Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“ [1. Aufl. 2019] 978-3-476-04988-9, 978-3-476-04989-6

Der Band ist die erste monothematische Studie zu Bertolt Brechts „Messingkauf“, seinem wichtigsten Versuch, eine Theorie

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German Pages X, 241 [242] Year 2019

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Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“ [1. Aufl. 2019]
 978-3-476-04988-9, 978-3-476-04989-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Einleitung (Lydia J. White)....Pages 1-27
Front Matter ....Pages 29-29
Entstehungsgeschichte (Lydia J. White)....Pages 31-52
Wirkungsgeschichte und Editionen (Lydia J. White)....Pages 53-91
Front Matter ....Pages 93-93
Der Schauplatz des Messingkaufs (Lydia J. White)....Pages 95-109
Konfiguration (Lydia J. White)....Pages 111-157
Schauplätze des Theaters (Lydia J. White)....Pages 159-197
Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus (Lydia J. White)....Pages 199-220
Back Matter ....Pages 221-241

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E X I L - K U LT U R E N

Lydia J. White

Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“

BAN D 4

Exil-Kulturen Band 4 Reihe herausgegeben von Doerte Bischoff, Hamburg, Deutschland Wissenschaftlicher Beirat Bettina Bannasch, Augsburg, Deutschland Johannes Evelein, Hartford, USA Alfrun Kliems, Bielefeld, Deutschland Mona Körte, Bielefeld, Deutschland Primus-Heinz Kucher, Klagenfurt, Österreich Paul Michael Lützeler, Saint Louis, USA

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur aktuellen ExilForschung.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16327

Lydia J. White

Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“

Lydia J. White Berlin, Deutschland

ISSN 2662-1851 Exil-Kulturen ISBN 978-3-476-04988-9 https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6

ISSN 2662-186X (electronic) ISBN 978-3-476-04989-6 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg-images / Ruth Berlau) J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

For Ross and Rachel

Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle bei vielen Personen bedanken, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit sehr unterstützt haben. Zuerst gebührt mein Dank Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll, der das vorliegende Thema angeregt und die Arbeit mit seiner ehrlichen, offenen und konstruktiven Kritik begleitet und gefördert hat. Ebenfalls danke ich Prof. Dr. Doerte Bischof für die hilfsbereite und wissenschaftliche Betreuung als Zweitgutachterin und Reihenherausgeberin. Bedanken möchte ich mich auch bei der Heinrich-Böll-Stiftung, die meine Arbeit durch ein Promotionsstipendium sowohl finanziell als auch ideell unterstützt hat. Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Mitgliedern der Promovierendenkolloquien in Frankfurt und Hamburg für die Solidarität und den konstruktiven Austausch, insbesondere bei Leon Gabriel, Mayte Zimmermann und Leonie Otto, die durchaus Spuren in dieser Arbeit hinterlassen haben. Ohne die freundliche Hilfe von Petra Hübner im Berliner-Ensemble Archiv sowie Annett Schubotz, Iliane Thiemann und Sophie Werner im Bertolt-Brecht-Archiv wäre es nicht möglich gewesen, den Messingkauf so gründlich auszuloten, wofür ich mich ebenfalls bei ihnen bedanke. Ferner gilt mein Dank Isabel Rehmer und Ole Hinz, die mich bei der Fertigstellung der Arbeit mit ihren Korrekturen und kritischen Anmerkungen großzügig unterstützt haben. Das gilt auch für Linda Schnath, die mit ihrem leidenschaftlichen Engagement und außerordentlichen Einsatz immer wieder zur Seite stand. Last but certainly not least, I would like to thank my husband William Wood for his endurance and support in the face of a year of extraordinary challenges.

VII

Inhaltsverzeichnis

1

I

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Das Brecht-Vermächtnis/das Vermächtnis Brecht 1.1.3 Der Schauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Methodologische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . .

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1 4 9 12 17 23

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31 32 32 36 37 38 43

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53

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74 76

Teil I

2

Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Historische Eckdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Erste Arbeitsphase 1939–1941 . . . . . . . . . 2.1.2 Zweite Arbeitsphase 1942/1943 . . . . . . . . 2.1.3 Dritte Arbeitsphase um 1945 . . . . . . . . . . 2.1.4 Vierte Arbeitsphase 1948–1955/1950–1952 . 2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text .

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3

Wirkungsgeschichte und Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Schriften zum Theater (1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Gesammelte Werke in 20 Bänden (1967) . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Große Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

X

II

Inhaltsverzeichnis

Teil II

4

Der Schauplatz des Messingkaufs . . . . . . . . . . . . . 4.1 Pirandellos Sechs Personen als möglicher Intertext 4.2 Die Genese des raumzeitlichen Schauplatzes . . . 4.3 Selbstreferentialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 95 . 96 . 102 . 106

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Konfiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph . 5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus 5.3 (Theater ohne) Zuschauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing . . . . . . .

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111 112 122 137 146

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Schauplätze des Theaters . . . . . . 6.1 Einfühlung und Egologie . . . . 6.2 Schicksal und Naturalisierung . 6.3 Realismus . . . . . . . . . . . . .

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159 162 172 185

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus 7.1 Thaeter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Theater ohne Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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199 199 206 212

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

1

Einleitung

„viel theorie in dialogform der MESSINGKAUF“1 schreibt Brecht 1939 in dem ersten Journaleintrag zu seinem gerade begonnenen Projekt, das am Ende seines Lebens unvollendet bleiben wird. Vereinfacht gesagt handelt der Messingkauf von den Gesprächen, die vier Nächte hindurch zwischen einem Philosophen und einigen

1 Journaleintrag Bertolt Brechts vom 12. Februar 1939. In: Ders.: Arbeitsjournal. Bd. 1. 1938–1942. Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 28 f. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit erfolgen Verweise auf die Arbeitsjournale nach dem Schema: AJ [Band], S. [Seitenzahl], z. B. hier: AJ 1, S. 28. Ich habe mich dafür entschieden, in der vorliegenden Arbeit die Journaleinträge aus ihrer Edition in den Arbeitsjournalen, herausgegeben von Werner Hecht, zu zitieren. Jan Knopf macht jedoch darauf aufmerksam, dass laut Hecht der Titel „Arbeitsjournal“ auf Helene Weigel zurückgeht und an keiner anderen Stelle in Brechts Nachlass vorkommt. Weigel hat sich für diesen Titel entschieden, weil sie „befürchtet hatte, dass die Notierungen zu persönlich rezipiert werden würden und damit ein Umgang mit Brecht weiter gefördert werden würde, der sich weniger für das Werk als vielmehr für die Person und seine ‚Weltanschauung‘ interessiere.“ (Jan Knopf: Der entstellte Brecht. Die Brecht-Forschung muss (endlich) von vorn anfangen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Bertolt Brecht I. Text + Kritik. München: edition text + kritik 2006, S. 5–20, hier: S. 10). Hecht hat sich auf diese „Fälschung“ eingelassen, um die Journale überhaupt herauszubringen (ebd.). Es gibt bei der Arbeitsjournale-Edition sowie bei der Edition der Journale in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken Schwierigkeiten, vor allem was die Datierung der Einträge betrifft. Dieser Sachverhalt stellt die Forschung vor das Dilemma, „Daten aus dem ‚Journal‘ so übernehmen [zu müssen], als ob sie tatsächlich authentisch wären [. . . ]“ (ebd., S. 11). Die Edition der Arbeitsjournale habe ich der Edition der Journale in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe vorgezogen, da sie Brechts Verwendung der Kleinschrift, die auch in Abschnitt 3.3 thematisiert wird, beibehält. Ich werde daher in den Fußnoten auf diese Edition verweisen. Den Mythos der „Arbeitsjournale“ möchte ich jedoch nicht verlängern, weshalb ich sie im Fließtext etwas vorsichtiger „Journale“ nennen werde. Vgl. auch Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 26 und 27. Hg. v. Hecht et al. Berlin/Frankfurt a. M./Weimar: Aufbau/Suhrkamp 1994 und 1995. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit erfolgen Verweise auf diese Ausgabe von Brechts Werken nach dem Schema: BFA [Band], S. [Seitenzahl], z. B. BFA 26, S. 317 oder, im Falle des Registerbandes, BFA R, S. 306. Bei der erstmaligen Erwähnung eines Werkes von Brecht wird der vollständige Titel mit Seitenverweis angegeben, bei wiederholten Verweisen nur das Sigel wie hier beschrieben.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_1

1

2

1

Einleitung

„Theaterleuten“2 – einem Dramaturgen, einem Schauspieler, einer Schauspielerin und einem Arbeiter – auf der Bühne eines Theaters nach einer Vorstellung stattfinden, während die Kulissen eben dieser Vorstellung vom Bühnenarbeiter um sie herum abgebaut werden. In den anfänglichen Plänen sollten diese Dialoge den Kern des Messingkaufs bilden, aber das Vorhaben änderte sich über die Jahre, sodass – im Vergleich zu Brechts zahlreichen anderen ‚theoretischen Schriften‘, die ebenfalls primär während seiner Exilzeit entstanden sind – der Messingkauf durch seine teils dialogische, teils lyrische, teils essayistische und durchweg fragmentarische Form auffällt. Die niederländische Dramaturgin und Übersetzerin Marianne van Kerkhoven bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: Die Theatertheorie Bertolt Brechts verstreut sich über sein Gesamtwerk hindurch und nimmt diverseste Formen an. Neben allerlei sachlichen theoretischen Texten ist der – eigentlich unspielbare – Theatertext ‚Der Messingkauf‘ [. . . ], ein bizarres [. . . ] Gebäude, bestehend aus Dialogen, Kritiken, Beobachtungen [. . . ], Prosastücken, Essays [. . . ] usw., die alle zusammen ein Bild von Brechts theatertheoretischen Einsichten anbieten.3

Die Frage, warum Brecht seinen größten Versuch einer Theatertheorie auf jene Weise verfasst hat, die im Messingkauf vorliegt, sowie die Frage, warum er die Arbeit an diesem Text nicht abgeschlossen hat, bildeten den ursprünglichen Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung mit der Theater-Theorie bzw. dem Theorie-Theater des Messingkaufs und dessen Darstellung. So schreibt Steve Giles im Vorwort zur 2015 erschienenen englischsprachigen Übersetzung des Messingkaufs: There has been much speculation as to why Brecht never finalized the Messingkauf – the disruption and confusion of the exile years, the systematic focus on his own practical theatre work when he returned to East Berlin – but no conclusive explanation has ever been provided.4

Keine Arbeit wird diese Frage jedoch endgültig und vollumfänglich beantworten können – auch diese Arbeit nicht. Letztendlich existieren die nötigen Zeugnisse hierzu nicht, und Brecht hat sich in dieser Hinsicht nie geäußert. Deshalb müsste sich jeder vermeintliche Schluss in den Bereich der historischen oder psychologischen Spekulation begeben. In dieser Arbeit werden vielmehr Antworten auf folgende Fragen gesucht: Inwiefern ist Brecht am Messingkauf gescheitert? Kann

2

Der Messingkauf. In: BFA 22.2, S. 695–869, hier: S. 695. Marianne van Kerkhoven: Bedenkingen bij de eerste Nederlandse vertaling van Gedichte aus dem Messingkauf van Bertolt Brecht. In: Dietsche Warande en Belfort 148:3 (Juni 2003), S. 309–314, hier: S. 310, meine Übersetzung. Originalzitat: „Bertolt Brechts theatertheorie ligt verspreid over zijn hele oeuvre en neemt daarbij de meest diverse vormen aan. Naast allerhande rechttoe rechtaan theoretische teksten is de – eigenlijk onspeelbare – theatertekst ‚Der Messingkauf‘ [. . . ] een bizar [. . . ] bouwwerk van dialogen, kritieken, beschouwingen [. . . ], prozastukken, essays [. . . ], enzovoort, die allemaal samen een beeld geven van Brechts theatertheoretische inzichten.“ 4 Steve Giles: Messingkauf, or Buying Brass. Introduction. In: Bertolt Brecht: Brecht on Performance. Messingkauf and Modelbooks. Hg. v. Tom Kuhn, Steve Giles and Marc Silberman. Bloomsbury: London/New York 2015, S. 1–9, hier: S. 1. 3

1

Einleitung

3

dieses Scheitern ggf. als ein gleichzeitiges Gelingen betrachtet werden? Und inwieweit ist dieses Scheitern eben das Resultat der inhaltlichen und medialen Verstrickung im Text – des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis? Hat nicht Brecht selbst in seinem Journal geschrieben, dass es episches Theater noch gar nicht gebe?5 Und ist nicht das, was er als solches beschreibt, der Tendenz nach sensu stricto undarstellbar – es sei denn in einer Form, die das, was sie vermeintlich beschreibend vorwegnimmt, tatsächlich kunstvoll offenlässt? Meine Beschäftigung mit dem Messingkauf hat im Laufe der Jahre auch zu der Erkenntnis geführt, dass es einen so klar definierbaren Messingkauf gar nicht gibt. Der ursprüngliche Ausgangspunkt hat sich schnell erweitert auf die sehr allgemeine Frage: Was ist der Messingkauf überhaupt? Woraus besteht er? Wie ist er entstanden? Was für eine Rolle spielte Brechts Exil bei seiner Entstehung? Was meinen wir, wenn wir vom Messingkauf sprechen? Es ist schwierig, von all jenen den Messingkauf konstituierenden Texten – deren Zugehörigkeit zu diesem Versuch durch ein kleines getipptes oder gekritzeltes „MK“ auf den Blättern im Archiv gekennzeichnet wird – als von einem Text oder einem Fragment zu sprechen. Denn diese Texte sind über eine Zeitspanne von mindestens 13 Jahren, von 1939 bis 1952, entstanden (obwohl Brecht das ‚offizielle‘ Ende der Arbeit an ihnen nie deklarierte) und umfassen eine Vielzahl von verschiedenen Formen und Gattungen, Texten und Fragmenten. Zudem ist nur eine Handvoll von ihnen durch Brecht endgültig autorisiert worden: Die einzigen autorisierten Messingkauf -Texte sind die „Übungsstücke für Schauspieler“ und neun Gedichte, die in den Versuchen und der 1952 erschienenen Theaterarbeit des Berliner Ensembles veröffentlicht wurden.6 Der unautorisierte Rest wird im Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin aufbewahrt und wurde über die Jahre in diversen Editionen veröffentlicht.7 Wenn vom Messingkauf gesprochen wird, sind meistens die Dialoge gemeint, die in einer veränderten Bühnenfassung von dem Berliner Ensemble aufgeführt wurden, oder aber diejenigen, die in den verschiedenen, frühen Editionen von Brechts Werken oder sogar als Dialoge aus dem Messingkauf -Einzelband gedruckt wurden. Noch andere meinen wiederum die Edition in der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke. Es gibt also nicht einmal eine einheitliche Diskussionsbasis. Der Sachverhalt, dass oft vom Messingkauf mit einer Selbstverständlichkeit gesprochen wird, die doch unberechtigt ist, stellt eines der Hauptprobleme in der Forschung dar. 5

Vgl. „aber wann wird es das echte, radikale epische theater geben?“ (Journaleintrag vom 13. November 1949. In: AJ 2, S. 912). Vgl. auch: „Episches Theater wird es erst geben, wenn die Perversität aufhört, aus einem Luxus einen Beruf zu machen, nämlich den Beruf des Schauspielers.“ (Heiner Müller zitiert Brecht in: Die Form entsteht aus dem Maskieren. In: Gesammelte Irrtümer. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1986, S. 141–154, hier: S. 150; zitiert nach Nikolaus Müller-Schöll: Theater im Text der Theorie. Zur rhetorischen Subversion der „Lehre“ in Brechts theoretischen Schriften. In: Das Brecht-Jahrbuch 24 (1999), S. 264–275, hier: S. 264). 6 Vgl. Bertolt Brecht: Übungsstücke für Schauspieler. In: Ders.: Versuche 11 (1951), S. 107–128; und Bertolt Brecht: Gedichte aus dem Messingkauf. In: Ders.: Versuche 14 (1955), S. 103–117. 7 Es wäre aber sinnlos zu behaupten, der Messingkauf bestünde lediglich aus den von Brecht autorisierten Texten; deren Zugehörigkeit zum Messingkauf wird an späterer Stelle in Abschnitt 3.3 diskutiert.

4

1

Einleitung

Um die zwei bereits ausgeführten unterschiedlichen Fragestellungen zu berücksichtigen, teilt sich die vorliegende Arbeit im Anschluss an diese Einleitung, die einen ausführlichen Forschungsstand sowie methodologische Vorüberlegungen zur restlichen Arbeit umfasst, in zwei Forschungssegmente auf. Der erste Hauptteil der Arbeit wird sich mit der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Messingkaufs sowie dem Exil als wichtiger Entstehungsbedingung auseinandersetzen, um einen literaturhistorischen Einblick in den Messingkauf zu bieten. Der darauffolgende zweite Hauptteil ist der literaturwissenschaftliche Teil der Arbeit, in dem der Messingkauf aus verschiedenen Blickwinkeln gelesen wird. Nach einer kurzen Einführung in die Genese des raumzeitlichen Schauplatzes des Messingkaufs und der Diskussion eines möglichen Intertexts – Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor – in Kapitel 4 wird es in Kapitel 5 um die Kon-Figurierung des Textes im wortwörtlichen Sinne gehen: Wer tritt auf der Bühne auf? Wie kommen die Figuren dorthin? Wer spricht? Und was bedeutet es, Messing kaufen zu gehen? In Kapitel 6 werden hingegen die Verhandlungen theaterhistorischer Schauplätze im Messingkauf näher untersucht. Dabei soll der Schauplatz, an dem gesehen und gesprochen wird, ernst genommen werden, um letztendlich in Kapitel 7 aufzuzeigen, wie dieser Schauplatz selbst im Messingkauf mitspricht. Hier soll versucht werden, eine Antwort auf die ursprüngliche Forschungsfrage zu geben, nämlich auf die Frage danach, was an dem im Messingkauf verhandelten, kommenden Theater Brecht daran gehindert hat, dessen Darstellung zu Ende zu schreiben. Letztendlich wird aufgezeigt werden, inwiefern das Exil dieses Sprechen durchdringt in der Herausbildung eines Theaters der Not und der Dringlichkeit, das immer wieder auf das neue Jetzt zu antworten und dabei es zu verantworten versucht.

1.1 Forschungsstand Es gibt auf den ersten Blick nicht sonderlich viel Forschung zum Messingkauf : Recherchiert man mittels der Bibliographie der Deutschen Sprache und Literatur (BDSL), ergeben sich beispielsweise zehn Suchergebnisse. Aus den meisten ‚klassischen‘ digitalen wissenschaftlichen Bibliothekskatalogen erfolgen ebenfalls verhältnismäßig wenige Ergebnisse.8 Die Entwicklung neuer digitaler Medien und Datenbanken in den vergangenen Jahren ermöglicht es jedoch nun, weitaus umfänglichere Ergebnisse aufzurufen. Mittels discovery systems wie beispielsweise der Suchmaschine der Staatsbibliothek zu Berlin, stabikat+9 , „die Recherche in mehreren hundert Millionen Zeitschriftenartikeln, Büchern, Literaturhinweisen aus bibliographischen Datenbanken und weiteren Quellen [ermöglicht]“,10 können For8 Wie beispielsweise der StaBiKat der Staatsbibliothek zu Berlin (http://stabikat.de), der von der Staatsbibliothek selbst als „klassisch“ beschrieben wird (vgl. http://staatsbibliothek-berlin. de/recherche/kataloge-der-staatsbibliothek/), oder der Campus-Katalog der Universität Hamburg (https://kataloge.uni-hamburg.de/). Beide Kataloge verwenden die gleiche Schnittstelle. 9 Zugänglich über http://stabikat.staatsbibliothek-berlin.de/ (abgerufen am 9. März 2017). 10 Staatsbibliothek zu Berlin: Kataloge der Staatsbibliothek, http://staatsbibliothek-berlin.de/ recherche/kataloge-der-staatsbibliothek/ (abgerufen am 27. April 2017).

1.1 Forschungsstand

5

scher*innen inzwischen durch Volltextsuchen Forschungsbeiträge ausfindig machen, die von klassischen Katalogen nicht gefunden werden. Zudem stellen die Digital Collections der University of Wisconsin-Madison Libraries beispielsweise alle Ausgaben des Brecht-Jahrbuchs bis auf die der letzten fünf Jahre zur Verfügung. Bei einer solchen Digital-Recherche stellt sich heraus, dass es einige Messingkauf -Analysen gibt, die aber in erster Linie gar nicht vom Messingkauf, sondern entweder von einem anderen Aspekt von Brechts Schaffen handeln, z. B. Dieter Thieles Monographie Bertolt Brecht. Selbstverständnis, Tui-Kritik und politische Ästhetik,11 oder gar von einem völlig übergeordneten Thema, wie die Monographie der Britin Mary Luckhurst, Dramaturgy. A Revolution in Theatre, in der fast ein ganzes Kapitel der Figur des Dramaturgen im Messingkauf gewidmet ist.12 Es gibt folglich mehr als zehn Beiträge zum Messingkauf, es gibt sogar mindestens 30 Texte, die explizit vom Messingkauf handeln, wobei lediglich eine davon eine Monographie ist: Hyung-Ki Kims vergleichende Monographie zum Messingkauf und zum Kleinen Organon aus dem Jahr 1992.13 Dazu gibt es jedoch eine umfangreiche Behandlung des Messingkaufs in John L. Whites beträchtlichem Unterfangen Bertolt Brecht’s Dramatic Theory von 2004, die mehr als 70 Seiten umfasst.14 Vier der Beiträge, die im Zusammenhang mit dem Messingkauf immer noch häufig zitiert werden, wurden in den 1970er Jahren veröffentlicht,15 drei weniger bekannte (aber dennoch lesenswerte) in den 1980er Jahren16 und zwei weitere in den 1990er Jahren.17 Dem relativen Mangel an Forschungsbeiträgen zum Messingkauf in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren folgte eine wahrhafte Messingkauf -Mode in den 11

Vgl. Dieter Thiele: Bertolt Brecht. Selbstverständnis, Tui-Kritik und politische Ästhetik. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1981; vgl. zum Messingkauf vor allem das letzte Kapitel „Der Zweck der Kunst“ (S. 316–360). 12 Vgl. Mary Luckhurst: Dramaturgy. A Revolution in Theatre. Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 109–151. 13 Vgl. Hyung-Ki Kim: Eine vergleichende Untersuchung zu Brechts Theatertheorien im ‚Messingkauf‘ und im ‚Kleinen Organon für das Theater‘. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1992. Für eine umfangreiche Bibliographie zum Messingkauf siehe „Darstellungen zum Messingkauf “ im Literaturverzeichnis. 14 Vgl. John L. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory. Rochester: Camden House 2004, S. 238–312. 15 Vgl. Werner Hecht: Die Trompete und das Messing. In: Ders.: Sieben Studien über Brecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 108–139; Hans Mayer: Dramaturgische Positionen oder Der Messingkauf. In: Theo Buck (Hg.): Zu Bertolt Brecht. Parabel und episches Theater. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 113–126; Joachim Müller: Brechts ‚Gedichte aus dem Messingkauf‘. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 7:1 (1976), S. 90–116; und Klaus-Detlef Müller: Der Philosoph auf dem Theater. Ideologiekritik und ‚Linksabweichung‘ in Bertolt Brechts „Messingkauf“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik. Sonderband. Bertolt Brecht I. München: edition text + kritik 1972, S. 45–71. 16 Vgl. Joseph Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine. Theater als Stoff und Thema des Theaters von Harsdörffer bis Handke. Stuttgart: Franz Steiner 1989; Thiele: Bertolt Brecht 1981; und Michael Voges: Der Messingkauf. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters. In: Klaus-Detlef Müller (Hg.): Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung. München: C. H. Beck 1985, S. 211–232. 17 Vgl. Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992; und Ralf Simon: Zur poetischen Anthropologie der Komödie in Brechts ‚Messingkauf.‘. In: Das Brecht Jahrbuch 24 (1999), S. 276–290.

6

1

Einleitung

1960er Jahren, im Zuge derer ab 1963 zwei verschiedene Bühnenbearbeitungen von Brechts Versuch mehr als 100 Mal am Theater am Schiffbauerdamm in Ost-Berlin sowie in der Bundesrepublik und im Ausland durch das Berliner Ensemble aufgeführt wurden.18 In dieser Zeit entstanden jedoch keine wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Messingkauf, auch nicht zu seiner Inszenierung, sondern lediglich eine Fülle an fachlichen und feuilletonistischen Rezensionen.19 Dass so wenige Beiträge in den 1990er Jahren entstanden sind, liegt vermutlich zusätzlich an der Langsamkeit der Forschung, denn nach der Veröffentlichung der neuen Edition des Messingkaufs im Jahr 1993 wurden in den 2000er Jahren gleich zehn Beiträge zum Messingkauf – fast genauso viele wie in den drei Jahrzehnten davor –,20 und in den 2010er Jahren weitere elf veröffentlicht.21 Die neuesten For18

Vgl. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 245, Fußnote 11. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht, an der Grenze zwischen Fachschrift und Wissenschaft, ist die Theater heute-Ausgabe 12/1963, die einen Beitrag von Ernst Wendt, dem Gründer der Zeitschrift mit dem Titel „Der „Messingkäufer“ Bertolt Brecht“ enthält, der der ersten Veröffentlichung von einigen Dialogen des Messingkaufs vorangeht (vgl. Ernst Wendt: Der „Messingkäufer“ Bertolt Brecht. In: Theater heute 12 (Dezember 1963), S. 62–64). Diese Ausgabe wird in Abschnitt 3.2 diskutiert. 20 Vgl. André Combes: „. . . On pourrait l’appeler thaêtre“. Le théâtre du philosophe ou la scène renversée. In: Fabrice Malkani (Hg.): Philosophie et littérature dans les pays de langue allemande au XXe siècle. Lille: Univ. Charles-de-Gaulle 2000, S. 69–85; Kerkhoven: Bedenkingen 2003; Klaus-Dieter Krabiel: Der Messingkauf. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 4. Stuttgart: Metzler 2003, S. 192–220; Klaus-Dieter Krabiel: Der Messingkauf. In: Ana Kugli und Michael Opitz (Hg.): Brecht Lexikon. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 64–65; Luckhurst: Dramaturgy 2006; Mary Luckhurst: Revolutionising theatre. Brecht’s reinvention of the dramaturg. In: Peter Thomson und Glendyr Sacks (Hg.): The Cambridge Companion to Brecht. Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 193–208; Klaus-Detlef Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ in Brechts „Messingkauf“. Kunst und Ästhetik in der Theorie des epischen Theaters. In: Heinz Ludwig Arnold. Text + Kritik. Sonderband. Bertolt Brecht I. München: edition text + kritik in Richard Boorberg Verlag 2006, S. 33–40; Martin Puchner: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy. New York: Oxford University Press 2007, S. 106–111; White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 238–312; Michael Voges: Der Messingkauf. In: Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht: Epoche – Werk – Wirkung. München: C.H. Beck 2009, S. 124–128. 21 Vgl. David Barnett: Brechtian Theory as Practice. The Berliner Ensemble Stages Der Messingkauf in 1963. Theatre, Dance and Performance Training 2:1 (2011), S. 4–17; David Barnett: A History of the Berliner Ensemble. Cambridge: Cambridge University Press 2015, S. 178–180; Julie Gaillard: Du Messingkauf au Schnittchenkauf. D’un retour problématique à Brecht. In: Germanica 54 (2014), S. 69–80; Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015; Nikolaus Müller-Schöll: Bruchstücke eines (immer noch) kommenden Theaters (ohne Zuschauer). Brechts inkommensurable Fragmente Fatzer und Messingkauf. In: Das Brecht-Jahrbuch 39 (2014), S. 30–55; Katalin Trencsényi: Dramaturgy in the Making. A User’s Guide for Theatre Practitioners. London/New York: Bloomsbury 2015, S. 116–122; Lydia J. White: Fragment, Figur, Revolution. Georg Büchners „Woyzeck“ und Bertolt Brechts „Der Messingkauf“. In: Das Brecht-Jahrbuch 39 (2014), S. 218–235; Lydia J. White: „(die künste frei von / moralischen verpflic / htungen)“. Zur Editionspolitik der Werkausgaben von Bertolt Brecht am Beispiel des Messingkaufs. In: Matthias Berning et al. (Hg.): Fragment und Gesamtwerk. Relationsbestimmungen in Edition und Interpretation. Kassel: kassel university press 2015, S. 69–88; Lydia J. White: Inzwischenzeit, Inzwischenraum. Der Messingkauf als kompensatorisches Typoskripten-Theater. In: Jianhua Zhu, Jin Zhao und Michael Szurawitzki (Hg.): Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015. Bd. 9. Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2017, 19

1.1 Forschungsstand

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schungsergebnisse sind dabei vermutlich einerseits das Resultat der verschiedenen Workshops und Konferenzen in Israel und Deutschland, die als Teil eines internationalen Forschungsprojekts, des „deutsch-amerikanisch-israelischen Forschungslaboratoriums Der Messingkauf “ unter der Leitung von Nikolaus Müller-Schöll und Freddie Rokem durchgeführt wurden,22 und andererseits der Bemühungen des britischen Projekts „Writing Brecht“ unter der Leitung von Tom Kuhn an der University of Oxford.23 Da der Messingkauf verhältnismäßig früh als eine der wenigen theoretischen Schriften Brechts ins Englische übersetzt wurde, gab es seit den 1960er Jahren eine durchgehende englischsprachige Messingkauf -Rezeption. Die Veröffentlichung der neuesten Übersetzung bzw. Edition des Messingkaufs als Buying Brass, Ergebnis einer langjährigen Forschungskollaboration, im Zuge dessen auch weitere Neuübersetzungen und -editionen von einigen von Brechts literarischen und theoretischen Schriften erfolgt sind, hat diese englischsprachige Rezeption nur noch intensiviert, sodass Oxford 2016 Veranstaltungsort der Tagung der International Brecht Society wurde. Außer auf Deutsch und Englisch sind bisher vereinzelte Beiträge auf Französisch und einer auf Niederländisch erschienen,24 Letzterer als eine Art Editionsbericht zur Übersetzung der „Gedichte aus dem Messingkauf“ ins Niederländische. Indizien für die wissenschaftliche Wahrnehmung des Messingkaufs findet man zudem in den Brecht-Jahrbüchern: Die Volltextsuche-Funktion der zuvor erwähnten Digital Collections ermöglicht Einsicht in gewisse historische Tendenzen der Brecht-Forschung,25 die womöglich auf die Brecht-Forschung insgesamt übertragen werden könnten. Gibt man beispielsweise den Begriff „Messingkauf“ bei den Digital Collections ein, erhält man – nachdem man Erwähnungen in Fußnotenangaben für Zitate und nichtige bzw. anscheinend irrelevante Benennungen und Erwähnungen in Buchbesprechungen subtrahiert hat – 95 Erwähnungen des Messingkaufs verteilt auf 42 Aufsätze,26 wobei nur ein paar von ihnen schwerpunktmäßig vom S. 305–309; Lydia J. White: Die Bühne mit der Bühne denken. Zu Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Brechts Der Messingkauf. In: Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie. Bielefeld: transcript 2019, S. 81–94; und Sam Williams: Trading Brass with Brecht: Towards an Ecorealist Theatre. In: ecibs: Communications of the International Brecht Society 2 (2017), https://e-cibs.org/issue2-2017/ (abgerufen am 26. Mai 2019). 22 Diese Forschungskooperation war auch Anlass für die dieser Arbeit vorausgegangenen Masterarbeit im Jahr 2011. 23 Vgl. University of Oxford: Writing Brecht, http://brecht.mml.ox.ac.uk/ (abgerufen am 30. Juni 2017). 24 Vgl. Combes: Le théâtre du philosophe 2000; Gaillard: Du Messingkauf au Schnittchenkauf 2000; Kerkhoven: Bedenkingen 2003. 25 Vgl. University of Wisconsin-Madison Libraries, Digital Collections: Search, http://digicoll. library.wisc.edu/German/Search.html?subcollection=The+Brecht+Yearbook (abgerufen am 30. Juni 2017). 26 Wenn man einen genaueren Blick auf die chronologische Aufteilung dieser Erwähnungen des Messingkaufs wirft, präsentiert sich ein aussagekräftiges Bild: In den Aufsätzen im BrechtJahrbuch der 1970er wird der Messingkauf insgesamt 13 Mal in sieben Aufsätzen, in den 1980er Jahren sieben Mal in vier Aufsätzen, in den 1990er Jahren 40 Mal in zwölf Aufsätzen und in den 2000er Jahren 35 Mal in 14 Aufsätzen erwähnt. Die meisten dieser Erwähnungen des Mes-

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Messingkauf handeln. Die Frequenz dieser Erwähnungen ändert sich dabei ebenfalls über die Jahre: Die Ansammlung der Fragmente findet in den 1990er und 2000er Jahren drei bis fünf Mal so viel Aufmerksamkeit wie in den 1970er und 1980er Jahren und wird Gegenstand viel intensiverer Untersuchungen. Der Anstieg der Anzahl an Aufsätzen, in denen der Messingkauf auch nur flüchtig erwähnt wird, weist jedoch auch darauf hin, dass sich der Messingkauf über die Jahre ins allgemeinere Bewusstsein der Brecht-Forschung integriert hat. In den meisten Forschungsbeiträgen zum Messingkauf herrscht Konsens über den Stellenwert des Textes, obwohl er oft im Schatten seines bekannteren Nachfolgers, dem Kleinen Organon für das Theater steht. Für Klaus-Detlef Müller gilt der Messingkauf als Brechts „wichtigste[r] Versuch, seine Vorstellungen von einem neuen und anderen Theater zusammenfassend darzustellen“,27 und für MüllerSchöll ist er „Brechts ambitionierteste Theorie“.28 Michael Voges beschreibt den Messingkauf als Brechts „umfassendste und umfangreichste theatertheoretische Schrift“ und „de[n] wichtigste[n] Versuch, die Grundsätze des episch-dialektischen Theaters zu klären und zu vermitteln“,29 während für Jan Knopf diese Ansammlung an Fragmenten „als ‚Theorie‘ einzigartig und bis heute in seiner Bedeutung weder erkannt noch durch andere Theatertheorien erreicht worden [ist].“30 Für Luckhurst bildet der Messingkauf als Ganzes „Brecht’s central theoretical document“,31 seine „most important critical writings“.32 Luckhurst geht dabei sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, dass diese Schriften sogar den „crucial text“ in „the recent history of dramaturgy“ bilden.33 Andere Wissenschaftler*innen scheint der Messingkauf hingegen eher zu verwirren, sodass sie nicht wissen, wie sie ihn einordnen sollen, wie z. B. Joachim Müller, der vom „merkwürdigen Fragment vom Messingkauf“ spricht.34 Diese Arbeit schließt sich jedoch denjenigen an, die im Messingkauf Brechts wichtigsten Versuch sehen, eine Theorie seines Theaters zu verschriftlichen – eine These, die auf den Seiten dieser Arbeit begründet werden soll. Es gibt jedoch einige Problematiken in der Brecht-Forschung im Allgemeinen und insbesondere in der Forschung zum Messingkauf, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen. So gibt es einen intergenerationalen Konflikt: Vertreter*innen einer älteren Wissenschaftsgeneration oder gar Zeitgenoss*innen Brechts singkaufs sind einmalige, dennoch gibt es eine korrespondierende Tendenz bei Aufsätzen, in denen der Messingkauf zwischen 1970 und 2009 mehr als einmal erwähnt wird. Das heißt: In den 1970er Jahren und 1980er Jahren findet der Messingkauf nur selten in Aufsätze Eingang und wird in diesen Fällen nur oberflächlich behandelt. Ab dem Abdruck der neuen Edition des Messingkaufs in der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken im Jahr 1993 wurde dem Messingkauf jedoch eine zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. 27 Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 33. 28 Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 40. 29 Voges: Der Messingkauf 2009, S. 124. 30 Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater. Stuttgart: Metzler 1980, S. 453. 31 Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 141. 32 Luckhurst: Revolutionising theatre 2006, S. 195. 33 Ebd. 34 Müller: Brechts ‚Gedichte aus dem Messingkauf‘ 1976, S. 91.

1.1 Forschungsstand

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erheben oft den Anspruch auf Autorität und Authentizität deshalb, weil sie ‚dabei‘ gewesen zu sein meinen und den ‚wahren Brecht‘ zu kennen glauben. Eine jüngere Generation hingegen versucht, Brechts Relevanz im 21. Jahrhundert zu ermitteln, ein gewisses Brecht-Bild zwangsläufig auf den Prüfstand stellend. Weitere Aspekte spielen hier ebenfalls eine Rolle, zum Beispiel die Wert- oder Geringschätzung des Begriffs des Fertigen bzw. des Unfertigen oder überhaupt verschiedene geschichtliche Perspektiven und zeitliche Erfahrungen, die die Wahrnehmung von Texten insgesamt prägen, insbesondere solche eines so kanonischen Autors wie Brecht. Der Messingkauf ist aber ferner ein spezieller Fall, und die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten werden dadurch intensiviert, dass die Parteien oft auf der Basis völlig anderer Ausgangstexte argumentieren: So gehen die einen von der Bühnenfassung des Berliner Ensembles und deren Inszenierung in den 1960er Jahren aus, während die anderen auf Basis der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken sowie der Fragmente im Archiv argumentieren. Zusammengefasst lässt sich anhand der Anzahl publizierter Forschungsbeiträge festhalten, dass es seit geraumer Zeit erneut eine relative Messingkauf -Mode zu geben scheint. Festzustellen ist jedoch auch, dass bislang eine monothematische Monographie zu den Texten des Messingkaufs fehlt, die die Komplexität des vorhandenen Materials vor dem Hintergrund neuerer Forschungsansätzen berücksichtigt. Dies soll die vorliegende Arbeit nun erstmals leisten. Aus den genannten Gründen werden im Folgenden einige eher Messingkauf -spezifische Probleme ausführlicher dargestellt, um sie für die spätere Diskussion der Fragmenten-Ansammlung endgültig aus dem Weg zu räumen.

1.1.1 Textgrundlage Die erste Zusammenstellung des Messingkaufs aus den ihn konstituierenden Bruchstücken erfolgte in der Bühnenfassung des Berliner Ensembles im Jahr 1963. Der für diese Zusammenstellung verantwortliche Dramaturg, Werner Hecht, war zu dem Zeitpunkt ebenfalls zuständig für die Herausgabe der ersten Edition des Messingkaufs in den Schriften zum Theater, die Brechts theoretische Schriften erstmalig zugänglich machten. Auf der Basis der Darstellung der Dialoge in der Edition der Schriften zum Theater erfolgte dann im Jahr 1963 eine weitere Edition des Messingkaufs in den Gesammelten Werken in 20 Bänden, die sich maßgeblich an der Präsentation der Dialoge in den Schriften zum Theater orientierte. Die Dialoge sind in beiden Editionen nach dem Verlauf der Nächte gegliedert. Die „Übungsstücke für Schauspieler“ und die „Gedichte aus dem Messingkauf“ erscheinen in den Schriften zum Theater zusammen mit den Dialogen in einem Band, sind jedoch in den Gesammelten Werken durch verschiedene Bände verstreut. Den ersten Editionen des Messingkaufs ist gemein, dass sie jeweils eine Leseausgabe des Messingkaufs mit Anfang, Mitte und Ende präsentieren. Diese beiden Editionen werden in den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.2 ausführlich dargestellt. Im Jahr 1993 erschien die dritte Edition des Messingkaufs in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken (im Folgenden

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„BFA“). Wie ihre zwei Vorgängerinnen wurde diese Edition ebenfalls von Hecht, dieses Mal zusammen mit Inge Gellert herausgegeben. Diese Edition war ein Versuch, dem Messingkauf als Fragment Rechnung zu tragen und sich weg von der problematischen Präsentation in den Leseausgaben zu bewegen, die den Messingkauf als Werk darstellen. Auf diese Weise sind die Bruchstücke des Messingkaufs ihrer Entstehung nach chronologisch angeordnet, und erst innerhalb dieser Chronologie nach ihrer Zuordnung zu den vier Nächten. Das Fragmentarische wird somit viel sichtbarer als in den Leseausgaben möglich. Die Ausgabe birgt jedoch ihre eigenen Probleme, die es in Abschnitt 3.2.3 ausführlich darzustellen gilt. Es wird in Abschnitt 3.3 argumentiert, dass die bisherigen Editionen des Messingkaufs Verzerrungen darstellen und dass eine zeitgemäße Darstellungsform für den Messingkauf gefunden werden muss, die die Sicht auf die tatsächliche Konstitution dieser rhizomatischen Theorie ermöglicht. Die Existenz der Leseausgaben einerseits und der BFA andererseits sowie die zeitliche Distanz zwischen den verschiedenen Editionen hat dazu geführt, dass eine Forschung entstanden ist, die mindestens zwei verschiedene Gegenstände betrachtet, ohne dass dieser Sachverhalt in der Regel thematisiert wird. Wenn doch, dann anscheinend nur deshalb, um Autor*innen möglichst unangreifbar zu machen. Sie zeigen, dass sie die Existenz der verschiedenen Editionen zur Kenntnis genommen haben, problematisieren jedoch nicht weiter, dass diesen Editionen wiederum unterschiedliche und mitunter nicht unproblematische Textzusammenstellungen zugrunde liegen. Müller behauptet beispielsweise sachlich, dass die „Ergebnisse“ der Studien, die auf Grundlage der ersten Editionen des Messingkaufs in den 1960er Jahren bis zur Erscheinung der BFA-Edition im Jahr 1993 veröffentlicht wurden, seiner Einschätzung nach aufgrund „der neuen Textgrundlage keiner grundsätzlichen Revisionen [bedürfen].“35 Diese Unbekümmertheit bezüglich der Textgrundlage – im Jahr 1999 verwendet Ralf Simon beispielsweise in seiner Analyse des Messingkaufs die Edition der Gesammelten Werke, obwohl die BFA-Edition schon längst zur Verfügung steht36 – könnte zwei Ursprünge haben: zum einen die generelle ,Unbeliebtheit‘ der Editionswissenschaft in der Literatur- und Theaterwissenschaft,37 zum anderen das problematische Verhältnis zwischen vermeintlich vollständigem ,Werk‘ und ‚erklärendem‘ Fragment. Diejenigen, die ihre Forschung zum Messingkauf vor der Veröffentlichung der BFA auf Basis der ersten Editionen in den Schriften zum Theater und den Gesammelten Werken durchgeführt haben, sehen womöglich in der fragmentarischeren Form der BFA-Edition lediglich die aufklärenden Bausteine des vollständigen ‚Stücks‘, womit sie bereits gearbeitet haben. Des Weiteren ist es, nachdem solche Archivbestände in die Form eines Werks gebracht worden sind, für deren Leser*innen sicherlich schwierig, die Idee des Werks zu vergessen. Andererseits ist die gewaltige Verzerrung, der der Messingkauf unterzogen wurde, um 35

Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 40, Fußnote 5. Vgl. Simon: Zur poetischen Anthropologie 1999. 37 Eine hervorstechende theaterwissenschaftliche Ausnahme in dieser Hinsicht ist Judith Schäfers Dissertation: „Da aber die Welt keine Brücken hat. . . “ Dramaturgien des Fragmentarischen bei J. M. R. Lenz. Paderborn: Wilhelm Fink 2016. 36

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ihn in seine Werk-Form der früheren Editionen zu pressen, für diejenigen, die ihn aus der BFA-Edition und dem Archiv kennen, beachtlich. In Abschnitt 3.2 wird die Textgrundlage sorgfältig, Edition für Edition untersucht werden, um die Implikationen der bisher erfolgten Verwerklichung des Messingkaufs sichtbar zu machen. Diese Sichtbarmachung ist wichtig, denn die Betrachtung des Messingkaufs als vollständiges Werk, obwohl er von Brecht nie in eine solche Form gebracht wurde, hat bisher entscheidende Folgen für die Forschung gehabt. Einerseits sieht diese nahezu traditionell ein Ende, wo keines ist, und scheint andererseits teilweise ein massives Problem mit dem Fragment-Charakter des Messingkaufs zu haben, der erst seit der Veröffentlichung der Edition in der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke kenntlich geworden ist.38 Die vorhin erwähnte Tendenz, ein Werk zu sehen bzw. sehen zu wollen, wo keines ist, rührt nicht nur von der Zusammenstellung der ersten Leseausgaben her, sondern auch von einer grundsätzlichen Entwertung des Unfertigen und Unabgeschlossenen. Diese Entwertung beruht auf dem bis heute fortdauernden „Ideal eines anschaulichen und geschlossenen Ganzen“, das auf „das Paradigma der idealistischen Identitätsästhetik“ zurückzugehen scheint.39 Konstitutiv für diese idealistische Identitätsästhetik ist, dass „die Gespaltenheit der Subjektivität“, wie Eberhard Ostermann Immanuel Kant zusammenfassend schreibt, „sich im Schönheitserlebnis, das einen intakten geschlossenen Stimmungszusammenhang bedingt, als eine intakte erfährt.“40 Dafür muss die „Gestalt des Kunstwerks [. . . ] schließlich als anschaulicher Fall einer tatsächlichen Versöhnung von Idee und Erscheinung gedacht“ werden.41 Das Fragment ist freilich das Gegenbild des „geschlossenen Stimmungszusammenhangs“42 und per definitionem das Gegenteil der Versöhnung von Idee und Erscheinung, und rückt daher in den Bereich des Unschönen, des Schlechten, des moralisch Verwerflichen, auch wenn diese Entwertung nicht explizit als solche zum Ausdruck gebracht wird.43 Der Wunsch nach etwas einheitlich Ganzem und der darauffolgenden, nachträglichen Kreation eines Werkes, wo (eigentlich) nur Fragment existiert, ist höchst problematisch. Denn die Versuche, die Idee des Messingkaufs mit seiner im Grunde fragmentarischen Erscheinung zu versöhnen, haben dazu geführt, dass gewaltige (und gewalttätige) Änderungen am Text durchgeführt worden sind, die viele Aspekte des Messingkaufs verbergen. Eben diese sind jedoch für dessen Auslegung mitnichten unbedeutend.

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Für eine detaillierte Ausführung zur Setzung des Endes und eine ausführlichere Diskussion der Entwertung des Fragmentarischen siehe Abschnitt 3.3. 39 Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189–205, hier: S. 190. 40 Ebd., S. 191. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Für weitere Ausführungen zu dieser Entwertung siehe Abschnitt 3.3.

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1.1.2 Das Brecht-Vermächtnis/das Vermächtnis Brecht Da es bereits mehrere Beiträge gibt, die die Entwicklung der Brecht-Forschung im geteilten Deutschland und die ideologischen Klassenkämpfe um sie herum zum Thema haben, wird hier auf eine eigene ausführliche und generelle Darstellung derselben verzichtet. Stattdessen führe ich als Resümee Knopfs konzise Zusammenfassung der Brecht-Forschungen in Ost- und Westdeutschland vor der Wende an: In der DDR entwickelte sich Brecht aus kaisertreuen und patriotischen Anfängen über den Bürgerschreck und Anarchisten zum Marxisten, wobei Letzterer einige Zeit – es ist die Zeit des „Vulgärmarxismus“ – benötigte, ehe er den Marxismus ‚richtig‘ verstanden hatte (‚Lehrstückphase‘). Erst am Ende der Weimarer Republik habe er sich endgültig auf die Seite der Arbeiterklasse geschlagen und dann im Exil seine ‚reifen‘ Stücke geschrieben. Auch in den Darstellungen der Bundesrepublik beginnt Brecht als kaisertreuer Patriot, um dann die Vaterbindung (die auch Kaiser und Gott gegolten habe) vehement zu verleugnen und in eine Zeit der anarchistischen sowie nihilistischen Revolte umzuschlagen. In der Weimarer Republik folgte die ‚Konversion‘ zum Marxismus, die jedoch für die Werke des Exils deshalb folgenlos geblieben sei, weil er nicht ihren ästhetischen und allgemeinmenschlichen ‚Kern‘ berührt habe. Da Brechts politisches ‚Bekenntnis‘ äußerlich gewesen sei, habe er doch noch überzeitliche Kunstwerke geschaffen. Damit war für Brecht der Weg in die Schullesebücher der Bundesrepublik geebnet.44

Eine weitere solche Darstellung bietet Jan Kobel in seiner Monographie Kritik als Genuß: Über die Widersprüche der Brechtschen Theatertheorie und die Unfähigkeit der Literaturwissenschaft, sie zu kritisieren (gleichwohl hier angemerkt sei, dass der Widerspruch an sich nicht zwangsläufig kritisiert werden muss).45 Viele Forschungsbeiträge zum Messingkauf – inklusive des Vorworts zur jüngsten englischsprachigen Übersetzung aus dem Jahr 2015 – stützen sich auf ein paar wenige Aufsätze aus den 1970er und 1980er Jahren. Diese wurden von den eben erwähnten, vom Kalten Krieg geprägten Autoren geschrieben, oft mit einem marxistischen Fokus, und basierten oft auf fehlerhaften Annahmen oder führten zu gewissen fehlerhaften Annahmen, die in der Messingkauf -Forschung inzwischen schwierig abzustreifen sind. Eine solche Annahme – oder mit den Worten Hans Mayers: ein „krasse[s] Mißverstehen“46 – ist beispielsweise die Gleichsetzung des Philosophen mit der Person Brecht.47 Oder aber sie behandeln den Messingkauf nur kursorisch auf eine Art und Weise, die zu implizieren scheint, dass alle sowieso schon wüssten, was der Messingkauf ist und worum es in ihm geht, ohne Sekundärliteratur zu diskutieren oder gar nur darauf hinzuweisen.48 Krabiel, Autor des Eintrages zum Mes44

Knopf: Der entstellte Brecht 2006, S. 7. Vgl. Jan Kobel: Kritik als Genuß. Über die Widersprüche der Brechtschen Theatertheorie und die Unfähigkeit der Literaturwissenschaft, sie zu kritisieren. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1992. 46 Hans Mayer: Brecht in der Geschichte. In: Ders.: Brecht in der Geschichte. Drei Versuche. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 183–251, hier: S. 245. 47 Für weitere Ausführungen zum Thema Brecht als Philosoph siehe Abschnitt 5.1. 48 Klaus-Detlef Müller ist einer der wenigen, der auf einen solchen Sekundärtext verweist, jedoch in einem Text, der nicht vom Messingkauf handelt, und auf einen Text, den er selbst geschrieben hat (vgl. Klaus-Detlef Müller: Brechts Me-ti und die Auseinandersetzung mit dem Lehrer Karl Korsch. In: Das Brecht-Jahrbuch 7 (1977), S. 9–29, hier: S. 26). 45

1.1 Forschungsstand

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singkauf im von Knopf 2003 herausgegebenen Brecht-Handbuch, listet in seinem Literaturverzeichnis beispielsweise ausschließlich Sekundärliteratur aus dem Zeitraum 1972–1978 auf.49 Diesem Sachverhalt entsprechen zwei auffällige Tendenzen in den Beiträgen zum Messingkauf im Besonderen und in der Brecht-Forschung im Allgemeinen: die Verwendung einer verallgemeinernden Brecht-Folie einerseits, die oft auch mit einem ‚Spätwerk‘-Denken einhergeht, und andererseits die Verwendung einer Marxismus-Folie, die den Blick auf den Messingkauf wie auf das Wirken Brechts insgesamt entstellt. Maßgebend für die frühen bis heute als Konsens geltenden Auslegungen des Messingkaufs sind die – so Karl-Heinz Schoeps – „Verrenkungen, die DDRKritiker wie Schumacher, Mittenzwei oder Rülicke-Weiler anstellten, um Brecht die Zwangsjacke des sozialistischen Realismus zu verpassen [. . . ].“50 Die Frage, ob und zu welchem Grad Brecht ein Marxist, Sozialist oder Kommunist gewesen sei, ist eine Frage, die sich bis heute durch die gesamte Brecht-Forschung zieht. In den Interpretationen zum Messingkauf aber, der als Text das Thema Marxismus eigentlich überwiegend vernachlässigt, klammern sich die marxistischen Interpreten geradezu an Strohhalme. Zugegebenermaßen hat Müller seinen Text 2006 revidiert, dennoch behauptete er 1972 in einem Text, der immer noch häufig zitiert wird, dass „die systematischen Gesichtspunkte nicht in der Theorie selbst [liegen], sondern außerhalb ihrer im dialektischen Materialismus und in der Theaterpraxis“.51 Später schreibt er im selben Text: Diese Zusammenhänge [Lukács, Korsch, Dialektik] sind als Hintergrund der Brechtschen Theatertheorie vorauszusetzen und bilden den Horizont ihrer Argumentation. Die ganze Lehrhaftigkeit und aufklärerische Vermittlung von Erkenntnissen versteht sich als Bewußtseinsbildung im Sinne der materialistischen Dialektik.52

Das Bedürfnis, eine ideologische Kontinuität sowohl im Messingkauf als auch in Brechts Gesamtwerk zu sehen, ist so groß, dass Müller hier behauptet, der Text wäre außerhalb des Textes zu interpretieren. Die Britin Luckhurst lässt sich Anfang des 21. Jahrhunderts noch ebenso von dieser überholten marxistischen Sichtweise verführen und behauptet: „Like Piscator, Brecht sought a propagandistic reinvention of a Schillerian theatre of the moral tribunal, but with the representation of working class lives and concerns at centre stage.“53 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird etwas präziser und differenzierter auf das Thema Marxismus eingegangen,54 es lässt sich aber jetzt schon feststellen, dass jeglicher Versuch, den Hauptfokus der Auseinandersetzung mit dem Messingkauf auf das Thema Marxismus zu lenken, irreführend ist und die eigentlichen Schauplätze des Messingkaufs vernachlässigt. 49

Vgl. Krabiel: Der Messingkauf 2003, S. 219 f. Karl-Heinz J. Schoeps: Jan Kobel: Kritik als Genuß: Über die Widersprüche der Brechtschen Theatertheorie und die Unfähigkeit der Literaturwissenschaft, sie zu kritisieren [Rezension]. In: Das Brecht Jahrbuch 19 (1994), S. 371–374, hier: S. 371. 51 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 46. 52 Ebd., S. 63. 53 Lackhurst: Dramaturgy 2006, S. 125. 54 Vgl. Abschnitt 5.1. 50

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Der Messingkauf ist kein kurzer Text: Interpretationsmaterial ist genug vorhanden. In der BFA besteht der Messingkauf aus 178 Seiten, im Archiv aus mindestens 225, je nachdem, welches Material man zum Messingkauf zählt. Es gibt also eine Menge Worte, die eine Menge Themen behandeln. Dennoch fühlen sich viele Wissenschaftler*innen dazu genötigt, eine allgemeine Brecht-Folie zu verwenden, um den Messingkauf ‚aufzufüllen‘. Sie ziehen ständig andere Brecht-Texte heran, um Aspekte zu erklären, die im Messingkauf keine besonders breite Aufmerksamkeit erhalten. Scheinbar entnehmen sie diese Folie einem allgemeinen Konsens über Brecht und sein Schaffen, aufgrund dessen es nicht mehr nötig ist, den brechtschen Text tatsächlich zu lesen. Viele ‚fassen‘ beispielsweise den Messingkauf ‚zusammen‘, indem sie schlicht Themen auflisten, die mehr oder minder wahllos dem großem theoretischen Œuvre Brechts entnommen scheinen, wie beispielsweise Voges: In den folgenden dialogischen Auseinandersetzungen vertritt der Philosoph die Grundsätze des episch-dialektischen Theaters, wie sie in Brechts Schriften der dreißiger Jahre entwickelt wurden: eingreifendes Denken, nichtaristotelisches Theater, Kritik des Naturalismus, Säkularisierung des Theaters als einer kultischen Institution, Kritik der Einfühlung, Vereinbarkeit von Vergnügungstheater und Lehrtheater, Verfremdung und Historisierung, Fixieren des Nicht-Sondern, Gleichnis und Parabel, epische und gestische Spielweise, Distanzierung durch kommentierende Elemente, gezielter Einsatz von Musik und Bühnenbau, Aktivierung des Zuschauers, Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität usw.55

Es stimmt, dass viele dieser brechtschen Themen im Messingkauf (bzw. in seiner BFA-Edition) vorkommen, aber einige, z. B. „Gleichnis und Parabel“ kaum (das Wort „Gleichnis“ wird nicht einmal erwähnt), während andere, wie das „Fixieren des Nicht-Sondern“, überhaupt nicht auftauchen. Auch das Thema der Musik wird so gut wie gar nicht behandelt, und zu sagen, es gäbe im Messingkauf eine Auseinandersetzung mit der „Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität“ wäre etwas weit hergeholt. Solche faden Auflistungen von sogenannten Schlüsselbegriffen der brechtschen Terminologie gibt es die gesamte Forschung zum Messingkauf hindurch. Ein Grund hierfür ist bereits im ersten Satz des obigen Zitats zu finden, in dem die angeblichen „Grundsätze des episch-dialektischen Theaters“, das „epische Theater“, auch anderweitig als das „Brechtsche Theater“56 genannt, erwähnt wird, oder allgemeiner „die Brechtsche Theatertheorie“,57 „das Brechtsche Theoriekonzept“58 oder „die ästhetische Theorie Brechts“.59 Abgesehen davon, dass der Begriff „episch“ sowie „episches Theater“ im Messingkauf verschwindend geringe Erwähnung findet, das Wort „dialektisch“ sogar gar nicht vorkommt, gab und gibt es das epische Theater, 55

Voges: Der Messingkauf 2009, S. 127. Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 33. 57 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 47; Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 115. 58 Voges: Der Messingkauf 2009, S. 124. 59 Gerhard Kebbel: Geschichtengeneratoren. Lektüren zur Poetik des historischen Romans. Tübingen: Niemeyer 1992, S. 70. 56

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gab und gibt es die brechtsche Theatertheorie nicht, weshalb es auch sogenannte „Grundsätze“ nicht geben kann. Dieser Tendenz, sowohl Brecht als auch dem Messingkauf Grundsätze zuzuschieben, die es nicht gibt bzw. nicht geben kann, entspricht auch der Wunsch, den Philosophen des Messingkaufs mit der Person Brecht zu identifizieren. Auf diese Gleichsetzung wird in Abschnitt 5.1 ausführlich eingegangen. Die Versuche, eine Kontinuität und Kohärenz in ‚der‘ Theatertheorie Brechts zu finden, sind mannigfaltig und allgegenwärtig in der Brecht-Forschung und rühren vielleicht sogar von Brechts eigenem Wunsch her, eine kontinuierliche, kohärente Theatertheorie als Vermächtnis zu entwickeln. Dies findet sich nicht zuletzt in den ungünstigen „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“ wieder: Neben einigen eigentlich sehr nuancierten Ausführungen zu seiner Oper und seiner Vorstellung einer ‚neuerten‘ Oper, nimmt Brecht in diesem Text eine sehr bekannte Auflistung von Oppositionen vor – „handelnd“ vs. „erzählend“, „Erlebnis“ vs. „Weltbild“ usw.60 Wohl aufgrund der vereinfachenden Darstellung wird diese Tabelle bis heute in jedem Schulunterricht und vielen Seminaren zu Brecht gerne verwendet, um das epische Theater zu erklären. Dabei reduziert sie jedoch leider die Komplexität von Brechts Argumentation erheblich.61 Ebenfalls Teil des Wunsches nach Kontinuität und Kohärenz und besonders beliebt in der Forschung zum Messingkauf ist der Verweis auf eine Äußerung Brechts in einem Journaleintrag. Hier schreibt er, das Kleine Organon für das Theater sei eine „kurze zusammenfassung des MESSINGKAUFS.“62 Müller zufolge erfolgt diese Behauptung „zu Recht“,63 während Hecht schreibt: Bei der Zusammenfassung des Messingkaufs im Jahr 1948 entstand mit dem Kleinen Organon für das Theater eine selbständige Arbeit. Wenn man die oben zitierte Notiz Brechts nicht kennt, wird man vielleicht keinen direkten Zusammenhang zwischen den großen Arbeiten vermuten. Indessen lohnt ein Vergleich, den wir im folgenden [sic!] skizzieren wollen.64

Dabei gibt Hecht zu, dass es ohne die Notiz gar keinen besonderen Anlass gebe, die Texte zu vergleichen. So scheint es, wie White anmerkt, außer einer allgemeinen Ähnlichkeit, die in allen theoretischen Schriften Brechts vorhanden ist – einer ähnlichen Auswahl an gewissen Themen, einer ähnlichen Verwendung gewisser Begriffe, der Tatsache, dass seine theoretischen Schriften überwiegend das Theater zum Gegenstand haben – tatsächlich mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten 60

Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. In: BFA 24, S. 74–84, hier: S. 78 f. 61 Diese Komplexität wird von Müller-Schöll feinfühlig untersucht in: Nikolaus Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld 2002, S. 281–295. 62 Journaleintrag vom 18. August 1948. In: AJ 2, S. 835; vgl. u. a. Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 121; Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 48; Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 33. 63 Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 35. 64 Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 122.

