung besteht schließlich das dritte und letzte Element, das sich bei Heidegger vollumfänglich, bei Rosenzweig im Rahmen religiösen Denkens findet. Die drei Kennzeichnungen, die mit dem Gedanken der Existenz verbunden sind, finden sich hier also in Bezug auf den Seins-Begriff. Doch was bedeutet dieser Befund, wenn er nicht nur als motivische Entsprechung verbucht werden soll? Die erste und zugleich wichtigste Bedeutung besteht darin, dass sich der Unterschied zwischen Existenz als Ausdruck menschlichen Seins und dem Sein minimiert. Vor allem Heinrich Barth hat auf diesen Unterschied hingewiesen und ihn zum Grund seiner Explikation der Erkenntnis der Existenz gemacht. Es würde wohl niemandem daran gelegen sein, die Begründung dieser Alleinstellung anzuzweifeln. Denn – soweit wir wissen – ist nur der Mensch des Erkennens des Transzendentalen fähig. Doch wie steht es um das Motiv dieser Hervorhebung des menschlichen Seins? Trifft sie auf ebenso einhellige Zustimmung? Zumindest im Rahmen der vorliegenden Überlegungen ist Zweifel angebracht. Denn was wird letztlich durch die Abhebung einer speziellen Seins-Weise gewonnen? Nach Maßgabe eines Denkens, das in Kontrastierungen wie derjenigen von Aktivität und Passivität operiert, kann gegen die Besonderheit menschlichen Seins kaum ein ernstzunehmender Einwand vorgebracht werden. Der Mensch denkt, der Mensch gestaltet. Alles Seiende dient ihm dabei als Material, im günstigsten Fall als Inspiration. Doch ist diese Sichtweise die einzig denkbare? In ihrem Sinne gibt es an sich antriebsloses Sein und Existenz, wobei höchstens darauf bestanden werden kann, dass Letztere aus Ersterem hervorgeht. Dem Menschen wird im Existieren seine Möglichkeit zu existieren bewusst, so könnte in extre-
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mer Verkürzung der Ertrag existenzphilosophischen Denkens, das auf der Akzentuierung der Erkenntnis basiert, zusammengefasst werden. Die alternative Formulierung könnte lauten: Dem Menschen wird im Existieren bewusst, dass sein Sein in jedem Augenblick im Bezug zu Anderem steht. Natürlich sind beide Formulierungen in plakativer und daher reduzierter Weise gehalten, um ihren Unterschied möglichst gut sichtbar werden zu lassen. Eine qualitative Sonderung menschlichen Seins ist in der Tradition westlicher Rationalität fast ausnahmslos präferiert worden, was jedoch keinesfalls bedeutet, dass an ihr festzuhalten ist. Es sind Situationen vorstellbar, in denen eine solche Extraposition der menschlichen Seins-Weise nur in einem einzigen Sinne gerechtfertigt erscheint, nämlich dann, wenn es am Menschen liegt, Verantwortung für das Gesamt des Seins-Möglichen zu tragen. Eine solche Form der Verantwortung zeigen die Texte von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, indem sie die Gestaltbarkeit zum Kriterium ihres Seins-Verständnisses erklären. Bereits an dieser knappen Feststellung wird eines deutlich: Wenn Franz Rosenzweig und Martin Heidegger über Sein sprechen, geschieht es nicht in ontologischer, sondern in ethischer Absicht. Denn die Vorstellung vom Sein ist durch dessen Werden-Können geprägt, das nur noch in rudimentärer Weise an die Grundlage des Vorfindlichen, aus der es hervorgeht, gebunden ist. Es ist nicht exakt dieser Gedanke, den Jean-Luc Nancy ausdrückt, wenn er den Begriff der Fundamentalethik zur Kennzeichnung des Heideggerʼschen Denkens verwendet. Gerade diesem wurde und wird ein eklatanter Mangel an ethischer Relevanz attestiert, eine Auffassung, die Nancy klar ablehnt. Worauf stützt er aber seine Zurückweisung? Im Mittelpunkt seines Seins-Verständnisses steht das Bild der Koexistenz, in dem Seiendes je schon steht. Unter expliziter Bezugnahme und sogar in Fortführung des Gedankens des Mit-Seins, den Heidegger in Sein und Zeit gebraucht, weist Nancy jedoch auf eine Präzisierung hin, die seiner Überzeugung nach erforderlich ist. Das Mit bezeichnet keine Verfassung, die einem Sein zugewiesen werden kann, um sein Schon-einmal-so-Sein näher bestimmen zu können. Es zeigt vielmehr die Tatsache an, dass Sein nie anders als unter der Signatur des Mit-Seins denkbar ist. Das Mit ist also kein Attribut, das dem Sein zugeschrieben werden kann, sondern ist in jedem Augenblick mit ihm gleich ursprünglich und gleich substantiell. So bestätigt er, dass Aussagen über Sein stets als Aussagen über die Ethik des Seins zu verstehen sind. Doch vielleicht wirkt diese Folgerung noch nicht überzeugend, weil sie nicht nachvollziehbar ist. Zur näheren Erläuterung können die Konzeptionen von Rosenzweig, Heidegger und Nancy, aller jeweiligen Besonderheit eingedenk, als Ausdrucksformen ein und desselben grundsätzlichen Verständnisses vom Sein betrachtet werden. Darauf, dass sich Nancy auch nach dem Erscheinen der Schwarzen Hefte nicht von Heideggers Deutung distanziert hat, ist ebenso hinzuweisen wie darauf, dass ihm diese Haltung zum Teil vehemente Kritik aus den Reihen französischer Intellektueller eingebracht hat. Für die vorliegenden Überlegungen ist seine Haltung des-
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halb außerordentlich wichtig, weil sie die Bereitschaft und die trotz allem immer noch bestehende Möglichkeit bestätigt, über einen Teil des Heideggerʼschen Denkens zu sprechen. Dieser Teil ist genau die Begrifflichkeit des Mit-Seins, die aufgegriffen und fortgesetzt wird. Denn es geht auch hier nicht darum, die Konzeptionen auch nur eines der vorgestellten Denker eins zu eins zu übernehmen, sondern sie alle auf ihre Relevanz für die Formulierung eines Begriffes vom Sein zu überprüfen. Klar ist, dass sich einzelne Deutungen dafür besser als andere eignen, was vielleicht zu der Frage veranlassen könnte, warum diese dann überhaupt thematisiert wurden? Die Auffassungen Heinrich Barths repräsentieren einen eigenen Typus von Existenzphilosophie, was nicht Ergebnis dieser Prüfung, sondern seine eigene Einschätzung ist. Immer wieder grenzt er sein Verständnis von Existenz von demjenigen anderer Vertreter dieser Philosophie ab, deren Titulierung er als Einziger in dieser expliziten Weise akzeptiert. Mit Emmanuel Lévinas, dessen Schrift Totalität und Unendlichkeit vier Jahre vor seiner Erkenntnis der Existenz erschien, teilt Barth das tiefe Misstrauen Heideggers Seins-Verständnis gegenüber, wobei bereits wiederholt der Vermutung Ausdruck gegeben wurde, dass sich diese Ablehnungen vornehmlich auf den Darstellungsstand von Sein und Zeit beziehen. Wege zur Fortführung, Umdeutung und kritischen Auseinandersetzung, um fruchtbar zu machen, was dieses Verständnis beinhalten mag, sehen beide nicht. Ob das Wissen um die Haltung Heideggers in den 1930er Jahren und seine nie vollzogene öffentliche Distanzierung davon in ihre Ablehnung seines Seins-Denkens hineinspielt, könnte höchstens gemutmaßt werden. Fest steht hingegen, dass beide stichhaltige Gründe anführen, die aus ihrer Sicht generell gegen eine ontologische Positionierung sprechen. Für Lévinas gilt, dass der Begriff des Seins Indiz jenes Denkens der Totalität ist, vor dessen Folgen er eindringlich warnt. Und nach Barths Überzeugung würde der Versuch, die existentielle Bewegung in Seins-Bezug zu denken, die Möglichkeit ihrer Fundierung im Transzendentalen versperren. Beide Zurückweisungen veranschaulichen die Notwendigkeit, über die Konsistenz des Heideggerʼschen Seins-Verständnisses nachzudenken. Zieht es sich als starke Konstante durch seine Texte unterschiedlicher Schaffensphasen oder zeigt es Veränderungen, die es zu bedenken gilt? Auch wenn die Positionen von Barth und Lévinas nicht diejenigen sind, die hier weiter verfolgt werden, konturieren sie doch die Interpretationsweite des Seins-Begriffes unverwechselbar. Mit der Nennung der drei verbleibenden Namen Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und Jean-Luc Nancy soll nun keinesfalls der Eindruck erweckt werden, als bildeten ihre Konzeptionen ein homogenes Ganzes, das unbesorgt als Einheit ohne interne Differenzen ausgegeben werden könnte. Allein schon die Zeitspanne von rund einhundert Jahren, die zwischen dem Erscheinen des Sterns der Erlösung und den letzten Schriften von Nancy liegt, verbietet ein vorschnelles Verwischen von Unterschieden, wie sie aus den intellektuellen Erfordernissen ihrer Zeit und deren Ausdrucksmitteln entstehen. Klassifizierungen helfen nicht
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immer, sollen aber hier trotzdem erwähnt werden. Welcher Schule, welche Tradition lässt sich Rosenzweigs Stern zurechnen? Dass er als frühes Zeugnis existenzphilosophischen Denkens betrachtet werden kann und – auch darauf wurde hingewiesen – endlich betrachtet werden sollte, wurde bereits festgestellt. Sein Aufruf zu einem Neuen Denken unterbindet zwar die eilfertige Zuordnung seines Denkens zu einer bestimmten Typik, versperrt aber nicht den Blick dafür, wem sich Rosenzweig gedanklich verbunden fühlte: Hermann Cohen und Arthur Schopenhauer. Beide stehen in seiner Wahrnehmung für den Geltungsanspruch, den Einzelnen zum Bestandteil und Inhalt philosophischer Theoriebildung zu erklären. Was ist über dieses Denken, das sich so eigenwillig und so einzigartig präsentiert, aber darüber hinaus zu sagen, um es zu beschreiben? Wenn es überhaupt eine Kennzeichnung gibt, die neben der existentiellen Bestand haben könnte, dann wäre es die der philosophischen Expression. Diese Bezeichnung wird an dieser Stelle nicht zufällig verwendet. Sie ist vielmehr hilfreich, um die Verbindung nicht nur der Konzeptionen, sondern auch des stilistischen Denkens von Franz Rosenzweig und Jean-Luc Nancy zu beleuchten. Stilistisches oder auch Form-Denken ist nicht mit dem Sprach-Denken identisch, das bereits angesprochen wurde. Es stellt vielmehr die Verbindung zwischen dem Sprach-Verständnis und dem Selbst-Verständnis der Philosophie dar. Form-Denken liegt der konzeptuellen Signatur eines Textes zugrunde. Was liegt also näher, als zwei so prägnante Signaturen, wie sie sich mit Blick auf den Stern der Erlösung und Das nackte Denken von Jean-Luc Nancy zeigen, zu vergleichen? Zum Form-Gedanken der Dekonstruktion konnten bereits einige Überlegungen angestellt werden. Doch was soll der Ausdruck philosophische Expression besagen? Über alle theoretischen Bestrebungen hinweg, ja sogar über das Programm des Neuen Denkens hinausgreifend und es im selben Zuge einlösend, zielt ein Text wie der Stern der Erlösung darauf, Ausdruck zu sein. Dabei handelt es sich nicht um den Wunsch, einen Gedanken oder Kritik auszudrücken, für den dann ein Instrument zur bestmöglichen Vermittlung gesucht wird. Der Text soll selbst Ausdruck, das heißt Versprachlichung von Erfahrung sein. Erfahrung meint hier nicht mehr nur Vergegenwärtigung des Empirischen, sondern die Summe individuellen Erlebens, das sich vor allem als emotionale Affektion abspielt. Die Not, von der Rosenzweig auf den ersten Seiten seiner Schrift berichtet, ist eine solche Erfahrung, die nicht nur nach Analyse, sondern vor allem nach Ausdruck, nach Mitteilung, verlangt. Gewiss kann eine Vorgehensweise wie diejenige Rosenzweigs auch kritisch beurteilt werden. Das eigene Erleben zur Grundlage philosophischer Reflexion zu erklären, setzt deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit möglicherweise aufs Spiel. Und ist es überhaupt statthaft, ausgerechnet das Format «Philosophie» zu wählen, um Auskunft über die tiefsten Gründe des individuellen Erlebens zu geben? Wären hierfür nicht beispielsweise Lyrik oder Bildende Kunst die geeigneteren Medien, da sie nicht neu aufgestellt werden müssen, um Ausdruck persönlicher Erfahrung sein zu können? Warum
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soll nun auch noch die Philosophie als die eigentliche Bewahrerin des Objektiven personalisierte Form annehmen? Weil es das Objektive nicht gibt, so könnte Franz Rosenzweigs Antwort lauten. Denn es besteht nicht an sich, sondern immer nur als Kondensat, das aus subjektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsakten gewonnen werden kann. Objektive Wahrheit ist damit immer abgeleitete Wahrheit, die ihre Entstehungsgeschichte vergessen machen will. Die Radikalität einer solchen Meinung ist nicht zu übersehen. Für Rosenzweig ist es ein Beweis intellektueller Redlichkeit, nicht Fürsprecher eines solchen Wahrheitsbegriffes zu sein. Daher würde sich ihm die Frage, ob nun auch noch die Philosophie Ausdruck individuellen Erlebens werden soll, gar nicht stellen. Und sollte es doch der Fall sein, wäre die Antwort eindeutig: Endlich muss auch die Philosophie Ausdruck werden können, da sich ihr Anspruch auf Objektivität ohnehin als unhaltbar erwiesen hat. Endlich auch die Philosophie – hinter diesem Ausruf verbirgt sich nicht ihre generelle Ablehnung, sondern die Beobachtung, dass sie, die an sich noch immer zum Menschen sprechen könnte, über keine geeignete Form verfügt. Wenn das Gesagte eines Beleges bedarf, kann an Rosenzweigs Aussagen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie erinnert werden. Dort spricht er von der Objektivität, die die Philosophie für ihr Denken in Anspruch nehmen möchte, jedoch feststellen muss, dass diese ihren Theorien nicht wirklich zukommt. So empfiehlt er, dass sie sich der Inhalte der Theologie annehme, um von Objektivem sprechen zu können. Unter wissenschaftstheoretischem Blickwinkel mag dieses Modell fragwürdig, vielleicht sogar naiv erscheinen. Es kommt im Moment aber gar nicht darauf an, ob es praktikabel oder aussichtsreich ist. Sein Gedanke gibt vor allem darüber Aufschluss, was er als objektiv gelten lässt, nämlich die Inhalte des Glaubens, die nicht Gegenstand des Wissens, sondern der Erfahrung sind. Der Einwand, Rosenzweig erkläre ein privates Empfinden zur Grundlage seiner philosophischen Reflexionen, kann nur auf indirektem Wege entkräftet werden, indem auf die Zeugnisse ganz ähnlicher Empfindungen vor allem in Malerei und Bildhauerei verwiesen wird. Zwei kurze Auszüge aus Franz Marcs Briefen aus dem Feld mögen stellvertretend für so viele weitere Belege stehen. Im Frühjahr 1915 notiert er: «Nur nichts von Plato! Daß die Leute immer hinter der Front der Gegenwart nach dem Heil u. Guten suchen! Immer auf Krücken gehen, auf fremden Zeiten; es sind keine schöpferischen Menschen. Mein Hauptgedanke ist jetzt: Entwurf zu einer neuen Welt; […].»353 Und im selben Jahr schreibt er: «Form ist die natürliche Folge eines Gefühls wie die Haltung u. Gebärde die Folge u. Äußerung eines Charakters ist.»354 Auch wenn es so wirken könnte, als würde gerade ein Umweg eingeschlagen, dessen Ziel im Dunkel liegt, 353 354
Briefe aus dem Feld, 14. 03. 1915, S. 62. Briefe aus dem Feld, 08. 04. 1915, S. 74.
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ist das Gegenteil der Fall, denn dieser Weg führt direkt zum Form-Denken der différance. In der Geschichte des philosophischen Denkens fühlten sich immer wieder Theoretiker dazu aufgerufen, in programmatischer Weise das Neue ihrer jeweiligen Ansätze zu erläutern und gegebenenfalls gegen Kritik zu behaupten. Beispiele dafür sind etwa Immanuel Kants Was ist Aufklärung? oder auch JeanPaul Sartres Der Existentialismus ist ein Humanismus und Jean-François Lyotards Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? aus dem Jahr 1982. Der Begriff der Postmoderne, der ursprünglich von Charles Jencks zur Umschreibung avantgardistischer Bauwerke verwendet wurde, soll darin für den philosophischen Gebrauch adaptiert werden. Lyotard schreibt: Das Postmoderne wäre dasjenige […], das sich dem Trost der guten Formen verweigert, […]. Ein postmoderner Künstler oder Schriftsteller ist in derselben Situation wie ein Philosoph: Der Text, den er schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsätzlich nicht durch bereits bestehende Regeln geleitet und können nicht nach der Maßgabe eines bestimmenden Urteils beurteilt werden, […]. Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann.355
Franz Rosenzweig tritt dafür ein, philosophische Wahrheit nicht mit objektiver Wahrheit zu identifizieren, da es seiner Auffassung nach auf höchst subjektive Weise darum geht, Wahrheit zu «bewähren». Was genau Objektivität für ihn bedeutet, ist bislang erst im Ansatz sichtbar geworden. Ein weiterer Blick ist daher erforderlich. Würde dieser Begriff als Synonym für Allgemeingültigkeit verwendet werden, hätte er gegen ihn vermutlich nichts einzuwenden. Denn sonst wäre auch sein Hinweis auf die Lehren der Religion, die er der Philosophie empfiehlt, schwerlich nachvollziehbar. Was ihn den Begriff der Objektivität skeptisch betrachten lässt, ist dessen Entstehung. An dieser Stelle greift einmal mehr sein Verdikt der Rückführbarkeit des Einen auf ein Anderes, das er zu Beginn des Sterns der Erlösung ausführt. Dort zeigte er, dass die Vorstellungen Gottes und der Welt nicht auf die Idee zurückgeführt werden können, die der Mensch möglicherweise von ihnen bildet. Stattdessen soll ein jedes der drei Elemente der Wirklichkeit für sich stehen und nach Maßgabe seiner jeweiligen Erscheinungsformen erfahren werden. Damit gibt er zwar die Möglichkeit preis, ihrer Denkbarkeit Objektivität zu bescheinigen, rettet jedoch die Erfahrbarkeit jedes der drei für sich bestehend. So ist etwa die Erfahrung des Göttlichen grundsätzlich jedem Menschen möglich, doch dadurch nicht zwingend für jeden Menschen gleich. Sie hängt in ihrer jeweiligen situativen Bedingtheit von Faktoren ab, die nicht in den Begriff des Göttlichen integriert werden können und nach traditioneller theologischer Ansicht nicht einmal integriert werden dürfen, um dessen absolute AndersBeantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Postmoderne und Dekonstruktion, S. 47 f. 355
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heit nicht zu gefährden. Das Erfassen objektiver Wahrheit würde jedoch bedeuten, dass diese unabhängig von subjektiven Bedingungen erfolgt. Wie stark Rosenzweig gerade für diese eintritt, zeigt allein schon seine Formulierung der «Standpunkteinheit». Sie bezeichnet die ganze aus Erfahrung und Erleben geprägte individuelle Geschichte, aus der heraus ein Mensch erkennt und urteilt. Dass sich aus diesem Gedanken Schwierigkeiten für die Frage nach der Ethik ergeben können, wird im Weiteren sichtbar werden. Eine Problematik, die der vorliegende Gedanke mit sich bringen könnte, lässt sich hingegen bereits an dieser Stelle ansprechen. Wenn tatsächlich jeder Mensch aus seiner eigenen Standpunkteinheit erkennt und urteilt, könnte das den Verlust jeder Verbindlichkeit im Erkennen und Urteilen nach sich ziehen. Ist es nicht ein überaus riskantes Unterfangen, die Vorstellung von Objektivität aufzugeben? Rosenzweig gibt sie nicht auf, sondern präzisiert ihre Bedeutung, wie bereits erwähnt wurde. Denn er zweifelt nicht am Gedanken der Allgemeingültigkeit, sondern an dessen Zustandekommen. So ist es seiner Auffassung nach nicht zulässig, wenn aus subjektiver Perspektive – und einer anderen ist der Menschen nicht fähig – Erkenntnis gewonnen werde, die dann als objektiv ausgewiesen werden solle. Eine solche Behauptung von Objektivität bestätigt exakt die irrtümliche Ansicht, die Gültigkeit des Erkannten aus der Bedingung des eigenen Erkennens ableiten zu wollen. Ein solcher Irrtum liegt seiner Auffassung nach in der Bildung des Begriffes der «Allheit» vor. Aus einer Summe individueller Erfahrungen wurde dieser Begriff gebildet, dem fortan objektive, von subjektivem Erleben unabhängige, Gültigkeit zugeschrieben wurde. Damit entsteht allerdings die Frage, wie Rosenzweig dann Allgemeingültigkeit von Vorstellungen behaupten kann, an der er doch festhält. Dem Glauben an Göttliches käme zum Beispiel solche Gültigkeit zu, weshalb er ihn der Philosophie als Beleg ursprünglicher Objektivität nahelegt. Was heißt ursprüngliche Objektivität in diesem Zusammenhang? Der Ausdruck bedeutet Gültigkeit, die aus sich selbst besteht und nicht auf dem Wege der Zurückführung auf subjektives Denken ermittelt werden kann. Aber zeigt sich in diesem Moment nicht ein massiver Widerspruch? Einerseits plädiert Rosenzweig für die Standpunkteinheit, andererseits für die Gültigkeit einer Vorstellung aus sich selbst. Jede Wesenheit, von der eine Vorstellung empfangen werden kann, besteht für sich in der Unbezweifelbarkeit ihrer Präsenz. Das trifft für die drei Elemente Gott, Welt und Mensch ebenso zu wie für jedes beliebige Ding. Wichtig ist an dieser Stelle Rosenzweigs Feststellung, dass wir von diesen Elementen nichts wissen, bevor wir in Relation zu ihnen treten, das heißt, bevor wir ihre Präsenz in der einen oder anderen Weise erfahren, nicht erkennen. Objektivität im Sinne von Allgemeingültigkeit wird nicht mehr als Attribut von Erkenntnis und ihrer Wahrheit betrachtet, sondern – so überraschend diese Wendung wahrscheinlich wirken mag – als Seins-Testat. Und Sein bedeutet, wie sich immer wieder in diesem Kontext bestätigt, nicht Vorhandenheit als starres So-und-nicht-Anders, sondern Werden-Können. So bezeichnet der Be-
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griff des Seins nicht die Summe alles dessen, was ist, sondern das schier unüberschaubare Feld möglicher Relationen, die eines mit anderem in immer neuer Figuration eingehen kann. Für die Frage nach dem Begriff der Allgemeingültigkeit bedeutet dieses, dass ihm die Bezeichnung der Relations-Fähigkeit zugewiesen werden kann, der einzigen objektiven Wahrheit, die für Rosenzweig letztlich Bestand hat. Besonders interessant ist es, dass diese Feststellung nicht einmal mit Blick auf den Glauben revidiert zu werden braucht. Denn auch Gott zeigt sich als relations-fähig, wie speziell Rosenzweigs Kommentare zum Offenbarungs-Geschehen verdeutlichen. Das Postulat der Allgemeingültigkeit kann also niemals aus individueller Erkenntnis ermittelt oder, wie es bei Rosenzweig heißt, auf diese zurückgeführt werden. Indem es ausgesprochen wird, erfolgt die Bestätigung des Seins dessen, dem diese Gültigkeit attestiert wird, weil sie dem Einzelnen je individuell in der Erfahrung zugänglich wird: «Wir wissen von allen gleich viel, gleich wenig. Nämlich alles und nichts. Wir wissen aufs genaueste, wissen es mit dem anschaulichen Wissen der Erfahrung, was Gott, was der Mensch, was die Welt für sich genommen ‹ist›; wüßten wir das nicht, wie könnten wir davon reden […].»356 Die Frage danach, welche Art von Wissen hier angesetzt wird, beantwortet Rosenzweig selbst in diesen Zeilen, indem er auf das «anschauliche Wissen der Erfahrung» deutet. Vielleicht wäre auch der Begriff der Gewissheit möglich, um zu verdeutlichen, was hier gezeigt wird. Worauf bereits geschaut wurde, kann nun nur noch einmal bestätigt werden: Wissen ist nach Rosenzweigs Deutung nicht das Produkt von Erkenntnis, sondern sich unmittelbar im Prozess der Erfahrung erschließende Gewissheit. Diese kann sich nur als Einsicht in die Präsenz des Anderen vermitteln. Präsenz des Anderen meint Sein in der Fähigkeit zur Relation. Wie sonst sollte das Wissen, was etwas «für sich genommen ‹ist›» verstanden werden als im Moment der Vergegenwärtigung dieser Präsenz, die fortan nicht mehr für sich genommen erscheint, sondern für das Miteinander, in dem Erfahrung – zumindest im Sinne Franz Rosenzweigs – doch letztlich immer gründet. Dieser Gedanke findet sich ebenfalls in der Konzeption des entre-nous, die Jean-Luc Nancy erläutert. Rosenzweigs Formulierung eines Wissens, was etwas für sich genommen ist, könnte eventuell zu der Folgerung verleiten, er wolle auf ein An-sich-Sein anspielen, das etwas als gänzlich relationslos denkbar werden lässt. Das Gegenteil ist der Fall. Denn Erfahrung bezieht sich auch in seiner Interpretation immer auf etwas, das ein Bestimmtes für jemanden ist. Bestimmt wird es durch seine Bedeutung, die es im Geschehen der Erfahrung gewinnt. Die letzten Bemerkungen scheinen vornehmlich für die Frage der Erkenntnis und die Konzeption des Wahrheitsbegriffes relevant zu sein. Tatsächlich sind sie darüber hinaus von zentraler Bedeutung für die Formulierung existentieller Ethik, der sich die Überlegungen immer weiter annähern. 356
Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 145.
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Doch bevor diese Linie der Argumentation verfolgt werden kann, muss noch für einen Augenblick bei dem Aspekt der Form verweilt werden, der für Rosenzweig ebenso wichtig ist wie für Jean-Luc Nancy. Wenn Sprache die Form des Denkens ist, dann ist der Text die Form der Sprache. Was hier simpel, wenn nicht sogar selbstverständlich klingt, erweist sich als eine Aussage, die für beide Denker zutrifft. Existenzphilosophisches und postmodernes Denken, das hier ebenso gut als Denken der différance bezeichnet werden kann, stimmen darin überein, dass für sie die Suche nach der Form des Ausdrucks selbst bereits Ausdruck ist und zwar Ausdruck des Verständnisses von Wahrheit. Jean-François Lyotard spricht davon, dass der Text keiner bestehenden Regelhaftigkeit zu entsprechen sucht, was letztlich auch nicht möglich wäre, da er der Anspielung auf «Unsagbares» dient oder, besser formuliert, Anspielung auf Unsagbares ist. So weist das Gesagte in jedem Moment über seinen vermeintlichen Inhalt hinaus, den es damit auf unbestimmte Zeit aufschiebt, aussetzt und dadurch offen für jede neuerliche Annäherung hält. Das Aufschieben ist also alles andere als das Bekenntnis, etwas nicht sagen zu können. Stattdessen fungiert es als Ausdruck des Nicht-zu-Sagenden, wie vielleicht anstelle des Begriffes des Unsagbaren formuliert werden könnte. Nicht zu sagen ist nicht nur Ausdruck einer Haltung, sondern es ist diese Haltung selbst, in der sich der Denkende, Sprechende, Schreibende im philosophischen Diskurs positioniert. Dass es eine Haltung der Verweigerung ist, bedarf wohl keiner Erwähnung. Verweigert wird die Bereitschaft, dem Verständnis von Objektivität in Erkennen und Wahrheit zu folgen, weil es aus einer irreführenden Begründung resultiert, wie sich mit Blick auf Franz Rosenzweigs Erläuterungen abgezeichnet hat. Verweigerung ist allerdings nicht als bloße Negation zu verstehen, die ablehnt, was als irrelevant betrachtet wird. In der Haltung der Verweigerung erfolgt zugleich die Suche nach der besseren Lösung, die nur aus individueller Perspektive für besser erachtet wird. Nach Rosenzweigs Dafürhalten ist dasjenige Denken das bessere, das nicht vorgibt, mehr zu sein als es sein kann. Da alles Denken seiner Ansicht nach erfahrendes Denken ist, muss diese Beschaffenheit auch in der Form eines Textes, der die Aussage des Gedachten ist, ablesbar sein. Die schon mehrfach erwähnte Schrift Das Neue Denken aus dem Jahr 1925 ist deshalb ein solches Kleinod, weil sie Rosenzweigs eigene Kommentare zu seinem Stern der Erlösung enthält. Es kommt äußerst selten vor, dass ein Denker in dieser Weise Rechenschaft über den Inhalt seiner Aussagen und vor allem auch deren Form ablegt. So erläutert er auch den Wechsel der Methodik, den er dort praktiziert hat: An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. […] Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es läßt sich seine Stichworte vom andern geben. […] Sprachdenker – denn natürlich ist auch das neue, des sprechende Denken ein Denken, so gut wie das alte, das
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denkende Denken nicht ohne inneres Sprechen geschah; […] denken heißt hier für niemanden denken und zu niemandem sprechen […], sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemanden denken […].357
Vielleicht wird aus dieser Perspektive noch deutlicher, was Rosenzweig so sehr an der Präsentationsform der bestehenden Philosophie enttäuschte. Denn es ist kein logischer Fehler oder keine einseitige Akzentuierung, die ihn zur Formulierung des Neuen Denkens veranlasst, sondern tatsächliche Bekümmerung über das alle bisherige Philosophie seiner Auffassung nach kennzeichnende Versäumnis, nicht «zu jemandem zu sprechen und für jemanden zu denken». Das Sprechen, das er hier zum Merkmal des Denkens erklärt, dient keiner Mitteilung von Sinn, keiner Proklamation von Wahrheit und keinem Ausrufen imperativischer Weisungen. Es enthält sich vielmehr seiner ihm vermeintlich zustehenden Dominanz der Unterweisung und gibt dem Geschehen des Miteinander-Sinn-Sagens Zeit und Raum. Die Anwendung dieser beiden Begriffe auf die Betrachtung der Methodik, die Rosenzweig hier vornimmt, wirkt vermutlich überraschend. Aus seiner Sicht ist sie erforderlich, da er den Text und das Buch nicht als Formen der Proklamation von Gedachtem begreift, sondern als Ermöglichungen des Denkbaren. Dass er mit diesem Verständnis in der langen Tradition des Text-Verständnisses steht, das sich auf das Schrifttum der jüdischen Religion stützt, kann hier nur am Rande erwähnt werden. Seiner Deutung nach ist Text eine Grundlage zur Formulierung von Verständnis-Momenten, die in ihrer Vielgestaltigkeit das Maß des Vorgegebenen bei Weitem übertreffen können. So benötigt das Sprechen Zeit, um sich zu entwickeln, und Raum, um Denkbares zuzulassen, das nicht von Anfang an als Aussage eines Textes bestimmt gewesen sein muss. Da Verstehen der Prozess der immer wieder infrage zu stellenden Bedeutung ist, erreicht es vermutlich höchst selten einen Status erfüllten Verständnisses. Dieser Moment, in dem sich das Verstehen mit dem Gewussten zufrieden zu geben scheint, wird fortwährend hinausgezögert oder aufgeschoben, wie es in dem Text La différance – Die différance von Jacques Derrida aus dem Jahr 1968 heißt. Dort kommentiert er jenen in die Gestalt des Wortes eingreifenden Akt, der das «e» gegen das «a» eintauscht und es dadurch zur graphischen Signatur macht, die zunächst die eine Funktion hat: Sie sprengt die Struktur des Textes, die das Ganze seiner Aussage tragen sollte. In die Struktur einzugreifen, ist jedoch kein destruktives Geschehen, sondern eine Geste, die Verstehen des Textes jenseits des Textes ermöglicht. Es geht auch für Derrida nicht darum, vorgegebenem Gedachten zu folgen und dafür an allen zur Verfügung stehenden argumentativen Anhaltspunkten entlang zu denken, sondern das Darüber-Hinaus zu wagen, das nicht im Begriff eines Objektiven seine Erfüllung und Bestätigung finden wird. 357
Das Neue Denken, in: Zweistromland, S. 151 f.