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zwischen den beiden Texten zu geben.65 Das hält Hecht nicht davon ab, vier Seiten seiner Arbeit mit einem Vergleich zu verbringen, „um den engeren Zusammenhang der beiden großen theoretischen Schriften nachzuweisen.“66 Er beendet jedoch seine Diskussion mit der Anmerkung, dass zwei Einschränkungen gemacht werden müssen: Einmal ist der Messingkauf nicht fertiggestellt worden. Es bleibt also offen, inwieweit bestimmte Themen, die im Kleinen Organon neu auftauchen, von den vier Gesprächspartnern noch diskutiert werden sollten. Zum anderen schrieb Brecht das Kleine Organon sechs Jahre nach den meisten Dialogen des Messingkaufs. [. . . ] Wenn er das Kleine Organon eine „kurze Zusammenfassung des Messingkaufs“ nannte und, wie wir sahen, auch die wichtigsten Themen übernahm, so hat er den früheren Dialog zweifellos nicht als „Vorlage“ benutzt. Es handelt sich um eine Zusammenfassung aus der Erinnerung.67

Oder in anderen Worten: Das Kleine Organon ist eigentlich gar keine Zusammenfassung des Messingkaufs. White ist im Vergleich zu Hecht hingegen viel vorsichtiger und warnt davor, Brechts Behauptung für bare Münze zu nehmen:68 „Brecht’s putting on record the idea that Kleines Organon für das Theater [. . . ] was a condensed version of Der Messingkauf shows him now more consciously writing with ‚die Nachgeborenen‘ in mind.“69 Dem folgend bedeutet das, dass Brecht sehr sorgfältig über sein Vermächtnis nachgedacht hat und sich überlegte, wie er seiner Theorie den Anschein der Kontinuität geben konnte. Die wissenschaftliche Unachtsamkeit, Brechts eigene Aussagen über sein Schaffen unkritisch anzunehmen, ist symptomatisch für die Brecht-Forschung insgesamt, die den Autor allzu oft als ersten Interpreten seines eigenen Werkes akzeptiert. Man nehme nur das Zitat „Als ich ‚Das Kapital‘ von Marx las, verstand ich meine Stücke“70 – die Häufigkeit, mit der diese Aussage Brechts herangezogen wird, um Brechts Verhältnis zum Marxismus zu bestimmen, ist erschütternd inflationär. Ebenfalls Anlass zur Sorge bereitet die unkritische Art und Weise, auf die Brechts „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ zitiert werden, als seien sie Teil und Lektüreanleitung des Messingkaufs. Wie in Abschnitt 3.3 ausgeführt werden soll, sind sie jedoch lediglich – zugegebenermaßen sehr interessante – Journaleinträge, die von Hecht sowohl in den Leseausgaben als auch der BFA als Teil des Messingkaufs präsentiert wurden.71 Erst mit der Veröffentlichung der BFA ist kenntlich geworden, in was für einem enormen Umfang Brecht sich mit ästhetischer und Theatertheorie auseinandergesetzt hatte. Merkwürdig angesichts dieser neuen Erkenntnis ist, dass Brecht, der anscheinend sonst keine Bedenken hatte, zu seinen Lebzeiten eine Vielzahl an Stücken und Gedichten zu veröffentlichen, den überwiegenden Teil dieser enormen 65

Vgl. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 182 ff. Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 125. 67 Ebd., S. 125 f. 68 White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 182. 69 Ebd. 70 [Der einzige Zuschauer für meine Stücke]. In: BFA 21, S. 256–257, hier: S. 256. 71 Für eine ausführliche Diskussion der „Nachträge“ sowie die Zugehörigkeit verschiedener Texte zum Messingkauf siehe Abschnitt 3.3. 66

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theoretischen Produktivität für sich (oder für sich und höchstens ein paar seiner Mitarbeiter*innen und Freund*innen) zurückgehalten und nicht veröffentlicht hat. Man kann spekulieren, dass er diese Produktivität zurückgehalten hat, weil er ein systematisches, einheitliches Bild von sich, frei von Widersprüchen zeigen wollte und die Veröffentlichung einem solchen Widerspruch gleichgekommen wäre. Rückblickend stünde dann aber seine Arbeitsweise im Widerspruch zu diesem Wunsch: Hans Bunge spricht von einem „Prinzip des Änderns, des Ändern-Könnens und des Ändern-Wollens“,72 von dem Brechts Schaffen insgesamt geprägt worden sei. Allein die vielen verschiedenen Revisionen und Ausgaben der Maßnahme in den Jahren nach seiner Uraufführung im Jahr 1930 bezeugen dieses Prinzip.73 Und trotz seines offensichtlichen Wunsches, der Nachwelt ein Bild der Kohärenz zu präsentieren, scheint folgende Passage aus dem (auch im Zusammenhang mit dem Messingkauf ) viel zitierten Text „Über experimentelles Theater“ darauf hinzudeuten, dass sich Brecht selbst dieser Tendenz bewusst war: „Ist dieser neue Darstellungsstil nun der neue Stil, ist er eine fertige, überblickbare Technik, das endgültige Resultat aller Experimente? Antwort: Nein. Er ist ein Weg, der, den wir gegangen sind. Die Versuche müssen fortgesetzt werden.“74 Ziel des zweiten Hauptteils dieser Arbeit wird es sein, dem Messingkauf – so disparat und kolossal und intertextuell er sein mag – seine Unabhängigkeit, seine Selbständigkeit, seine Änderbarkeit und sein Recht auf Widerspruch zurückzugeben.

1.1.3 Der Schauplatz Der Großteil der bisherigen Forschung zum Messingkauf fokussiert sich auf den Inhalt des Konvoluts, ohne dabei ein richtiges Augenmerk auf die Schreibweise oder überhaupt den Schauplatz des Sprechens zu richten. Das kann vielerlei Gründe haben. Zum einen könnte es an dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach Kategorisierung liegen: Ist der Messingkauf ein theoretischer oder ein theatralischer Text? Die Zuordnung der Fragmente zu den Schriften zum Theater sowie den „Schriften“Bänden in allen bisherigen Editionen suggeriert bereits vor jeder Lektüre, dass der Messingkauf der Gattung ‚Theorie‘ angehöre. Dazu wird gerne auf Brechts Beschäftigung mit dem Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme von Galileo Galilei, die Anwesenheit der Figur des Philosophen und die Erwähnung 72

Hans-Joachim Bunge: Vorausbemerkungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts. In: Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 4:1–3 (1958), S. 23–30, hier: S. 29; zitiert nach Erdmut Wizisla: Brecht-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 1–12, hier: S. 5. 73 Vgl. beispielsweise die drei verschiedenen Fassungen der Maßnahme (1930, 1931 und 1938), die in der BFA abgedruckt sind (vgl. Die Maßnahme. In: BFA 3, S. 73–125). Für eine ausführlichere Diskussion von Brechts Arbeitsweise siehe Abschnitt 2.1 und Abschnitt 2.2; vgl. auch Seidel, Gerhard: Bertolt Brecht. Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Stuttgart: Akademie-Verlag 1977. 74 Über experimentelles Theater. In: BFA 22.1, S. 540–557, hier: S. 557.

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des „Sokratischen Dialogs“75 in einem Bruchstück um 1945 hingewiesen, um die Nähe seines Versuchs zu den Schriften Platons und somit der Theorie bzw. der Philosophie zu betonen.76 Dies hat zur Folge, dass in wissenschaftlichen Behandlungen, obwohl viele ein Lippenbekenntnis zum außergewöhnlichen Schauplatz des Messingkaufs ablegen, einzelne Passagen des Textes oft herausgerissen und dekontextualisiert werden – vor allem diejenigen des Philosophen –, um dann wiederum so platziert zu werden, als seien sie heilige Sprüche von Brecht selbst. Ein anderes Mal wird der Messingkauf schlicht ‚zusammengefasst‘ wie im ersten Teil von Kims Monographie zu Messingkauf und Kleinem Organon. Kim selbst bemängelt schon 1992 die Tendenz der Forschung, den Text „auf seinen Gehalt hin“ anstatt „auf seine Gestalt und deren Funktion hin zu untersuchen“.77 In seiner Diskussion bezüglich der Form des Messingkaufs schreibt Thiele zudem: Wir müssen den Text [. . . ] als ästhetisches Gebilde verstehen, das inhaltliche Aussagen durch eine besondere Form vermittelt. Wenn auch die besondere Form des „Messingkaufs“ häufiger betont worden ist – Hans Mayer spricht von Brechts „dramatisierter Dramaturgie“ und Günter Hartung sieht, daß dieses Werk zur Theatertheorie selber als ein Theaterstück bzw. als Kunstwerk intendiert ist –, so sind die Konsequenzen doch selten gezogen.78

Aber auch Thiele selbst zieht diese Konsequenzen nicht und entnimmt dem Messingkauf seine vermeintlichen Thesen, um seine Diskussion über den „Zweck der Kunst“ zu unterfüttern, wie Kim das Medium, den Schauplatz, die Form und die Praxis des Textes von dessen Inhalt und Aussagen trennt und separat betrachtet. Der Schauplatz des Messingkaufs ist jedoch mindestens genauso wichtig wie der Inhalt der Gespräche und muss möglichst zusammen mit diesem Inhalt, quasi als Teil des Inhalts betrachtet werden. Es gibt genügend Texte von Brecht, die wie geläufige theoretische Abhandlungen in prosaischer, essayistischer oder pseudowissenschaftlicher Form vorliegen. Wenn es nur um die glatte Darstellung von Thesen ginge, warum wählt Brecht ausgerechnet diese Form? Warum lässt er drei, vier, fünf Figuren auf einer Bühne sprechen? White schreibt zu Recht: „Der Messingkauf attempts to expound, illustrate and perform theory by means of an ingenious presentational strategy largely dictated by the theatrical medium that is at the same time the work’s subject matter.“79 Eine der leitenden Thesen der vorliegenden Arbeit ist, dass der Schauplatz des Sprechens und das Sprechen selbst nicht ohne weiteres zu trennen sind und dass jedes Sprechen vor dem Hintergrund dieses Schauplatzes betrachtet werden muss. Aus diesem Grund wird im zweiten Hauptteil dieser Arbeit die Zusammensetzung der Sprechenden und die Ausgangssituation im Messingkauf 75

BFA 22.2, S. 793. Siehe Abschnitt 5.1 für eine ausführliche Diskussion des Sokrates-Vergleichs und des ‚dialektischen‘ Gesprächs. 77 Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 115. 78 Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 326; Thiele zitiert: Mayer: Brecht in der Geschichte 1971, S. 238; und Günter Hartung: Einleitung in Brechts Ästhetik. In: Germanica Wratislaviensia 22 (1975), S. 71–79, hier: S. 77. 79 White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 240 f. 76

1.1 Forschungsstand

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untersucht. Anschließend werden der Ort des Sprechens und die diskursiven Prozesse, denen dieser Schauplatz ausgesetzt ist, sorgfältig gelesen und ernst genommen. Der Begriff des Schauplatzes kommt im Messingkauf an nur einer Handvoll Stellen vor und wird ziemlich umgangssprachlich – „Kriegsschauplätze“80 – oder im alltäglichen raumzeitlichen Sinne verwendet; ihm wird keine große Bedeutung zugeschrieben. Über Shakespeares Theater sagt der Dramaturg beispielsweise Folgendes: Wenn man dann noch weiß, daß unter offenem Himmel am Tag gespielt wurde (und natürlich auch geprobt!), meist ohne jede Andeutung des Schauplatzes und in größter Nähe der Zuschauer, die auf allen Seiten, auch auf der Bühne saßen, während eine Menge stand und herumging, bekommt man den richtigen Eindruck davon, wie irdisch, unheilig und zauberlos dies alles vor sich ging.81

Und über Piscator heißt es: „In einem andern Stück baute er, auf zwei einander schneidenden Drehbühnen, viele Schauplätze, auf denen mitunter zu gleicher Zeit gespielt wurde.“82 Doch der Begriff erweist sich für die Untersuchung der Konstellation Theorie/Theater, mit der wir es im Messingkauf zu tun haben, und in Anbetracht der etymologischen Verwandtschaft dieser beiden Wörter als auch der Weise, auf die in den Gesprächen des Messingkaufs Aspekte des Theaters am Schauplatz des Theaters – am Schauplatz der Geschichte des Theaters – verhandelt werden, mehr als trefflich. Forschungsbeiträge, die das Wort ‚Schauplatz‘ in ihren Titeln tragen, handeln meistens vom Zusammentreffen verschiedener realer oder abstrakter Größen bzw. Konzepte. Der ‚Schauplatz‘ als deutschsprachiger Begriff kann für eine Art Heterotopie verwendet werden im Sinne einer Stätte, an dem verschiedene Zeiten und Orte zusammentreffen.83 Einige Forschungsbeiträge behandeln deshalb verschiedene historische Begegnungen mit oder an einem Ort, wie z. B. Dietmar Schings’ Schauplatz Gendarmenmarkt 1800–1848: Heinrich von Kleist – Karl Friedrich Schinkel – E. T. A. Hoffmann – Sören Kierkegaard – Adolph Menzel oder Jann M. Witts Die Ostsee. Schauplatz der Geschichte.84 Der ‚Schauplatz‘ kann hingegen auch im theoretischen Sinne verwendet werden, um das Zusammentreffen von Begriffen und Personen zu beschreiben, wie z. B. in Theresia Birkenhauers Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur, im von Marie Luise Angerer und Henry P. Krips herausgegebenen Sammelband Der andere Schauplatz. Psychoana80

BFA 22.2, S. 774. BFA 22.2, S. 732. 82 BFA 22.2, S. 795. 83 Vgl. Thomas Forrer: Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750. Göttingen: Wallstein 2013, S. 34; vgl. auch zum Begriff der Heterotopie: Michel Foucault: Andere Räume. Übers. v. Walter Seitter. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam 1993, S. 34–46. 84 Vgl. Dietmar Schings: Schauplatz Gendarmenmarkt 1800–1848. Heinrich von Kleist – Karl Friedrich Schinkel – E. T. A. Hoffmann – Sören Kierkegaard – Adolph Menzel. Berlin: Vorwerk 8 2010; Jann M. Witt: Die Ostsee. Schauplatz der Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. 81

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lyse, Kultur, Medien85 oder in Rainer Nägeles 2014 erschienenem Buch Der andere Schauplatz. Büchner, Brecht, Artaud, Heiner Müller.86 In seiner 2013 erschienenen Monographie Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750 zeigt Thomas Forrer ausgehend von einer etymologischen Untersuchung des griechischen théatron, das bereits in der Lutherbibel als „Schaw-platz“ übersetzt wird,87 wie der Begriff des Schauplatzes über die Jahrhunderte verschiedenen Verwandlungen unterzogen wurde, sich aber letztendlich vom Begriff der Schaubühne dadurch unterscheidet, dass er zum Ort wird, an dem / von dem aus etwas zu sehen ist[,] und schließlich überhaupt ein Ort [ist], in dem gesehen wird. Das heißt zunächst: der Schauplatz als Ort, der die ersten beiden Positionen des Sehens gestattet oder umfasst, womit sich erneut eine räumliche Heterogenität ankündigt: Als Raum, auf den gesehen wird, ist der Schauplatz auch der Raum, in dem gesehen wird. Weiter aber bezeichnet ‚Schauplatz‘ einen Begriff für alle entsprechenden Plätze des Sehens, wobei sich ein anderer Modus des Sehens ankündigt, der wieder durch das Adverb überhaupt angegeben wird.88

Über das Sehen überhaupt gelangt Forrer zum griechischen Verb théomai, das zur selben Gruppe wie theoria und théatron gehört. Diese Gruppe schließt sich durch das Nomen théa zusammen, das sowohl ‚Schau‘ als auch ‚Ort des Schauens‘ bedeuten kann: „Auch das Verb théaomai bezeichnet zum einen unterschiedliche Arten des (optischen) Sehens, zum anderen aber ein Schauen, das über das Sichtbare hinausgeht, im Sinne des Erkennens, aber auch des Staunens.“89 Im Messingkauf ist das Theater ein Ort, an dem und in dem gesehen wird, ein Ort des Sehens überhaupt, an dem es auch um ein Sehen des Unsichtbaren, des Erkennens geht. Die Dichotomie zwischen Tätigen und Betrachtenden wird aufgehoben, wie in Abschnitt 5.3 gezeigt werden soll, weshalb die auf der Bühne versammelten Figuren allesamt zu Figuren werden, die im Theater sehen und schauen, und gleichzeitig das Theater ansehen und anschauen, während sie darüber hinaus einander ansehen und anschauen. Für Sigrid Weigel sind Schauplätze „topographische Konstellationen von Umbrüchen und Übergängen“,90 „die raum-zeitliche Konstellation der literarischen Szene als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.“91 Der Schauplatz überschreitet in diesem seine Rolle als Ort des physischen Sehens und wird zum „Nicht-Ort“ von

85

Vgl. Birkenhauer: Schauplatz der Sprache. Das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, ˇ Cechov, Genet, Beckett, Müller. Berlin: Vorwerk 8 2005; Marie Luise Angerer und Henry P. Krips (Hg.): Der andere Schauplatz. Psychoanalyse, Kultur, Medien. Wien: Turia + Kant 2001. 86 Vgl. Rainer Nägele: Der andere Schauplatz. Büchner, Brecht, Artaud, Heiner Müller. Frankfurt a. M.: Stroemfeld 2014. 87 Vgl. Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 34 f. 88 Ebd., S. 35 f. 89 Ebd., S. 36 f.; vgl. auch Hermann Menge: Langenscheidts Großwörterbuch AltgriechischDeutsch. Berlin/München: Langenscheidt 2001, S. 326. 90 Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 39. 91 Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. München 2004, S. 7, 63; vgl. auch Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 39.

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„Verräumlichung und Verzeitlichung, von Übersehen und Erinnern“,92 an dem bei Weigel vor allem die „Vor- und Nachgeschichte von Begriffen, Theorien und Konzepten“ verhandelt werden.93 Freddie Rokem begreift den Messingkauf als brechtsches Pendant zum Passagenwerk, Walter Benjamins größte Schauplatz-Untersuchung: „Brecht had his Messingkauf Dialogues, his uncompleted magnum opus, as Benjamin had his PassagenWerk.“94 Rokem weist u. a. auf Benjamins Begriff der „Konstellation“ hin, den er in Brechts „P-Typus“, dem Planetarium widergespiegelt sieht.95 Aber das, was die beiden Projekte für Rokem vor allem verbindet, ist ihre gemeinsame Herangehensweise an ihr jeweiliges diskursives Geflecht: Brecht’s unfinished Messingkauf Dialogues were an attempt to cross the border between the two discursive practices by theatricalizing philosophical thinking. Benjamin’s likewise unfinished Arcades Project (Das Passagen-Werk) contains a similar desire, but was conceived from the opposite direction, exploring the performative dimensions of philosophical thinking.96

Was Rokem hier beschreibt, scheint auf den ersten Blick wieder etwas mit Weigels Verständnis vom Schauplatz als Konstellation des Zusammentreffens verschiedener Konzepte, Begriffe und Diskurse zu tun zu haben, was in beiden Fällen stimmt. Weigel beschreibt Benjamins Passagenwerk als „eine[e] Kulturgeschichte der Moderne, die zeitliche Beziehung zwischen Vergangenem und Gegenwart durch eine bildliche ersetz[t] [. . . ].“97 In Benjamins monumentalem Projekt werden die Spuren des Vergangenen in der „Jetztzeit“, einer Zeit des Umbruchs, anhand von Objekten, Orten und deren photographische Abbilder lesbar.98 Dieses heterotopische Zusammentreffen des Vergangenem mit der Jetztzeit ereignet sich an verschiedenen Pariser Schauplätzen, vor allem in den Passagen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts größtenteils abgerissen wurden und deshalb für Benjamin als Blick ins 19. Jahrhundert so interessant waren. Obwohl Brecht in seinem Messingkauf -Projekt keineswegs einem ähnlich durchdachten Verfahren folgt wie Benjamin in seinem Passagenwerk, werden an den verschiedenen Schauplätzen des Theaters, die im Messingkauf zur Darstellung kommen – z. B. an denen der Einfühlung, des Naturalismus, der vierten Wand, der Figur, des Realismus usw. – und in den Verhandlungen derselben die Anfänge und die Entwicklung des „bürgerlichen“ Theaters in ihrer jetztzeitlichen Form (zur Zeit der Niederschrift des Messingkaufs), aber auch die Vergangenheit und Zukunft eines anderen Theaters sichtbar. Das Zusammentreffen und -spiel dieser verschie92

Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 39. Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte 2004, S. 64; vgl. auch Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 39. 94 Freddie Rokem: Philosophers and Thespians. Thinking Performance. Stanford: Stanford University Press 2010, S. 121. 95 Rokem: Philosophers and Thespians 2010, S. 143; vgl. BFA 22.2, S. 695, 719. 96 Rokem: Philosophers and Thespians 2010, S. 9 f. 97 Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte 2004, S. 32. 98 Vgl. z. B. ebd., S. 41 f. 93

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denen Momente an diesen verschiedenen Schauplätzen und ihr Zusammenkommen am übergeordneten Schauplatz des Theaters überhaupt ist der Grund, weshalb der Begriff des Schauplatzes einer der leitenden Begriffe dieser Arbeit sein wird. Für unsere Zwecke ist eine letzte Anmerkung Weigels von großem Interesse: Im Unterschied zu Entwicklungserzählungen machen Schauplätze die Momente der Entstehung und die Spuren der vorausgegangenen Verhandlungen sichtbar. Sie sind nichts Gegebenes, sondern ergeben sich aus der Einstellung – im buchstäblichsten Sinne. Denn eine Einstellung auf Schauplätze richtet den Blick ebenso auf das Personal, das sich auf der Bühne bewegt, wie auf dasjenige, was der Szene vorausgegangen ist und was in den Kulissen bleibt, und auch auf die Techniken, die das Geschehen auf der Bühne ermöglichen.99

Hier unterscheidet Weigel explizit zwischen Schauplätzen und linearen „Entwicklungserzählungen“. Forrer geht ebenfalls auf dieses Moment des Schauplatzes ein und weist auf Aristoteles’ Verteidigung des Dramas gegen Platon hin. Hier wird zugunsten der Linearität und Erkennbarkeit der mythos die räumliche Dimension des Theaters – „[d]as Brüchige, Multiple und räumliche Verteilte“ – unterschlagen: „Der Schauplatz [. . . ], als Ort des Sehens und In-Szene-Setzens erweist sich in dieser Unterscheidung als das räumliche und sichtbare Pendant zu einer linear strukturierenden Geschichte.“100 Das „Personal“ des Messingkaufs – die sich auf der Bühne befindenden Figuren –, bespricht ebenso das, was seiner Szene vorausgegangen ist, als auch das, was in den Kulissen bleibt, während sie die Techniken, die das Geschehen auf der Bühne ermöglichen, diskutieren, und diese Techniken durch ihre Anwesenheit auf der Bühne, am Schauplatz des Geschehens zur Schau gestellt werden. Im Messingkauf findet keine ‚Neuschreibung‘ der Theatergeschichte statt, sondern eine Neulektüre und Neuverhandlung dessen, was bereits vorhanden war, was der Szene vorausgegangen ist und was sich in den Kulissen noch verbirgt – Kulissen, die durch den Bühnenarbeiter abgebaut werden.101 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ermöglicht es der Schauplatz des Messingkaufs letztendlich, eine Theorie und nichtlineare Geschichte des Theaters spielend darzustellen, die verschiedene Zeiten und Orte und verschiedene Positionen, Konzepte, Meinungen und Widersprüche in ihrem Widerspruch zueinander zusammenzubringen. In dieser Arbeit soll eine Bewegung aufgezeigt werden, die am besten beschrieben wird als ‚Theater gegen den Strich lesen‘. Bis zum Ende soll deutlich geworden sein, dass der Schauplatz des Messingkaufs sowie die an ihm verhandelte Schauplätze und folglich die Bewegung, die sich an diesem Schauplatz vollzieht, dazu führen, dass der Messingkauf sich weigert, als Totalität oder Sammlung endgültiger Aussagen wahrgenommen zu werden. Vielmehr fußt diese Ansammlung an Texten in der Unterbrechung und der Fragmentierung, was die Errichtung eines absoluten Theoriegebäudes von Grund auf verhindert und immer schon verhindert haben wird. 99

Ebd., S. 7, meine Hervorhebung. Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 38. 101 Siehe Abschnitt 5.3 für eine ausführliche Diskussion der Figur des abbauenden Bühnenarbeiters sowie Abschnitt 7.2 für eine nähere Betrachtung des Vorgangs des „Abbaus“ im Messingkauf. 100

1.2 Methodologische Vorbemerkungen

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1.2 Methodologische Vorbemerkungen Da der Messingkauf in keiner vollständig von Brecht autorisierten Version vorliegt, bietet dessen Analyse – wie die Arbeit an jedem Fragment – einige methodologische Schwierigkeiten. Deshalb sind einige für die Methode der Untersuchung wichtige Entscheidungen im Vorfeld getroffen worden, die es jetzt zu erläutern und zu erklären gilt. Beispielsweise werden im ersten Teil der Arbeit, wie bereits angekündigt, die Problematiken der verschiedenen Editionen des Messingkaufs diskutiert. Da ich jedoch für die wissenschaftliche Diskussion des Messingkaufs im Sinne des Themas der hier vorliegenden Arbeit die Verwendung der Archivbestände als wenig sinnvoll erachte, weil dadurch Nachvollzug und Überprüfung der Argumentation nur durch einen Besuch im Bertolt-Brecht-Archiv möglich wären, wird hier die BFA-Edition des Messingkaufs als Zitationsbasis verwendet. Um eine „intentional fallacy“ zu vermeiden,102 wird in dieser Arbeit möglichst auf Brechts eigene Aussagen sein Werk betreffend als Lektüreanleitung verzichtet. Solcherlei Aussagen und das vermeintliche Wissen darüber, was Brecht bei der Niederschrift des Messingkaufs intendiert habe oder nicht, liegen bereits existierenden Rekonstruktionen und Interpretationen zugrunde. Aufgrund der großen Zweifelhaftigkeit derartig verfahrender Methodologien wird knapp die erste Hälfte dieser Arbeit aus einer ausführlichen Geschichtsschreibung der Entstehung und der Wirkungs- und Publikationsgeschichte des Messingkaufs bestehen. Dies soll Platz für das Bestreben machen, den Messingkauf beim eigenen Wort zu nehmen. In diesem Bestreben schließt die Arbeit an neuere Ansätze der Brecht-Forschung zum „anderen Brecht“ an, wie die Titel der beiden Ausgaben des Brecht-Jahrbuchs aus der Mitte der 1990er hießen,103 vorgebracht von Wissenschaftler*innen wie u. a. Steve Giles, Loren Kruger, Hans-Thies Lehmann, Helmut Lethen, Jan Knopf, Müller-Schöll, Rainer Nägele, Freddie Rokem, Marc Silberman, Judith Wilke, Susanne Winnacker oder Andrzej Wirth. Diese neueren Brecht-Ansätze haben größtenteils Brechts Text-Experimente zwischen 1926 und 1933 untersucht, wohingegen jüngere und jüngste Arbeiten darauf hindeuten, dass es noch zu erforschen bleibt, was aus den vielbeschriebenen und -zitierten Ansätzen des frühen Brecht wurde, nachdem er emigrieren musste, also in der Zeit nach 1933. Gerade der Messingkauf, der in dieser Phase des Exils begonnen wurde und zum Zeitpunkt von Brechts Tod noch nicht vollendet war, ist ein Text, an dem diese Frage, wenn schon nicht beantwortet, dann zumindest doch weiterverfolgt werden kann. Was die neueren Forschungsansätze aber im Wesentlichen ausmacht, ist der Versuch, Brecht anders – und überhaupt wieder – zu lesen.104 102

Vgl. William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington: University of Kentucky Press 1954. 103 Vgl. Das Brecht Jahrbuch 17 (1992); und Das Brecht-Jahrbuch 18 (1993). 104 So hieß es im Ausschreibungstext für das Symposium „Der andere Brecht“ von 1991: „Unverführt durch den Fetisch der Signatur, den Mythos von den Sinneinheiten der Texte, sollen partielle, auch tangentiale Lektüren diesen anderen Brecht zu lesen geben.“ (Symposium Ausschreibung „Der andere Brecht“. In: Communications from the International Brecht Society 20:1/2 (1991), S. 12. Erneut abgedruckt in: Das Brecht-Jahrbuch 17 (1992), S. 14.)

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Dennoch soll der Messingkauf nicht bei jedem einzelnen Wort genommen werden. Die Arbeit beansprucht bei ihrer Analyse und Deutung keine Zeile-für-Zeile-, Blatt-für-Blatt-Exegese des Fragments als Ganzes. Von Anfang an stellte die wissenschaftliche Darstellung des Messingkaufs eine große Herausforderung dar, und dass in der vorliegenden Arbeit die Schauplätze des „Theaters ohne Zuschauers“, des Materialwerts, der Einfühlung, der vierten Wand, des Schicksals, des Realismus usw. untersucht wurden, während andere Schauplätze wie diejenigen der Leichtigkeit, der Unterhaltung oder des Rausches beiseite gefallen sind, hat vielerlei Gründe. Es wäre eine überschaubarere Aufgabe gewesen, einen brechtschen Begriff auszuwählen – beispielsweise denjenigen der Unterhaltung –, um den historischen Wandel des Begriffs zu dokumentieren und diskutieren. Der Messingkauf umfasst aber derart viele Themen, dass es eine Lebensaufgabe wäre, jeden in ihm vorkommenden, noch so einschlägigen Begriff auf diese Weise zu behandeln – ein solches Vorhaben müsste wahrscheinlich ein weiteres Brecht-Handbuch ergeben, mit dieser Arbeit jedenfalls wäre es nicht zu leisten und ist auch nicht Aufgabe derselben. Des Weiteren gibt es bereits viele Abhandlungen und Texte, in denen Brechts Arbeiten und Schriften auf ihren theaterpraktischen Nutzen hin befragt worden sind. Deshalb werden die theaterpraktischeren Aspekte des Messingkaufs eher in den Hintergrund gerückt. Wenngleich die Verhandlungen des Messingkaufs hier auf eine kleinstteilige Auslegung des Wortes verzichten will, so erkennt sie doch die Notwendigkeit, den Text beim Wort zu nehmen, um ihm seinerseits das Wort (zurück) zu geben. Aus diesem Grund soll weitestgehend versucht werden, den Fokus auf die Messingkauf -internen Diskussionen zu richten. Wie bereits angedeutet und wie noch zu zeigen ist, richtet sich das Interesse der Arbeit auf den Schauplatz des Sprechens und die Schauplätze der Theatergeschichte und -theorie, sowie auf Aspekte der Texte, die ästhetische und philosophische Fragen aufwerfen – die Frage nach dem Menschen und dessen Zusammenleben mit anderen sowie Darstellungen dieses Zusammenlebens und die ethischen Implikationen eben dieser Darstellung. Aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden, das Augenmerk weg vom Was der Darstellung hin zu deren Wie zu richten, da Was und Wie nicht voneinander zu trennen sind. Die Wahl der historisch-theoretischen Schauplätze basierte darauf, dass sie eben diejenigen sind, die im Messingkauf auf sowohl der Ebene des Was als auch derjenigen des Wie verhandelt werden – dass sie die Schauplätze sind, an denen das, was im Messingkauf besprochen wird, auch inszeniert wird. Der Messingkauf selbst ist vielen Gattungen zuzuordnen: Er besteht aus Dialogen, alleinstehenden Aphorismen, Essays, Gedichten, Reden und den sogenannten „Übungsstücken für Schauspieler“. Da sich der mögliche Umfang des Messingkaufs als viel größer als ursprünglich gedacht erwiesen hat, wurden Fragen der Inund Exklusion bei der Auswahl der Themen viel wichtiger als anfangs angenommen. In einer Version der Arbeit gab es keine Diskussion der „Straßenszene“, in einer anderen gab es jeweils ein Kapitel für die Gedichte und die „Übungsstücke für Schauspieler“. Ebenfalls wäre es möglich gewesen, detaillierter auf Brechts andere im Exil geschriebene Texte einzugehen. Der Fragestellung folgend habe ich jedoch versucht, mich, soweit es ging, exklusiv auf den Messingkauf zu konzen-

1.2 Methodologische Vorbemerkungen

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trieren. Wo es sich ergeben hat, bin ich den Fäden zu anderen Texten gefolgt – wie auch zum Fatzer, in dem der ‚Alteisenkauf‘ und das „Pädagogium“ zu finden sind.105 Eine tiefergehende Beschäftigung mit Fatzer oder dem Caesar-Fragment hätte jedoch weitere und letztlich in ihren je eigenen überbordenden Umfänglichkeiten nicht mehr von mir zu schließende Fässer aufgemacht. Alle Textsorten werden im ersten Teil der Arbeit berücksichtigt werden, da sie als wesentliche Bestandteile des Messingkaufs für die Geschichte seiner Entstehung wichtig sind. Dennoch wird das Augenmerk des zweiten Teils auf den dialogischen und prosaischen Texten liegen. Letztendlich habe ich mich auch dafür entschieden, die Gedichte und die „Übungsstücke für Schauspieler“ eher kursorisch als Formmomente zu behandeln, als praktische Versuche Brechts, einige der im Messingkauf verhandelten Themen zu realisieren. Sie werden im zweiten Teil insoweit berücksichtigt, als dass sie zur schwerpunktmäßigen Diskussion beitragen. Es wird jedoch keine lyrische Untersuchung vorgenommen, noch werden die „Übungsstücke für Schauspieler“ im Detail analysiert. Trotz der Versuche, Wiederholungen möglichst auszuschließen, bleibt in dieser Hinsicht anzumerken, dass gewisse Passagen aus dem Messingkauf wiederholt, aber unter verschiedenen Blickwinkeln behandelt werden. Dies lässt sich aufgrund des Textumfangs nicht vermeiden. Darüber hinaus seien an dieser Stelle einige Bemerkungen zur gendergerechten Verwendung der Sprache in der vorliegenden Arbeit erlaubt, denn als Frau, die eine Arbeit über den Text eines kanonischen, weißen, männlichen Schriftstellers schreibt, kann ich diese Problematik nicht ungeachtet lassen, noch dazu da diese Arbeit in einem wissenschaftlichen Kontext steht, dessen Umgebung noch immer weitgehend eine genderungerechte ist. Im Folgenden wird das Gender-Sternchen mit weiblichem Artikel oder Pronomen anstatt des generischen Maskulinum verwendet (z. B. „eine Autor*in“, „die Wissenschaftler*innen“). Das Gender-Sternchen verweist auf sowohl Cis-Männer und Cis-Frauen als auch auf Menschen, die in die binäre, ausschließende Struktur Mann-Frau entweder nicht hineinpassen oder nicht hineinpassen wollen. Es bricht so diese Struktur auf und schafft Raum für weitere Identifikation. Wenn es jedoch im Folgenden um die Diskussion von Zitaten aus den Schriften Brechts oder solchen seiner Zeitgenoss*innen geht, wird hingegen das generische Maskulinum verwendet werden, da für sie in ihrer Zeit eine Gender-Identifikation jenseits des binären Systems nicht vorstellbar gewesen war bzw. keine Rolle gespielt hat oder gar – bewusst oder unbewusst – unterdrückt wurde. Angesichts der Tatsache, dass Brecht die einzige weibliche Figur (die Schauspielerin) ab einem gewissen Zeitpunkt aus dem Messingkauf löscht, wäre es zudem m. E. absurd, in der Deutung seines Textes durchgehend von beispielsweise der „Schauspieler*in“ oder den „Schauspieler*innen“ (oder gar anhand des „Binnen-I“ von der „SchauspielerIn“ oder den „SchauspielerInnen“) zu sprechen. Es ist zudem mehr als auffällig, dass hier ein Mann einen Text über „Theaterleute“ schreibt, wie die allgemeine Formulierung im Personenregister heißt, die jedoch – ungeachtet dessen, dass 105

Für die Diskussion des ‚Alteisenkaufs‘ siehe Abschnitt 5.3; für die Ausführungen zum „Pädagogium“ siehe Abschnitt 5.4.

26

1

Einleitung

Teile seiner eigenen Belegschaft und noch die bekanntesten unter ihnen sogar Frauen waren – ab der zweiten Arbeitsphase alle Männer sind.106 Menschen wie Brecht haben durch das Nicht-Problematisieren (in) der Sprache und konkret im Messingkauf durch die Streichung der einzigen Instanz, die nicht männlich ist, dazu beigetragen, an den Grenzen festzuhalten, statt sie zu verschieben. Aufgrund dessen – und mir ist die Problematik eines solchen Ansatzes durchaus bewusst – übernehme ich in den Diskussionen von Text-Passagen des Messingkaufs das generische Maskulinum und zwar nicht, um die Unsichtbarkeit und Unterdrückung zu verlängern, sondern um dieser Unsichtbarkeit und Unterdrückung Rechnung zu tragen. Eine Sprache, die in dieser Hinsicht eine patriarchale Sprache ist, zu gendern, erscheint mir ungerecht, denn es würde implizieren, dass Brecht explizit auch für die in diesem Sinne durch Sprache unterdrückten und Unsichtbaren geschrieben hat – und das ist mehr als zweifelhaft. Und doch ist jedes Auslassen (und auch jede Verwendung) des Gender-Sternchen immer auch ein Stolperstein, der Rest liegt in der Verantwortung der Leser*in.107 „Es ist [. . . ] falsch, in Fragmenten über das Fragment schreiben zu wollen [. . . ]. Doch was soll man anderes tun?“,108 fragen Philippe Lacoue-Labarthe und JeanLuc Nancy in ihrem Fragment über das Fragment Noli me frangere. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass der Messingkauf ein offener, aktualisierbarer, unfertiger Text ist, während ich jedoch selbst die Lücken seiner Offenheit, seine Aktualisierbarkeit und sein Unfertig-Sein durch mein eigenes Arbeiten schließe. Der Messingkauf ist, wie ich letztendlich behaupten werde, ein Text, der uns nicht erlaubt, mit ihm fertig zu werden, doch die Wissenschaft verlangt von mir, dass ich mit ihm fertig werde oder zumindest so tue, als wäre ich mit dem Messingkauf fertig geworden. Die Geste der Wissenschaft ist ähnlich wie die der Kunst und der Philosophie, die „so und so“ sind, „und damit fertig“, deren Bezüge zum Messingkauf an späterer Stelle Thema dieser Arbeit sein sollen:109 Es gibt einen gewissen Druck, die Sache, in diesem Fall den Messingkauf, als ‚so und so‘ zu bestimmen und das ‚so und so und nicht anders‘ zu begründen. Gerade diese Diskrepanz zwischen fasrigem Gegenstand und fester Beschreibung zeigt, dass der Messingkauf somit nicht nur für Fragen der Darstellung in der ersten Hälfte bzw. der Mitte des 20. Jahrhunderts relevant ist. Diejenigen, die glauben, die Probleme und Themen des Messingkaufs überwunden zu haben, liegen falsch. Denn das, was Brecht in seinem umfassenden Versuch verhandelt, beschreibt weiterhin den Spagat zwischen Offenheit und Totalisierung, die jede Darstellung, die den Anspruch erhebt, eine kritische zu sein – sei sie philosophisch oder künstlerisch, theoretisch oder theatral, oder eben auch wissenschaftlich –, zu bewältigen hat. Und das gilt eben auch für die hier vorliegende Auseinandersetzung. Gerade aufgrund der Brüchigkeit und 106

Zum Verschwinden der Schauspielerin vgl. den Anfang von Abschnitt 5.2. Für ihre Diskussionsbereitschaft und ergiebigen Vorschläge in Bezug auf dieses wichtige Thema bedanke ich mich herzlich bei Linda Schnath. 108 Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy: Noli me frangere. In: Fragment und Totalität. Hg. v. Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 1984, S. 64–76, hier: S. 64. 109 Vgl. Abschnitt 6.2. 107

1.2 Methodologische Vorbemerkungen

27

Nicht-Linearität von Brechts Versuch, erhebt deshalb die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf Endgültigkeit oder Finalität. Diese Arbeit ist nicht für die Ewigkeit geschrieben und bietet lediglich eine Interpretation einer Darstellung einer Theorie des Theaters an, unabschließbar. Diese Arbeit ist nicht das „endgültige Resultat aller Experimente“, sondern ein Weg, den wir gehen werden: „Die Versuche müssen fortgesetzt werden.“110

110

BFA 22.1, S. 557.

I Teil I

2

Entstehungsgeschichte

Da die geringe Forschung zum Messingkauf bisher nur auf Basis den vorliegenden, in vielerlei Hinsicht unzuverlässigen und auf jeden Fall nicht dem Anspruch an kritische Ausgaben entsprechenden Editionen basiert, bieten die folgenden zwei Kapitel einen Überblick über die Entstehungs-, Wirkungs- und Editionsgeschichte des Fragments. Ziel ist es, sowohl eine ausführlichere Darstellung von Brechts Arbeitsprozess am Text zur Verfügung zu stellen als auch eine Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte von sowohl der Bühnenfassung am Berliner Ensemble als auch den verschiedenen Editionen zu liefern – inklusive der von Brecht selbst autorisierten Veröffentlichungen in Theaterarbeit und den Versuchen. Dadurch soll im Verlauf der weiteren Arbeit ein differenzierteres Bild vom Messingkauf gezeichnet werden als das bisher hauptsächlich durch Hecht geprägte, wodurch letztlich der Nachvollzug der Argumentation erleichtert werden soll. Bevor wir zur Editionsanalyse übergehen, soll dieses Kapitel eine historische Rekonstruktion der Entstehung des Textes bieten, um Brechts Arbeitsbedingungen und -schwierigkeiten während der Arbeit am Messingkauf nachvollziehbar zu machen. Denn der Messingkauf ist weder in einem Zug noch in einem Vakuum entstanden, sondern stellt ausnahmslos Brechts längste kontinuierliche Arbeit an einem einzigen Projekt dar. Es zeugt darüber hinaus von einem sehr fragmentierten, durch viele Unterbrechungen geprägten und zum Teil sporadischen Arbeiten, was die schwierigen Lebensumstände des Exils widerspiegelt. Das Kapitel kann und will keine biographische oder gar psychologische Antwort auf die Frage bieten, warum Brecht mit dem Messingkauf nicht fertig wurde. Dennoch wird im Bestreben, den Messingkauf als Exil-Text ernst zu nehmen, darüber spekuliert, ob das Ende des Großteils der Arbeit möglicherweise mit dem Ende von Brechts Exil zusammenhängt. Dieses Kapitel orientiert sich an den vier Arbeitsphasen, die von den Herausgeber*innen der Großen Berliner und Frankfurter Edition des Messingkaufs – Hecht und Inge Gellert – auf Basis der Überlieferungsformen der Texte und Einträge in den Journalen ermittelt wurden:1 1939–1941, 1942/1943, um 1945 und 1948–1955. Dabei wird jedoch die Frage gestellt, ob der durch die Herausgeber*innen für die 1

Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993. In: BFA 22.2, S. 1110.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_2

31

32

2

Entstehungsgeschichte

vierte Arbeitsphase ermittelte Zeitraum wirklich stimmt. In diesem Kapitel wird – ergänzt durch das sich anschließende Kapitel zur Edition und Überlieferung des Messingkaufs – zudem der Versuch unternommen, zu bestimmen, was zum Messingkauf gehört und was nicht, um einer Beantwortung folgender Frage näher zu kommen: Was eigentlich ist der Messingkauf ?

2.1 Historische Eckdaten 2.1.1 Erste Arbeitsphase 1939–1941 Die erstmalige Erwähnung des Messingkaufs im Journal Brechts erfolgt in einem Eintrag vom 12. Februar 1939, in dem Brecht schreibt: viel theorie in dialogform DER MESSINGKAUF (angestiftet zu dieser form von galileis DIALOGEN). vier nächte. der philosoph besteht auf dem p-typ (planetariumtyp, statt k-typ, karusseltyp), theater nur für lehrzwecke, einfach die bewegungen der menschen (auch der gemüter der menschen) zum studium modelliert, das funktionieren der gesellschaftlichen beziehungen gezeigt, damit die gesellschaft eingreifen kann. seine wünsche lösen sich auf in theater, da sie vom theater verwirklicht werden. aus einer kritik des theaters wird neues theater. das ganze einstudierbar gedacht, mit experiment und exerzitium. in der mitte der v-effekt.2

Seine Auseinandersetzung mit der Darstellung der Theorie von Galilei während des Schreibens am Galilei-Stück bildet, wie dem Eintrag zu entnehmen ist, den Ausgangspunkt für diesen Versuch, mit dem sich Brecht im Laufe der nächsten Jahre beschäftigen wird.3 Es entstehen zahlreiche Konzeptionspläne und Übersichtsdarstellungen – im Folgenden „Metatexte“4 –, in denen Brecht vier Nächte vorsieht, die abhängig von dem jeweiligen Metatext jeweils verschiedene Komplexe behandeln.5 Der ungefähre Handlungsablauf ist hingegen in allen Entwürfen konsequent dargestellt: In der ersten Nacht soll die „Begrüßung des Philosophen im Theater“ erfolgen, in der zweiten Nacht soll das Theater in ein „Thaeter“ umgewandelt werden, in der dritten Nacht soll experimentiert werden, und in der vierten Nacht soll die Zurückverwandlung des „Thaeters“ in ein Theater vonstattengehen.6 Im Jahr 1939 entsteht laut BFA-Kommentar der Großteil der Dialoge zwischen dem Philosophen und den Theaterleuten.7 Auf den meisten Blättern des Messingkaufs schreibt Brecht ein „MK1“, „MK2“, „MK3“, „MK4“ oder eine kleingeschriebene Variante davon, um die Zugehörigkeit der Typoskripte zu den Nächten zu 2

Journaleintrag vom 12. Februar 1939. In: AJ 1, S. 37. Für eine ausführlichere Diskussion der Dialogform des Messingkaufs siehe Abschnitt 5.2. 4 Diesen Begriff prägt Giles in: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 3. 5 Vgl. A1–4, A10, A11 & A12. In: BFA 22.2, S. 695–697, 703, 719. Wenn der Text keinen anderen Titel trägt, wie im Falle der Metatexte, wird einfachheitshalber hier und im Folgenden auf die Textsiegel der BFA rekurriert, da in der BFA teilweise mehr als ein solcher Metatext auf einer Seite abgedruckt ist. 6 Vgl. BFA 22.2, S. 695 ff. 7 Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1109. 3

2.1 Historische Eckdaten

33

kennzeichnen; bei einigen Blättern fehlt diese Zuordnung allerdings. In der ersten Arbeitsphase von 1939 bis 1941, während sich Brecht zunächst in Dänemark, dann in Schweden und schließlich in Finnland befindet, entstehen für alle vier der geplanten Nächte Dialoge – ungefähr zwei Mal so viele für die zweite Nacht als für die jeweiligen anderen Nächte – sowie einige Texte und Dialoge ohne Zuordnung zu den Nächten. Die Herausgeber*innen schreiben, dass in der dritten Arbeitsphase um 1945 deutlich erkennbar wird, dass Brecht auch vorhatte, „in größerem Umfang als in den ersten Arbeitsphasen“ Schriften und Gedichte im Messingkauf mit aufzunehmen.8 Die ersten Metatexte beziehen sich teilweise auch auf andere – sowohl vor dem Beginn der Arbeit am Messingkauf als auch während der Konzeption entstandene – Texte, wie beispielsweise im Metatext A2 in der BFA zu sehen ist: Zweite Nacht Die Poetik des Aristoteles / das Emotionenracket / die neuen Stoffe / der Held / K-Typus und P-Typus / Theatralik des Faschismus / die Wissenschaft / Gründung des Thaeters.9

Die Erwähnung von „K-Typus und P-Typus“ bezieht sich auf den schon 1938 entstandenen Text „K-Typus und P-Typus in der Dramatik“,10 der die zwei Darstellungsmodelle – des Planetariumtyps und des Karusselltyps – zu Gunsten des PTyps miteinander vergleicht. Andererseits ist „Theatralik des Faschismus“ wahrscheinlich ein Verweis auf einen im Mai 1939 entstandenen Text mit einem fast identischen Titel („Über die Theatralik des Faschismus“), in dem ein fiktives Gespräch zwischen den Figuren Thomas und Karl über die Theatralisierung der Politik durch den Faschismus imaginiert wird.11 „Die Straßenszene“ (1938),12 „Furcht und Elend“ (entweder das Stück Furcht und Elend des Dritten Reiches, 1937–1938, oder der Aufsatz „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, 1938)13 und „Abstieg der Weigel in den Ruhm“ (erste Fassung 1937)14 sind ebenfalls Beispiele von Texten, die für die Inklusion im Messingkauf vorgesehen waren – ob als theoretische Grundlage oder als „Exerzitien“ oder „Übungen“ bleibt unklar – und vor dem Beginn der Arbeit am Messingkauf entstanden sind. Von diesen Texten hat nur „Abstieg der Weigel in den Ruhm“ seinen Weg in die Messingkauf -Mappen gefunden. Der aus den Metatexten zu entnehmende, beabsichtigte Einschluss dieser Texte im Messingkauf wirft daher erste Probleme bezüglich der Bestimmung dessen auf, was zum Messingkauf gehört und was nicht.

8

Ebd., S. 1116. BFA 22.2, S. 695. 10 Vgl. K-Typus und P-Typus in der Dramatik. In: BFA 22.1, S. 387–389. 11 Vgl. Über die Theatralik des Faschismus. In: BFA 22.1, S. 561–569; für eine ausführlichere Diskussion dieses Textes siehe Abschnitt 6.1. 12 Vgl. Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters. In: BFA 22.1, S. 370–381. 13 Vgl. Furcht und Elend des III. Reiches. 27 Szenen. In: BFA 4, S. 339–455; Furcht und Elend des Dritten Reiches. In: BFA 22.1, S. 472–477. 14 Vgl. BFA 22.2, S. 796 ff., 798 ff. 9

34

2

Entstehungsgeschichte

Brechts Ehefrau Helene Weigel arbeitete im Winter 1940 an einer Schauspielschule in Stockholm. Infolge ihrer praktischen Arbeit mit ihren Schauspielschüler*innen schrieb Brecht Anfang 1940 die sechs „Szenen aus dem Alltagsleben“15 zu einigen Stücken von Shakespeare und einem von Schiller, die später die „Übungsstücke für Schauspieler“ heißen werden. Diese sind im Archiv in derselben Mappe zu finden wie eine in der BFA nicht aufgenommenen Liste mit dem Titel „repertoire der schule“, die folgenden Punkte beinhaltet: repertoire der schule 1) bibelszene 2) shakespearestudium a) hamlet b) romeo und julia 3) eröffnung und erste szene von AUS NICHTS WIRD NICHTS 4) ein hund ging in die küche 5) DIE MUTTER, 5. szene16

Die Liste beinhaltet sowohl zwei der Shakespeare-Parallelszenen als auch das Rundgedicht „Ein Hund ging in die Küche“, ein Volkslied, dessen erste Strophe Brecht schon im Jahr 1922 in Trommeln in der Nacht verwendet und das er später zu den „Übungsstücken für Schauspieler“ zählen wird.17 In derselben Mappe des Bertolt-Brecht-Archivs ist eine Liste namens „übungen für schauspielschulen“ enthalten (siehe Abbildung 2.1), die 25 Übungen umschließt, nummeriert von „a“ bis „y“, inklusive Aufgaben wie „h) fantasieübungen. 3 würfeln um das leben. | einer verliert. dann: alle verlieren“18 oder „r) essen mit sehr grossem besteck. sehr klei-/nem besteck“.19 Es gibt in einer der Metatexte einen Hinweis darauf, dass diese Übungen als Teil des Messingkaufs konzipiert wurden, wie aus dem in der BFA mit „A2“ betitelten Plan zu entnehmen ist, der explizit auf „die übungen“ verweist.20 Eine Suche in der Datenbank des Bertolt-Brecht-Archivs in Berlin ergab, dass es nur zwei Schrift-Komplexe gibt, in denen die Wörter „Übung“ oder „Übungen“ im 15

Vgl. Werner Hecht: Brecht-Chronik 1898–1956. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 596. Auf die Zuordnung der „Übungsstücke“ zur vierten BFA-Arbeitsphase wird in Abschnitt 3.3 eingegangen. Die Schauspielschüler*innen übten eine Szene aus Macbeth gefolgt von einer von Brecht umgeschriebenen, ‚alltäglicheren‘ Fassung, dann wieder die Shakespeare-Version, und schienen Brecht zufolge „stark auf die technik des v-effekts zu reagieren.“ (Journaleintrag vom 14. Januar 1940. In: AJ 1, S. 78.) 16 Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv 154/56. Verweise auf die Archivbestände des Bertolt-Brecht-Archivs werden im Folgenden abgekürzt als: AdK, BBA [Signatur]. 17 Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1116; vgl. die Szene in Trommeln in der Nacht: „KRAGLER tanzt allein: Traab! Traab! Marschmarsch! Summt. Ein Hund ging in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. [. . . ] / [. . . ]. Da nahm der Koch sein Hackebeil / Und schlag den Hund entzwei.“ (Trommeln in der Nacht. In: BFA 1, S. 175–239, hier: 217 f.) 18 AdK, BBA 154/57. 19 AdK, BBA 154/58. 20 Vgl. BFA 22.2, S. 695.

2.1 Historische Eckdaten

35

Abbildung 2.1 „übungen für schauspielschulen“, AdK, BBA 154/57–58; © Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag

Titel vorkommen: Die „Übungen für Schauspielschulen“ und die „Übungsstücke für Schauspieler“. Es liegt also nahe, dass im Metatext „A2“ auf die diskutierten „Übungen für Schauspielschulen“ verwiesen wird. Die Nähe des „repertoirs“ sowie der „übungen für schauspielschulen“ zum Messingkauf demonstriert umso deutlicher den praktischen Aspekt des Projekts: „das ganze einstudierbar gedacht, mit experiment und exerzitium.“21 Bereits am 19. August 1940, etwa zwei Wochen nach der Niederschrift der „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“, in denen Brecht im Journal die bisherigen Ergebnisse der Arbeit am Messingkauf für sich zusammenfasst,22 findet man ebenfalls im Journal folgenden, etwas resignierten Eintrag: im augenblick kann ich nur diese kleinen epigramme schreiben, achtzeiler und jetzt nur noch vierzeiler. den CAESAR nehme ich nicht auf, weil der GUTE MENSCH nicht beendet ist. wenn ich zur abwechslung den MESSINGKAUF aufschlage, ist es mir, als werde 21 22

Journaleintrag vom 12. Februar 1939. In: AJ 1, S. 37. Für eine Diskussion der „Nachträge“ in den Editionen des Messingkaufs siehe Abschnitt 3.3.

36

2

Entstehungsgeschichte

mir eine staubwolke ins gesicht geblasen. wie kann man sich vorstellen, daß dergleichen je wieder sinn bekommt? Das ist keine rhetorische frage. ich müßte es mir vorstellen können.23

Brecht ist nicht in der Lage sich überhaupt vorzustellen, wie die Arbeit weitergehen soll. Obwohl er verschiedene Projekte verfolgt, wird sein Produktionsvermögen durch seine Isolation im Exil eingeschränkt.24 Im Oktober desselben Jahres fasst er den Inhalt der ersten Nacht im Journal zusammen, es kommt aber zu keinen neuen Texten.25 Vier Monate später schreibt Brecht darüber, wie sein Sohn Stefan durch den Messingkauf blättert und sich für den dort dargestellten V-Effekt interessiert, was ein Indiz dafür sein könnte, dass der Text noch nicht völlig in den Hintergrund getreten ist. Im Februar 1941 beschreibt Brecht zudem die „dialektische wendung“ der vierten Nacht und seinen Plan für eine Art Auflösung der Handlung.26 Dennoch ist im Grunde gesehen etwa 18 Monate nach dem Beginn der Arbeit und der produktivsten Arbeitsphase die Arbeit am Messingkauf zunächst vorbei.

2.1.2 Zweite Arbeitsphase 1942/1943 Ungefähr ein Jahr nach der Flucht in die USA fühlt sich Brecht „halbwegs wohl“ in Los Angeles,27 und der Messingkauf wird im August 1942 wieder im Journal erwähnt.28 In der zweiten in der BFA definierten Arbeitsphase von 1942 bis 1943 entstehen jetzt zwei detaillierte Pläne für die erste Nacht, sowie zehn Dialoge von unterschiedlicher Länge inklusive des einzigen ausführlichen, einigermaßen ‚abgeschlossenen‘ Dialogs zur ersten Nacht, der in der BFA das Sigel B115 trägt.29 Dennoch handelt es sich um eine quantitativ unproduktive Phase der Arbeit am Messingkauf. „der plan des philosophen, die kunst für lehrzwecke zu verwerten“ geht nicht auf „in dem plan der künstler, ihr wissen, ihre erfahrung und ihre fragen gesellschaftlicher art in der kunst zu plazieren [sic!],“30 wie Brecht als letztes im Februar 1941 in Finnland geschrieben hatte. Für die vierte Nacht, „Zurückverwandlung des Thaeters in ein Theater“ entsteht während dieser Arbeitsphase kein einziger Dialog, und das Ziel der ursprünglichen Dialog-Pläne fängt an, sich der Niederschrift zu entziehen. Bis auf drei Texte, die handschriftlich mit „Mk, 2“ betitelt und in einer Mappe zu Die Gesichte der Simone Machard enthalten

23

Journaleintrag vom 19. August 1940. In: AJ 1, S. 151. Für eine weitere Diskussion von Brechts kollektiver Arbeitsweise und ihrem Verhältnis zum Exil siehe Abschnitt 2.2. 25 Vgl. Journaleintrag vom 17. Oktober 1940. In: AJ 1, S. 189 f.; vgl. auch Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1113. 26 Journaleintrag vom 25. Februar 1941. In: AJ 1, S. 245. 27 Journaleintrag vom 14. August 1942. In: AJ 2, S. 511. 28 Vgl. „ich arbeite noch am MESSINGKAUF.“ (Journaleintrag vom 14. August 1942. In: AJ 2, S. 511.) 29 Vgl. BFA 22.2, S. 773 ff. 30 Journaleintrag vom 25. Februar 1941. In: AJ 1, S. 245. 24

2.1 Historische Eckdaten

37

sind,31 entstehen in dieser Arbeitsphase lediglich Dialoge und Texte für die erste Nacht. Im September 1943 schreibt Brecht wieder von seiner Unfähigkeit, seine Projekte durchzuführen: was für eine vergeudung, dieses storyentwerfen für die pictures, die große roulette. und vor allem, daß man niemals längere zeitspannen vor sich gesichert sieht, materiell. ich habe den caesarroman nicht beenden können, den tuiroman nicht einmal beginnen. der messingkauf liegt in unordnung.32

Wieder ist die Frustration an seiner Arbeitssituation zu spüren, die Arbeit wird spätestens jetzt erneut fallen gelassen.

2.1.3 Dritte Arbeitsphase um 1945 Von der dritten Arbeitsphase um 1945 sind in den Journaleinträgen keine Zeugnisse zu finden. Die Datierung der dritten Arbeitsphase geht auf einen Verweis von Brecht auf Charles Laughton zurück, mit dem Brecht zu diesem Zeitpunkt Galilei übersetzt,33 sowie auf das von Brecht verwendete amerikanische Papier.34 Diese Phase ist jedoch eine einigermaßen produktive und die quantitativ zweiterfolgreichste seiner Arbeit am Messingkauf, obwohl Brecht nur halb so viele Texte schreibt wie in der ersten Phase. Es werden wieder Texte für alle vier Nächte – die meisten dieser Texte für die vierte Nacht – geschrieben, aber mehr als die Hälfte der Texte findet keine Zuordnung zu einer bestimmten Nacht. Außerdem hat seit der anfänglichen Konzeption ein bemerkenswerter Wandel stattgefunden: Bestanden fast alle Texte der ersten Arbeitsphase aus Dialogen, begleitet von einer Handvoll Fließtexten und einem Gedicht, sind in der dritten Phase nur noch knapp die Hälfte der Texte Dialoge bei einer ähnlichen Anzahl an Fließtexten sowie vier Gedichten. Es ist das letzte Mal, dass Brecht Dialoge für den Messingkauf schreiben wird. Hecht stellt in seinen Anmerkungen zum Messingkauf 1963 fest: [E]s ist unentschieden, ob Brecht eine Auflösung in den Dialog beabsichtigte oder ob sich die ursprüngliche Idee des ‚Messingkaufs‘ nicht immer weiter von dem ersten Plan entfernte. In dem letzten Fall wäre der Begriff des ‚Messingkaufs‘ zu einer Metapher für Beiträge über eine neue Art des Theaterspielens geworden. Dafür spricht die Tatsache, daß Brecht später die Bruchstücke niemals nach einem einheitlichen Plan geordnet hat.35

Zu einem gewissen Teil beharrt Brecht jedoch noch auf der Zuordnung einiger Texte zu bestimmten Nächten und somit auf der anfänglichen Konzeption – sie 31

„Drei früher geschriebene Texte (B120–122), die er vermutlich in dieser Arbeitsphase verwenden will, sind im Material zu dem Stück Die Gesichte der Simone Machard [. . . ] enthalten, das auf 1943 zu datieren ist.“ (Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1115). 32 Journaleintrag vom 5. September 1943. In: AJ 2, S. 617. 33 Vgl. BFA 22.2, S. 814. BFA 150 trägt den Titel „Laughton“. 34 Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1115 f. 35 Werner Hecht: Anmerkungen. In: Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 5. Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1963, S. 299–312, hier: S. 303.

38

2

Entstehungsgeschichte

ist nicht vollkommen verschwunden. Hinzu kommt, dass er – wie eingangs geschildert – auch am Anfang seiner Beschäftigung mit dem Messingkauf vorhatte, nicht-dialogische Texte aufzunehmen, die er aber nie in seine Messingkauf -Mappen steckt, was dafür spricht, dass der Messingkauf von Anfang an eine Art „Metapher für Beiträge über eine neue Art des Theaterspielens“ war.36 So oder so ist der Text schon um 1945 so weit von dem von Brecht angegebenen ursprünglichen Ziel abgekommen, dass schwierig zu bestimmen ist, wo der Messingkauf anfängt und wo er aufhört. Der Text ist ein anderer geworden, vor allem was eine mögliche Gattungszuordnung betrifft.

2.1.4 Vierte Arbeitsphase 1948–1955/1950–1952 Die Geschichte der vierten Arbeitsphase ist hauptsächlich eine Geschichte der Publikation. Im Dezember 1947 zieht Brecht von den USA in die Schweiz und im Oktober 1948 nach Ost-Berlin. In dieser Phase und wieder auf deutschsprachigem Boden publiziert Brecht erstmals Teile des Messingkaufs. In einem Brief an Peter Suhrkamp im Jahr 1948 erzählt Brecht von seiner Absicht, die Reihe der mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 beendeten Versuche fortzusetzen.37 Kurz zuvor ist Brecht mit dem Kleinen Organon für das Theater fertig geworden, das er auf Anraten Weigels als eine programmatische Darstellung seiner Theatertheorie schreibt38 und im Journal als eine „kurze zusammenfassung des MESSINGKAUFS“ bezeichnet.39 In seinem Brief an Suhrkamp sieht er beide Texte für die Publikation in den geplanten sechs Ausgaben der Versuche vor, aber während das Kleine Organon als Ganzes erscheinen soll, beabsichtigt er lediglich die Veröffentlichung von „Versstücke[n] aus ‚Der Messingkauf‘“.40 Die Reihe wird fortgeführt und Brecht entscheidet sich für die Veröffentlichung von fünf der zum größten Teil bereits 1940 geschriebenen Shakespeare-Bearbeitungen, „Szenen aus dem Alltagsleben“, ergänzt um das 1950 geschriebene „Wettkampf des Homer und Hesiod“. Zusammen werden sie 1951 als „Übungsstücke für Schauspieler“ im Heft 11 veröffentlicht mit dem Hinweis, dass sie „dem ‚Messingkauf‘ (26. Versuch) entnommen [sind], einem Viergespräch über eine neue Art Theater zu spielen.“41 Die Herausgeber*innen dazu: „Damit bezeichnet er den Messingkauf erstmals in der Öffentlichkeit als ein ‚Viergespräch‘; von den Gesprächsteilen wird aber nichts publiziert.“42

36

Ebd. Vgl. Brief an Peter Suhrkamp vom September 1948. In: BFA 29, S. 470–471. 38 Vgl. Werner Hecht: Interview mit Helene Weigel. In: Ders.: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 68; zitiert nach White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 181 f. 39 Journaleintrag vom 18. August 1948. In: AJ 2, S. 835. 40 BFA 29, S. 471. 41 Brecht: Übungsstücke für Schauspieler 1951, S. 108. 42 Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1117. 37

2.1 Historische Eckdaten

39

Ein Jahr später erscheinen die sechs „Gedichte und Reden aus ‚Der Messingkauf‘“ im durch das Berliner Ensemble und Weigel herausgegebenen Band Theaterarbeit. Sechs Aufführungen des Berliner Ensembles, in dem der Messingkauf wieder die gleiche Bezeichnung erhält.43 Obwohl die Gedichte und Reden im Inhaltsverzeichnis die kollektive Überschrift „Gedichte und Reden aus ‚Der Messingkauf‘“ tragen,44 sind sie durch den gesamten Band zerstreut, verschiedenen Kapiteln zugeordnet und wirken nicht wie ein zusammenhängender Ausschnitt aus einem größeren Werk. Diese sechs 1951/1952 und ausschließlich zur Veröffentlichung geschriebenen, „ausnahmslos nicht im Zusammenhang dieses Theorie-Dialogs entstanden[en]“45 Gedichte und Reden werden für die Publikation im Heft 14 der Versuche zusätzlich ergänzt um drei weitere Gedichte: zwei davon wurden bereits 1935 geschrieben – „Über alltägliches Theater“ und „Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“46 –, das andere, „Suche nach dem Neuen und Alten“, im Jahr 1952.47 Sie waren ebenfalls Teil von Theaterarbeit, aber dort dem Messingkauf nicht zugeordnet, und werden 1955 mit der Überschrift „Gedichte aus dem Messingkauf“ veröffentlicht. Der Messingkauf wird jetzt gekennzeichnet als ein „Gespräch über neue Aufgaben des Theaters.“48 Wie vielleicht bereits offenbar geworden ist, ist der von den Herausgeber*innen ermittelte Zeitraum der vierten Phase aus vielen Gründen diskussionswürdig. Die vierte Arbeitsphase scheint für die Herausgeber*innen mit der Wiedererwähnung des Messingkaufs im Brief an Suhrkamp anzufangen bzw. scheint für sie die Erwähnung der „Versstücke“ eine neue Phase der Arbeit am Messingkauf zu markieren. Es lässt sich jedoch nicht eindeutig darauf schließen, dass diese Erwähnung auf die Neukonzeption eines zum Messingkauf zugehörigen Gedichtzyklus hinweist, vor allem wenn man die Mehrdeutigkeit der Bezeichnung „Versstücke“ in Betracht zieht: Diese Bezeichnung könnte auf etwas für die Bühne Geschriebenes verweisen („Stück“), das es aber im Messingkauf in der beschriebenen Form („Versstück“) 43

Vgl. Berliner Ensemble und Helene Weigel (Hg.): Theaterarbeit. Sechs Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden: Dresdener Verlag 1952. Die sechs Gedichte sind: „Die Beleuchtung“ (ebd., S. 20, vgl. BFA 22.2, S. 867), „Die Vorhänge“ (ebd., S. 133, vgl. BFA 22.2, S. 867), „Die Gesänge“ (ebd., S. 133, vgl. BFA 22.2, S. 868), „Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Neher“ (ebd., S. 163, vgl. BFA 22.2, S. 853), „Die Requisiten der Weigel“ (ebd., S. 267, vgl. BFA 22.2, S. 869) und „Rede des Dramaturgen“ (ebd., S. 347, vgl. BFA 22.2, S. 856). Mitgewirkt an dieser Veröffentlichung haben Ruth Berlau, Brecht, Claus Hubalek, Peter Palitzsch und Käthe Rülicke. 44 Vgl. Berliner Ensemble und Weigel (Hg.): Theaterarbeit 1952, S. 128. 45 Jan Knopf: Kommentar [1988]. In: BFA 12, S. 347–455, hier: S. 451. 46 Vgl. „Über alltägliches Theater“ (Brecht: Gedichte aus dem Messingkauf 1955, S. 105 ff.; vgl. Berliner Ensemble und Weigel (Hg.): Theaterarbeit 1952, S. 398; vgl. auch BFA 22.2, S. 857 ff.) und „Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“ (Brecht: Gedichte aus dem Messingkauf 1955, S. 108 ff.; vgl. Berliner Ensemble und Weigel (Hg.): Theaterarbeit 1952, S. 404; vgl. auch BFA 22.2, S. 860 ff.). 47 Vgl. „Suche nach dem Neuen und Alten“ (Brecht: Gedichte aus dem Messingkauf 1955, S. 114; vgl. Berliner Ensemble und Weigel (Hg.): Theaterarbeit 1952, S. 349; vgl. auch BFA 22.2, S. 866). 48 Brecht: Gedichte aus dem Messingkauf 1955, S. 104.

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Entstehungsgeschichte

nicht gibt. Darüber hinaus sind schon in den früheren Dialogsequenzen Gedichte enthalten, zum Beispiel „[Mein Zuschauer]“49 und „[Der nur Nachahmende]“.50 Zudem produziert Brecht in dieser Arbeitsphase nur noch ein Übungsstück („Homer und Hesiod“) im Jahr 1950 sowie die Textsammlung um 1951/1952, bestehend aus insgesamt sieben neuen Gedichten. Hinzu kommt, dass die „Übungsstücke für Schauspieler“ in der BFA der vierten Arbeitsphase zugeordnet und 1951 in den Versuchen veröffentlicht werden, entstanden sind sie jedoch bereits 1940 in Schweden. Für ihre Entscheidung, die Publikationsverhandlungen als Teil der Arbeit am Messingkauf zu betrachten, bieten die Herausgeber*innen keine Erklärung außer dieser sehr allgemeinen: Nach den überlieferten Plänen kann keine Idealabfolge der Texte konstruiert werden. Aus diesem Grunde sind sie in der vorliegenden Ausgabe nach den unterscheidbaren Zeiträumen aufgegliedert, in denen sie Brecht geschrieben hat. Eine strenge Chronologie kann dabei nicht hergestellt werden: Die aus einer früheren in eine spätere Arbeitsphase übernommenen Texte sind durch ihre Selektierung zum Bestandteil der neuen Bearbeitungsphase geworden und mußten deshalb dort angeordnet werden.51

Für die Herausgeber*innen scheint also die bloße Publikation sowohl älterer als auch neuer Texte Rechtfertigung genug zu sein, sie einer späteren Arbeitsphase zuzuordnen. So geraten sowohl die bereits 1940 entstandenen „Übungsstücke“ als auch die 1935 entstandenen Gedichte in die vierte Arbeitsphase, wenngleich sie weitaus früher und mitunter unter anderen Bedingungen entstanden sind. Wie in Abschnitt 3.3 zu zeigen sein wird, ist diese Zuordnung relativ willkürlich und nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Brecht im Gegensatz zu beispielsweise Paul Celan, der jedes Detail der Veröffentlichungen seiner Texte selbst autorisierte, meistens nicht mehr an dem Drucklayout seiner Texte beteiligt war. So wurde z. B. auch Brechts konsequente Kleinschreibung in der Publikationsgeschichte seiner Text fast ausschließlich an die normierte Rechtschreibung angepasst.52 Dass Brecht noch aktiv an der Publikationsrevision seiner Messingkauf -Texte mitwirkte, scheint folglich unwahrscheinlich zu sein. Wenn man die Entstehungsgeschichte der Texte konsequent von der Veröffentlichungsgeschichte trennt, umfasst die letzte Arbeitsphase lediglich die Jahre 1950 bis 1952. Die Aufnahme der „Übungsstücke für Schauspieler“ und der zwei 1935 entstandenen Gedichte in der vierten Arbeitsphase der BFA ist irreführend,53 denn die Zuordnung zur Arbeitsphase 1948–1955 verbirgt, dass die Arbeit an diesen Texten viel früher erfolgt ist und impliziert, dass sie tatsächlich in diesem Zeitraum entstanden sind. „Arbeitsphase“ impliziert ‚Arbeit‘: Dass Brecht lediglich darüber nachdenkt, Teile des Messingkaufs zu veröffentlichen 49

Vgl. BFA 22.2, S. 755. Vgl. BFA 22.2, S. 820. 51 Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1118. 52 Vgl. Abschnitt 3.3. 53 Die Gedichte werden sowohl im Band 22.2 als auch im Band 12 der BFA abgedruckt, in letzterem mit dem Titel „Gedichte aus dem Messingkauf “. Die Textgrundlage bilden die Veröffentlichungen in Theaterarbeit und in den Versuchen (vgl. Gedichte aus dem Messingkauf. In: BFA 12, S. 319–331). 50

2.1 Historische Eckdaten

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und tatsächlich auch Teile des Messingkaufs veröffentlicht, rechtfertigt nicht die Dauer der von den Herausgeber*innen ermittelten Arbeitsphase. 1950–1952 ist der letzte Zeitraum, in dem Brecht neues Material ‚für‘ den Messingkauf schreibt, weshalb die Veröffentlichungsgeschichte des Messingkaufs getrennt von dessen Entstehungsgeschichte betrachtet werden sollte. Wie in Abschnitt 2.2 zu zeigen sein wird, scheint es kein Zufall gewesen zu sein, dass der Hauptteil der Arbeit am Messingkauf während des Exils stattfand. Paradox ist, dass Brecht bis zum Ende an der Bestimmung des Messingkaufs als einem Gespräch bzw. Viergespräch festhält, obwohl seine Arbeit an diesem Gespräch schon längst zumindest auf der Strecke geblieben, wenn nicht gar verworfen worden ist. Erneut stellt sich die Frage, ob Brecht die Arbeit an den Dialogen tatsächlich beendet hatte oder noch vorhatte, das Gespräch weiter zu bearbeiten oder gar zu veröffentlichen: Es ergibt wenig Sinn, dem Lesepublikum ein „Viergespräch“ zu versprechen, wenn man nicht vorhat, dieses Gespräch dem Publikum auch zugänglich zu machen. Außerdem werden die veröffentlichten Gedichte, Reden und „Übungsstücke“ immer als „aus dem ‚Messingkauf‘“ stammend dargestellt, als gäbe es irgendwo ein fertiges und unveröffentlichtes Ganzes, aus dem es diese Texte zu entnehmen gälte – als wären sie Ausschnitte aus oder ‚Vorblicke‘ auf ein Ganzes, das bald erscheinen soll. Noch merkwürdiger ist die Tatsache, dass diese „Gedichte und Reden aus dem ‚Messingkauf‘“ zum größten Teil nicht aus dem seit mindestens fünf Jahren schlummernd liegenden Messingkauf entnommen werden, sondern zusätzlich für die Veröffentlichung und knapp davor geschrieben wurden. Der Leser wird mit einer ähnlichen Situation wie derjenigen konfrontiert, die Wilke in ihrer Monographie zum Fatzer-Fragment beschreibt: Die Publikation im Versuche-Heft markiert beinahe schon das Ende einer mehrjährigen Arbeit am Fatzer-Projekt, das somit in zwei Textgestalten zerfällt: das von Brecht autorisierte Bruchstück und den überwiegenden Rest der unveröffentlichten Entwürfe. [. . . ] [D]urch den Verweis auf das noch ausstehende Ganze hat Brecht die publizierten Fatzer-Texte zum Teil eines unvollendeten, abgebrochenen Werkes erklärt, zum Torso, das als solcher für das Ganze steht.54

Aber während es im Falle des Fatzer-Fragments viele Zeugnisse dafür gibt, dass Brecht absichtlich mit der Arbeit aufgehört hat und das Fragment als solches für eine eigentümliche Gattung oder gar ein „Meisterwerk“ gehalten hat,55 sind die Überlieferungszeugnisse für den Messingkauf so gering, dass die Frage danach, was für ein Fragment der Messingkauf tatsächlich sei, beinahe unmöglich zu beantworten bleibt: Ist er ein absichtlich liegen gelassener Text, der wie Fatzer ein

54

Judith Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar. Bielefeld: Aisthesis 1998, S. 12 f. 55 Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt? In: BFA 24, S. 431–432, hier: S. 431 f.; vgl. die Diskussion dieser Passage in Abschnitt 7.3.

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„experiment, ohne realität“ darstellt?56 Oder ist er wie Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ein Text, der durch den Tod seines Autors Fragment geblieben ist? Wenngleich Brecht die Arbeit am Messingkauf nie als fertig deklarierte, hört die Arbeit an den Dialogen nach seiner Rückkehr aus dem Exil fast völlig auf; es entsteht nur noch eine Handvoll Texte, die jedoch nicht zur Vollständigkeit beitragen. Obwohl die Arbeit nicht als abgeschlossen oder abgebrochen beschrieben werden kann, geht sie folglich ab diesem Zeitpunkt de facto nicht mehr vonstatten. Werden Auszügen des Messingkaufs noch bis 1955 veröffentlicht, hört die Arbeit an den Texten im Grunde im Jahr 1952 auf. Beim Einsehen der Archivbestände fällt auf, dass die Arbeit am Messingkauf am Anfang viel geregelter ist als die am Ende: Jedes Blatt in den ersten zwei Mappen ist vornummeriert mit einem getippten „MK,1“ (2,3 oder 4), gefolgt von zwei Leerzeilen und anschließend dem Anfang der Szene. Mit der Zeit nimmt die Anzahl an Blättern zu, deren Zuordnung zu den Nächten entweder nachträglich per Handschrift auf das Blatt geschrieben oder überhaupt handschriftlich niedergeschrieben wird. Bis zum Ende der Arbeit am Messingkauf haben sich die Textgattungen verschoben, der Anteil an Dialogen hat abgenommen zugunsten der Gedichte, Reden und essayistischen Texte. Nichtsdestotrotz bleibt Brechts Vorhaben seiner anfänglichen Konzeption verpflichtet – dem chronologischen Ablauf der vier Nächte –, die im Widerspruch zur ausufernden Realisierung des Projekts zu stehen scheint. Die Einbeziehung anderer Texte war bereits seit der Konzeptualisierung des Messingkaufs offenkundig möglich und gewollt, und stellt an sich bereits die Vorstellung eines vollendeten Werkes infrage, von dem sich der Messingkauf im Laufe seiner Entstehung immer weiter entfernt. Bezüglich der Fragen der Kontinuität und Kohärenz des Messingkaufs muss man sich vor Augen führen, was es bedeutet, 13 Jahre lang an einem Text zu schreiben. Festgehalten werden kann, dass Brechts Arbeit am Messingkauf eine unregelmäßige, von vielen Unterbrechungen geprägte und sich kontinuierlich ausweitende war, von seinen Anfängen ausgehend von der einigermaßen klaren Konzeption einer Unterhaltung zwischen einem Philosophen und einigen Theaterleuten „[i]n einem großen Theater [. . . ] nach der Vorstellung“57 zusammen mit praktischen Beispielen bis hin zu einer Mischung aus verschiedenen Dialog- und Essay-Bruchstücken und veröffentlichten „Übungsstücken“, Reden und Gedichten. Dass es Unstimmigkeiten und Widersprüche im Messingkauf gibt, kann nicht überraschen, vor allem da Brechts Text nie einer endgültigen Korrektur oder Revision unterzogen worden ist. Der Messingkauf stellt somit eine Sammlung fragmentarischer Teilstücke dar, die jeder Versuch auf eine lineare Zusammenstellung der Bruchstücke zwangsläufig verzerrt, was bei der Frage nach der Edition, die sich an diese Überlegungen zwangsläufig anschließt, nicht vergessen werden darf. Bevor wir jedoch zu dieser

56

„das ganze stück, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen für experiment, ohne realität! zur selbstverständigung.“ (AdK, BBA 109/56; zitiert nach Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998, S. 14; vgl. Günter Gläser: Kommentar [1997]. In: BFA 10.2, S. 987–1299, hier: S. 1120.) 57 BFA 22.2, S. 695.

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text

43

Frage übergehen, ist ein weiterer Aspekt der Entstehung des Messingkaufs zu berücksichtigen.

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text Der Messingkauf wird selten im Zusammenhang der Exilliteratur oder des Exils gelesen, obwohl der Großteil der Arbeit an ihm im Exil entstanden ist. In diesem Kapitel gilt es nun, einige Dialoge und Prosa-Passagen zu untersuchen, um die für die Konzeption des Messingkaufs wichtigen Spuren des brechtschen Exils ausfindig zu machen.58 Es geht um Brechts Arbeitsprozess und die äußeren Bedingungen, die die Arbeit im Exil überhaupt kennzeichnen, und um einige (auto-)biographische Aspekte, die im Messingkauf Niederschlag finden. Zunächst ist es deshalb wichtig, die Frage zu stellen, wie Brecht vor und während seines Exils gearbeitet hat. Für Brecht war die Zusammenarbeit mit anderen beinahe Grundvoraussetzung für das Arbeiten überhaupt: „[Z]usammen mit den Zigarren und Kriminalromanen [betrachtete er seine Mitarbeiter*innen] als die für seine Arbeit unentbehrlichen ‚Produktionsmittel.‘“59 Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin, Ruth Berlau aber auch eine Menge anderer weniger bekannte junge Schriftsteller*innen, Theoretiker*innen, Übersetzer*innen und sogar Physiker*innen sind als wichtige Ansporner*innen der brechtschen Arbeit verzeichnet. Mit diesen Mitarbeiter*innen hat er sich stets ausgetauscht und an Texten geschrieben. Brecht ist aufgrund dessen mehrfach des Plagiats oder sogar der Ausbeutung bezichtigt worden,60 doch viele Überlieferungen zeugen von seiner Dankbarkeit diesen Mitarbeiter*innen gegenüber sowie von der schlichten Notwendigkeit, die er gespürt hat, kollektiv zu arbeiten. Als Brecht 1933 zunächst nach Dänemark ins Exil ging, sah es so aus, als hätte sich an diesem kollektiven Arbeitsstil nicht viel geändert. Noch bis 1938 hatte er die Möglichkeit, Reisen ins europäische Ausland zu unternehmen, um Aufführun58

Dieses Teilkapitel basiert auf einem im September 2015 auf dem Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik gehaltenen Vortrag, der in komprimierter Form als Aufsatz vorliegt: Lydia J. White: Inzwischenzeit, Inzwischenraum. Der Messingkauf als kompensatorisches Typoskripten-Theater. In: Jianhua Zhu, Jin Zhao und Michael Szurawitzki (Hg.): Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015. Bd. 9. Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2017, S. 305–309. 59 James K. Lyon: Bertolt Brecht in Amerika. Übers. v. Traute M. Marshall. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 61 f. 60 Vgl. John Fuegi: Brecht & Co. Übers. v. Sebastian Wohlfeil. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997; vgl. dazu auch die Furore um die Veröffentlichung der ersten englischsprachigen Edition von Fuegis Buch, beispielsweise in: John Willett et al.: A Brechtbuster Goes Bust. Scholarly Mistakes, Misquotes, and Malpractices in John Fuegi’s Brecht and Company [Rezension]. In: Das Brecht-Jahrbuch 20 (1995), S. 258–368. Dieser Beitrag enthält neben Willetts solche von James K. Lyon, Siegfried Mews und Hans Christian Nørregaard. Vgl. zudem auch Erika Munk: Brecht and Company: A Review Essay [Rezension]. In: Das Brecht-Jahrbuch 20 (1995), S. 238–247; Gudrun Tabbert-Jones: The Construction of the Sexist and the Exploiter Bertolt Brecht [Rezension]. In: Das Brecht-Jahrbuch 20 (1995), S. 248–257.

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gen zu veranstalten, hatte aber auch einen großen Kreis dänischer Bekanntschaften um sich, der sich mit ihm austauschte und ihm dabei half, seine Werke ins Dänische zu übersetzen als auch zu inszenieren (auf diese Weise kam beispielsweise Berlau in den brechtschen Kreis). Überhaupt bestand die Möglichkeit, seine Stücke an den Theatern in Kopenhagen aufzuführen. Sowohl in Bezug auf seine Arbeitsmöglichkeiten als auch in finanzieller Hinsicht war dieser Zeitraum die stabilste Periode seines Exils. Als jedoch die Nationalsozialisten Anfang 1939 näher rückten, sah Brecht seine eigene und die Sicherheit seiner Familie (und inzwischen auch die von Steffin und Berlau) bedroht und begab sich auf die Flucht nach Schweden.61 Mittlerweile hat sich bei Brecht eine gewisse Isolierung eingeschlichen, die beispielsweise Thema des folgenden Briefes von Benjamin an Theodor W. Adorno ist: Je natürlicher und je spannungsloser mein Umgang mit Brecht im vergangnen Sommer gewesen ist, desto weniger unbekümmert lasse ich ihn diesmal zurück. Denn ich bin befugt, in dieser Kommunikation, die diesmal weit weniger problematisch war als ich es gewohnt war, einen Index seiner wachsenden Isolierung zu sehen. Ich will die banalere Deutung der Tatsache – daß diese Isolierung ihm das Vergnügen an gewissen provokatorischen Finten, zu denen er im Gespräche neigte, herabmindere – nicht ganz ausschließen; authentischer aber ist die, in jener wachsenden Isolierung die Folge der Treue zu dem zu erkennen, was uns gemeinsam ist. Unter den Lebensumständen, die die seinen geworden sind, wird er von dieser Vereinsamung während eines Svendborger Winters gewissermaßen Auge in Auge herausgefordert.62

Diese Situation verschlimmerte sich in den beiden nächsten Exilländern, Schweden und Finnland. Nach sechs Jahren in Dänemark wurden unter anderem die neuen Sprachen zu einer Belastung,63 Weigel hatte so gut wie keine Arbeitsmöglichkeiten, und Brecht hatte das Gefühl, dass seine Insel der Sicherheit immer mehr von den eindringenden Nazi-Truppen gefährdet wurde.64 Prägnante Beweise für diese Angst und dieses zunehmende Gefühl der Isolierung bieten mehrere Journalein-

61

Die Planungen für die Auswanderung nach Schweden begannen interessanterweise bereits vor dem Beginn der Arbeit am Messingkauf. 62 Walter Benjamin: Brief an Theodor W. Adorno vom 4. Oktober 1938. In: Gesammelte Briefe. Bd. 6. 1938–1940. Hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 167–170, hier: S. 168. 63 Vgl. Hecht: Brecht-Chronik 1997, S. 579. 64 Vgl. Strophe 8 des Gedichts „1940“ aus der Steffinschen Sammlung: Auf der Flucht vor meinen Landsleuten bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde, die ich gestern nicht kannten, stellten ein paar Betten in saubere Zimmer. Im Lautsprecher höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland, nach dem nördlichen Eismeer zu, sehe ich noch eine kleine Tür. (Steffinsche Sammlung. In: BFA 12, S. 93–112, hier: S. 98.)

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text

45

träge, zunächst einer vom 8. Juli 1940, fast drei Monate nach dem Umzug nach Finnland im April: es ist verständlich, daß die leute hierzulande ihre landschaft lieben. sie ist so sehr reich und zeigt großes gemischt [sic!]. die fischreichen gewässer und schönbäumigen wälder mit ihrem beeren- und birkengeruch. die ungeheuren sommer, über nacht einbrechend nach unendlichen wintern, eine starke hitze nach einer starken kälte. und wie der tag verschwindet im winter, so verschwindet im sommer die nacht. dann ist die luft so kräftig und wohlschmeckend, daß sie fast allen sättigt. und welch eine musik füllt diesen heiteren himmel! beinahe unaufhörlich geht wind, und da er auf viele verschiedenen pflanzen trifft, gräser, korn, gesträuche und wälder, entsteht ein sanfter, an- und abschwellender wohlklang, der kaum mehr wahrgenommen wird und dennoch immer da ist.65

Diese fast euphorische Passage über die finnische Landschaft, die mit der Beschreibung des „abschwellende[n] wohlklang[s]“ endet, steht im diametralen Gegensatz zur folgenden, knapp über einen Monat später verfassten (und bereits in Abschnitt 2.1.1 im Zusammenhang mit der Entstehung des Messingkaufs zitierten): im augenblick kann ich nur diese kleinen epigramme schreiben, achtzeiler und jetzt nur noch vierzeiler. den CAESAR nehme ich nicht auf, weil der GUTE MENSCH nicht beendet ist. wenn ich zur abwechslung den MESSINGKAUF aufschlage, ist es mir, als werde mir eine staubwolke ins gesicht geblasen. wie kann man sich vorstellen, daß dergleichen je wieder sinn bekommt? das ist keine rhetorische frage. ich müßte es mir vorstellen können. und es handelt sich nicht um hitlers augenblickliche siege, sondern ausschließlich um meine isolierung, was die produktion betrifft. wenn ich morgens die radionachrichten höre, dabei boswells LEBEN JOHNSONS lesend und in die birkenlandschaft mit nebel vom fluß hinausschielend, beginnt der unnatürliche tag nicht mit einem mißklang, sondern mit gar keinem klang. das ist die inzwischenzeit.66

Der „wohlklang“, von dem er im Juli so hochgestimmt schreibt, ist bis August nicht nur ein „mißklang“ geworden, sondern als „gar [kein] klang“ verstummt. Die hier beschriebene Isolierung basiert während des gesamten Exils auf dem Fehlen von den Mitarbeiter*innen, die für seine Arbeit so zentral waren. Sie basiert aber auch beispielsweise auf dem Tod seines Vaters in Augsburg, von dessen Beerdigung er am 20. Mai 1939 im Exil erfährt.67 Auch später treiben die Gefangenschaft und der Tod vieler Bekannter und Freund*innen, wie beispielsweise der Carola Nehers und Benjamins, die Isolation weiter voran. Nur mit Widerwillen entscheidet sich Brecht überhaupt dafür, in die USA zu flüchten, denn er will die Hoffnung auf Europa, auf die Rückkehr zu seinem Theater nicht aufgeben. Am Anfang seines Exils rät er beispielsweise Arnold Zweig, der sich inzwischen in Haifa befindet, nicht „allzu weit zu emigrieren, weil wir in fünf Jahren alle wieder in Deutschland sein [werden]“.68 Dies ist der Grund dafür, dass Brecht und 65

Journaleintrag vom 8. Juli 1940. In: AJ 1, S. 88. Journaleintrag vom 19. August 1940. In: AJ 1, S. 101. 67 Vgl. Hecht: Brecht-Chronik 1997, S. 577. 68 Arnold Zweig: Brief an Bertolt Brecht vom März 1939. In: Hermann Haarmann und Christoph Hesse (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949. Bd. 1. 1933–1936. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 900–903; vgl. Hecht: Brecht-Chronik 1997, S. 567. 66

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Entstehungsgeschichte

seine Familie zusammen mit Berlau und Steffin erst so spät in die USA flüchten.69 In Moskau, auf der Flucht nach Amerika, stirbt Steffin. Brecht trauert ein Jahr lang; es ist nicht nur der Tod einer Geliebten, sondern auch einer Mitarbeiterin: Die Übersiedlung, verknüpft mit dem Verlust meiner engsten Mitarbeiterin, die ungewohnte Windstille und Isolierung von allen Weltaffären, in die ich hier geriet, all das lähmte mich zu einem solchen Grad, daß ich in 6 Monaten tatsächlich nur ein paar Briefe [. . . ] schrieb [. . . ].70

Die Zeit in Amerika lässt das skandinavische Exil dann wie ein Paradies erscheinen: „Im hintersten Finnland war ich nicht so aus der Welt“;71 „[d]ie geistige Isolierung hier ist ungeheuer, im Vergleich zu Hollywood war Svendborg ein Weltzentrum.“72 Diese Ausführungen zur Isolierung sind wichtig für die Art und Weise, auf die Brecht in der sich anschließenden Zeit des Exils arbeiten wird, wodurch sie auch von literaturwissenschaftlichem Interesse sind: Die Isolierung hat einen direkten Einfluss auf die Texte, die Brecht während seiner Exilzeit produziert – ein Umstand, der bis zur Veröffentlichung der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe seiner Werke nicht unbedingt klar war, da die Materialbasis für eine solche Untersuchung fehlte. Im Journal notiert Brecht 1942: „zum erstenmal seit 10 jahren arbeite ich nichts ordentliches, als resultat von alldem und mit den zu erwartenden folgen.“73 James K. Lyon kommentiert jedoch dazu: „‚nichts ordentliches‘ arbeiten heißt bei Brecht, daß er statt der üblichen zwei Dutzend nur an sechs oder acht Projekten arbeitete.“74 Für Brecht kann ‚ordentliches‘ Arbeiten nur stattfinden, wenn es eine reale Möglichkeit gibt, die Stücke auf einer Bühne auszuprobieren: LEBEN DES GALILEI ist technisch ein großer rückschritt, wie FRAU CARRARS GEWEHRE allzu opportunistisch. man müßte das stück vollständig neu schreiben [. . . ]. aber die arbeit, eine lustige arbeit, könnte nur in einem praktikum gemacht werden, im kontakt mit einer bühne.75

Diese Bühne fehlt natürlich, und deshalb eine der nötigen Grundvoraussetzungen für das brechtsche Arbeiten. Hinzu kommt die Unmöglichkeit des Aufführens überhaupt: So schreibt Franz Carl Weiskopf zur Situation der exilierten deutschsprachigen Autor*innen in der ersten Monographie zur deutschen Exilliteratur:

69

Vgl. Lyon: Bertolt Brecht in Amerika 1984, S. 20. Brief an Hoffman Reynolds Hays vom Januar 1942; zitiert nach Lyon: Bertolt Brecht in Amerika 1984. S. 64. Dieser Brief befindet sich leider nicht in der BFA-Zusammenstellung von Brechts Briefen. 71 Brief an Karl Korsch vom Ende September 1941. In: BFA 29, S. 215; vgl. auch Lyon: Bertolt Brecht in Amerika 1984, S. 66. 72 Brief an Karl Korsch vom Oktober 1942. In: BFA 29, S. 253–254, hier: S. 254; vgl. auch Lyon: Bertolt Brecht in Amerika 1984, S. 66. 73 Journaleintrag vom 21. April 1942. In: AJ 1, S. 422. 74 Lyon: Bertolt Brecht in Amerika 1984, S. 60. 75 Journaleintrag vom 25. Februar 1939. In: AJ 1, S. 41. 70

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text

47

Es kostete unendliche Mühe, ein deutsches Buch in der Fremde zu verlegen, aber um wieviel mehr Schwierigkeiten waren zu überwinden, bevor eine deutsche Theateraufführung im Exil zustande kam! [. . . ]. Für eine Aufführung [. . . ] brauchte man das Publikum auf einem Fleck und zur gleichen Zeit, und das war unter den Bedingungen des Exils fast niemals zu erzielen [. . . ].76

Während die Anzahl an ‚praktischen‘ Stücken, an denen Brecht arbeitete, abnahm, wuchs die Anzahl der Texte, die das Theater ‚theoretisch‘ behandelten. Mit dieser Aussage und in diesem Zusammenhang soll keinesfalls eine einfache Binarität im brechtschen Œuvre zwischen ‚Stück‘ und ‚Theorie‘ behauptet werden: Wissenschaftler*innen wie u. a. Lehmann, Müller-Schöll, Wilke und Susanne Winnacker haben bereits wiederholt aufgezeigt, inwiefern Brechts Theaterpraxis, vor allem der Lehrstückphase Ende der 1920er und bis zu seinem Exil, als Theoriepraxis, als szenisches Denken verstanden werden muss.77 Für Brecht sollte, vor allem zu dieser seiner Zeit, wie Lehmann 2008 schreibt, „dem Denken direkt Zugang zur Bühne gewährt [werden], das mithin gegen das klassische Dogma des Denkens, das sich im Theater verhüllen muss, verstößt. [. . . ] Theater soll hier Szene und sprachlich-rhythmisch skandierter Denkprozess in eines sein.“78 Letztendlich wird in der vorliegenden Arbeit eine ähnliche These ebenfalls für den Messingkauf aufgestellt werden.79 Dennoch gilt, vergleicht man die drei Bände der „Schriften“ in der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe, dass sich die Anzahl der von Brecht produzierten theoretischen Schriften über das Theater während der Exilzeit verdoppelt.80 Diese Schriften sind größtenteils ziemlich herkömmliche, lineare theoretische Abhandlungen. Einer dieser Texte jedoch – an der Schwelle zwischen Theater und Theorie – ist der Messingkauf, an dem Brecht immer wieder während der Exilzeit arbeitete. Dennoch gab er die Arbeit an diesem Text nach der Arbeitsphase um 1945 beinahe völlig auf. Warum? Ist der Messingkauf ein Text, der nur im Exil entstehen konnte? Warum finden wir im Messingkauf immer wieder kleine, im Präteritum erzählte Passagen, die (auto-)biographisch den Werdegang eines gewissen „Augsburgers“ dokumentieren? Und warum wird im Messingkauf die Exil-Thematik so gut wie völlig ausgeblendet?

76

Franz Carl Weiskopf: Unter fremden Himmel. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933–1947. Berlin: Dietz 1948, S. 27. Maria Teresa Sciacca untersucht in ihrer Monographie ebenfalls die Bedingungen des Exils und seine Auswirkungen auf das Theatermachen im Fall von Friedrich Wolf (vgl. Maria Teresa Sciacca: Theater ohne Publikum. Literatur am Beispiel Friedrich Wolfs. Berlin: Neofelis 2015). 77 Vgl. z. B. Hans-Thies Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer. Anmerkungen zu einer alten Frage. In: Études Germaniques 250 (2008), S. 261–271; Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002; Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998; Susanne Winnacker: „Wer immer es ist, den ihr hier sucht, ich bin es nicht“. Zur Dramaturgie der Abwesenheit in Bertolt Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“. Frankfurt a. M.: Lang 1997. 78 Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer 2008, S. 268. 79 Vgl. Abschnitt 7.3. 80 Die Schriften, die zwischen 1914 und 1933 vor dem Exil verfasst wurden, umfassen in der BFA 588 Seiten, die zwischen 1933 und dem Ende des Exils im Jahr 1948 974 Seiten, die Schriften nach dem Exil zwischen 1948 und 1956 315 Seiten (vgl. Bde. 21, 22 und 23 der BFA).