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Über Bestehendes hinausgehen, Sprechen als Geschehen in der Zeit, das seine Bedeutung erst in der Zukunft zu erkennen geben wird – diese Motive sind uns doch aus anderem Zusammenhang vertraut, der tatsächlich gar kein anderer Zusammenhang ist. Es sind die Elemente, die die Bewegung der Existenz kennzeichnen. Und nun begegnen sie uns im Kontext des Sprechens über die Öffnung des Textes, die ein individuelles Eingreifen, ein Einschreiben in die Geschichte des Textes erlauben soll. Der Bruch mit der Dominanz der vorschreibenden Struktur steht im Mittelpunkt der formalen Intervention, für die die Sprachgestalt der différance steht. Dass es sich hierbei jedoch um alles andere als ein stilistisches oder ästhetisches Phänomen handelt, wird daran erkennbar, dass diese Bewegung der Öffnung auch dem Denken der Dominanz- und Herrschaftsstrukturen generell gilt. Der Einzelne behauptet sich gegen die Übermacht jeder Dominanz, die dem Entwurf seiner Eigenheit hinderlich ist. Politische, auktoriale oder auch ontologische Dominanz kann hier in vergleichbarer Weise zum Widerstand herausfordern. So unterschiedlich die drei Formen auch sind, stimmen sie doch darin überein, dass sie auf etablierten Vorstellungen basieren, die ihre Gültigkeit und ihr Wirkspektrum reglementieren. Vielleicht ist es mit Blick auf die ontologische Variante schwer, diesem Gedanken zu folgen. Wenn die existenzphilosophische Umdeutung des Seins-Begriffes noch einmal betrachtet wird, fällt es möglicherweise leichter. Sein wird nicht mehr als Synonym für Vorhandenheit verstanden, sondern als Bezeichnung für das Werden-Können. Damit verlieren eventuelle Versuche, aus der Faktizität des So-Seins determinierende Wirkung ableiten zu wollen, ihre Berechtigung. Verzweiflung und Resignation, wie sie aus dem Gefühl resultieren könnten, in das Sein «geworfen» zu sein, ohne Grund und ohne Ziel, verblassen in Anbetracht dieser Eröffnung der Seins-Möglichkeit. In Abwandlung eines berühmten Ausspruches von Albert Camus könnte formuliert werden: Es gibt kein Sein, das durch Existenz nicht überwunden werden kann.358 Eine weitere Variante dominanten Denkens hatte sich in Franz Rosenzweigs Bewertung von Objektivität gezeigt. Ist diese erst einmal zum Kriterium des philosophischen Begriffes von Wahrheit geworden, beherrscht sie die Vorstellung davon, was dem Denken zuzutrauen ist. Die extreme Zuspitzung des formalen Anspruches von existenzphilosophischem und dekonstruktivistischem Denken, die gerade vorgenommen wird, erfolgt nicht zufällig. Es zeigen sich erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen beiden, wobei zu berücksichtigen ist, dass Rosenzweig und Heidegger in Ansätzen vorführen, was sich einige Jahre später als eigene Form-Sprache etablieren wird. Um die grundsätzliche Vergleichbarkeit jenes Prozesses zu verdeutlichen, der als Graphisierung der Schrift bezeichnet werden kann, bietet sich der nochmalige Blick auf die Schreibweise des Begriffes DaDie Originalformulierung lautet: «Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.» und stammt aus Le Mythe de Sisyphe – Der Mythos von Sisyphos aus dem Jahr 1942, S. 99. 358
Expression
sein als «Da-sein» im Stern der Erlösung an, ein Beispiel von vielen, in denen Rosenzweig mit der Schrift-Gestalt arbeitet. Jacques Derrida kommentiert das «a» der différance und es klingt, als würden seine Worte zugleich Franz Rosenzweigs Eingreifen in die Textgestalt gelten: Man wird einwenden, daß die graphische Differenz […] in Finsternis versinkt und nie die Fülle eines sinnlichen Terminus erreicht, daß sie vielmehr eine unsichtbare Beziehung ausspannt, den Bezug einer nicht erscheinenden Verbindung zwischen zwei Spektakeln. Gewiß. Wenn jedoch unter diesem Gesichtspunkt der ausgeprägte Unterschied in der ‹différ( )nce› zwischen dem e und dem a sich dem Blick und dem Gehör entzieht, legt dies wohl auf treffende Art nahe, daß man sich hier auf eine Ordnung verweisen lassen muß, die nicht mehr der Sinnlichkeit angehört. Aber auch nicht der Intelligibilität […]; es wird also auf eine Ordnung verwiesen, die jener für die Philosophie grundlegenden Opposition zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen widersteht.359
Die Ordnung, die Derrida hier nennt, wäre die Ordnung der Erfahrung im Neuen Denken. Denn um eine solche handelt es sich in beiden Fällen, führt sie doch zu einem Verstehen, das sich nur nicht in den Bahnen traditioneller Deutungsansprüche verwirklicht. Wird der Gedanke der «graphischen Differenz» nicht nur nach seiner stilistischen, sondern auch nach seiner übergreifenden Bedeutung befragt, ergibt sich etwas Erstaunliches: Das Aussetzen der Kontinuität und Linearität innerhalb der graphischen Ansicht des Textes schafft, was Jean-Luc Nancy als das entre-nous seiner Konzeption des Mit-Seins bezeichnet, nämlich den Raum, der von keinerlei Bestimmung und damit von keinerlei Dominanz-Verhältnis besetzt ist. Dieser Raum wird sich im Kontext ethischer Überlegungen als außerordentlich wichtig erweisen, denn seine Vorstellung wird die Möglichkeit von Interaktion repräsentieren. Deutlicher wird dieser Gedanke noch, wenn Rosenzweigs Schreibung des Begriffes Da-sein hinzugezogen wird. Der Bindestrich, so unscheinbar er auch wirkt, hält exakt jenen Raum «zwischen» dem «Sein» und dem «da» offen, das heißt zwischen Vorfindlichkeit und Bewegung, in dem sich Existenz realisiert. Graphische Signaturen, die über das geschriebene Wort hinausführen und eine Bedeutungsmöglichkeit entstehen lassen, indem sie es unterlassen, Bedeutung auszusagen, finden sich vor allem in den Texten von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger. Auf dessen Durchkreuzung von Begriffen, die nur ein Mittel zur Schrift-Öffnung ist, das er anwendet, wurde bereits an früherer Stelle hingewiesen. Dort zeigte sich auch, dass es sich bei diesem Eingreifen in die Text-Gestalt nicht um einen Akt der Tilgung oder Negation handelt, sondern um das Kenntlich-Machen eines dem geschriebenen Wort Zugrundeliegenden, das nicht beschrieben werden kann, da es noch der Realisierung bedarf. So verweist das durchkreuzte Wort Sein auf die Möglichkeit des Seyns, wie sie ebenfalls in dem Strukturmodell des Gevierts dargestellt wird. In ihm stellt die Kreu359
Die Différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion, S. 79.
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zungslinie genau jenen Raum des entre-nous dar, der durch Rosenzweigs Weise, Da-sein zu schreiben, angezeigt wird. Im Jahr 1987 hielt Jacques Derrida in Jerusalem einen Vortrag mit dem Titel Comment ne pas parler. Dénégations – Wie nicht sprechen? Verneinungen. Darin geht er auch auf Martin Heideggers Technik des Durchkreuzens des Begriffes vom Sein ein: Wenn diese Durchstreichung kein Zeichen ist und auch kein bloß negatives Zeichen, so streicht es das ‹Sein› nicht unter konventionellen und abstrakten Markierungen aus. Heidegger will, daß sie in die vier Gegenden dessen zeigt […], was er hier und an anderer Stelle das Geviert (le Cadran ou le Quadriparti) heißt: die Erde und der Himmel, die Sterblichen und die Göttlichen. Doch warum hat dieses Schriftkreuz in nichts […] eine negative Bedeutung? Indem man es der Subjekt-Objekt-Beziehung entzieht, läßt es das Sein lesen, das Wort und den Sinn des Seins.360
Den Sinn des Seins lesen lassen – diese Übersetzung fasst zusammen, was die Betrachtung der Texte von Rosenzweig und Heidegger zeigte. Hier von Betrachtung und nicht von Lektüre zu sprechen, ist deswegen erforderlich, weil es in beiden Fällen darum geht, die Sichtbarkeit der Schrift in ihrer spezifischen Formgebung in den Prozess der Deutung einzubeziehen. In diesem Prozess fungieren Worte nicht nur als Stellvertreter einer Bedeutung im geschriebenen Satz, sondern als Versichtbarungsgestalten jenes Sinnes von Sein, nach dem Heidegger schon früh fragte, nachdem er von Rosenzweig vorgeführt worden war. Dieser Sinn entsteht im relationalen Geschehen, das nicht nur unmittelbar interpersonell zu begreifen ist. Ein solches Geschehen spielt sich auch zwischen dem Betrachter des Textes und seinem Initiator ab. Denn der Betrachter rekonstruiert nicht das Gesagte in seinem Verstehen, sondern entnimmt eine Bedeutung, die diesem Gesagten zukommen kann, aus der Gestalt der Schrift. Und der Initiator ist nicht mehr der Verfasser, der in auktorialer Dominanz seinen Text so konzipiert, dass ihm ein Interpret folgen kann. Er wirkt vielmehr als derjenige, der Ansatzpunkte der Aufmerksamkeit gibt, denen zu folgen in die Hand des Betrachters gelegt wird. Beide stehen sich nicht als Wesen gegenüber, deren Funktionen im Prozess des Lesens definiert sind. Sie treten vielmehr einander gegenüber und bieten an, was eher als Gabe denn als Aussage zu verstehen ist. Es ist die Gabe als Geste der Öffnung dem Anderen gegenüber, der empfangen oder den Empfang verweigern kann. Dasjenige, das in dieser Weise dargeboten wird, ist nicht nur die Möglichkeit, die Aussage eines Textes nachvollziehen zu können. Es ist auch das Angebot, als Person, die schreibt, der Person, die das Geschriebene sieht, zu begegnen – über jene Trennung hinweg, die in graphischen Signaturen sichtbar wird.
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Wie nicht sprechen. Verneinungen, S. 100 f.
Entscheidung für das Gute
Darauf, dass diese Trennung, dieser Abstand, für ein Sich-Begegnen von elementarer Wichtigkeit ist, weist auch Emmanuel Lévinas hin, dessen Denken in den letzten Augenblicken etwas in den Hintergrund gerückt ist. Die Ursache liegt darin, dass seine Ablehnung des Seins-Begriffes, den er als Begriff Martin Heideggers ausweist, nicht in die rekonstruierte Linie von Rosenzweig zu Nancy zu passen schien. Doch ist dieser Eindruck eigentlich gerechtfertigt? Mit seinen Aussagen zur Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen, wie auch zur Unterweisung, die keine Maßregelung, sondern eine Einführung in das Wirken der Differenz zwischen beiden ist, fügt sich sein Denken in jenes Bild, das sich allmählich immer klarer konturiert. Darüber sollte seine Ablehnung des SeinsBegriffes nicht hinwegtäuschen. Denn sie gilt letztlich einem Terminus und seiner Geschichte, nicht der Vorstellung dessen, was Sein werden kann. Sein ist Werden-Können, so viel hat sich inzwischen gezeigt. Doch nun tritt ein weiteres Motiv hinzu, das für die folgenden Überlegungen unverzichtbar sein wird: Auch Denken ist Werden-Können. Denn es wird in den hier betrachteten Texten nicht als Fixierung des Gedachten präsentiert, sondern als Ermöglichung eines ZuDenkenden, dessen Sinn sich erst in der Zukunft erschließen wird. So wie Sein der Gestaltung bedarf, die es in der Bewegung der Existenz empfängt, zielt das Denken – das Neue Denken – nicht darauf, festzuschreiben, was ihm bekannt ist, sondern sich ins Unbekannte fortzuschreiben. Ist es eine unhaltbare Idealisierung, die sich hier ausdrückt? Liegen beide Vorstellungen fernab von jeder realistischen Situationseinschätzung? Sind es wunderschöne Illusionen, an denen jedoch sowohl existentielles als auch dekonstruktivistisches Denken letzten Ende scheitern musste? Würde versucht, eine abschließende Antwort zu finden, die über die Berechtigung dieser Fragen befindet, würde ein Urteil über ein Phänomen gefällt, das sich nicht in seiner Gänze beurteilen lässt. Denn keine der beiden Denk-Formen, die tatsächlich Formen des Denkens, Haltungen des Denkenden, sind, ist abgeschlossen und damit nur noch aus rückblickender Perspektive zu erkennen. Beide beziehen ihre souveräne Kraft daraus, dass sie sich als Bewegungen des Fort-Setzens begreifen, deren Erfolg niemals Ergebnis, sondern ununterbrochene Ermöglichung ist.
Entscheidung für das Gute Immer wieder tauchten auf den vorangegangenen Seiten Hinweise auf, die für die Diskussion existentieller Ethik interessant zu werden versprachen. Sie werden nun zusammengeführt und daraufhin befragt, ob sie für die Formulierung eines ethischen Konzeptes taugen. Den Hintergrund dieses Vorhabens bildet die gar nicht selten begegnende Meinung, dass Existenzphilosophie über ein solches Konzept nicht verfüge, was mitunter sogar dazu führt, ihre Bedeutung grundsätzlich infrage zu stellen. Denn ein Denken, das in so ausdrücklicher Weise der Vor-
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stellung vom Einzelnen gilt, sollte den Blick vor den drängenden Problemen, die mit ihr verbunden sind, nicht verschließen. Hierzu zählt vor allem die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, wobei zwischen jenem normierten Verbund, dem er sich entwand, und einer möglichen neuen Gesellschaft zu unterscheiden ist, in die er sich einfindet. Es ist aber auch zu untersuchen, ob die existentielle Bewegung, die im Rahmen der Existenzphilosophie unbestritten als erstrebenswert betrachtet wird, zugleich als «gut» bezeichnet werden kann. Bedeutet existentielles Werden immer automatisch eine wertvolle Aktion in dem Sinn, dass sie Grundlage weiterer Wert-Setzungen sein kann? Diese Ansatzpunkte der Überlegung werden im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. Ihre Akzentuierung zeigt, dass die Frage nach dem Glück nicht explizit gestellt zu werden braucht, auch wenn sie zu den klassischen Themen der Moralphilosophie zählt. Denn hier kann in ebenso simpler wie selbstverständlicher Weise auf eine Voraussetzung, von der existentielles Denken fast durchgängig ausgeht, Bezug genommen werden. Dafür ist auf den Umstand hinzuweisen, dass dieses Denken, wenn es denn als homogenes Denken in wesentlichen Punkten angesehen werden kann, trotz entgegengesetzter Intention noch immer in unverkennbarer Nähe zum Wesens-Denken der traditionellen Philosophie steht. Was ist daran auffällig? Das Bestreben, den Einzelnen zu thematisieren, ruft einen Konflikt mit diesem Denken hervor. Denn Bestimmungen des menschlichen Wesens, um bei diesem einen Beispiel zu bleiben, zielen ihrer Definition nach auf die Kennzeichnung der allen Menschen gemeinsamen Eigenheit, die in seiner Vernunftbegabtheit gesehen wurde. Mehr als rund zweitausend Jahre bestand kaum Veranlassung, an dieser Vorgehensweise und ihrer Auswahl des bestimmenden Merkmals zu zweifeln. Interessanterweise vermochten Versuche, etwa die Affektivität oder die Empathiefähigkeit an Stelle der Rationalität hervorzuheben, keine nachhaltige Umdeutung innerhalb der Vorstellung vom menschlichen Wesen zu erwirken. Eine deutlich massivere Erschütterung der vormals ungefährdeten Dominanz dieser Deutung ging von der Existenzphilosophie und ihrem Begriff des Einzelnen aus. Denn dieser sollte eben nicht mehr vornehmlich als Exemplar der Gattung Mensch betrachtet werden, sondern als Individuum eigener Konturierung. Die selbstverständliche Gleichsetzung von menschlichem und vernunftgeleitetem Verhalten, die bis dahin in verschiedenen Anwendungsfeldern gut funktioniert hatte, wurde nicht insgesamt aufgehoben, bedurfte aber ab jetzt der Rechtfertigung von Fall zu Fall. Denn sie konnte nicht mehr automatisch für jeden einzelnen Menschen vorausgesetzt werden, da jeder Einzelne sich einer Bestimmung gemäß zu verhalten hätte, über deren Gültigkeit er erst zu entscheiden hatte. Diese Idee einer variablen Wesens-Bestimmung wird in der existentiellen Literatur wohl nirgends eindringlicher beschrieben als in jenem frühen Text, der die enorme Befreiung ausdrückt, die mit diesem Gedanken einhergehen kann. Es handelt sich um die im Jahr 1486 verfasste Rede De hominis dignitate – Über die
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Würde des Menschen des zu dem Zeitpunkt gerade 23-jährigen Giovanni Pico della Mirandola. Darin heißt es: Also war er [der Schöpfer] zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‹Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. […] Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.361
Ist es nicht eine faszinierende Parallelität, dass die Entwicklungsalternativen, auf die Pico della Mirandola hinweist, exakt die Kontrastierungen in Martin Heideggers Modell des Gevierts sind? Diese Zeilen drücken die menschliche Fähigkeit zur Selbst-Bestimmung in einer Klarheit und Brillanz aus, die vielleicht nie wieder erreicht – vielleicht auch nie wieder beabsichtigt – wurde. So verwundert es nicht, dass angesichts dieser Entwicklungsoffenheit vom «bewundernswerte[n] Glück des Menschen» die Rede ist, denn der Bewegung der Selbst-Bildung waren nach Picos Überzeugung zwar Rahmen, doch keine Grenzen gesetzt. Doch so ergreifend die jugendliche Euphorie über die Möglichkeit, die hier sichtbar wird, auch heute noch ist, darf nicht ausgeblendet werden, dass die eigentlich dem Menschen zustehende Entwicklungsrichtung diejenige ist, die die Vernunft vorgibt. Doch diese muss gewählt werden, wie die drastische Beschreibung einer gegensätzlichen Bewegung, die als Entarten bezeichnet wird, verdeutlicht.362 Letztlich wird schon in diesem Text die Schwierigkeit erkennbar, die auch späteren Konzeptionen des Einzelnen anhaften wird: In welchem Ausmaß können diese philosophisch tatsächlich ausformuliert werden? Kollidieren nicht bei diesem Versuch das faszinierende Vorhaben und die harte Realität philosophischer Theoriebildung, die eben nicht von einem Moment zum nächsten auf null zurückgesetzt und damit Boden einer Neu-Gründung des Verständnisses vom Menschen werden kann? Wie dehnbar ist das Gerüst philosophischen Denkens, das seine Belastbarkeit letztlich dadurch erhält, dass es aus der absolut gesetzten Gültigkeit des Vernunft-Begriffes konstruiert ist? Die Bemühungen, die bisher betrachtet wurden, zeigen in ihrer je eigenen Rhythmik und Intensität Versuche, nicht nur innerhalb der Abmessungen dieses Gerüstes zu operieren, sondern es selbst neu aufzurichten. Eine Vorstellung, die sich dabei als besonders widerstandsfähig erweist, ist diejenige des Wesens, das kennzeichnet, was etwas ist. Selbst wenn angenommen Über die Würde des Menschen, S. 5 ff. «Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; [degenerare][…].» Über die Würde des Menschen, S. 7. 361 362
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wird, dass dieses einem Menschen nicht von Anfang an in vollumfänglicher Weise zur Verfügung steht, diktiert es doch die Ausrichtung des Strebens, das als persönliches Werden aufgefasst werden kann, eindeutig. Wenn wir uns nur unserer Wesens-Bestimmung gemäß verhalten, werden wir in kontinuierlicher Entwicklung werden, die wir werden sollen. Wo sonst sollten Versuche, den Ursprung von Glück und Erfüllung zu definieren, ansetzen als in dieser Gewissheit? Was tritt in existenzphilosophischem Denken an die Stelle der Vorstellung vom Wesen? Und stehen wir tatsächlich vor der Herausforderung, uns zwischen dieser Vorstellung und dem Bild des Einzelnen entscheiden zu müssen, der sich ganz im Sinne Pico della Mirandolas zu jenem Individuum entwirft, das er zu sein wünscht? Dass es beileibe nicht einfach ist, ohne die Voraussetzung einer dem Menschen immer schon bekannten Entwicklungsrichtung zu operieren, zeigen die Versuche, sie unberücksichtigt zu lassen. Oder muss hier noch einmal differenziert werden? Aus der philosophischen Tradition ist der Begriff des Wesens vertraut, der aussagt, was den Menschen zum Menschen macht und ihn von jedem anderen Lesewesen unterscheidet. Aus existenzphilosophischer Sicht kennen wir die Überzeugung, dass es eine nur dem Menschen eignende Seins-Weise gibt – seine Existenz. Nun wird zwar darauf bestanden, dass die Realisierung dieser Seins-Möglichkeit jedem Einzelnen obliegt und entsprechende Variabilität aufweisen muss, doch daran, dass diese Verwirklichung ihn zu sich selbst führen wird, besteht keinerlei Zweifel. Umgekehrt heißt das jedoch, dass ein Mensch, der den existentiellen Weg nicht beschreitet oder beschreiten kann, der Selbst-Verwirklichung unfähig sein müsste. Oder ist bereits die Annahme, dass Existenz nicht jedermanns Sache ist, falsch? Müssen wir davon ausgehen, dass jeder Einzelne zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Bewegung vollziehen wird, da er sich nicht zeitlebens vor den Erschütterungen, die sie initiieren, schützen kann? Diese Annahme scheidet von vornherein aus. Denn sie würde zu dem unsinnigen Schluss führen, dass der einzige Ertrag in dem so ambitioniert durchgesetzten Gedanken des Einzelnen darin besteht, dass jeder die existentielle Bewegung durchlaufen wird – der eine früher, der andere später. Nun könnte eingewendet werden, dass derlei Überlegungen nicht relevant sind und die Mühe nicht lohnen. Doch das Gegenteil trifft zu. Denn mit der Frage danach, wer existenz-fähig ist und diese Fähigkeit tatsächlich nutzt, ist die Frage verbunden, ob ihrer Verwirklichung ein unbedingter Wert zukommt. Oder anders formuliert: Ist die existentielle Bewegung an sich gut? Und welche Bedeutung des Begriffes vom Guten wird dabei zugrunde gelegt? Eine provisorische Antwort würde mit Blick auf existenzphilosophisches Denken lauten, dass dasjenige als gut zu bezeichnen sei, das es einem Menschen erlaube, das ihm Mögliche zu verwirklichen. Hier von Nützlichkeit zu sprechen, wäre zwar der Sache nach nicht verkehrt, würde jedoch die Wertigkeit, die der existentiellen Bewegung stillschweigend attestiert wird, eintrüben. Denn dort geht es nicht um ein beliebiges Ziel, das unter günstigen Bedingungen einfacher zu erreichen ist, sondern um die
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Frage nach der Sinnhaftigkeit der Existenz. Sofort drängt sich aber eine weitere Überlegung auf. Ist das, was gut für den Einzelnen ist, auch gut für alle Menschen? Da diese Frage von den hier vorgestellten Autoren zwar mehr oder weniger selbstverständlich vorausgesetzt, aber nicht explizit erörtert wird, bietet sich noch einmal eine Anleihe im existentialistischen Denken an, das hier allerdings nicht im Fokus steht, da die Linie existentiellen Denkens verfolgt werden soll. Jean-Paul Sartre erklärt 1946 in seinem Humanismus-Vortrag: […] wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, […]. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. […] Wenn jedoch die Existenz wirklich dem Wesen vorausgeht, ist der Mensch für das, was er ist, verantwortlich. […] Und wenn wir sagen, der Mensch ist für sich verantwortlich, wollen wir nicht sagen, er sei verantwortlich für seine strikte Individualität, sondern für alle Menschen.363
Es spricht für sich, dass ein Blick auf die Folge-Konzeption der Existenzphilosophie notwendig ist, um dieses Problem, das dort nicht in ausreichender Weise thematisiert wurde, beleuchten zu können. Eventuell sorgt der Gebrauch des Begriffes der Existenz bei Sartre für Verwirrung, wenn er sie als der Essenz vorgängig beschreibt. Denn es könnte so der Eindruck entstehen, dass Existenz schlichtweg Vorhandenheit meint, was dem existenzphilosophischen Verständnis widersprechen würde, das dort den Begriff des Seins setzt. Dieser Eindruck ist nicht völlig von der Hand zu weisen, was auch die Unterscheidung der beiden Formen existenz-bezogenen Denkens rechtfertigt, die hier vorgenommen wird. Ein bereits angeklungener Gedanke soll noch einmal aufgegriffen werden. Während Existenz aus existenzphilosophischer Sicht Ermöglichungsform des Seins ist, die ergriffen werden kann und daher menschliches Sein auszeichnet, erscheint sie aus existentialistischer Perspektive als Voraussetzung des WerdenMüssens. Daher finden sich immer wieder Formulierungen, die auf die Belastung durch dieses Müssen hinweisen. Am bekanntesten ist sicherlich das Bild der Geworfenheit, das zwar bereits in Heideggers Sein und Zeit auftaucht, dort jedoch in anderem Kontext steht. Bei Sartre heißt es: «[…] der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen [parce qu’une fois jeté dans le monde], für all das verantwortlich ist, was er tut.»364 Eine solche Einschätzung wäre in einem existenzphilosophischen Text der 1920er und 1930er Jahre kaum zu erwarten und taucht das erste Mal in extensiver Darstellung bei Emmanuel Lévinas in sei363 364
S. 40.
Der Existentialismus ist ein Humanismus, S. 150. Der Existentialismus ist ein Humanismus, S,155 und L’existentialisme est un humanisme,
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ner kleineren Schrift Ausweg aus dem Sein auf. Besonders nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges verfliegt die Begeisterung, mit der die Kompetenzerweiterung einst gefeiert wurde, die dem Einzelnen Selbstbildungs-Fähigkeit zutraute. Allmählich zeichnen sich die problematischen Konsequenzen dieser frühen Sichtweise ab, vor denen wir heute noch immer stehen. Dazu zählt vor allem die gerade angeschnittene Frage nach der möglichen Verallgemeinerbarkeit existentieller Entscheidungen des Einzelnen. Um sie eingrenzen zu können, ist noch einmal die Art dieser Entscheidungen zu betrachten. Auf sie bezieht sich auch Sartre in seinem Vortrag und betont, dass sie nicht nur für denjenigen gelten, der sie trifft, sondern ebenso für alle Menschen. Dieser Gedanke zeigt sich auch in der zitierten Passage. Grundsätzlich ist aus existenzphilosophischer Sicht zwischen der nahezu unüberschaubaren Anzahl von Einzelfallentscheidungen, die wir tagtäglich treffen, und der einen Entscheidung für die Existenz, das heißt für das Selbst-sein-Wollen zu unterscheiden. Während Erstere von der Person des Entscheidenden und den situativen Bedingungen, denen er ausgesetzt ist, abhängen, ist die existentielle Entscheidung jedweder Bedingtheit enthoben. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie unabhängig von personellen Präferenzen oder pragmatischen Erfordernissen zu treffen ist. Wenn hier von Situation gesprochen werden sollte, dann wäre es nur in der einen Form der «Grenzsituationen» vorstellbar, auf die Karl Jaspers hinwies. Dabei handelt es sich um Erfahrungsmomente, die das zielgerichtete Agieren außer Kraft setzen, da sie den Menschen zur Einstellung seinem Dasein gegenüber herausfordern. Mehrfach war bereits die Frage angeschnitten worden, ob es korrekt ist, angesichts der Erschütterungen bisheriger Seins-Weise, von denen alle hier vorgestellten Existenz-Denker ausgehen, von einer Entscheidung zu sprechen. Denn diese würde das Bestehen optionaler Alternativen und vor allem der Möglichkeit voraussetzen, sich auch gegen die Entscheidung zur Existenz aussprechen zu können. Die Antwort kann nur aus den übrigen Aussagen dieser Denker gefolgert werden, da keiner von ihnen diesen Punkt erörtert. Danach deutet vieles darauf hin, dass hier im eigentlichen Sinne nicht von einer Entscheidung gesprochen werden kann, wenn diese tatsächlich als ein Abwägen-Können verstanden wird. Die intensivste Auseinandersetzung mit diesem Thema findet sich in dem bereits zitierten Entweder – Oder von Søren Kierkegaard. Dort erklärt er unmissverständlich, dass die Wahl im ästhetischen Sinne, also in pragmatischer oder präferenzorientierter Gültigkeit, nicht als eine solche bezeichnet werden könne, da sie immer nur für den Augenblick Bestand habe und bereits im nächsten Moment durch die Auswahl eines anderen Objektes der Begierde ersetzt werde. Nur die Wahl im Geist des Ethischen, die ein für alle Mal das «Ja» zum Sein und seiner Beschaffenheit ausspreche, trage diesen Namen zu Recht. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung. Denn hier wird es einsichtig, dass die Wahl eben keine Entscheidung ist, sondern ein Bekenntnis, eine Einwilligung. Dasjenige, zu
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dem der Einzelne sich bekennt, ist nicht etwas, das erst noch zu geschehen hat, sondern es ruht immer schon in ihm, ohne dass es zur Geltung kommen durfte. Kierkegaard beschreibt mit großem psychologischem Gespür die andauernden Versuche, die Verzweiflung, um die es hier geht, zu unterdrücken. Dieses mag unbewusst erfolgen, doch aus philosophischer Sicht deutet das Vermeidungsbestreben in eine bestimmte Richtung: Der Mensch versucht, den Moment hinauszuzögern, der ihn dazu zwingt, anzuerkennen, was er nicht negieren kann. Ist dieser Moment eingetreten, bleibt dem Menschen keine andere Möglichkeit als zu wählen. Es wäre jedoch nicht im Sinne Kierkegaards, hier an eine kausale und lineare Abfolge zu denken, wonach der Einzelne mit der Wahl auf die Verzweiflung reagiert, indem er sich zu ihr bekennt. Ein Blick in den Text bestätigt den Charakter der Wahl, die nur als ein Wirken im Paradox begriffen werden kann: So wähle denn die Verzweiflung, denn die Verzweiflung ist selbst eine Wahl, denn zweifeln kann man, ohne es zu wählen, verzweifeln aber kann man nicht, ohne es zu wählen. Und indem man verzweifelt, wählt man wieder, und was wählt man da, man wählt sich selbst, nicht in seiner Unmittelbarkeit, nicht als dieses zufällige Individuum, sondern man wählt sich selbst in seiner ewigen Gültigkeit.365
Was hier angesprochen wird, ist kein Sich-für-etwas-entscheiden-Können, sondern das Wählen-Müssen der Bedingung der Wahl. Diese Bedingung liegt in der Möglichkeit der Wahl, die der Mensch in der Verzweiflung setzt. Gerade wurde vorgeschlagen, statt des Begriffes der Wahl jenen des Bekenntnisses zu verwenden, eine Anregung, die nur im Vorfeld des zitierten Gedankenganges hätte geprüft werden können. Denn dort konnte noch davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Einwilligung in die Bedingtheit des Daseins handelt. Nun wird sichtbar, dass es notwendig ist, am Begriff der Wahl festzuhalten, denn erst dieser bringt den spezifischen Charakter des Gedankens zum Ausdruck. Zu verzweifeln und zu wählen, sind sich gegenseitig bedingende Momente der Selbst-Bewusstwerdung. Ich wähle, was meine Wahl unumgänglich fordert. Damit ist jedoch alles andere als ein Sich-Abfinden mit der Verzweiflung gemeint, die so lange unterdrückt wurde, und alles andere als die Euphorie des Wählen-Könnens, sondern die Einsicht in die Prägungsbedingung des Selbst-Seins. Ist diese Einsicht zu Bewusstsein gelangt, wäre es sinnlos, vom Selbst-Sein-Können zu sprechen, da das Selbst sich in dem Moment bereits seiner als bedingt-bedingend bewusst geworden ist: Dieses Selbst ist zuvor nicht dagewesen, denn es ist durch die Wahl geworden, und doch ist es dagewesen, denn es war ja ‹er selbst›. Die Wahl vollzieht hier gleichzeitig die beiden dialektischen Bewegungen: was gewählt wird, ist nicht da und entsteht durch die Wahl; was gewählt wird, ist da, sonst wäre es keine Wahl. Wenn nämlich das, was ich wähle,
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Entweder – Oder, S. 768.