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Entstehungsgeschichte

Betrachten wir den zitierten Journaleintrag, der mit der Erwähnung der „Inzwischenzeit“ endet, fällt zunächst auf, dass der Messingkauf an einem zeitlich ähnlichen Schauplatz stattfindet: „In ein großes Theater ist nach der Vorstellung ein Philosoph gekommen, um sich mit den Theaterleuten zu unterhalten.“81 Das Gespräch findet also nach der Vorstellung statt, was wiederum bedeutet, dass es vor einer anderen Vorstellung oder einer anderen Art von Vorstellung stattfindet. So heißt es in der dritten Arbeitsphase: DER DRAMATURG mit einem Blick auf den Buhnenarbeiter: Wir müssen unsern Freund auch bitten, die Kulissen nicht allzu rasch abzubauen, da sonst zuviel Staub aufgewirbelt wird. DER ARBEITER Ich baue ganz gemächlich ab. Aber weg müssen die Dinger, denn morgen wird etwas Neues probiert.82

Das Gespräch findet also ebenfalls in einer Art Inzwischenzeit statt, fast in einer Pause: Es ist das Ende von Etwas und das Warten auf etwas Neues. Das Wegtragen der Requisiten der letzten Aufführung und der Abbau der Kulissen deuten zudem auf eine Leere hin, die sowohl einen Mangel darstellt als auch ein Potential birgt. So ist Brechts Zeit im Exil auch eine Art von Pause – eine Pause in seiner Produktion, ein dynamischer Stillstand des Weltgeschehens, ein Warten auf die Rückkehr, eine Zeit, in der nichts gewiss ist. Brechts Exilländer stellen gleichzeitig ebensolche ‚Inzwischenräume‘ dar – zwischen zwei Deutschlands, einem nazifizierten und einem erhofften entnazifizierten, das es Brecht ermöglichen wird, wieder heimzukehren. Die Bühne des Messingkaufs stellt einen zweifachen Inzwischenraum dar, zum einen als konkrete Bühne, die ja zwischen dem Zuschauerraum und den Kulissen situiert ist, zum anderen als undefinierter Ort. Es werden keine konkreten Angaben dazu gemacht, wann oder wo dieses Theater ist. In der „Rede über die Unwissenheit“ aus der ersten Arbeitsphase wird jedoch impliziert, dass das Theater sich auf eine Insel an einem Exil-Ort (aus Sicht des Philosophen) befindet: „Jedesmal, wenn ich von dieser Insel wegfahre, fürchte ich, daß das Schiff im Sturm untergehen könnte. Aber ich fürchte eigentlich nicht das Meer, sondern die mich unter Umständen auffischen.“83 Eine kurze Besprechung von Furcht und Elend des dritten Reiches aus der dritten Arbeitsphase, in der der Dramaturg von einer „vor den Horden des Anstreichers geflohen[en]“ Schauspieltruppe von exilierten Deutschen berichtet,84 verstärkt den Eindruck, dass dieses Theater auch in der späteren Konzeption an einem Exil-Ort liegt oder vielleicht sogar ortlos ist. Es wird in demselben Dialog impliziert, dass der Philosoph ein Deutscher ist und dass die Theaterleute woanders herkommen:

81

BFA 22.2, S. 695. BFA 22.2, S. 773. 83 BFA 22.2, S. 710. 84 BFA 22.2, S. 799. 82

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text

49

DER DRAMATURG Das Stück, das sie aufführten, hieß ‚Furcht und Elend des Dritten Reiches‘. Man sagte mir, es bestehe aus kleinen Stücken, sie führten davon sieben oder acht auf. Diese Stücke zeigten, wie sich die Menschen in deiner Heimat unter der Stahlrute des Anstreichers verhalten.85

Während Brechts sonstige Theaterstücke immer einen ziemlich eindeutigen räumlichen und zeitlichen Schauplatz erhalten – z. B. China, Italien oder Deutschland; das 16. Jahrhundert, den dreißigjährige Krieg, 1927 –, ist es auffällig, dass der Messingkauf an keinem solchen klaren Schauplatz stattfindet. Dies könnte einerseits auf das oft örtlich unbestimmte Wesen theoretischer Texte hinweisen, andererseits könnte es Brechts eigene Erfahrung örtlicher und zeitlicher Dislozierung widerspiegeln. Es ist ein Inzwischen, das als Spur im Schauplatz des Messingkaufs Eingang zu finden scheint. Aber wo sind andere Spuren des Exils im Messingkauf zu finden? Die Dialoge dieses langen Gesprächs über das Theater finden im dramatischen Präsens statt. Dennoch gibt es immer wieder kleine im Präteritum verfasste Passagen, die von Vergangenem erzählen. Solche Präteritums-Passagen tauchen schon in der ersten Arbeitsphase auf, zum Beispiel in der ersten Erwähnung der Figur des „Augsburgers“: DRAMATURG Er war ein junger Mann, als der erste Weltkrieg zu Ende ging. Er studierte Medizin in Süddeutschland. Zwei Dichter und ein Volksclown beeinflußten ihn am meisten. In diesen Jahren wurde der Dichter Büchner, der in den achtundvierziger Jahren geschrieben hatte, zum erstenmal aufgeführt, und der Augsburger sah das Fragment ‚Wozzek‘. Außerdem sah er den Dichter Wedekind in seinen Werken auftreten, mit einem Stil, der im Kabarett entwickelt worden war. Wedekind hatte als Bänkelsänger gearbeitet, er sang Balladen zur Laute. Aber am meisten lernte er von dem Clown Valentin, der in einer Bierhalle auftrat. Er spielte in kurzen Skizzen renitente Angestellte, Orchestermusiker oder Fotografen, die ihren Unternehmen haßten und lächerlich machten. Den Unternehmer spielte seine Assistentin, eine Volkskomikerin, die sich einen Bauch umschnallte und mit tiefer Stimme sprach.86

Diese Passage beschreibt ziemlich wahrheitsgemäß Brechts junge Jahre in Augsburg und München. In dieser ersten Arbeitsphase während Brechts Exilzeit in Skandinavien entstehen weitere Passagen zum Augsburger und zu Piscator, zum Werdegang des epischen Theaters und den jeweiligen Beiträgen der beiden Dramatiker zu diesem Theater. Diesen Passagen zufolge war es Piscator, der sich vor Brecht mit politischem Theater befasste,87 doch sowohl Brecht als auch Piscator trugen zur Gründung des „Epischen Theaters“ bei. Zudem werden in einer Passage mit dem Übertitel „Theater des Augsburgers“ die Schauspieler*innen an Brechts Theater am Schiffbauerdamm namentlich erwähnt:

85

Ebd., meine Hervorhebung. BFA 22.2, S. 722. 87 Vgl. BFA 22.2, S. 763. 86

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2

Entstehungsgeschichte

Die Hauptschauspielerinnen waren: die Weigel, die Neher und die Lenja. Die Hauptschauspieler waren: Homolka, Lorre und Lingen. Auch der Sänger Busch gehörte zu diesem Theater, trat aber nur selten auf der Bühne auf. Der Bühnenbaumeister war Caspar Neher, nicht verwandt mit der Schauspielerin. Die Musiker waren Weill und Eisler.88

Viele Figuren aus Brechts Karriere während der Zeit der Weimarer Republik kommen vor, aber nur als im Präteritum erzählte Figuren. Obwohl die Verwendung des Präteritums eins der zentralen methodischen Merkmale des brechtschen Theaters ist, um die (oft bekannten) Vorgänge zu historisieren und sie dem Publikum dabei zu verfremden (vgl. als Paradebeispiel hierfür Die Maßnahme), wird hier erzählt, als gäbe es den Augsburger – der einer späteren Notiz Brechts zufolge nur noch „Der Stückeschreiber“ heißen soll89 – sowie Piscator und die Mitarbeiter*innen am Theater am Schiffbauerdamm nicht mehr –, als wäre also diese Zeit abgeschlossen oder der Augsburger und sein Theater verschwunden. Anstatt diese Geschichten zu verfremden, wirkt das Präteritum hier fast vernichtend, denn es ist das Wesen des Präteritums von Abgeschlossenem, Fertigem, Erstarrtem zu erzählen. Im Vergleich zum lebendigen dramatischen Modus wirken diese Präteritum-Passagen fast morbid. Und dennoch sind sie zugleich die erinnernde Zementierung einer Biographie, die in sich ein Hoffen darauf birgt, dass diese Zeit wieder greifbar werden kann in einer noch unrealisierbaren und unvorstellbaren Zukunft. Die Zeit der ersten Arbeitsphase ist eine Zeit, in der Brecht noch hofft, in Europa bleiben und zu seinem Theater zurückkehren zu können. Das Erzählen dieser Zeit erhält sie trotz des vernichtenden Charakters des Präteritums am Leben. Obwohl ich normalerweise sehr ungern von einem geschriebenen Text auf die Biographie einer Autor*in zurückschließe, kann man, so meine ich, durch die sehr eindeutig autobiographischen Verweise in diesem Fall die These aufstellen, dass im Präteritum zwischen Leben und Tod eine Art Trauerarbeit stattfindet. In der zweiten Arbeitsphase, mehr oder weniger am Anfang des amerikanischen Exils, entstehen gar keine (auto-)biographischen Präteritums-Passagen mehr. Diese Phase ist auch im Allgemeinen die unproduktivste Phase der Arbeit am Messingkauf. Das Fehlen der Präteritum-Passagen könnte auf die Hoffnungslosigkeit der gesamten Situation hindeuten: Brecht hat sich eingerichtet, sich an Amerika einigermaßen gewöhnt; eine Rückkehr nach Europa ist zu dieser Zeit in weite Ferne gerückt. Doch in der dritten Phase um 1945 tauchen die Präteritum-Passagen wieder auf. Zudem kommen neben der Erzählung des Dramaturgen von der Aufführung der exilierten Schauspieltruppe zum ersten Mal konkretere Verweise auf die Tatsache des Exils vor, die bereits in den Ausführungen zum Schauplatz des Messingkaufs erwähnt wurden. Außer im bereits 1938 geschriebenen Text „Abstieg der Weigel in den Ruhm“, der den einzigen Brecht-nahen Verweis auf die Exilsituation enthält – „Um diese Zeit trat der Anstreicher der Macht an, und sie [Weigel] war gezwungen, 88

BFA 22.2, S. 759. Vgl. AdK, BBA 127/26; „Auf einem Durchschlag dieses Textes hat Brecht die handschriftliche Änderungsanweisung geschrieben: ‚Anstatt ›Augsburger‹ immer ›der Stückeschreiber‹‘.“ (Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1121).

89

2.2 Theater des Exils: Der Messingkauf als Exil-Text

51

aus dem Land zu flüchten“90 – erscheint das Exil im Messingkauf als eine auffällig große Lücke. Es kommt außer in diesen wenigen Verweisen explizit gar nicht vor und spiegelt somit einen bedeutenden und wortwörtlichen Bruch im Leben des Schriftstellers wider. Vielleicht verweisen diese Passagen zum Exil in der dritten Arbeitsphase – der Krieg wird jetzt eindeutig von den Alliierten gewonnen werden – auf eine zwischendurch eingeschlafene Hoffnung auf Rückkehr: Das Exil kann jetzt episiert werden, da es fast zu Ende ist, weil es eine Aussicht auf sein Ende gibt, auch wenn dieses Ende für Brecht noch drei Jahre in der Zukunft liegt. Das einschlägigste Indiz für die hier aufgestellten Thesen ist die „Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Nehers (aus ‚Der Messingkauf‘)“ aus der vierten Arbeitsphase am Messingkauf. Im Titel wird bereits angekündigt, dass es den im Rest des Fragments nur in der dritten Person erwähnten Augsburger oder Stückeschreiber doch noch gibt – er kommt sogar selbst zu Wort. In dieser um 1951/1952 entstandenen Rede erzählt der Stückeschreiber ausführlich von der Bühnenbaukunst des Caspar Neher, aber dieses Mal – und im Vergleich zu den anderen, reale Personen behandelnden Passagen – im Präsens. Auffällig an der Verwendung des Präsens in diesem Fall ist, dass Brecht und Neher zum letzten Mal im Jahr 1933 am Anfang der Exilzeit zusammenarbeiten, und sich durch das gesamte Exil hindurch nicht mehr wiedersehen, bis 1947, als die beiden zusammen an Brechts Antigone-Bearbeitung für das Theater in Chur arbeiten.91 Vor diesem Hintergrund wirkt die ziemlich pathetische Rede des Stückeschreibers, in der Neher permanent als „unser Freund“ bezeichnet wird, fast wie ein Jubelgeschrei: ‚Ich lebe! Unser Freund Neher lebt! Das Theater – das Leben! – geht weiter!‘ Konnte der Messingkauf also nur im Exil und unter seinen Bedingungen entstehen? Die Unmöglichkeit, an einem realen Theater zu arbeiten, führt zu einer Zunahme der Arbeit über das Theater. Auffällig am Messingkauf ist jedoch, dass nicht nur über das Theater, sondern auf eine gewisse Art und Weise wieder im oder am Theater gearbeitet wird, jedoch nicht an einem Realen. In seinem Riesenfragment platziert Brecht vier Theaterleute und einen Philosophen auf einer Bühne, auf der sie lange sitzen werden. Brecht hat somit ein Theater ins Leben gerufen, das nur auf dem Papier existiert, das aber viele der wesentlichen Figuren jeder Aufführung beheimatet. Und wie im realen Leben, zum Beispiel in seinen Gesprächen mit Benjamin, interagieren diese Theaterleute mit einem Philosophen, der sie herausfordert und Anstoß gibt, das vorhandene Theater neuzudenken. Es ist ein Streitgespräch, das sich der streitsüchtige Brecht emporschreibt, aber auch eine Mit- und Zusammenarbeit am Thema „des Zusammenlebens der Menschen“ und der Nachahmung dessen. Brecht scheint mit der Niederschrift des Messingkaufs ein Typoskripten-Theater aufzubauen, das den Entzug der Berufsmöglichkeiten, das Fehlen der Zusammenarbeit mit anderen, den Austausch und die Arbeit an einem realen Theater ersetzt. Dieser Eindruck wird durch die Berücksichtigung des Endes der Arbeit am Messingkauf verstärkt: Das 90 91

BFA 22.2, S. 797. Vgl. Hecht: Brecht-Chronik 1997, S. 362, 799.

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2

Entstehungsgeschichte

Ende des Großteils der Arbeit fällt mit dem Ende des Exils zusammen. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil nimmt Brecht die Arbeit an den Dialogen nicht mehr auf. Der Messingkauf spiegelt somit das Faktum des Exils als einen bedeutenden Bruch in der Biographie des Schriftstellers wider und den Versuch, diese „Inzwischenzeit“, diesen „Inzwischenraum“ mit etwas – einem imaginierten Theater – zu füllen. Obwohl so etwas nicht definitiv behauptet werden kann, scheint es so zu sein, dass es ohne Brechts Exil einen Messingkauf nicht gegeben hätte. Der Messingkauf wäre somit durchweg Produkt des Exils. Wie jedoch immer wieder im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zu erkennen sein wird, lässt sich das Exil auch auf andere, eine auf den Inhalt bezogene Art und Weise im Text spüren.

3

Wirkungsgeschichte und Editionen

Als Teil der Entstehungsgeschichte des Messingkaufs ist bereits die Publikationsgeschichte der „Übungsstücke für Schauspieler“ sowie der in der vierten Phase entstandenen Reden und Gedichte geschildert worden. Das nun folgende Kapitel widmet sich daher den Rekonstruktionen von Brechts Fragment, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden, d. h. der Bühnenfassung am Berliner Ensemble und den verschiedenen Editionen. Das bereits dargestellte verwirrende Verhältnis zwischen Konzeption und Entstehung der Messingkauf-Texte spiegelt sich in den konfusen Bestimmungen und Anordnungen des Textes in den verschiedenen Fassungen und Ausgaben wider: In den Schriften zum Theater und den Gesammelten Werken wird als Entstehungszeitraum 1937–1951 angegeben, in der BFA 1939–1955. Wie zu sehen sein wird, changieren auch die Gattungszuschreibungen des Messingkaufs in den Editionen zwischen Theorieschrift, Gedicht und Stück. Interessant für unsere Zwecke ist, dass fast allen Editionen und Ausgaben von Brechts vor allem theoretischen Schriften – insbesondere des Messingkaufs – gemein ist, dass Hecht sie herausgegeben hat.1 Obwohl heutzutage der Messingkauf ein eher unbekannter Text Brechts ist, genießen in den 1960er und 1970er Jahren die Aufführungen der Bühnenfassungen durch das Berliner Ensemble weitgehenden Erfolg. Hechts Beteiligung an diesen Aufführungen sowie seine Arbeit an den Editionen des Messingkaufs bedeuten, dass sich die Überlieferung des Messingkaufs auf eine einzelne Person stützt, auf eine Art und Weise also, die für andere Schriften Brechts nicht behauptet werden kann. Es ist fast ein Alleinstellungsmerkmal des Messingkaufs, dass dieser Text bis zur Veröffentlichung der englischsprachigen Edition im Jahr 2015 nie ohne Hechts Beteiligung zugänglich gewesen ist. Hecht scheint folglich ein Überlieferungs- und Rezeptionsmonopol bezüglich des Messingkaufs zu besitzen und hat zweifelsohne seine interpretatorischen Spuren in den verschiedenen Editionen dieses Textes hinterlassen. Dieses Kapitel möchte die dramaturgischen und editorischen Interpretationen dieses einzelnen Interpreten darstellen, die bis heute ihre philologischen Schatten über den Messingkauf werfen. 1

Und zu geringeren Anteilen Elisabeth Hauptmann.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_3

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54

3

Wirkungsgeschichte und Editionen

Im Jahr 2017 gestorben, war Hecht von 1959 bis 1974 ein enger Mitarbeiter für Regie und Dramaturgie bei Weigel am Berliner Ensemble. Zudem hat er das Brecht-Zentrum (heute das Literaturforum im Brecht-Haus) von 1976 bis 1991 geleitet und arbeitete 35 Jahre lang einer Brecht-Chronik, die am Ende 1315 Seiten umfasste. Schließlich hat er als einer der Hauptherausgeber die Edition der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken von 1985 bis 2000 geleitet.2 Man kann nicht bestreiten, dass Hecht der Brecht-Forschung durch seine akribische Arbeit, seine offensichtliche Leidenschaft für das Leben und Werk von Brecht und die Eröffnung von vielen Texten und Quellen einen großen Dienst geleistet hat. Dass die Herausgeber*in im Text Spuren hinterlässt, ist selbstverständlich, da sie die Lektüre des Textes überhaupt erst ermöglicht. Doch Hechts Einfluss in dieser Hinsicht spiegelt seine tiefe Einbettung innerhalb einer letzten Generation aus Familie, Freunden und ‚Kennern‘ Brechts wider – eine Tatsache, die nicht zuletzt im Titel des von ihm geschriebenen Buches, Helene Weigel: Eine große Frau des 20. Jahrhunderts reflektiert wird. Ebenfalls bedankt sich Hecht am Ende seiner Brecht-Chronik bei diversen Persönlichkeiten,3 die zur Erhaltung eines sehr spezifischen Brecht-Bildes vor allem bis 1989 aber auch darüber hinaus beigetragen haben, einschließlich Weigel und Barbara Brecht-Schall. Letztere, beide sogenannte Brecht-Erben, waren etwa auch an der Erteilung aller möglicher Verbote bezüglich einer Aufführung oder Verwendung von Brechts Werken und Schriften beteiligt und haben es so unmöglich gemacht, Brecht zu „kritisieren“.4 Gleiches gilt für Hauptmann, die verständlicherweise aufgrund ihrer jahrelangen Zusammenarbeit mit Brecht sehr bestimmte Vorstellungen von seinen ‚Wünschen‘ gehabt haben muss. Uwe Wirth schreibt:

2

Vgl. Hecht. Brecht-Chronik 1997, S. 1257. Vgl. ebd., S. 1259 f. 4 „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“ (Heiner Müller: Fatzer ˙ Keuner. In: Ders.: Werke. Bd. 8. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 223–231, hier: S. 231.) Vgl. ein neueres Beispiel eines solchen Verbots aus dem Jahr 2015 in Bezug auf Frank Castorfs Versuch, Brechts Baal am Münchener Residenz Theater zu inszenieren: „Es muss in diesen Tagen mühsam sein, für den Berliner Suhrkamp Verlag zu arbeiten. Kaum sind die existenzgefährdenden Konflikte der Gesellschafter entschärft, schon muss der Verlag im Auftrag der Brecht-Erben so tun, als befände er sich, was moderne Ästhetik betrifft, ganz weit hinter dem Mond. Am vergangenen Freitag [den 30. Januar 2015] teilte Suhrkamp dem Münchner Residenz Theater mit, dass der Verlag eine einstweilige Verfügung beantragen werde, um die Absetzung von Frank Castorfs Inszenierung des Brecht-Jugendwerkes ‚Baal‘ zu erzwingen. / Zwei Wochen nach der Premiere war Rechteinhabern und Verlag aufgefallen, dass es sich ‚um eine nicht-autorisierte Bearbeitung des Stückes von Bertolt Brecht‘ handle: ‚Innerhalb der Produktion werden umfänglich Fremdtexte verwendet, die Werkeinheit wird aufgelöst. Dies verletzt das Urheberrecht.‘“ (Peter Laudenbach: Krach um Castorfs „Baal“. Opium ist Religion fürs Volk. In: Der Tagesspiegel. 1. Februar 2015. http://www.tagesspiegel.de/kultur/krach-um-castorfs-baal-opium-ist-religion-fuersvolk/11309536.html, abgerufen am 20 Februar 2015.) 3

3

Wirkungsgeschichte und Editionen

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Der Herausgeber hat als zweiter Autor mit bereits Geschriebenem zu tun, dem er, im Zuge seiner editorialen Tätigkeit, schreibend etwas hinzufügt. Er ist insofern nicht nur zweiter Autor und erster Leser, sondern ein ‚Dazuschreiber‘, dessen Schrift den Rahmen des Textes überhaupt erst konstituiert.5

Wirth hält an einem „editorialen Dispositiv“ fest, das „im Rahmen des Textes als implizites editoriales Arrangement und am Rahmen des Textes als expliziter editorialer Kommentar [verkörpert ist].“6 Der Herausgeber ist somit keine neutrale Instanz, die die Erscheinung eines Textes als Publikation lediglich ermöglicht, sondern ist aktiv daran beteiligt, den Text zu prägen und ‚mitzuschreiben‘; seine editorale ‚Schrift‘ ist am Rahmen des Werkes lesbar. Ebenso tritt Roland Reuß zufolge der Herausgeber „[. . . ] nicht nur durch seine Idiosynkrasien, sondern eben deshalb zumindest teilweise auch als Agent der Gesellschaft in Erscheinung [. . . ]. Häufig im Nebel stochernd, entscheidet er für ein vorläufiges Zuletzt, was an der Überlieferung relevant, was irrelevant ist.“7 Damit drückt Reuß aus, dass nicht nur der Herausgeber selbst, sondern auch seine Einbettung innerhalb einer Gesellschaft, wie auch seine gesellschaftlichen Ansichten in einer Edition zum Ausdruck kommen. Diese Ansichten leiten ihn dazu, sich dafür zu entscheiden, was im von ihm herausgegebenen Werk aufgenommen wird und was nicht. Die Herausgabe oder Edition von Texten ist kein bloßes Zugänglich-Machen von überlieferten Schriften, sondern ein Formen und Prägen, das außerhalb editionswissenschaftlicher Kreisen oft von der Leser*in zunächst gar nicht wahrgenommen wird. In diesem Kapitel soll es aus diesem Grund um eine kritische Lektüre des Schreibens der Literaturgeschichte des Messingkaufs in Form der Herausgabe, dessen Editionen und Rekonstruktionen gehen. Das Kapitel gibt sich allerdings nicht damit zufrieden, den Vorgang der Zusammenstellung der Bühnenfassung am Berliner Ensemble und die Herausgabe der Editionen lediglich zu präsentieren. Es geht vielmehr darum, das Auslassen und Ausklammern bestimmter Textteile und Interpretationen aufzuzeigen sowie um die Entscheidungen dahinter. Es geht um die Lektüre einer oftmals nicht wahrgenommenen Interpretation, die trotzdem die Rezeption maßgeblich beeinflusst. Die Überlieferungs- und Editionsgeschichte des Messingkaufs ist ein weiteres Symptom des eingangs dargestellten Vermächtnisses Brechts und hat – vor allem im Falle des Messingkaufs – gravierende Konsequenzen zur Folge gehabt. Der Messingkauf wird in den verschiedenen Hecht-Ausgaben sowie in der Bühnenfassung mehr oder minder zum fertigen Werk stilisiert oder nimmt zumindest werkhafte Züge an. Diese Bearbeitungen bemühen sich auf verschiedene Arten und Weisen um die Herstellung der Darstellbarkeit eines Textes, der sonst nur als große Fragmenten-Ansammlung in verschiedenen Mappen im Brecht-Archiv in Berlin vorliegt. Das vorliegende Kapitel wird diesen für die Interpretation des Messingkaufs teilwei5 Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München: Fink 2008, S. 15. 6 Ebd., S. 15. 7 Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 1–12, hier: S. 5.

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3

Wirkungsgeschichte und Editionen

se sehr einflussreichen dramaturgischen wie editorischen Entscheidungen entlang der bisher erschienenen Editionen Schritt für Schritt nachgehen.

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles Vor der Erscheinung der ersten Edition des Messingkaufs inszenierte das Berliner Ensemble eine Reihe von „Brecht-Abenden“, von denen der erste am 26. April 1962 stattfand. Am dritten Brecht-Abend wurde eine von Hecht, des Dramaturgen des Berliner-Ensemble, der zu diesem Zeitpunkt auch die erste Edition für die Schriften zum Theater vorbereitete, und den Regisseuren Matthias Langhoff und Manfred Karge herausgearbeitete Bühnenfassung des Messingkaufs am 12. Oktober 1963 uraufgeführt.8 Im Archiv des Berliner Ensemble liegen in verschiedenen Mappen insgesamt zwei Bühnenfassungen aus dem Jahr 1963 vor; die erste enthält viele Bearbeitungsspuren und scheint als Vorlage der zweiten Fassung gedient zu haben, die letztlich bei der Uraufführung inszeniert wurde. Im Folgenden werde ich beide Fassungen untersuchen, da beide zusammen genommen viele interessante Einsichten darin bieten, wie sowohl Hecht als auch das Berliner Ensemble den Messingkauf interpretiert haben. Die Uraufführung war das erste Mal, dass die Dialoge des Messingkaufs einem Publikum zugänglich gemacht wurden. Ihnen wurde in der ersten Bühnenfassung folgende Vorrede vorangestellt: Verehrtes Publikum! Heute abend sehen Sie kein Theaterstück. Heute abend soll einmal das Theater selbst aufs Theater gebracht werden. Falls Sie etwas anderes erhofft haben, jetzt ist noch Gelegenheit, nach Hause zu gehen. (Für einen Moment geht das Saallicht an, die Saaltüren werden geöffnet) Gut! – Wir zeigen ihnen ein nächtliches Gespräch über eine neue Art, Theater zu spielen von Bertolt Brecht. 1939/40 im Exil geschrieben, noch nie auf die Bühne gebracht, heute zum ersten Mal aufgeführt unter dem Titel: „Der Messingkauf.“ Im „Messingkauf“ ist vorgesehen, die Gespräche durch Einlagen zu unterbrechen. Wir zeigen Ihnen also in mehreren Abteilungen einige Exerzitien und Experimente für Schauspieler. Zusammen mit Beispielen aus unseren Aufführungen geben sie Ihnen, so hoffen wir, Einblick in Theaterarbeit. Zwischen den Darbietungen unterhält Sie unser Orchester, unter seinen Dirigenten Hans-Dieter Hosalle, mit Kompositionen, geschrieben für unsere Aufführungen und gestrichen auf der Generalprobe. 19 Uhr 10. Die Vorstellung kann beginnen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Theater der Dreissiger [sic!] Jahre. Die Abendvorstellung ist im Gange. Hinter der Bühne wartet ungeduldig der Dramaturg des Theaters auf das Ende der Vorstellung, um einen Gast zu begrüssen, den er zu einem nächtlichen Gespräch eingeladen hat. Gegeben wir [sic!] „Hamlet“.9

8

Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1123. Akademie der Künste, Archiv Berliner Ensemble 394, S. 3. Im Folgenden werden Verweise auf Bestände des Berliner Ensemble-Archivs mit dem Kürzel „AdK, ABE“ angegeben, gefolgt von den „Signatur“- und Seiteninformationen, die den Archivbeständen zu entnehmen sind. Da viele 9

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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Das Stück beginnt mit dem ‚Finale‘ einer Hamlet-Aufführung („in ein[em] großen Theater nach der Vorstellung“10 ), an dessen Ende der Vorhang zugemacht und künstlicher Beifall durch Lautsprecher gespielt wird, bevor die fünf Gesprächspartner*innen die Bühne betreten.11 Interessanterweise wird zunächst die Einbildungskraft der Zuschauer*innen heraufbeschwört – „Stellen Sie sich vor“ –, um die Illusion des historischen Schauplatzes zu erzeugen. Im Gegensatz zum Messingkauf -Fragment ist es hier der Dramaturg, der den Philosophen, den „Gast“, ins Theater eingeladen hat.12 Bis auf das dritte, auf das eine Pause folgt, gibt es nach jedem der fünf Gespräche zwischen den Figuren eine „Einlage“: nach dem ersten Gespräch, „Der Messingkauf“, die sechste Szene von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui unter dem Titel „Die Theatralik des Faschismus“; nach dem zweiten Gespräch, „Der Abbau der Illusion und der Einfühlung“, eine mit „Im Lob der Dialektik“ betitelte Einlage aus Die Mutter; Ausschnitte aus der fünften und sechsten Szene von Mutter Courage und ihre Kinder werden dem ersten Teil des vierten Gesprächs zur Verfremdung angeschlossen; und nach dem zweiten Teil dieses vierten Gesprächs werden drei der sechs „Übungsstücke für Schauspieler“ aufgeführt – „Maria Stuart“/„Der Streit der Fischweiber“, „Der Wettkampf des Homer und Hesiod“ und das Rundgedicht „Ein Hund ging in die Küche“, gefolgt von zwei vom Berliner Ensemble zusätzlich für den Abend dazu geschriebene Übungen.13 Diese Anordnung ändert sich ein wenig in der zweiten Bühnenfassung, in der nur eine der von Brecht geschriebene „Übungsstücke für Schauspieler“ verwendet wird; der Rest wird durch von Mitgliedern des Berliner Ensembles geschriebene „Übungsstücke“ ersetzt.14 Ursprünglich waren drei Spieltermine vorgesehen: neben der Premiere am 12. Oktober 1963 noch zwei weitere am 4. und 23. November 1963. Aber aufgrund des „so ungewöhnlichen Interesse[s] des Publikums“ entschloss sich das Berliner Ensemble, „eine zusätzliche Aufführung am 1. Dezember in den Spielplan aufzunehmen.“15 Die Herausgeber*innen schreiben dazu: „Die Inszenierung [. . . ] hat bei Publikum und Presse großen Erfolg und läuft mehr als 100 Mal, darunter auch 1965 bei einem Gastspiel zur Experimenta I in Frankfurt am Main.“16 Das rege Interesse des Publikums an diesem unveröffentlichten und nie gesehenen „Stück“ hatte vielleicht damit zu tun, dass bis auf die eine oder andere „Anmerkung“ bis dahin kaum theoretische Schriften von Brecht zugänglich gewesen waren.17 So schreibt der Archivbestände des Berliner Ensembles beim Druck dieses Bandes noch unverzeichnet waren, führt das Zitieren derselben zu einem uneinheitlichen Erscheinungsbild. 10 BFA 22.2, S. 695. 11 Vgl. Barnett: Brechtian Theory as Practice 2011, S. 12. 12 Vgl. die Ausführungen zur Einladung der Schauspielerin in Abschnitt 5.2. 13 Vgl. Barnett: Brechtian Theory as Practice 2011, S. 8 ff. 14 Vgl. Berliner Ensemble: Brecht-Abend Nr. 3. Der Messingkauf in der Einrichtung des Berliner Ensembles. Programmheft 1967. 15 Zusätzlicher Messingkauf. In: Neues Deutschland. Berliner Ausgabe 18:321. 22. November 1963, S. 5. 16 Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1123. 17 Vgl. Anmerkungen zur „Dreigroschenoper“. In: BFA 57–68; Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. In: BFA 22.1, S. 74–84.

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Ernst Wendt voller Vorfreude auf die anstehende Veröffentlichung der Schriften zum Theater im Dezember 1963: „Nun, da die ersten fünf Bände der ‚Schriften zum Theater‘ vorliegen und eine kaum jetzt schon auszuschöpfende Fülle neuer Aspekte gebündelt anbieten, wird wohl ohnehin manches Urteil über Brechts Theater und seine theoretische Begründung zu relativieren sein.“18 Hauptmann schreibt ebenfalls auf die Veröffentlichung der Schriften bezugnehmend 1964: Brecht selber hat, als er 1948 nach Berlin zurückkam, Theater gemacht und ein Stück nach dem anderen inszenierung [sic!], um die Menschen für seine Art, Theater zu spielen, zu gewinnen. Theorie gab es sehr wenig; weder für seine Mitarbeiter noch für die Schauspieler, noch für die Theaterbesucher. Dafür gab es viel praktische Vorbereitungsarbeit und praktische Probenarbeit und Aufführungen. Natürlich hat er in dieser Zeit viel Theoretisches geschrieben, aber nicht alles für die sofortige Veröffentlichung oder Diskussion; das meiste davon kommt jetzt erst heraus und wird diskutiert.19

Vermutlich lag der Erfolg jedoch auch darin, dass die Figur des Philosophen mit der Figur des realen Autoren Bertolt Brecht gleichgesetzt wurde: Viele Kritiker gingen davon aus, dass Brecht die Rolle des Philosophen als eine Widerspiegelung seiner selbst gestaltet hatte, ja, dass der Philosoph im Messingkauf Brecht war und die Theaterleute schlichtweg Repräsentant*innen des bürgerlichen Theaters.20 Ein anonymer Rezensent des Spiegel schreibt über die Inszenierung im November 1963: „Ekkehard Schall, Ehemann der Brecht-Weigel-Tochter Barbara, präsentierte sich, Zigarren paffend, eine Schlägermütze auf dem fast kahlen Schädel und eine Nickelbrille vorm Gesicht, in der Maske seines Schwiegervaters Bertolt Brecht.“21 Der italienische Theaterkritiker Giorgio Zampa nimmt diese Gleichsetzung in folgendem Exzerpt aus seiner Messingkauf -Rezension ebenfalls wahr: Die Hauptperson des Schauspiels, genannt der Philosoph, ist gekleidet, spricht und verhält sich so wie Brecht. Ihm stehen gegenüber ein Schauspieler, eine Schauspielerin und ein Dramaturg, die sich an die traditionellen Regeln halten, an die Konzeption des klassischen Theaters und die dem Mann, der sich auf einem Schaukelstuhl hin und her bewegt, den Schild seiner Mütze bis über die Augen gezogen, mit einer grossen Zigarre zwischen den Lippen, einen Widerstand entgegenbringen, der mitunter zu offener Rebellion übergeht. Dann entgegnet Brecht – Verzeihung, der Philosoph – seinerseits schreiend, tobend und beleidigend.22

Auf die Assoziation, die man als Zuschauer*in beim Anblick des Philosophen verspürte, nämlich dass hier Brecht gemeint war, wollte Weigel ein Interpretations18

Wendt: Der „Messingkäufer“ Bertolt Brecht 1963, S. 63. Elisabeth Hauptmann: Abschrift. Zu Tynans Brief. Brief vom 10. Februar 1964. AdK, ABE Nr. 34 [unverzeichnetes Material, alte Signatur nach BE-Aufführungsverzeichnis], Material 2.1. 20 Vgl. Werner Hecht: Brecht. Vielseitige Betrachtungen. Berlin: Henschel 1978, S. 88. Fast 50 Jahre später teilt auch Barnett diese Meinung: „Brecht is clearly his own model for this figure, and in the fragment, the Philosopher is sometimes referred to as ‚the Augsburger‘ [. . . ]. Augsburg was Brecht’s home town.“ Barnett: Brechtian Theory as Practice 2001, S. 7, Fußnote 6. Für eine weitere Diskussion der Gleichsetzung von Brecht und dem Philosophen siehe Abschnitt 5.1. 21 Vgl. Kunst und Krethi. In: Der Spiegel (46). 13. November 1963, S. 119–121, hier: S. 120 f. 22 Giorgio Zampa: Der neueste Brecht des „Berliner Ensembles“. In: La Stampa. 19. November 1963. Übers. v. Berliner Ensemble. AdK, ABE Nr. 34, Kritiken, S. 2, meine Hervorhebung. 19

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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monopol, woraufhin sie ein Verbot gegen die Aufführung des Messingkaufs durch andere Theater erteilte, als Folge dessen ausschließlich das Berliner Ensemble den Messingkauf inszenieren durfte: Helene Weigel untersagt bis auf wenige Ausnahmen das Nachspielen des ‚Messingkaufs‘ durch andere Bühnen. [. . . ] [S]ie fürchtet, daß die zahlreichen gestischen und äußerlichen Anspielungen, die Ekkehard Schall (als ‚Philosoph‘) auf Brecht macht, weniger kenntnisreiche Nachahmer finden könnte.23

Die Inszenierung des Messingkaufs durch das Berliner Ensemble erfolgte, so Rolf Michaelis in einer Rezension von 1963, durchaus im Dienste der „Brechtlegende.“24 Dennoch wurden neben den offensichtlichen Inszenierungsstrategien – sprich: Kostüm, Gesten und Mimik, die Schall anwendet, um Brecht nachzuahmen – bereits in der Bühnenfassung einige Aspekte des Messingkaufs geändert, um eine antagonistische Gegenüberstellung Brecht/altes Theater deutlicher zum Vorschein kommen zu lassen. Es wird erstens die Rolle des Philosophen als ‚Sokrates‘ auf dem Theater in Form des klassisch ‚dialektischen‘ Gesprächs betont: Im Messingkauf -Fragment25 wird der Philosoph von der Schauspielerin eingeladen und bekennt sich dazu, wenig Ahnung vom Theater zu haben – hier ein kleines aber prägnantes Beispiel: „DER DRAMATURG Wie ist es mit der vierten Wand? | DER PHILOSOPH Was ist das?“26 Diese Passage zeigt, dass der Philosoph im Messingkauf -Fragment kein Theaterexperte ist, denn seit Diderot ist das Konzept der vierten Wand eines der wichtigsten Theaterkonzepte. In der Bühnenfassung jedoch werden viele Sprechpartien des Dramaturgen dem Philosophen zugeordnet, der auf einmal Experte in Sachen epischen Theaters geworden ist – als allwissender, Brecht-ähnlicher Theaterfachmann, der jetzt beispielsweise auch exakt weiß, wer Stanislawski ist: Schauspieler: Also ist der V-Effekt ein Stil. Philosoph: Nein. Schauspieler: Wieso? Wenn ich verfremde, darf ich doch nicht natürlich, ich meine realistisch spielen. Philosoph: Um Gottes Willen. Schauspielerin: Eigentlich willst Du doch dasselbe wie Stanislawski. Philosoph: Nein, nein, nein.27

Während im Messingkauf -Fragment ein widersprüchliches Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Aspekten des Theaters stattfindet, das nie in eine absolute 23

Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1123. Rolf Michaelis: Zirkus bei Brecht. Stuttgarter Zeitung. 18. Oktober 1963; zitiert nach Barnett: Brechtian Theory as Practice 2011, S. 15. 25 Im Folgenden wird der Verständigung und des Vergleichs wegen zwischen dem „MessingkaufFragment“ und der vom Berliner Ensemble produzierten „Bühnenfassung“ unterschieden, obwohl das, was ich hier schlicht „Messingkauf-Fragment“ nenne, der BFA entstammt. Das erachte ich jedoch als nicht weiter problematisch, da die BFA die Wortwahl der Archiv-Materialien wiedergibt, die Hauptgegenstand dieses Kapitels ist. 26 BFA 22.2, S. 802. 27 AdK, ABE 390, Rückseite von S. 64. 24

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Synthese aufgeht, ist der Philosoph in der Bühnenfassung des Berliner Ensembles Brecht selbst, der auf die Bühne gekommen ist, um die Repräsentant*innen des alten Theaters zu belehren und sie für ein von ihm bereits durchdachtes, in der Wirklichkeit umzusetzendes Theaterprojekt zu engagieren. Im Messingkauf -Fragment weiß der Philosoph verhältnismäßig wenig über das alte Theater, während er in der Bühnenfassung als ein Berater dargestellt wird, der Antworten auf die Zukunft des Theaters anbietet und sich etwa mit Schauspieltechniken auskennt. Im Messingkauf -Fragment gibt es eine Differenz zwischen dem Wissen des Dramaturgen und dem des Philosophen über das Theater und seine Techniken: Der Dramaturg ist im Messingkauf -Fragment derjenige, der sich sowohl mit dem alten als auch mit dem neuen Theater auskennt, sich und sein Theaterwissen jedoch in den Dienst des Philosophen zur Neuerung des Theaters stellen möchte.28 In der Bühnenfassung wird zweitens die Figur des Schauspielers, fast an Gustaf Gründgens in Klaus Manns Mephisto erinnernd, noch arroganter, ungeduldiger und extravaganter, seine Interessen noch selbstsüchtiger und oberflächlicher. Im Messingkauf -Fragment ist es der Dramaturg, der Weinflaschen aus einem Korb herausnimmt und entkorkt, und es ist der Schauspieler, der „den Wein in Gläser [gießt] und sie den Freunden dar[bietet]“29 – eine Geste des Zusammenkommens und der Herzlichkeit. In der Bühnenfassung des Berliner Ensembles hingegen wird der Schauspieler zum Tyrann inklusive Diener. Die schon versammelten Figuren müssen zunächst noch eine Weile auf den eitlen Schauspieler warten, denn „er schminkt sich nur noch ab“.30 Als er endlich erscheint, folgt ihm ein Garderobier, der den Wein hinter ihm herbringt: „DER SCHAUSPIELER: (tritt auf, ihm folgt ein Garderobier mit Weinflaschen): Des vielen Staubes wegen macht der Aufenthalt auf einer Bühne durstig. Nehmt also alle einen tüchtigen Schluck. (Sie trinken.)“31 Es wird nicht spezifiziert, wer für das Entkorken und Einschenken zuständig ist, dennoch liegt es nahe, dass es die Aufgabe des neu dazu geschriebenen Garderobiers ist. Wenngleich das Gespräch in Brechts Fragment kein gleichberechtigtes ist, in dem alle Interessen gleichermaßen zu Wort kommen,32 wird der tendenzielle Antagonismus des Fragments in der Bühnenfassung zugespitzt, zum Beispiel in dieser von den Dramaturgen des Berliner Ensembles hinzugefügten Passage, in der es um die Verfremdung geht: DER PHILOSOPH: Was ist deine Meinung? DER SCHAUSPIELER: (will antworten, dann zum Dramaturgen) Bei mir kommt er an den falschen. Ich gehe nicht auf seinen Leim. Wenn er sich selbst als einen Philosophen bezeichnet, wäre es nicht mehr als billig, daß er uns eine exakte Definition liefert, die das Problem ein für allemal klärt.33

28

Vgl. BFA 22.2, S. 696. BFA 22.2, S. 773. 30 AdK, ABE 391, S. 1/2. 31 Ebd., S. 1/3. 32 Für Diskussionen der Gewichtung des Gesprächs siehe Abschnitte 5.1 und 5.2. 33 AdK, ABE 391, S. 4/1. 29

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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Die Darstellung des Schauspielers als Hauptverfechter der sogenannten „Kunst“ wird zudem noch verdeutlicht, beispielsweise in folgender Passage, die im Messingkauf -Fragment vom Dramaturgen, hier jedoch vom Schauspieler gesprochen wird: „DER SCHAUSPIELER: Also wissenschaftliche Zwecke verfolgst du! Das hat allerdings mit Kunst nichts zu tun.“34 Der Dramaturg als eher vermittelnde Instanz wird nicht aus dem Gespräch gänzlich gestrichen, nimmt aber eine ungeordnetere Rolle ein, was den Antagonismus zwischen Philosoph und Schauspieler zusätzlich verstärkt. Das Gespräch verliert insgesamt das Prozessuale und Widersprüchliche und wird vielmehr zum langen Vortrag des allwissenden Philosophen. Trotz der überwiegend positiven Rezensionen und des Erfolgs des Stücks gab es durchaus Stimmen, die nicht ganz überzeugt waren, dass die Inszenierungen des Berliner Ensembles ein wirklich brechtsches Theater darstellten. Der zuvor zitierte unbekannte Spiegel-Rezensent schreibt, dass die „drei Stunden kabarettistische Kurzweil“, der „technisch perfekte Bühnenzauber“ „[d]en Gästen am BertoltBrecht-Platz [. . . ] kulinarischer Genuß [war]“35 – anscheinend eine bewusste Anspielung auf den Begriff des „Kulinarischen“ aus Brechts „Anmerkungen zum Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.“ 36 In einer weiteren Rezension bedauert 1963 der tschechische Journalist und Schriftsteller Jan Martinec, dass die „dünne Fabel“ des Messingkaufs mit einem „Happy End“ abschließe, an dem der Philosoph alle überredet habe, sich seiner Lehre anzuschließen37 – „Ändert die Welt, sie braucht es!“38 Die Bühnenfassung endet wie die im Band 5 der Schriften zum Theater veröffentlichte Edition des Messingkaufs damit, dass der Philosoph die „Theaterleute“ überredet hat, sich ihm anzuschließen. Aber die bedingungslose Kapitulation der Theaterleute wird in der Bühnenfassung nicht nur in der Anordnung der Bruchstücke, sondern auch in der Ergänzung um eigens hinzugefügte Passagen verwirklicht. Obwohl die eben zitierte Passage im Messingkauf -Fragment sehr pathetisch wirkt, vor allem im Vergleich mit anderen Passagen, in denen das Gespräch sich weigert, in Einverständnis aufzugehen oder sich durch anderweitige glatte Übereinstimmungen aufzulösen, erweckt folgende hinzugeschriebene Passage genau diesen Eindruck: „DER DRAMATURG: Mit Erstaunen stellen wir also fest, daß sein Thaeter alle Forderungen, die wir an das Theater stellen, erfüllt – und besser, so daß uns jetzt am Ende unseres Gesprächs nur eines bleibt, zu versichern: Du kannst auf uns rechnen.“39 In der ersten Bühnenfassung wird diese Passage einzig dem Dramaturgen zugeschrieben, während sie in der zweiten Fassung zwischen dem Dramaturgen und dem Schauspieler aufgeteilt wird:

34

Ebd., S. 1/10. Kunst und Krethi 1963, S. 121. 36 Vgl. BFA 22.1, S. 74–84. 37 Vgl. Jan Martinec: Revue. In: Plamen 5 (1964). Übers. v. AdK, BBA. AdK, BBA BrechtTheaterdokumentation 2151. 38 Bertolt Brecht: Der Messingkauf. In: Ders.: Schriften zum Theater. Bd. 5 [1963(a)], S. 5–298, hier: S. 243. Für eine Diskussion des vermeintlichen Endes des Messingkaufs siehe Abschnitt 3.3. 39 AdK, ABE 391, S. 5/1. 35

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Wirkungsgeschichte und Editionen

DER DRAMATURG: Mit Erstaunen stellen wir also fest, daß sein Thaeter alle Forderungen, die wir an das Theater stellen, erfüllt – und besser. DER SCHAUSPIELER: So daß uns jetzt am Ende unseres Gesprächs nur eines bleibt, zu versichern: Du kannst auf uns rechnen.40

Dies hebt noch einmal den synthetischen Ergebnis-Charakter dieser Szene hervor: Schauspieler und Dramaturgen sprechen zusammen das, was ursprünglich eine Partie bildete, ein Umstand, der die vermeintliche Übereinstimmung ihrer Meinungen verstärkt. Letztendlich sind in dieser Passage zwei Teile des Fragments zusammengefasst, nämlich zum einen der Teil, der in der BFA mit B87 betitelt und somit in der ersten Arbeitsphase entstanden ist, und jener Teil, genannt B144, der um 1945 entstanden ist und somit einen der letzten Dialoge darstellt. Beide Passagen, B87 und B144, sind die einzigen der insgesamt 171 Passagen der BFA, in denen Brecht tatsächlich den Versuch unternommen zu haben scheint, dem Messingkauf so etwas wie ein Ende zu schreiben. Dass der Messingkauf in der Bühnenfassung überhaupt derart abgeschlossen wird, weist verstärkt auf das Bestreben der Dramaturgen des Berliner Ensembles hin, das Fragment zum Werk umzuschreiben. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht ist zudem, dass die hinzugefügten Passagen gegen Ende der Bühnenfassung zunehmen – als hätte es nicht genug synthetisches Material gegeben, mit dem sie dem Publikum das Happy End hätten anbieten können. Des Weiteren und von enormen Wichtigkeit für diese Arbeit wird in beiden Varianten der genannten Passage das Thaeter als das dem Philosophen Zugehörige dem Theater als das Alte und Abzuschaffende gegenübergestellt, und das, obwohl im Messingkauf -Fragment der Philosoph explizit sagt, dass er nur im „äußersten Notfall zur Gründung eines Thaeters schreiten“ würde.41 Darüber hinaus ist bereits ab den frühesten Metatexten die „Zurückverwandlung des Thaeters in ein Theater“ vorgesehen.42 Das Thaeter wird folglich in der Bühnenfassung als das Ergebnis des Gesprächs dargestellt: Das Thaeter ist das neue Theater. In einer von Brecht im Messingkauf -Fragment geschriebenen Passage, die auch in die Bühnenfassung übernommen wird, heißt es hingegen: DER DRAMATURG Wir haben jetzt nach bestem Vermögen die mannigfaltigen Anweisungen studiert, durch welche du die Theaterkunst ebenso belehrend machen willst, wie es die Wissenschaft ist. Du hattest uns eingeladen, uns in deinem Thaeter zu betätigen, das ein wissenschaftliches Institut sein sollte. Kunst zu machen, sollte nicht unser Ziel sein. In der Tat aber haben wir, um deine Wünsche zu erfüllen, unsere ganze Kunst aufbieten müssen. Offen gestanden, spielend, wie du es willst, und zu dem Zweck, den du willst, machen wir doch Kunst.43

Dieser Passage zufolge ist das Potential des Theaters, den Wünschen des Philosophen nachzukommen, im Theater immer schon vorhanden gewesen. Das vom Philosophen anvisierte Theater muss kein „Thaeter“ werden, denn das Theater besitzt 40

AdK, ABE 390, S. 65. BFA 22.2, S. 780; vgl. zum Begriff des „Notfalls“ und anderen Dringlichkeitsmotiven Abschnitt 7.1. 42 Vgl. BFA 22.2, S. 696, 697; siehe auch Abshnitte 7.1 und 7.2. 43 BFA 22.2, S. 752; vgl. AdK, ABE 391, S. 5/1. 41

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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bereits die Mittel, um die vom Philosophen verlangten Neuerungen umzusetzen.44 Der Beitrag der Theaterleute ist hier wichtig, denn sie sind diejenigen, die ihre „ganze Kunst“ aufbieten, von der der Philosoph eigentlich wenig Ahnung hat. Aber wie bereits dargestellt, geht es in der Bühnenfassung – trotz der Betitelung dieser Passage mit „Rückwandlung des Thaeters in ein Theater“ – um den Genie-MeisterPhilosophen, dessen Wünschen sich die Theaterleute einfach anschließen. Im Messingkauf-Fragment gibt es insgesamt zwölf Erwähnungen und Variationen des Begriffs der „Verfremdung“, „verfremden“, „V-Effekt“ usw. In der ersten Bühnenfassung steigt diese Zahl auf 22, in der zweiten hingegen sind es wieder nur zwölf, obwohl beide Bühnenfassungen wesentlich weniger Material umfassen als das Fragment. Der Grund hierfür ist, dass es in beiden Bühnenfassungen eine Szene im vierten Gespräch gibt namens „WAS IST VERFREMDUNG“, die jeweils in zwei Teile aufgeteilt ist: eine Diskussion des Begriffs und anschließende praktische Beispiele desselben. Diese Szenen werden von den Dramaturgen des Berliner Ensembles für die Bühnenfassung komplett neugeschrieben. In der ersten Bühnenfassung besteht dieses neue Material aus insgesamt fünf neuen Seiten; in der zweiten Bühnenfassung umfasst es lediglich zwei Seiten. Die erste dieser Szenen wird in beiden Fassungen gleichermaßen eröffnet: DIE SCHAUSPIELERIN: So kommen wir nicht weiter. Für uns Schauspieler hat die theoretische Diskussion nur bis zu einem bestimmten Punkt einen Nutzen. Dann wird es kritisch. Was wir brauchen, ist etwas Handfestes, Konkretes, Praktisches. Nicht umsonst sitzen wir hier auf einer Bühne zusammen. Zeige uns doch einmal ein Beispiel. DER PHILOSOPH: Ich bin kein Schauspieler. DIE SCHAUSPIELERIN: Das scheint beinahe überflüssig, da du ja auch ein Thaeter verlangst.45

Es geht bis hierhin in beiden Fassungen um die Frage der Praxis: Es reicht mit der ganzen Theorie; die Schauspielerin möchte jetzt doch einmal wissen, mit welchen Techniken die Theaterleute das Thaeter des Philosophen umsetzen können. In der ersten Bühnenfassung verläuft das Gespräch folgendermaßen weiter: DER PHILOSOPH: Ich brauche euch Schauspieler aber auf jeden Fall, und die besten. Aber zurück. Ich schlage auch vor, diese Frage ganz praktisch zu behandeln. DER SCHAUSPIELER: (ist mit einem Tablett mit Kaffeetassen und Wassertopf mit Tauchsieder hinzugetreten): Um was geht es?46

An dieser Stelle tritt ein etwas klamaukiger Fall ein: DER DRAMATURG: (delikat) Um die Verfremdung. (Es donnert und blitzt.) DER SCHAUSPIELER: Aha, seine Kardinalfrage. Nicht uninteressant, aber sehr umstritten. Verfremdung! (Es donnert wieder.) Entscheidende Leute, Koryphäen, alte Theaterhasen, berühmte Kritiker und berüchtigte kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. DER PHILOSOPH: Was ist deine Meinung? 44

Vgl. Abschnitt 7.1. AdK, ABE 391, S. 4/1; AdK, ABE 390, S. 30. 46 AdK, ABE 391, S. 4/1. 45

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DER SCHAUSPIELER: (will antworten, dann zum Dramaturgen) Bei mir kommt er an den falschen. Ich gehe nicht auf seinen Leim. Wenn er sich selbst als einen Philosophen bezeichnet, wäre es nicht mehr als billig, daß er uns eine exakte Definition liefert, die das Problem ein für allemal klärt.47

In der zweiten Bühnenfassung wird die Szene an derselben Stelle etwas dezenter fortgeführt: DER SCHAUSPIELER (kommt mit Kaffee): Um was geht es? DIE SCHAUSPIELERIN: Um die Verfremdung. DER SCHAUSPIELER: Aha, seine Kardinalfrage. Nicht uninteressant, aber sehr umstritten. Verfremdung. DER PHILOSOPH: Was ist deine Meinung? DER SCHAUSPIELER: Meine Meinung: Intellektualismus, der alles zerfrißt. Der Kaffee ist gut. (Er trinkt.) Nicht?48

Die Verfremdung wird in beiden Fassungen als die „Kardinalfrage“ des Philosophen bezeichnet. In der früheren Fassung wird die umstrittene Natur dieses Themas und damit seine Absetzung vom „Alten“ als das radikale „Neue“ mit der komischklamaukigen Einschaltung von Donner und Blitz betont. Im Vergleich zu den anderen Themen, die im Text verhandelt werden, wird zudem vor allem in der ersten Bühnenfassung dem Begriff der Verfremdung viel Zeit und Platz eingeräumt – insgesamt in zwei von sieben Szenen –, obwohl er im Messingkauf -Fragment kaum thematisiert wird. Die Betonung, die Verfremdung sei der technische Schlüssel zur Umsetzung des echten epischen Theaters, reduziert die brechtsche Theorie auf eine einfache Problematik, die mit den einfachen schauspielerischen Mitteln des V-Effekts zu lösen zu sein scheint – da dieses Material sonst nur im Archiv des Berliner Ensembles verfügbar ist, zitiere ich diese Szene in ihrer fast vollen Länge: DER SCHAUSPIELER: Damit ein Mann seine Mutter als Weib eines Mannes sieht, ist ein V-Effekt nötig, er tritt z. B. ein, wenn er einen Stiefvater bekommt. DIE SCHAUSPIELERIN: Wenn einer seinen Lehrer in Unterhosen sieht, entsteht ein VEffekt. DER PHILOSOPH: Aus einem Zusammenhang gerissen, wo der Lehrer groß erscheint, ist er in einen Zusammenhang gerissen worden, wo er klein erscheint. [. . . ] DER PHILOSOPH: Die Sprechweise der Zirkusclowns und die Malweise der Panoramen wenden den Verfremdungsakt an. [. . . ] DER PHILOSOPH: [. . . ] Auch das Wort „tatsächlich“ kann Aussagen verfremden. DIE SCHAUSPIELERIN: „Er ist tatsächlich nicht zu Hause gewesen“, er sagte es, aber wir glaubten nicht und sahen nach; oder auch: wir hätten es nicht für möglich gehalten, daß er nicht zu Hause gewesen sein konnte, aber es war eine Tatsache. DER PHILOSOPH: Nicht minder dient das Wort „eigentlich“ der Verfremdung. DER SCHAUSPIELER: „Ich bin eigentlich nicht einverstanden.“ 47 48

Ebd. AdK, ABE 390, S. 30.

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DER DRAMATURG: Eine Verfremdung des Autos tritt ein, wenn wir nachdem wir schon lange einen modernen Wagen gefahren haben, eines der alten T-Modelle Henry Fords fahren. Wir hören plötzlich wieder Explosionen: der Motor ist ein Explosionsmotor. Wir beginnen uns zu wundern, daß solch ein Gefährt, daß überhaupt ein Gefährt, ohne von tierischer Kraft gezogen zu sein, fahren kann, kurz, wir begreifen das Auto, indem wir es als etwas Fremdes, Neues, als einen Erfolg der Konstruktion, insofern etwas Unnatürliches begreifen. DER PHILOSOPH: Die Natur, zu der ja das Auto unzweifelhaft gehört, hat plötzlich das Moment des Unnatürlichen in sich, ihr Begriff ist nunmehr gesättigt damit. DER SCHAUSPIELER: Durch die Definition des Eskimos: „Das Auto ist ein flügelloses, auf dem Boden kriechendes Flugzeug“ wird das Auto ebenfalls verfremdet. (Alle lachen.)49

Die Frage nach der Verfremdung ist nicht mehr die theoretische Frage darüber, wie die bestehenden Verhältnisse hinterfragt werden können oder die Realität der Kunst im Moment des Betrachtens zu entlarven sei, sondern wird zu einer rein technischen Angelegenheit. Der Begriff des Verfremdungseffekts wird zum Inbegriff des epischen Theaters, das es nun im Messingkauf schlichtweg einzusetzen gilt, und ist fortan von allen als Schauspieltechnik zu beherrschen. Es verschwindet darüber hinaus etwas in der Bühnenfassung, das im späteren Verlauf dieser Arbeit einen wichtigen Stellenwert einnehmen soll, fast völlig aus dem Text – nämlich das in Abschnitt 6.2 näher zu behandelnde Verhältnis zwischen Gesetz und Singularität sowie die Kritik, die im Messingkauf anhand der Auslöschung des Individuums durch das Gesetz geübt wird.50 Im Messingkauf -Fragment gibt es beispielsweise folgende Passage ohne bestimmte Figurenzuordnung: Ganz unnötig, ja hinderlich wäre es für unsere Zwecke, die Figuren und Auftritte einem kalten Zurkenntnisnehmen und Abwägen darbieten zu wollen. Alle Ahnungen, Erwartungen, Sympathien, die wir Leuten in der Wirklichkeit entgegenbringen, mögen wir auch hier aufbieten. Sie sollen nicht Figuren sehen, die nur Täter ihrer Tat sind, d. h. eben noch ihre Auftritte ermöglichen, sondern Menschen: wandelnde Rohstoffe, unausgeformt und unausdefiniert, die überraschen können. Nur solchen Figuren gegenüber werden sie echtes Denken praktizieren, nämlich interessebedingtes, von Gefühlen eingeleitetes, begleitetes Denken, ein Denken in allen Stadien der Bewußtheit, Klarheit, Effektivität.51

Die erste Hälfte dieser Passage wird in der zweiten Bühnenfassung des Berliner Ensembles folgendermaßen übernommen bzw. geändert: Ganz unnötig, ja hinderlich wäre es für unsere Zwecke, die Figuren und Auftritte einem kalten Zurkenntnisnehmen und Abwägen darbieten zu wollen. Alle Ahnungen, Erwartungen, Sympathien, die wir Leuten in der Wirklichkeit entgegenbringen, mögen wir auch hier aufbieten. Nur solchen Figuren gegenüber werden eure Zuschauer echtes Denken praktizieren, nämlich interessebedingtes, von Gefühlen eingeleitetes, begleitetes Denken, ein Denken in allen Stadien der Bewußtheit, Klarheit, Effektivität.52

49

AdK, ABE 391, S. 4/5 f. Vgl. Abschnitt 6.2. 51 BFA 22.2, S. 725. 52 AdK, ABE 390, S. 33. 50

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Hier wird interessanterweise die Beschreibung des Menschen als „unausgeformt und unausdefiniert“, zur Überraschung fähig, ausgeklammert.53 Was hinterlassen wird, ist eine Nähe zwischen den Sätzen „Alle Ahnungen, Erwartungen, Sympathien, die wir Leuten in der Wirklichkeit entgegenbringen“ und „Nur solchen Figuren gegenüber werden eure Zuschauer echtes Denken praktizieren.“ Die Alterität des Einzelnen geht hier völlig unter und somit sein Potential, anders zu handeln, als der Zuschauer es mit seinen Vorurteilen erwarten würde. Stattdessen wird hier fast mit der Einfühlung plädiert, dass der Zuschauer der Figur mit der Emotionalität seines Alltags begegnen soll. An anderer Stelle werden die Einschränkungen des Philosophen dem Marxismus gegenüber ausgelassen: Im dritten Gespräch der zweiten Bühnenfassung, „GESELLSCHAFT UND KUNST“, wird der erste Teil eines Austausches zwischen Dramaturg und Philosoph gänzlich übernommen: DRAMATURG Ich vermute, daß man diese Demonstrationen nicht einfach ins Blaue hinein veranstalten kann. Irgendeine Richtung muß man haben, nach irgendwelchen Gesichtspunkten muß man die Vorfälle auswählen, zumindest Vermutungen müssen dasein. Wie ist es damit? PHILOSOPH Es gibt eine Wissenschaft über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Es ist eine große Lehre über Ursache und Wirkung auf diesem Gebiet. Sie kann uns die Gesichtspunkte liefern. DRAMATURG Du meinst wohl die marxistische Lehre?54

Im Messingkauf-Fragment wird diese Stelle dann von einigen Vorbehalten des Philosophen gefolgt: PHILOSOPH Ja. Aber ich muß eine Einschränkung machen. Diese Lehre beschäftigt sich vornehmlich mit dem Verhalten großer Menschenmassen. Die Gesetze, welche diese Wissenschaft aufstellte, gelten für die Bewegungen sehr großer Einheiten von Menschen, und wenn auch über die Stellung des einzelnen in diesen großen Einheiten allerhand gesagt wird, so betrifft auch dies eben für gewöhnlich nur die Stellung des einzelnen eben zu diesen Massen. Wir aber hätten bei unseren Demonstrationen es mehr mit dem Verhalten der einzelnen untereinander zu tun. [. . . ].55

In der zweiten Bühnenfassung verschwindet jedoch diese Einschränkung, und stattdessen folgt eine Passage aus den „Ausführungen des Philosophen über den Marxismus“56 : „DER PHILOSOPH: Ja. Die marxistische Lehre stellt gewisse Methoden zur Anschauung auf, Kriterien. [Usw.]“57 Das ist an sich nicht verkehrt – in dieser Passage erfolgt ebenfalls eine Kritik der marxistischen Darstellungspraxis, die die Nachahmung von Vorfällen „als Illustrationen zu etwaigen, von den Marxisten aufgestellten Sätzen bilden sollt, deren es, wie ich erwähnt habe, viele gibt.“58 Doch 53

Für eine ausführlichere Diskussion dieser Passage des Fragments siehe Abschnitt 6.2. BFA 22.2, S. 715. 55 BFA 22.2, S. 715 f. 56 Vgl. BFA 22.2, S. 716 ff. 57 AdK, ABE 390, S. 27. 58 BFA 22.2, S. 717. 54

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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die explizite Anweisung des Philosophen – die man auch als ein Kommentar zum Realismus-Streit der 1930er und 1950er Jahre lesen kann –, dass es darum geht, das Verhalten von Einzelmenschen untereinander zu demonstrieren, wird eindeutig (und anscheinend absichtlich) aus der Bühnenfassung ausgeklammert.59 Als letztes Beispiel für das Wegretuschieren der Singularität aus dem Denken des Marxismus im Messingkauf gibt es eine sehr kleine Wortänderung, die jedoch viel über das dramaturgische Edieren am Berliner Ensemble aussagt. Ebenfalls Teil der „Ausführungen des Philosophen über den Marxismus“ und ebenfalls in der zweiten Bühnenfassung übernommen ist eine kleine Erörterung des Philosophen anhand von Schillers „Wallenstein“: „Es wird nicht bewiesen in diesem Stück durch die Folge der Vorfälle, daß ein solcher Verrat zur moralischen und physischen Zerstörung des Verräters führen muß, sondern es wird vorausgesetzt.“60 Im Messingkauf -Fragment aber hat sich Brecht eindeutig für „dieser“ anstatt „solcher“ entschieden, was am durchgestrichenen „ein solcher“ zu erkennen ist. Dadurch wird die Singularität dieses Vorfalls betont: PHILOSOPH: nehmen wir das stück WALLENSTEIN von dem deutschen schiller. da begeht ein general verrat an seinem monarchen. es wird nicht bewiesen in diesem stück, durch die folge der vorfälle, dass ein solcher dieser verrat zur moralischen und physischen zerstörung des verräters führen muss, sondern es wird vorausgesetzt.61

Es geht um diesen einen, singulären und bestimmten Verrat; „ein solcher“ Verrat würde implizieren, dass jedwede Verhandlung desgleichen auf eine bestimmte Art und Weise ausgehen müsste und nach kausalen Gesetzen zu erfassen wäre. Das „dieser“ wird aber in der Bühnenfassung wieder zum „solcher“, die Streichung gestrichen und so das konkret Singuläre verallgemeinert und durch die Generalisierung verkürzt. Das Berliner Ensemble scheint hier einen expliziten Hinweis des Autors, eine Formulierung, die ihm anscheinend wichtig gewesen ist, zu missachten. Solcherlei Eingriff in den Text ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Bühnenfassung des Berliner Ensembles ganz bewusst und vorsätzlich den Text für ihre eigenen Zwecke verwendet bzw. zu Gunsten ihrer eigenen Interpretation verstellt. Das Berliner Ensemble ist womöglich auf diese Weise verfahren, um Brecht für das offizielle ästhetische DDR-Programm des Sozialistischen Realismus ‚zurechtzubiegen‘, der das Allgemein-Typische forderte.62 Ein ähnlicher Versuch, Brechts „Materialwert-Theorie“ ‚zurechtzubiegen‘, wird in Abschnitt 5.4 ausführlich dargestellt. Man könnte angesichts all dieser Beispiele einwenden, dass es zum üblichen dramaturgischen Aufgabenbereich angehört, Änderungen und Überarbeitungen eines Textes für dessen Inszenierung auf einer Bühne vorzunehmen. Die Inszenierungen 59 Siehe Abschnitte 5.4 und 6.3 zum Thema der Literaturdebatten der 1930er und 1950er Jahren sowie ihre Diskussion in der DDR-Literaturwissenschaft. 60 AdK, ABE 390, S. 28. 61 AdK, BBA 124/35; vgl. BFA 22.2, S. 717. 62 Vgl. Abschnitt 6.3.

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Wirkungsgeschichte und Editionen

der Bühnenfassungen durch das Berliner Ensemble werden aber Brecht als Autor zugeschrieben, wie bereits in der eingangs zitierten Vorrede zur Uraufführung: „Bertolt Brecht. Der Messingkauf“. Es werden keine Angaben darüber gemacht, dass der Text von einer äußeren Instanz zusammengefügt wurde oder umfangreiche Passagen, wie zum Beispiel fast der komplette zweite Teil des bereits diskutierten vierten Gesprächs, von den Mitarbeiter*innen des Berliner Ensembles hinzugefügt werden.63 Im Programmheft von 1967 erscheint der Name „Werner Hecht“ kein einziges Mal.64 Doch Hecht hat sich im Fall des Messingkaufs nachweislich zur gleichen Zeit sowohl an der Bühnenfassung als auch an der Edition beteiligt. Diese außerordentliche Beteiligung ist ein Ausnahmefall und erteilt Hecht eine unhintergehbare Macht über die Interpretation von Brechts Fragment erteilte, ohne dass diese Macht sichtbar wäre. Die vorliegenden Ausführungen und Beispiele offenbaren das Verständnis Hechts sowie der Mitarbeiter*innen am Berliner Ensemble von Brechts Theater und der Rolle bestimmter Begriffe innerhalb des Theaters. Sie zeigen auch, wie Hecht sich zur Zeit der ersten Edition des Messingkaufs einen idealen Messingkauf vorgestellt hat. Hinsichtlich des Einflusses Hechts und seiner Autorität bezüglich der Überlieferung und Rezeption des Messingkaufs sowie der Rolle der Aufführungen als der Weitergabe eines sehr bestimmten Bildes von Brecht und seinem Vermächtnis sind einige interne und externe Kommunikationen des Berliner Ensembles sehr interessant, die in dessen Archiv vorzufinden sind. Das Berliner Ensemble erhielt beispielsweise Anfragen von ausländischen Theatern, die den Messingkauf aufführen wollten: Kenneth Tynan, damals Literary Manager am Royal National Theatre in London, bekam drei lange, für unsere Zwecke sehr aufschlussreiche Antworten sowohl von Hecht als auch von Hauptmann und Joachim Tenschert auf seine Anfrage, ob es möglich wäre, den Messingkauf zu übersetzen und in London aufzuführen. Alle drei sind sich einig: „Eine Aufführung, wie wir sie bei uns gemacht haben, ist nach meiner Ansicht von keinem anderen Theater zu kopieren“ (Hecht); „Unser diffiziles, delikat-balanciertes Messingkauf-Programm ist an unser Haus gebunden“ (Hauptmann); „[. . . ] mit der Darbietung dieser nächstlichen [sic!] Gespräche über eine neue Art, Theater zu machen, nebst praktischen Beweisstücken und Demonstrationen spricht und agiert das Berliner Ensemble als Theater Brechts in eigener Sache“ (Tenschert).65 Da es die Messingkauf-Dialoge schon als öffentlich zugänglichen Text im Band 5 der Schriften zum Theater gibt, räumt Hecht jedoch ein, dass er sich

63 Es ist unglücklicherweise nicht ersichtlich, welche Teile von welchen Mitarbeiter*innen geschrieben wurden. 64 Vgl. Berliner Ensemble: Der Messingkauf. Programmheft 1967. 65 Werner Hecht: Abschrift. Bemerkungen zur Aufführbarkeit des „Messingkauf“. 18. Februar 1964. AdK, ABE Nr. 34, Material 2.1; Hauptmann: Abschrift. Zu Tynans Brief 1964. AdK, ABE Nr. 34, Material 2.1; und Joachim Tenschert: Abschrift. Zur Anfragen Kenneth Tynan, betreffend englische Version des „Messingkauf“ 18. Februar 1964. AdK, ABE Nr. 34, Material 2.1.

3.1 Bühnenfassungen (1963) und Aufführungen des Berliner Ensembles

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eine Lesung in einer Matinee ohne weiteres vorstellen und [. . . ] diese sogar für sehr wichtige [sic!] [hielte]. Denn es ist, glaube ich, seit Diderot das erste Mal, dass ein Dramatiker in Dialogform über theaterästhetische und -praktische Fragen schreibt. Das sollte ausgenutzt werden.66

Wie aus einem Protokoll der Berliner Ensemble Brigade zu entnehmen ist, sahen die Mitglieder des Berliner Ensembles den Messingkauf als eine Beschreibung sowohl der praktischen Arbeit von Brecht am Berliner Ensemble als auch der kontinuierlichen, weiterhin am Berliner Ensemble unter der Leitung Weigels ausgeführten Arbeit.67 So schreibt Tenschert wieder, diesmal an Harry Buckwitz, Direktor am Schauspielhaus Zürich und selber ein bekannter Brecht-Regisseur: [. . . E]s ist dies wirklich eine Fassung des Berliner Ensembles, die in Auswahl und Vortrag (denn Auswahl und Inszenierung, merkte ich erneut, bedingen in einem so hohen Maße einander, sind voneinander abhängig) nicht nachvollziehbar, nicht wiederholbar ist. Da wird die Vorgeschichte des Brecht-Theaters resümiert, Programm und gegenwärtige Praxis des Berliner Ensembles oftmals bewusst polemisch behauptet und mit Beispielen belegt.68

Indem Hans-Jochen Irmer 1972 Folgendes schreibt, scheint der Messingkauf ganz jenseits seines Autors und ohne jede Referenz auf ihn zu stehen – als wäre der Text das Werk des Berliner Ensembles selbst: Unter allen Möglichkeiten, die Zuschaukunst zu befördern, ist m. E. die des ‚Messingkauf‘Abends die beste und erfolgreichste. Denn dieser Abend bietet – anders als weiterbildende Vorträge, Seminare, Diskussionen etc. – die Voraussetzungen, das Publikum spielerisch in die Arbeit des Berliner Ensembles einzuführen.69

Dass die Bühnenfassungen des Messingkaufs vom Berliner Ensemble für dessen Bühne zusammengestellt und überarbeitet wurde, ist nicht problematisch. Problematisch ist, dass diese in den Programmheften zur Aufführung verschwiegen wurde und dass die Aufführung somit von der Presse und vom Publikum als ein Stück Brechts rezipiert wurde. Es ist auch irritierend, dass in der Vorrede zur Uraufführung behauptet wird, das Stück sei 1939/1940 im Exil entstanden, als es ein Berliner Ensemble noch gar nicht gab, andererseits wird aber beteuert, dass der Messingkauf die Methoden, Arbeitsweisen und praktische Arbeit des Berliner Ensembles wiedergebe. Das Berliner Ensemble und dessen Personal hat den Messingkauf direkt als Schaustück des eigenen Hauses ergriffen und somit den Messingkauf als das theoretische Vermächtnis Brechts an sich geknüpft. Wie aus den hier behandelten

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Hecht: Abschrift. Bemerkungen zur Aufführbarkeit des „Messingkauf“ 1964. Vgl. Protokoll der Sitzung der Brigade „Zur Erhaltung der Qualität der Aufführungen“ am 13. November 1963. Thema: Brecht-Abend Nr. 3, „Der Messingkauf“. 15. November 1963. AdK, ABE Nr. 34, Material zur 1. Fassung 1963. 68 Joachim Tenschert: Brief an Harry Buckwitz vom 2. September 1970. AdK, ABE Nr. 34, Material zur 1. Fassung 1963. 69 Hans-Jochen Irmer: Zum „Messingkauf“. 10. Januar 1972. AdK, ABE Nr. 34, Material zur 1. Fassung 1963. 67

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Zeugnissen zu lesen ist, hat sich das Berliner Ensemble, vertreten durch Hecht, als den einzig wahren Erbe Brechts, als ursprünglichsten Ort seines Denkens und seines Theaters sowie einzige Institution stilisiert, die nach eigener Auskunft in der Lage war, Brecht ‚richtig‘ zu interpretieren. Diese Zeugnisse sind als Hintergrundwissen zu den Editionen wichtig, denn sie zeigen, was für ein Nachleben Brechts Text hatte und was für ein Brecht-Bild den editorischen Rekonstruktionen des Messingkaufs zugrunde lag, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen.

3.2 Editionen Das folgende Kapitel präsentiert eine Zusammenfassung und Analyse der verschiedenen Editionen des Messingkaufs, die zwischen 1963 und 1993 auf Deutsch erschienen sind, zusammen mit Darstellungen ihrer Stärken und Schwächen. Bevor wir zu den von Suhrkamp veröffentlichten Editionen übergehen, müssen wir jedoch bei einer anderen ‚Ausgabe‘ des Messingkaufs kurz verweilen: Nach der Veröffentlichungen der „Übungsstücken“ sowie der „Gedichte“ und „Reden“ in den Versuchen und der Theaterarbeit der 1950er Jahren, erschienen einige der Dialoge des Messingkaufs zum ersten Mal in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Theater heute im Jahr 1963.70 Da diese Veröffentlichung selbst keine Edition im herkömmlichen Sinne darstellt und ohnehin auf der Edition des Messingkaufs in den Schriften zum Theater basiert (gleichwohl mit einer anderen Reihenfolge der Dialoge), erhält sie in diesem Teil der vorliegenden Arbeit keinen gesonderten Abschnitt. Nichtsdestotrotz ist diese Ausgabe aus einigen Gründen interessant: Zum einen proklamiert Theater heute bereits auf der Titelseite, dass der Messingkauf in dieser Ausgabe „[z]um erstenmal gedruckt“ wird, obwohl dieser Veröffentlichung bereits die anderen, in Abschnitt 2.1.4 erwähnten Publikationen vorausgegangen sind – von denen der Abdruck in Theater heute sogar zwei enthält: „Der Wettkampf des Homer und Hesiod“ und „Der Streit der Fischweiber“.71 Zum anderen erhebt die Publikation diesen Erstlings-Anspruch, obwohl der Abdruck keineswegs alle Messingkauf -Dialoge darstellt. In der Ausgabe ist ein Beitrag von Wendt von besonderem Interesse, der dem Abdruck vorausgeht: Zu den Bruchstücken des Messingkaufs nämlich schreibt Wendt: Sie sind entstanden in den Jahren 1939 und 1940, während der Arbeit an „Leben des Galilei“, und angeregt von der Lektüre der Galileischen Dialoge. Sie sind nur in Bruchstücken durchgeführt, fragmentarisch geblieben, und werden nun – von Werner Hecht zusammengetragen und nach Entwürfen Brechts über den Verlauf des Gesprächs geordnet – im fünften Band der „Schriften zum Theater“ bei Suhrkamp erscheinen. Teile daraus sind in diesem Heft zum erstenmal [sic!] abgedruckt, Teile daraus wurden in diesen Wochen beim Berliner Ensemble zu einer Spielfassung bearbeitet und auf die Bühne gebracht.72

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Vgl. Bertolt Brecht: Der Messingkauf. Nächtliche Gespräche über eine neue Art, Theater zu spielen. In: Theater heute 12 (Dezember 1963), S. 65–76. 71 Vgl. Brecht: Der Messingkauf 1963b, S. 73 ff. 72 Wendt: Der „Messingkäufer“ Bertolt Brecht 1963, S. 62.

3.2 Editionen

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Obwohl Wendt die Entstehung des Messingkaufs falsch datiert, macht er hier auf die enge inhaltliche und zeitliche Verzahnung der Bearbeitung der ersten Bühnenfassung sowie der Edition in Schriften zum Theater aufmerksam, die eine der Behauptungen auch dieser Arbeit ist. Zudem wird hier erneut deutlich, zu welchem Grad sich die ersten Erschließungen des Messingkaufs um die Person Hecht drehten. Aus dieser Passage geht außerdem wie keinem anderen Zeugnis der Wirkungsgeschichte des Messingkaufs hervor, inwiefern die Terminierung der zwei verschiedenen Arten der Zugänglichmachung als Teil einer bewusst inszenierten Öffentlichkeitsarbeit verstanden werden muss – zugunsten eines sogenannten Brecht-Vermächtnisses und somit des Berliner Ensembles als ‚wahres Erbe‘ Brechts. Auf dem vorherigen Abschnitt aufbauend ist der Sinn des folgenden Abschnitts, die Entscheidungen hinter den Zusammenstellungen des Messingkaufs in den verschiedenen Editionen vor Augen zu führen, um aufzuzeigen, wie bestimmte Forschungstendenzen letztendlich durch diese Entscheidungen geprägt wurden. Ich werde auf eine Untersuchung der beiden auf Englisch erschienenen Übersetzungen des Messingkaufs verzichten, da interkulturelle und übersetzungswissenschaftliche Überlegungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Darüber hinaus basiert editionstechnisch die 1963 entstandene Übertragung von John Willett weitestgehend auf der Edition in den Schriften zum Theater, die es als erstes zu analysieren gilt. Obwohl die Übersetzung bzw. Edition von 2015 eine neue Sortierung und Anordnung des Messingkaufs nach den Themen des Gesprächs präsentiert, sind zudem auf Basis dieser Edition bisher keine einschlägigen Forschungsbeiträge entstanden.

3.2.1 Schriften zum Theater (1963) Die erste abgedruckte Fassung eines ‚vollständigen‘ Messingkaufs im gänzlich diesem Text gewidmeten Band 5 der Schriften zum Theater bildete die Basis der einzigen Fassungen, die von 1963 bis 1993 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich waren. Diese Edition teilt die Dialoge des Messingkaufs in vier Nächte auf. Die „Übungsstücke für Schauspieler“ werden durch den Zusatz „aus der dritten Nacht“ ergänzt und dieser Nacht auch zugeordnet. Die Gedichte sind separat nach der vierten Nacht, aber trotzdem vor den „Nachträgen zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ abgedruckt, deren räumliche und zeitliche Distanz zum ‚Messingkauf-Dokument‘ durch ihre Platzierung ‚nach‘ dem ‚Haupttext‘ gekennzeichnet wird. Der Herausgeber Hecht gibt hierin vor, „eine Gliederung nach [Brechts] ersten Entwürfen“73 zum Messingkauf zu präsentieren und nach einer „Rekonstruktion“74 zu streben: „Die außerordentliche Materialfülle, innerhalb der theoretischen Schriften ungewöhnlich durch die Form der Gestaltung, schien eine editorische Rekonstruktion zu rechtfertigen.“75 Dennoch will „die Zusammenstellung [. . . ] auf jeden Fall die ‚Nahtstellen‘ sichtbar machen, denn die Buchausgabe hat nicht die Auf73

Hecht: Anmerkungen 1963, S. 303. Ebd. 75 Ebd. 74

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Wirkungsgeschichte und Editionen

gabe, eine Bearbeitung zu liefern, sondern lediglich das Material in einer lesbaren Anordnung vorzulegen.“76 Die Nähte des Textes sollen durch „Leerzeilen zwischen den Bruchstücken“77 gekennzeichnet werden. Dieses Fragmentarische kommt auch in Hechts erster Edition teilweise zum Vorschein durch die Verwendung von eckigen Klammern, die die im Messingkauf -Fragment unbetitelten Passagen kennzeichnen (z. B. „[Das Theater des Stückeschreibers]“,78 „[Rede des Dramaturgen über Rollenbesetzung]“79 ). Positiv hervorzuheben an dieser Ausgabe ist, dass sowohl Dialoge als auch Gedichte und „Übungsstücke“ in einem Band untergebracht werden. Die Fülle an Material wird – obwohl in einer sehr normierten und geglätteten Form – in seiner (fiktiven) Enormität präsentiert. Auf dieser Edition basiert auch die erste englischsprachige Übersetzung des Messingkaufs durch Willett, The Messingkauf Dialogues, die ebenfalls 1963 erscheint. Doch die Redewendung „Bruchstücke zur [ersten, zweiten, dritten oder vierten] Nacht“ ist irreführend, da sie suggeriert, dass nicht alle Texte, die dem Messingkauf zugeordnet sind, bereits Bruchstücke sind. Und trotz der Bemühungen um die Darstellung des Fragmentarischen werden die von Brecht ‚vollendeten‘ Dialogsequenzen, die die Minderheit der hinterlassenen Schriften darstellen, als abgeschlossenes Theaterstück präsentiert. Hechts Vorhaben, das Fragmentarische sichtbar machen zu wollen, wird dadurch redundant, dass die Inhalte als klar voneinander zu trennende Einheiten geordnet und in den Anmerkungen nur wenige Angaben über die anfänglichen Fassungen oder die Entstehungsgeschichte gemacht werden. Diese Edition zwingt den Messingkauf in eine Einheit, die er selbst nicht beansprucht, wenn nicht gar ablehnen müsste. Knopf schreibt: „Viele Fragmente erschienen [in den ersten Editionen] so, als seien sie abgeschlossene Werke [. . . ], die Schriften waren zu Themenkomplexen vereint, die Geschlossenheit und Systematik suggerierten.“80 Die Edition gibt vor, eine Edition letzter Hand anzustreben. Dennoch werden Texte, die in den anfänglichen Metatexten Erwähnung finden – z. B. „K-Typus und P-Typus“ oder „Die Straßenszene“ –, jeweils im Zusammenhang einer der vier Nächte in Gänze abgedruckt, während andere Texte, die in den Metatexten erwähnt werden, wie die in Abschnitt 2.1.1 erwähnten „Übungen für Schauspielschulen“, keinen Eingang in die Edition finden und somit aus der einsehbaren Textgenese verschwinden.81 Im Gegensatz dazu werden Texte hinzugefügt, die in der anfänglichen Konzeption gar nicht vorgesehen waren – z. B. die 1951/1952 entstandenen „Gedichte und Reden aus ‚Der Messingkauf‘“. Darüber hinaus schreibt Hecht in den Anmerkungen zum Messingkauf am Ende des 1963 erschienenen fünften Bandes der Schriften zum Theater, dass „eine ‚Auflösung‘ im Sinne der Notiz [des 76

Ebd., S. 304 f. Ebd., S. 305. 78 Brecht: Der Messingkauf 1963a, S. 139. 79 Ebd., S. 223. 80 Jan Knopf: Brecht im 21. Jahrhundert. In: Bertolt Brecht. Aus Politik und Zeitgeschichte 23–24 (2006), S. 6–12, hier: S. 9. 81 Sie sind in der BFA separat abgedruckt (vgl. Übungen für Schauspielschulen, BFA 22.2, S. 614–615). 77

3.2 Editionen

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Journals zur Auflösung der Handlung] nicht möglich [war].“82 Dennoch setzt diese erste Edition des Messingkaufs dem Fragment ebenso wie in der Inszenierung ein synthetisches ‚Happy End‘ durch die Worte des nun auf Seiten des Philosophen stehenden Schauspielers: „Ändert die Welt, sie braucht es!“83 – und das, obwohl diese Passage lediglich eines von vielen Bruchstücken ist und ihr anscheinend von Brecht keine sichtbare Bedeutung zugeschrieben wurde.84 Hecht behauptet, er wolle die Wünsche Brechts postum mit einer lesefreundlichen Ausgabe erfüllen und meint damit zu wissen, was der „Stückeschreiber“ sich gewünscht hätte: Die Anzahl an Gedichten steigt von den insgesamt dem Messingkauf zugehörig überlieferten zwölf auf 32. Hechts Begründung: Diese Gedichte gehörten „[. . . ] dem Inhalt nach zu den ‚Wünschen des Stückeschreibers‘.“85 Trotzdem muss man festhalten, dass ohne diese Edition – ebenso wie bei den editionsphilologisch gesehen katastrophalen ersten Editionen von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder Franz Kafkas Prozeß – der Messingkauf kein Lesepublikum gefunden hätte. Auch wenn diese Edition das Fragment vereinheitlicht und, ja, verpfuscht, hat Hecht mit ihr überhaupt erste Schritte in Richtung einer Zugänglichkeit gewagt.

3.2.2 Gesammelte Werke in 20 Bänden (1967) Diese Edition der Dialoge basiert redaktionell auf der schon in den Schriften zum Theater abgedruckten Edition, was deren Anordnung und Zusammenstellung betrifft.86 War jedoch das Fragmentarische dort noch in der Verwendung der eckigen Klammern überhaupt – wenn auch minimal – sichtbar, werden diese Klammern nun gänzlich entfernt und der Eindruck der Abgeschlossenheit somit verstärkt. Die drei verschiedenen ‚Komponenten‘ des Messingkaufs – Dialoge, „Übungsstücke für Schauspieler“ und Gedichte – werden jetzt separat abgedruckt: Die Dialoge finden Platz in Band 16 „Schriften zum Theater“, die Gedichte im Band 9 „Gedichte 2“,87 und die „Übungsstücke für Schauspieler“ werden in Band 7 „Stücke 7“ untergebracht. Diese Trennung der verschiedenen Komponenten des Messingkaufs weist auf die Schwierigkeiten hin, mit denen man – vor allem als Herausgeber*in – konfrontiert wird, wenn man versucht, den Messingkauf -Komplex zu bestimmen. Galten sie noch in den Schriften zum Theater als – wie auch dem Namen der Reihe 82 Hecht: Anmerkungen 1963, S. 304. Für Diskussionen dieser Notiz siehe Abschnitt 2.1.1 sowie Abschnitt 5.1. 83 Brecht: Der Messingkauf 1963a, S. 243. 84 Für eine detailliertere Diskussion des ‚Endes‘ des Messingkaufs siehe Abschnitt 3.3. 85 Hecht: Anmerkungen 1963, S. 312. 86 Vgl. Brecht: Der Messingkauf. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 16 [1967], S. 499–657. Es existiert dazu noch eine Ausgabe, die Gesammelten Werke in 8 Bänden, die ebenfalls von Hauptmann 1967 herausgegeben wurde. Da diese nur bezüglich der Band-Einteilung von der Edition der Gesammelten Werke in 20 Bänden abweicht, findet sie hier keine nähere Betrachtung. 87 Vgl. Bertolt Brecht: Gedichte aus dem „Messingkauf“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9, S. 760–814.

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Wirkungsgeschichte und Editionen

zu entnehmen ist – „Schriften“, sind die Texte nun verschiedenen Gattungen zugeordnet und werden in dieser Hinsicht zusätzlich fragmentiert. Die „Wünsche des Stückeschreibers“ werden zudem noch großzügiger interpretiert. Die Anzahl an Gedichten – 12 im Archiv, 32 in den Schriften zum Theater – steigt auf kaum begreifbare 42 an; alle werden irreführend der Zeitspanne „1938–1941“ zugeordnet. So schreiben die Herausgeber*innen der BFA: „Nach Auskunft von Elisabeth Hauptmann hat Brecht noch weitere aus verschiedenen Arbeitsphasen stammende Gedichte über eine neue Art, Theater zu spielen, in den Messingkauf aufnehmen wollen. In der Überlieferung gibt es dafür keine Hinweise Brechts.“88 Die Zuordnung der Gedichte zum Messingkauf findet somit sozusagen auf anekdotischer Basis statt. Und während die im Dialog eingebetteten Gedichte in Hechts erster Edition innerhalb ihrer Einbettung präsentiert werden (z. B. „[Das Unfertige]“,89 „Leichtigkeit“90 ), werden sie diesem Zusammenhang jetzt entrissen und als für sich stehende Gedichte vorgestellt. Die „Übungsstücke für Schauspieler“, jetzt bei den „Stücken“ untergebracht, scheinen des Weiteren fast willkürlich platziert worden zu sein. Nach den Einaktern, den „Sieben Todsünden der Kleinbürger“ und den „Fragmenten“ (inkl. „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ und „Der Brotladen“) erscheinen sie im „Anhang“ unter dem einfachen Titel „Übungsstücke für Schauspieler“. Der einzige Verweis darauf, dass sie Brechts Arbeit am Messingkauf entstammen, ist in einer kurzen Anmerkung am Ende des Bandes enthalten.91 Während die Wichtigkeit des Messingkaufs als enormer Versuch, eine neue Art des Theaters zu bestimmen, in den Schriften zum Theater und dessen Präsentation der verschiedenen den Messingkauf konstituierenden Komponente in einem Band vergleichsweise gut zur Geltung kam, geht er in der verstreuten Präsentation der Texte und ihrer Einbettung innerhalb zahlreicher anderer Texte in den Gesammelten Werken in 20 Bänden unter.

3.2.3 Die Große Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke (1993) In der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken, herausgegeben unter der Leitung von Hecht, Knopf, Werner Mittenzwei und Müller, erscheint der Messingkauf 30 Jahre nach der ersten Edition. An dieser neuen Edition arbeitet Hecht mit Inge Gellert zusammen, der ehemaligen Leiterin des BrechtZentrumBerlin (heute das Literaturforum im Brecht-Haus) und BrechtWissenschaftlerin. Die BFA ist nach den Prinzipien der „Fassung früher Hand“ und der „größtmögliche[r] Vollständigkeit“92 entstanden. Wie im Kapitel zur Entstehungsgeschichte 88

Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1121. Vgl. BFA 22.2, S. 812. 90 Vgl. BFA 22.2, S. 810. 91 Vgl. Elisabeth Hauptmann: Anmerkungen. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 7, S. 1*–5*, hier: S. 5*. 92 Werner Hecht et al.: Editionsbericht. In: BFA R, S. 805–817, hier: S. 805. 89

3.2 Editionen

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bereits dargestellt, werden im Band 22.2 die überlieferten Typoskripte und Manuskripte des Messingkaufs in vier Konvolute nach vier ungefähren Arbeitsphasen sortiert: 1939–1941, 1942/1943, um 1945 und 1948–1955. Alle Texte werden entweder als A-Texte – Pläne oder Übersichtsdarstellungen, sprich: Metatexte – oder als B-Texte – ausgeführte Dialoge, einzelne Sprechpartien, „Übungsstücke“, Gedichte oder essayistische Schriften – gekennzeichnet.93 Innerhalb dieser Sortierung werden die Texte den verschiedenen vier Nächten der anfänglichen Pläne zugeordnet. Texte, die in keine dieser Nächte einsortiert werden konnten, befinden sich nach den Nächten unter der jeweiligen Rubrik „Texte ohne Zuordnung zu den Nächten“. Die „Übungsstücke für Schauspieler“ und die Gedichte werden aufgrund ihrer Publikationsgeschichte der vierten Arbeitsphase zugeordnet, was wiederum heißt, dass diese Arbeitsphase fast ausschließlich aus diesen Schriften besteht. Diese Ausgabe bietet zum ersten Mal die Möglichkeit, die Texte in ihrer ungefährlichen zeitlichen Anordnung zu betrachten. In den ersten Metatexten vorgesehene Texte wie „K-Typus und P-Typus“ sind in der BFA nicht mehr Bestandteil des Messingkaufs. Ansonsten sind alle Texte, die sich in den vier mit „DER MESSINGKAUF“ betitelten Archiv-Mappen befinden (bis auf einen Zeitungsartikel zur englischen Politik, dessen Zusammenhang die Herausgeber*innen nicht ermitteln konnten, weshalb sie den Artikel in ihrer Edition nicht aufnehmen94 ), sowie diejenigen, die sich in anderen Mappen befinden, aber von Brecht als dem Messingkauf zugehörig identifiziert wurden, in der BFA mitaufgenommen. Die BFA präsentiert wie die Editionen in den Schriften zum Theater und den Gesammelten Werken die „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ als festen Bestandteil des Textes. An vielen Stellen behält die BFA den fragmentarischen Charakter des Messingkaufs bei: Die verschiedenen Nächte werden nach den Notizen Brechts auf den Blättern präsentiert. Wenn das zur Folge hat, dass Themen im Text wiederholt werden, werden sie einfach wiederholt. Des Weiteren begegnet man oft Passagen im Text, die mitten im Satz aufhören, ganz ohne Vervollständigungsversuche. Dies ist beispielsweise zu sehen in einem Bruchstück zum „Augsburger“: Als der Augsburger sein erstes Stück aufführte, in dem eine halbstündige Schlacht vorkam, fragte er den Valentin, was er mit den Soldaten machen sollte. „Wie sind Soldaten in der Schlacht?“ Der Valentin antwortete, ohne sich zu besinnen:95

Die BFA orientiert sich an historisch-kritischen Prinzipien, enthält einen Sachkommentar, bietet dem Leser einen fundierten Umgang mit dem Messingkauf und bleibt dabei leicht zu bedienen und leser*innenfreundlich. Doch trotz editorischer Bemühungen ist die Ausgabe noch immer nicht optimal: Der Sachkommentar bietet keine Verweise auf die Archiv-Signaturen und die enthaltenen Kommentare wirken anekdotisch und teilweise völlig willkürlich. Obwohl die BFA sich um eine 93

Vgl. Gellert und Hecht: Zu diesem Band. In: BFA 22.2, S. 1144–1145, hier: S. 1144. Vgl. ebd., S. 1112; vgl. auch AdK, BBA 124/94. 95 BFA 22.2, S. 722. Die Antwort auf diese Frage lautet in der Messingkauf-Edition der Gesammelten Werke: „weiß sans, Angst hams.“ (Brecht: Der Messingkauf 1967, S. 599.) 94

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Wirkungsgeschichte und Editionen

mehr oder minder breite Darstellung des Fragmentarischen zu bemühen scheint, sind editorische Beschlüsse gefasst worden, die den Charakter des Messingkaufs massiv ändern.

3.3 Implikationen Erst, wenn man die verstreuten Blätter des Messingkaufs vor Augen hat, ist man in der Lage, den fragmentarischen, experimentellen, prozessualen Charakter dieses Textes zu begreifen. Im Archiv ist der Messingkauf in vier Mappen überliefert, alle mit „DER MESSINGKAUF“ betitelten Aufklebern. Es befinden sich dazu weitere Texte in anderen Mappen außerhalb des Messingkaufs, die ebenfalls das „MK“Sigel tragen. Fast alle Texte des Messingkaufs sind Typoskripte mit der Ausnahme einer Handvoll Manuskripte, die meistens kürzere Notizen sind. Die ersten beiden Messingkauf -Mappen umfassen die erste Arbeitsphase (1939–1941); die anderen zwei Mappen enthalten die Texte der nächsten beiden Arbeitsphasen (1942/1943 und um 1945). Die Texte der vierten Arbeitsphase (1948–1955 bzw. 1950–195296) befinden sich in keiner der Messingkauf -Mappen, sondern in verschiedenen anderen Mappen des Archivs.97 Die Reihenfolge der Texte in der ersten Mappe, die ungefähr die Hälfte der ersten Arbeitsphase ausmacht, ist ähnlich strukturiert wie in der BFA – die vier Nächte sind hintereinander angeordnet. Dennoch liegen die den verschiedenen Nächten zugeordneten Texte in der zweiten Mappe völlig durcheinander: Texte von der ersten Nacht beispielsweise neben anderen der vierten, als ob sie hastig in die Mappe hineingesteckt worden wären. Ähnliches gilt für die dritte und vierte Mappe. Die Herausgeber*innen merken mit Recht an: „Nach den überlieferten Plänen kann keine Idealabfolge der Texte konstruiert werden.“98 Es lassen sich viele Unterschiede zwischen dem Messingkauf in dessen Editionen und dem Messingkauf -Fragment feststellen,99 wie etwa die Tatsache, dass sich Brecht im Messingkauf -Fragment kaum an die Rechtschreibung hält: Er schreibt bzw. tippt, wie in den Journalen, fast ausschließlich in Kleinschreibung, auch in den handschriftlichen Niederschriften. Er nutzt Großbuchstaben für die Namen der Figuren, für Überschriften und für Worte, die er hervorheben möchte. Dies hat manchmal interessante Wirkungen auf die Rezeptionsästhetik des Textes. Als Beispiel hierfür dient eine Sprechpartie des Philosophen, die in der BFA folgendermaßen abgedruckt wird: Eine große Menge handfester Sätze werden außer Kurs gesetzt, so die Sätze „Geld regiert die Welt“ und „Die großen Männer machen die Geschichte“ und „Eins = eins.“ Sie werden keineswegs durch entgegengesetzte, ebenso handfeste Sätze ersetzt.100

Im Typoskript sieht die Stelle ganz anders aus (siehe Abbildung 3.1). 96

Siehe Abschnitt 3.3. Die Publikationen in den 1950er Jahre liegen der Edition der BFA zugrunde. 98 Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1118. 99 In diesem Kapitel sind mit „Messingkauf -Fragment“ tatsächlich die sich im Archiv befindenden Bruchstücke gemeint, die den Messingkauf konstituieren. 100 BFA 22.2, S. 716. 97

3.3 Implikationen

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Abbildung 3.1 AdK, BBA 124/33; © BrechtErben/Suhrkamp Verlag

Der Gegensatz zwischen Klein- und Großschreibung erweckt hier den Eindruck, die Großbuchstaben würden wie verkehrte nehersche Plakate funktionieren: Sie unterbrechen als beinahe graphisches Element den Verlauf des formulierten Textes.101 Diese Wörter treten im Vergleich zum Textbeispiel aus der BFA noch deutlicher in den Vordergrund und wirken dabei umso ‚handfester‘. Im Widerspruch dazu zeigen die Worte aber auch auf den Modus des Zeigens selbst – in diesem Falle darauf, dass die „handfesten Sätze“ auch geschrieben sind, also von Menschen konstruiert wurden und somit keine intrinsischen Wahrheiten darstellen.

101 Vgl. Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? (1). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2.2. Hg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 519–531, hier: S. 524.

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Was die Verwendung des Papiers angeht, gibt es ebenfalls große Unterschiede zwischen den im Druck zugänglichen Texten und den originalen Typo- und Manuskripten. Am 12. April 1941 – wohlgemerkt während der produktivsten Phase seiner Arbeit am Messingkauf – bekennt sich Brecht explizit zur eigenen Fixation auf die Entstehung seiner Schriften: merkwürdig, wie das manuskript während der arbeit zum fetisch wird! ich bin ganz abhängig vom aussehen meines manuskriptes, in das ich immerfort einklebe und das ich ästhetisch auf der höhe halte. immer wieder ertappe ich mich [dabei], daß ich, nur damit die Seite ausgeht, versuche, mit einer ganz bestimmten anzahl von versen auszukommen für eine änderung!102

Bodo Plachta beschreibt Brechts Vorliebe für großformatige, besonders dünne Papiere in japanischer oder chinesischer Tradition, die sich nicht nur gut für Schreibmaschinendurchschläge eigneten, sondern auch weniger Zeilenumbrüche bei gebundener Rede nötig machten und daher von vornherein eine größere Übersichtlichkeit garantierten.103

Das ästhetische Gebilde des Papiers und die Anordnung der Textzeilen sind also wesentliche Bestandteile des Textes. Dementsprechend werden im Messingkauf Fragment ganze Blätter für kleine Wortwechsel zwischen den Figuren verwendet, wie z. B. in einem Bruchstück aus der ersten Nacht (siehe Abbildung 3.2).104 In der BFA steht diese Stelle zusammen mit dem Ende eines längeren Austauschs und noch einem Dialog zwischen Philosoph und Dramaturg auf einer Seite. Abgesehen von der ‚Reinigung‘ der Rechtschreibung, die ebenso strittig ist („PHILOSOF“ wird zu „PHILOSOPH“),105 suggeriert diese von den Herausgeber*innen bestimmte Anordnung, dass die in der BFA vorangegangenen Passagen mit dieser Passage im Zusammenhang stünden, während sie doch anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Teilweise verwendet Brecht auch ganze Blätter für einzelne Sätze. Als ein Beispiel unter sehr vielen steht auf einem dünnen, sonst leeren Blatt nichts außer: „DER PHILOSOPH: wir wollen den verlauf seiner angelegenheiten sein schicksal nennen“ (siehe Abbildung 3.3). Dieser Satz wirkt viel eingeengter in der Darstellung der BFA, in der er in der ihn umgebenden Textmenge fast verschwindet.106 Werden solche alleinstehenden 102 Journaleintrag vom 12. April 1941. AJ 1, S. 259; vgl. Plachta: Chaos oder „lebendige Arbeit“? 2010, S. 180. 103 Ebd. 104 Vgl. auch BFA 22.2, S. 772. 105 In der „Theorie der Pädagogien“ aus dem Fatzer-Fragment wird „Philosoph“ ebenfalls mit „f“ buchstabiert, aber als „filosof“: „die bürgerlichen filosofen machen einen großen unterschied zwischen den tätigen und den betrachtenden. diesen unterschied macht der denkende nicht. wenn man diesen unterschied macht, dann überläßt man die politik dem tätigen und die filosofie dem betrachtenden während doch in wirklichkeit die politiker filosofen und die filosofen politiker sein müssen. zwischen der wahren filosofie und der wahren politik ist kein unterschied.“ (AdK, BBA 112/37; zitiert nach Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 70 f.; vgl. Fatzer. In: BFA 10.1, S. 387–529, hier: S. 524.) Diese Passage wird in Abschnitt 5.3 ausführlicher diskutiert. 106 Vgl. BFA 22.2, S. 821.

3.3 Implikationen Abbildung 3.2 AdK, BBA 126/10; © BrechtErben/Suhrkamp Verlag

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Abbildung 3.3 AdK, BBA 127/51; © Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag

3.3 Implikationen

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Stellen in der BFA durch die Menge an Text verschluckt, wirken sie im Archiv wie Aphorismen, die – wie in Abschnitt 5.2 gezeigt werden soll – der linearen Präsentation einer Theorie wesentlich im Wege stehen. Die Einteilung des Papiers und die ästhetische Gestaltung des Manu- oder Typoskripts sind daher keineswegs von sekundärer Relevanz, sondern spielen eine zentrale Rolle für die Interpretationsmöglichkeiten des Messingkaufs, auch wenn die bisherigen Editionen diesen Eindruck nicht erwecken. Als letztes Beispiel für die Sorgfalt, mit der Brecht seine Schriftbilder gestaltete, sei ein in der BFA zu findender Austausch zwischen Schauspieler, Dramaturg und Philosoph zu nennen, der mit einigen merkwürdigen Sätzen schließt: SCHAUSPIELER Richtig, nur kann der Appell nicht gleichzeitig an beide Eigenschaften gehen. Nein, ich rede zu dem einzelnen Menschen nur als einem Mitglied der gesamten Menschheit. (Die Künste frei von moralischen Verpflichtungen) Sie, als Gesamtheit, ist interessiert an der Lebenskraft an und für sich, ganz gleich, wie sie sich auswirkt.107

Diese Passage besteht im Archivbestand hingegen aus zwei vollkommen verschiedenen Typoskripten; die letzten Sätze sind dann wieder alleinstehend, auf einem separaten, sonst leeren Blatt gedruckt (siehe Abbildung 3.4). Hier sieht es so aus, als hätte sich der ‚Manuskript-Fetischist‘ Brecht große Mühe um die graphische Gestalt des Textes gegeben. Wie man sieht, sind sowohl dieser erste Teil als auch die ersten drei Worte des zweiten Teils in Rot bzw. Schwarz-Rot gesetzt; sowohl die Positionierung des ersten Teils („die künste frei von | moralischen verpflic | htungen“) oben rechts als auch der unregelmäßige Zeilenumbruch sind alles andere als zufällig und stellen eine schon in sich gebrochene Verpflichtung – „verpflic | htung“ – dar. Rein grammatikalisch bezeichnet das „sie“ in Kombination mit dem singulären Indikativ einen Bruch mit dem ersten Teil, da dieses „sie“ keinen Bezug auf ein im ersten Teil vorkommendes Wort nimmt. In der BFAVersion jedoch, wie oben dargestellt, scheint sich das „sie“ auf die im letzten Satz vor den Klammern vorkommende „[gesamte] Menschheit“ zu beziehen. Obwohl im Archiv dieses Blatt der Archiv-Signatur zufolge an dem vorigen anschließt, das mit den Worten des Schauspielers endet, gibt es keinen Hinweis dafür, dass die zwei Blätter überhaupt in semantischer Verbindung zueinander stehen oder dass der Schauspieler diese Worte spricht.108 Dieses Beispiel, als eines unter vielen, dient 107

BFA 22.2, S. 828. Darüber hinaus ergibt es aus zwei Gründen wenig Sinn, diese Worte nach der Ausführung des Schauspielers in dessen Mund zu legen: Es wäre zum einen eine 180-Grad-Wende seitens des Schauspielers. Zum anderen wäre es höchst merkwürdig – vor allem angesichts sonstiger Schriften, in denen Brecht betont, dass die Menschheit weder eine Gesamtheit noch eine nach Gesetzen kausal zu erfassende Einheit darstellt –, wenn der Sinn der Passage wäre, dass die „Menschheit“ als „Gesamtheit“ an der Lebenskraft an und für sich interessiert wäre, ganz gleich wie sie sich – die Menschheit? Die Lebenskraft? – auswirkt. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass es die Kunst als Gesamtheit ist, die sich abgesehen von ihrer eigenen Auswirkung an der Lebenskraft interessiert ist. 108

82 Abbildung 3.4 AdK, BBA 127/63; © BrechtErben/Suhrkamp Verlag

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Wirkungsgeschichte und Editionen

3.3 Implikationen

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zur Veranschaulichung der editorischen Entscheidungen, die nicht nur gestalterisch einen anderen Eindruck vermitteln als das Fragment im Archiv, sondern sogar den Sinn der Manu- und Typoskripte ändern. Es veranschaulicht außerdem, wie viel Gewicht die Präsentation einer Edition in Bezug auf Rezeption und Interpretation hat. Im Brecht-Archiv in Berlin befinden sich außerdem einige Mappen, die inhaltlich ähnliche Themen wie der Messingkauf umkreisen und auch einige Messingkauf -Texte beinhalten. Beispielsweise gibt es eine Mappe, betitelt mit „UEBER DAS THEATER/UEBUNGSSTUECKE“, die einige dem Messingkauf zugeschriebene Texte umfasst, wie z. B. die 1940 entstandenen „Szenen aus dem Alltagsleben“ und die Shakespeare-Studien – die „Übungsstücke für Schauspieler“ –, aber auch die vorhin erwähnten „übungen für schauspielschulen“109 und das „repertoire der schule“.110 Diese merkwürdige Mappe enthält zudem einen Text mit dem schlichten Titel „VORREDE“, der explizit auf den Begriff des „thaeters“ eingeht: in der tat befand sich die ästhetik, das erbstück einer depravierten und parasitär gewordenen klasse, in einem so beklagenswerten zustand, dass ein theater sowohl ansehen als bewegungsfreiheit gewinnen würde, wenn es sich lieber thaeter nannte.111

Es ist unklar, wozu dieser Text als Vorrede dienen soll; der einzige Hinweis ist ein Verweis auf „notizen über ein neues theater“,112 der thematisch sehr nah am Hauptanliegen des Messingkaufs liegt und sich dessen Terminologie bedient. Die soeben zitierte Stelle wird zudem von Brecht wiederverwendet und 1949 in die „Vorrede“ zum Kleinen Organon aufgenommen. Nichtsdestotrotz sind die zwei Vorreden sehr unterschiedlich, wobei sich die Frage stellt, ob diese Vorrede nicht womöglich als Vorrede zum Messingkauf gemeint war oder einfach eine Vorarbeit zum Kleinen Organon darstellt.113 Darüber hinaus gibt es eine Mappe, deren erste Seite folgende Überschrift trägt: „EPISCHES/ THEATER/ III – 2.“ Diese Mappe enthält ein Inhaltsverzeichnis (siehe Abbildung 3.5). Nicht alle sich im Inhaltsverzeichnis befindenden Titel sind tatsächlich in der Mappe enthalten. Die Mappe umfasst auch Texte, die im Inhaltsverzeichnis nicht vorkommen, wie beispielsweise die dem Messingkauf handschriftlich mit „Mk, 2“ zugeordneten Texte „angenommen, philosophen bemächtigen sich des theaters“114 und „theater der philosophen“.115 In der BFA wird Letzterer in zwei Texte aufgeteilt: in einen Metatext und einen Fließtext. Diese Texte werden in der oben dargestellten Liste – deren Zusammenstellung unsicher zu datieren ist – mit anderen Texten zusammengruppiert, die ähnliche Themen behandeln wie der Messingkauf, z. B. der Text „die vorgänge hinterd den vorgängen als vorgänge unter 109

AdK, BBA 154/57–58. AdK, BBA 154/56. 111 AdK, BBA 154/31. 112 AdK, BBA 154/29. 113 Vgl. Kleines Organon für das Theater. In: BFA 23, S. 65–97, hier: S. 66. 114 AdK, BBA 57/16; vgl. BFA 22.2, S. 788 f. 115 AdK, BBA 57/14; vgl. BFA 22.2, S. 790 f. 110

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Wirkungsgeschichte und Editionen

Abbildung 3.5 AdK, BBA 57/01; © Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag

menschen“,116 der vermutlich auf Anfang 1939 zurückgeht und den Gegenstand der Darstellung für den Philosophen im Messingkauf – die Vorgänge unter Menschen – behandelt. Diese Zusammenstellung von Texten ist interessant, da die Texte, die sie beinhaltet, aus verschiedenen Jahren stammen: „Der V-Effekt auf dem alten Theater“ beispielsweise stammt aus dem Jahr 1936, während „Theater des Philosophen“ von den Herausgeber*innen der BFA der dritten Arbeitsphase 1942/1943 zugeordnet wird. Über einen weiteren, im Messingkauf nicht aufgenommenen Text mit dem Titel „Der Philosoph im Theater“ schreiben die Herausgeber*innen: Brecht schreibt über das Interesse der Philosophen am Theater eine Reihe von Notizen und Texten [. . . ], die vermutlich direkte oder indirekte Überlegungen zum Messingkauf darstellen [. . . ]. Vermutlich sind sie also Anfang 1939 entstanden, möglicherweise auch erst während der Ausarbeitung des Messingkaufs, an dem er seit 1939 arbeitet.117

Diese Texte zeigen, dass die im Messingkauf behandelten Begriffe und Themenkomplexe nicht nur Gegenstand des Messingkaufs sind bzw. dass Texte aus dem Messingkauf -Komplex möglicherweise in der Edition ausgeschlossen wurden, die möglicherweise doch zum Messingkauf gehörten bzw. deren Inklusion man zumindest diskutieren könnte. Solche Texte unterstreichen noch einmal die Tatsache, dass eine formale Bestimmung dessen, was zum Messingkauf gehört und was nicht, viele 116 AdK, BBA 57/19; vgl. BFA 22.1, S. 519; Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1064. 117 Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1063.