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nicht da wäre, sondern absolut durch die Wahl entstünde, so wählte ich nicht, so erschüfe ich; aber ich erschaffe mich nicht, ich wähle mich.366
Wenn sich in diesem Moment Assoziationen an das Bild des Wesenswandels einstellen, das sich im Stern der Erlösung fand, geschieht es nicht zufällig. Denn beide Auffassungen sehen in ihm die Möglichkeit, das Bestehende zu verändern, indem der Prozess der Verwandlung nicht von selbst abläuft, sondern sich im Selbst ereignet. Diese Vorstellungen müssen kontrastiert werden, da nur Letztere von Bewusstsein begleitetes Geschehen ist. Denn nur so, darin stimmen Rosenzweig und Kierkegaard überein, gewinnt dieser Vorgang seine außerordentliche Dimension, die in der Wahl des Nicht-Wählbaren besteht. Diese kann nicht als Zeichen individuellen Wollens betrachtet werden, bevor sie stattfindet, darauf hatte vor allem Rosenzweig hingewiesen. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von der Scham, die das Selbst empfinde, wenn es begreife, die Verwandlung nicht aus eigener Kraft vollzogen zu haben. Sogar Martin Heidegger vertritt den Standpunkt, dass das Eigentliche nicht gewollt werden könne, da es dann als zielgerichtetes Streben erscheinen würde. Die Verzweiflung, von der Kierkegaard spricht, ist vielleicht das stärkste Motiv, um das Nicht-Wollen-Können der Wahl auszudrücken, die dennoch Zeichen des Wählens ist. Das Erstrebenswerte nicht erstreben zu können – darin liegt eines der markantesten Merkmale existenzphilosophischen Denkens, das die stärksten Auswirkungen auf die Überlegungen zur Ethik hat. Denn das Paradox, das vielleicht noch relativ unscheinbar wirken mag, solange es im Kontext der Selbst-Bewusstheit betrachtet wird, bedeutet hierfür eine unübersehbare Herausforderung. Wenn das Erstrebenswerte, das nach wie vor als solches erkennbar ist, nicht erstrebt werden kann, kann es auch nicht als gut in dem Sinne qualifiziert werden, dass es das Wünschen des Menschen moralisch auszeichnet. Auf der anderen Seite ist die Verwandlung, die sich nach Kierkegaard im Geschehen der Wahl ausdrückt, nicht als zufällig über den Menschen kommendes Ereignis zu sehen, da ihr nur durch das Testat der Einwilligung jene den Menschen verwandelnde Gewichtung zukommt, die nicht ohne Grund von ihm als «ethisch» bezeichnet wird. Dabei geht es Kierkegaard bei der Verwendung dieses Begriffes nicht um die Ankündigung, dass nun Aussagen über den Unterschied zwischen «gut» und «verwerflich» und Strategien zur Verwirklichung des einen und Vermeidung des anderen zu erwarten wären. Die Bestimmung des Ethischen ist hier nicht moralphilosophischer, sondern existentieller Natur, denn sie verweist auf die Zeitlichkeit des Daseins. Die Wahl, die er in höchster Eindringlichkeit als das nicht zu Vermeidende schlechthin ausweist, erfolgt einmal und ein für alle Mal. Denn sie bestätigt die Einsicht in die Bindungsfähigkeit des Menschen als existentielle Bestimmung. Rosenzweig drückte diesen Gedanken durch den Hinweis aus, dass 366
Entweder – Oder, S. 773 f.
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die Liebe zu einem Menschen mit der Menschenliebe gleichwertig ist. Die Bindung an einen Menschen, die Kierkegaard als Zeichen ethischen Verhaltens deutet, ist nicht deshalb ethisch, weil sie Normen oder Moralvorstellungen der Gesellschaft entspricht, sondern weil sie die generelle Fähigkeit des Menschen bekundet, sich für alle Zeit zu binden. Damit stehen seine Aussagen nicht mehr auf der Ebene moralischer Erwägungen, sondern ethischer Reflexionen. Gleiches trifft für Rosenzweigs Darstellung zu. Auch sie zeigt nicht, wie das Liebesgebot eventuell umgesetzt werden kann, sondern worin dessen grundsätzliches Merkmal besteht. Und dieses besteht darin, dass dessen Befolgung nicht Gegenstand der Entscheidung sein kann. So bedeutet das Gebot keine moralische Unterweisung, die Einzelfall-abhängig auf ihre Umsetzung geprüft werden kann, sondern Aufforderung, die aus der Tatsache des Seins folgt. Im üblichen Gebrauch wird der Begriff des Gebotes wohl eher als Weisung verstanden, die von einer Person oder einer Instanz mit legislativer Macht ausgesprochen wird. Diese Sichtweise wird auf den ersten Blick dadurch bestätigt, dass bei Rosenzweig von einem göttlichen Gebot die Rede ist. Doch zugleich besteht die andere Möglichkeit, diesen Gedanken zu verstehen darin, den Begriff eher als es ist geboten, also in unpersönlicher Form, aufzufassen, wie es etwa im französischen il faut der Fall ist. Dann wird deutlicher, warum gegen das Gebot, gegen dasjenige, was geboten ist, keine Entscheidung erfolgen kann. Die Forderung entspringt nicht der Weisungsbefugnis von jemandem, sondern der Bedingung durch etwas. Diese Bedingung ist das Sein. Der Gedanke, der vielleicht im ersten Moment nicht zu überzeugen vermag, wird durch den Blick auf Jean-Luc Nancys Konzeption des Mit-Seins verständlicher. Zur Erinnerung sei noch einmal darauf hingewiesen, dass er im Mit keine Eigenschaft des Seins sieht, die ihm zugesprochen werden kann, sondern die Kennzeichnung des Seins. Dieses ist immer MitSein, das heißt, es ist in jedem Augenblick durch seine Struktur des Abstandes zwischen Seienden gekennzeichnet. Verdeutlicht diese Auffassung nicht besonders gut, dass folglich auch in jedem Moment diese Struktur als Forderung erscheint, die nicht dieses oder jenes Individuum artikuliert, sondern die tatsächlich dem Sein inhäriert? Es wäre aus dieser Perspektive betrachtet sogar unpräzise, sollte die Forderung des es ist geboten aus dem Sein abgeleitet werden. Denn dann wäre nach den Bedingungen dieser Ableitung gefragt worden, die letztlich nur in Formen der Erkenntnis zu suchen wären. Stattdessen ist Sein Forderung, ohne Rechtfertigung und ohne Begründung. Vor diesem Hintergrund fällt noch einmal ein klärendes Licht auf Franz Rosenzweigs Aussage, das Gebotene könne nicht Gegenstand der Entscheidung sein. Denn wenn es – wie auch er parallel zur religiösen Deutung zeigt – mit dem Sein einhergeht, heißt Sein zu verstehen, das Gebotene zu verstehen. Interessant ist, dass in diesem Fall nicht mehr zwischen verschiedenen Kompetenzen wie etwa dem Glauben, der theoretischen und der praktischen Vernunft zu unterscheiden ist, da kein Vermögen eine andere Einsicht als die
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jeweils anderen erbringen könnte. Ein weit zurückreichender Blick bestätigt nun auch noch einmal die Bedeutung, die dem Begriff der Erfahrung im Konzept des Neuen Denkens zufällt. Sie wird von Rosenzweig als komplexe Form des Verstehens interpretiert, in der sich rationale und emotionale Anteile verbinden und in einem einzigen Akt die Erschließung der Seins-Beschaffenheit ermöglichen, die nach traditioneller Sicht nur auf dem Wege der Abstraktion hätte ermittelt werden können, wenn sie denn Gegenstand des Erkenntnisinteresses gewesen wäre. Es ist insofern kein Wunder, dass bereits Søren Kierkegaard den Phänomenen von Angst und Verzweiflung größte Aufmerksamkeit schenkt. Denn ihre Wirkungen sind unverzichtbar, um Erfahrung zu initiieren, die als existentielle Bewegung erscheint. Diese Formulierung mag irritieren. Sie soll zeigen, dass diese Bewegung nicht Folge von Erfahrung, sondern bereits deren Bestandteil ist. Die bisherigen Aussagen könnten den gegenteiligen Eindruck erweckt haben, so als wäre ohne Erschütterung keine existentielle Bewegung möglich. Wenn es so wäre, bestünde das Problem, vor dem wir gerade stehen, nicht. Denn dann könnte immer davon ausgegangen werden, dass zwischen Erfahrung und existentieller Reaktion die Zeit zur Entscheidung gegeben wäre. Es könnte dann immer noch abgewogen werden, ob es zugelassen werden soll, dass die Erfahrung ihre alles bisherige Agieren infrage stellende Wirkung ausüben kann. Genau diese Entscheidung ist, wie sich jetzt zeigt, nicht möglich, weil es keinen Augenblick gibt, der Erfahrung und Existenz voneinander trennen könnte, um ein Eingreifen zu erlauben. Ist in der Erfahrung von Angst und Verzweiflung, die auch Heidegger in entsprechender Weise thematisiert, die Einsicht in die Natur des Seins erschlossen, ist diese Einsicht bereits Kennzeichen der Existenz. Denn das bestätigen alle hier vorgestellte Denker: Existenz ist Verstehen der Forderung im Sein. Diese Überzeugung vertritt auch Jean-Luc Nancy, wenn er von der «Fundamentalethik» Martin Heideggers spricht und damit auf den grundsätzlichen Charakter jener Forderung verweist, die mit dem Sein, das bereits in Sein und Zeit unter dem Aspekt des Mit-Seins gedacht wird, einhergeht – nicht folgt. Warum wird diese Unterscheidung vorgenommen? Sie zeigt, dass nicht zwischen dem Sein und seiner Forderung differenziert werden kann, so als würde erst Sein gedacht, aus dem dann eine Forderung ethischer Bedeutung abgeleitet werden könnte. Denn mit welcher Begründung könnte das erfolgen? Eine Erklärung auf kausaler Ebene wäre zu formulieren, die den Grund benennen müsste, warum aus der Tatsache unseres Seins ein Appell an unsere moralische Kompetenz ergeht. Doch welche Begründung sollte gegeben werden? Weil das Sein einen Wert an sich darstellt und infolgedessen zu respektieren ist? Weil alle Seienden aufeinander angewiesen sind? Weil es gut ist, sich der Forderung des Seins gemäß zu verhalten? Alle möglichen Ansätze treffen zwar zu, taugen jedoch nicht zur Begründung des Forderungscharakters des Seins. Denn dann müsste es möglich sein, sich zumindest für einen Augenblick dem Sein reflektierend entgegensetzen zu können, um den Wert dessen zu benennen, dem eine Weisungsdominanz zuge-
Entscheidung für das Gute
schrieben werden soll. Damit würde der Eindruck vermittelt, als gäbe es eine Auswahl zwischen Gegebenheiten, denen Wert oder Un-Wert attestiert werden könnte. Genau dieses Verfahren funktioniert in diesem Fall nicht. Es ist schlichtweg nicht möglich zu begründen, warum Sein eine Forderung ausdrückt. Es drückt sie aus, weil keine Alterative vorstellbar ist. Doch ist diese Feststellung wirklich überzeugend? Was ist zum Beispiel mit einem Menschen, der aus bestimmten Gründen keinen Sinn mehr darin sieht, an seinem Leben festzuhalten? In diesem Fall gibt es eine Alternative, die ebenso stichhaltig erklärt werden kann wie ihr Gegenteil. Mit diesem Einwand ist eine andere Ebene der Betrachtung gewählt worden. Dem Leben kann Wert zugesprochen werden, weil dieser den vorgestellten Wert des Todes überwiegt. Auf der Ebene des Seins-Denkens greift diese Erklärung nicht, denn das Leben kann beendet werden, nicht jedoch das Sein. Unter moralischer Perspektive wäre die Diskussion möglich, ob und warum es sinnvoll sein kann, die eine oder die andere Option zu wählen. In ethischem Blickwinkel kann genau diese Diskussion nicht geführt werden. So wie das Sein nicht Gegenstand der Entscheidung ist, können es auch nicht seine eventuell denkbaren Attribute sein, zu denen dasjenige des Forderungscharakters zählen würde. Diese Feststellung ist für die Frage nach einer existentiellen Ethik wichtig. Die vorangegangenen Überlegungen haben das Fundament für die Auffassung gelegt, dass Existenz nicht als Sonderfall des Seins zu betrachten ist, wodurch sich der Mensch zum Herrn über das Sein erheben kann. Diese letzte Formulierung soll provozieren, denn exakt diese Folgerung kann sich aus einer Deutung der Existenz als Seins-Weise des Menschen ergeben. Er allein vermag sein Sein zu gestalten, wohingegen alles Seiende in der starren Unveränderbarkeit des Gegebenen verharrt. Die intensivere Beschäftigung mit den Konzeptionen von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger hat nun aber gezeigt, dass von einer stummen Gegebenheit, die mit dem Begriff des Seins bezeichnet werden soll, keine Rede sein kann. Beide betonen in unterschiedlichen Darstellungskontexten, dass auch der Begriff des Seins auf ein beständiges Werden-Können verweist, das sich in der Gestaltung des Gegebenen ereignet. Wurde bisher der Akzent der Möglichkeit, sich zu entwerfen, ausschließlich mit dem Begriff der Existenz verbunden, gilt er nun auch für die Vorstellung vom Sein. Macht es dann aber überhaupt noch Sinn, beide zu unterscheiden? Beide Denker könnten diese Frage unter Hinweis auf ihre graphisch hervorgehobenen Ausdrücke «Da-sein» und «Seyn» beantworten. Beide deuten mit diesen Begriffen, die nicht zum gängigen Repertoire philosophischer Terminologie zählten, an, dass eine neue Form möglich ist, unter der über Sein und Existenz gesprochen werden kann. In diesen neuen Formen reduzieren sich die Gegensätze von Sein und Existenz, die als Beständigkeit und Entwurfsdynamik gefasst werden können, auf ein Minimum, wie auch durch den Gedanken des Seins-Wandels bekräftigt wird, den beide vertreten. In pragmatischem Kontext ist dieser erforderlich, weil das Verstehen-Kön-
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nen des Seins aus den Überschattungen durch zielgerichtetes und zweckorientiertes Denken – so stellt es Heidegger dar – zu befreien ist. In diesem Zusammenhang könnte und müsste nach moralischen Richtlinien gefragt werden, die den Umgang miteinander und mit den Ressourcen in Natur und Umwelt regeln. Das Denken des Seins kann auf Fragen dieser Art nicht antworten, wie sich gerade angedeutet hat. Von einem solchen Denken können nicht einmal ethische Aussagen erwartet werden, wenn sie denn unter der Maßgabe der Begründbarkeit formuliert werden sollen. Der Vorwurf, Heidegger habe keine Ethik konzipiert, ja sogar die Enttäuschung derer, die sie sich gewünscht hätten, laufen in Anbetracht dieses Umstandes buchstäblich ins Leere. Noch einmal bietet sich die Erinnerung an den Stern der Erlösung an: Nächstenliebe als Ausdruck der Relationalität des Seins kann nicht Forderung moralischer Begründung sein, sondern ausschließlich in dem Sinne geboten werden, dass es geboten ist, sie zu praktizieren. Doch wird hier nicht ein massiver Einwand erkennbar? Warum ist denn überhaupt ein Seins-Wandel erforderlich, wenn das Gebot des Seins eindeutig ist? Wie konnten sich Formen des Denkens und Handels entwickeln, die dieser Weisung ganz offensichtlich nicht entsprechen? Es gibt also doch die bisher bestrittene Möglichkeit, sich gegen Existenz als Verstehen-Können des Seins zu entscheiden. Aus den Konturen dieser Fragen scheint von Ferne die uralte Frage hindurch, wie das Böse in die Welt kommen konnte, wo doch das Gute geboten ist. Denken, dass sich nicht der Relationalität des Seins bewusst ist, als böse zu bezeichnen, würde freilich zu weit gehen. Doch der Konstruktion nach stimmen die genannten Überlegungen überein. Wenn das Sein zeigt, wie zu sein ist, und diese Weise dem Menschen gemäß ist, insofern er sich letztlich nicht gegen sie entscheiden kann, bleibt kaum Spielraum zur Begründung gegenteiligen Verhaltens, wie immer es auch bezeichnet wird. Für Rosenzweig und Heidegger scheint die Erklärung gar nicht allzu problematisch zu sein. Das Agieren vor dem SeinsWandel, den Rosenzweig explizit als Selbst-Wandel kennzeichnet, kann deshalb vom Gebotenen abweichen, weil es dieses noch nicht verstanden hat. Warum sonst wenden die Denker der Existenz so viel argumentative Sorgfalt darauf an, den Moment des Umschlagens von Ahnungslosigkeit in Bewusstheit zu beschreiben? Das zielgerichtete Denken im Sinne Heideggers ist nicht an sich schlecht, sondern defizitär in Bezug auf sein Mögliches, das noch nicht einmal in Betracht gezogen werden konnte, solange die Erschütterung im Erleben nicht jene zeitliche Zäsur geschaffen hat, die zur Besinnung unverzichtbar ist. Das «edelstumme Selbst» im Stern der Erlösung ahnte noch nicht einmal, dass es noch unvollendet ist und der Wandlung zum ganzen Menschen bedarf. Auch dort ist eine Erschütterung notwendig, die in diesem Fall jedoch positiver Natur ist. Es ist das göttliche Liebes-Gebot. Dort, wo die Möglichkeit, sich anders zu verhalten, nicht bekannt ist, kann das Fehl-Verhalten, als das es später erscheint, dem Handelnden nicht angelastet werden. Selbst Heideggers Gedanke der «Seinsvergessenheit»
Entscheidung für das Gute
ändert an dieser Auffassung nichts, da er auf die ununterbrochene Geschäftigkeit des Menschen verweist, die es verhindert, dass der «Ruf» des Seins zu ihm durchdringen kann. Seins- und Selbst-Wandel verändern die menschliche Verfassung von Grund auf, wie bereits Søren Kierkegaard durch seinen Begriff der «ewigen Gültigkeit» anzeigte, die der Wahl des Selbst zukommt. Um noch einmal daran zu erinnern: Damit ist nicht gemeint, dass sich das Selbst aus freien Stücken wählt, sondern dass es sein Nicht-anders-sein-Können bestätigt. Ist Bestätigung der geeignete Ausdruck? Die deutsche Sprache ist nicht gerade reich an Begriffen, die einen Vorgang der Anerkennung ausdrücken, ohne zugleich die Vorstellung von dessen Verweigerung zu erwecken. Genau das müsste der passende Ausdruck hier aber leisten. Er müsste das Paradox fassen, einem Faktum die Zustimmung zu erteilen, ohne dass diese zu irgendeinem Zeitpunkt hätte verweigert werden können. Mit Blick auf Kierkegaards Denken mag der Begriff der Bestätigung taugen, da er, ähnlich wie der der Wahl, gerade in seiner ursprünglichen Bedeutung die Besonderheit der Entscheidungslosigkeit im Entschluss artikulieren kann. Zur Beschreibung der Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger bietet er sich hingegen nicht an. Zu stark steht bei beiden der Gedanke im Vordergrund, dass selbst das Wählen-Wollen des Seins-Wandels noch Merkmal zielorientierten Denkens wäre. Ein vergleichbares Dilemma ist aus Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung bekannt. Dort wird für die Enthaltung vom Wollen plädiert, in dem eine permanente Bestätigung des «Willens zum Leben» gesehen wird. Doch schon der Wunsch, nicht zu wollen, wäre Ausdruck des Willens. Der Ausweg, den Schopenhauer zeichnet, ist nicht weit von den Lösungen der beiden späteren Denker entfernt. Das Aussetzen des Wollens kann den Menschen unvorbereitet ereilen, was vornehmlich im Betrachten des «Schönen» oder im Gefühl des «Erhabenen» eintreten kann: Wann aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, […] die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität […]: dann ist die auf jenem Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, […].367
«Plötzlich» und «von selbst», das sind die Bestimmungen, die auch auf den Seins-Wandel, der nicht gewählt werden kann, weil er dann kein solcher mehr wäre, anwendbar sind. Für die Frage nach einer Ethik der Existenz bedeutet diese Kennzeichnung allerdings das größte anzunehmende Problem. Denn in der Vorstellung, wie sie Bestandteil der westlichen Rationalität ist, kann von einer ethischen Aussage nur dann gesprochen werden, wenn sie die Entscheidungsmög367
Die Welt als Wille und Vorstellung, III, § 38, S. 266.
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lichkeit des Menschen voraussetzt. Dabei verbindet sich die frühe philosophische Sichtweise fast bruchlos mit der christlichen Auffassung. In ersterem Sinn muss es dem Menschen möglich sein, nach dem höchsten Gut zu streben und dabei bestimmte Fertigkeiten zur Anwendung zu bringen. Nach christlichem Verständnis ist der Gedanke der Verdiensthaftigkeit von zentraler Bedeutung, da die Vorstellungen von individueller Güte und dereinst erfolgender Vergeltung eine starke Motivation zum Befolgen der Gebote darstellen. Mit den Schriften von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger liegen Zeugnisse eines Denkens vor, das sich diesen beiden Traditionen nur bedingt verpflichtet zeigt – etwas anderes war von Rosenzweig natürlich auch nicht zu erwarten. Doch genügt beiden bereits der philosophische Entwicklungsstrang, um zur Opposition aufzurufen, so dass sich das Neue Denken auch in diesem Kontext auswirkt. Wenn es ein Konzept von erstrebenswertem Verhalten gäbe, dann läge dessen Verwirklichung zwar in den Händen, aber nicht im Wollen des Menschen. Noch einmal tritt der Gedanke in den Vordergrund, dessen Konturen sich immer deutlicher abzeichnen: Hat die Erschütterung stattgefunden, die dem Menschen die Möglichkeit einer anderen Weise, zu sein, bewusst werden lässt, ist eine Entscheidung hierfür nicht mehr erforderlich. Diese Formulierung ist noch etwas zurückhaltend, weil sie nur die eine Hälfte des Gedankens benennt. Die andere Hälfte bietet ausreichend Brisanz, um die Fundamente westlicher Ethik zu untergraben. Hat die Erschütterung stattgefunden, ist eine Entscheidung für die andere Weise, zu sein, nicht mehr möglich, denn diese ist bereits Realität geworden, und zwar nicht zwingend in Form ihrer Konkretionen, sondern im Bewusstsein. In etwas anderer Begrifflichkeit hieße das, dass das Verstehen des Seins, das auch als Existenz bezeichnet werden kann, nicht nicht-gewollt werden kann. Ein Schwenk zurück zum Anfang dieses Kapitels hebt die Dimension dieses Gedankens noch einmal eigens hervor. Unter Hinweis auf die grundsätzliche Nähe existenzphilosophischen Denkens zur traditionellen Vorstellung vom Wesen zeigte sich, dass auch dieses Denken noch immer vom Bild eines dem Menschen Eigentümlichen ausgeht – seiner Existenz-Fähigkeit. Wird die Entsprechung dieses Bildes zum Gedanken der Vernunftbegabtheit nun aufgegriffen, wird trotz der funktionalen Ähnlichkeit eine deutliche Differenz sichtbar. Am Konzept der Vernunftbegabtheit hängt die Vorstellung des Höchstmaßes verwirklichter Rationalität, für das der Mensch verantwortlich ist, obwohl die Ausrichtung seiner Entwicklung vorgegeben ist. Das reine Denken ist das Ziel, dem sich grundsätzlich jeder Mensch Schritt für Schritt anzunähern vermag. Weil diese Annäherung als sein Verdienst betrachtet werden kann, ist das Höchstmaß der Erfüllung mit dem Zustand der Glückseligkeit als erfüllte Möglichkeit gleichzusetzen. Diese Konstruktion entspricht zumindest der Auffassung des Aristoteles, die, da sie die früheste explizite Theorie der Ethik darstellt, in diesem Moment stellvertretend aufgegriffen wird. Wird dieser Ablauf nun mit dem Gedanken der Existenz-Fähigkeit als wesensadäquatem Merkmal
Kontrastierungen
des Menschen durchgespielt, ergibt sich ein frappierender Unterschied. Da der existentiellen Bewegung lediglich eine Richtung, doch keine Erfüllung möglich ist, ist sie als unabgeschlossener Prozess zu bewerten. Und da nun kein Höchstmaß mehr benannt werden kann, das es zu erstreben gilt, fällt der Aspekt der Verdiensthaftigkeit fort. Der Mensch kann nicht gezielt agieren, um einen Status der Erfüllung zu erreichen, da es diesen nicht gibt. Damit wird aber auch der Aspekt der menschlichen Verantwortung zunächst hinfällig, da weder Erfolg noch Versagen, weder Fort- noch Rückschritt dem Einzelnen zugeschrieben werden können, solange dafür dessen willentliche Veranlassung erforderlich sein soll. Was wird aber schließlich aus einer Ethik, die sich nicht auf die Gedanken der Entscheidungsfreiheit und der Verantwortung berufen kann? Bedeutet es nicht geradezu eine Zumutung für das Bild des Menschen, wenn dasjenige, das ihn auszeichnen soll, ihm letztlich ohne eigenes Zutun zufällt? Sind wir zur Untätigkeit verurteilt, insofern wir die Existenz nicht wollen können?