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Schwierigkeiten mit sich bringt. Zählen solche Texte zur Konzeption des Messingkaufs? Gehören sie gar zum Hauptdokument des Messingkaufs? Wie könnte eine angemessene Edition des Messingkaufs tatsächlich aussehen? Kann es eine Edition unter dem Namen „Messingkauf“ überhaupt geben? Brecht hat „seine Werke nie als fertig, abgeschlossen oder gar endgültig angesehen“118 und war davon überzeugt, auf den Entstehungsprozess literarischer Texte stets aufmerksam machen zu müssen. So stapelte er – wie Benjamin – „Textentwürfe, Fassungen, Arbeitsnotizen und Quellen, die er über die Exiljahre bewahrte, vermehrte und mit Hilfe von Ruth Berlaus angefertigten Fotoreproduktionen dokumentierte und sicherte.“119 Hans Bunge, einer der Teilnehmer*innen der ursprünglichen Kommission zu einer möglichen historisch-kritischen Ausgabe, warnte schon im Jahr 1958, dass eine Brecht-Werkausgabe „nicht einfach die Form anderer philologischer Arbeiten kopieren“ könne und betonte, dass eine Form gefunden werden müsse, „mit der Brechts textliche Varianten als Prinzip des Änderns, des ÄndernKönnens und des Ändern-Wollens demonstriert werden.“120 „Nichts davon wurde realisiert“, schreibt Erdmut Wizisla.121 Klaus-Detlef Müller schreibt 1972 über die Edition in den Gesammelten Werken: Die Gestalt, in der die Schrift jetzt vorliegt, beruht [. . . ] sehr weitgehend auf Entscheidungen des Herausgebers, der sich für Auswahl und Anordnung nur teilweise auf Brechts Pläne berufen konnte. Bei dieser Quellenlage mag der Versuch einer Interpretation problematisch, wenn nicht gar hybrid erscheinen. Er bedarf zumindest einer ausdrücklichen Rechtfertigung.122

Zur BFA schreibt Wizisla: „Die Texte [sind] einer Normierung unterzogen worden, die Interpretation bedeutet: Nicht abgeschlossene Werke wie das Fatzer-Fragment verlieren durch die Vereinheitlichung den Charakter des Vorläufigen.“123 Wilke konstatiert in Bezug auf das Fatzer-Fragment, was ebenfalls auf den Messingkauf übertragen werden kann, „dass die auch bei der Fatzer-Edition erfolgte Angleichung aller Texte in der [BFA] (Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung, Versifizierung usw.) den Charakter des Fragments verfälscht hat, insofern sie eine formale Einheitlichkeit suggeriert.“124 Und Peter Villwock, Herausgeber der Notizbücher,125 die jeweils alle Seiten als Reproduktion mit parallelen Transkriptionen und textkritischem Apparat enthalten, bemängelt, dass keine der Werkausgaben „eine Gesamtausgabe [ist], keine ist von einer anderen ganz aufgehoben, keine gibt 118

Hecht et al.: Editionsbericht. In: BFA R, S. 806. Wizisla: Brecht-Editionen 2005, S. 1. 120 Bunge: Vorausbemerkungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe 1958, S. 29; zitiert nach Wizisla: Brecht-Editionen 2005, S. 5. 121 Wizisla: Brecht-Editionen 2005, S. 5. 122 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 46. 123 Wizisla: Brecht-Editionen 2005, S. 8. 124 Judith Wilke: Fatzer. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1. Weimar: Metzler 2001, S. 167–178, hier: S. 168, meine Hervorhebung. 125 Vgl. Bertolt Brecht: Notizbücher. Bd. 7. 1927–1930. Hg. v. Martin Kölbel und Peter Villwock. Berlin: Suhrkamp 2010. 119

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Brechts Arbeitsweise und die Spezifik seines Nachlasses adäquat wieder, keine folgt moderner Editionsmethodik, alle sind Zwischenlösungen.“126 Bezüglich der Anpassung von Brechts Kleinschrift an die deutsche Rechtschreibung konstatiert Wilke, dass Brecht selbst nicht auf die Kleinschrift bei der Veröffentlichung beharrt hätte.127 Wizisla hat aber aufgezeigt, dass dies durchaus für ihn infrage gekommen wäre: [Wir wissen], daß Brecht noch die Malik-Ausgabe der Gesammelten Werke 1938 mit der Kleinschreibung herausbringen wollte. Herzfelde, der darin die Gefahr sah, eine literarische Produktion von den Lesern fernzuhalten, berichtete: „Es war nicht leicht, Brecht zu überzeugen. Ihm waren die großen Buchstaben zu aufgebläht.“128

Was man beispielsweise für einen integralen Teil der Typographie bei Heiner Müller hält, ist bei Brecht im Editionsprozess ausgeblendet worden.129 Wilke betrachtet die Vereinheitlichung der Orthographie als eine „Treue gegenüber den Editionsprinzipien [. . . ,] [die] den gerade für die Fragmente entscheidenden Materialcharakter der Texte getilgt hat.“130 Aber diese vermeintliche Treue gegenüber von Wilke nicht weiter bestimmten Editionsprinzipien ist bei näherer Betrachtung doch keine: Editionsprinzipien scheinen willkürlich selektiert und wieder fallen gelassen worden zu sein. Das einzige, woran die Herausgeber*innen festhalten, ist das Primat des Inhalts, teilweise zur Beeinträchtigung der entscheidenden Materialität und Räumlichkeit des Fragments. Die Herausgeber*innen von Brechts Schriften haben zur hohen Einschätzung des ‚Was‘ zu Lasten der Präsentation des ‚Wie‘ des Textes beigetragen. In seinen verschiedenen Editionen enthält der Messingkauf zudem verschiedene Texte. Wie wir gesehen haben, wird er in den früheren Editionen mal mit, mal ohne die Gedichte und „Übungsstücke für Schauspieler“ abgedruckt; und am Anfang zählen aufgrund ihrer Inklusion in die anfänglichen Metatexte Texte wie „K-Typus und P-Typus“ und die „Straßenszene“ zum Messingkauf -Komplex, die in der BFA verschwunden sind. Dass sie aber den Messingkauf -Editionen der Vergangenheit angehören, führt dazu, dass in der Forschung vor allem Ersterer immer noch diskutiert wird, als würde er dem gesamten Messingkauf zugrunde liegen. Es gibt also keine einheitliche Diskussionsbasis, worüber genau man spricht, wenn es um den Messingkauf geht. Viel problematischer für die Forschung zum Messingkauf ist jedoch die konsequente Aufnahme der „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ in jeder Edition. 126

Peter Villwock: Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe der Notizbücher Bertolt Brechts. In: editio 23 (2009), S. 71–108, hier: S. 84. 127 Vgl. Wilke: Fatzer 2001, S. 168. 128 Erdmut Wizisla: Über die Einhaltung von Prinzipien. Zur Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts. In: editio 13 (1999), S. 157–172, hier: S. 166. Wizisla zitiert: Wieland Herzfelde: Über Bertolt Brecht. In: Hubert Witt (Hg.): Erinnerungen an Brecht. Leipzig: Reclam 1964, S. 129–138, hier: S. 131 f. 129 Für eine Diskussion der Literarisierung des Theaters bei Brecht siehe: Judith Wilke: Fleischmühle, Fremdkörper. Zum Verhältnis von „Literarisierung“ und Störung des Theaters bei Brecht. In: Das Brecht-Jahrbuch 22 (1997), S. 374–387. 130 Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998, S. 14.

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Diese vier langen Texte sind vermeintliche Zusammenfassungen der Theorie des Messingkaufs, allesamt Einträge im Journal. Zur Überlieferung der „Nachträge“ steht im Kommentar aller Editionen lediglich das Datum ihrer Entstehung.131 Keinerlei weiteren Gründe für deren Aufnahme in der Darstellung des Messingkaufs werden angeboten. Auch im Apparat des von Hecht herausgegebenen Arbeitsjournals gibt es keinen Hinweis darauf, dass Brecht die Nachträge als Teil des Hauptdokuments des Messingkaufs intendierte.132 In den Editionen der Schriften zum Theater und der Gesammelten Werke werden sie am Ende des Textes nach allen anderen Texten platziert und damit eben als Nachträge zumindest einigermaßen kenntlich gemacht und vom Haupttext distanziert. Doch in der BFA stehen sie mit den anderen Texten der ersten Arbeitsphase zusammen. Dort werden sie durch ihre Zuordnung zu den konzeptionellen „A“-Texten ein wenig von den „B“-Haupttexten differenziert, allerdings neben den anderen „A“-Texten so dargestellt, als seien sie ebenfalls in den Mappen überliefert worden und deshalb dem Messingkauf genauso zugehörig wie die restlichen „A“-Texte – ein Eindruck, der im Sachkommentar noch verstärkt wird, wenn ihre Ursprünge im Journal verschwiegen werden. Die Inklusion der „Nachträge“ im Messingkauf ist eine weitere Verfälschung dieses Textes, die die Präsenz ‚Brechts‘ im Text erneut suggeriert. In den „Nachträgen“ schreibt Brecht in der implizierten ersten Person, z. B.: „den MESSINGKAUF durchflogen. die theorie ist verhältnismäßig einfach.“133 Die Entstehung der Nachträge im Journal und die implizite Verwendung der ersten Person zeigt, dass sie ‚lediglich‘ Journaleinträge sind – es gibt kein „Mk“, „MK“ oder einen sonstigen Hinweis darauf, dass sie Teil des Messingkaufs sind. Vielmehr scheinen sie zur Belehrung des Schreibenden entstanden zu sein. Sie werden aber – wie so oft – als Lektüreanleitung für den Messingkauf rezipiert, was kaum überrascht, betrachtet man ihre Stellung am Anfang der BFA-Edition. Schon wieder führt dieser Sachverhalt dazu, dass Brechts Aussagen über seinen eigenen Text mehr Gewicht eingeräumt werden als den Texten selbst. Beispielsweise konstatiert White, dass die „Nachträge“, one of the most important parts of the project, were set out in numbered, Organon-like prose sections, with no use being made of the discussion format. To be sure, the „Nachträge,“ being concerned with general issues of principle, are more suited to treatment in discursive prose.134

White macht auf einen Aspekt der „Nachträge“ aufmerksam, der sie tatsächlich vom restlichen Messingkauf stark unterscheidet: ihre Beschäftigung mit Prinzipi131 Auch bezüglich dieser scheinbar einfachen Frage gibt es Uneinigkeit zwischen den Editionen: In den Schriften zum Theater und den Gesammelten Werken heißt es, dass sie am 2. und 3. August 1940 entstanden sind (vgl. Brecht: Der Messingkauf 1963a, S. 293 ff.; und Werner Hecht: Kommentar. In: Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 1*–8*, hier: S. 8*). Im Gegensatz dazu steht in der BFA, dass alle „Nachträge“ jeweils das Datum „2.8.40“ tragen (vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1118). 132 Vgl. Werner Hecht: Anmerkungen. In AJ, S. 27–28. 133 Journaleintrag vom 2. August 1940. In: AJ 1, S. 136; vgl. BFA 22.2, S. 697. 134 White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 245, Fußnote 11.

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enfragen. Ein solches Prinzipiendenken wird sonst im Text anscheinend absichtlich vermieden, was die „Nachträge“ auch so verführerisch macht. Sie scheinen für einige Wissenschaftler*innen als eine Übersetzung des oder Lektüreanleitung zum Messingkauf zu fungieren, die dabei hilft, die Lücken der Theorie – von denen es viele gibt – mit Antworten auszufüllen. Die Theorie des Messingkaufs ist jedoch nicht, wie es im „Ersten Nachtrag“ heißt, „verhältnismäßig einfach“, und dass Brecht im August 1940 dieser Meinung ist, offenbart seine damalige Zuversicht hinsichtlich eines Projekts, das am Ende seines Lebens weiterhin offen und unvollendet bleiben wird. Trotz seiner Behauptung über die vermeintliche Einfachheit der Theorie des Messingkaufs wird sich Brecht nur 17 Tage später sogar fragen: „wie kann man sich vorstellen, daß dergleichen je wieder sinn bekommt?“135 Dass die „Nachträge“ in allen Editionen, aber vor allem in der BFA aufgenommen werden, ist auch aus dem Grund rätselhaft, dass andere Journaleinträge nicht übernommen, dafür aber im Kommentar in ihrer Gänze abgedruckt werden. Dazu zählen beispielsweise der „Inhalt der ersten Nacht des ‚Messingkaufs‘“ vom 17. Oktober 1940 und ein weiterer Journaleintrag vom 25. Februar 1941.136 Wie wir nun mehrfach gesehen haben, finden zahlreiche andere Texte, die möglicherweise Vor- oder Nebenarbeiten zum Messingkauf sind oder dessen Konzeption zugrunde liegen, keine Erwähnung. Die „Nachträge“ sind interessant und bieten einige Einsichten in Brechts Verständnis des Messingkaufs, sie müssen aber als „Nachträge“ im Sinne von Addenda, Zusätzen, supplements verstanden werden. Wenn der Messingkauf tatsächlich die größte und wichtigste zusammenhängende Darstellung einer brechtschen Theorie des Theaters ist und, wie sich zeigen wird, gerade durch seine Offenheit, Experimentierfreudigkeit und Änderbarkeit auch die geeignetste Darstellung eines ungreifbaren kommenden Theaters bildet,137 kann er in der Form, in der er in den Werkausgaben momentan vorliegt, nicht als eine solche wahrgenommen werden. Der Arbeitsprozess Brechts und „der Charakter des Vorläufigen“ sind in den Messingkauf -Editionen abhandengekommen.138 Die editorischen Entscheidungen sind anscheinend aus der Überzeugung heraus getroffen worden, dass das fertige Denken, das Zu-Ende-Gedachte das beste Denken sei. Und dieses Denken braucht eben ein fertiges Darstellungsmedium – ein geschlossenes, doch dem Material gänzlich unangemessenes ‚Wie‘ – um dem Anspruch der Abgeschlossenheit nachzukommen. Die unbekümmerte Ungenauigkeit bezüglich der Editionen und der Wunsch nach Abgeschlossenheit spielt für einen weiteren entscheidenden Aspekt des Messingkaufs eine große Rolle, nämlich bei dessen vermeintlichem Ende.139 In der Bühnenfassung des Berliner Ensembles sowie in den Editionen des Messingkaufs vor der BFA-Edition beginnt der Text mit einer eindeutigen Expositionsszene (B115 der BFA) und endet mit der Verwandlung des Schauspielers in einen Anhänger des Philosophen: 135

Journaleintrag vom 19. August 1940. In: AJ 1, S. 151. Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1113 f. 137 Vgl. Abschnitt 7.3. 138 Wizisla: Brecht-Editionen 2005, S. 8. 139 Für eine ausführlichere Diskussion des ‚Endes‘ siehe Abschnitt 3.3. 136

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DER SCHAUSPIELER [. . . ] Auch ich werde nach dem Satz der Klassiker handeln: Ändert die Welt, sie braucht es! DER ARBEITER Es klingt ein wenig großspurig. Aber warum sollte es nicht so klingen dürfen, da ja eine große Sache dahintersteht?140

Selbst Hecht, der dieses ‚Ende‘ ausgewählt und am Ende der Leseausgaben gesetzt hat, schreibt etwas verblüfft: Die Unvollständigkeit des Fragments wird in dem Teil spürbar, der offensichtlich dem Messingkauf -Dialog die „dialektische Wendung“ geben sollte. Es bleibt unverständlich, wieso der Schauspieler seine außerordentlichen Vorurteile am Ende schnell und unvermittelt aufgibt und sich gleichfalls dem Philosophen ausliefert.141

Ganz ähnlich schreibt Kiermeier-Debre: „Die plötzliche Versöhnung in der vierten Nacht ist nämlich ein vom Stückeschreiber provisorisch aufgeklebtes happy end und wenig überzeugend.“142 Diese Szene ist jedoch vor allem deshalb irritierend, weil der Messingkauf kein Werk ist, weil der Messingkauf kein Ende hat und weil er nicht ausformuliert und zu Ende geschrieben worden ist. Vielleicht hätte Brecht diese Szene schlussendlich gestrichen; vielleicht hätte es noch 30 Szenen davor gegeben, in welchem Fall es wohl schwierig gewesen wäre, von einer „plötzlichen Versöhnung“ zu sprechen oder davon, dass der Schauspieler seine Position „schnell“ aufgibt – wir werden es nie wissen. Es ergibt wenig Sinn, sich zu fragen, weshalb eine Szene an einer nicht vom Autor als Ende gesetzten Stelle stattfindet, wenn es keine vom Autor autorisierte Version des Textes gibt und der Text – abgesehen von den interpretatorischen Entscheidungen, die zu seiner Erscheinung in den verschiedenen Editionen geführt haben –, nur als Fragment existiert. Man kann Brecht keine mangelnde Konsequenz vorwerfen für einen unfertigen und nie veröffentlichten Text. Die Deutung dieser Szene als ‚Ende‘ scheint sich auch weitestgehend auf viele Beiträge übertragen zu haben, die vermeintlich auf Basis der neueren Edition des Messingkaufs entstanden sind. Thiele merkt in seiner Monographie Bertolt Brecht. Selbstverständnis, Tui-Kritik und politische Ästhetik zunächst berechtigterweise an: „Jede Diskussion des Textes sollte an seinem formalen Aufbau ansetzen, denn das hinterlassene Material ist so bruchstückhaft und ungeordnet, daß eine Aussage über die letztlich von Brecht intendierte Form nicht getroffen werden kann.“143 Er beendet seine Diskussion der Form des Messingkaufs jedoch mit der Feststellung: „Der wichtigste Anhaltspunkt ist dabei, daß Anfang und Ende des ‚Messingkaufs‘ vorliegen.“144 Dabei scheinen viele den ‚Anfang‘ des Messingkaufs falsch identifiziert zu haben als die längere Expositionsszene, die in den ersten Editionen den Anfang des Messingkaufs bildeten und in der BFA das Sigel B115 trägt. Wie jedoch in Kapitel 5 „Konfiguration“ ausgeführt werden soll, fängt der Messingkauf – zumindest 140

Brecht: Der Messingkauf 1967, S. 650. Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 116. 142 Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 261. 143 Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 326. 144 Ebd., S. 327. 141

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den Metatexten nach – nicht auf der Bühne, sondern mit der bzw. den Begrüßungsrede/n des Dramaturgen im und erst dann auf dem Theater an. Zum Ende schreibt Voges etwas zurückhaltender in einer Revision seines ursprünglich 1985 entstandenen Textes 2009 zum Messingkauf : Die Veröffentlichung der vollständigen Textgrundlage in der Großen Brecht-Ausgabe (GBA Band 22) macht es [. . . ] notwendig, die Akzente ein wenig anders zu setzen, als es die Leseausgabe nahelegte. [. . . ] Die ganz eigene Qualität des zwar unabgeschlossenen, in seiner Konzeption aber zu Ende gedachten Entwurf ist Vermittlung [. . . ].145

Voges räumt hier ein, dass der Text nicht abgeschlossen ist, ist sich aber sicher, dass Brecht tatsächlich die Konzeption des Messingkaufs endgültig zu Ende gedacht hat und sich an dieser Konzeption teleologisch abgearbeitet hat. Dennoch: Man kann zwar den am Anfang der BFA-Edition als „A“-Texte platzierten Skizzen entnehmen, dass Brecht sich zu einem gewissen Zeitpunkt ein gewisses Konzept ausgedacht hat. Aber die intensive Auseinandersetzung mit dem Messingkauf legt nahe, dass Brecht über die Jahre den Überblick über seinen Versuch verloren hat. Dass der Messingkauf in dieser unabgeschlossenen Form vorliegt, obwohl die Arbeit an dem Fragment sich über mindestens 13 Jahren erstreckte, verstärkt diesen Eindruck, ebenso wie die bereits zitierte Passage aus seinem Journal: „wie kann man sich vorstellen, daß dergleichen je wieder sinn bekommt?“146 Sowohl in den ersten Editionen als auch in der späteren, etwas näher am tatsächlichen Textkonvolut arbeitenden BFA-Edition wird das Fragment als ein „defizitäre[s], durch äußere Einflüsse beschädigte[s] oder notgedrungen unvollendet gebliebene[s] [Werk] angesehen“, anstatt als die „Manifestation eines Widerstands gegen das Prinzip des Werkes selbst.“147 Im Brecht-Handbuch schreibt Klaus-Dieter Krabiel beispielsweise, dass der Fragment-Charakter des Messingkaufs und die aus der Vielzahl der Perspektiven resultierende Vielschichtigkeit, Ergebnis auch der sich über anderthalb Jahrzehnte erstreckenden, mehrfach unterbrochenen Arbeit [. . . ], allerdings zahlreiche Wiederholungen und Redundanzen zur Folge [haben], auch Bruch- und Leerstellen in der Argumentation. [. . . ] Lediglich für die Erste Nacht, in der die Prämissen der Dialoge und das zu lösende Problem dargestellt werden, ist eine relativ schlüssige Konzeption durchgehalten; nur für die Erste Nacht existiert auch eine längere zusammenhängende Niederschrift.148

Ein Ton der Enttäuschung schwingt bei dieser Beschreibung des Fragmentarischen mit und kann in anderen Beiträgen zu diesem Text ebenfalls gehört werden: Nur für die erste Nacht habe Brecht einen schlüssigen, zusammenhängenden Text schreiben können. Dass er schlüssig ist und zusammenhängend, scheint der Maßstab für den Erfolg des Textes zu sein. Das Ergebnis des nicht zu Ende gebrachten Textes bestehe trotz vieler harter Jahre Arbeit allerdings in Wiederholung, Redundanz, 145

Voges: Der Messingkauf 2009, S. 124. Journaleintrag vom 19. August 1940. In: AJ 1, S. 151. 147 Patrick Primavesi: Tragödie, Fragment und Theater. In: Anton Bierl et al. (Hg.): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld: transcript 2009, S. 147–164, hier: S. 147. 148 Krabiel: Der Messingkauf 2003, S. 196. 146

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Bruch und Leerstelle. Kim – der einzige, der den Messingkauf zum Gegenstand einer Monographie gemacht hat – scheint ebenfalls mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein: „Dieses Vorhaben [. . . ] ist in der Tat von Brecht leider nicht vollständig abgeschlossen worden, so daß der ‚Messingkauf‘ in der vorliegenden Form nichts anderes ist als ein Stückfragment.“149 Und aus solchen Gründen ist der Messingkauf, wie Johann Wolfgang von Goethes Faust in dieser Beschreibung von Patrick Primavesi, als ein „mit Brüchen entworfene[s], lückenhafte[s] Fragment [. . . ] durch Zensur und redaktionelle Eingriffe zugleich abgerundet und auf andere Weise ‚abgebrochen‘, zertrümmert“ worden.150 Zusammenfassend kann man also feststellen, dass die Rezeption des Messingkaufs von Beginn an durch seine Theaterbearbeitung und die mit ihr verbundene gedruckte Überlieferung geprägt – genauer gesagt: verzerrt – war. Von Beginn an wurde dem Fragment eine Vollständigkeit aufgezwungen, nach der es nicht verlangt, ja, der sich eine angemessene Darstellung einer brechtschen Theorie des Theaters widersetzen müsste. Dennoch kann man angesichts des Umfangs von Brechts Gesamtwerk gewisse Entscheidungen des Herausgebers bzw. der Herausgeber*innen verstehen, vor allem was das Schriftbild angeht: Jedem alleinstehenden aphoristischen Satz sein eigenes Blatt Papier zu geben, würde zu einem Band führen, der kaum erschwinglich wäre. Dass historisch-kritische Editionsprinzipien nicht berücksichtigt worden sind, ist aufgrund von Brechts außerordentlicher Leistung während seines kurzen Lebens ebenfalls verständlich: Die Anzahl der Bände der BFA beläuft sich bereits auf 30; eine historisch-kritische Ausgabe von Brechts Gesamtwerk wäre mindestens eine Lebensaufgabe, wenn nicht die Aufgabe mehrerer Generationen. Aber um die gesamte Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten zu entfalten und eine angemessene Präsentationsform für den Messingkauf zu finden, müsste eine kommende Brecht-Forschung die vollen Möglichkeiten der digitalen Medien ausnutzen, um den Messingkauf, wie er im Archiv vorliegt, einem viel breiteren Publikum zugänglich zu machen. Eine solche digitalisierte Edition mit Faksimiles und ggf. Transkriptionen würde es beispielsweise ermöglichen, Messingkauf -Passagen mit früheren Texten zu verlinken oder andere ähnliche Zusammenhänge zu offenbaren. Dass es den Herausgeber*innen des Messingkaufs so schwergefallen ist, zu bestimmen a) was der Messingkauf eigentlich ist und woraus er besteht, und b) wann er entstanden ist, unterstreicht die Unfixierbarkeit des Fragments. Die anfängliche Zuteilung zu den „Schriften“ – die Betrachtung des Messingkaufs als ein rein ‚theoretischer‘ Text im herkömmlichen Sinne, wird schon in Brechts erstem Journaleintrag infrage gestellt: „das ganze einstudierbar gedacht“.151 Ist dies ein theoretischer Text oder ein aufzuführender? Ist es eine Darstellung des im Fatzer-Fragment beschriebenen „Pädagogium“? Haben wir es hier mit Theater als Theorie oder Theorie als Theater zu tun? Oder bewegt sich der Messingkauf genau auf dieser Schwelle?

149

Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 120, meine Hervorhebung. Primavesi: Tragödie, Fragment und Theater 2009, S. 156. 151 Journaleintrag vom 12. Februar 1939. In: AJ 1, S. 37. 150

II Teil II

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Der Schauplatz des Messingkaufs

Der erste Teil dieser Arbeit setzte sich zunächst biographisch und literaturhistorisch mit den äußeren Bedingungen der Entstehung und der Überlieferung des Messingkaufs auseinander, um einen historischen Überblick zu bieten, den Messingkauf und seine Entstehung zeitgeschichtlich zu situieren und auf die Problematiken seiner Editionen hinzuweisen. Die nun folgenden Diskussionen widmen sich dem ‚Inhalt‘ sowie der literaturwissenschaftlichen und theoretischen Analyse des Fragments. Die ersten beiden Kapitel werden dabei aus den bereits erörterten Gründen kein Versuch sein, eine kontinuierliche, lineare Interpretation des Messingkaufs anzubieten. Auch besteht die Absicht nicht darin, ihn auf prägnante Hauptbegriffe herunterzubrechen, da eine solche Vorgehensweise nur noch einen weiteren Beitrag zu der immensen terminologischen Brecht-Forschung produzieren würde, die farblos und überholt ist. Vielmehr möchte ich mich auf der Metaebene dieses zweiten Teils mit der Frage auseinandersetzen, welche Möglichkeiten eben diese Darstellung, in der der Messingkauf (als Fragment) vorliegt, für die Präsentation der im Messingkauf verhandelten Theorie des Theaters birgt. Es soll anhand verschiedener theaterhistorischer Schauplätze und durch verschiedene Lektüren der Konfiguration sowie des Schauplatzes des Textes konstellationsartig nachgespürt werden, wie und was diese Darstellung bedeuten kann. Die Frage, die diese Arbeit stetig lenkt, ist: Warum schreibt Brecht den Messingkauf in genau der Form, in der er vorliegt? Wenngleich diese Frage nicht endgültig beantwortet werden kann, so ist es doch an dieser Stelle nützlich, darüber nachzudenken, was diese Ansammlung von Texten nicht ist: Der Messingkauf ist keine ‚rein‘ theoretische Abhandlung, in der beispielsweise das generalisierende und Objektivität beanspruchende Indefinitpronomen ‚man‘ durchgehend verwendet wird oder monologisch geschrieben ist;1 er ist kein Essay wie die zahlreichen anderen Texte in den beiden Bänden der BFA, die Brechts sonstige ‚Schriften‘ beheimaten. Darüber hinaus ist er kein das Gespräch beschreibender Prosatext. Was also ist er? Der Großteil des Messingkaufs besteht aus einem Theater-Text bzw. einem theatralen Text, der von einem Gespräch zwischen vier bis sechs Personen handelt, in 1

Vgl. Knopf: Brecht-Handbuch. Theater 1980, S. 453.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_4

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Der Schauplatz des Messingkaufs

Partien geschrieben ist und einige Regieanweisungen enthält. Dem gesamten Text – ob als einheitliches Ganzes betrachtet oder in seinen vorliegenden Teilen – geht implizit eine ihm immanente Bühne voraus. Texte anderer Textsorten können durchaus ihre eigenen immanenten Bühnen haben. Aber selbst wenn der raumzeitliche Schauplatz des Messingkaufs keine Bühne wäre, zwängen uns die Sprachpartien, die Verräumlichung der Aussagen dazu, diese Bühne zu imaginieren. Die Bühne nimmt somit eine zweifache Rolle ein: sowohl implizit als immanente Bühne als auch explizit als raumzeitlicher Schauplatz. In der europäischen Theatergeschichte ist der Messingkauf in dieser Hinsicht jedoch nicht einmalig; bevor wir also zur Genese des raumzeitlichen Schauplatzes des Messingkaufs übergehen, lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen, um einen Blick auf einen möglichen Intertext und Vorgänger des Messingkaufs zu werfen: Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor.

4.1 Pirandellos Sechs Personen als möglicher Intertext2 Als Teil seines Arbeitsprozesses griff Brecht häufig zu den Werken und Texten anderer. Diese Tendenz wird von verschiedenen Personen unterschiedlich ausgelegt und teils als „Bearbeitung“ bezeichnet, teils als „Plagiat“ denunziert.3 Doch 2

Für eine etwas andere Darstellung dieser Thematik, in der ich die Behandlung der vierten Wand und der Bühne als Schauplatz und Gegenstand des Theatergesprächs untersuche, siehe: White: Die Bühne mit der Bühne denken 2019. 3 Für eine ausführliche und höchst amüsante Darstellung von Brechts Verhältnis zu Fragen des geistigen Eigentums inklusive Kerrs Kritik an Brecht in dieser Hinsicht vgl. Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Alfred Kröner 2009, S. 446–459. Theisohn fasst seine Sicht auf Brechts Einstellung folgendermaßen zusammen: „Die Wahrheit des Kapitalismus besteht also darin, dass er Eigentums- und Persönlichkeitsordnungen künstlich aufrechterhält, die er auf produktionstechnischer Ebene de facto schon längst überwunden hat. Deswegen kann die marxistische Überwindungstat auch nicht darin bestehen, ‚authentische Kunst‘ zu verlangen und damit wieder hinter die Wirklichkeit der Produktionsbedingungen zurückzufallen, sondern nur darin, die Kunstvorstellungen den Produktionsbedingungen anzupassen. Die Persönlichkeit des Kunstwerks – und mit ihr das geistige Eigentum – ist eine bürgerliche Marotte, die längst keine Wirklichkeit mehr besitzt, weil die kapitalistische Produktionsweise diese bereits zertrümmert hat. Die Seele der Literatur ist ausgetrieben, die ‚Umschmelzung geistiger Werte in Waren‘ resp. in ‚Immaterialgüter‘ ist nahezu abgeschlossen, und jetzt fehlt nur noch der letzte Schritt: ‚Die Technik, die hier siegt und nichts anderes zu können scheint, als den Profit einiger Saurier und damit die Barbarei zu ermöglichen, wird, in die rechten Hände gelangt, durchaus anderes können.‘ In den ‚rechten Händen‘ wird aller Voraussicht nach also eine Kunst entstehen, die am Primat der ‚Verwertbarkeit‘ festhält und die künstlerische Produktion vom Trugbild der ‚Persönlichkeit‘, der ‚allgemein menschlichen‘ Abkunft des Kunstwerks befreit. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird Brechts ‚Laxheit in Fragen geistigen Eigentums‘ leicht erklärbar. Nun muss man sich für Visionen nicht verantworten, wohl aber für die Praxis, die aus diesen Visionen hervorgeht. Selbstverständlich bleibt: Über Plagiate wird mit Brecht nicht zu reden sein. Wer das versucht, der lebt in einer überkommenen Begriffswelt und steht damit bereits auf der falschen Seite.“ (Theisohn 2009, S. 455 f. Theisohn zitiert: Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 18. Hg. v. Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 139–209, hier: S. 204.)

4.1 Pirandellos Sechs Personen als möglicher Intertext

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abgesehen davon, wie man Brechts Arbeitsweise in dieser Hinsicht moralisch begutachtet, scheint es im Falle des Messingkaufs ebenfalls einen literarischen bzw. theatralen Vorläufer gegeben zu haben: Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (Italienisch: Sei personaggi in cerca d’autore), das 1921 am Teatro Valle uraufgeführt wurde. Die Ähnlichkeiten zwischen Sechs Personen und dem Messingkauf sind zahlreich und auffällig: Allein aufgrund der strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten könnte man auf eine Beeinflussung Brechts durch Pirandello schließen, ohne die historischen Hintergründe zu betrachten, die aber noch vehementer für Sechs Personen als Messingkauf -Intertext plädieren. Nun gilt es, diesen Hintergründen und Ähnlichkeiten erstmalig in der Forschung gründlich nachzugehen. In Pirandellos Stück unterbrechen sechs Figuren eine Theaterprobe auf einer Bühne. Sie sind auf der Suche nach einem Autor, der sich bereit erklären soll, ihre Tragödie zu Ende zu schreiben, da der Autor, der sie als ‚reale‘ Figuren in die Welt „hineingeboren“ hat,4 sich entweder weigert oder nicht in der Lage ist, sie zu Ende zu schreiben. Die sechs Figuren treffen auf einen Theaterdirektor und einen Inspizienten sowie mehrere Schauspieler*innen und sonstige ‚Theaterleute‘. Die Figuren fordern die Theaterleute dazu auf, ihre Tragödie aufzuführen, unterbrechen jedoch fast alle Versuche deren Umsetzung mit Kritik an der Unfähigkeit von sowohl den Schauspieler*innen als auch dem Theater an sich, ihre Tragödie und ihre Welt präzise abzubilden. Pirandellos Stück war zu seiner Zeit so radikal, dass es bei der Uraufführung eine wahrhaftige Theater-Furore auslöste. Berichte erzählen von Zuschauer*innen, die bei der römischen Uraufführung „Manicomio! Manicomio!“ – Irrenhaus! Irrenhaus! – schrien.5 Wenngleich es, wie Jennifer Lorch detailliert ausführt, von einem heutigen Standpunkt aus schwer zu deduzieren ist, was genau das Publikum an der Aufführung so dermaßen störte,6 waren es sowohl die im Stück präsentierten Ideen als auch dessen Form, die den Theaterdirektoren Dario Niccodemi und seine Schauspieler*innen am Teatro Valle aus der Fassung brachten: Nach seiner ersten Lektüre des Stückes beschrieb Niccodemi sein Gemüt als „überwältigt“.7

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Luigi Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor. Ein Stück, das gemacht werden soll. Übers. v. Ute Grabow. Berlin: Henschel-Schauspiel 1990, S. 16. 5 Reinhold Grimm: Die Erweiterung des Kontinents. Brechts „Dreigroschenoper“ in Nigeria und der Türkei. Würzburg: Königshausen und Neumann 2007, S. 95, Fußnote 91; vgl. auch Jennifer Lorch: Pirandello. Six Characters in Search of an Author. Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 31–43. 6 Nach der Premiere, der 1040 Zuschauer*innen beiwohnen, sitzen bei der vierten und letzten Aufführung der ersten, eingestellten Spielzeit nur noch 225 im Publikum (vgl. Lorch: Pirandello 2005, S. 40). 7 Lorch schreibt, es war „no less of a shock for both the director and the actors [than it was for the audience, LJW]. After Niccodemi had read it, he wrote in his diary: ‚I’ve read Pirandello’s new play, Six Characters in Search of an Author, and I am stunned by it, as much by the truly noble greatness of its theme as by the strangeness of its form. I’ll read it again. Perhaps everything will become clear in rehearsals.‘“ (Ebd., S. 36. Lorch zitiert und übersetzt: Alessandro d’Amico: Notizia [zu Sei personaggi in cerca d’autore]. In: Luigi Pirandello: Maschere nude. Bd. II. Hg. v. Alessandro d’Amico. Milan: Mondadori 1993, S. 621–650, hier: S. 628.)

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Der Schauplatz des Messingkaufs

Peter Szondi hält 1956 fest, dass Pirandellos Stück „[s]eit Jahrzehnten [. . . ] vielen als Inbegriff des modernen Dramas [gilt].“8 In seiner berühmter Studie postuliert er hieran einen modernen Bruch mit dem Drama. Da „die Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selbst wegführt, ist bei ihrer Betrachtung ohne einen Gegenbegriff nicht auszukommen.“9 Angelehnt an Brecht, ist der Gegenbegriff für ihn der des Epischen. Als „Kritik des Dramas“ sei für Szondi Sechs Personen kein dramatisches, sondern ein episches Werk. Wie aller ‚epischen Dramatik‘ ist ihm thematisch, was sonst die Form des Dramas konstituiert. Daß aber dieses Thema nicht allein gefaßt als Problem des Zwischenmenschlichen erscheint [. . . ], sondern als in Frage gestelltes Drama, als Suche nach einem Autor und Realisierungsversuch, das begründet die Sonderstellung des Werkes in der modernen Dramatik, macht es gleichsam zu einer Selbstdarstellung der Dramengeschichte.10

Was Szondi hier beschreibt, ist die Thematisierung des Theaters im Theater selbst als Sujet des Theaterstückes. Pirandellos Figuren und Theaterleute (die ja auch Figuren sind) versammeln sich auf einer Bühne und unterhalten sich über das Theatermachen. Der Rahmen und der raumzeitliche Schauplatz des Theaterstückes werden somit zu dessen Gegenstand. Pirandellos Sechs Personen ist für sowohl die Geschichte des modernen Theaters als auch die Entstehung des Messingkaufs von Bedeutung. Brecht wusste ganz genau, wer Pirandello war, wie aus einem Brief an Marianne Zoff-Brecht aus dem Jahr 1925 zu entnehmen ist: „[I]ch bin in einer gewissen grauenvollen Situation durch die plötzliche Zumutung des Theaters, irgendein Dreckstück von Pirandello zu inszenieren, während ich endlich am ‚Galgai‘ bin und dabei das Herumrennen um Geld.“11 Wenngleich dies der einzige von den Herausgeber*innen der BFA verzeichnete Verweis von Brecht auf Pirandello ist und trotz Brechts nicht gerade enthusiastisch anmutenden Tons, belegt diese Briefstelle, dass Brecht Pirandello durchaus zur Kenntnis nahm – zu dem Grad sogar, dass er in der Lage war, sich von Pirandellos „Drecksstück“ geärgert zu fühlen. Das Theater, auf das Brecht in seinem Brief verweist, ist das Deutsche Theater, in das im Jahr 1924 Felix Holländer den jungen Dramaturgen zusammen mit Caspar Neher, Erich Engel und Carl Zuckermayer holt und an dem Brecht bis 1926 für den Direktoren Max Reinhardt arbeitet.12 Es ist zu dieser Zeit, 1924–1926, dass 8 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880–1950. In: Ders.: Schriften. Bd. 1. Hg. v. Jean Bollack. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 9–148, hier: S. 116. 9 Ebd., S. 15. 10 Ebd., S. 122. 11 Brief an Marianne Zoff-Brecht vom Ende Februar 1925. In: BFA 28, S. 223–224, hier: S. 223. Hier verweist Brecht auf die Inszenierung von Pirandellos Die Wollust der Anständigkeit unter der Regie von Richard Gerner, der am 24. April 1925 am Deutschen Theater Uraufführung hatte (vgl. Günter Gläser und Werner Hecht: Kommentar [1998]. In: BFA 28, S. 571–788, hier: S. 645). „Galgai“ war der erste Arbeitstitel von Mann ist Mann. 12 Vgl. John Willett: The Theatre of Bertolt Brecht. A study from eight aspects. London: Methuen 1959, S. 145 ff.; und John Willett: The Theatre of the Weimar Republic. New York/London: Holmes & Meier 1988, S. 88 ff.; vgl. auch Harold Bloom: Berthold [sic!] Brecht. Comprehensive Research and Study Guide. Broomall: Chelsea House 2002, S. 12.

4.1 Pirandellos Sechs Personen als möglicher Intertext

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Reinhardt Sechs Personen in sein Repertoire aufnimmt und anschließend über zwei Spielzeiten 131 Mal an seinen Berliner Theatern aufführt.13 Die Nähe Brechts zu diesem Stück während der Zeit der „Pirandello-Mode“14 alleine wäre Grund genug, um auf eine mögliche Beeinflussung Brechts durch Pirandello zu schließen. Emmy Rosenfeld erinnert sich an einen Vortrag von Alfred Kerr, in dem Kerr ebenfalls zu diesem Schluss kommt: „Da kommt Pirandello [. . . ] mit seinem Bruch zwischen Sein und Schein, und Brecht wiederholt dies mit geringerer Routine [. . . ].“15 Obwohl diese Passage natürlich wie fast jegliche Kritik Kerrs an Brecht als feindselige gemeint ist, macht Kerr nichtsdestotrotz auf den Unterschied zwischen Darstellen und Dargestelltem, zwischen Realität und Kunst aufmerksam, die sowohl Pirandello als auch Brecht in ihrem Theatermachen thematisierten, vor allem in den zwei hier erwähnten Texten. In der Vorrede zur 2015 erschienenen englischsprachigen Edition des Messingkaufs schreibt Steve Giles, der ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen Sechs Personen und dem Messingkauf aufmerksam geworden ist: [In Buying Brass, w]e are confronted from the beginning with an anti-illusionist and selfreflexive piece of theatre reminiscent of Luigi Pirandello’s Six Characters in Search of an Author [. . . ]. Buying Brass and Six Characters are both grounded in the modernist crisis of representation that had also informed Brecht’s early plays [. . . ], but with a crucial difference. Pirandello’s play presents a classic modernist critique of theatrical illusionism that also radically questions the coherence of the self and personal identity, the very possibility of linguistic communication and interpersonal understanding and the nature of reality as such. In contrast, Brecht’s critique of illusionism – typically designated as Naturalism and associated with the Russian theatre director Konstantin Stanislavsky – is the springboard for a revised and revitalized theory and practice of artistic realism. Similarly, Brecht rejects Pirandello’s modernist preoccupation with metaphysical issues, and focuses instead on the theatre as a social institution that engages critically with political issues.16

Giles hat insofern recht, als er auf die Krise der Repräsentation aufmerksam macht, auf die beide Autoren in ihren hier in Beziehung gesetzten Texten und gar in ihrem Theatermachen insgesamt reagieren. Sein Augenmerk liegt aber vor allem auf der inhaltlichen, im Text diskursiv behandelten Ebene. Darüber hinaus gibt es jedoch 13

Vgl. Michael Rössner: Auf der Suche nach Pirandello. Zur deutschen Rezeption der ersten Stunde anhand unveröffentlichter Regiebücher von Karlheinz Martin/Rudolf P. und Max Reinhardt. In: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 6 (1986), S. 22–38, hier: S. 29. In seinem Aufsatz bietet Rössner einen detaillierten und differenzierten Überblick über die ersten deutschsprachigen Aufführungen und deren Rezeption in den 1920er und 1930er Jahren, die Rössner zufolge das Pirandello-Bild im deutschsprachigen Raum wesentlich verzerrt hat. Vgl. auch Lorch: Pirandello 2005, S. 68; und Willett: The Theatre of Bertolt Brecht 1959, S. 112 f. 14 Rössner: Auf der Suche nach Pirandello 1986, S. 29. 15 Emmy Rosenfeld: Pirandello und Deutschland. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 4 (1963), S. 73–93, hier: S. 91; vgl. auch: „Nun kommt jedoch Pirandello dran; der zerteilt ja das Ich der Menschen, der belichtet ja immer den Unterschied zwischen Schein und Sein. Somit sagt Brecht gelehrig, wenn auch mit geringerem Können: der Packer hier weiß zuletzt nicht, ob er wirklich der Packer Galy oder doch der Soldat Jip ist . . . als den man ihn vorspiegelt. War öfters da. War besser da.“ (Alfred Kerr: Mann ist Mann. In: Die Welt im Drama. Hg. v. Gerhard F. Hering. Berlin/Köln: Kiepenheuer und Witsch 1954, S. 167–168, hier: S. 168.) 16 Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 6 f.

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Der Schauplatz des Messingkaufs

auch beeindruckende Ähnlichkeiten zwischen der Theorie-Inszenierung des Messingkaufs und der in Sechs Personen zum Ausdruck kommenden Darstellung der Philosophie Pirandellos. Eine besondere Ähnlichkeit zwischen den beiden Stücken fällt sofort ins Auge, nämlich die Versammlung von Theaterleuten auf einer Bühne, die sich über das Theater, seine Ziele, sein Vermögen, die Realität abzubilden, und seine Unzulänglichkeiten unterhalten. In beiden Stücken wird das Theater als Thema des Gesprächs und gleichzeitig als fiktionaler Schauplatz ausgestellt – im Falle der historischen Aufführungen von Sechs Personen auch als realer Aufführungsort. Dieses Ausstellen der zweifachen Rolle des Theaters wird in beiden Texten anhand der Figuren des/der Bühnenarbeiter bzw. des Maschinisten unterstrichen: Während die erste vollständige Expositionsszene im Messingkauf mit einem Bühnenarbeiter beginnt,17 der die Kulissen der vorangegangenen Inszenierung abbaut, gibt es zwei Szenen in der deutschen Übersetzung von Sechs Personen von 1925, in denen Bühnenarbeiter bzw. ein Maschinist den Vorhang als Teil der dramatischen Handlung runterlassen bzw. einen Garten für die nächste Szene aufbauen.18 Neben diesen allgemeineren Ähnlichkeiten ist zudem die Art und Weise signifikant, wie Sechs Personen an Brecht überliefert wurde: Pirandellos Stück wurde 1924 von einem Unbekannten beim Verlag Felix Blochs Erben ins Deutsche übersetzt und diese Übersetzung enthält „bereits gewaltige Änderungen gegenüber dem

17 18

Vgl. BFA 22.2, S. 773. Vgl.: DIREKTOR (bewundernd und überzeugt): Ja, so und nicht anders! Und deswegen jetzt den Vorhang, den Vorhang! (Auf die wiederholten Rufe des Direktors läßt der Maschinist den Vorhang herunter. Der Direktor und der Vater bleiben auf der Rampe außerhalb des Vorhangs.) DIREKTOR (nach oben sehend, die Arme ausstreckend): Solch ein Vieh! Ich sage „Vorhang“ und meine damit nur, daß der Akt hier schließen muß. Und der läßt den Vorhang wirklich herunter! (Zum Vater, indem er den Vorhang etwas lüftet, um wieder auf die Bühne zu gehen:) Ja, ja, sehr gut, ausgezeichnet. Das macht sicher Wirkung. So muß der Akt schließen. Ich garantiere für diesen ersten Akt! (Geht mit dem Vater wieder hinter den Vorhang.) (Luigi Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor. Autorisierte Übertragung von Hans Feist. Berlin: Alf Häger Verlag 1925, S. 115 f.)

Vgl. auch: „Beim Aufgehen des Vorhangs sieht man Maschinisten und Bühnenarbeiter die Szenerie des ersten Aktes forträumen und stattdessen im Hintergrunde mehrere Bäume aufstellen, dazwischen eine Art Brunnenbecken.“ (Pirandello Sechs Personen 1925, S. 117.) Es gibt eine weitere Auffälligkeit in Pirandellos Schreibweise, die nicht so sehr den Messingkauf sondern Brechts Schaffen im Allgemeinen betrifft, nämlich die Verwendung des Präteritums: Gleichwohl wir es mit einem ‚Jetzt‘ stattfindenden Stück zu tun haben, in dem die Figuren wesentlich im Präsens sprechen und somit ihre ‚Anwesenheit‘ ankündigen, erinnert das Verlangen nach Nachahmungen des bereits Stattgefundenen seitens der Figuren und ihre Beschreibungen dieses Stattgefundenen im Präteritum stark an brechtsche Stücke wie z. B. die Maßnahme, in dem – streng genommen – nichts im Präsens stattfindet außer der Verhandlung des Todes des eigentlich abwesenden jungen Genossen; die ganze ‚Handlung‘ des Stücks wird im Präteritum rückblickend erzählt, ähnlich wie die Schicksale der pirandelloschen Figuren in Sechs Personen.

4.1 Pirandellos Sechs Personen als möglicher Intertext

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Original.“19 Brechts Arbeitgeber Reinhardt verstieß in seiner auf der ersten 1924 Übersetzung basierten Bühnenbearbeitung wesentlich gegen die „Autorenintention“20 und änderte vor allem im dritten Akt den Fokus des Stückes noch maßgeblich.21 Zum Beispiel folgt er in einem Rückgriff auf das barocke-katholische Welttheater-Modell der Tendenz der ersten Übersetzung, „den Sechs Personen Symbolcharakter für das menschliche Dasein schlechthin zu verleihen.“22 Pirandello befragt durch die Figur des Vaters und dessen Gespräche mit dem Theaterdirektor die Ontologie der Kunst im Sinne des Verhältnisses zwischen Schöpfer bzw. Autoren und Figur und stellt die Frage danach, was eigentlich ‚realer‘ sei, die (Kunst-)Figur oder der Mensch. In Reinhardts Bühnenbearbeitung hingegen wird der Theaterdirektor zur „eigentlichen Zentralfigur“,23 während die diskursiveren Teile weglassen werden und vielmehr der Aspekt des Theatralen betont wird. Dieser Aspekt kommt bei Pirandello bereits zum Vorschein, dominiert jedoch nach der Bearbeitung die Gespräche umso mehr, zum Beispiel in folgender von Reinhardt hinzugefügter Passage: DIREKTOR. Es gibt doch auch im Leben Dinge, die man nicht vor tausend Menschen tut. VATER. Aber im Theater dürfen diese tausend Menschen doch nicht mehr sein als die vierte Wand. Der Schaupieler [sic!] vergißt sie doch in seiner höchsten Steigerung. 1. SCHAUSPIELER. Das ist der dümmste Aberglaube, daß der Schauspieler den Zuschauer jemals vergessen kann. Im Gegenteil: Er erschließt sich am tiefsten, wenn er sich vom Zuschauer ganz aufgenommen fühlt.24

In der Originalfassung wird die vierte Wand implizit in den Regieanweisungen thematisiert, während sie bei Reinhardt sowohl in den Regieanweisungen als auch diskursiv thematisiert wird. Ab seiner 1925 überarbeiteten italienischen Stückfassung lässt Pirandello seine Figuren die Schwelle zwischen Bühne und Orchester überqueren, lässt seinen Bühnenmeister – im Gegensatz zum Bühnenarbeiter des Messingkaufs – in der ersten Szene eine Bühne aufbauen,25 und macht somit die vierte Wand performativ zum Thema. Bei Reinhardt jedoch wird schon vor Pirandellos Überarbeitung die vierte Wand explizit von den Figuren diskutiert. Mutet Pirandellos Originalfassung existentialistisch an, rückt bei Reinhardt das Theaterdispositiv selbst viel mehr in den Vordergrund der Gespräche. Hierzu baut Reinhardt zudem die Anfangsszenen, die nach Pirandello stets improvisiert sein sollten, so weit aus, dass es selbst für Rezensenten im Theater ersichtlich wird, dass Rein19

Rössner: Auf der Suche nach Pirandello 1986, S. 23. Ebd., S. 30. 21 Vgl. ebd., S. 32 ff. 22 Ebd., S. 29. Rössner fragt sich sogar, ob Reinhardt an der ersten Übersetzung beteiligt war (vgl. ebd., S. 24 f.). 23 Ebd., S. 30. 24 Max Reinhardt: Unveröffentlichter Regiebucheintrag vom 17. Oktober 1924, übertragen in ein Typoskript, S. 63; zitiert nach Rössner: Auf der Suche nach Pirandello 1986, S. 31. So Rössner: „Gegen Aktschluß [des zweiten Aktes] löst sich Reinhardt dann wieder mehr von seiner Vorlage und gelangt so zu allgemeinen Diskussionen über das Wesen des Theaters [. . . ].“ (Ebd.) 25 Vgl. Pirandello: Sechs Personen 1990, S. 5. 20

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Der Schauplatz des Messingkaufs

hardt Verfasser dieser Szenen ist.26 Es ist also diese explizit reinhardtsche Version des Stücks, dessen Proben Brecht am Deutschen Theater beiwohnte.27 Ein weiterer konkreter Grund für den Rückschluss auf Sechs Personen als Messingkauf -Intertext ist die Tatsache, dass Brecht ein Exemplar des Stücks aus dem Jahr 1925 tatsächlich besaß.28 Seine Bibliothek enthielt zum Zeitpunkt seines Todes zudem eine 1954er und auf Deutsch nicht erhältliche Ausgabe von Pirandellos Maschere nude. Dies deutet darauf hin, dass sich Brecht – trotz der Ablehnung, die er in seinem Brief an Zoff-Brecht äußert – auch in späteren Jahren für Pirandello interessierte.29

4.2 Die Genese des raumzeitlichen Schauplatzes Entgegen der Annahme, dass der raumzeitliche Schauplatz, an dem sich die Gespräche zwischen dem Philosophen und den Theaterleuten ereignen, schon vor der Niederschrift des Gesprächs vollständig konzipiert wurde, wird die räumliche Situation im Laufe von Brechts Arbeit am Messingkauf immer weiter präzisiert bzw. konkretisiert. Ganz am Anfang – zumindest der Anordnung in der BFA nach – steht: DER MESSINGKAUF In ein großes Theater ist nach der Vorstellung ein Philosoph gekommen, um sich mit den Theaterleuten zu unterhalten. Eine Schauspielerin hat ihn eingeladen. Die Theaterleute sind unzufrieden. Sie haben teilgenommen an den Bemühungen um ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters. Jedoch hat die Wissenschaft dadurch wenig gewonnen, das Theater aber allerhand eingebüßt.30

In dieser Passage wird nichts Expliziteres zum eigentlichen raumzeitlichen Schauplatz angegeben, außer dass der Philosoph im Anschluss an eine Vorstellung „[i]n ein großes Theater“ gekommen ist. Wir wissen nicht genau, wo im Theater sich die Theaterleute und der Philosoph befinden.31 Häufig wird angenommen, dass der Philosoph und die Theaterleute sich ausschließlich auf der Bühne dieses großen Theaters unterhalten. Dennoch findet in zwei Metatexten der ersten Arbeitsphase, die in der BFA als A2 und A4 bezeichnet werden, eine interessante präpositionale Verschiebung statt: In A2 steht an erster

26

Hierzu schreibt Heinrich Braulich: „Hier konnte Reinhardt ‚spielend‘ dichten und mit seinen Akteuren ein Spiel entwickeln, das weit über den Text des Dramatikers hinausging. Die ganze Einleitung, die uns einen Blick auf Bühne und Schauspieler kurz vor Probenbeginn freigibt, ist Reinhardts Erfindung, ein Kabarettstückchen, wie er deren viele damals für Schall und Rauch geschrieben hatte.“ (Heinrich Braulich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Berlin: Henschel 1969, S. 207; vgl. Rössner: Auf der Suche nach Pirandello 1986, S. 29.) 27 Vgl. Willett: The Theatre of Bertolt Brecht 1959, S. 112 f. 28 Vgl. AdK, BBA (Hg.): Die Bibliothek Bertolt Brechts. Ein kommentiertes Verzeichnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 209; vgl. auch Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 6. 29 Vgl. AdK, BBA: Die Bibliothek Bertolt Brechts 2007, S. 209. 30 BFA 695. 31 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass sich dieses Theater – wie in Abschnitt 2.2 dargestellt – möglicherweise an einem Exil-Ort befindet.