Kontrastierungen Es ist in der Tat ein Merkmal der westlichen Denktradition, Begriffen erst durch Kontrastierung Bedeutung zu verleihen, indem die Entgegensetzungen einander ausschließen. Vernunftbegabtheit oder Emotionalität, Aktion oder Untätigkeit, Sein oder Existenz – die Liste könnte beliebig fortgeführt werden. Auch an diesem Punkt setzt das Neue Denken an, das allmählich seine ganze Dimension zu erkennen gibt. Rosenzweig hat es angekündigt: Es geht dabei nicht um den Austausch einzelner Diskurs-Elemente, sondern «des Denkens vollkommene Erneuerung». Dieses gigantische Projekt schließt, wie sich jetzt abzuzeichnen beginnt, den Versuch ein, das dualisierende Denken zu überwinden. Dieses ist nicht an sich erneuerungsbedürftig, sondern aufgrund des gerade erwähnten Ausschlussverfahrens jeweils einer Komponente der begrifflichen Gegenüberstellung. Die Frage, ob wir zu Untätigkeit verurteilt sind, weil wir Existenz weder wollen noch verantworten können, spiegelt die traditionelle Denkweise. Denn in ihr scheint es nur das Entweder-Oder zu geben, das jede Form der Vermittlung verhindert. Es wäre also zu überlegen, ob es einen zwingenden Grund dafür gibt, kontrastierend und ausschließend zu denken oder ob tatsächlich ein anderes Denken vorstellbar wäre. Ansätze hierfür sind uns bereits begegnet. Das erste Beispiel zeigte sich in dem Versuch, die Begriffe der Erfahrung und der Erkenntnis einander anzunähern. Doch was heißt hier Annäherung? Wird damit nicht riskiert, die trennscharfen Bedeutungskonturen beider Begriffe zu verwischen, so dass eine Aussage, die so fundiert werden soll, letztlich ihren Aussagewert einbüßt? Rosenzweig ist davon überzeugt, dass der Irrtum der Philosophie gerade in der gegenteiligen Ansicht besteht. In ihr wird davon ausgegangen, dass wir es mit Erfahrung zu tun haben, deren empirischer Anteil aufgelöst werden muss, damit
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sie zu Erkenntnis führen kann. Andererseits sprechen wir von Erkenntnis nur dann, wenn ihre empirische Grundlage ausgeblendet werden konnte. Die beiden Begriffe Erfahrung und Erkenntnis werden stets nur im Nacheinander gebraucht, niemals als Beschreibungselemente ein und desselben Aktes des Verstehens. Zur Illustrierung der von Rosenzweig propagierten alternativen Vorgehensweise bietet sich die Vorstellung der Existenz wie keine zweite an. Niemand würde vermutlich bestreiten, dass die Erschütterung, die als ihr erstes Anzeichen gilt, emotionaler Natur ist. Sie affiziert uns mitunter in schmerzlichster Weise. Für Rosenzweig ist es nun inakzeptabel, diese Affektion auszublenden, um zu einem Ertrag der Erkenntnis gelangen zu können, abgesehen davon, dass er die Annahme einer zeitlichen Abfolge beider für nicht überzeugend hält. Hier setzt also seine Deutung von Erfahrung an, die in einem einzigen Akt Affektion und Verständnis einschließt. Insofern kommt dieser Akt im Endeffekt jenem Verstehensgewinn, der sonst der Erkenntnis zugeschrieb wird, durchaus nahe. Die Identität beider anzunehmen, würde die Überwindung des kontrastiven Denkens bedeuten. Ein weiterer Motivkomplex, der zur Veranschaulichung dieses Überwindungsversuches herangezogen werden kann, ist jener des Hörens beziehungsweise des Angesprochen-Werdens. Traditionellerweise werden Begriffe wie diese rein rezeptiv verstanden, indem der Hörende und der Angesprochene ein Zeichen empfangen. Rezeptiv oder aktiv – ein Verbindendes scheint nicht von Interesse zu sein. Beispiele aus dem Zusammenhang der Sprechakttheorien tragen das ihrige dazu bei, eine präzise Trennung zwischen Aufnahme und Sendung einer Mitteilung zu verifizieren. Anders ist es bei Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, was gewiss nicht überraschen wird. Nur derjenige ist in der Lage, den Ruf des Seins zu empfangen, der bereits in der Notation des Seins gestimmt ist. Oder, um noch einmal Kierkegaards Denken hinzuzuziehen: Die Wahl der Verzweiflung trifft nur derjenige, der sie bereits vollzogen hat. Natürlich spricht einiges dagegen, das Aufnehmen als Form von Aktivität zu deuten. Denn es könnte darauf bestanden werden, dass dabei lediglich ein Vermögen aktiviert wird. Doch könnte der Ruf mit aller Intensität erklingen und würde dennoch nicht aufgenommen, wenn sich nicht die Bereitschaft, ihn zu empfangen, längst formiert hätte. Für die Formulierung einer ethischen Konzeption besteht hier die wohl größte Herausforderung. Sie muss zeigen, dass Nicht-wählen-Können kein Zeichen von Hilflosigkeit und Nicht-handeln-Sollen kein Indiz für Gleichgültigkeit ist. Derartige Folgerungen unterstützt das traditionelle westliche Denken und erweckt damit den Eindruck, alternativlos zu gelten. Doch trifft das zu? Die Frage ist viel zu umfassend, als dass an dieser Stelle eine abschließende Antwort auch nur versucht werden könnte. Doch eines ist möglich und, wie ergänzt werden soll, angebracht: den Spuren von Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und JeanLuc Nancy zu folgen und zu schauen, wie weit sie in ihrer jeweils unterschiedlichen Vorgehensweise gelangt sind. Dass diese Zusammenstellung nicht auf den
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ersten Blick einleuchten mag, ist sogar wahrscheinlich. Umso wichtiger ist es, gerade an dieser Stelle noch einmal auf ein Merkmal aufmerksam zu machen, das ihre Konzeptionen verbindet. Es handelt sich um den Gedanken der Form, der bereits angesprochen wurde. Dass er gerade in diesem Moment noch einmal aufgegriffen wird, liegt daran, dass auch er in den Kontext der Vermeidung kontrastiven Denkens gehört. Erfahrung und Erkenntnis, Können und Nicht-Können waren die beiden Kontrastierungen, die sich bisher gezeigt haben. Nun tritt diejenige von Vermittlung und Geschehen hinzu, keine Gegenüberstellung im engeren Sinn, wie vielleicht eingewendet werden kann, da die Annahme der einen nicht den Ausschluss des anderen erfordert. Aber ist es nicht doch so? Mit dem Begriff der Vermittlung wird hier auf das Form-Verständnis der Philosophie gedeutet, wie es sich am Großteil ihrer Texte ablesen lässt. Aussagen sollen vermittelt werden, um Erkenntnis zu ermöglichen. Dabei wird der Bedeutungsspielraum der einzelnen Termini und Theoreme so eng wie möglich gehalten, um so ein weitgehend präzises Nach-Denken zu gewährleisten. Der Verfasser gibt jene Form vor, die der Strukturierung der Gedanken am dienlichsten ist. Dort, wo in dieser Weise verfahren wird, die ohne Frage sinnvoll ist und sich zudem über einen langen Zeitraum bewährt hat, kann nicht gleichzeitig auf die Ermöglichung des Geschehens im Denken gezielt werden. Die eher hermetische Form argumentativ akzentuierter Ausführungen verhindert gerade jene Momente des Eingreifens und Einschreibens in den Text, die im dekonstruktivistischen Denken möglich werden. Ohne Frage werden beide Deutungen von Textualität und ihrer Funktion im Augenblick sehr plakativ gezeichnet, was dem Versuch geschuldet ist, ihre Relevanz für den Kontext des kontrastiven Denkens zu veranschaulichen. Wenn hier von hermetischer und öffnender Textualität gesprochen wird, scheinen allein die Begriffe wertende Konnotationen zu beinhalten. Doch um eine Wertung geht es momentan nicht, sondern darum, Alternativen im Denken und seiner Artikulation aufzuzeigen. Rosenzweig, Heidegger und Nancy teilen die Auffassung, dass weder ihr Denken noch ihr Schreiben zu einer Erkenntnis führt, die, einmal gewonnen, unverändert Bestand haben kann. Am deutlichsten wird dies in Heideggers Texten, wenn er in aller Klarheit formuliert, sein Denken werde zu keinen Ergebnissen führen. Metaphorisch wird diese Feststellung durch das immer wieder auftauchende Bild des Weges gestützt, der nicht als kürzeste Verbindung von Ausgangs- und Endpunkt verstanden wird, sondern als Bewegung des Denkens, das es wagt, zielunbedürftig zu agieren. Jean-Luc Nancy ist eher zurückhaltend, was Selbstauskünfte über das eigene Denken betrifft. Doch die Form seiner Texte spricht für den Wunsch, das Geschehen des Denkens zu ermöglichen und zuzulassen. Denn in einer solchen Bereitschaft zur Öffnung der Form liegt doch auch stets ein Stück Kontrollverlust, da es weder praktikabel noch wünschenswert ist, dass der Aufnehmende den Vorgaben in exakt dem Sinne folgt, in dem sie konzipiert wurden. Die am stärksten der traditionellen Form-Auffassung verpflichtete Gestalt scheint der Stern der
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Erlösung zu zeigen, was nicht verwunderlich wäre, da Rosenzweig erklärt, «ein System von Philosophie» zu präsentieren. Doch sprechen Elemente wie Graphisierung der Schrift, Brüche der Argumentationsstruktur und die Einbeziehung typographischer Mittel eine andere Sprache. Zur Erinnerung seien diese drei Elemente noch einmal kurz erläutert. Graphisierung liegt in der Auflösung des Wort-Korpus durch Einfügung von Bindestrichen vor. Brüche der Argumentationsstruktur zeigen sich etwa im Wechsel vom erzählenden zum dialogischen Denken und ein typographisches Mittel wird dort angewendet, wo der Satzspiegel einer Textseite durch seine Anordnung den Sinn des Gesagten darstellt. All diese Ansätze und zum Teil auch schon ausformulierten Gestaltungsmöglichkeiten verdeutlichen, dass selbst eine so festgefügt wirkende Form wie die eines Textes nicht zwingend eine Entscheidung zwischen Vermittlung und Geschehnis erfordert, sondern dass Formen vorstellbar sind, in denen traditionelles und Neues Denken ihren Ausdruck finden können und zwar nebeneinander. Aus dieser Perspektive betrachtet, wirkt der Stern der Erlösung nicht mehr wie ein erster Versuch, der jedoch noch nicht alle Register der Neuen Form hat ziehen können, sondern wie ein Beispiel für das gleichzeitige Bestehen verschiedener Form-Ansprüche. Ein solches Nebeneinander ist kein Zeichen von Unentschlossenheit des Verfassers, sondern des Wunsches, dem kontrastiven Denken nicht allein das Feld der Textgestaltung zu überlassen. Denn es sind Alternativen möglich, wie die Schriften dieser drei Denker belegen. Die Suche nach ihnen ist noch nicht abgeschlossen.
Die dritte Bedeutung Diese letzten Überlegungen bereiten den nächsten und wichtigsten Schritt vor, der nun getan werden kann. Gerade hatte sich eine für ethische Konzeptionen fatale Situation angedeutet, die entsteht, wenn dem Menschen seine Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Zu dieser Konsequenz führten die Feststellungen, dass das Erstrebenswerte nicht gewollt und das Getane nicht als Beleg individuellen Verdienstes, ja nicht einmal individueller Verantwortung gewertet werden kann. Denn die Initiierung der existentiellen Bewegung geschieht ohne Zutun des Menschen, geschieht ihm, wie es auch formuliert werden könnte. Er kann sie sich weder wünschen noch Vorkehrungen treffen, um sie herbeizuführen. Stattdessen ist es ihm – nach traditioneller Auffassung – lediglich möglich, auf die Erschütterung, die ihm wiederfährt, zu reagieren. Doch nicht einmal diese Reaktion liegt in seiner Hand, da er nicht zu entscheiden vermag, ob er sie zulassen oder ignorieren will. Die sich aktualisierende existentielle Bewegung, die letztlich das den Menschen Auszeichnende sein sollte, kann ihm damit nicht in der Weise zugeschrieben werden, dass sie sich seiner Initiative verdankt. An den entscheidenden Schnittstellen, an denen eine ethische Interpretation ansetzen könnte, begegnen
Die dritte Bedeutung
Vorstellungen vom Menschen, die ihn als machtlos zeigen – nach traditioneller Auffassung. Dieser Eindruck entsteht doch, weil wir zu sehr an das kontrastive Denken gewöhnt sind, wonach derjenige, der nicht eigenverantwortlich agiert, zwangsläufig als machtlos erscheinen muss. Die vorangegangenen Überlegungen bereiteten den Schritt aus der Zwangsläufigkeit dieses Denken vor. Dieser Ausweg kennzeichnet existentielle Ethik. Dass er aus dem Repertoire bestehender Konzeptionen herausführen wird, ist unvermeidlich. Was nun zur Anwendung kommen wird, ist eine Technik, die bereits im 15. Jahrhundert von Nikolaus von Kues in der Denkform der coincidentia oppositorum – des Zusammenfallens der Gegensätze – entworfen wurde, um für die Erkennbarkeit göttlicher Wirklichkeit in der dinglichen Realität zu sprechen. Dieses Ziel deckt sich nicht mit dem Anliegen, das hier verfolgt wird, was jedoch keinen Einfluss auf die Attraktivität der dort verwendeten Denk-Figur hat: Und auf diesem Weg ist unschwer zu sehen, daß Gott schlechthin frei ist von jeder Gegensätzlichkeit und wie das, was uns gegensätzlich erscheint, in ihm dasselbe ist und wie der Bejahung in ihm nicht die Verneinung entgegengesetzt ist. […] Nehmen wir an, irgendein Ausdruck bezeichne in ganz einfacher Wortbedeutung so viel wie diese Verbindung: ‹das Können ist› [posse est], nämlich daß das Können selbst sei. Und weil, was ist, wirklich ist, deshalb ist ‹Könnensein› [posse est] so viel wie ‹Können wirklich sein› [posse est actu]. Schlechterdings alles ist in ihm eingefaltet [complicantur], […].368
Im Anschluss an die aristotelische Bestimmung von Potentialität und Aktualität wäre es naheliegend, eine zeitliche Abfolge beider Zustandsweisen anzunehmen. Etwas, das dem Vermögen nach besteht, kann nicht exakt im selben Umfang als verwirklicht gelten, da in dem Moment seine Potentialität in Aktualität aufgehoben worden wäre. Cusanus reduziert die Differenz zwischen beiden Zuständen dadurch, dass er auch dem Können bereits Sein zuschreibt. Für die Erkennbarkeit Gottes folgt daraus, dass alles, was im Begriff des Göttlichen «eingefaltet» ist, in der Erkenntnis des Menschen als partikulär, das heißt als «ausgefaltet» – explicatur – erscheint. Vor einer Adaption dieses Gedankens ist freilich sicherzustellen, dass eines nicht übersehen wird: Cusanus geht von der absoluten Andersheit des Göttlichen aus, das jedoch nicht so, sondern als das non aliud – das «Nicht-Andere» denkbar wird. Das bedeutet keinesfalls die Negation göttlicher Eigenheit, sondern es ist Ausdruck der Überzeugung, dass in der Denk-Figur der coincidentia oppositorum ein Gewahren dieser Eigenheit grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Göttliche und menschliche Realität verschwimmen dadurch nicht im Bild einer diffusen, wenn vielleicht auch homogen anmutenden Wirklichkeitsvorstellung. Diese bleibt bei Cusanus strikt dualistisch. Doch im Geschehen des Gewahrens, das hier der passendere Ausdruck als der des Erkennens ist, nähern sich beide Realitäts-Kreise, der Gottes und der des Menschen, in einem 368
Trialogus de possest – Dreiergespräch über das Können-Ist, S. 17.
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Modus der Denkbarkeit aneinander an, der jedoch nur dann seine Wirkung entfalten kann, wenn er als logischer Raum gedacht wird, in dem die Gegensätze nicht verwischt werden, sondern als Gegensätze zusammenfallen. Ob angesichts dieser Bewegung des Zusammenfalls von einem Paradoxon gesprochen werden soll, sei dahingestellt. Wichtig an der Vorgehensweise des Cusanus ist, dass dort eine dritte Bedeutung erfasst wird, die nicht an sich besteht, sondern sich zwischen der einen Bedeutung eines Begriffes und ihrem Gegensatz zeigt. Es erschließt sich mit Sicherheit auf Anhieb, was diesen Gedanken für die anstehende Aufgabe so reizvoll erscheinen lässt. Dort wird tatsächlich eine dritte Bedeutung für möglich gehalten, die mit Blick auf die zitierten Zeilen als das «Können-Ist» bezeichnet werden kann. Denn sie entsteht im Raum zwischen der Annahme des Vermögens und seines Gegensatzes, der Verwirklichung, und schließt deren beide Aussagen in sich: Etwas kann sein, das etwas ist. Die Differenzierung zwischen Können und Sein in diesem Beispiel der Koinzidenz, für die es in den Schriften des Cusanus mannigfaltige weitere Belege gibt, wird nicht de facto aufgehoben, aber im Moment des Gewahrens, und ausschließlich dann, überbrückt. Nun könnten natürlich Einwände dagegen erhoben werden, diesen Gedanken für die aktuelle Fragestellung nutzen zu wollen. Denn in ihr wird nicht nach zwei differenten Wirklichkeiten und der Möglichkeit der Erkenntnis des Göttlichen gesucht. Um eine Übernahme der Motiv-Konstellation, in der Cusanus sein Konzept der coincidentia oppositorum entwickelt, ging es zu keinem Zeitpunkt. Doch die logische Konstruktion, die sich in diesem Konzept zeigt, ist von größtem Interesse. Was besagt diese nun in ihrer reduziertesten Form? Etwas, das in einem Kontext Gültigkeit hat, nicht jedoch in einem anderen, ist doch der gewahrenden Erkenntnis nicht verschlossen, insofern keine Universalisierbarkeit der Begriffe, die diese ausdrücken, behauptet wird. Bei Cusanus stellt sich dieser Gedanke so dar: Was in der Erfahrungs-Realität des Menschen begrifflich abgebildet wird, gilt nicht für die Realität des Göttlichen, die sich aufgrund ihrer absoluten Andersheit jeder Verbalisierung entziehen müsste. Aus dieser Einsicht entsprang als ein anderer Versuch, Erkenntnis dennoch zu ermöglichen, das Sprach-Denken der Negativen Theologie. Sie ging davon aus, dass Begriffe, die die menschliche Realität beschreiben, höchstens in ihrer Verneinungs-Form gebraucht werden dürfen, um von göttlicher Realität, nicht einmal von Gott selbst, zu sprechen. Eine sehr interessante Parallele zum modernen Denken soll in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden. In seinem bereits zitierten Vortrag Wie nicht sprechen. Verneinungen geht Jacques Derrida auf die Frage ein, ob sein Denken der différance nicht dem Anspruch nach jenem der Negativen Theologie ähnele. Denn in beiden solle versucht werden, etwas auszudrücken, ohne es auszusprechen. Dagegen stellt er jedoch fest: «Nein, das, was ich schreibe, gehört nicht der ‹negativen Theologie› an. […] Alsdann in dem Maße, in dem sie jenseits aller positiven Prädikation, jenseits jeglicher Verneinung, jenseits gar noch des Seins, irgendeine Überwesentlichkeit, ein Sein jenseits des Seins zurückzube-
Die dritte Bedeutung
halten scheint.»369 Die Negation eines Attributes bezeichnet das zu Umschreibende nach wie vor. Derrida will hingegen nicht benennen, was sein Text ausspricht, und muss daher jedwede Annahme eines Anderen, auf das er sich beziehen könnte, ablehnen. Im Vergleich zur Anwendung der Verneinung bietet die der coincidentia oppositorum weitaus größere formale Eigenständigkeit. Sie ist zwar ursprünglich auch eingesetzt worden, um eine Erkennbarkeit des Göttlichen unter Wahrung der absoluten Andersheit Gottes zu ermöglichen. Doch ist ihr Verfahren nicht wie das der Negation an das Objekt, dessen Attribuierung verneint werden soll, gekoppelt. Das Verfahren der Koinzidenz funktioniert unabhängig von seinem Objekt und ist deshalb als Inspiration für das weiterführende Fragen vorzüglich geeignet. Worin besteht also die formale Struktur dieser Technik? Zwei Begriffe gegensätzlicher Bedeutung werden zu einem einzigen Ausdruck zusammengefasst. Das Beispiel, das Cusanus anführt, bietet sich zur Verdeutlichung an. Der Begriff des Könnens und der gegensätzlich konnotierte Begriff des Seins werden zu dem einen Ausdruck des possest – des «Können-Seins» zusammengefasst. Jeder der beiden bleibt an sich bestehen und behält die ihm eigene Bedeutung. Doch wird die Begriffsgestalt des «Können-Seins» genau betrachtet, erscheint darin ein inzwischen bekanntes Element, das im Lateinischen nicht erforderlich ist, da dort das Wort selbst die dritte Bedeutung zu erkennen gibt. Das «Können» und das «Sein» sind durch den Bindestrich getrennt und doch aufeinander verwiesen; diese Form erinnert an den Begriff, dem im Stern der Erlösung zentrale Funktion zukommt: das «Da» und das «Sein», durch den Bindestrich getrennt und doch aufeinander verwiesen. Ist es Zufall oder verbindet beide Vorstellungen, die mehr als fünfhundert Jahre trennen, eine gemeinsame Intention? Auch Cusanus stand vor der Herausforderung, ein Neues Denken zu entwickeln, das in einer bis dahin nicht für möglichen gehaltenen Weise die Frage der Erkennbarkeit Gottes stellt. Die coincidentia oppositorum ist ein Verfahren, das formal die Vorgaben der aristotelischen Logik außer Acht zu lassen scheint. Denn von einer Vermittlung des Gegensätzlichen ist dort nicht die Rede, da an ihr letztlich auch kein Interesse besteht. Es ging in der Phase der Entwicklung philosophischer Methodik darum, durch die Konstruktion möglichst eindeutig besetzter Terminologie eine klare und widerspruchsfreie wissenschaftliche Artikulation zu gewährleisten. Ein Phänomen wie das Paradoxon würde daher eher im Kontext der Rhetorik vorzustellen sein, die jedoch nicht der Wahrheitsfindung dient. Ganz gleich, ob vom possest oder vom Können-Sein die Rede ist, deuten beide Begriffe auf die signifikante Inanspruchnahme des Raumes zwischen dem Gegensätzlichen hin. Es wird mittlerweile längst absehbar geworden sein, worauf dieser Gedanke zuläuft. Der Raum des «Zwischen», des entre-nous, ist aus den ontologischen Aussagen von Franz Rosenzweig und Jean-Luc Nancy bekannt. Auch bei 369
Wie nicht sprechen. Verneinungen, S. 16 f.
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Emmanuel Lévinas findet sich seine Vorstellung, wird dort jedoch nicht im Sinne einer Seins-Konzeption interpretiert, da es eine solche seiner Überzeugung nach zu vermeiden gilt. Doch wie gelingt nun der Anschluss an die Frage nach existentieller Ethik? Die bisherigen Betrachtungen haben zu dem vorläufigen Ergebnis geführt, dass sie im Grunde nicht möglich sein kann, da ihre wesentlichen Elemente, das Erreichen-Wollen eines Erstrebenswerten und die Verantwortlichkeit für individuell gewollte Handlungen keinen Bestand mehr haben. Zur Erinnerung: Die existentielle Bewegung kann nicht gewünscht und ihr Vollzug nicht als individuelles Verdienst angerechnet werden. Es wäre allerdings ein zutiefst unbefriedigender Ertrag der Überlegungen, wenn sie an diesem Punkt abgebrochen würden. Vor allem wäre es ein unnötiger Schritt und Zeichen allzu früher Resignation, denn die Texte, die untersucht wurden, geben genügend Anhaltspunkte, um die Frage nach einer Ethik der Existenz weiterhin zu verfolgen. Ein Begriff, der sich immer wieder gezeigt hat und sich in ausgezeichneter Weise zu einer Deutung unter Anwendung des Verfahrens der Koinzidenz anbietet, ist der des «Lassens». Wo und in welchen Bedeutungsvariationen ist er bisher begegnet? Der Kontext, der vielleicht noch am präsentesten ist, weil er am häufigsten angesprochen wurde und sich sogar im Denken Heinrich Barths fand, ist derjenige des Sich-angehen-Lassens. Damit markierte Barth die existentielle Relevanz der Erkenntnis, die diese von theoretischer Erkenntnis unterscheidet. Es könne uns, so schrieb er, nicht ungerührt lassen, wenn der Aktionsraum eines anderen Menschen durch die Folgen des eigenen Handelns eingegrenzt werde. Das Bild des Sich-angehen-Lassen diente ihm in der Folge dazu, den Gedanken der persönlichen Beteiligung im Vorgang der Erkenntnis hervorzuheben. Eine etwas andere Deutung findet sich in den Texten Martin Heideggers. Wir lassen uns von der Forderung des Seins angehen, weil wir ihr immer schon zugewandt sind. So ist die Annahme seiner Auffassung nach nicht möglich, dass wir sind und uns unter irgendwelchen Bedingungen nicht angehen lassen. Sein heißt Sich-angehen-Lassen. Diesen Aspekt hat Jean-Luc Nancy vor Augen, als er den Ausdruck der Fundamentalethik zur Kennzeichnung des Heideggerʼschen Denkens verwendet. Auch wenn Emmanuel Lévinas einen anderen Ausdruck zur Bezeichnung dieses Umstandes wählt, liegt ihm doch der entsprechende Gedanke zugrunde. Er spricht von der «Unterweisung», die das Ich auf die Bedingungen seiner Relation zum Anderen aufmerksam macht. Es wurde darauf hingewiesen, dass mit dem Wort Unterweisung nicht zwingend Belehrung gemeint ist, die zwangsläufig ein autoritatives Gefälle zwischen dem Unterweisenden, den Lévinas allerdings als den «Meister» tituliert, und dem Unterwiesenen erfordert. Relevanter ist tatsächlich die Bedeutung der Einführung, der Einweihung, die kein vorausgegangenes Fehlverhalten voraussetzt, auf das mit einer entsprechenden Maßregelung reagiert wird. Es ist nicht unwichtig, diesen Punkt hervorzuheben, da sich Deutungen seines Den-
Die dritte Bedeutung
kens finden, die ausschließlich auf dem Charakter der Zurechtweisung basieren, wenn es um die Erläuterung des Motivs der Unterweisung geht. Neben dieser Verwendung des Begriffes des Lassens als Sich-angehen-Lassen zeigt sich eine weitere, die bereits sehr viel offensichtlicher in den Kontext ethischer Überlegungen weist. Es geht um das Sein-Lassen, auf das besonders Martin Heidegger hinweist. Auch hier ist sogleich auf ein mögliches Missverständnis zu achten. Sein-Lassen ist nicht mit Desinteresse zu verwechseln. In exakt entgegengesetzter Weise signalisiert es hohe Bereitschaft zur Anerkennung der Eigenheit des Anderen, das in Heideggers Verständnis nicht nur der Eigenheit des Menschen gilt, sondern sich auch auf das Gegenständige bezieht. Eine Schwierigkeit, die dieser Gedanke beinhalten könnte, besteht in der Vorstellung der Eigenheit. So vielversprechend der Vorsatz ist, diese respektieren zu wollen, bleibt doch unklar, aus welcher Perspektive sie überhaupt wahrgenommen werden kann. Steht nicht hinter jeder Behauptung, das Eigene eines Anderen schützen zu wollen, die Befürchtung, dass es sich dabei lediglich um eine Projektion des Eigenen handelt? Für Heidegger geht es nicht nur darum, die Eigenheiten des Anderen zu erkennen, sondern diesen in sein Eigenstes finden zu lassen. Eine der frühesten Artikulation in seinem Werk findet diese Auffassung in der Beschreibung der «vorspringend-befreienden Fürsorge». In ihr agiert ein Mensch nicht anstelle des Anderen, sondern ermöglicht es ihm, selbst aktiv zu werden: Ihr [der einspringend-beherrschenden] gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ‹Sorge› abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.370
Dieser Gedanke, dem Anderen dazu zu verhelfen, zu sich selbst zu kommen, wird sich noch als äußerst wichtig erweisen. Im Moment kann er dazu beitragen, die formulierten Bedenken zu zerstreuen, wonach es unmöglich ist, das Eigene des Anderen zu erfassen, weil dabei immer nur eine Übertragung des Eigenen erfolgt. Mit dem Begriff des Eigenen wird nicht das individuelle Profil bezeichnet, das sich ein Mensch im Laufe seines Lebens durch Erfahrungen, Krisen und Vorlieben aneignet. Er benennt vielmehr das Eigentliche. Und dieses ist für alle Menschen ein und dasselbe, nämlich die Möglichkeit, eigenbestimmend zu sein, das heißt zu existieren. Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, was Martin Heidegger unter dem Ausdruck «der Einzelne» verstehen würde, wenn er ihn gebraucht hätte. Es wurde immer wieder hervorgehoben, dass in dessen Denkbarkeit die große Herausforderung existenzphilosophischer Konzepte besteht. Allmählich zeichnet sich ab, das dieser Begriff eine weitere Bedeutung hat als zu370
Sein und Zeit, § 26, S. 122.