4.2 Die Genese des raumzeitlichen Schauplatzes

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Stelle: „Begrüßung des Philosophen im Theater“, und in A4: „Begrüßung des Philosophen auf dem Theater“.32 Das „im“ impliziert zunächst, dass der Philosoph sich irgendwo im Theatergebäude befindet, in der Institution Theater angekommen ist. Der Wechsel zu „auf“ ruft jedoch die Vorstellung einer Theaterbühne hervor, die darauf hindeutet, dass der Philosoph jetzt tatsächlich auf der Bühne begrüßt wird. In A10 geht es dann wiederum um die „Begrüßung des Philosophen im Theater“, wobei diese Begrüßung im Theater durch die Beschreibung „in theatralischer Weise“ qualifiziert wird. Kommt in der ersten Arbeitsphase keine konkrete Beschreibung des Schauplatzes vor, rückt der Philosoph im Laufe der anfänglichen Ausarbeitungen der Bühne also immer näher. In der Begrüßungsrede des Dramaturgen wird dem Philosophen dann noch so etwas wie einen Rundgang hinter die Kulissen angeboten: „Willkommen in den Häusern der fabrizierten Träume! Sieh hier die alte und neue Maschinerie, mittels der Täuschung bewirkt wird.“33 In der restlichen ersten Arbeitsphase kommen anschließend jedoch auffällig selten konkrete Verweise auf den Schauplatz vor, an dem die Gespräche stattfinden. In den Metatexten der zweiten Arbeitsphase wird deutlich, dass sich der Philosoph in der ersten Nacht auf den Weg von einem Ort der Begrüßung im Theater zu einem auf dem Theater macht. In A16 – „BEGRÜSSUNG“ – findet man eine Liste Themen, die mit der „Begrüßung des Philosophen auf dem Theater“ – das „AUF“ im Fragment großgeschrieben – endet.34 Eine direkt daran anschließende Skizze der ersten Nacht wiederum wird mit „Begrüßung des Philosophen im Theater“ begonnen und „Begrüßung des Philosophen auf dem Theater“ beendet.35 Aus den Metatexten ist daher zu entnehmen, dass der Messingkauf in Brechts Ausarbeitungen der ersten zwei Arbeitsphasen anfänglich nicht auf der Bühne anfängt, wie in den ersten Editionen, sondern an einem anderen Ort im Theater.36 Erst die erste, in der BFA als B115 verzeichnete, ausführliche Expositionsszene – die für den Messingkauf sonst eher ungewöhnliche Regieanweisungen verwendet und den Einstieg in die Bühnenfassung des Berliner Ensembles und sowie die Leseausgaben bildet – bietet endlich ein konkretes Bild von der Bühne und damit dem raumzeitlichen Schauplatz des Messingkaufs: DIE ERSTE NACHT Auf einer Bühne, deren Dekoration von einem Bühnenarbeiter langsam abgebaut wird, sitzen auf Stühlen oder Versatzstücken ein Schauspieler, ein Dramaturg und ein Philosoph. Aus einem kleinen Korb, den der Bühnenarbeiter hingestellt hat, nimmt der Dramaturg Flaschen und entkorkt sie, und der Schauspieler gießt den Wein in Gläser und bietet sie den Freunden dar.37

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BFA 22.2, S. 695, 696, meine Hervorhebungen. BFA 22.2, S. 703. 34 AdK, BBA 126/02a; vgl. Kursivsatz in: BFA 22.2, S. 768. 35 BFA 22.2, S. 768. 36 Von den ‚verwerklichten‘ Editionen des Messingkaufs ist die englischsprachige Edition Buying Brass die einzige, die mit der Begrüßungsrede des Dramaturgen und nicht mit der in der BFA als B115 bezeichneten Szene anfängt. 37 BFA 22.2, S. 773. 33

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Der Schauplatz des Messingkaufs

Die Schauspielerin, die in den ersten Plänen anwesend und überhaupt verantwortlich für die Einladung des Philosophen ins und aufs Theater war, ist auf mysteriöse Weise verschwunden.38 Der Philosoph und die gebliebenen Theaterleute hingegen – Bühnenarbeiter, Dramaturg und Schauspieler – sitzen jetzt eindeutig auf der Bühne – nicht am Rande, nicht am Eingang, sondern im Inneren des Theaters – auf sich auf der Bühne befindenden Stühlen und Requisiten. „Wir hätten uns auch in mein Büro setzen können“, sagt der Dramaturg: „Aber es ist kälter dort, denn ich bezahle ja keinen Eintritt wie das liebe Publikum, und dann starren mir die unzähligen ungelesenen Dramenmanuskripte vorwurfsvoll ins Gesicht dort.“39 Diese Passage scheint auf Denis Diderots Antwort an Madame Riccoboni in Von der dramatischen Dichtkunst anzuspielen, in der er sein Arbeitszimmer – sein Büro – als einen Schauplatz beschreibt: Mein Arbeitszimmer ist der Schauplatz. Die Fensterwand ist der Zuschauerraum, in dem ich sitze; bei meiner Bibliothek im Hintergrund liegt die Bühne. Rechts nehme ich die Wohnräume an; links – in der Mitte – öffne ich meine Türen, soweit es nötig ist, und lasse die Personen auftreten. Wenn eine auftritt, kenne ich ihre Gefühle, ihre Lage, ihre Interessen, ihren Seelenzustand und sehe sofort ihre Handlung, ihre Bewegungen, ihren Gesichtsausdruck. Sie spricht oder schweigt, geht oder bleibt stehen, sitzt oder steht, zeigt sich mir von vorn oder von der Seite. Ich verfolge sie mit dem Auge, höre sie und schreibe. Was liegt mir daran, ob sie mir den Rücken zukehrt, ob sie mich ansieht oder ob sie, das Profil mir zugekehrt, in einem Sessel sitzt, die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf auf eine ihrer Hände gebeugt? Hat sie nicht immer die Attitüde eines nachdenkenden oder tief ergriffenen Menschen? Sehen Sie, liebe Freundin, ich bin in den letzten fünfzehn Jahren nur zehnmal im Theater gewesen. Das Unwahre an alledem, was dort geschieht, bringt mich um.40

Im diderotschen Ideal, das aus Diderots eigener Unzufriedenheit mit der Theaterpraxis seiner Zeit hervorging, gilt es, den Raum des Alltags, die hier ausführlich beschriebene Interiorität auf die Bühne zu bringen, das Innere zu veräußerlichen und auszudrücken, und dem Publikum diesen Alltag durch die vierte Wand hindurch zu präsentieren, die die Bühne vom Zuschauerraum trennt. Es geht in dieser Passage eindeutig um eine realistische Darstellung und um die Bildung von tableaux, die die Wirklichkeit, so wie sie ist, festhalten sollen. Namentlich kommt Diderot im Messingkauf tatsächlich einmal vor. Brecht war ein großer Kenner seiner Werke und implizite Verweise auf den französischen Denker sowohl im Messingkauf als auch in Brechts Gesamtwerk sind zahlreich, vor allem ab seiner Exilzeit in Dänemark.41 Dass der Ort des Treffpunktes also nicht das Büro, sondern die Bühne ist, scheint nicht zufällig zu sein: Obwohl der Dramaturg als Grund für seine Entscheidung, auf der Bühne zu sitzen, lediglich die Kälte seines Büros nennt, findet in 38

Zur Schauspielerin und ihrem Verschwinden siehe auch Abschnitt 5.2. BFA 22.2, S. 773. 40 Denis Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst. In: Ders: Ästhetische Schriften. Bd. 1. Hg. v. Friedrich Bassenge. Übers. v. Bassenge und Theodor Lücke. Berlin/Weimar: Aufbau 1967, S. 239–347, hier: S. 339. 41 Als Beispiel für Brechts Achtung vor Diderot siehe den 1937 im dänischen Exil entstandenen Text zur Gründung einer Diderot-Gesellschaft (vgl. Die Diderot Gesellschaft. In: BFA 22.1, S. 274–277). 39

4.2 Die Genese des raumzeitlichen Schauplatzes

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der Entscheidung, gerade nicht im Büro zu sitzen, ein maßgeblicher Wechsel statt vom Intim-Realistischen zur reduzierten und entblößten Bühne, vom Schreiben der Theorie im Büro zur Praxis der Theorie auf der Bühne. Dieser Wechsel markiert folglich einen räumlichen Bruch mit der bürgerlichen Tradition, demnach Theorie am Schreibtisch stattfindet, eine Bühne jedoch die Aufführung beherbergt, die nicht (bloße) Theorie zu sein hat. Dass der Philosoph „nach der Vorstellung“ das Theater betritt, stellt ebenfalls einen Bruch im Sinne einer Unterbrechung des Theaterbetriebs dar. Zudem führt die Verwendung des definiten Artikels zu einer interessanten Ambiguität: Einerseits verweist er auf das Ende einer gerade stattgefundenen Vorstellung im Sinne einer ‚Aufführung‘ und markiert darüber hinaus, dass es sich um eine ganz bestimmte Vorstellung handelt. Tatsächlich deutet der Philosoph in einer fast übersehbaren Passage der ersten Arbeitsphase darauf hin, dass dem Gespräch eine Vorstellung von Shakespeares King Lear vorangegangen ist, mit dem am Gespräch teilnehmenden Schauspieler in der Hauptrolle.42 Andererseits schwingt jedoch eine tiefere theoretische Konnotation mit: Es kündigt sich ein Gespräch an am Ende der Herrschaft eines bestimmten Theaters und damit das Warten auf die Ankunft von etwas Neuem.43 Diese kurze Exposition beinhaltet bereits alles, worauf sich der Charakter des gesamten Gesprächs engführen ließe: Es ist die Verwicklung der Figuren miteinander auf einer Bühne in einem Theater, nicht bloß ein abstraktes Gespräch über und um das Theater herum, am Rande des Theaters, von außen auf das Theater schauend. Die Tatsache, dass die Figuren auf dem Theater sitzen, während sie das Gespräch über das Theater führen, muss eine besondere Bedeutung eingeräumt werden. Die Figuren stellen kein Expertengremium dar; das Gespräch ist keine externe Bestimmung dessen, was Theater ist oder zukünftig zu sein hat, sondern, wie wir letztlich in Abschnitt 7.2 sehen werden, ein interner Abbau, eine interne Dekonstruktion des Begriffs und des Dispositivs des Theaters.

42

Vgl. „PHILOSOPH [Zum Schauspieler, L. J. W.] Nimm den heutigen Abend! Als dein Lear seine Töchter verwünschte, fing ein kahlköpfiger Herr neben mir an, so unnatürlich zu schnaufen, daß ich mich wunderte warum er, sich ganz in deine wunderbare Darstellung der Raserei einlebend, nicht Schaum vor den Mund bekam!“ (BFA 22.2, S. 709). In der ersten Bühnenfassung des Berliner Ensembles wird statt King Lear für Hamlet entschieden „19 Uhr 10. Die Vorstellung kann beginnen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Theater der Dreissiger [sic!] Jahre. Die Abendvorstellung ist im Gange. Hinter der Bühne wartet ungeduldig der Dramaturg des Theater auf das Ende der Vorstellung, um einen Gast zu begrüssen, den er zu einem nächtlichen Gespräch eingeladen hat. Gegeben wird ‚Hamlet‘.“ (AdK, ABE 391, S. 3.) 43 Für eine detaillierte Diskussion dieser Passage siehe Abschnitt 7.2.

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4

4.3

Der Schauplatz des Messingkaufs

Selbstreferentialität

Eine Kippfigur ist ein Vexierbild, das uns beispielsweise sowohl eine Vase als auch den Umriss zweier Gesichter, oder eine alte sowie eine junge Frau gleichzeitig sehen lässt. Das Irritierende an solchen Bildern ist, dass beide Bilder zwar sichtbar sind, aber nicht gleichzeitig gesehen werden können: Entweder sieht man eine Vase oder die zwei Gesichter, eine alte oder eine junge Frau. In einem Aufsatz schreibt Müller-Schöll, dass dieses Kippen zwischen zwei Bildern „auf das Figurale der Figur selbst“ verweist, „deren Konstruktion oder Darstellung.“44 Er macht darauf aufmerksam, dass es ähnliche Darstellungen in der Philosophie gibt, wie beispielsweise Benjamins Denk- und Kippfigur der „Dialektik im Stillstand“.45 Diese Denkkippfigur erlaube uns die Dialektik „als Denken der Bewegung stillstehend“ vorzustellen, „wie auch jene dialektische Bewegung, die noch im Stillstand am Werk ist, und damit zwei einander entgegengesetzte Vorstellungen, die gleichzeitig zu denken sind, gleichwohl nicht zugleich gedacht werden können.“46 Es sei kein Zufall, dass Benjamin diese Figur zum ersten Mal in einem Aufsatz zu Brechts Theater verwendet, da eine solche Figur es ihm ermögliche, „die Vorstellung, genauer: das mit ihr verbundene Darstellen und dessen Zeit und Raum, aus[zu]stellen.“47 Müller-Schöll diskutiert im weiteren Verlauf seines Aufsatzes anhand von zeitgenössischen Inszenierungen, die die Guckkastenbühne sowohl als Schauplatz als auch als Dispositiv ausstellen und befragen, wie solche Kippfiguren auch raumzeitlich vorhanden sind. Eine ähnliche raumzeitliche Kippfigurhaftigkeit nimmt der Schauplatz des Theaters im Messingkauf an. Uns werden zwar kaum Informationen zur architektonischen Anordnung des Theaters oder der Bühne des Gesprächs angeboten, dennoch können wir einer Partie des Dramaturgen entnehmen, dass wir es tatsächlich mit einem Guckkastentheater zu tun haben, da die Bühne vom Zuschauerraum getrennt ist: Er sagt, dass der Philosoph ja ganz gern hinter die Kulissen [sieht], und du als Schauspieler hast, wenn schon kein Publikum, so doch wenigstens seine Stühle im Rücken. Während wir über das Theater sprechen, können wir hier das Gefühl haben, dieses Gespräch vor einem Publikum zu führen, also selber ein kleines Stück aufzuführen.48

Wir erfahren zwar nichts über die Architektur des Theaters oder der Bühne, doch durch diese beinahe frivol wirkende Witzelei des Dramaturgen erfahren wir viel über die Anordnung der Gesprächspartner zueinander. Der Dramaturg zeigt zum einen auf die vierte Wand, die durch die Abwendung des Schauspielers – mit den 44

Nikolaus Müller-Schöll: Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart. In: Norbert Otto Eke, Ulrike Haß, Irina Kaldrack (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 227–247, hier: S. 228. 45 Benjamin: Was ist das epische Theater? (1) 1977, S. 530. 46 Müller-Schöll: Raum-zeitliche Kippfiguren 2014, S. 228. 47 Ebd. 48 BFA 22.2, S. 773.

4.3 Selbstreferentialität

107

Stühlen des Publikums „im Rücken“ – jedoch gebrochen und gleichzeitig bestätigt wird, da ausgerechnet der Schauspieler besagte vierte Wand nicht sieht. Indem der Schauspieler dem Publikum und auch nur dessen leerem Raum den Rücken zuwendet, ist bereits eine Anordnung vorgenommen, die dem Theater(raum) mehr Aufmerksamkeit zuweist bzw. den Zuschauerraum um den Bühnenraum erweitert. Der Dramaturg stellt zudem das Theater auf dreifache Weise aus: Erstens sind die Figuren im Theater Mitglieder einer sich im Theater ereignenden dargestellten Welt; zweitens wird hier auf eine bestimmte Art ein eigenes Stück aufgeführt – anscheinend alleine dadurch, dass man auf einer Bühne sitzt –; und drittens sprechen sie im und auf dem Theater über das Theater selbst. Versuchen wir jedoch, alle drei Ebenen dieser Konfiguration gleichzeitig zu denken, werden wir wie bei einem Kippbild mit der Unmöglichkeit dieser Aufgabe konfrontiert. Die raumzeitliche Kippfigur des Messingkaufs ist eben dieses Theater, das zwischen den verschiedenen Ebenen der Darstellung ständig changiert und dabei das mit ihm verbundene Darstellen, dessen Raum und Zeit ausstellt. Die verschiedenen Theaterebenen sind immer nur sozusagen ‚sichtbar‘, wir können sie aber nicht gleichzeitig ‚sehen‘. Dieses Oszillieren verweist auf das brechtsche Verfahren des Darstellens des Darstellens, des Zeigens des Zeigens: „[. . . D]ie Konstruktion einer Kippfigur [sorgt dafür], dass die Aufmerksamkeit von der vorgestellten Handlung auf die Handlung der Vorstellung und dabei speziell auf dasjenige fällt, was das Vorstellen raumbildend ermöglicht.“49 Wir befinden uns also sehr nah an dem, was Benjamin in „Was ist das epische Theater?“ als die „Auseinandersetzung zwischen dem Bühnenvorgang, der gezeigt wird, und dem Bühnenverhalten, das zeigt“,50 beschreibt: Das Theater des Messingkaufs „macht [. . . ] die Lücke zwischen dem bühnenimmanenten Vorgang und dessen Außen ersichtlich.“51 Die Kippfigurhaftigkeit des Theaters, diese Darstellung des Darstellens könnte man auch mit anderen Begriffen umschreiben: Selbstreflexivität, Selbstreferentialität, Metafiktion, Metaliteratur oder eben Metatheater, das sich selbstreflexivkritisch auf vorangegangene Theatermodelle bezieht und dadurch damit bricht.52 Wie Joanna Gradziel-Wójcik ˛ in ihrer Untersuchung selbstreferentieller polnischer Kunst erklärt, ist das Aufkommen solcher Kunst im 20. Jahrhundert, in der Schriftsteller*innen ausdrücklich mit Form experimentieren, eine Reaktion auf die naturalistischen Kunstbewegungen des 19. Jahrhunderts.53 Artur Sandauer, der in Polen den Begriff des autotematyzm – Selbstreferentialität – prägt, schreibt darüber, wie er Dichtung kreieren möchte, „not about what is seen or thought, but about the very 49

Müller-Schöll: Raum-zeitliche Kippfiguren 2014, S. 240. Benjamin: Was ist das epische Theater? (1) 1977, S. 529. 51 Hyan Kang Kim: Die Geste als Figur des Realen bei Walter Benjamin. In: Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder und Toni Hildebrandt (Hg.): Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst. Bielefeld: transcript 2014, S. 107–126, hier: S. 114. 52 Vgl. Andrés Pérez-Simón: The Concept of Metatheatre. A Functional Approach. In: TRANS 11 (2011). 8. Februar 2011, https://trans.revues.org/pdf/443 (abgerufen am 16. November 2017). 53 Vgl. Joanna Gradziel-Wójcik: ˛ Literature’s Perpetuum Mobile, or A Few Words on SelfReferentiality. Übers. v. Timothy Williams. In: Forum of Poetics (Herbst 2015), S. 86–97, hier: S. 86. 50

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4

Der Schauplatz des Messingkaufs

concept of seeing and thinking, a pure drama, destitute of all of the incidental content of consciousness.“54 Sandauers Auffassung der Selbstreferentialität zeichnet eine Literatur aus, die extrem abstrakt ist, weist jedoch eine wichtige Ähnlichkeit mit dem Messingkauf in dem Sinne auf, als in diesem Text nichts passiert. Trotz der Anordnung der Gespräche in vier Nächten und obwohl den ursprünglichen Metatexten zufolge zumindest die plot-points der Verwandlung und Rückverwandlung des Theaters bzw. Thaeters vorgesehen sind, vollzieht sich keine Handlung im üblichen Sinne. Es vollziehen sich ‚lediglich‘ Gespräche, und mit ‚Vollzug‘ wäre hier vielleicht bereits auch schon zu viel gesagt.55 Es gibt hier ein Sprechen, das aufgrund seines Gegenstandes ständig auf seinen eigenen Aussageort verweist und damit auf sich selbst. Es ist ein Theater, in dem es um nichts anderes geht als den Begriff des Theaters. Die Selbstreferentialität des Messingkaufs wird durch die räumliche Anordnung der Bühne in einem weiteren Aspekt potenziert: Mit den Stühlen des Publikums „im Rücken“, wie es in der zuvor genannten Passage lautet, sitzt der Schauspieler anscheinend den anderen Figuren gegenüber, die spiegelverkehrt zu seinem Publikum werden. Sie nehmen aber eigentlich den Platz ein, der normalerweise von den Schauspielenden eingenommen würde, und haben den Schauspieler somit vor sich, ebenfalls als eine Art ‚Publikum‘. In diesem zweiten Teil der Arbeit wird also zunächst untersucht, wie und wo gesprochen wird: Wer tritt auf der Bühne und in welcher Rolle auf? Liegt dem Gespräch eine bestimmte Struktur zugrunde? Was motiviert die Figuren und warum nehmen sie am Gespräch teil? Daran anschließend wird das im Messingkauf angewendete und namensgebende Denkverfahren untersucht, zum einen als Teil eines brechtschen Verfahrens, dessen Ursprünge in die späten 1920er Jahren zurückreichen (Stichwort: Materialwert), zum anderen als Radikalisierung dieses Verfahrens und als der Versuch, statt der Texte das Theater als Ganzes einer Materialwertuntersuchung zu unterziehen. Nachdem das Verfahren des Gesprächs bestimmt wurde, soll anschließend den Verhandlungen von verschiedenen Schauplätzen des Theaters – wie demjenigen der Einfühlung und der vierten Wand – nachgespürt werden, um anhand dieser Schauplätze zu zeigen, wie das Denkverfahren der Materialwertuntersuchung auf diese Schauplätze angewendet wird. Ich werde argumentieren, dass es die im Messingkauf präsentierte Aufgabe eines kommenden Theaters ist, eine realistische Darstellung zu bieten, die realistischer ist als das, was für Realismus gehalten wird. Der im Messingkauf ausgearbeitete Realismus-Begriff bzw. Begriff des Realistischen spiegelt eine bestimmte Auffassung vom Menschen und vom menschlichen Zusammenleben sowie die feste Überzeugung von der Wichtigkeit der Theaterrealität wider. Letztlich werde ich zeigen, inwiefern eine Lektüre, die den Schauplatz des Messingkaufs zusammen mit der an ihm verhandelten Theorie ernstnimmt, zu dem Schluss führt, dass der Text nichts anderes anstrebt als die paläonymische Auflösung aber auch Affirmation sowohl des Begriffs des Realismus als auch des 54

Artur Sandauer: Liryka i logika. Wybór pism krytycznych. Warschau: Pa´nstw. Inst. wyd 1971, S. 39; zitiert nach Gradziel-Wójcik: ˛ Literature’s Perpetuum Mobile 2015, S. 87. 55 Vgl. Abschnitt 5.2.

4.3 Selbstreferentialität

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Theaters überhaupt. Das Theater wird im Messingkauf gegen den Strich und gegen sich selbst gelesen, um ein anderes Theater, ein Theater der Anderen oder zumindest die Sichtbarkeit dessen freizulegen. Wie wir dabei sehen werden, ist es im Messingkauf der Bühnenarbeiter, der zum einen als Einziger eine Handlung durchführt, die nicht nur aus Sprechen besteht, als auch zum anderen derjenige ist, der sprachlich-bildlich die Kippfigurhaftigkeit des Theaters in Szene setzt und dabei das Verhältnis zwischen darstellender Wirklichkeit und dargestellter Repräsentation zur Sprache bringt. Es wird daher letztendlich anhand dieser Allegorie zu zeigen sein, dass das Denkverfahren des Messingkaufs ebenfalls in der räumlichen Anordnung des Textes widerspiegelt wird, das in einem sowohl räumlichen als auch diskursiven Abbau – Dekonstruktion – des Theaters mündet.

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Konfiguration

Das Kapitel „Konfiguration“ unternimmt den Versuch, die Ausgangssituation, die Figurenkonstellation und das Denkverfahren des Messingkaufs zu untersuchen, um die Voraussetzungen und die Struktur des Sprechens auf der Bühne zu beleuchten. Um auch dieses Sprechen über das Sprechen zu erleichtern, werde ich vorweg ein Blick auf vorangegangene Analysen der Konfiguration des Textes vor allem bezüglich des Philosophen werfen, der häufig als ein Brecht-Avatar, als marxistisches Sprachrohr, sokratische Antithese zur These des bisherigen Theaters oder glatt all dies zugleich gelesen worden ist. (Wie in Abschnitt 6.1 dargestellt werden soll, erhält das von den Figuren des Messingkaufs besprochene Theater viele verschiedene Attribute. Zur Verständigung und zur Vermeidung der Festlegung auf eines dieser Attribute wird im Folgenden dieses Theater das „bisherige Theater“ genannt werden). Es soll jedoch im Laufe dieser Durchsicht verdeutlicht werden, dass der Philosoph als „eingeladener Eindringling“ eine andere Rolle im Text einnimmt als bisher gedacht. Daran anschließend werde ich die Motivationen des Schauspielers und des Dramaturgen genau besehen sowie die Funktion des Dialogs im Text. Es soll ersichtlich werden, dass die Annahme, der Messingkauf sei hauptsächlich ein Dialog, ein Trugschluss ist, denn der Messingkauf besteht zum einen überwiegend aus Einzelpartien, denen man eine aphoristische Qualität zuschreiben könnte, und zum anderen aus anderen Texten, die entweder von einer Figur gesprochen werden oder ohne Figurenzuordnung sind. Der Arbeiter soll bei der Analyse nicht ausgespart bleiben, weshalb auch seine Rolle im Text als „neues Publikum“ untersucht werden soll, die sich als eine figürliche Versinnbildlichung von und Anknüpfung an Brechts Arbeit am „Pädagogium“ im Fatzer-Fragment der 1920er Jahre herausstellen wird. In einem letzten Schritt möchte ich das vom Philosophen angewendete Denkverfahren vor dem Hintergrund von Brechts „Materialwert-Theorie“ aufspüren, um letztendlich aufzuzeigen, wie Brecht im Messingkauf sein in den 1920er Jahren entwickeltes Textverfahren der Materialwertuntersuchung für die Anwendung auf das Theater erweiterte.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_5

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5.1

Konfiguration

Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph

Als die Berliner Ensemble in den 1960er Jahren mit dem Messingkauf auf Tournee ging, schrieben viele Kritiker, Brecht habe die Rolle des Philosophen als eine Widerspiegelung seiner selbst geschrieben, ja, dass der Philosoph schlicht und einfach Brecht selbst sei. So beschreibt ein zeitgenössischer Rezensent eine Aufführung: „Ekkehard Schall, Ehemann der Brecht-Weigel-Tochter Barbara, präsentierte sich, Zigarren paffend, eine Schlägermütze auf dem fast kahlen Schädel und eine Nickelbrille vorm Gesicht, in der Maske seines Schwiegervaters Bertolt Brecht.“1 Diese gewollte Ähnlichkeit ist auf den wenigen überlieferten Aufnahmen von einer Aufführung mehr als deutlich zu erkennen und entspricht dem vom Berliner Ensemble abgezielten Eindruck. Hecht, seines Zeichens Dramaturg besagter Inszenierung, schreibt dazu: Beim Versuch einer szenischen Realisierung des Messingkaufs mit dem Berliner Ensemble haben wir den Philosophen (in der Darstellung durch Ekkehard Schall) mit einigen Charakteristika und Requisiten Brechts ausgestattet. Das machte allen Beteiligten großen Spaß, und der überträgt sich, wie wir feststellen konnten, gerade durch die dezente Zitierung der Brechtschen Gesten auf Zuschauer, die ihn kannten. Freilich wird das Publikum zugleich dadurch irregeleitet, denn natürlich ist der Philosoph nicht etwa identisch mit Brecht.2

Wenn bereits der Dramaturg der Inszenierung einräumt, dass die Ausstattung einer von ihm interpretierten Figur ‚irreleitend‘ für das Publikum gewesen sei, fragt man sich nach dem Erkenntnisgewinn einer solchen Entscheidung. Denn leider nistete sich diese Gleichstellung des Philosophen mit der Person Bertolt Brecht nicht nur beim Publikum des Stückes ein, sondern übertrug sich folgenschwer auf weite Teile der Forschung, die einen dramaturgischen Scherz – die Ausstattung der Figur des Philosophen mit den Requisiten und Gesten Brechts – für bare Münze genommen zu haben scheint, wodurch ein nicht einzuholendes Gerücht von der eindeutigen Identifizierbarkeit entstanden ist. Beispielhaft für die Durchdringung dieser Interpretation des Philosophen schreibt Joseph Kiermeier-Debre geradezu selbstverständlich: „Der Philosoph ist natürlich auch Brecht selbst.“3 Wolfgang Fritz Haug wiederum sieht in der Figur des Philosophen eine Art Wunschvorstellung für Brecht, die „Brechts zu Lebzeiten verborgenes Selbstverständnis ausdrückt.“4 Ebenfalls schreibt George Buehler, dass Brecht „seine Ansichten durch die Figur des Philosophen äußer[t]“,5 und David Barnett zufolge kann der Philosoph „as an ironic shorthand for Brecht himself“ gelesen werden, „and at points he is referred to as ‚the Augsburger‘ (Augsburg was Brecht’s 1

Vgl. Kunst und Krethi 1963, S. 120 f. Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 111; vgl. zur Geschichte der Aufführungen sowie der Bühnenfassungen des Messingkaufs durch das Berliner Ensemble Abschnitt 3.2. 3 Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 259. 4 Wolfgang Fritz Haug: Philosophieren mit Brecht und Gramsci. Hamburg: Argument 2005, S. 103. Für eine Diskussion des Begriffs des Materialwerts im Messingkauf siehe Abschnitt 5.4. 5 George Buehler: Bertolt Brecht – Erwin Piscator. Ein Vergleich ihrer theoretischen Schriften. Bonn: Bouvier 1978, S. 129; vgl. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 248. 2

5.1 Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph

113

home town)“,6 dabei demonstrierend, dass der ursprüngliche biographische Fehlschluss auch zu späteren Interpretationsschwierigkeiten führen kann. Denn mit Erwähnungen des „Augsburgers“ wird tatsächlich auf Brecht selbst als autobiographische Figur der Gespräche außerhalb des Theatergeschehens hingewiesen, dabei aber notwendigerweise eine gewisse Distanz zwischen dem Augsburger und dem Philosophen setzend: „In vielen Fällen erkundigt sich der Philosoph, ehe er Fragen beantwortet, nach der Meinung dieses Stückeschreibers.“7 Dass vom „Augsburger“ und später vom „Stückeschreiber“ ausschließlich im Präteritum geschrieben wird, unterstreicht die intentionale Abwesenheit der „Person“ Bertolt Brecht als eine dem Gespräch beiwohnende Figur.8 Steve Giles merkt sachlich an: „Ever since its first publication in 1963 [. . . ], critics have sought to establish the definitive viewpoint of ‚Bertolt Brecht‘ regarding the themes and issues discussed, typically by identifying him with the Philosopher.“9 Er führt fort, indem er die hineingelesenen Gemeinsamkeiten als „touchstone“ für Leser*innen und Zuschauer*innen beschreibt, die die ‚wahre Botschaft‘ des Messingkaufs suchen.10 Solcherlei Gleichstellungen sind nicht überraschend, denn „many of the questions that concern the Philosopher also preoccupied Brecht.“11 Dennoch: it is also important to bear in mind not only the interpretative ramifications of the theatrical complexity of Buying Brass, but also that even in his more ‚straightforward‘ theoretical writings, Brecht can be elusive, playful, disingenuous and ironic [. . . ]12

Giles zufolge gibt es zwei Hauptindizien dafür, dass der Philosoph nicht als Brecht selbst zu lesen ist: einerseits die Figur des Dramaturgen, der mit seinen feinfühligen Kritiken des Naturalismus ebenfalls als ein „avatar of Brecht“ gelesen werden könnte,13 andererseits aber eine Passage, in der der Schauspieler auf die Figur des Räsoneurs eingeht. Der Schauspieler beschreibt den Räsoneur als eine Person, die die Ansichten des Dramatikers aussprach. Der Raisoneur war ein verhüllter, naturalisierter Chor. Oft besorgte der Held dieses Geschäft. Er sah und fühlte besonders „tief“, d. h. er war über die geheimen Absichten des Dramatikers unterrichtet. Wenn der Zuschauer sich in ihn einlebte, fühlte er, wie er die Situationen „meisterte“.14

Zu dieser Passage schreibt Giles, dass es „perverse“ wäre, zu behaupten, dass irgendeine Figur des Messingkaufs die Rolle eines Räsoneurs einnähme, denn „for 6 David Barnett: Brecht in Practice. Theatre, Theory and Performance. London/New York: Bloomsbury Methuen Drama 2015, S. 39. 7 Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 111. 8 Für eine Diskussion der biographischen Figuren im Messingkauf siehe Abschnitt 2.2. 9 Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 7. 10 Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 9. 11 Ebd., S. 7. 12 Ebd. Diese scharfsinnige Passage beendet er jedoch dann mit der rätselhaften Bemerkung, dass in einer heutigen Inszenierung Brecht vielleicht als der Brecht der 1920er Jahre statt der Brecht der 1950er dargestellt würde, „with his iconic leather jacket and cropped hair“ (S. 8). 13 Ebd., S. 9. 14 BFA 22.2, S. 770.

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Konfiguration

that to be the case, Buying Brass would have to be an antiquated and obsolete piece of theatrical Naturalism“15 – was er eindeutig nicht ist. Vielmehr scheint es hier der Fall zu sein, dass mit dem expliziten Hinweis auf den Räsoneur und seine Rolle im naturalistischen Theater die Möglichkeit auf eine solche Figur im Messingkauf ausgeschlossen wird. Es gibt keine getarnte Brecht-Figur, die an Stelle oder für Brecht spricht, bzw. wenn es eine solche Figur gibt, dann sind alle Figuren solche Figuren: Brecht ist keine und Brecht ist alle. In Lektüren des Messingkaufs, in denen der Philosoph als Brecht gelesen wird, wird ein letztendlich narzisstischer Versuch Brechts postuliert, sich selbst als einmarschierendes, das Theater revoltierendes Agens in Szene zu setzen – ein Agens, das in einer Reihe von Gesprächen mit, so schreibt Hecht, „hervorragende[n] Vertreter[n] des alten Theaters“16 das bisherige Theater in einer Vielzahl an diskursiven Schlachten kriegerisch völlig umstürzt zugunsten der Schöpfung eines „Thaeters“, das die Antithese zum bisherigen Theater bilden soll. Solche Interpretationen führen allerdings zu einer Vernachlässigung der literarischen Komplexität, Brüchigkeit und der inszenierten Fragmentarizität von Brechts Versuch.17 Sie müssen zudem zwangsläufig scheitern, denn, wie Lehmann schreibt: „Brecht ist mehrere.“18 Wenn nun aber die Figur des Philosophen letztlich nicht mit der Person Bertolt Brecht gleichzusetzen ist, wer ist er? Es werden im Vorfeld des Fragments wenige Informationen über den Philosophen preisgegeben: Er ist „gekommen, um sich mit den Theaterleuten zu unterhalten“,19 denn er „wünscht das Theater rücksichtslos für seine Zwecke zu verwenden. Es soll getreue Abbilder der Vorgänge unter den Menschen liefern und eine Stellungnahme des Zuschauers ermöglichen“.20 Müller-Schöll merkt darüber hinaus zu Recht an: In keiner Notiz des Fragments erfahren wir, wieso der Philosoph als Philosoph bezeichnet wird. Wir kennen keines seiner Werke, wir wissen nicht, ob ihn eine Universität promoviert, eine peer review mit den höheren Weihen des Faches versehen hat. Ja, selbst an seinen wahren Absichten sind Zweifel erlaubt, heißt es doch in der vielleicht ersten Notiz zum „Messingkauf“ über ihn: „Eine Schauspielerin hat ihn eingeladen.“ Von Anfang an steht so die Möglichkeit im Raum, dass dieser vermeintlich allwissende Philosoph auch aus anderen als philosophischen und politischen Gründen den Weg ins Theater gefunden hat.21

Der Dramaturg kategorisiert die Zwecke des Philosophen als „wissenschaftliche“,22 und in einigen Passagen geht der Philosoph auf eine generelle Wissenschaft sowie auf die Physik ein. Doch mit welcher Wissenschaft sich der Philosoph im Alltag konkret beschäftigt, wird an keiner Stelle des Messingkaufs spezifiziert. Wie zu erwarten angesichts Brechts Ruf in der deutschen Literaturgeschichte als marxistischer Dichter par excellence, greifen viele Wissenschaftler*innen be15

Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 9. Hecht: Brecht. Vielseitige Betrachtungen. Berlin: Henschel 1978, S. 88. 17 Zur Inszenierung der Fragmentarizität siehe Abschnitte 5.2 und 7.3. 18 Hans-Thies Lehmann: Brecht lesen. Berlin: Theater der Zeit 2016, S. 12. 19 BFA 22.2, S. 695. 20 BFA 22.2, S. 696. 21 Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 48. 22 BFA 22.2, S. 779. 16

5.1 Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph

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helfsmäßig zum Gerüst des Marxismus, um das wissenschaftliche Fundament des Philosophen zu beschreiben. Luckhurst attestiert gar eine „Marxist agenda“ des Philosophen, „its objective nothing less than revolutionary“,23 und spricht selbstverständlich von den „Philosopher’s Marxist objectives“.24 Müller konstatiert, dass „[d]ie philosophische Neubegründung des Theaters [. . . ] auf der Gleichsetzung von Philosophie und Marxismus [beruht], d. h. auf dem Marxschen Anspruch, die Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben.“25 Auf ähnliche Weise schreibt Hecht über die „Interessen des marxistischen Philosophen“26 und führt als Beweis für die marxistische Fundierung des Messingkaufs den Begriff des „eingreifenden Denkens“ an: Die Grundlage aller dieser Überlegungen [im Messingkauf ] bildet der Marxismus, der gegenüber der Wirklichkeit „eingreifendes Denken“ lehrt. Über dieses Denken gibt es, wie man in den Schriften zur Politik und Gesellschaft nachlesen kann, zahlreiche Notizen Brechts, die nicht ausdrücklich dem Messingkauf zugeordnet sind, die aber ihrem Inhalt nach die Denkmethode des Philosophen näher ausführen. [. . . ] Von dieser Grundhaltung aus muß man die Postulate des Philosophen verstehen.27

Hier konstatiert Hecht, dass die Anleitung zur Interpretation und Lektüre in Form des Marxismus außerhalb des Messingkaufs liegt, und diese Suche nach der „Denkmethode des Philosophen“ außerhalb des Messingkaufs scheint wiederum von einem Begehren nach Vollständigkeit, Kontinuität und einem strukturell gefestigten Denkgebäude zu zeugen. Neben Hecht verfolgen auch andere gerne ein solches Bestreben mittels allzu einfacher Motive. Viele Beiträge zum Messingkauf gehen von der Prämisse aus, der Philosoph als Vertreter des Marxismus begegne den Theaterleuten als Vertreter*innen des Theaters, um dem Theater eben solchen Marxismus zu injizieren – von einer „encounter between Marxist theory and theatre practice“.28 Sie stützen sich ebenfalls auf die Stelle in den „Ausführungen des Philosophen über den Marxismus“, an der es von der „marxistischen Lehre“ heißt: „Sie lehrt eingreifendes Denken gegenüber der Wirklichkeit, soweit sie dem gesellschaftlichen Eingriff unterliegt. Die Lehre kritisiert die menschliche Praxis und läßt sich von ihr kritisieren.“29 Voges schreibt beispielsweise: „Und es ist nun ein dem eingreifenden Denken auf marxistischer Grundlage verpflichteter Philosoph [. . . ], der das Theater als mögliches Medium einer so verstandenen gesellschaftlichen Praxis erproben will.“30 Als Beweis für das marxistische Programm des Messingkaufs wird die Passage zum „eingreifenden Denken“ gerne mit dem Aufschrei des Schauspielers angeführt: „Ändert die Welt! Sie braucht es!“31 Viele haben darauf 23

Luckhurst: Revolutionising Theatre 2006, S. 197. Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 116. 25 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 49. 26 Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 110. 27 Ebd., S. 112. 28 Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 115. 29 BFA 22.2, S. 717. 30 Voges: Der Messingkauf 2009, S. 125. 31 BFA 22.2, S. 810. 24

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Konfiguration

aufmerksam gemacht, dass diese Passage, die in den frühen Leseausgaben einen Teil des Abschlusses des Messingkaufs bildet, zusammen mit anderen Stellen – wie z. B. einer Beschreibung vom Philosophen als einer, der gekommen ist, „zu ändern, nicht nur zu interpretieren“32 – auf Karl Marx’ elfte These über Feuerbach zu verweisen scheint: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“33 Es ist zwar ziemlich eindeutig, dass die Feuerbach-These in dieser Hinsicht als Inspiration dient, dennoch wird in Abschnitt 5.3 gezeigt, wie solche Passagen ebenfalls und also werkimmanent auf Brechts frühere Arbeiten zum „Pädagogium“ anspielen. Zu den „Ausführungen des Philosophen über den Marxismus“ schreibt Kiermeier-Debre, dass für den Philosophen „nur eine Art, die Welt, also auch die nachgeahmten Vorfälle, anzuschauen [gilt], d. h. seinen Kommentar abzuliefern: seine Art, die Welt anzuschauen, ist der Marxismus, den man ‚gemeinhin eine Weltanschauung nennt‘.“34 Er verweist dabei auf eine Passage, in der der Philosoph die Theaterleute jedoch warnt: „Es ist für euch wichtig, den Unterschied zwischen dem Marxismus, der eine bestimmte Art, die Welt anzuschauen, anrät, und dem zu erkennen, was man gemeinhin eine Weltanschauung nennt.“35 Der Philosoph qualifiziert seine Warnung mit Ausführungen darüber, wie die anratende marxistische Lehre „gewisse Methoden der Anschauung“ aufstellt und dabei zu Beurteilungen für die Praxis kommt. Aber, wie er fortführt, „[d]ie eigentlichen Weltanschauungen jedoch sind Weltbilder, vermeintliches Wissen, wie alles sich abspielt, meist gebildet nach einem Ideal der Harmonie.“36 Die Implikation ist, dass auch das Ideal der Harmonie ein putatives, d. h. trügerisches ist, und dass man von solchen Weltbildern und Weltanschauungen als „vermeintliches Wissen“ fernbleiben soll. Der Philosoph scheint sich somit für die „marxistische Lehre“ zu interessieren, steht aber dem Marxismus als Weltanschauung kritisch gegenüber. Dass also Kiermeier-Debre ausgerechnet diese Passage dafür verwendet, die marxistische Anhängerschaft des Philosophen zu beweisen, um ein harmonisch-marxistisches Brecht-Universum zu unterfüttern, erscheint besonders ironisch. Was aus den „Ausführungen des Philosophen über den Marxismus“ vielmehr hervorgeht als irgendeine Art orthodox-marxistischer Doktrin, ist der notwendige Imperativ des Prozesses der Untersuchung und die Aufgabe der Kritik: „Ihr müßt alles untersuchen und alles beweisen.“37

32

BFA 22.2, S. 768. Karl Marx: Thesen über Feuerbach. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Bd. 3. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1962, S. 535; vgl. Fatzer [Sachkommentar]. In: Gläser: Kommentar 1997, BFA 10.2, S. 1150; vgl. Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 49. Müller zitiert als weiteren Beweis hierfür noch einen Text, der dem Messingkauf nicht entstammt, „Vergnügungstheater oder Lehrtheater“, vermutlich aus dem Jahr 1935 (BFA 22.1, S. 106–126; Datierung unsicher). 34 Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 256. 35 BFA 22.2, S. 716. 36 BFA 22.2, S. 717. 37 Ebd. 33

5.1 Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph

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Eine weitere Stelle, die für einige den bedingungslosen Marxismus des Philosophen zu beweisen scheint,38 ist folgender Austausch zwischen Philosophen und Dramaturgen: DRAMATURG Ich vermute, daß man diese Demonstrationen nicht einfach ins Blaue hinein veranstalten kann. Irgendeine Richtung muß man haben, nach irgendwelchen Gesichtspunkten muß man die Vorfälle auswählen, zumindest Vermutungen müssen dasein [sic!]. Wie ist es damit? PHILOSOPH Es gibt eine Wissenschaft über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Es ist eine große Lehre über Ursache und Wirkung auf diesem Gebiet. Sie kann uns die Gesichtspunkte liefern. DRAMATURG Du meinst wohl die marxistische Lehre? PHILOSOPH Ja. Aber ich muß eine Einschränkung machen. Diese Lehre beschäftigt sich vornehmlich mit dem Verhalten großer Menschenmassen. Die Gesetze, welche diese Wissenschaft aufstellte, gelten für die Bewegungen sehr großer Einheiten von Menschen, und wenn auch über die Stellung des einzelnen in diesen großen Einheiten allerhand gesagt wird, so betrifft auch dies eben für gewöhnlich nur die Stellung des einzelnen eben zu diesen Massen. Wir aber hätten bei unseren Demonstrationen es mehr mit dem Verhalten der einzelnen untereinander zu tun.39

Der Begriff der ‚Klasse‘ unterteilt in der Theorie des sogenannten Marxismus die Menschheit in zwei Hauptgruppen (Bourgeois/Kapitelklasse – Proletarier/Arbeiterklasse) und wird von den theoretischen Begründern Marx und Friedrich Engels zur Beschreibung eines anstehenden Klassenkampfes verwendet. Marx und Engels zufolge steht die gesamte Geschichte im Zeichen dieses gesamtgesellschaftlichen Klassenkampfes,40 d. h. im Zeichen des Begriffes der Klasse. So gesehen ist die „Einschränkung“, die vom Philosophen in dieser Passage unternommen wird, eine bedeutende, insofern sie sich eben von der Elementarform der marxistischen Theorie abwendet – der Klasse – und dem Einzelnen bzw. den „einzelnen untereinander“ Bedeutung zuweist. In einer anderen Passage, die an späterer Stelle in dieser Arbeit ausführlich diskutiert werden soll, behauptet der Philosoph sogar, dass die Anwendung des Begriffs der Klasse zur Auslöschung der Einzelperson führe und deshalb vorsichtig angewendet werden soll.41 Es wäre deshalb nicht zu gewagt, zu sagen, dass ein Philosoph, der ein Problem mit dem Begriff der Klasse hat, kein orthodox-marxistischer Philosoph sein kann oder zumindest nur bedingt. Obwohl der Marxismus Brecht zum Zeitpunkt seiner Arbeit beschäftigt und sicherlich auch Teile des Messingkaufs prägte, sollte man vorsichtig mit Generalisierungen sein. Denn solche Versuche, den Messingkauf für den Marxismus zurechtzubiegen, vernachlässigen einige wichtige Anhaltspunkte, die von einem radikalen Denken der Heterogenität und der Singularität ausgehen und somit keinesfalls ohne weiteres mit dem Marxismus zu vereinbaren wäre.

38

Vgl. Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 256. BFA 22.2, S. 715 f. 40 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke. Bd. 4, S. 462. 41 Vgl. Abschnitt 6.2. 39

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Konfiguration

Nun sieht es also so aus, als würde der Philosoph nicht mit Brecht gleichgesetzt werden dürfen, und gleichzeitig ist er mitnichten ein Repräsentant des Marxismus. Darüber hinaus sind nicht allzu viele Informationen über den wissenschaftlichen, philosophischen oder theoretischen Hintergrund dieser Figur überhaupt auszumachen. Um also zu verstehen, wer oder was diese Figur ist, was ihre Beweggründe sind und was sie antreibt, hilft womöglich ein Blick nicht nur auf die Figur selbst, sondern darauf, wie der Philosoph sich den anderen Figuren gegenüber verhält – ganz seiner eigenen Bestimmung gemäß also das „Verhalten der einzelnen untereinander“ betrachtend: Wie steht der Philosoph den anderen Figuren im Text gegenüber? In der längeren Expositionsszene der zweiten Arbeitsphase und also im Theater angekommen, sagt der Philosoph, dass er sich wie ein „Eindringling und Außenseiter“ fühlt.42 Diese Aussage wird wissenschaftlich gerne aufgegriffen und als Basis eines Arguments verwendet, das eine grundsätzlich antagonistische Figurenkonstellation postuliert. Kim schreibt beispielsweise in seiner Diskussion der „Eindringling“-Passage: „Mit seiner neuen ‚praktischen‘ und ‚wissenschaftlichen‘ Zwecksetzung des Theaters steht er seinen Dialogpartnern wie Dramaturg, Schauspieler und Schauspielerin grundsätzlich kontrovers gegenüber.“43 Derlei Interpretationen zufolge ist der Philosoph die einzige Figur, der zu einer Handlung überhaupt fähig ist und der als Antithese zur These des bisherigen Theaters das Gespräch vorantreibt. Der Messingkauf wäre zufolge ein klassisch-dialektisches Gespräch, das in einem synthetischen Ganzen gipfelt. Luckhurst schreibt beispielsweise – als wäre es offensichtlich – vom „dialectical design of the text“.44 Ähnlich Kim: Die vielfältigen Argumentationen der Gesprächsteilnehmer über das Theater und die Kunst überhaupt, die von der verfremdenden Perspektive des Philosophen her ausgelöst worden sind, bringen die anfangs als unüberbrückbare Gegensätze geltenden Positionen des Schauspielers (Kunst) und des Philosophen (Wissenschaft) durch die Negation der Negation („Thaeter“) letztlich in die dialektische Einheit, nämlich ins ‚Theater‘ auf einer höheren Ebene.45

Es fällt auf, dass Kims Sicht hier die Rolle des Dramaturgen sowie des Bühnenarbeiters völlig vernachlässigt. In einem weiteren Schritt wird der Philosoph dann mit Sokrates verglichen: Buehler behauptet 1978, der Messingkauf sei „in der Art des Platonischen Dialogs“46 geschrieben; Peter Thomson und Vivien Gardner zufolge ist „Brecht’s model, as is made manifest in The Messingkauf Dialogues, [. . . ] Socrates,“47 und White findet, dass Brechts Beschreibung von Galilei als einem mit „Sokra-

42

BFA 22.2, S. 778. Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 117. 44 Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 111. 45 Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 119. 46 Buehler: Bertolt Brecht – Erwin Piscator 1978, S. 129. 47 Peter Thomson und Vivien Gardner: Mother Courage and her Children. Cambridge/New York: Cambridge University Press 1997, S. 12. 43

5.1 Der brechtsche/marxistische/sokratische Philosoph

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tengesicht“48 bedeutungsvoll für die Interpretation des Philosophen sei.49 Auch Kiermeier-Debre beschreibt die Figur als den „kunstfremde[n] Philosoph[en], jene stilisierte, denkende Brecht-Maske, jene[en] stets wie Sokrates aufgeklärt ‚Wozu‘ fragende Dialogführer des Messingkaufs“,50 und Katalin Trencsényi schreibt im Jahr 2015: The genre of The Messingkauf Dialogues is similar to Plato’s dialogues, whereby the form of public discourse is used in order to present various aesthetical, political and philosophical arguments; by putting these ideas up against one another, by the end of the conversation a conclusion is synthesised.51

An einer Stelle in einer Notiz im 1945er Konvolut erwähnt Brecht tatsächlich den sokratischen Dialog als Teil des V-Effekts im täglichen Leben – diese Erwähnung wird allerdings nicht weiter im Text ausgeführt.52 Es ist nachvollziehbar, dass der Dialog des Messingkaufs an den philosophischen Dialog erinnert, wie er etwa in Platons Schriften, bei Descartes oder Spinoza vorkommt: Schließlich tritt auch hier ein Philosoph mit anderen Figuren ins Gespräch, um lang etablierte Annahmen infrage zu stellen.53 In Platons Schriften tut dies Sokrates, indem er zunächst seinen Gesprächspartner nach den Bestimmungen eines Begriffes befragt. In der Regel beantwortet der Gesprächspartner diese Fragen anhand von Beispielen aus seinem eigenen Leben, die Sokrates prüft, indem er mit seinen Antworten weitere Fragen stellt und andere Beispiele hervorbringt.54 Bei Sokrates bzw. Platon wird mithin eine These behauptet, der eine Antithese gegenübergestellt wird, wobei entweder die ursprüngliche Behauptung widerlegt oder beide Thesen als Synthese aufgehoben werden. Wie Timothy Smiley anmerkt: „The reasons for choosing the dialogue form are often obvious. It can be a fine tool of persuasion, as the author’s view is followed to victory through successive trials by combat.“55 Letztendlich arrangiert Platon den Dialog so, dass wir mit den Gesprächspartnern und Sokrates zu Erkenntnissen kommen, die von Anfang an von uns so gewollt waren. 48

Brief an Hans Tombrock vom Anfang Juli 1940. In: BFA 29, S. 181. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 248. 50 Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 259. 51 Trencsényi: Dramaturgy in the Making 2015, S. 116 f. 52 Vgl. BFA 22.2, S. 793. 53 Vgl. Paolo Dordoni: Das sokratische „Wissen nicht zu wissen“ und seine Bedeutung für die Philosophie. Eine erste Skizze anhand des radikalen Zweifels. In: Jens Peter Brune, Horst Gronke und Dieter Krohn (Hg.): The Challenge of Dialogue. Socratic Dialogue and Other Forms of Dialogue in Different Political Systems and Cultures. Münster: LIT 2010, S. 15–28, hier: S. 19. 54 Helge Svare beleuchtet diesen Prozess anhand eines Beispiels aus Laches, wo Sokrates seinen Gesprächspartner fragt, ob er ihm sagen könne, was Mut eigentlich sei. Laches antwortet mit dem Beispiel von jemandem, der während eines Kampfs auf seinem Posten bleibt und nicht wegrennt. Sokrates fragt, ob einen solchen Mut nicht auch zu finden sei bei Leuten, die krank oder arm sind, oder die politisch verfolgt werden (vgl. Helge Svare: Socratic Dialogue and Narrative Theory. In: Jens Peter Brune et al. (Hg.): The Challenge of Dialogue. Socratic Dialogue and Other Forms of Dialogue in Different Political Systems and Cultures. Münster: LIT 2010, S. 63–72, hier: S. 63). 55 Timothy Smiley. In: Ders. (Hg.): Philosophical Dialogues. Plato, Hume, Wittgenstein. Dawes Hicks Lectures on Philosophy. Oxford: Oxford University Press 1995, S. IX–X, hier: S. IX. 49

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Indem der Philosoph des Messingkaufs nun als ein sokratischer Eindringling gelesen wird, der dem Theater – verkörpert in der Figur des Schauspielers und vermittelt durch den Dramaturgen56 – als Teil einer binären dialektischen Konstruktion ‚gegenübersteht‘, wird er zur Antithese gemacht, dessen Begegnung mit der bisherigen These – in diesem Fall dem durch die Theaterleute repräsentierten bisherigen Theater – in der Aufhebung des Alten zu etwas Neuem, Synthetischem führt. Müller fasst diese Lesart treffend zusammen: Im Anfang der Auseinandersetzung standen sich die Vorstellungen von Philosoph und Schauspieler antithetisch gegenüber [. . . ]. Demgegenüber ist in der vierten Nacht eine Synthese erreicht [. . . ]. Die Synthese, die der „Messingkauf“ in seinem Argumentationszusammenhang leistet und auf die er seiner formalen Struktur nach angelegt ist, läuft auf eine vollständige Wiederherstellung der Kunst durch die Negation ihrer vorgefundenen Gestalt hinaus.57

Kim ist weniger dualistisch als Müller und schreibt, dass der Messingkauf die Möglichkeit bietet, „die aufgeworfenen Probleme von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten“, führt aber diese Feststellung mit der Qualifizierung fort: „und im Widerstreit der unterschiedlichen Meinungen zur Erkenntnis des Richtigen fortzuschreiten.“58 Solche Behauptungen des Richtig-Synthetischen stützen sich oft auf ein Zitat aus einem Journaleintrag vom 25. Februar 1941, in dem Brecht eine „dialektische wendung“ im Messingkauf folgendermaßen beschreibt: „dort geht der plan des philosophen, die kunst für lehrzwecke zu verwerten, auf in dem plan der künstler, ihr wissen, ihre erfahrung und ihre fragen gesellschaftlicher art in der kunst zu plazieren [sic!].“59 Voges merkt beispielsweise dazu an: Die Aufhebung der Entgegensetzung von neuer Zwecksetzung und Bewahrung des Kunstanspruchs ist das bestimmende Moment der prozesshaft dialogischen Auseinandersetzung und ihrer Präsentation als Konfrontation scheinbar sich ausschließender Interessen. Den so erzielten Konsens hat Brecht als „die dialektische Wendung in der Vierten Nacht des ‚Messingkaufs‘“ bezeichnet [. . . ].60

Wie jedoch aus einer genauen Lektüre des Messingkaufs ersichtlich wird, gibt es einerseits keinen „Plan“ der Künstler, „ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Fragen gesellschaftlicher Art in der Kunst zu plazieren“. Die Schauspielerin ist diejenige, die den Philosophen einlädt, was nahelegt, dass zumindest sie einen Plan gehabt haben mag.61 Da der Philosoph diese Einladung annimmt, kann man ebenfalls an-

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Kiermeier-Debre beschreibt den Dramaturgen beispielsweise als den „vermittelnden Dramaturgen“ (Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 259), ebenso wie Müller schreibt, dass der Dramaturg „eine vermittelnde Stellung“ einnimmt (Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 52); vgl. zur Figur des Dramaturgs auch Abschnitt 5.2. 57 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 65 f. 58 Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 116, meine Hervorhebung. 59 Journaleintrag vom 25. Februar 1941. In: AJ 1, S. 245. 60 Voges: Der Messingkauf 2009, S. 128. 61 Vgl. die Ausführungen zur Einladung der Schauspielerin in Abschnitt 5.2.