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nächst zu erwarten gewesen wäre. Er schließt nach wie vor den Aspekt der individuellen Prägung ein, auf deren Darstellung besonders Franz Rosenzweig Wert legt. Doch vor allem weist seine Bedeutung auf den Gedanken der Eigenbestimmung. Warum wird hier ein neuer Ausdruck eingeführt, wo doch derjenige der Selbstbestimmung bereits vorliegt? Weil beide Formen der Bestimmung nicht identisch sind und weil der Begriff der Selbstbestimmung auf das Bestehen tatsächlicher Entscheidungskompetenz des Menschen anspielt. So wird unter seiner Verwendung die Vorstellung eines Individuums vermittelt, das zumindest in bestimmtem Umfang über sein So-sein-Wollen zu bestimmen vermag. Der zum Teil synonym zu gebrauchende Terminus der Autonomie drückt diesen Umstand vielleicht noch anschaulicher aus. In einem gegebenen Umfang ist menschliches Entscheiden und Agieren, Denken und Wollen keiner absolut gültigen Einschränkung unterworfen. Genau diese Vorstellung hat sich mit Blick auf das existentielle Denken allerdings als unhaltbar erwiesen. Weder der Zeitpunkt, an dem die existentielle Bewegung einsetzt, noch die Art ihrer Umsetzung kann der Mensch wählen. Es wäre vor diesem Hintergrund also unsinnig, von dessen Selbstbestimmung zu sprechen. Gleichwohl bedeutet die Eingrenzung seiner Entscheidungsmöglichkeiten nicht, dass er zur Untätigkeit verurteilt ist. Dem Nachweis dieser Feststellung dienen die momentan angestellten Überlegungen. Ein erster Schritt, der dazu getan wurde, bestand in einem Blick auf den Begriff des «Lassens», der nun durch Einführung des Begriffes der Eigenbestimmung aufgegriffen wird. Heideggers Deutung der befreienden Fürsorge dient dabei als Anregung. Jemanden zu sich kommen zu lassen, heißt nicht, dasjenige wählen zu können, das auf diesem Wege erreicht werden soll. Es bedeutet vielmehr, ihm vor Augen zu führen, was ihm möglich und – wichtiger noch – nicht möglich ist. So ist der Gedanke der Fürsorge nicht allzu weit vom Bild der Unterweisung entfernt, das Emmanuel Lévinas verwendet, auch wenn es im ersten Moment nicht so wirken mag. In jedem Fall könnte betont werden, dass Heidegger mit seinem Konzept der Fürsorge keine Aufforderung zur Mildtätigkeit und Empathie verbindet, was er im Übrigen bereits selbst erklärt hat. Das Konzept der Fürsorge dient zur Bestimmung des Seins, ist also Existential und keine moralische Forderung. Derselbe Einwand könnte jedoch auch hinsichtlich der Vorstellung der Unterweisung bei Lévinas erhoben werden. Auch sie fungiert nicht als Empfehlung, deren Befolgung das konkrete Miteinander der Menschen verbessern könnte, sondern als Funktionsbestimmung des Gedankens der Relationalität. So verwundert es im Grunde nicht, dass beide Denker eine Konzeption des Lassens entwickeln, auf die, obwohl sie sich bereits angedeutet hat, näher einzugehen ist. Die eigentliche Sorge betreffe wesentlich die «Existenz des Anderen», so schreibt Heidegger. Wird nur dieses Bruchstück der zitierten Passage angeschaut, scheinen sich zwei Deutungen anzubieten. Meine Sorge gilt der Existenz des Anderen oder dessen Sorge gilt seiner Existenz. Um die Abwägung zu erleichtern, welche der beiden
Die dritte Bedeutung
Deutungsmöglichkeiten zutrifft, ist ein weiterer Abschnitt aus demselben Paragraphen in Sein und Zeit zu ergänzen: Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein des Daseins, um das es ihm in seinem Sein selbst geht, das Mitsein mit Anderen. Als Mitsein ‹ist› daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. Auch wenn das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürftig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins.371
Wie verführerisch ist es, aus der Formulierung «das Dasein [ist] wesenhaft umwillen Anderer» auf eine tatsächlich Zu-Neigung zum Anderen zu schließen. Und wie offensichtlich würde eine solche Deutung den Heideggerʼschen Gedanken verfehlen. Wird nur dieser Gedanke betrachtet, zeigt er, wie es in den Zeilen unmissverständlich klargestellt wird, eine ontologische Feststellung. Weiter will Heidegger zu diesem Zeitpunkt nicht gehen. Doch seine Feststellung ist dazu geeignet, in weiterführender Weise ausgelegt zu werden, was Jean-Luc Nancy vor allem in Das nackte Denken und singulär plural sein getan hat. In seiner Deutung ist es nicht möglich, zwischen einer ontologischen und einer ethischen Bestimmung zu unterscheiden, da das Ethische nichts ist, das dem Ontologischen hinzugefügt werden könnte. Es ist vielmehr mit ihm deckungsgleich, was heißt, dass beide denselben Bedeutungsumfang besitzen. Dieser gilt der Kennzeichnung des Seins. Fehlt hier nicht die zweite Erklärung, nämlich die der Ethik? Sie fehlt nicht, denn sie ist bereits in derjenigen des Seins enthalten. Zu sein bedeutet nach Nancy mit-zu-sein. Keine kausale oder temporäre Differenzierung ist zwischen beiden Vorstellungen möglich, die endlich nicht mehr als zwei Vorstellungen betrachtet werden sollten. Eine Wegmarkierung mag an dieser Stelle zur Vergewisserung des momentanen Standpunktes nützlich sein. Es geht um die Frage, ob die Denkfigur der coincidentia oppositorum von Nikolaus von Kues für die Diskussion einer existentiellen Ethik genutzt werden kann. Der Begriff, an dem dieses exemplarisch erprobt werden soll, ist derjenige des Lassens. Als eine seiner Bedeutungen zeigte sich die Möglichkeit, Anderes zu-sich-kommen-zu-lassen. Damit rückte für einen Augenblick der Gedanke des zu-sich als das Eigenste, das Eigentliche eines jeden Seienden in den Vordergrund. Doch nicht nur des Seienden, wie mit Heidegger ergänzt werden kann. Auch das Sein hat ein Eigentliches. Dieses ist sein Mit. An diesem Punkt angelangt zu sein, heißt nicht, dass damit die vorausgegangenen Ansätze abgeschlossen wären. Und noch eine weitere Erinnerung zur Verortung der Denkposition: Warum war es überhaupt notwendig geworden, die coincidentia oppositorum ins Spiel zu bringen? Weil diese Denkfigur eventuell Aufschluss über die Möglichkeit bieten kann, das kontrastive Denken zu vermeiden, das uns den Unterschied 371
Sein und Zeit, § 26, S. 123.
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zwischen Tätigsein und Untätigkeit unausweichlich erscheinen lässt, der die Denkbarkeit existentieller Ethik vereiteln würde. Eine Alternative zeichnet sich im komplementären Denken ab, das das Denken der Koinzidenz ist. Dessen Ziel ist es nicht, Gegensätze, die zwischen zwei Begriffen und ihren Bedeutungen bestehen, aufzulösen oder deren Grenzen zu verwischen, sondern sie in einem verbindenden Gedanken – der dritten Bedeutung – zusammenzufassen. Entfernt mag dieses Verfahren an das der Dialektik erinnern. Beim komplementären Denken geht es jedoch nicht um Synthetisierung zum Zwecke der Erkenntnis, die letztlich die Thesen, aus denen sie gebildet wurde, in den Hintergrund treten lässt, sondern um den Nachweis, dass zwischen Begriffen gegensätzlicher Bedeutung ein Begriff möglich ist, der nicht zwischen ihnen vermittelt, sondern ihnen als dritte Alternative zur Seite treten kann. Eine solche Begriffsbildung präsentiert Cusanus zum Beispiel in der Formulierung der docta ignorantia – der belehrten Unwissenheit. Die Entstehungsgeschichte dieses Terminus, die weit in die Erfordernisse religiöser und erkenntnistheoretischer Konzeptualisierungsbestrebungen führt, soll hier nicht rekonstruiert werden, da sie zum Verständnis der formalen Konstruktion eines Begriffes dritter Bedeutung nicht ausschlaggebend ist. Wichtig ist lediglich die Feststellung, dass er Cusanus zur Denkbarkeit und Aussagbarkeit einer Art der Erkenntnis dient, die sich nicht unter Hinweis auf die gängigen Kategorisierungen als Wissen oder Nicht-Wissen kennzeichnen lässt. Wenn dieser Blick auf eine formale Operation, deren Bedeutung für das existentielle Denken nicht unmittelbar einleuchten wird, nicht umsonst gewesen sein soll, muss sich nun zeigen, dass der Begriff des Lassens eine vergleichbare konzeptionelle Sinngebung demonstriert. Bisher standen zwei seiner Bedeutungen im Fokus: das Sich-angehen-Lassen und das Zu-sich-finden-Lassen. Bereits diese beiden Aspekte weisen auf eine außerordentliche Deutungsvariabilität hin. In beiden Fällen geschieht etwas, dem der Mensch, der lässt, kein Einhalt gebietet. Im ersten Fall lässt er zu, dass er sich von einem Erleben angesprochen fühlt. Bereits hier wird die interessante Konstellation sichtbar, die für die weiteren Erwägungen grundlegend ist. Es geschieht dem Menschen etwas, das er vermeintlich hätte ignorieren können, um so möglichen Einfluss auf das eigene Handeln und Wünschen zu verhindern. Der Begriff des Sich-angehen-Lassens könnte so auf die menschliche Entscheidungsfähigkeit hinweisen, eine Affektion zuzulassen oder abzuweisen. Heinrich Barth erklärt jedoch, dass es den Menschen nicht ungerührt lassen könne, wenn er die Folgen seiner Handlungen für einen anderen Menschen sehe. Auf diesen Gedanken wurde bereits hingewiesen. Damit spielt er auf eine in existentieller Perspektive hervorzuhebende Besonderheit an, wonach unsere Aufmerksamkeit den Anderen stets willentlich oder unwillentlich einbezieht. Wie der Ursprung dieser grundsätzlichen Orientierung benannt wird – als Mitleid, Empathie oder Solidarität –, ist letztlich von sekundärem Interesse, da hier ein elementarer Ausdruck des Mit-Seins angesprochen wird. Bei Barth ist nicht von Mit-Sein, sondern von
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«Koexistenz» die Rede. Führt dieser Terminus zu einer anderen Bewertung des Faktums zeitgleichen Seins, als sie im Begriff des Mit-Seins zum Ausdruck kommt? Allerdings, denn Barth erklärt: «Nicht aus Partikeln und Besonderungen integriert sich die Realität menschlicher Koexistenz. […] Von koexistierenden Menschen ist hier die Rede, die in existentieller Erkenntnis sich auf sinngebende Transzendenz ausrichten. Worin beschlossen ist, daß ein bloßes ‹Nebeneinander› nicht in Frage kommt.»372 Der Unterschied zu den Konzeptionen des Mit-Seins von Heidegger und Nancy ist offensichtlich. Bei beiden liegt keine Gemeinschaft sich auszeichnender Individuen vor, sondern letztlich das, was Barth als «Nebeneinander» bezeichnet, so könnte es zumindest wirken. An diesem Punkt hätte ein zu schnell gefälltes Urteil jedoch fatale Konsequenzen, denn es würde den Charakter des Mit-Seins eindeutig verfehlen. Dass Heidegger kein solches Nebeneinander vor Augen hat, wird bereits an der einen Formulierung erkennbar, wonach das Dasein wesenhaft «umwillen Anderer» ist. Was hier für das Dasein ausgesagt wird, trifft ebenso für das Sein zu, dessen Erscheinungsform Dasein ist. Heideggers Erklärung verstärkt seine Aussage in der Weise, dass das «umwillen» nicht von konkreter Beziehung abhängt, sondern als «existenziale Wesensaussage» zu verstehen ist. Es bedarf mithin keines qualifizierten Seins, als das Barth Existenz auffasst, um Mit-Sein zu erwirken. Jean-Luc Nancy akzentuiert diese Auffassung noch dadurch, dass er das Faktum der Gleichursprünglichkeit von Sein und Mit hervorhebt. Danach ist kein Sein vorstellbar, das nicht Mit-Sein ist. Hier könnte die Frage gestellt werden, ob das Sich-angehen-Lassen im Sinne Heinrich Barths von der Voraussetzung existentieller Erkenntnis abhängt, wohingegen es nach den Ansichten von Heidegger und Nancy bereits dem Gedanken des Seins entspricht. Der Unterschied der Auffassungen ist geringer als vermutet. Denn es muss weiter gefragt werden, ob denn nicht auch bei Heidegger und Nancy das Sich-angehen-Lassen nur auf der Grundlage des Verstehens des Seins in seiner Natur des Mit-Seins erfolgen kann. Für Heinrich Barth scheint diese Voraussetzung nicht zur Diskussion zu stehen. Doch wie steht es bei den beiden anderen? Eine zeitliche und ursächliche Folge anzunehmen, würde für sie keinen Sinn machen. Sein ist ohne die Bezogenheit auf den Anderen nicht denkbar. Insofern geschieht Sein und Sich-angehen-Lassen, wenn beide für den Moment getrennt werden dürfen, in eins. Das Verstehen des Seins, das für Barth Voraussetzung der existentiellen Bereitschaft des Sichangehen-Lassens ist, ist bei Heidegger und Nancy mit ihm identisch. Aus diesen kurzen Ansätzen wird bereits eines erkennbar: Das Sich-angehen-Lassen hat im existentiellen Verständnis wenig mit der Unfähigkeit zu tun, sich gegen Eindrücke zur Wehr zu setzen, um sich nicht aus dem Zustand vermeintlicher Selbstbestimmtheit reißen zu lassen. In dieser Auffassung gründen die Vorbehalte, die nicht selten im philosophischen Denken gegen den mögli372
Erkenntnis der Existenz, S. 362.
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chen Einfluss der Affekte zu beobachten sind. Sie zwingen den Menschen zur Reaktion und behindern die Selbstbestimmtheit des autonomen Subjekts, das ungestört Erkenntnis zu gewinnen sucht. Das Sich-angehen-Lassen im existentiellen Kontext bedeutet keine Ablenkung von der Suche nach Eigentlichkeit, sondern deren ersten Moment. Um diese Feststellung begründen zu können, bietet sich der Schwenk zu Heideggers Deutung an, wie sie besonders in seinen Texten nach 1945 zum Ausdruck kommt. Sich angehen zu lassen, bedeutet dort, sich der Forderung des Seins nicht zu verschließen. Hier wird also keine persönliche Reaktion auf ein möglicherweise anrührendes Erlebnis beschrieben, sondern eine grundsätzliche Verhaltensweise im Sein. Was soll das sein? Wie sich bereits gezeigt hat, könnte sie als Einsicht verstanden werden, dass Sein eine grundsätzliche Haltung verlangt. Eine solche kann nicht in einzelnen Aktionen bestehen, die vielleicht jede für sich als moralisch wertvoll zu beurteilen wäre. Denn bei einer solchen Beurteilung würde es sich bereits wieder um eine zielgerichtete Maßnahme handeln, selbst dann, wenn ihr Ziel in der Steigerung des Guten besteht. Wenn Sein und Sich-angehen-Lassen nach Heideggers Überzeugung eins sind, wäre es im Grunde schon unsinnig, nach der Forderung des Seins zu fragen, da diese in nichts anderem bestehen kann als darin, sich in der besonderen Weise des Lassens im Sein zu verhalten. Diese erfüllt exakt die Suche nach der dritten Bedeutung, die nun in ihrer ersten Facette sichtbar wird. Lassen in der Weise des Sich-angehen-Lassens kann nicht mehr nur entweder als passiver Vorgang oder aktives Einwilligen verstanden werden, sondern als eine Haltung im Sein, die sich zwischen diesen gegensätzlichen Vorstellungen denken lässt. Wie stark unsere Sprache durch die kontrastive Natur unseres Denkens geprägt ist, wird spätestens an dem nun anstehenden Versuch spürbar, einen Begriff für diese dritte Bedeutung zu finden. Der Ausdruck, der hierfür am besten geeignet zu sein scheint, lautet: Raum-Geben. Es ist hier noch einmal zu betonen, warum das Sich-angehen-Lassen nicht als eine Form von Passivität zu verstehen ist. Diesem geht immer schon die grundsätzliche Haltung im Sein voraus oder, um es korrekt auszudrücken: Es ist mit Sein identisch. Eine Haltung zu zeigen, die stets als Verhalten in Erscheinung tritt, kann bereits als Weise der grundsätzlichen Einwilligung aufgefasst werden, den Anforderungen im Sein zu entsprechen. Dass diese Einwilligung jedoch nicht erteilt werden kann, sondern mit dem Geschehen des Seins einhergeht, ist bereits erkennbar geworden. Warum soll nun gerade die Formulierung des Raum-Gebens die schwierige Aufgabe erfüllen, eine dritte Bedeutung zu signalisieren, die zwischen der Passivität des Geschehen-Lassens und der Aktivität der Einwilligung dem Denken die Möglichkeit gibt, zwischen Gegensätzlichem zu gründen? Weil die Bildlichkeit dieser Formulierung zunächst die Figuration des «zwischen» abbildet, wie sie von Emmanuel Lévinas im Begriff der Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen und von Jean-Luc Nancy als das entre-nous der Mit-Seienden beschrieben wurde. Auch in diesen beiden Vorstellungen geht es nicht darum, ein scheinbar harmonisches Gesamt
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zu konstruieren, in dem die Konturen, die Menschen kennzeichnen, nahezu vollständig aufgelöst werden. Besonders die Schriften von Lévinas sind ein einziger Appell, die Eigenständigkeiten zu wahren und das Denken dazu aufzufordern, Maßnahmen zu finden, um Übergriffe des Ich auf das Andere zu verhindern, noch bevor sie überhaupt hätten stattfinden können. Dieses Verhindern, bevor etwas geschehen könnte, charakterisiert seine Sicht des Miteinanders unverwechselbar. Die Frage, wie dieses vorgreifende Vereiteln eines noch nicht einmal Beabsichtigten zu begründen wäre, wird in seinen Texten allerdings kaum diskutiert, was dadurch erklärt werde kann, dass sich Lévinas auf die Gewissheit göttlicher Präsenz berufen kann, die sich im Antlitz des Anderen, jedes Anderen, vergegenwärtigt. Aus diesem Grunde kann er es sich leisten, den Gedanken des Seins nicht auf seine eventuelle ethische Relevanz zu untersuchen. Für Heidegger und Nancy ist diese Untersuchung unverzichtbar, da nur aus dem Sein beziehungsweise dem Mit-Sein ermittelt werden kann, was immer als ethisch relevant zu bezeichnen ist. Im Sich-angehen-Lassen werden also nicht die Gegensätzlichkeiten von Aktivität und Passivität aufgehoben, sondern aufeinander zugeführt, damit sich die Vorstellungen zweier Verhaltensweisen, die mit ihnen verbunden sind, zu einer weiteren Form umgreifen können. Ein vergleichbarer Mechanismus des Übergreifens zeigt sich mit Blick auf das Unter-Lassen, eine weitere Bedeutungsvariante des so wichtigen Begriffes des Lassens. An seinem Beispiel wird die ethische Dimension seiner Deutung noch greifbarer. In einer ersten Form begegnete die Vorstellung des Sich-unterweisenLassens in Totalität und Unendlichkeit von Emmanuel Lévinas. Dass es sich dabei nicht um einen Rückzug in die Haltung eines Menschen handelt, der aufgrund eines eventuellen Fehlverhaltens eine Maßregelung über sich ergehen lässt, hat sich bereits abgezeichnet. Unterweisung ist eher ein Akt der Einweihung in ein grundsätzliches Wissen, wie im französischen Ausdruck l’enseignement noch deutlicher erkennbar wird als in seiner deutschen Übersetzung. Wenn hier vom Wissen die Rede ist, dann ist damit freilich kein Erkenntnisinhalt gemeint, den der Unterweisende, der «Meister», weitergibt. Lévinas verweist vielmehr auf die Einsicht in die Weise des Verhaltens und Verhalten-Könnens des Ich. Doch auch sie ist nicht als ein kognitiver Akt zu begreifen, der an irgendeinem Punkt als erfüllt, weil nicht mehr erweiterbar, gedacht werden könnte. Gegen eine solche Sicht spricht die strikte Ablehnung des Gedankens der Totalität, der sich als Produkt einzelner Erkenntnisbewegungen nach herkömmlicher Auffassung einstellen könnte. An dessen Stelle tritt der Gedanke der Unendlichkeit als eines unbegrenzten Geschehens im Erkennen, das sich in jeder Situation, in der das Ich den Anderen anspricht und sich von seinem Antlitz unterweisen lässt, von Neuem abspielt. Es wäre daher nicht präzise, hier von einem Fortschreiten und einer Wiederholung zu sprechen. Das Fortschreiten würde gerade auf jene Wissensakkumulation hinweisen, gegen die Lévinas argumentiert. Und eine Wiederholung läge im erneuten Ablaufen eines bereits Geschehenen vor. Auch diese Annahme
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trifft den Gedanken nicht. Immer wieder von Neuem ereignet sich die Unterweisung in der Epiphanie des Antlitzes, so als würde sie jedes Mal zum ersten Mal stattfinden. Wie nahe Lévinas auch an dieser Stelle dem Denken von Franz Rosenzweig kommt, wird sichtbar, wenn an dessen Überzeugung erinnert wird, dass sich die Bindung des Menschen an das Seiende immer wieder von Neuem ereignet und damit das wesentliche Kriterium zur Gestaltung des Seins darstellt. Auch im Kontext des Sterns der Erlösung konnte diese Sichtweise überraschen, da Rosenzweig mit ihr dem Bild eines zielgerichteten Fortschreitens der Zeit und des Daseins in ihr entgegenwirkt. Denn aus ihm könnte die Folgerung abgeleitet werden, dass es sich um einen selbstgängigen Ablauf handelt, in den menschliches Sein eingebunden ist, ohne ihn essentiell prägen zu können. Exakt auf diesen Gedanken legt Rosenzweig jedoch den allergrößten Wert. Keine Entwicklung der Zeit und des Daseins, nicht einmal unter der Perspektive endzeitlicher Erfüllung betrachtet, entbindet den Einzelnen von seinem Können, das für die Gestaltung des Daseins und damit des Seins, das es zum Da-Sein macht, unverzichtbar ist. Unverzichtbarkeit bedeutet aber zugleich Verantwortlichkeit. Deren Begründung fällt Rosenzweig insofern leicht, als sie mit dem Sein-Können gegeben ist. Im Grunde wäre es besser, hier von Können-Sein zu sprechen, auch wenn dieser Ausdruck sich dem Verständnis sehr sperrig präsentiert. Denn Sein-Können könnte den Eindruck vermitteln, als handele es sich beim Sein um eine Option, die gewählt oder verworfen werden kann. Können-Sein würde im Gegensatz dazu stärker betonen, dass Sein im Können des Menschen nicht entsteht, das wäre unmöglich, aber als Sein entsteht, in dem die Möglichkeit des Mit-Seins verwirklicht wird. Und Mit-Sein schließt in diesem Fall die Relation zum Göttlichen ein. An dieser Stelle zeigt sich ein Unterschied zum Denken von Jean-Luc Nancy. Zunächst ist festzuhalten, dass Rosenzweig den Terminus Mit-Sein nicht verwendet, was aber keine Auswirkung auf sein Verständnis der Relationalität des Seins hat. Im Gegensatz zu Nancy akzentuiert Rosenzweig den Aspekt der notwendigen Verwirklichung sehr viel stärker. Nach Nancys Deutung ist Sein nie anders denn als Mit-Sein denkbar. Was das für eine Gestaltung des Seins bedeuten würde, thematisiert er in den beiden hier im Mittelpunkt stehenden Schriften Das nackte Denken und singulär plural sein kaum, sondern eher in seinen auf das Phänomen der Gesellschaft bezogenen Darstellungen. Es könnte gefragt werden, ob die Annahme, Sein sei Mit-Sein, zwar einerseits den großen Vorteil bietet, Relationalität gleichursprünglich wie Sein denken zu können, es jedoch andererseits erschwert, nach der Verantwortlichkeit des Menschen zu fragen. Sie ist immer gegeben, so wie das Mit-Sein immer gegeben ist, so viel steht fest. Doch bedarf ein Immer-Gegebenes der Verwirklichung? Inwieweit kann der Mensch gestaltend wirken, wenn seine Relation zum Anderen sein Sein ausmacht? Vielleicht wirkt diese Frage verwirrend. Denn was gäbe es letztlich besseres als die Annahme einer absoluten Verantwortlichkeit des Menschen für das eigene Sein und das
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Sein des Anderen? Eine solche Auffassung erübrigt mit einem Schlage alle Erfordernisse einer Begründung, die erklären sollte, warum der Mensch verantwortlich ist und vor allem, wem gegenüber. Eine universelle Verpflichtung dem Anderen gegenüber, die nicht unterscheidet, wem diese zuteilwird und wem nicht, wäre doch die ideale Voraussetzung einer Konzeption uneingeschränkt denkbarer Ethik. Doch ist es wirklich so? Die außerordentliche Bedeutung des Gedankens universeller Verantwortung steht zunächst außer Frage. Wo jede Einschränkung dieses Gedankens Konzepte der Moral angreifbar erscheinen lässt, bietet er den klaren Vorteil, von partikulären Begründungsversuchen zu entbinden. Es muss und kann nicht erklärt werden, warum der Mensch dem Menschen gegenüber eine stärkere Verpflichtung verspürt als beispielsweise dem Tier gegenüber oder warum die Verantwortung für die eigene Gemeinschaft wichtiger ist als diejenige für eine fremde Gemeinschaft. Ansatzmöglichkeiten derartiger Eingrenzungsbestrebungen hat die Akzentuierung der Vernunft als Begründung ethischer Verhaltensmaxime erstaunlicherweise nicht verhindern können, wie allein der Blick in die jüngste Vergangenheit bestätigt. Im Gegenteil – ein falsch verstandener Vernunftbegriff kann zur Rechtfertigung partikulärer Interessen und Ansprüche, aus denen Rechte abgeleitet werden, missbraucht werden. Solange sich die Begründungen solcher Ansprüche nur auf Vernunft berufen und sich dabei der Technik der Argumentation bedienen, ist es äußerst schwierig, deren Berechtigung grundsätzlich infrage zu stellen. Wer wollte das Recht, den eigenen Staat zu verteidigen, um den Anspruch seiner Bürger auf Unversehrtheit zu wahren, ernstlich bezweifeln? Allein mit Blick auf die Argumentationsform ist es nur ein kleiner Schritt, den Übergriff auf einen fremden Staat zu rechtfertigen, weil das Recht der Bürger auf Unversehrtheit durch zu enge territoriale Grenzen beeinträchtigt zu werden droht. Es geht hier wohlgemerkt nicht um die moralische Rechtfertigung, sondern tatsächlich nur um die Möglichkeit, durch eine widerspruchsfreie Argumentation Ansprüche entgegengesetzter Natur zu begründen, die solange uneingeschränkt artikuliert werden können, solange kein übergreifender Maßstab der Geltungslegitimation gefunden wird. Für Emmanuel Lévinas geht es vor allem darum, einen solchen Maßstab zu formulieren, denn die Erfahrung des Holocaust demonstrierte seiner Auffassung nach das eklatante Scheitern der Vernunft als moralisches Regulativ. Seine Lösung besteht darin, von einer absoluten Verantwortung des Menschen zu sprechen, die nicht begründet und damit auch nicht nach Belieben eingegrenzt werden kann. Die für ihn vermutlich naheliegende Konsequenz, sie aus der Religion zu schöpfen, erweist sich allerdings als nicht uneingeschränkt umsetzbar. Denn selbst Religion stellt einen partikulären Begründungskontext dar. Den Weg zur letzten verbleibenden Alternative – zum Gedanken des Seins – hat er sich jedoch zum Teil selbst durch seine Ablehnung des vermeintlich Heideggerʼschen Seins-Denkens versperrt. Die Möglichkeit, die dieses durch den Aspekt
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des Mit-Seins bieten würde und die Jean-Luc Nancy explizit aufgreift, scheint für Lévinas nicht attraktiv genug zu sein, um seine Vorbehalte gegen den Begriff des Seins zu lockern. So setzt er auf das Geschehen der Unterweisung als elementarer Situation menschlicher Relation, das er in der allgemeingültigen Weise existentieller Darlegung thematisiert. Der argumentative Gewinn, den er dadurch erzielt, könnte jedoch geringer ausfallen als erhofft. In der Situation der Unterweisung besteht die grundlegende Situation menschlichen Miteinanders, so ist es Totalität und Unendlichkeit zu entnehmen. Diese erfolgt nicht als eine Belehrung, die Wissen vermittelt, an dessen Wahrheit sich der Unterwiesene orientieren könnte. Vielmehr erweist sich die Unterweisung als Wechsel-Geschehen, in dem der Andere durch die Ansprache des Ich überhaupt erst als derjenige aufgerufen ist, dessen Antlitz erscheint: Den Anderen ansprechen, heißt, seinen Ausdruck empfangen; in seinem Ausdruck überschreitet der Andere in jedem Augenblick die Idee, die sich ein Denken von diesem Ausdruck machen könnte. Ebendas heißt, vom Anderen über die Aufnahmefähigkeit des Ich hinaus empfangen; genau dies bedeutet: die Idee des Unendlichen haben. Aber das bedeutet auch, unterwiesen zu werden.373
Diese Worte belegen einmal mehr die besondere Deutung des Geschehens der Unterweisung bei Emmanuel Lévinas. Sie zeigen aber auch, dass in der Formulierung des Sich-unterweisen-Lassens eben jene Zusammenführung initiativer und rezeptiver Bedeutung festzustellen ist, die schon vom Sich-angehen-Lassen bekannt ist. Kein Wunder, so könnte vermerkt werden, handelt es sich doch in beiden Fällen um ein und dieselbe grammatikalische Form, in der lediglich ein anderes Verb fokussiert wird. Bei der vierten Begrifflichkeit, die in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist, wird sich das ändern. Bevor danach gefragt werden kann, ist der Gedankengang, der für eine kurze Betrachtung der lévinasischen Konzeption der Unterweisung zurückgestellt wurde, wieder aufzunehmen. Es ging um die Frage, ob eine Vorstellung vom Mit-Sein, die wie bei JeanLuc Nancy dem Sein gleichursprünglich gesetzt wird, eine geringere Betonung der Verantwortlichkeit des Menschen beinhaltet als die Vorstellung des unabgeschlossenen Seins bei Franz Rosenzweig. Diese zeigt eine immanente Forderungsstruktur dergestalt, dass der Einzelne dadurch, dass er ist, dazu aufgerufen ist, Sein zu gestalten. Denn Relationalität ist zwar als Möglichkeit gegeben, bedarf jedoch der steten Aktualisierung, in der der einzelne Mensch seine Bindungsfähigkeit unter Beweis stellt. Sofort drängt sich eine Vermutung auf. Und zwar würde danach kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Seins-Auffassungen von Rosenzweig und Nancy bestehen, sondern lediglich eine unterschiedliche Gewichtung, die der Bedeutung der Verwirklichung des Möglichen in ihren 373
Totalität und Unendlichkeit, S. 64.
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Darstellungen zukommt. Nancy würde diese danach strikt ontologisch halten und auf die Frage der Umsetzbarkeit des dort Gesagten zunächst nicht eingehen, während der Übergang vom theoretischen Denken zur Beschreibung des tatsächlichen Geschehens der Verwirklichung Rosenzweigs Denken vor allem kennzeichnet. Diese Differenz ist in jedem Fall festzuhalten, doch wäre es nicht angebracht, es dabei zu belassen, denn es liegen hier in der Tat zwei Bestimmungen von Sein vor. Das Mit-Sein, das Nancy ihm gleichursprünglich setzt, kann nicht nur als eine ontologische Feststellung verstanden werden. Es schließt vielmehr bereits eine Aussage über die Beschaffenheit des Mit ein, die über die Beschreibung bloßer Potentialität hinausgeht. Es müsste analog vom Sein behauptet werden, es wäre lediglich Bezeichnung der Potentialität, wenn beide als gleichursprünglich betrachtet werden sollen. Nancys Absicht bestand darin, den Eindruck zu vermeiden, als könne das Mit dem Sein nachträglich als Bestimmung seiner Beschaffenheit hinzugefügt werden. Wenn die Aussage des Seins also Faktizität konstatiert, kann die des Mit in diesem Verständnis nicht als Potentialität gedeutet werden. Damit ist anzunehmen, dass Mit-Sein bereits eine komplexe Aussage über die Art der Faktizität des Gegebenen ist. Ganz anders steht es bei Franz Rosenzweig. Die Aussage des Seins benennt das Faktum der Vorfindlichkeit und zunächst nichts darüber hinaus, zumindest nichts, das als Aufweisung einer Beschaffenheit gewertet werden könnte, die ihr gleichursprünglich wäre. Was mit dem Begriff des Seins verbunden ist, ist hingegen der Gedanke seiner essentiellen Unvollständigkeit. Seiner defizitären Natur gemäß bedarf es der Gestaltung, ist also zunächst nicht mehr als die Feststellung des «da», wie es bei Rosenzweig heißt. Interessant ist es, dass zu dieser der Aspekt des Seins eigentlich erst noch hinzutreten muss, um den ganzen Ausdruck des Da-Seins mit Bedeutung zu füllen, was in übertragenem Sinne so viel heißt wie: Zur Vorhandenheit muss das Sein, und zwar das qualitativ gestaltete Sein, durch den Menschen erst noch hinzugefügt werden. Theologisch brisant ist diese Ansicht allemal, da sie die göttliche Wirkweise, sofern nur der Gedanke der Schöpfung thematisiert wird, auf die Setzung des Vorhandenen beschränkt. Alles weitere Geschehen – und erst von diesem Augenblick an kann nach Rosenzweigs Überzeugung von wirklichem Geschehen gesprochen werden – spielt sich interaktiv zwischen Mensch und Welt im Gedanken an das Göttliche ab. Damit fällt dem Menschen Verantwortlichkeit per creationem zu. Und weil Schöpfung und Sein, wie sich immer wieder bestätigt, in diesem Denken auf das Engste verbunden sind und zum Teil sogar als identisch aufgefasst werden können, ist der Mensch auch für Rosenzweig von Anfang an verantwortlich. Doch handelt es sich hier um das Vermögen der Verantwortung. Denn Mit-Sein wäre, wenn er ihn gebrauchen würde, kein Ausdruck, der dem des Seins synonym zu verwenden ist, sondern der die Gestaltungbarkeit des Seins kennzeichnet. Insofern könnte gefolgert werden, dass ihm hier von Anfang an eine weitaus stärkere Akzentuierung in ethischer Hinsicht zukommt, da der Gedanke des Seins stets die
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Forderung einschließt, für dessen Gestaltung Sorge zu tragen. Ist Seins-Gestaltung, das muss an dieser Stelle gefragt werden, mit der Erfüllung religiöser Gebote gleichzusetzen? Dienen die Anweisungen zum moralischen Verhalten dem Entwurf des Seins, wie es seiner Möglichkeit nach werden kann? Ist die Forderung, die vom Sein ausgeht, dann also letztlich nichts anderes als eine philosophische Formulierung für die religiöse Vorstellung der Erfüllung des gebotenen Verhaltens? An einem Punkt seines Stern der Erlösung, der bereits wiederholt angesprochen wurde, geht Rosenzweig explizit auf den Hintergrund dieser Überlegung ein, von deren Entscheidung auch die kontextuelle Verortung seines Buches abhängt. Dass er diese nicht ausschließlich in religiösem Rahmen sehen wolle, betont er. Es geht um das Gebot der Nächstenliebe, das als Folge des Gebotes der Gottes-Liebe betrachtet wird. Im Zusammenhang der recht kompakten Erörterung dieses Motives findet sich der Gedanke des Gebotes, dessen Befolgung nicht in der Entscheidungskompetenz des Menschen liegt, weil es sofortige Umsetzung verlangt. Warum besteht Rosenzweig auf diesem Aspekt sofortiger Erfüllung? Weil es sich eben nicht um eine Anweisung der Moral, sondern des Seins handelt. Um dessen Forderung zu entsprechen, kann kein Entschluss gefasst werden, da das bedeuten würde, Sein selbst negieren zu können. Hier ist wohlgemerkt nicht die Möglichkeit angesprochen, sich eventuell gegen das Sein zu entscheiden und dem Leben ein Ende zu setzen, sondern die Unmöglichkeit, sich seiend gegen die Bedingungen des Seins zu entscheiden. Das Liebes-Gebot fordert die Umsetzung der existentiellen Bestimmung der Relationalität, des Mit-Seins, um den Ausdruck zu verwenden, den Nancy unter Rückgriff auf Heideggers Deutung in Sein und Zeit konzipiert. Der erinnernde Blick auf Rosenzweigs Position diente dem Zweck, deren Differenz zu Nancys Standpunkt zu verdeutlichen. Mit-Sein ist demnach nicht immer schon gesetzt, sondern bedarf der verstehenden Aktualisierung. Diesen Aspekt betont Rosenzweig besonders: Das Befolgen des LiebesGebotes markiert nicht das Ende willkürlichen Verhaltens, sondern das Ende unbewussten Agierens, wenn hier mit einiger Großzügigkeit Bewusstheit und Verstehen gleichgesetzt werden dürfen. Noch einmal seien die entscheidenden Zeilen des Sterns der Erlösung zitiert: «Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.»374 In diesen wenigen Worten fasst Rosenzweig seine Auffassung der höchsten Selbstreflexion des Menschen zusammen, die niemals nur Reflexion des Selbst, sondern immer auch Verstehen der Relations-Bedürftigkeit des Seins ist. Dass sich im Text eine kurze Betrachtung des Begriffes der Sündhaftigkeit anschließt, kann an dieser Stelle fast vernachlässigt werden. Denn Selbstreflexion im philosophischen Sinne umfasst nicht nur ein Konstatieren momentaner Beschaffen374
Der Stern der Erlösung, II,II, S. 200.
Die dritte Bedeutung
heit, sondern auch die Vergegenwärtigung jener Impulse, die zu dieser Feststellung führten. So erscheint das Gebot der Liebe in philosophischer Perspektive als Forderung des Seins, die sich als Verstehen des Seins zu erkennen gibt. Darum ist es nicht möglich, ihr widerstehen zu wollen. Denn ist das Verstehen einer komplexen Struktur wie derjenigen des Seins eingetreten, ist es nicht mehr möglich, es nicht verstehen zu wollen. Eine Möglichkeit, die unter religiösem Gesichtspunkt vielleicht noch zuzugestehen gewesen wäre, verbietet sich in dieser Hinsicht von selbst. Denn vielleicht wäre es Rosenzweig sogar nicht vorstellbar gewesen, einen Fall zu erwägen, in dem dem Liebes-Gebot nicht Folge geleistet wird. Wird dieses aber an das Verstehen der Selbstreflexion gekoppelt, ist ein solcher Gedanke nahezu ausgeschlossen. Verstehende Selbstreflexion ist nach Rosenzweigs Auffassung also nicht die Voraussetzung für die Bindung an den Nächsten, sondern bereits deren Anzeichen. Denn in dem Moment, in dem das Selbst in den gerade zitierten Worten seine Unfähigkeit bekennt, aus eigener Kraft zur Reflexion seiner selbst zu gelangen, hat es den Bezug zum Anderen bereits hergestellt. Diese Ansicht scheint im Vergleich zu derjenigen von Jean-Luc Nancy einen nicht zu vernachlässigenden Vorzug zu zeigen. Werden die Spezifika beider Denk-Modelle soweit wie möglich auf ihre gemeinsame Struktur hin befragt, ergibt sich das folgende Bild, das bereits angesprochen wurde: Zur Verwirklichung des Mit-Seins im Sinne Nancys bedarf es keines Verstehens und es ermöglicht kein Verstehen, das aus ihm selbst und nicht aus ontologischer Betrachtung entstehen könnte. Denn Mit-Sein ist Sein, das allein schon dadurch, dass es Sein ist, immer auch Mit ist. Mit-Sein spielt sich als Sein ab, was letzten Endes die Frage nach dem bewussten Eingreifen des Menschen stellt. Zudem ist Mit-Sein als absolut wertneutral zu betrachten, so wie es auch für das Sein gilt. Das Faktum der Vorfindlichkeit entzieht sich jeder wertenden Beurteilung. Das Seins-Verständnis, wie wir es bei Franz Rosenzweig sehen, setzt im Gegensatz dazu einen deutlich divergenten Akzent. Verstehen ist Teil der Seins-Verhaltung, so wie die Bindung an den Anderen Teil der ontologischen Signatur des Menschen ist, die bisher als Forderung bezeichnet wurde, die vom Sein ausgeht. Diese Vorstellung impliziert ein sowohl zeitliches als auch kausales Verhältnis, insofern das Verstehen der Forderung, das ein Verstehen des Seins ist, folgt. Nancy weist eine solche Vorgängigkeit des Seins durch seinen Begriff des Gleichursprünglichen zurück. Für Rosenzweig ist ihre Annahme insofern unverzichtbar, als Sein und das Sein verstehen in seinen Augen zwei nicht identische Momente menschlicher Existenz-Entwicklung sind. Ihre Differenzierung ermöglicht es, die Prozesshaftigkeit der Selbst-Werdung zu erklären, die seiner Auffassung nach nicht von Anfang an gegeben ist. Dadurch, dass er hier mit Blick auf die Abfolge der religiösen Vorstellungen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung einen Aufbau verschiedener Bewusstseins-Momente annimmt, erhöht er die Möglichkeit, die Gedanken der Verantwortlichkeit und des Verantwortlichsein-Wollens, dem nicht zu widersprechen ist, zu verbinden, womit er jenen Ge-
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danken der Unterweisung vorbereitet, den Emmanuel Lévinas rund vierzig Jahre später formuliert. Unterweisung heißt bei ihm, sich durch Bindung an den Anderen ansprechen zu lassen. Der Blick auf die kurze Passage des Sterns der Erlösung bestätigt diesen Gedanken. So wie sich im Begriff des Sich-angehen-Lassens Konnotationen von Aktivität und Passivität verbinden und das Bild eines Verhaltens in zustimmender Affektion vermitteln, deutet auch der Ausdruck des Sich-unterweisen-Lassens auf ein Mittleres der Bedeutung. In ihm wird die gängige Vorstellung von Kausalität und zeitlicher Vorgängigkeit aufgehoben. Denn es ist nicht so, dass das Ich erst auf die Unterweisung des Anderen reagiert, die damit einen Prozess sich verwandelnden Verhaltens initiiert. Der Unterweisung geht, zumindest nach herkömmlicher Ansicht, die Ansprache durch das Ich voraus. Dass hier allerdings tatsächlich nur in traditioneller Weise ein Früher, das ursächlich wirkt, von einem Später der Verursachung unterschieden wird, zeigt sich unter anderem daran, dass der Gedanke einer solchen Abfolge angesichts der Unterweisung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Ansprache und Unterweisung greifen ineinander und bilden einen einzigen Moment der Bezogenheit. Obwohl es so aussehen kann, als würde in diesem Moment eine Verschmelzung sich logisch ausschließender Phasen einer kausalen Folge stattfinden, ereignet sich doch etwas noch weitaus Wichtigeres. Zwischen dem Früher und dem Später entsteht ein Intervall, das auch als Inter-spatium, als Zwischenraum verstanden werden kann. Denn indem beide Zeitangaben nicht aufgehoben, sondern ineinander verschränkt werden, entsteht ein Moment der logischen Unzeit und bedingungslosen Bedingtheit. Keine Vorstellung von zeitlicher Abfolge und Ursächlichkeit erlaubt es, den Gedanken der Unterweisung zu fassen, indem sich auch die Vorstellungen von vermeintlicher Aktivität – des Unterweisenden – und vermeintlicher Passivität – des Unterwiesenen – kreuzen. Hier entsteht Raum für das, was Martin Heidegger in den 1950er Jahren forderte, als er erklärte, das Denken müsse «alogisch» werden. Auch diese Proklamation verweist auf das Neue Denken, das sich nicht scheut, eine im Kontext westlicher Rationalität mehr als ungewöhnliche Möglichkeit zu bedenken. Ob ihre Umsetzung praktikabel ist, scheint der Verlauf der Philosophiegeschichte zu entscheiden. Es ist eine schmale Spur, die sich von Franz Rosenzweig bis zu Jean-Luc Nancy verfolgen lässt. Auch das Denken des Nikolaus von Kues, dem hier die Bedeutung einer Wegweisung zukommt, hat sich letztlich im Rahmen frühneuzeitlicher Konzeptualisierungen nicht durchsetzen können. Doch spricht nicht das Maß der Beachtung für die Qualität eines philosophischen Ansatzes. Dessen Beurteilung hängt von seiner gedanklichen Stimmigkeit und der Frage ab, ob er Grundlage weiterführenden Fragens sein kann. Diese Frage wird gerade jetzt gestellt, wo es darum geht, die ethische Relevanz des Neuen Denkens, das hier als Form-Diskussion des existentiellen Denkens verstanden wird, zu prüfen. Die Aufgabe besteht noch immer in der Unter-
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suchung des Begriffes des Lassens in seinen verschiedenen Bedeutungsaspekten. Dass hier nur von Aspekten und nicht von verschiedenen Bedeutungen gesprochen wird, liegt daran, dass die bisher betrachteten Formen eine deutliche Übereinstimmung hinsichtlich ihrer Möglichkeit zeigten, Gegensätzlichkeiten und sich ausschließende Vorstellungen in einem dritten Modus der Denkbarkeit zusammenzuführen, ohne ihre eigene Gültigkeit damit zu bestreiten. An der begrifflichen Form des Lassens wird ablesbar, was Emmanuel Lévinas als Quintessenz einer moralischen Haltung des Menschen ansieht: Der Abstand, der das Ich vom Anderen trennt, muss in jedem Fall gewahrt bleiben, um vereinnahmende Übergriffe auf das Fremde, das fremd nur aus der Perspektive eines urteilenden Subjekts ist, zu verhindern. So stehen sich das Eine und das Andere für alle Zeit unvermittelt, doch nicht beziehungslos gegenüber. Denn in dem Raum des Abstandes, den Jean-Luc Nancy als das entre-nous bezeichnet, ereignet sich eine Form der Begegnung, in der entsteht, was keiner der beiden sich Begegnenden alleine hätte initiieren können. Bei Franz Rosenzweig begegneten wir zum ersten Mal dem Gedanken, dass Eines nicht auf ein Anderes zurückgeführt werden, das heißt aus dem Repertoire eigenen Wissens erschlossen werden kann. Es bedarf der Widerständigkeit des Eigenen, um als Eigenheit erfasst werden zu können. Erkennen ist nach Rosenzweigs Auffassung eine solche Begegnung mit dem sich behauptenden Anderen, wie er in den ersten Seiten seines Sterns der Erlösung vorführt. Gott bleibt göttlich, die Welt weltlich und der Mensch menschlich. Keines der drei Elemente der Seins-Erfahrung lässt sich auf bestehendes Wissen des Menschen zurückführen, sondern muss neu, immer wieder von Neuem, erfahren werden. Dadurch wird verhindert, dass sich ein Bestand des Gewussten etabliert, der irgendwann dazu verleitet, als bekannt vorauszusetzen, was alles andere als bekannt ist. Die Kenntnis, die sich zwischen dem einen und dem anderen ereignet, stellt eine gänzlich neue Form dar, in der Teile beider zusammentreffen. Konfrontation wäre hier der passende Ausdruck, da beide in ihrer unaufhebbaren Eigenheit eine gemeinsame Grenze teilen. Und doch gehen sie einander an, weil diese Grenze ihnen beiden eignet. Kann ihr Bild näher beschrieben werden? Es klingt schlicht, vielleicht sogar banal, und doch ist dieses die einzig zutreffende Antwort: Sie grenzen im Sein aneinander. Für Franz Rosenzweig, dessen Denken religiös geprägt ist, bedeutet diese Feststellung eine Herausforderung. Denn sie besagt, dass tatsächlich Gott, Welt und Mensch ein Sein teilen und nicht primär, dass das Sein der Welt und des Menschen sich göttlicher Schöpfung verdankt. Zugleich betont diese Auffassung des Aneinander-Grenzens den Forderungscharakter des Seins, auf den bereits hingewiesen wurde, in besonderer Weise. Der Andere geht mich an und ich lasse mich von ihm angehen, weil wir uns in der Konfrontation des Seins begegnen. Eine der außergewöhnlichen Konsequenzen des Rosenzweigʼschen Denkens besteht darin, dass diese Formulierung auch so klingen könnte: Das Andere geht mich an und ich lasse mich von ihm angehen,
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weil wir uns in der Konfrontation des Seins begegnen. Denn seine Betonung der Eigenständigkeit des Dinglichen als philosophisch relevant, die erfolgte, bevor Martin Heidegger sie sechs Jahre später in Sein und Zeit zum Thema machte, drückt ihrerseits eine Forderung an den Menschen aus. Es wäre freilich verfrüht, Rosenzweig damit eine Theorie des ökologischen Bewusstseins zuschreiben zu wollen. Doch den Weg zu dessen Denkbarkeit ebnet er allemal. Das eine und das andere und das dritte zwischen ihnen – in dieser Formel lässt sich zusammenfassen, was bisher aus den Schriften von Rosenzweig, Lévinas und Nancy sowie der Betrachtung des Begriffes des Lassens ermittelt werden konnte. Die Formulierung mag wenig spektakulär klingen, doch die Aussage ist es umso mehr. Denn das zwischen entsteht nur dort, wo Begrenztes aufeinandertrifft, wo Konfrontation stattfindet. Waren das Sein-Lassen, das Sich-angehenLassen und das Sich-unterweisen-Lassen Beschreibungsmodi der Art der Konfrontation, zielt der Begriff des Unterlassens auf die Forderung, die aus dieser folgt. Die markantesten Worte hierfür fand Emmanuel Lévinas in der bereits zitierten Aussage «Du wirst keinen Mord begehen.»: Das Unendliche paralysiert das Vermögen durch seinen unendlichen Widerstand gegen den Mord; der Widerstand, hart und unüberwindbar, leuchtet im Antlitz des Anderen, in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offenheit des Transzendenten. Hier liegt nicht eine Beziehung mit einem sehr großen Widerstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem: der Widerstand dessen, der keinen Widerstand leistet – der ethische Widerstand.375
Das Unterlassen dessen, wozu ein Mensch fähig wäre, ist nicht als Reaktion auf diesen Widerstand zu verstehen, sondern als dessen Voraussetzung. Was paradox klingt, erscheint so nur im Kontext des traditionellen Denkens, wie sich gezeigt hat. In ihm wäre eindeutig zwischen Vorher und Nachher, zwischen Ursache und Folge zu differenzieren. Im Neuen Denken, das auch Lévinas an diesem Punkt bestätigt, ohne es explizit zu erklären, ist eine Bedeutung vorstellbar, die sich – analog zum zuletzt Festgestellten – an der Ausschlusslinie der beiden bestehenden Bedeutungen formiert. Der Widerstand des Antlitzes ist nicht der Grund dafür, dass das Vermögen der Negation der Andersheit des Anderen paralysiert wird. Das Ich unterlässt es, sein Vermögen überhaupt als solches erfassen zu wollen – zu keinem Zweck. In dem Moment, in dem dieser Satz ein anderes Ende gefunden hätte, indem zum Beispiel auf die Folge dieses Unterlassens gedeutet worden wäre, hätte sich sofort das Muster des kausalen und bedingenden Denkens durchgesetzt. Ich verzichte auf mein Vermögen, damit das Antlitz des Anderen erscheinen kann; das Antlitz des Anderen erscheint, damit ich auf mein Können verzichte, so wäre ein Gedanke in herkömmlicher Weise artikuliert worden. Warum meint Lévinas, diese Form nicht länger nutzen zu können? 375
Totalität und Unendlichkeit, S. 285 f.
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Weil sie voraussetzen würde, dass Eines auf ein Anderes zurückgeführt werden kann, was konkret heißt, dass der Anstoß zu einer moralischen Aktion immer von einem bestimmten Einzelnen ausgehen müsste. Letztlich funktioniert ein Großteil ihrer Begründungen so, dass an die Entscheidungsfähigkeit eines Menschen appelliert wird, dieses zu tun oder jenes zu unterlassen. Sein Entschluss wird eine Situation herbeiführen, die als moralisch wertvoll oder bedenklich bewertet werden kann. Und worauf beruht die Möglichkeit einer Bewertung der einen oder anderen Art? Weil ein Urheber benannt werden kann. Als moralisch kann eine Handlung bezeichnet werden, wenn sie einem entscheidungsfähigen Individuum zugeschrieben werden kann. Ist es nun aber nicht ein sehr gewagtes Unterfangen von Lévinas, den Gedanken der individuellen Verantwortung im Sinne individueller Verursachung einer Situation aufkündigen zu wollen? Riskiert er damit nicht gerade, dass jede moralische Beurteilung im homogenen Gemenge nicht als Individuen in Erscheinung Tretender versiegt? Der Gedanke der Konfrontation kann hier helfen. Lévinas leugnet keinesfalls die Eigenheit des Individuellen, ganz im Gegenteil. Seine Theorie der Uneinnehmbarkeit des Anderen zielt gerade darauf, diese Vorstellung zu schützen. Er will allerdings den Gedanken der individuellen Situations-Verursachung aufheben und ihn durch die Vorstellung der konfrontativen Situations-Bedingung ersetzen. Daher ist ihm so sehr daran gelegen, zeitliche und kausale Abfolge nicht als allein gültiges Muster zu begreifen, in dem das Geschehen der Konfrontation zu erfassen ist. Denn die konfrontative Situation kommt durch das Einwirken beider Beteiligter zustande, wie sich in den zitierten Zeilen noch einmal bestätigt. Dort ist vom Widerstand dessen die Rede, der «keinen Widerstand leistet», weil es hierbei nicht darum geht, einer Überschreitung der Grenze, die beide Beteiligten teilen, zu trotzen, sondern diese von Anfang an zu wahren, weil sie dem Verstehen des Seins entspricht. Die Frage, warum es denn überhaupt zu Übergriffen und Verletzungen dieser Achtung kommt, wurde bereits aus etwas anderer Perspektive gestellt. In diesen Fällen liegt kein Verstehen des Seins vor, so lautet die Antwort. Demjenigen, dem die Bedingtheit des Seins zu Bewusstsein gelangt ist, würde es deutlich schwerer fallen, gegen diese Einsicht zu handeln. Auszuschließen ist es allerdings nicht. Der Gedanke des Widerstands, der kein Widerstand ist, verschiebt in mittlerweile vertraut erscheinender Weise die Denkbarkeit des Gegensätzlichen. So steht nicht auf der einen Seite der Grenze der Agierende und auf der anderen der Widerständige, die beide durch die Aufforderung, sich so oder so zu verhalten, angesprochen werden könnten. Wenn die Annahme einer ethischen Analyse der Situation der Begegnung Sinn macht, dann kann sie sich nach Lévinas’ Auffassung einzig auf das interaktive Geschehen beziehen, das sich zwischen beiden ereignet. Denn nur hier ist ein Grund dafür auszumachen, der Entwurzelung der Moral, wie sie die Vergangenheit belegt hat, in einem theoretischen Konzept entgegenzuwirken. Danach ist als ethische Situation diejenige zu bezeichnen, in der
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Menschen schon immer stehen, weil sie schon immer relational aufeinander verwiesen sind. Es ist also im Grunde nicht korrekt, von einer bestimmten Situation zu sprechen, da sie die Situation des Menschen im Sein ist. Diese Grundsätzlichkeit zu denken, fällt Lévinas jedoch sichtbar schwer. So muss er – aus seiner Warte betrachtet konsequenterweise – die Bildlichkeit vom Meister, der Unterweisung und vom unendlichen Widerstand bemühen, um erklären zu können, was auch als Forderung des Seins hätte bezeichnet werden können. Die ethische Situation, nach der gerade gefragt wurde, stellt keinen Sonderfall dar, der nur unter bestimmten Bedingungen eintreten wird, sondern den Regelfall. Zu sein bedeutet, in Konfrontation zu sein. Auf die Konfrontation von Übergreifendem und Widerständigem, wie es in herkömmlicher Weise zu unterscheiden wäre, übertragen, bedeutet es, dass in dem Raum zwischen beiden ein Nicht-Wollen im Wissen um das Können denkbar wird, das sich ausdrückt, noch bevor es vom Antlitz des Anderen geboten werden könnte, da das Können bereits durch die Struktur des Mit-Seins, um diesen Terminus zu verwenden, aufgehoben ist. So ist der Widerständige gefordert, zu verhindern, was nicht beabsichtigt gewesen ist, weil es niemals möglich war. Gerade in diesem Beispiel wird erkennbar, wie die traditionellen Vorstellungen von Folge und Verursachung buchstäblich ins Leere laufen. Denn sie finden keinen Ansatzpunkt im Bild menschlichen Verhaltens. Es ist insofern auch nicht mehr erforderlich, moralisches Verhalten als Folge eines Aufrufes zur Moralität aufzufassen. Der Eine verzichtet nicht auf etwas, das in seiner Macht stünde, weil er dazu aufgefordert wird. Wie kann aber eine solche Auffassung, in der sich die ethische Dimension des existentiellen Denkens unübersehbar abzeichnet, begründet werden? Der Versuch, an dieser Stelle auf eine imperativische Weisung, sei sie religiöser oder philosophischer Natur, zurückzugreifen, kann sofort ausgeschlossen werden. Denn das hatten die Ansichten von Rosenzweig und Lévinas gezeigt: Sein kann nicht geboten werden. Diese Formulierung mag verwundern. Wer hätte das jemals behauptet? Es hat sich gezeigt, dass Sein und Mit-Sein letztlich identisch sind, so dass es im Grunde unsinnig ist, hier überhaupt noch vom «und» zu sprechen. Sein ist Mit-Sein, so hebt es vor allem Jean-Luc Nancy hervor. Daher hieße das Mit-Sein gebieten zu wollen, Sein zu gebieten, was in keinem Fall denkbar ist. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellen könnte, lautet nicht, wie moralisches Handeln ethisch begründet werden kann, sondern wie angesichts der Gleichursprünglichkeit von Sein und Mit-Sein nicht-moralisches Verhalten möglich ist. Die Beweislast verschiebt sich hier deutlich von dem Nachweis der Möglichkeit des Guten zur Ermöglichung des Nicht-Guten, um an dieser Stelle das dem Sein Entsprechende als das Gute zu bezeichnen. Das Nicht-Gute besteht nicht in einem Handeln oder Verhalten, das Weisungen oder Geboten keine Folge leistet, sondern in einem Agieren in Unkenntnis der Bedingung des Guten. Keine der vorgestellten Konzeptionen veranschaulicht diesen Umstand klarer als diejenige Martin Heideggers. Auf den letzten Seiten schien sein Denken
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fast in Vergessenheit geraten zu sein, ein Eindruck, der täuscht. Es versteht sich von selbst, dass kein Denken alle hier zu beleuchtenden Aspekte in gleicher Intensität spiegelt. So ging es zuletzt um das so wichtige Motiv des Unterlassens, das sich besonders gut aus den Texten von Emmanuel Lévinas rekonstruieren ließ, solange es um die Begründung der Abständigkeit des Ich und des Anderen ging. Hier stand der Vorsatz im Vordergrund, die Notwendigkeit dieser unüberwindlichen Trennung zu betrachten, um den Fokus auf den Ort des Ethischen, das Zwischen, zu richten. Dabei handelt es sich um den an sich wertfreien Raum, der durch keine moralische Reglementierung bestimmt werden kann. Denn den zu Rate gezogenen Deutungen zufolge ist dieser Raum immer schon ethisch definiert, da er Verortungsmetapher des Seins ist, was nun auch heißt, Verortungsmetapher des Mit-Seins zu sein. Sein bedarf jedoch keiner Begründung und kann nicht zur Begründung von Moralität in Anspruch genommen werden. Denn Letzteres würde, wie bereits an früherer Stelle angedeutet, bedeuten, dass auf eine Alternative hingewiesen werden könnte, die als Grund bestimmter Forderungen anzusehen wäre. Die Formulierung, der Mensch sei dem anderen Menschen verpflichtet, weil es das Sein fordert, lässt immer noch den Moment der Entscheidung zu, in dem die Akzeptanz dieser Begründung verweigert werden könnte. Diese Möglichkeit versuchen vor allem Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas auszuschließen. Wenn vom Sein eine Forderung ausgeht, muss sie absoluter Natur sein, weshalb sie nicht mehr Gegenstand menschlicher Entscheidungsfähigkeit sein kann. Ob eine solche These sich als sinnvoll erweist, ist im Augenblick noch nicht zu entscheiden, da es gerade darum geht, sie zunächst zu rekonstruieren. Gerade wurde der Begriff des Guten verwendet. Ist es nicht bemerkenswert, dass von ihm in Texten des existentiellen Denkens fast nie die Rede ist? Liegt es daran, dass sie die bisweilen vertretende Meinung letztlich doch bestätigen, wonach ihr Ziel nicht in der Formulierung ethischer Konzepte besteht? Oder bietet sich nicht vielmehr eine andere Antwort an? Danach wäre die Vorstellung des Guten so eng mit der des Seins verbunden, dass sich ihre explizite Reflexion erübrigt. Eine sehr vielversprechende Möglichkeit, diese These zu überprüfen, besteht darin, sie vor dem Hintergrund von Martin Heideggers Denken zu betrachten. Ausschlaggebend ist hierfür sein Gedanke des Seins-Wandels. Denn diesen zu fordern, macht nur dann Sinn, wenn er als eine Veränderung zum Besseren verstanden wird. Mit der Vorstellung des Besseren knüpft die aktuelle Fragestellung an den Blick auf die Bedeutung des Zu-sich-kommen-Lassens an. Fundament dieser Vorstellung, so viel hat sich bereits gezeigt, ist die Überzeugung, dass ein jedes Seiendes in einer Weise zu sein vermag, die als wesentlich oder – nach Heideggers Begrifflichkeit – als eigentlich bezeichnet werden kann. In solcher Weise existieren zu können, heißt allerdings nicht, dass so auch der Status quo der Seins-Verfassung beschaffen ist. Zielorientiertes und zweckgebundenes Denken trägt seinen Teil dazu bei, dass hier ein eklatantes Missverhältnis zwischen
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dem Können und der tatsächlichen Beschaffenheit festzustellen ist. Diesem Missverhältnis entgegenzuwirken, indem Seiendem dazu verholfen wird, im eigentlichen Sinne sein zu können, ist per se eine Arbeit zum Besseren. Ihre Dimension ist immens, wie Heidegger sehr deutlich zu verstehen gibt, wäre es doch sonst unangemessen, vom Seins-Wandel zu sprechen. Dessen Ziel besteht in einer Form, die als Seyn tituliert wird. Zu ihr notiert Heidegger: «Erst in der Konstellation des Seyns gelangt der Mensch unter seinen Stern, d. h. in sein Wesen.»376 Und mit unmittelbarem Bezug zum Thema heißt es: «Das Weglassen lernen wir nur im Seyn-Lassen des Seyns.»377 Bereits diese kurze Eintragung in eines seiner Denktagebücher gibt die Übereinstimmung seines Denkens mit den gerade betrachteten Akzenten zu erkennen. Denn es zeigt sich, dass auch er keineswegs von einer zeitlichen oder kausalen Abfolge ausgeht, in der eindeutig das begründende Früher vom begründeten Später differenziert werden kann. Es hätte tatsächlich so aussehen können, als sei das «Weglassen» des zielorientierten Fragens Bedingung für das Seyn. Doch diese Erwartung bestätigt sich nicht. Die Bedeutung des Seyns muss erfahren worden sein, um ihm zu entsprechen. Liegt aber damit nicht lediglich eine Umkehrung vor, die das Verstehen, das hier als Erfahren bezeichnet wurde, zur Voraussetzung des Verhaltens macht? Die vermeintliche Folge kann nach Belieben gewendet werden, ohne dass dadurch eine eindeutige Aussage über ein Verhältnis von Ursache und Wirkung ausfindig zu machen wäre. Verstehendes Denken ist nach Heideggers Auffassung bereits ein Handeln, das seinerseits nicht als gedankenloses Agieren betrachtet werden kann, solange es sich wirklich um das verstehende, das erfahrende Denken handelt.378 Seins-Wandel ist, davon ist Heidegger überzeugt, auch Wandel im Denken, kein Wunder, so kann angemerkt werden. Die Überzeugung, dass eine andere, neue Form des Denkens gefunden werden muss, um den Wandel des Seins aussagen zu können, teilt er allemal mit Franz Rosenzweig. Emmanuel Lévinas und Jean-Luc Nancy stimmen zwar nicht in dessen Proklamation des Neuen Denkens ein, mit der programmatische Absicht einhergeht, praktizieren aber in ihren Schriften bereits ein anderes Denken. Besonders Nancys Texte bestätigen diesen Eindruck. Eine dritte Wandlung steht schließlich noch aus – der Wesens-Wandel des Menschen. Im Grunde liegen hier nicht drei getrennte Formen vor, die möglicherweise eine nach der anderen vollzogen werden sollten. Sie greifen vielmehr so passgenau ineinander, dass sie als drei Erscheinungsformen ein und desselben Wandels bezeichnet werden sollten. Erfahrung gibt den Blick auf Seyn frei, das der Mensch Anmerkungen VI–IX, VII, S. 127. Das Wort Seyn ist im Text durchkreuzt. Anmerkungen I–V, II, S. 153. 378 «Die Philosophie entwickelt sich nicht von der Metaphysik zum Denken des Unterschieds. Sondern mit diesem Denken beginnt völlig Anderes. Genauer: das Andere, das Ereignis, er-eignet und be-ginnt das Denken.» Anmerkungen VI–IX, VII, S. 160.
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erfährt, seit er im Sein wirkt. Es ist sprachlich fast unmöglich, einen Satz zu formulieren, ohne darin ein Begründungsverhältnis auszudrücken. Die einzig adäquate Form wäre diese: Seyn = Erfahrung = Nicht-Wollen. Hier vom Wollen zu sprechen, ist deshalb erforderlich, weil sich der Wesens-Wandel im Menschen, der kein Wandel seines Wesens, sondern Wandel zum Wesen ist, als eine Revision des Wollens zu erkennen gibt. Nicht erkennen zu wollen, nicht verstehen zu wollen, ja nicht einmal den Seins-Wandel herbeiführen zu wollen – diese Form nimmt das Denken an, das den Wandel nicht als erstrebtes Ziel zu begreifen sucht. In diesem Zusammenhang stellt Heidegger eine Frage, die in ihrer extremen Schlichtheit doch präzise die Situation kennzeichnet, in der der Mensch steht: «Wer entzieht uns den Weg, daß wir nicht gehen als Erfahrende?»379 Das Fatale der Antwort besteht darin, dass es niemand anderes ist als der Mensch selbst. Wie immer der Grund hierfür benannt wird, ob als Unkenntnis, falsche Priorisierung, vermeintliche Entscheidungsfreiheit, immer ist der Zustand fern vom Eigentlichen selbstverursacht. Um den Weg zu weisen, der aus dieser Verirrung führt, kann sich Heidegger anders als Rosenzweig, sogar anders als Lévinas nicht mehr auf die Vorstellung des Göttlichen berufen. Er muss folglich aus dem Sein erschlossen werden, was nichts anderes bedeutet als: im Sein erschlossen zu werden. Doch was ändert unseren Blick auf das Sein? Der Ausgangspunkt ist leicht zu benennen. Es ist das Erleben existentieller Erschütterung, wie wir es auch aus den Beschreibungen von Kierkegaard und Rosenzweig kennen. Doch wie vollzieht sich die veränderte Perspektive? Wenn sie sich durch Zielunbedürftigkeit auszeichnet, wie sich bestätigt hat, besteht dann nicht dieselbe Gefahr, die auch unter Bezugnahme auf Kierkegaards Denken bisweilen verkündet wird: dass der Mensch den Bezug zur Welt verliert, wenn er den Sprung ins Religiöse vollführt oder das Sein nur noch um seiner selbst willen erfasst? Auf Kierkegaards Konzeption schauend, könnte vermerkt werden, dass der Sprung ins Religiöse nicht den Sprung aus der Welt bedeutet. Die Einbeziehung des Glaubens eröffnet dem Wirken in ihr vielmehr erst die eigentlich sinngebende Dimension. Würde sich dieselbe Antwort auch eignen, um den Zweifel am Heideggerʼschen Denken zu zerstreuen? Seiendes zu sich kommen zu lassen, wäre damit nicht mit einer Haltung des Sich-Heraushaltens zu verwechseln, die letztlich nur eine Spielart des Desinteresses wäre. Der Mensch, den Heidegger dazu ermutigen will, auch sich selbst zu sich selbst finden zu lassen, ist ganz gewiss nicht desinteressiert, sondern im Gegenteil um das Sein-Können des Seienden besorgt – alles Seienden, wie an dieser Stelle unbedingt hinzugefügt werden muss. Alles Seiende, damit schließt er explizit auch das Sein des Dinglichen ein, jener Erscheinungsform des Seienden, die wie kaum eine andere die Spuren des menschlichen Nutzungsanspruches zeigt. Der Gedanke, einen anderen Menschen dabei zu unterstützen, zu sich zu finden, mag noch eine schöne Überzeugungskraft ausstrahlen, doch was wird aus 379
Anmerkungen VI–IX, VII, S. 123.
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ihm, wenn er nun auch auf das Dingliche der Welt ausgeweitet werden soll? Es wurde bereits die Frage thematisiert, woher ein Mensch um das Eigentliche des Anderen wissen kann. Wie äußert sich also das Verhalten des Menschen zu den Dingen, wenn es den Seins-Wandel als Verstehen des Seins zu erkennen geben soll? Im «Weglassen» – diese Antwort hatte Heidegger selbst schon gegeben. Weglassen heißt Sich-Enthalten und ist damit das Aussetzen des in Anspruch nehmenden Denkens. Den Gegensatz zu diesem thematisiert er in weitem Umfang besonders in seinen Texten der 1950er Jahre, obwohl der Begriff bereits früher auftaucht: Es ist das «schonende Denken». «Weil das schonende Denken, als Andenken, kein Vor-stellen, kein Auf-sich-zu-stellen und Einstellen in Anderes ist, kann es auch kein Be-greifen sein. Es greift weder an noch auf – noch umgreift es. Es greift überhaupt nicht. Es schont und läßt.»380 Noch einmal ist der Hinweis sinnvoll, dass gerade die letzten Worte kein Plädoyer für Ignoranz und Weltabgewandtheit darstellen, ganz im Gegenteil. Die vielen Variationen des Bildes vom Greifen veranschaulichen, was das schonende Denken auszeichnet. Es greift nicht ein und stellt den Menschen dem Seienden gegenüber, so als würde ihm von jeher das Vorrecht gebühren, sich anzueignen, was immer ihm zur Verfügung steht. Das schonende Denken stellt den Menschen der Welt nicht entgegen, sondern integriert ihn dem Denken des Seins. Hier von Entfremdung zu sprechen, die sowohl mit Blick auf das Denken der Welt als auch in der Selbstreflexion des Menschen zu finden wäre, mag auf ein eher gesellschaftskritisches Verständnis deuten, insofern die Produktionsbedingungen der Arbeit den Verlust ursprünglicher Bedeutung herbeiführen. Doch wäre diese Assoziation gar nicht unangebracht, da auch in Heideggers Denken ein Verlust beklagt wird. Fraglich ist allerdings, ob er der ursprünglichen Bedeutung des Seins gilt, ob es also jemals einen Zustand gegeben hat, der den SeinsWandel weniger drängend gefordert hätte? Einen solchen Zustand und das ihm entsprechende Verhalten scheint Heidegger im Kontext des Bäuerlichen und des Hand-Werkes zu finden. Abgesehen davon, dass diese Hinweise in mehrfacher Hinsicht Skepsis hervorrufen können, zeigen sie zumindest eine Maßgabe des Verhaltens, die möglicherweise bedenkenswert ist. Das Wirken des Menschen orientiert sich am Vorfindlichen und respektiert dessen Bedingungen, anstatt sich seiner blindlings zu bemächtigen.381 Es enthält sich des Eingreifens, es belässt das Andere soweit irgend möglich in seinem Eigenen. Dies ist der Sinn des Seins-Wandels, der sich im Denken ankündigt und im Wirken des Menschen seinen Ausdruck findet. «Das höchste Denken ist reines Verwandeln. Es verwan-
Anmerkungen VI–IX, VIII, S. 306. «Im Denken dorthin gelangen, wo es das Welt-Ding so belassen muß, wie es ist. Worin besteht die Belassenheit, die allem Seltenen und Einfachen eignet?» Anmerkungen VI–IX, VI, S. 15. 380
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delt den Schmerz des Da-seyns […]. Verwandeln: eingehen lassen in das Wesen.»382 In erstaunlicher Weise ähneln sich die Auffassungen von Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas an diesem Punkt. Beide vertreten die Ansicht, dass das Sich-Enthalten als das Nicht-Tun dessen, was im Rahmen des Möglichen gelegen hätte, Ausdruck «ethischen Bewußtseins» ist, wie es bei Letzterem heißt. Bemerkenswert ist, dass dieses Bewusstsein nicht durch Weisungen, die einem spezifischen Begründungskontext entlehnt sind, gefördert werden kann, sondern aus einem unmittelbaren Verstehen jener Forderung entsteht, die als die Forderung des Seins bezeichnet werden kann. Diese Formulierung respektiert die Weigerung von Lévinas, sich einer Konzeption von Sein anzuschließen, wie sie seiner Ansicht nach vornehmlich durch Heidegger vertreten wird. Wenn sie dennoch die Forderung des Seins nennt, geschieht es, um ihre grundsätzliche Gültigkeit zu betonen, die nicht abgeleitet und nicht begründet werden kann, sondern die dem Faktum, zu sein, gleichursprünglich besteht. Als solche ist diese Gültigkeit, darin sind sich Heidegger und Lévinas in großem Maße einig, nicht aus rationalem Urteil zu erschließen. Imperative und Maximen können hier nicht zur Anwendung kommen, da der Mensch die Forderung des Seins prä-rational vergegenwärtigt. Besonders Lévinas besteht auf diesem Gedanken, aus leidvoller Erfahrung und der Einsicht, dass Vernunft als Regulativ menschlichen Verhaltens nicht die Universalität zukommt, die ihr ursprünglich zugeschrieben wurde. So ist eine aus philosophiehistorischer Sicht einzigartige Wendung zu beobachten. Die moralische Ansprechbarkeit des Menschen wird unterhalb der Grenze des Rationalen gesucht, dort, wo er im Grund eher reagiert als entscheidet. Hier laufen die Ansichten von Heidegger und Lévinas parallel, indem beide einen in der Tat äußerst riskanten Schritt wagen. Sie kündigen der Vernunft als Kontrollinstanz menschlichen Wollens ihr Vertrauen. Denn die Zeitspanne der Entscheidung, in der ich fragen sollte, ob mein Tun wünschenswert im Sinne des Anderen sein kann, währt mitunter bereits zu lange, um das Übel zu verhindern. Diese Ansicht vertritt Lévinas. Heidegger sieht eher das Gut-sein-Wollen seinerseits als ein zweckgebundenes Streben an, auch wenn es dem Guten dienen würde. Trotz dieser unterschiedlichen Begründungskontexte stimmen beider Auffassungen darin überein, dass die Vernunft nicht mehr geeignet ist, das so entscheidende Werk des Nicht-Werkes zu initiieren. Auffällig ist, dass beide dabei nicht danach fragen, wie das Gute gewählt, sondern wie das Fatale verhindert werden kann. Insofern hat ihr ethisches Denken eindeutig präventiven Charakter. Die Konsequenz ihrer Auffassung muss als ein jäher Bruch mit der philosophischen Tradition erscheinen. Denn gerade jenes Vermögen, das fast durchgängig als Regulativ absoluter Gültigkeit ausgewiesen wurde, wird nun als Element betrachtet, das der Vermeidung des Übels im Wege steht. Welcher Art ist das 382
Anmerkungen VI–IX, VIII, S. 219.
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VI. Ringen um das Sein
Übel, von dem Heidegger und Lévinas ausgehen? Dass beider Namen hier in einem Atemzug genannt werden, hätte vielleicht noch vor einigen Augenblicken verwundert, vielleicht sogar zu Widerspruch veranlasst. Allmählich wird es jedoch sichtbar, dass ihre Konzeptionen in wesentlichen Aspekten mehr verbindet als trennt. Für Heidegger besteht das zu Vermeidende, das nur unzureichend mit dem Begriff des Übels bezeichnet wird, im zielgebundenen Denken. Dabei steht momentan nicht zur Diskussion, ob dieses unter pragmatischer Hinsicht lebensnotwendig ist. Seine Verwerflichkeit besteht darin, dass es Seiendes – ganz gleich ob menschlicher oder dinglicher Natur – nur unter dem Aspekt seiner Nutzbarkeit betrachtet, was ausschließt, es darüber hinaus als nicht-verfügbar, das heißt als eigentlich, erfassen zu können. Heideggers Denken ist nicht als Plädoyer dafür zu verstehen, Seiendes in jeder Hinsicht nur noch in seiner Eigentlichkeit zu gewahren. Es geht vielmehr darum, neben seiner Ausrichtung auf den Verfügbarkeitsaspekt auch die Haltung des Schonens zu ermöglichen, die nicht die subjektive Perspektive zum alleinigen Maßstab des Denkens erklärt. Hier gilt es seiner Überzeugung nach Raum zu schaffen, in dem dieses schonende, belassende Denken zur Geltung kommen kann. Das Bild des Raum-Schaffens wurde nicht zufällig gewählt. Denn Heidegger selbst spricht immer wieder davon, dass dem Denken ein Ort einzuräumen sei, an dem es ein Aussetzen des Pragmatischen erwirken könne. «Denken muß sich dort ansiedeln, wo jede Ortschaft fehlt, weil sie versagt bleibt. Denken muß selbst die Ortschaft werden […].»383 Im Wesentlichen geht es damit um die Vermeidung von Vereinnahmung des Anderen. Darin besteht nach Heideggers Auffassung das Übel, dem entgegenzutreten sei. Exakt diese Formulierung trifft auch für die Darstellungen von Lévinas zu: Sie sollen der Vermeidung der Vereinnahmung des Anderen dienen. Doch was bedeutet diese für das Ich, das sich unausweichlich vom Anderen im Sein aufgerufen und gefordert fühlt? Die Ansicht, dass Lévinas insofern von existenzphilosophischen Vorstellungen abweicht, als es ihm nicht darum geht, das Zu-sichKommen des Selbst zu beschreiben, entspricht gängigem Verständnis. Und auch Heideggers Denken unterscheidet sich besonders in dieser Frage deutlich von jenem, das etwa Karl Jaspers entwirft. In beiden Fällen ist jedoch eine selbstverständlich wirkende Deutung zu überprüfen.
Außer sich Als eine eventuelle Schwierigkeit existenzphilosophischer Konzeptionen hat sich die Befürchtung gezeigt, dass deren Begriff vom Einzelnen eine extreme Hürde für die Formulierung existentieller Ethik darstellen könnte. Denn dadurch, dass dieser sich dem Meinung bildenden und damit die Eigenverantwortlichkeit des 383
Anmerkungen IV–IX, VII, S. 166.
Außer sich
Denkens erübrigenden Einfluss der Gemeinschaft entwindet, steht er zunächst in der Vereinzelung, die ihn, wie wir heute vermutlich sagen würden, auf sich selbst zurückwirft. Die Frage, die sich konzeptuell anschließen müsste, würde dem weiteren Weg des Einzelnen gelten. Was fängt er mit seiner gewonnenen Freiheit zur Eigentlichkeit an? Eröffnet sie ihm lediglich eine neue Perspektive, das Dasein zu betrachten, so dass er, um diese bereichert, der Gemeinschaft auch weiterhin angehören kann? Sucht er nach neuen Formen des Miteinanders, das sich vorzugsweise aus selbstdenkenden Menschen wie ihm zusammensetzt? Wie sich gezeigt hat, versuchte Heinrich Barth auf Fragen dieser Art durch seine Aussagen zur menschlichen Koexistenz einzugehen, die in der Tat die Vermutung nahelegen, dass er dabei an das Miteinander sich erkennender, also existentiell qualifizierter Individuen gedacht hat. Die Konsequenzen einer solchen Annahme blieben hingegen weitgehend unberücksichtigt, wie etwa die Überlegung, ob es erforderlich sei, Existenz als qualifiziertes Sein zu betrachten. Für Franz Rosenzweig stellte diese Frage deshalb kein Problem dar, weil er die Vereinzelung des Selbst immer nur als Erscheinung des Übergangs zum bindungsfähigen ganzen Menschen ansah. Um diese Ganzheitlichkeit erreichen zu können, ist der Moment der Vereinzelung unverzichtbar, doch nicht von dauerhafter Bedeutung. Wo stehen nun Heidegger und Lévinas in diesem kleinen Feld möglicher Positionen? Um ihr Verständnis des Selbst-Seins erfassen zu können, ist es notwendig, sich von der Vorstellung zu verabschieden, es handele sich um einen Status äußerster Konzentration auf das Eigene. Für beide wird stattdessen der Gedanke des Außer-sichSeins leitend. Ganz bei sich zu sein, wenn man ganz mit Anderem ist – diese Formel fasst ihr Denken zusammen. Lévinas stellt fest: «Nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.»384 Der Begriff des Selbst ist in seinem Werk mit der Bewusstheit der eigenen Identität, der sich gleichbleibenden Bindung allen Wissens an das denkende Subjekt, gleichzusetzen. Diese Sichtweise entspricht jedoch nicht seiner eigenen Auffassung, sondern einer als allgemeingültig vorausgesetzten philosophischen Interpretation. Bereits in früherem Zusammenhang hat sich sein Gedanke gezeigt, dass dieses Subjekt von dem Bedürfnis getrieben ist, sich mit Anderem zu identifizieren, was für Lévinas nichts anderes heißt, als dass es bestrebt ist, das Andere, Fremde, seiner Selbstvergewisserungstendenz zu unterwerfen. Dass er es bei dieser Diagnose nicht belassen konnte, war klar, weshalb der nun eingeführte Gedanke besonders aufschlussreich ist. Bevor sich Erfahren und Denken durch die stete Identifizierung des Anderen mit dem Eigenen zu jener konstanten Bewusstheit formieren, die als Selbst bezeichnet werden kann, besteht das Nebeneinander des Fremden, das nicht nur den Anderen, sondern auch das Eigene als das Nicht384
Totalität und Unendlichkeit, S. 122.
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Identische erscheinen lässt. Während seiner Auffassung nach Philosophie und Psychologie darin in die Irre laufen, dass sie diesen Zustand als existentiell unhaltbar bewerten und damit das Identifizierungsstreben des Ich großflächig legitimieren, versucht Lévinas nun, die unbestimmte Offenheit des Nebeneinanders des einander Anderen zu restituieren. Damit wird nicht behauptet, dass ein Konzept vom Selbst undenkbar oder überflüssig würde. Seine Funktion besteht allerdings nicht mehr darin, ein fortdauerndes Sich-gleich-Bleiben zu signalisieren, sondern ein permanentes Sich-infrage-stellen-Lassen. Hier wird die Wichtigkeit des Begriffes vom Lassen aus einer anderen als der bisher eingenommenen Blickrichtung sichtbar. Sich dem Blick des Anderen auszusetzen, bedeutet, sich von diesem infrage stellen zu lassen, womit keinesfalls die Vorstellung der Destruktion des Eigenen gemeint ist. Dieses erprobt sich immer wieder von Neuem, weshalb Lévinas dieses Geschehen als unendliche Bewegung deutet. So zeichnet sich seine Vorstellung vom Selbst also nicht durch die Stabilität eines Subjektes aus, das immer wieder das Andere auf seine vermeintliche Eigenheit zurückführt, sondern durch die Performativität des Sein-Könnens im Sich-Aussetzen. Da die Frage nach der Bedeutung des Selbst im existentiellen Denken im Mittelpunkt steht, ist es hier nicht der Ort, um die psychologische Dimension dieser Ansicht zu diskutieren. Es wird aufgefallen sein, dass die Begriffe des Selbst und des Einzelnen nahezu gleichwertig verwendet werden. Eine funktionale Abgrenzung wäre allenfalls in der Weise möglich und um der größeren terminologischen Klarheit willen angebracht, als die Vorstellung, Einzelner zu sein, sich als Reflexion des Selbst etabliert. So zumindest legen es die hier zugrunde gelegten Texte nahe. Ergänzend kann festgestellt werden, dass aus existentieller Sicht Selbstreflexion im Moment der Erschütterung hervorgerufen wird und damit das Selbst als Eigenheit der emotionalen Gestimmtheit zu erkennen gibt. Als Selbst erfährt sich der Einzelne zunächst in seiner Betroffenheit, die ihn Angst und Verzweiflung als Vergewisserungsmomente der Eigentlichkeit erfahren lässt. Die gemeinsame Überzeugung von Rosenzweig, Heidegger und Lévinas besteht nun darin, dass sie nicht im Erreichen der Selbstbewusstheit als Introspektion das Ziel existentieller Bewegung sehen. Dieser Ausdruck ist zwar mit Blick auf genuin existenzphilosophische Positionen gebildet worden, muss jedoch nicht auf sie beschränkt werden, so dass er auch auf das lévinasische Denken angewendet werden kann. Das Zu-sich-selbst-Finden bedeutet für sie alle nicht einen Prozess, an dessen Ende eine Verschränkung in die Erfahrung des Eigenen steht, wie sie aus Akten des Erlebens, aber auch der Wahrnehmung und Beurteilung des Anderen resultieren könnte. Im Stern der Erlösung fand sich die Beschreibung der Öffnung und Ausweitung des Selbst zur bindungsbereiten Seele. Diese Vorstellung transitiver Selbstheit könnte so umschrieben werden: Ich bin bei mir, indem ich bei Anderem bin. Diese sehr schlichte Formulierung soll auf das Besondere dieser Auffassung von Rosenzweig hinweisen, zu der es Entsprechungen auch bei Heidegger und Lévinas gibt. Vielleicht bietet es sich jedoch zunächst an,
Außer sich
bei ihr an einen Aufruf zur Selbstaufgabe zu denken, die das Interesse des Anderen stets über das Eigeninteresse setzt. Eine solche Assoziation mag der Form nach zutreffend erscheinen, trifft allerdings nicht Rosenzweigs Absicht. Gewählte Bindungsfähigkeit zeichnet für ihn den ganzen Menschen aus, wobei noch einmal darauf hinzuweisen ist, dass es sich dabei um eine Wahl handelt, die weder getroffen noch verweigert werden kann, ist sich der Mensch erst einmal seiner Vereinzelung bewusst geworden. Dass hier nicht von einem zeitlichen Ablauf gesprochen werden kann, hat sich bereits gezeigt. Selbstbewusstheit und Bindungsbereitschaft folgen nicht auf die existentielle Erschütterung, sondern gehen mit ihr einher. Denn nach Rosenzweigs Auffassung lässt sich derjenige angehen, der die Selbstverschränkung seiner Eigenwahrnehmung bereits aufgegeben hat. Doch werden nicht gerade zwei unterschiedliche Aspekte verwechselt? Eine emotionale Erschütterung, die in der Angst oder dem Erleben extremer Intensität besteht, ist ausschlaggebend für das Verständnis der existentiellen Bewegung. Das Sich-angehen-Lassen wurde hingegen bisher eher im Kontext menschlicher Relationen betrachtet. Handelt es sich also um zwei unterschiedliche Momente, die in entscheidender Weise das Selbst-werden-Können prägen? Ihrer Beschaffenheit nach unterscheiden sie sich in der Tat, da Erschütterung eine Affektion bedeutet, wohingegen das Sich-angehen-Lassen Ausdruck der Bindungsbereitschaft des Menschen ist. Bei Heidegger und Lévinas überlagern sich beide Aspekte, so dass eine einzige Funktion erkennbar wird, die ethischer Natur ist. Eine Erschütterung im Sinne der «Unterweisung» geht vom Anderen aus und zwar nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder von Neuem. Darin liegt der Sinn appellativer Ethik: Sie ruft zur Eigentlichkeit auf, die jedoch nicht auf Selbst-Sein als Ich-Verschränkung zielt, sondern auf das gerade angesprochene Bei-sichbeim-Anderen-Sein. Franz Rosenzweig beschreibt, was es bedeute, diesem Aufruf zu folgen, ohne ihn negieren zu können. In seiner Darstellung klingt dieser Gedanke überzeugend, weil es durch seine religiöse Verwurzelung von Anfang an dem Menschen zugetraut werden konnte, erst im verwirklichten Mit-Sein ganz bei sich zu sein, was eben so viel heißt wie ganz beim Anderen, auch ganz bei Gott und in der Welt zu sein. Obwohl Emmanuel Lévinas denselben gedanklichen Hintergrund teilt, beruft er sich nicht explizit auf das Religiöse, in dessen Vorstellung vom Menschen seine Bindungsbereitschaft gründet. So muss er argumentativ nachweisen, dass diese dem Menschen möglich und in jedem Augenblick von ihm einzufordern ist. Hierdurch erklärt sich noch einmal die außergewöhnliche Bedeutung des Anderen, der allein kraft seiner Denkbarkeit Appell und Unterweisung für das Ich, das sich seiner selbst gewiss ist, wird: Auflösung des substantiellen Kerns, den das Ich im Selben bildet, […] In der Verantwortung wird das Subjekt im Innersten seiner Identität sich fremd – in einer Entfremdung, die nicht aus dem Selben seine Identität auslaufen läßt, sondern die ihn durch eine unabweisbare Vorladung zu seiner Identität zwingt […]. Vorladung zur Identität wegen der
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Antwort der Verantwortung, in der man sich nicht ersetzen lassen kann, ohne schuldig zu werden.385
Auch hier ist keine zeitliche oder kausale Abfolge dergestalt anzunehmen, dass die «Vorladung» Voraussetzung für die zu übernehmende «Verantwortung» ist. Der Mensch ist verantwortlich, so wie er existiert. Und ebenso wenig wie er das eine leugnen kann, solange er lebt, kann er das andere zurückweisen. Wozu ist dann aber der Appell erforderlich? Weil er des Ausdrucks bedarf, um Bestandteil der Selbstbewusstheit werden zu können. Hier wird verinnerlicht, was der Bedingung durch den Anderen, durch das «Außer sich» zu bedürfen schien. Ein Faktum, auf das aufgrund seiner elementaren Gültigkeit eigentlich nicht hingewiesen werden müsste, erfordert philosophische Erklärung. Auch in dieser Überzeugung stimmt Emmanuel Lévinas letztlich mit Martin Heidegger überein. Die Frage nach dem «Sinn von Sein» ist nur dort zu stellen, wo dessen Selbstverständlichkeit in Vergessenheit geriet. Das Sich-angehen-Lassen taugt im Grunde wenig als philosophische Konzeption, da es selbstverständliches Kennzeichen menschlichen Seins sein sollte. Dass es von beiden Denkern dennoch zum Mittelpunkt ihres ethischen Denkens gemacht wird, spricht für die Verkehrung des Grundsätzlichen und des Praktizierten. Denn es muss offensichtlich erst wieder zu Bewusstsein gebracht werden, was an sich selbstverständlich hätte sein können. Dabei handelt es sich nicht um eine innovative Konzeption, die uns ein Mehr an ethischer Kompetenz zutraut, sondern um die Feststellung, dass eine Theorie der Ethik, die diese Kompetenz begründet, nur deshalb als unverzichtbar erscheint, weil die existentielle Kompetenz nicht mehr präsent ist. Wie sonst sollte der Gedanke der Verantwortung, oder besser noch der Verantwortlichkeit, verständlich sein, die nicht aus einem Prinzip hergeleitet und auf einen bestimmten Anwendungsbereich eingegrenzt werden kann? Sein, Mit-Sein und Verantwortlich-Sein sind gleichursprünglich und in diesem Sinne alternativlos.
Sich-angehen-Lassen Für Heidegger und Lévinas folgt daraus, dass es im Grunde unmöglich ist, zu diesen drei Seins-Formen aufzurufen. Denn wie sollte zum Sein aufgerufen werden? Doch muss dieses Faktum, so elementar es auch gilt, dem Menschen wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Die appellative Ethik arbeitet also nicht mit Imperativen, die sie so wenig begründen könnte wie das Sein. Etliche Kapitel früher war vom Seins-Wandel die Rede, der nach Martin Heideggers Auffassung mit dem Wesens-Wandel des Menschen identisch ist. Dieses Motiv kommt nun noch einmal in einer anderen Ausrichtung zur Geltung. Seine Vorstellung, dass der Mensch eigentlich werden müsse, konnte vielleicht zu der Folgerung verleiten, 385
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 310 f.
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dass sie dessen Vereinzelung zum Ziel hat. Die Bildlichkeit des Aufbruches aus dem «man» in Sein und Zeit könnte sie unterstreichen, da Heidegger mit ihr die Kontrastierung von Fremdbestimmtheit und eigenem Denken betont, das aus einer tiefen und unverstellten Einsicht in das dem Ich Mögliche, das Selbst-Sein, entspringen könnte. So verwundert eine fast beiläufig hingeworfen wirkende Formulierung umso mehr, wonach auch Heidegger das Selbst als das Außer-Sich deutet, gut zehn Jahre, bevor es von Lévinas in Totalität und Unendlichkeit thematisiert wird: «Der Mensch ist nur bei sich, wenn er außer sich ist; wenn das ‹sich› und ‹zu sich›, wenn das Selbst ekstatisch west: ausstehend das Geviert der Welt.»386 Diese kurze Aussage, einem Aphorismus ähnlicher als einer philosophischen These, kann gar nicht genug hervorgehoben werden. Denn sie bricht mit der gerade erwähnten Vermutung das Heideggerʼsche Konzept vom Selbst betreffend. Darin geht es tatsächlich nicht um Vereinzelung, die den Menschen dauerhaft vom Seienden distanziert und ihm eine Selbst-Vergewisserung ermöglicht, die nur auf das Wissen um das Eigene zurückgreift. Das «Außer sich», von dem hier die Rede ist, bindet den sich seiner selbst bewussten Menschen an das Sein des Anderen, das metaphorisch im «Geviert der Welt» vorstellbar ist. Introspektion und Konzentration auf das Andere schließen sich keinesfalls aus, sondern bedingen einander. Hiermit kommt erneut der Gedanke der dritten Bedeutung, in der sich Gegensätzliches konfrontiert, zum Tragen. Offensichtlich ist nun allerdings, wie selten Heidegger vom Menschen spricht und stattdessen den Begriff des Seins präferiert, so als würde der Mensch zu einer schwer zu fassenden Aufgabe aufgerufen, die gerade aufgrund ihrer nicht explizit ausgearbeiteten Struktur Anlass für diverse Interpretationen bietet. Es musste erst Jean-Luc Nancy auf den Charakter des Mit-Seins hinweisen, der in Sein und Zeit skizziert wurde. Dem Eindruck, Heidegger selbst sei am Sein des Menschen nicht wirklich gelegen, konnte diese Akzentuierung letztlich Vorschub leisten, auch wenn das Gegenteil beabsichtigt war. Ebenfalls aus den 1950er Jahren stammt die folgende Passage, die diese Beurteilung relativieren dürfte: In solcher Weise […] ist der Mensch ein Verwandter. Ein solcher ist er nicht erst im Verhältnis zu anderen Menschen, sondern aus seinem Wesen als der eigens in die Sterblichkeit geeignete und so ge-wendete. In die Verwandtschaft gelangt je jeder für sich – aber dergestalt gehört er in die Verwendung des Wesens der Sterblichen und ist aus solchem Wesen ‹mit› anderen verwendet und verwandt.387
Dreiundzwanzig Jahre nach der ersten Erwähnung greift Heidegger das Motiv des Mit noch einmal auf und damit Nancys Deutung vor. Denn hier drückt er in aller Klarheit eben jene Gleichursprünglichkeit von Mit und Sein aus, die jener vor allem in singulär plural sein als «fundamentalethisch» bezeichnet. Das Au386 387
Anmerkungen VI–IX, VII, S. 192. Anmerkungen VI–IX, VI, S. 15.
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ßer-Sich, das im Mittelpunkt seiner Aussage zum Selbst steht, findet sich nun im Mit-den-Anderen wieder. Vielleicht könnte gegen die Annahme der Gleichursprünglichkeit sprechen, dass Heidegger zwei Verfassungen des Menschen zu unterscheiden scheint: die Verwandtschaft «aus seinem Wesen» und die Verwandtschaft, in die «je jeder für sich» gelangt. Doch drücken beide Gedanken die bereits skizzierte Ansicht aus, wonach eine Wendung, ein Wesens-Wandel erforderlich ist, damit der Mensch werden kann, was er seiner Natur gemäß immer schon hätte sein sollen: «Verwandter», um Heideggers Begriff aufzugreifen. Seins-Wandel, Wesens-Wandel, Wendung zur Möglichkeit, Relation in freier Setzung ihrer Möglichkeit Raum zu geben – drei Aspekte ein und desselben Gedankens, der dazu geeignet ist, jenem Urteil zu begegnen, dass Heidegger am Menschen nicht interessiert gewesen sei. In überraschender Weise stimmen die Konzeptionen von Franz Rosenzweig, Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas darin überein, dass sie unter dem Selbst des Menschen eben keine Konzentration auf einen vermeintlich mit sich identisch bleibenden Kern des Eigenen verstehen, sondern das genaue Gegenteil: das Bei-Anderem-Sein. Bei-Sich ist nur als Außer-Sich möglich, so schreibt Heidegger und formuliert damit das gemeinsame Credo dieser drei Denker, zu denen grundsätzlich auch Jean-Luc Nancy gezählt werden könnte. Dass er hier nicht sofort genannt wurde, liegt daran, dass er sich zwar mit allergrößter Intensität der Darstellung des Mit zugewandt hat, eine Untersuchung des Selbst, die den drei anderen zu vergleichen wäre, jedoch nicht erfolgte. Ein Grund hierfür könnte im dekonstruktivistischen Charakter seines Denkens bestehen, für das die Vorstellung des Selbst sich bereits zu einem Großteil in das Bild fraktaler Identifizierungsmomente aufgelöst hat. Denn der Glaube an eine fokussierte Ausrichtung der Eigen- und Welterfahrung, wie sie dem Bild des Selbst entsprechen könnte, hat sich zu der Auffassung entwickelt, dass es nicht um die Rückführung des Erlebten auf ein Zentrum konstanter Wertungsdominanz geht, die zum Eigenen erklärt, was ihm widerfährt, sondern um ein transitorisch gebildetes Bewusstsein, das aus Erfahrung und Erkennen seine heterogene Struktur empfängt. Nach den zuletzt angestellten Überlegungen bietet sich die Bemerkung an, dass das Denken von Rosenzweig, Heidegger und Lévinas für diese Entwicklung maßgeblich gewesen ist. Dass Lévinas’ Name genannt wird, überrascht sicherlich nicht. Auch Heideggers Bedeutung für die Entstehung des Denken der Dekonstruktion wird diskutiert. Relativ unerwartet zeigt sich nun aber auch Franz Rosenzweigs Rolle innerhalb dieser Entwicklung. Nicht minder unerwartet wird sein Einfluss auf die Artikulation einer existentiellen Ethik erscheinen, die mit der Umwandlung des Verständnisses vom Selbst überhaupt erst möglich wird. Selbst-Werdung heißt im existentiellen Kontext Befreiung zur Eigentlichkeit. Diese Bedeutung wird nun in entscheidender Weise präzisiert. Denn mit Eigentlichkeit ist nicht SelbstVerschränkung zum Zwecke der Separation vom Anderen gemeint, sondern die
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Wendung des Inneren ins Außen, ins Außer-sich-Sein. Außer-Sich zu sein besagt aber nichts anderes als bei Anderem zu sein. Diese Feststellung fügt dem Faktum des menschlichen Seins keine Qualität hinzu, die folglich ebenso gut durch eine beliebige andere Qualität ersetzt werden könnte. Sie drückt vielmehr die eigentliche Natur des Seins aus, Mit-Sein zu sein. Mit-Sein heißt Ethisch-Sein, wenn akzeptiert werden kann, dass mit dem Begriff des Ethischen keine Bezeichnung einer philosophischen Lehre, sondern eine Seins-Aussage gemeint ist. Bei dieser geht es nicht darum, dass etwas über das Sein ausgesagt wird, sondern dass es sich selbst aussagt oder zum Ausdruck bringt, was vermutlich weniger irritierend klingt. Ethik, die vor diesem Hintergrund formuliert wird, wirkt weder imperativisch noch normativ, denn sie kann nichts einfordern, was nicht mit dem Sein gleichursprünglich ist. Sie kann keine Werte benennen, die das menschliche Miteinander bestimmen sollen. Faktisch wäre sie dazu geeignet, doch es entspräche nicht ihrem Sinn. Denn dieser besteht darin, in grundsätzlicher Weise Sein denkbar werden zu lassen. Ist sie dann nicht mit Ontologie identisch? Keinesfalls, denn diese erklärt höchstens, wie Sein widerspruchsfrei gedacht werden kann. Existentielle Ethik, die sich in der Form des Neuen Denkens artikuliert, denkt die Bedeutung dessen, was Sein genannt wird. Insofern ist es nicht zu erwarten, dass sie argumentative Instrumente in Anspruch nimmt, um zu definieren, was gut, erstrebenswert, der Gemeinschaft zuträglich und damit dazu geeignet ist, Konflikte innerhalb von Gruppierungen zu verhindern. Sie kann nicht argumentieren, sondern lediglich verweisen, doch demjenigen, dem dieses Verweisen dient, eignet unwiderlegbare Gültigkeit. Denn existentielle Ethik kennt keine Alternative, so wie es auch zum Sein keine Alternative gibt. Der Gedanke der absoluten Verantwortung, den Emmanuel Lévinas vertritt, hat hier seinen Ursprung, da mit dem Sein die Verantwortlichkeit gegeben ist. Ihren Charakter des Präventiven teilt diese Ethik mit anderen Konzeptionen, ja letztlich mit allen Konzeptionen, insofern die Vermeidung des Möglichen strukturelles Kennzeichen des ethischen Denkens per se ist. Die Besonderheit des existentiellen Ansatzes besteht darin, dass dieser verdeutlichen soll, wie bereits das Für-möglich-Halten aus dem Entscheidungsrahmen menschlichen Wollens ausgeschlossen wird. Gerade diese Zielsetzung hatte sich immer wieder bestätigt, wenn darauf hingewiesen wurde, dass das moralisch zu rechtfertigende Wollen des Menschen nicht das Produkt eines Abwägens zwischen verschiedenen Optionen und, was noch sehr viel schwerer wiegt, zwischen Wollen und Nicht-wollen-Dürfen ist. Hier fällt der Blick immer wieder auf Franz Rosenzweigs Feststellung, das Gebot zur Bindungsbereitschaft lasse dem Menschen nicht die Möglichkeit, sich gegebenenfalls auch gegen dessen Weisung zu entscheiden. Existentielle Ethik ist appellative Ethik. Sie kann den Menschen, den sie zu erreichen sucht, nicht durch Schritte der Plausibilisierung überzeugen, ihren Vorgaben zu folgen. Sie kann erst recht nicht vorschreiben, was zu tun und zu meiden ist. Doch wie spricht sie dann zum Menschen? Indem sie ihn anspricht,
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so lautet die vielleicht ernüchternde Antwort. Wäre nicht nach all dem Enthusiasmus, mit dem Rosenzweig und Heidegger, Lévinas und Nancy nach dem Neuen Denken suchten, eine spektakulärere Antwort zu erwarten? Sie ist bemerkenswert, wie der nähere Blick zeigt. Und sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der zwar bereits angedeutet, doch nicht ausgeführt wurde. Bestehende Ethik-Konzeptionen basieren, wenn hier eine krasse Vereinfachung zulässig ist, auf der Überzeugung, ihr Anliegen in der Form rationaler Evidenz vermitteln zu können. Sie richten sich an die Vernunft, um von ihr Zustimmung der formalen Korrektheit und in einem weiteren Schritt möglicherweise Aufnahme in den Verhaltenskontext zu erfahren. Appellative Ethik spricht den Menschen in gänzlich anderer Weise an. In einem früheren Kapitel wurde zu deren Benennung der Begriff des Prä-rationalen verwendet, der jedoch insofern nicht präzise genug ist, als er die Assoziation fördern könnte, es handele sich hier um eine Vorbereitung ethischen Verständnisses, dessen Artikulation dann jedoch nach wie vor der Vernunft zukommt. Wird die andere Deutungsmöglichkeit dieses Begriffes betrachtet, würde sich das Bild der Abstufung menschlicher Vermögen ergeben, wonach ein rezeptives Vermögen dem rationalen untergeordnet wäre. Eine solche Sicht würde das Urteil bestätigen, dass seit jeher im philosophischen Diskurs über die Wertigkeit verschiedener Vermögen gefällt worden ist. Es ist bezeichnend, dass die Suche nach einer Benennung der Weise, in der appellative Ethik den Menschen anspricht, noch immer von einer – wenn auch unausgesprochenen – Orientierung an der Rationalität ausgeht, als wäre sie das unverhandelbare Zentrum, von dem aus sich jedes Bild des Menschen konstituieren muss. Besonders Franz Rosenzweig und Martin Heidegger plädieren dafür, Erfahrung als Erkenntnis eigener Wertigkeit zu akzeptieren, worin ihnen Nancy dadurch zustimmt, dass er bereits umsetzt, was sich bei beiden noch im Prozess der Entwicklung befand. Warum zeigen denn ihre Texte ein so außergewöhnliches Interesse an der Form des Denkens, die sich in der Formung des Gedachten ausdrückt? Weil es die Form sein soll, die den Menschen anspricht, so wie ihn der Andere anspricht, indem er ihn angeht. Nicht zufällig hat der Ausdruck des Sichangehen-Lassens so große Aufmerksamkeit in diesen Überlegungen auf sich gezogen. Denn er zeigt genau jene Weise der Ansprechbarkeit an, um die es nun geht, wenn vom appellativen Charakter existentieller Ethik die Rede ist. Die Suche nach der Form des Textuellen, die vor allem Rosenzweig und Heidegger umtreibt, führt mitunter zu erstaunlichen Ergebnissen, die jedoch alles andere als Belege stilistischer Exaltiertheit sind, wie sie unter dem Etikett des «Jargons» gefasst wurden.388 Es kann und sollte diskutiert werden, ob die Form, die von dieAdorno schreibt über Sein und Zeit unter anderem: «Unterdessen aber gilt das Geweihte der Sprache vom Eigentlichen eher dem Kultus der Eigentlichkeit als dem christlichen, auch wo sie, aus temporärem Mangel an anderer verfügbarer Autorität, diesem sich angleichen. Vor allem besonderen Inhalt modelt ihre Sprache den Gedanken so, daß er dem Ziel von Unterwer-
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sen Denkern gewählt wurde, um den Menschen jenseits seiner logisch dominierten Rationalität ansprechen zu können, hierfür geeignet ist. Der Umstand, dass überhaupt nach Sprachlichkeit zur Vermittlung ethischen Denkens gefragt wird, ist davon allerdings unberührt. Wenn appellative Ethik als des Modell existentiellen Denkens bestehenden Konzeptionen hinzugefügt werden soll, ist es zuvor unerlässlich, nach dem Sprach-Denken zu fragen, das Grundlage einer existentiellen Sprach-Auffassung werden könnte. Zu diesem Zweck ist es noch einmal lohnend, zu den Aussagen Martin Heideggers zur Sprache zurückzukehren. Einiges konnte dazu bereits vermerkt werden, das nun in einer abschließenden Betrachtung in seinem entscheidenden Aspekt zu reflektieren ist. Darauf, dass Sprache ihm, wie auch Franz Rosenzweig, nicht zur Mitteilung von Informationen dient, wenn sie denn um ihrer selbst willen befragt wird, braucht nicht noch einmal ausdrücklich hingewiesen zu werden. Was jedoch zu betonen ist, ist der Gedanke, dass sie damit auch nicht zur Vermittlung des Denkens herangezogen werden kann, sofern es sich um das Neue Denken handelt. Gleichwohl ist sie im Konzept der appellativen Ethik von maßgeblicher Bedeutung, da sie das Geschehen des Anrufes ist, das dort im Mittelpunkt steht. Hätte es so wirken können, dass auch von der Form des Anrufes hätte gesprochen werden können, wäre diese Formulierung zu unpräzise gewesen. Denn dieser hat keine Form, die seiner Aussage verliehen werden könnte. Stattdessen geschieht er formlos oder auch «lautlos», wie es bei Heidegger heißt.389 Fraglich wird damit, inwieweit Sprache überhaupt dazu geeignet ist, zu erklären, was in diesem Kontext unter Ethik verstanden wird. Denn dann müsste sie jene Unterscheidung in ein Ausgesagtes und dessen Form zulassen, gegen die sich Rosenzweig, Heidegger und Lévinas wenden. Dass auf Heinrich Barth ab diesem Punkt nicht mehr einzugehen ist, liegt einzig daran, dass er, wie sich gezeigt hat, von der Funktion und dem Sinn der Sprache eine grundsätzlich differente Ansicht vertritt, die sich in weitaus stärkerem Maße den Theorien der Sprachphilosophie anzunähern wagt. Und Nancy? Es mag schwerfallen, sein Denken vor diesem Hintergrund zu beleuchten. Doch sollte der Umstand, dass er sich selten zum Wesen der Sprache äußert, nicht den Eindruck erwecken, er sei an ihr nicht interessiert. Die Gestaltung seiner Texte gibt hier Auskunft. So fokussiert er eher den Aspekt der Textualität als den Aspekt der Sprachlichkeit, in der sich diese zu erkennen gibt. Die tiefe Verwurzelung seines Denkens im Geiste der Dekonstruktion verdeutlicht aber auch, dass dem gesprochenen Wort Vorfung sich anbequemt, selbst dort, wo er ihm zu widerstehen scheint.» Jargon der Eigentlichkeit, S. 8. 389 «Darum [ist] der Weg von der Äußerung und ihr zufolge von der Sprache als Verständigungsmittel weit bis zur Verlautung als dem Lauten des Tones, der als der erdhafte Klang des Erklingens der Stille irdisch-sterblich dem Rätsel des Verhältnisses entspricht, […].» Anmerkungen VI–IX, IX, S. 336.
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rang vor seinem geschriebenen Pendant gebührt, da sich in ihm allein die Geschehnishaftigkeit des entre-nous vorstellen lässt. Ihm kann insofern gar nicht an einer Form des verbindlichen Ausdrucks gelegen sein, deren Verhältnis zu dem von ihr Ausgesagten letztlich Ergebnis historischer oder theoriebildender Übereinkunft ist. Diesen Geschehnischarakter betont auch Martin Heidegger, wenn er notiert: «Gesprochenes in die Dimension des Sprechens der Sprache bringen, […].»390 Und bereits Franz Rosenzweig stellte die Besonderheit des Gespräches heraus, die in seinen Augen so außergewöhnlich ist, dass er sie zur Grundlage seiner Wahl der textuellen Form der Erzählung machte. Es gibt Momente, in denen seine Ansichten so auffällig an jene Martin Heideggers grenzen, dass beide ein und demselben Denken zu entstammen scheinen: Mit der erzählenden Erläuterung des Sprachwesens als der Sage ist der Weg zur Sprache bei der Sprache als der Sprache an – und so in sein Ziel gelangt. […] Die Sage ist Zeigen. In allem, was uns anspricht, was uns als Besprochenes und Gesprochenes trifft, was sich uns zuspricht, was als Ungesprochenes auf uns wartet, aber auch in dem von uns vollzogenen Sprechen waltet das Zeigen, das Anwesendes erscheinen, Abwesendes entscheinen läßt.»391
Es wirkt wie eine wunderbare Bestätigung vorangegangener Überlegungen, dass Heidegger in seinem Vortrag aus dem Jahr 1959 den Begriff des Lassens verwendet. Die Fassung des Erscheinen-Lassens kann den bisher angeführten Variationen hinzugefügt werden, wobei sich auch hier die dritte Bedeutung bestätigt, die zwischen Aktivität und Vermeidung den Sinn der Bezogenheit auf das Andere zeigt. Es konnte bereits festgestellt werden, dass dabei nicht zwischen beiden Gegensätzlichkeiten in dem Sinne vermittelt werden soll, dass ihre jeweilige Eigenheit aufgelöst wird. Vermittlung meint in diesem Fall vielmehr, dass zwischen der einen und der anderen Bedeutung ein Mittleres eingeführt wird. Im vorliegenden Kontext scheint es um die Vermittlung des Gegensätzlichen begrifflicher Natur zu gehen. Doch ist vielleicht inzwischen deutlich geworden, dass im selben Atemzuge über das Mittlere zwischen dem Selben und dem Anderen gesprochen wird, das den Sinn existentieller Ethik ausmacht. Emmanuel Lévinas fordert in größter intellektueller Sorge die Wahrung der Distanz, die beide voneinander abgrenzt und für alle Zeit trennt, um Übergriffen und Vereinnahmungsbestrebungen vorgreifen zu können, die seiner Überzeugung nach unsere Geschichte in jeder nur vorstellbaren Dimension prägen. Die Konzeption des Mit, für die Jean-Luc Nancy plädiert, zeigt in ganz ähnlicher Weise dauerhafte Verbundenheit im Unterschied an. Auch für ihn ist es entscheidend, dass diese Unterschiedenheit gewahrt bleibt. Denn nur zwischen sich Gegenüber-Stehendem kann jenes entre-nous sich gestalten, auf das er verweist, ohne es zu be390 391
Anmerkungen VI–IX, IX, S. 337. Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 257.
Sich-angehen-Lassen
schreiben. Wie sollte das auch möglich sein, wird der nicht-festschreibende Charakter der Sprache respektiert? Als hätte er beiden aus einem erstaunlichen Grund der Übereinstimmung vorgreifen wollen, kommentiert Heidegger in Das Wesen der Sprache den Verbindlichkeitssinn, der sich in diesem entre-nous entfaltet: Im waltenden Gegen-einander-über ist jegliches, eines für das andere, offen, offen in seinem Sichverbergen; so reicht sich eines dem anderen hinüber, eines überläßt sich dem anderen, und jegliches bleibt so es selbst; eines ist dem anderen über als das darüber Wachende, Hütende, darüber als das Verhüllende.392
Er selbst weist auf den Ursprung des Ausdrucks vom Gegen-einander-Über bei Johann Wolfgang von Goethe hin, findet in ihm aber exakt jene Bildlichkeit, die seinen Gedanken ausdrückt. Immer wieder verfällt die Sprache, wenn sie Zusammenhänge dieser Art auszudrücken sucht, in einen nicht mehr zutreffenden Modus der Bezeichnung. So ist es im Grunde nicht korrekt, davon zu sprechen, dass Heidegger einen Ausdruck für seinen Gedanken sucht. Damit wird letztlich genau jene Vorstellung des Ausgesagten und seiner Form fortgesetzt, mit der er brechen möchte. Geht er damit nicht sogar noch über Franz Rosenzweigs Deutung der Sprache, die Vorsprachliches in eine Form der Vernehmbarkeit überträgt, hinaus? Wenn die Antwort sich auf Rosenzweigs Aussagen zur Grammatik stützen wollte, die dem Sagen Form gibt, würde sie nur zustimmend ausfallen können. Doch damit würde die Natur dessen, was in Form gefasst wird, zu wenig berücksichtigt. Denn hierbei handelt es sich nicht um Beliebiges, das mitgeteilt werden soll, sondern um die Beschaffenheit des Seins in seiner Relationalität. Das Vorsprachliche lässt die Konstituentien des Seins als bloße Möglichkeit denkbar werden, wohingegen in der verlautbarenden Sprache deren Bezug erst jenes gestaltet, das als entfaltetes Sein bezeichnet werden kann. Damit wird sowohl von Rosenzweig als auch Heidegger jeder Versuch zurückgewiesen, die Beziehung des Wortes zu demjenigen, dem es entspricht, als diskutierbar zu betrachten. Denn für das Entsprechen gibt es keine Regeln, die den philosophischen Erfordernissen gemäß aufgestellt und revidiert werden können. Die Frage drängt sich dann aber in den Vordergrund, woher wir um das rechte Entsprechen wissen? Beide Denker könnten ihre Antwort einhellig formulieren. Wir wissen darum, weil wir nicht die Sprechenden sind, sondern die Hörenden. Wir nehmen auf, was wir aussprechen, weil wir uns von diesem haben ansprechen lassen. Heidegger drückt es so aus: Auf welche Arten wir auch sonst noch hören, wo immer wir etwas hören, da ist das Hören das alles Vernehmen und Vorstellen schon einbehaltene Sichsagenlassen. Im Sprechen als dem Hören auf die Sprache sagen wir die gehörte Sprache nach. Wir lassen ihre
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Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 211.
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VI. Ringen um das Sein
lautlose Stimme kommen, wobei wir den uns schon aufbehaltenen Laut verlangen, zu ihm hinreichend zu rufen.393
In Anbetracht einer solchen Formulierung könnte sicherlich nach dem Wert eines solchen Sprach-Verständnisses für die Suche nach einer existentiellen Ethik gefragt werden. Es mag eine Sicht auf das hörende Sprechen sein, die in ästhetischem oder poetologischem Kontext ihren Platz findet, sich jedoch mit Blick auf die Beschreibung menschlichen Miteinanders als gänzlich ungeeignet erweist. Denn was wird aus der Initiative und dem Wollen des Einzelnen, wenn er auch sprechend letztlich eher ein Aufnehmender als ein Agierender ist? Werden diese beiden Möglichkeiten, einen Menschen zu beschreiben, genauer angeschaut, wird sichtbar, dass sie exakt jene Gegenüberstellung von Gegensätzlichem präsentieren, die im existentiell-ethischen Denken durch die Einführung der dritten Bedeutung kontrastierend vermittelt werden soll. Dass sich dieses Bestreben in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wiederfinden lässt, hat sich anhand der unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Begriffes vom Lassen gezeigt. Sie alle bilden den Rahmen, wenn das Sprach-Denken betrachtet wird. Augenfälliger Beleg dafür ist nicht nur die Tatsache, dass Heidegger in obigen Zeilen vom «Sichsagenlassen» spricht. Auch die Notwendigkeit, Sagen und Hören nicht mehr als sich ausschließende Gegensätze zu begreifen, deutet darauf hin. So ist denn der Mensch der Sagende und der Hörende zugleich, wobei beide Weisen, zu sein, in der dritten Bestimmung, Sich-sagen-Lassender zu sein, verbunden werden. Noch einmal soll betont werden, dass die Denk-Form des Dritten nicht auf Aufhebung des Gegensätzlichen, sondern auf dessen Integration in ein Bild des Ganzen zielt. Insofern kommt dem Sich-sagen-Lassen zweierlei Bedeutung zu. Zum einen verweist es auf denjenigen, der sich ansprechen und zum anderen auf dasjenige, das sich sagen lässt. Interessant ist es, dass zwischen beiden Aspekten in diesem Fall nicht zu differenzieren ist, da sie ineinandergreifen. Der Sprechende sagt, was er sich hat sagen lassen. Zur Vermeidung des Eindrucks, er würde damit seiner spontanen Kreativität entledigt, die als ein Zeichen der SprachAutonomie verstanden werden könnte, taugen diese Bemerkungen überhaupt nicht. Sie scheinen sogar noch die Vorstellung eines Menschen zu intensivieren, der zu dauerhafter Untätigkeit verdammt ist, da er lediglich Aufnehmender, doch nicht sich nach eigenem Dafürhalten Äußernder ist. Im Sinne der sich abzeichnenden existentiellen Ethik ist Aufnahmebereitschaft kein Anzeichen von Untätigkeit und Ausdruck kein Zeichen von Freiheit. Vielleicht verwundert es, dass dieser Begriff verwendet wird, der in den vorliegenden Überlegungen so auffällig selten zum Einsatz kam. In diesem Kontext deutet er auf die Autonomie der Entscheidung, die dem Einzelnen, der sich existierend in sein Sein entwirft, zustehen müsste, wäre doch andernfalls sein Entwerfen nicht als Zeugnis seines Agierens 393
Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 255.
Sich-angehen-Lassen
als Einzelner denkbar. Ein solches Zeugnis wäre auch sein Sprechen, wenn es denn nicht als hörendes Sagen, sondern als Ausdrücken-Wollen verstanden würde.
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VII. Ethik der Existenz
Es hat sich aber auch schon die Frage herauskristallisiert, was denn eigentlich aus dem Einzelnen wird, nachdem er sich aus der «Diktatur des man», wie Heidegger schreibt, befreit hat? Der Zeitpunkt ist gekommen, hierauf zu antworten. Er findet sich in der dritten Bedeutung seines Sein-Könnens ein. Hier laufen nun alle Fäden, die in den vorausgegangenen Kapiteln geflochten wurden, zusammen und zwar genau hier, wo es doch im Grunde um das existentielle Sprach-Denken und den Begriff der Sage gehen sollte. Es geht tatsächlich hierum, wie sich gleich bestätigen wird. Die dritte Bedeutung des Sein-Könnens stellt die beiden Begriffe des Seins und des Könnens «Gegen-einander-Über», wie es bei Heidegger heißt. Getrennt, doch nicht unvermittelt, einander im selben Moment fordernd und nicht ausschließend. Vielleicht wird dieser Gedanke nachvollziehbar, wenn das Vermittelnde, das Differenzen wahrt, weil es nur aus deren zeitgleichem Bestehen erklärt werden kann, als Werden bezeichnet wird. Die Besonderheit dieser Bezeichnung in diesem Zusammenhang besteht darin, dass damit kein Prozess der Entstehung gemeint ist, der zu irgendeinem Zeitpunkt einsetzt und irgendwann als abgeschlossen erscheinen wird. Werden greift die Vorfindlichkeit des Möglichen auf, die zugleich die Möglichkeit des Vorfindlichen ist. Keiner der hier vorgestellten Denker brachte diesen Umstand deutlicher zum Ausdruck als Franz Rosenzweig mit seiner Interpretation von Schöpfung und Sein. Werden, so wie es hier gedacht wird, stimmt exakt mit demjenigen überein, was bisher als existentielle Bewegung bezeichnet wurde, die als ihr sichtbares Symbol den Begriff vom Einzelnen hervorbrachte. Sein und Können sind als Kennzeichnungen von Gegebenheit und Möglichkeit unverzichtbar, um die Vorstellung der existentiellen Bewegung fassen zu können. Ob es überhaupt möglich ist, diese ohne Rückgriff auf diese Kontrastierung zu denken, wäre zu fragen. Hatten nicht Heinrich Barth und Emmanuel Lévinas an diesem Punkt mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich letztlich erübrigt hätten, wenn sie den Begriff des Seins als Bestandteil kontrastiver Vermittlung genutzt hätten? Es wäre etwa an die Bemühungen Barths zu erinnern, die Bedeutung der existentiellen Bewegung zu erläutern, nachdem er diese als Erkenntnis definiert hat. Ein Einwand könnte lauten, dass momentan von Denken und von Sein gleichlautend gesprochen wird. Damit würden Barth Schwierigkeiten unterstellt, die es seiner eigenen Auffassung nach gar nicht gibt, weil er Aussagen über das Denken des Transzendentalen treffen konnte, ohne zugleich deren Relevanz für eine Klärung
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VII. Ethik der Existenz
des menschlichen Seins behaupten zu müssen. Mit Blick auf seine Konzeption von Existenzphilosophie mag dieser Einwand zutreffen, doch in Anbetracht der sich hier abzeichnenden Deutung wiegt er weniger schwer. In den Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger lassen sich die Begriffe von Sein und Denken nicht separieren. Damit sich kein Missverständnis ankündigt, ist jedoch sogleich daran zu erinnern, dass beide für ein Neues Denken werben, so dass der Begriff des Denkens differenzierend zu betrachten ist. Nach philosophischem Verständnis, das beide größtenteils nicht in Anspruch nehmen, wäre die Verbindung der beiden Begriffe Sein und Denken gegeben, doch mit fatalen Folgen. Denn hier wäre nicht von einer Gleichwertigkeit in der Gegenüberstellung auszugehen, sondern von der Dominanz des Denkens über das Sein. In diesem Sinne erklärt Franz Rosenzweig: «Wir suchen nach Immerwährendem, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein.»394 Seine tiefe Ske