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nehmen, dass der Philosoph mit einem bestimmten Vorhaben ins Theater kommt. Man kann jedoch höchstens von der Bereitschaft des Dramaturgen und jedenfalls dem Widerwillen des Schauspielers solchen Plänen gegenüber sprechen. Außerdem gibt es faktisch schlicht und einfach kein Ende, kein Aufgehen des Plans des Philosophen im Plan der Künstler.62 Brechts oben genannten Journaleintrag beim Wort und als Lektüreanleitung für den Messingkauf zu nehmen ist ein weiteres Symptom der bereits in Abschnitt 1.1.2 diskutierten Privilegierung Brechts eigener Aussagen gegenüber seinem Werk. Man kann solcherlei Aussagen für bare Münze halten, allerdings gibt es weder eine solche Wendung noch ein solches, nachträglich behauptetes Ende. Das ernstnehmend ist eine der Hauptthesen dieser Arbeit eben diejenige, dass gerade die Theorie, die Brecht im Messingkauf darzustellen versucht, ein solches Ende verhindert und sich aufgrund ihrer selbst einem Ende verweigern muss.63 Diejenigen, die eine durch die Gespräche zwischen den Figuren und dem Philosophen erreichte synthetische Theorie des epischen Theaters zu finden meinen, können sich nicht auf eine im Text selbst präsentierte synthetische Theorie stützen, da es schlichtweg eine solche klar erkennbare Theorie im Text nicht gibt, wie noch zu zeigen sein wird. Die Annahme, es gäbe eine sokratisch-dialektische Konstellation, geht so weit, dass Kiermeier-Debre in seinem Versuch, die Mangelhaftigkeit des Messingkaufs als reflexives Theaterstück herauszustellen, sein ganzes Argument darauf stützt, dass der Messingkauf an seinem Anspruch, ein sokratisch-dialektisches Theaterstück zu präsentieren, scheitert. Er verbringt einige Seiten damit, dieses Scheitern zu ‚beweisen‘. Ein Grund hierfür sei, dass es keinen richtigen Antagonisten für den Philosophen gebe, da die vom Schauspieler vertretene Position, die der Ästhetik, von diesem nicht detailliert entfaltet werde. Außerdem erscheine „[d]ie Gegenposition, also das alte aristotelische System, [. . . ] stets schon im kritischen Filter der Ausführungen des Dramaturgen wie gelegentlich des Philosophen selbst.“64 Der Philosoph habe daher „leider keinen Kontrahenten, keinen wirklichen Diskussionspartner“,65 und die Synthese sei deshalb „nicht geleistet. Eben die formale Struktur des Messingkaufs müßte sie zeigen, müßte selbst die Synthese, das Wohlgefällige zumindest der Anlage nach sein oder erkennen lassen [. . . ].“66 Die Behauptung des sokratisch-dialektischen Gesprächs, die Kiermeier-Debre zu widerlegen meint, rührt aber nicht vom Messingkauf selbst her, sondern von der Forschung, die seit jeher diese Gesprächsstruktur als selbstverständlich voraussetzt. Was die Befürworter*innen der dialektischen Struktur des Gesprächs zu finden meinen, ist ein Gleichwicht im Gespräch, das dem Wechselspiel zwischen These (bisherigem Theater) und Antithese (Philosoph/Thaeter) ermöglichen würde, zur Synthese fortzuschreiten. In seiner vermeintlichen Kritik erkennt Kiermeier-Debre, 62

Siehe Abschnitt 3.3 für eine Diskussion des „Endes“ des Messingkaufs. Vgl. Abschnitt 7.3. 64 Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine 1989, S. 259. Für eine ausführlichere Diskussion der kritischen Position des Dramaturgen siehe Abschnitt 5.2. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 263. 63

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dass ein solches Gleichgewicht nicht vorhanden ist. Das allerdings ist nicht Resultat eines Scheiterns an der Umsetzung der dialektischen Gesprächsstruktur, sondern der Tatsache, dass – wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird – die Theaterleute keine Repräsentanten oder Verteidiger des bisherigen Theaters, sondern selbst mit diesem Theater unzufrieden sind, und deshalb die ‚These‘ zur ‚Antithese‘ des Philosophen gar nicht bilden können. Kiermeier-Debre trifft überdies nebensächlich auf einen wesentlichen Aspekt der bisher erfolgten Forschung, nämlich deren Fokus auf das ‚Was‘ statt das ‚Wie‘, auf dessen Inhalt stattdessen Form. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass und wie die formale Struktur des Messingkaufs die Entstehung einer glatten Synthese verhindert.67 Wie White zu Recht ausführt, ist der Philosoph, obwohl es bestimmte Parallelen zwischen dem sokratischen elenchos gibt, genauso wenig „a Socratic figure [as] he is the Marxist Brecht in disguise“,68 und die Theaterleute lediglich als Repräsentanten des bisherigen Theaters zu lesen, „would be an insult to some of the dialogue’s participants.“69

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus Neben einigen realen Frauen, die allerdings nur in den im Präteritum verfassten Passagen behandelt werden,70 gibt es nur eine weibliche Figur im Text, die zudem relativ schnell verschwindet. Doch man kommt nicht umhin, dass es nun mal die Schauspielerin ist, die – trotz ihres letztendlichen Verschwindens – überhaupt den Anlass zum gesamten Gespräch gibt, indem sie den Philosophen ins und somit aufs Theater einlädt: „Eine Schauspielerin hat ihn eingeladen.“71 Im Verzeichnis der dramatis personae heißt es zu dieser Figur: „Die Schauspielerin wünscht ein Theater mit erzieherischer gesellschaftlicher Funktion. Sie ist politisch.“72 Sie erhält im gesamten Messingkauf lediglich acht Sprechpartien, die bis auf zwei Ausnahmen jeweils aus nur einer Zeile bestehen, eine sogar aus nur einem Wort,73 und ab der 1942/1943er Arbeitsphase verschwindet sie gänzlich. Da die Schauspielerin im Text so selten zu Wort kommt, ist es schwierig, Schlüsse bezüglich ihrer Figur oder ihrer Rolle im Text zu schließen. Sie verweist jedoch – ohne zu sprechen – auf einen wichtigen Aspekt der Ausgangskonstellation: Schreibt Thiele zu Recht, dass der Philosoph „eine besondere Stellung ein[nimmt], indem er den anderen als ‚Eindringling‘ gegenübersteht“,74 so beschreibt ihn André Combes, den Messingkauf sorgfältiger beim Wort nehmend und dieser Konstellation besser Rechnung

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Vgl. Abschnitte 5.1, 5.2 sowie 7.3. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 249. 69 Ebd., S. 241. 70 Siehe Abschnitt 2.2. 71 BFA 22.2, S. 695. 72 BFA 22.2, S. 696. 73 Vgl. BFA 22.2, S. 709, 714, 726, 729, 741, 747, 758, 788. 74 Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 327. 68

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

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tragend, als „[i]nvité-intrus“,75 d. h. als Gast-Eindringling, als eingeladenen Eindringling. Die Tatsache, dass der Philosoph nicht uneingeladen ins Theater eingedrungen ist, um gegenüber den Theaterleuten irgendetwas zu forcieren, muss berücksichtigt werden. Der Philosoph „lässt sich bitten“ und muss, wie Mayte Zimmermann schreibt, „zum Denken auf der Bühne bewegt werden.“76 Die Schauspielerin ist diejenige mit dem Plan und muss den Philosophen irgendwo bereits so gut kennengelernt haben, dass sie glaubt, er sei in der Lage, ihren politischen Interessen nachzukommen und etwas zu sagen oder zu tun, das sich auf das Theater der Theaterleute vorteilhaft auswirken wird. Eine genaue Betrachtung dieser Ausgangskonstellation weicht die vermeintlich rein antagonistische Grundkonstellation sowie die Vorstellung auf, der Philosoph sei ein allwissender, getarnter Brecht-Philosoph mit Sokrates-Gesicht. Der Philosoph nimmt zwar eine besondere Rolle ein, sie kommt aber daher, dass er als eingeladener Eindringling als willkommene und deshalb produktive Störung und Unterbrechung des Theaters fungiert. Außerdem sprechen die Figuren sich häufig als „Freund“ an, was vielleicht nicht unbedingt ihre tatsächlichen Beziehungen zueinander reflektiert, dennoch zumindest eine Geste der Zuneigung und nicht des Antagonismus markiert.77 Die Worte des Philosophen werden im Messingkauf und auch in dieser Arbeit privilegiert, denn er ist Störfaktor und Anstifter des Gesprächs, ohne den es womöglich kein Gespräch und auf jeden Fall keinen Messingkauf gäbe. Das dialogische Medium erlaubt es ganz grundsätzlich, verschiedene, auch konkurrierende Standpunkte darzustellen. Eine sokratische Konstellation würde voraussetzen, dass die Figuren jeweils eine Position vertreten und eben verteidigen, aber im Messingkauf gehen die Figuren nicht völlig im eindeutigen Schema ‚Philosoph‘, ‚Dramaturg‘ oder ‚Schauspieler‘ auf. Der Schauspieler beispielsweise ist zwar „der Schauspieler“, dennoch ist er ebenso ein konkreter Schauspieler mit spezifischen Vorstellungen, Interessen und Meinungen. Trotz ihrer Bezeichnungen als „der Dramaturg“ oder „der Philosoph“ können den Figuren keine definiten Funktionen oder Repräsentationsbereiche zugeschrieben werden, und sie sind in sich teilweise sehr widersprüchlich, was nicht lediglich der Fragment-Form des Textes geschuldet ist. Dieser Anspruch, nicht widerspruchsfrei zu sein, wird im Messingkauf in einer Passage ohne Figurenzuordnung sogar selbst erhoben: „Die Äußerungen der Menschen sind ja notwendig widerspruchsvoll, es ist also nötig, den ganzen Widerspruch zu haben.“78 Dabei ist der Dialog als Medium ein geeigneter Ort, diesem Widerspruch zur Erscheinung zu verhelfen. Das Ziel der folgenden Ausführungen wird es deshalb nicht sein, psychologische Profile für jede Figur zu erstellen, sondern zu untersuchen, wie die Figuren sich zueinander

75

Combes: Le théâtre du philosophe 2000, S. 71. Mayte Zimmermann: Von der Darstellbarkeit des Anderen. Szenen eines Theaters der Spur. Bielefeld: transcript 2017, S. 17. 77 Vgl. z. B. BFA 22.2, S. 709, 726, 756, 758, 771, 772, 773, 784. 78 BFA 22.2, S. 804 f. 76

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und zum Philosophen verhalten und wie sich ihr Sprechen konstituiert.79 Leitend dabei ist eine Anmerkung zu den Theaterleuten aus einem der ersten Metatexte, die von großer Wichtigkeit zu sein scheint: „Die Theaterleute sind unzufrieden. Sie haben teilgenommen an den Bemühungen um ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters. Jedoch hat die Wissenschaft dadurch wenig gewonnen, das Theater aber allerhand eingebüßt.“80 Diese Unzufriedenheit wird in Abschnitt 6.2 einer ausführlicheren Diskussion unterzogen, diese Passage markiert allerdings eindeutig das Ungleichgewicht im Text: Niemand in diesem Theater ist gänzlich auf der ‚Seite‘ des bisherigen Theaters – alle wünschen sich, dass dieses Gespräch eine Ver-/Änderung bringt. Kim schreibt, dass für den Schauspieler „die Autonomie der Kunst für selbstverständlich [gilt].“81 Aus diesem Grund gilt er landläufig als Antagonist des Philosophen.82 Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Philosoph und Schauspieler noch am ‚antagonistischsten‘. Der Schauspieler, der laut Personenverzeichnis „wünscht, sich auszudrücken“ und „bewundert werden“ möchte,83 glaubt an „das geheiligte Wort des Dichters“,84 wirft dem Philosophen ein mangelndes Kunstverständnis – „Er hat keinen Sinn für Kunst. Er ist hier fehl am Ort. Vom Standpunkt der Kunst aus ist er ein Krüppel“85 – und „beabsichtigte Unverschämtheit“86 vor und sondert die Kunst in eine Nebenwirklichkeit ab: „Herr, die Kunst ist selbst eine Wirklichkeit! Die Kunst steht so hoch über der Wirklichkeit, daß man eher sie eine Kopie der Kunst nennen könnte.“87 Der Schauspieler scheint jedoch darüber hinaus die Kunst zu genießen und ganz grundsätzlich Spaß am Spielen zu haben: PHILOSOPH Wenn du spielst, was macht dir Spaß? SCHAUSPIELER Z. B. daß ich in drei Stunden ein ganzes Leben herunterleben kann, mit Schwierigkeiten und Lösungen, auf und ab, 60 Jahre. Auf diese Weise habe ich, alt, vielleicht 300 000 Jahre gelebt, 5000 Leben anstatt eines. Ist das nichts?88

Er mag das Theater, er genießt die Kunst und möchte nicht, dass sie zu Dienern degradiert werden: „Ich hasse all das Gerede von der Kunst als Dienerin der Gesellschaft. Da sitzt großmächtig die Gesellschaft, die Kunst gehört gar nicht zu ihr, sie gehört ihr nur, sie ist nur ihre Kellnerin. Müssen wir unbedingt alle lauter Diener sein?“89 Nichtsdestotrotz zählt der Schauspieler zu den unzufriedenen Theaterleuten, unter anderem, weil er der Meinung ist, dass das Theater von den „Mächtigen“ ausgenutzt würde, um ihre Position zu stärken: „Den Mächtigen wird der Spiegel 79

In Abschnitt 5.3 wird die Rolle des Bühnenarbeiters gesondert behandelt. BFA 22.2, S. 695. 81 Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 118. 82 Vgl. „[le] protagoniste (le philosophe) et de l’antagoniste (l’acteur)“. (Combes: Le théâtre du philosophe 2000, S. 83.) 83 BFA 22.2, S. 696. 84 BFA 22.2, S. 708. 85 BFA 22.2, S. 787. 86 BFA 22.2, S. 770. 87 BFA 22.2, S. 788. 88 BFA 22.2, S. 772. 89 BFA 22.2, S. 753. 80

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

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vorgehalten! Als ob sie sich nicht durchaus gefielen darin!“90 Das Bundeslied paraphrasierend, erzählt er zudem von einem sozialistischen Stück, in dem er eine Rede an das Proletariat hielt: „Ich wies darauf hin, daß alle Räder stillstünden, wenn der starke Arm des Proletariats das wolle. In diesem Augenblick gingen Millionen von Arbeitern ohne Arbeit herum. Die Räder standen still, obwohl ihr starker Arm das gar nicht wollte.“91 Zwar ist es die Schauspielerin, die im Personenverzeichnis als diejenige mit politischem Bewusstsein gekennzeichnet ist, dennoch zeigt der Schauspieler an solchen Stellen, dass er nicht nur „die Kunst“ dem Philosophen gegenüber antagonistisch vertritt, sondern auch fähig ist, sie zu kritisieren und sich ebenfalls als einer der unzufriedenen Theaterleuten eine Änderung herbeisehnt, auch wenn er davon unabhängig ein grundlegendes Problem mit dem Philosophen und seinen Ansichten zu haben scheint. Der Dramaturg ist neben dem Schauspieler und dem Philosophen derjenige, der am häufigsten das Wort ergreift. Er hat sich bereit erklärt, den Philosophen zu unterstützen, und „verspricht, seine Fähigkeiten und Kenntnisse zum Umbau des Theaters in das Thaeter des Philosophen zur Verfügung zu stellen.“92 Er ist im bisherigen Theater geschult worden und kennt sich mit den großen Theoretikern und Regisseuren des Theaters als bürgerlicher Institution aus. Hecht bemerkt diesbezüglich, dass der Dramaturg „das aristotelische Theater in seiner modernen Variante [. . . ] sachkundig und konsequent [verficht].“93 Das stimmt jedoch nicht ganz, denn ‚Verfechten‘ impliziert ein allen Widrigkeiten zum Trotz, affirmatives Durchsetzen einer bestimmten Sache. Der Dramaturg jedoch ist nicht so sehr Verfechter des bisherigen Theaters als Verfechter des Theaters an sich. Dass es ein von seinem alten, aristotelischen bzw. bürgerlichen Zweck entfremdetes Theater geben könnte, ist für ihn zunächst schlicht nicht vorstellbar, denn „[v]on ihrem Zweck getrennt, ergäben die Nachahmungen eben nicht mehr Theater, weißt du.“94 Nichtsdestotrotz weist er als einzige Figur eine gewisse Vertrautheit mit dem Theater des Piscator auf,95 während er zugleich intim vertraut ist mit den Einzelheiten des Lebens des Augsburgers und seines Theaters: Er berichtet in einigen Passagen der ersten Arbeitsphase sogar über den Augsburger an den Philosophen.96 Hecht hat also recht, wenn er 90

BFA 22.2, S. 706. Ebd. Für eine detailliertere Diskussion der gescheiterten Bemühungen der Theaterleute um ein „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ siehe Abschnitt 6.2. 92 BFA 22.2, S. 696. 93 Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 116. 94 BFA 22.2, S. 779; vgl. Näheres hierzu in Abschnitt 7.1. 95 Z. B.: „DRAMATURG Ich denke, Piscator war der erste, der es für nötig fand, im Theater Beweise vorzubringen. Er projizierte auf große Leinwände authentische Dokumente. Viele warfen ihm sogleich vor, er verletze die Regeln der Kunst. Sie habe ihr eigenes Reich aufzubauen, sagten sie.“ (BFA 22.2, S. 720; vgl. auch BFA 22.2, S. 746.) 96 Vgl. BFA 22.2, S. 722, 724, 738 f. An einer Stelle aus derselben Arbeitsphase rezitiert der Philosoph das Gedicht des Augsburgers über seinen Zuschauer (BFA 22.2, S. 754 f.; vgl. Abschnitt 7.1); ansonsten werden essayistische Passagen über den Augsburger keiner bestimmten Figur zugeordnet (vgl. in der ersten Arbeitsphase „Theater des Augsburgers“ (BFA 22.2, S. 759) und „Verhältnis des Augsburgers zum Piscator“ (BFA 22.2, S. 763); und in der dritten Arbeitsphase „Piscator“ (BFA 22.2, S. 794), „Aus der Beschreibung des Piscatortheaters in der ‚Zweiten Nacht‘“ (BFA 91

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die Ausführungen des Dramaturgen zum Theater als „sachkundig“ beschreibt: Der Dramaturg ist der Theaterexperte, derjenige mit dem Wissen über die Techniken des Theaters: „[T]here is apparently no theatrical subject on which the Dramaturg could not discourse.“97 Der Dramaturg kennt sich darüber hinaus zumindest ansatzweise mit der „marxistischen Lehre“ aus – genug, um sie aus den Ausführungen des Philosophen zu erkennen.98 Dass das Theater irgendeine Art von gesellschaftlichem oder gar politischen Anspruch haben sollte, scheint für ihn selbstverständlich zu sein. An den Versuchen des bisherigen Theaters, „dem Leben den Spiegel vorzuhalten“, hat er teilgenommen, er bereut allerdings, dass das Theater „für [die] Dienste, die es der Gesellschaft geleistet hat“, damit bezahlt hat, dass es „beinahe alle Poesie“ eingebüßt hat.99 Auch er hofft auf eine Änderung und verspricht sich diese Änderung vom Philosophen: „[W]ir wollten eigentlich darüber sprechen, wie gerade du durch Theatermachen zufriedengestellt werden kannst, und nicht, wie wir dadurch zufriedengestellt werden.“100 Wenngleich er sich dem Philosophen zur Verfügung stellt und offen für seine Bemerkungen und Meinungen ist, setzt er sich diesen zumindest nicht bedingungslos aus und richtet viele auch kritische Fragen an den Gast. Das Gespräch zwischen den Figuren Philosoph, Schauspieler und Dramaturg (denn die Schauspielerin verschwindet, wie bereits erwähnt, ab der zweiten Arbeitsphase) ist grundsätzlich nicht symmetrisch strukturiert: Die Beziehung zwischen Philosoph und Schauspieler ist kontrovers, während der Dramaturg eine eher vermittelnde Rolle einnimmt, da er die Ansichten beider Seiten nachvollziehen kann. Es ist zudem auffällig – vor allem im Vergleich zu Pirandellos Sechs Personen –, dass im Gespräch weder ein Regisseur noch ein Autor zu Wort kommen. Warum dann ein Dramaturg, dessen Beruf zu dieser Zeit keinerorts eine besonders große Rolle spielte? Luckhurst formuliert als eine der wenigen ihre Überlegungen zum Messingkauf ausgehend vom Dramaturgen statt vom Philosophen.101 Sie spürt der Entwicklung des Begriffs des Dramaturgen seit Lessing nach und diskutiert Brechts Neuerfindung und Betonung des Dramaturgen in seiner Theaterarbeit, die ihrer Ansicht nach in der orthodoxen Brecht-Forschung überwiegend vernachlässigt werde.102 Unglücklicherweise verharrt ihr Denken in der Terminologie der alten Brecht-Garde und sie reduziert den Messingkauf auf Stichworte wie ‚dialektisch‘ und Oppositionen wie ‚naturalistisch-episch‘. Zudem verschiebt sie zwar die übliche Betonung des Konflikts zwischen Philosoph und Schauspieler auf eine Paarung zwischen Philosoph und Dramaturg,103 schießt aber über das Ziel dort hinaus, wo 22.2, S. 794 f.), eine Passage ohne Titel zum Augsburger (BFA 22.2, S. 811) und „Das Theater des Piscators aus dem ‚Messingkauf‘“ (BFA 22.2, S. 814 ff.)). 97 Luckhurst: Revolutionising Theatre 2006, S. 198. 98 Vgl. BFA 22.2, S. 715. 99 BFA 22.2, S. 774. 100 BFA 22.2, S. 777. 101 Vgl. Luckhurst: Dramaturgy 2006; und Luckhurst: Revolutionising Theater 2006. 102 Vgl. Luckhurst: Revolutionising Theatre 2006, S. 193–195. 103 „The Dramaturg and the Philosopher are the central pairing in the text and it becomes clear that their creative partnership is essential to the realisation of the new epic theatre project under discussion.“ (Luckhurst: Revolutionising Theatre 2006, S. 207.) Für Luckhursts allgemeine Diskussion des Messingkaufs vgl. S. 195–198.

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

127

sie dem Dramaturgen eine dialektische Kraft zuschreibt: „By the end of The Messingkauf Dialogues both Philosopher and Actor have come to understand, through the Dramaturg’s interventions, that ‚Science‘ and ‚Art‘ can be fused together in a dynamic redefinition of theatre.“104 Nichtsdestotrotz macht sie den wichtigen Punkt, dass der Philosoph ohne das Wissen des Dramaturgen nicht in der Lage wäre, seine Ideen in die Praxis zu übersetzen105 (wobei der theatralische Erkenntnisstand des Philosophen im Laufe des Messingkaufs und dessen Entstehung changiert). Es ist eben der Aufgabenbereich des Dramaturgen, sich zu überlegen, wie eine Idee in Szene gesetzt werden kann – in diesem Fall wie das ziemlich ungenau beschriebene Vorhaben des Philosophen, nämlich die Nachahmungen menschlichen Zusammenlebens, seinen nicht weiter detaillierten „Zwecken“ nach in der Theaterpraxis aussehen könnte.106 Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass die Forschung in ihrem Fokus auf den Philosophen als Brecht-Avatar verkannt hätte, dass es eigentlich die Figur des Dramaturgen wäre, der Brecht am ehesten entspricht. Vielmehr verdeutlichen solche Überlegungen, dass auch die Figur des Dramaturgen im Messingkauf eine wichtige Funktion erfüllt. Der Dialog im Messingkauf ist dadurch gekennzeichnet, dass die Figuren sich im Laufe ihres Sprechens in die Haare geraten, dass sie sich streiten, und dass die Widersprüche ihrer Standpunkte und Äußerungen nicht immer im Prozess des Dialogs entzerrt werden. Dies hat zur Folge, dass eher selten ein glatter ‚Schluss‘ aus dem Gespräch gezogen werden kann oder gemeinsame Erkenntnisse erreicht werden. In seiner Studie zum dramatischen Dialog betont Bernard Fassbind in Anlehnung an Martin Buber, Martin Heidegger und Emanuel Levinas den „dynamischen Charakter des Gesprächs“, „das Prozesshafte sowie das den Prozess bewirkende, auslösende Movens: die laufende Veränderung und Erneuerung der intersubjektiven Situation“.107 Diese prozesshafte Definition des Dialogs steht im Gegensatz zur „teleologischen Auffassung des Gesprächsgeschehens [. . . ], die den Zielpunkt – die Verständigung – zur Prämisse macht und die Kommunikation als ‚ideales Gespräch’ setzt“.108 Vielmehr hebt Fassbind das „‚Scheitern‘ des Gesprächs [als] Bestandteil der Möglichkeitsformen von Gespräch“ hervor, und beschreibt das Gelingen des Gesprächs als Utopie109 – und weist mit dieser Behauptung auf die Unzulänglichkeit von solchen Begriffen für Beurteilung von Gesprächen vor: Jede Darstellung des idealen Gelingens des Gesprächs ist bereits ein Zerrbild. Beispiele für ein solches ‚Scheitern‘ gibt es genügend im Messingkauf. Am Ende eines längeren Dialogs

104

Luckhurst: Revolutionising Theatre 2006, S. 198. Vgl. ebd., S. 197. 106 Vgl. Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 9. Als zusätzliches Argument gegen die Gleichsetzung des Philosophen mit der Person Brecht erinnert sie die Leser*innen daran, dass Brecht selbst als Dramaturg tätig war. 107 Bernard Fassbind: Poetik des Dialogs. Voraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von Intersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas. München: Fink 1995, S. 15. 108 Ebd., S. 17. 109 Vgl. ebd. 105

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über die vierte Wand erreicht beispielsweise folgende Passage einen etwas aufgebrachten Schluss: DER SCHAUSPIELER murmelnd: Also zurück zu „Er spricht beiseite“, zu „Verehrtes Publikum, ich bin der König Herodes“ und dem Die-Beine-Werfen nach den Offizierslogen! DER PHILOSOPH murmelnd: Kein schwieriger Vormarsch als der zurück zur Vernunft! DER SCHAUSPIELER ausbrechend: Herr, das Theater ist in mancher Hinsicht sehr heruntergekommen, das wissen wir. Aber bisher hat es doch noch die formen gewahrt. So sprach es z. B. nicht direkt die Besucher an. So geistesschwach und korrupt es auch geworden sein mag, es macht sich immerhin noch nicht gemein. Mit ihm mußte man immerhin noch auf gewissen Umwegen verkehren. Herr, wir spielten hier bisher nicht für Krethi und Plethi, die sich ein Billett kaufen, sondern für die Kunst! DER ARBEITER Wen meint er mit Krethi und Plethi? DER PHILOSOPH Uns. DER SCHAUSPIELER Für die Kunst, Herr! Und Sie sind schlicht und einfach lediglich Anwesende! Vielleicht bemühen Sie sich ein Haus weiter, wo Sie Etablissements finden, in denen die Mädchen Ihnen auf Wunsch den Hintern zeigen. DER PHILOSOPH Und bei euch zeigen die Mädchen den Hintern nur den Mitspielern, in die uns hineinzuversetzen vornehm anheimgegeben wird, wie? DER DRAMATURG Meine Herren, Haltung! DER ARBEITER Die Hintern hat er in die Debatte geworfen. DER PHILOSOPH Dabei zeigen sie uns doch höchstens die Seelen! DER SCHAUSPIELER Und sie meinen, das kann man ohne Scham? Und was meinen Sie mit höchstens? DER DRAMATURG Es ist schlimm, daß Sie jeden Streitapfel aufheben. Könnten Sie nicht wenigstens jetzt, nachdem Sie mit philosophischem Zorn reagiert haben, mit philosophischer Gelassenheit agieren?110

Es wird die Aufgabe einer anderen Arbeit sein, auszuführen, inwiefern diese Passage reich an Humor und theatergeschichtlichen Referenzen ist. Angesichts der möglichen Bildung einer klar erkennbaren, rückübersetzbaren ‚These‘ im Sinne einer idealistischen Darstellung sind solche Passagen jedoch alles andere als ‚hilfreich‘: Die Figuren scheinen aneinander vorbeizureden, während der Dramaturg vergebens versucht, um „Haltung“ zu bitten, und dem Philosophen sogar unangebrachten „Zorn“ vorwirft. Das Sprechen im Messingkauf entspricht dem von Fassbind geschilderten dynamischen Charakter insofern, als die verschiedenen widersprüchlichen Positionen nicht in einer glatten Symbiose aufgehen bzw. die Stellungen der Theaterleute nicht einfach durch die Äußerungen des Philosophen widerlegt werden, und vor allem, insofern das Gespräch oft auf das notwendige ‚Scheitern‘ desselben hinausläuft. Es gibt eine weitere Eigenart, die bis dato in der Forschung beinahe keine Berücksichtigung gefunden hat und im Wege der linearen Theoriebildung steht, nämlich, dass eine nicht unbedeutsame Anzahl an ‚Dialogen‘ doch gar keine Dialoge, sondern kurze Monologe sind, und dass lange zusammenhängende Dialoge sogar eher die Ausnahme bilden. Von den 171 verzeichneten B-Texten in der BFA bestehen mehr als die Hälfte der Passagen aus a) einer einzelnen Sprechpartie gesprochen von einer Figur, b) einer Sprechpartie ohne weitere Figurenzuordnung 110

BFA 22.2, S. 804 f.

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

129

oder c) einem Text, bei dem unklar ist, ob er überhaupt ein von einer Figur gesprochener Text ist oder nicht vielmehr ein Essay (wie beispielsweise im Fall der „Abstieg der Weigel in den Ruhm“-Texten111): „[M]ost of the speeches are attributed to specific characters, but some are not and so remain indeterminate; and several texts seem to be short essays, with no clear indication as to who the intended ‚author‘ might really be.“112 Es ist erstaunlich, dass bei diesem „Viergespräch“, wie Brecht es in den späteren Publikationen nennen wird, mehr als die Hälfte des Sprechens jeweils nur einer einzelnen Figur bzw. keiner bestimmten Figur zugeordnet ist.113 Zur Veranschaulichung solcher alleinstehender Sprechpartien seien hier zwei Beispiele genannt, zum einen mit Figurenzuordnung: PHILOSOPH Da ich genauso bin wie ihr, die Kälte hinter mir, vor mir den Zank und nie könnend, was ich kann, gehe auch ich in diese Rauschgiftbuden. Ich verschaffe mir dort etwas Vergessen und etwas Interesse an der Welt. Denn ich bin abends ganz durcheinander wie die Stadt, in der ich lebe.114

und zum anderen ohne eine solche Zuordnung: Der Ungebildete hat den Eindruck der Schönheit oft, wenn die Gegensätze sich verschärfen, wenn das blaue Wasser blauer, das gelbe Korn gelber, der Abendhimmel röter wird.115

Zu diesen Einzelpartien kommt ein weiterer, etwa ein Fünftel der Texte ausmachender Teil hinzu, der aus sehr kurzen Dialogaustauschen besteht. Mit „sehr kurz“ sind Dialoge gemeint, die bestehen aus: a) zwei Sprechpartien zwischen zwei Figuren, z. B.: SCHAUSPIELER So wurde „Sommernachtstraum“ bei Tageslicht gespielt, und der Geist in „Hamlet“ trat bei Tageslicht auf? Und die Illusion? DRAMATURG Es wurde Phantasie vorausgesetzt.116

b) drei Sprechpartien zwischen zwei Figuren, z. B.: SCHAUSPIELER Wenn nur nicht die belehrende Haltung so widerlich wäre! Der Lehrer nimmt notgedrungen den zu Belehrenden für dumm, denn er wird ihn klüger machen. Eine Unhöflichkeit! Eine herausfordernde Überheblichkeit! DRAMATURG Du verstehst, er hat nichts gegen das Lehrreiche, aber er verabscheut das Lehrhafte. SCHAUSPIELER Ich lache, ich weine, ich verzweifle, ich hoffe – ich mache Kunst. Ich bringe dich darauf, warum einer weint, lacht usw. – ich lehre.117

111 Vgl. BFA 22.2, S. 796, 798. Mit „author“ meint Giles hier nicht den darstellenden Autor Brecht, sondern die Sprecher*in der Passage. 112 Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 4. 113 Wenn man von den 171 B-Texten die „Übungsstücke für Schauspieler“ und die Gedichte subtrahiert, bleiben 167 B-Texte, von denen 55 aus einzelnen Sprechpartien bzw. Reden mit Figurenzuordnung bestehen und 35 ohne Figurenzuordnung sind. 114 BFA 22.2, S. 721. Diese Passage ist für mich ohne Ausnahme die schönste im Messingkauf. 115 BFA 22.2, S. 756. 116 BFA 22.2, S. 732. 117 BFA 22.2, S. 724.

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c) drei Sprachpartien zwischen drei Figuren, z. B.: DRAMATURG Das Theater steht da, wo vom Tun und Lassen der Menschen berichtet wird, es betreibt das Geschäft des Klatsches und der Geschichtsschreibung, Es stützt sich auf die Neugierde des Menschen auf den Menschen, es gehört zur ständigen Überwachung aller durch alle. DER SCHAUSPIELER Aber einmal war das Theater kultisch, also anders. PHILOSOPH Anders und nicht anders. Der Mensch war beim Fristen seines Lebens abhängiger von der Natur als heute. Er sah sie als sein Schicksal an. Um mit ihr sprechen zu können, verhandeln zu können, vermenschlichte er die Naturkräfte; diese Vermenschlichungen waren die Götter.118

d) vier Sprechpartien zwischen zwei Figuren, z. B.: SCHAUSPIELER Diese ganze Idee von den praktikablen Definitionen hat für mich etwas Kühles und Kahles. Wir werden nichts bringen als gelöste Probleme. DRAMATURG Auch ungelöste, auch ungelöste! SCHAUSPIELER Ja, damit sie auch gelöst werden! Das ist nicht mehr das Leben. Man mag es als ein Geflecht von gelösten – oder ungelösten – Problemen anschauen können, aber Probleme sind nicht das Leben. Das Leben hat auch Unproblematisches an sich, abgesehen von den unlösbaren Problemen, die es gibt! Ich will nicht nur Scharaden spielen. DRAMATURG Ich verstehe ihn. Er will den „tiefen Spatenstich“. Das Erwartete vermischt mit dem Unerwarteten, das Verstehbare im Unverstehbaren. Er will den Schrecken mischen mit dem Beifall, die Heiterkeit mit dem Bedauern. Kurz, er will Kunst machen.119

e) oder vier Sprachpartien zwischen drei Figuren, z. B.: SCHAUSPIELER Also der erhobene Zeigefinger! Nichts wird vom Publikum mehr gehaßt. Es soll wieder auf die Schulbank! PHILOSOPH Eure Schulbänke scheinen ja entsetzlich zu sein, wenn sie solchen Haß einflößen. Aber was gehen mich eure schlechten Schulbänke an? Schafft sie ab! DRAMATURG Niemand hat etwas dagegen, daß in einem Stück Sinn steckt. Aber er soll nicht immerfort heraustreten. Die Belehrung sollte unmerklich sein. PHILOSOPH Glaubt mir: die die unmerkliche Belehrung wollen, wollen keine Belehrung. Etwas anderes ist es mit dem Sinn, der nicht immer heraustreten soll.120

In diesen Einzelpartien und Kurzdialogen werden selten konkrete Ergebnisse erzielt. Sie werfen eher Fragen auf als sie zu beantworten und bieten eher Denkanstöße als belehrende Schlüsse. Die Einzelpartien und alleinstehenden Essays – einige umfassen sogar mehrere Seiten – haben ebenfalls etwas Rätselhaftes und wirken fast aphoristisch. Im Archiv beanspruchen einige der kurzen Einzelpartien sogar ganze Blätter nur für sich, was diese aphoristische Wirkung nur noch bekräftigt.121 Verführerisch in dieser Hinsicht ist eine Stelle in einem Brief Brechts an Karl Korsch vom April 1948: 118

BFA 22.2, S. 758. BFA 22.2, S. 672. 120 BFA 22.2, S. 723. 121 Vgl. die Ausführungen zum Manuskript-Fetischist Brecht in Abschnitt 3.3. 119

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

131

Manchmal wünschte ich, Sie hielten ein Journal mit vielen Eintragungen in der Baconischen Form über alle die Gegenstände, die Sie gerade interessieren, unmethodisch im ganzen, ich meine antisystematisch. Solche wissenschaftlichen Aphorismen könnte man einzeln, in der oder jener Zusammenstellung, zu diesem oder jenem Zweck, verwerten, sie wären alle fertig zu jeder Zeit; anstatt einen davon umzubauen, könnten Sie einen neuen bauen usw. – Es wäre sozusagen epische Wissenschaft!122

In dieser Beschreibung seiner Idealvorstellung einer wissenschaftlichen Darstellung scheint Brecht ohne Absicht den Kern des Messingkaufs zu treffen, der seiner Form nach antisystematisch fungiert und über die Jahre scheinbar auf genau die Art und Weise entsteht, die Brecht hier beschreibt. Das hier beschriebene Zusammenstellungsprinzip trägt der Änderbarkeit des Denkens Rechnung, das diesem Modell nach nicht linear, sondern schichtenhaft mit der Zeit entsteht, weshalb das alte nicht durch diverses Umbauen unsichtbar gemacht wird, sondern neben dem Neudazugeschriebenen steht. Was aber vor allem hervorsticht, ist die Beschreibung der aphoristischen Verwertung: Theorie als Wundertüte. Eine gründliche Darstellung des Begriffs und der Forschungsdiskussion des Aphoristischen kann diese Arbeit ihrem Umfang nach nicht leisten, aber Harald Frickes enger Begriff des Aphorismus, der nicht in allen Punkten auf die Einzelpartien und Kurzdialoge übertragbar ist, beinhaltet einige Aspekte, die für unsere Zwecke hier besonders aufschlussreich sind. Vor allem von Interesse ist seine Bedingung der „kotextuellen Isolation“, die besagt, dass es für die Identifikation eines Aphorismus keine „konventionell geregelten Beziehungen der Textverknüpfung“ geben darf, „wie sie zwischen den Sätzen eines geschlossenen Textes auftreten [. . . ]“123 – „geschlossen“ hier gemeint im Sinne eines Textes mit einer vorgegebenen Richtung – meistens mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Zwei Aspekte der kotextuellen Isolation sind „Permutation“ und „Kommutation“: In einer Aphorismen-Kette muß man die Reihenfolge der einzelnen Aphorismen vertauschen können (Permutation), und bei jedem Aphorismus muß man seinen Vorgänger bzw. Nachfolger weglassen oder durch einen beliebigen anderen ersetzen können (Kommutation), ohne daß das unmittelbare Verständnis des einzelnen Aphorismus darunter leidet.124

Dass Fricke hier von Annahmen ausgeht, die etwas fragwürdig erscheinen, ist klar, vor allem angesichts von Behauptungen wie der eines „unmittelbaren Verständnisses“ (was ist ‚unmittelbar‘?) oder später, einer „normaler Kommunikation“ (was ist ‚normal‘?), die zudem im direkten Gegensatz zu den zuvor ausgeführten Überlegungen zum Dialog stehen. Nichtsdestotrotz macht er hier auf die änderbare Anordnung der Aphorismen untereinander als Strukturprinzip aufmerksam, was durchaus einen Erkenntnisgewinn darstellt. Der Aphorismus unterscheide sich Fricke zufolge von der These dadurch, dass bei einer These „semantische Kohärenz [. . . ] im Sinne argumentativen Fortschreitens von einer These zur nächsten [besteht], deren Rei122

Brief an Karl Korsch vom April 1948. In: BFA 29, S. 449–450, hier: S. 449 f. Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart: Metzler 1984, S. 11. 124 Fricke: Aphorismus 1984, S. 13. 123

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henfolge deshalb keineswegs beliebig ist.“125 In den Metatexten des Messingkaufs gibt es zwar eine feste Anordnung der Nächte, es gibt aber keine überlieferte Anordnung der einzelnen Bruchstücke, und diese geplante Anordnung der Nächte hat kaum Wirkung auf die Inhalte der Texte: Dass ein Bruchstück beispielsweise der dritten Nacht zugeordnet ist, in der das Theater in ein Thaeter verwandelt werden soll, hat zumindest wenig, wenn nicht keinerlei Einfluss auf dessen Inhalt. Man kann die kurzen Einzelpartien und Dialoge tatsächlich auf verschiedene Weise anordnen, ohne dass der Sinn beeinträchtigt wird.126 Es gibt keine feste überlieferte Anordnung, und selbst wenn es eine gäbe, wären die Bruchstücke aufgrund ihrer aphoristischen Qualität umordenbar. Der Sinn ist immer ein anderer und aufgrund der notwendigen Unbestimmtheit der Anordnung der Passagen jedes Mal neu zu bestimmen: Die Unbestimmtheit des Sinns ist gewissermaßen der Sinn. Ein Teil von Frickes Definition des Aphorismus ist die Bedingung der NichtFiktionalität.127 Ein Aspekt dieser Nicht-Fiktionalität besagt, dass der Text von einer Autor*in stammen muss,128 und deshalb nicht auf eine Person oder eine Figur zurückzuführen ist. Dennoch können, wie Stephan Fedler in seiner Erweiterung von Frickes Begriff argumentiert, Aphorismen „[i]nnerhalb verschiedenster Gattungen [. . . ] auftauchen, und es ist nicht einzusehen, warum sich nicht in allen Gattungen, also auch etwa in fiktionalen Aphorismen befinden können.“129 Darüber hinaus können wir [. . . ] den Aspekt des Ausdrucks oder Anzeichens, also die Abhängigkeit des sprachlichen Zeichens von einem Sender, hier Autor, vernachlässigen. Zwar wird ein Aphorismus mit der Autorenbezeichnung „Goethe“ eher unsere Aufmerksamkeit ansprechen als der eines Unbekannten, doch ändert das nichts an den Strukturen des Aphorismus.130

Im Gegensatz zu Fricke kann daher bei Fedler auch eine literarische Figur der „Sender“ eines Aphorismus sein, weshalb im Messingkauf auch Philosoph, Dramaturg oder Schauspieler die Sender von Aphorismen bzw. aphoristischen Passagen im Messingkauf sein können. Am entschiedensten für die Zuschreibung einer aphoristischen Qualität zu manchen Passagen ist jedoch die Mühe, die von der Leser*in verlangt wird. Wie bei einem Rätsel, so Fricke, ist der Aphorismus von der „Vielfalt seiner Spielarten“ gekennzeichnet.131

125 Ebd., S. 22. Als „[ä]ußeres Kennzeichen“ für die unwillkürliche Anordnung der Thesen führt Fricke „die normalerweise explizit angegebenen oder im Gegensatz zu Aphorismen nachträglich begründete mögliche Nummerierung von Thesen“ an. 126 Dies wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass der Messingkauf in den voneinander sehr verschiedenen Ausgaben präsentiert worden ist, alle Wissenschaftler*innen jedoch zumindest inhaltlich vom selben Text zu sprechen scheinen – auch wenn vor allem die ersten Editionen suggeriert haben, die Anordnung wäre eine ganz bestimmte. 127 Vgl. Fricke: Aphorismus 1984, S. 14. 128 Vgl. ebd., S. 9. 129 Stephan Fedler: Der Aphorismus. Begriffsspiel zwischen Philosophie und Poesie. Metzler: Stuttgart 1992, S. 37. 130 Ebd., S. 40 f. 131 Fricke: Aphorismus 1984, S. 24.

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

133

Dass die Mehrheit der Texte im Messingkauf aus diesen Einzelpartien und Kurzdialogen besteht, wirft überdies die Frage nach einer möglichen Inszenierung auf: Säßen denn die anderen Figuren mit dem Sprecher der Einzelpartie noch auf der Bühne? An wen ist das Sprechen der Einzelpartien und essayistischen Passagen adressiert? Gerade die Frage der Adressierung ist ein weiteres Merkmal des Aphorismus: „Ihm fehlt, was wir in normaler Kommunikation zum Verständnis einer Äußerung unbedingt brauchen: der äußere Zusammenhang mit der kommunikativen Situation (wer spricht wann und wo zu wem wozu über was?).“132 Und obwohl die Frage „Wer spricht?“ im Messingkauf durch die Figurennamen oft genug beantwortet wird, bleibt die Frage des Adressaten hingegen häufig unbeantwortet. White schreibt, dass vor allem die Reden und Gedichte „a double structure of address“ haben, „inasmuch as they can be delivered to an audience (real or imagined), while at the same time forming part of the onstage exchanges.“133 Aber auch „onstage“ wird aus einer Einzelpartie nicht ersichtlich, an wen die Passage adressiert ist. Begegnet man den Einzelpartien und Kurzdialogen, sprich: dem Großteil des Messingkaufs im Archiv, scheinen die Figuren kurz aufzutreten und wieder zu verschwinden. Nehmen wir als Beispiel für die aphoristische Qualität des Messingkaufs die erste oben angeführte Einzelpartie des Philosophen: PHILOSOPH Da ich genauso bin wie ihr, die Kälte hinter mir, vor mir den Zank und nie könnend, was ich kann, gehe auch ich in diese Rauschgiftbuden. Ich verschaffe mir dort etwas Vergessen und etwas Interesse an der Welt. Denn ich bin abends ganz durcheinander wie die Stadt, in der ich lebe.134

Diese Passage könnte man zum einen als einen Bericht des Philosophen über die Einteilung seiner Freizeit betrachten: Er geht abends in die Bars, um das Gedränge draußen auszublenden, womit viele Leser*innen auch heutzutage mitfühlen können. In Phrasen wie „nie könnend, was ich kann“ und in widersprüchlichen Konstruktionen wie den Gegensatzpaaren „hinter“/„vor“ und „Vergessen“/„Interesse“ hingegen tritt eine dichterische Sprache zu Tage, die von der Verwendung der Alltagssprache abweicht – und der Definition des Aphorismus als einer Gattung, die an der Schwelle zwischen Philosophie und Literatur, oder in unserem Fall zwischen Theorie und Theater Rechnung trägt.135 Darüber hinaus: Zwar können hier mit „Rauschgiftbuden“ Bars, Opiumhöhlen oder Ähnliches gemeint sein, im Kontext des Messingkaufs jedoch und Brechts Werk insgesamt gibt es bei diesem Begriff mehrdeutige Konnotationen: Zum einen verweist er auf die ‚magischen‘ Wirkungen im bisherigen Theater, die den Zuschauer in ihren Bann ziehen, und deshalb zum anderen auf die Theater, in denen diese Wirkungen erzeugt werden. Der Philo132

Ebd., S. 8. White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 244 f. 134 BFA 22.2, S. 721. 135 Vgl. Joseph Peter Maria Stern: Eine literarische Definition des Aphorismus. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 226–279, hier: S. 265; Fedler: Der Aphorismus 1992, vor allem S. 1–47, 177–213. 133

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soph ist wie der „Massemensch“136 des 20. Jahrhunderts von den industriellen und großstädtischen Umwälzungen betroffen, vor denen er in Räume der Verdrängung und des Ausschlusses eines bedrohlichen, überfordernden Außen flieht. Die mannigfaltigen Interpretationen, die sich an diese kurze Sequenz anschließen könnten – ausgehend vom Kontext des Messingkaufs oder aber ganz unabhängig von demselben –, würden unglücklicherweise den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen sollen die genannten Punktierungen genügen. Ich möchte dennoch in aller Kürze darauf hinweisen, dass sich an dieser kurzen Sequenz Begriffe brechen, die einen Schauplatz ganz vielfältiger und aphoristischer Art eröffnen. Es kann sein, dass einige dieser Einzelpartien und Kurzdialoge die Anfänge von nicht ausgeführten Dialogsequenzen bilden, aber ihr fragender, aphoristischer Charakter weist eher darauf hin, dass die Diskontinuität und Fragmentarizität absichtlich inszeniert werden, jenseits des Faktums der Unabgeschlossenheit des Textes. Giles schreibt, dass die literarische Technik der Montage eine der wesentlichen literarischen Strukturprinzipien des Textes ist,137 und sie wird als eines der Themen der ersten Nacht in einem der ersten Metatexte explizit erwähnt.138 Dennoch: „Montage“ impliziert ja letztendlich einen Prozess des Montierens, sodass aus dem Montieren ein Werk entsteht. Die Qualität und Struktur der Texte zusammen mit ihrer unfixierten Überlieferung weisen jedoch eher auf das Aphoristische als Strukturprinzip des Messingkaufs: Der Messingkauf kann, will, und muss von der Leser*in immer und immer wieder montiert, demontiert und wieder zusammengestellt, verwertet werden – je nach Interesse, je nach Bedarf. Simon schreibt daher zu Recht, dass man aus dem Messingkauf „nicht so einfach zitieren kann“,139 und Giles bemerkt, der Messingkauf sei alles andere als ein „stable and coherent work whose philological status is uncontroversial and unproblematic.“140 Letzterer vergleicht den Messingkauf mit dem Kleinen Organon – ein „systematic, slightly structured, strategically calibrated piece of critical analysis“ – und behauptet, dass der Messingkauf strukturell den diametralen Gegensatz zu diesem später geschriebenen Text darstellt: 136 Vgl. beispielsweise: Materialismus. In: BFA 21, S. 177–179, hier: S. 179; Avatavismus. In: BFA 21, S. 180; vgl. auch zum Begriff des „Massemenschen“ Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, S. 187–199; vgl. auch Nikolaus Müller-Schöll: „Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis“. Brecht zwischen Kafka und Carl Schmitt. In: MLN 119:3 (April 2004), S. 506–524, insbesondere S. 513–518. 137 Vgl. Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 5. 138 Vgl. BFA 22.2, S. 695, A2. 139 Simon: Zur poetischen Anthropologie 1999, S. 288, Fußnote 5 – obwohl seine Gründe hierfür etwas anders als die hier vertretenen sind: „Es hat mit diesem Textkonvolut die Bewandtnis, daß man aus ihm nicht so einfach zitieren kann. Ein Gespräch zwischen einem zunächst recht doktrinär marxistischen Philosophen, einem zunächst recht geltungssüchtigen und erfolgsversessenen Schauspieler und einem zunächst sehr bürgerlichen Dramaturgen führt über den Verlauf von vier Gesprächsnächten zu einer Veränderung aller drei Positionen ebenso wie zu einer Annäherung der zunächst schroffen Antithesen. Wenn man also aus den Gesprächen zitiert, muß man sich immer bewußt sein, auf welchem Stand der Erkenntnis sich der gerade zitierte Beitrag befindet. Wenige Seiten später könnte derselbe Sprecher schon einen Schritt weiter sein.“ 140 Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 5.

5.2 Mit Theaterleuten sprechen: Dialog und Aphorismus

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It lacks a centred structure, does not encapsulate an identifiable determinate meaning, bombards its readers with fragmentary perceptions, is a network with multiple entry points lacking a unilinear dynamic, and produces its meanings in collaboration with its readers in a playful and pleasurable manner.141

Giles Beschreibung ruft Parallelen zu Gilles Deleuze und Félix Guattaris rhizomatischer Karte hervor: Ganz anders das Rhizom, das eine Karte und keine Kopie ist. Karten, nicht Kopien machen. Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie konstruiert es. [. . . ] Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. [. . . ] Es ist vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms, immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu bieten.142

Während die Kopie auf eine identische Repräsentation eines als Geschlossenes Gedachtes, die Übersetzung der Idee in die sinnliche Erscheinung zielt, ist die Karte viel offener. Wie Deleuze und Guattaris Karte kann man den Messingkauf deshalb an beliebiger Stelle betreten. Darüber hinaus ist der Messingkauf wie in Brechts zuvor zitierter Beschreibung der aphoristischen Wissenschaftsdarstellung und wie hier im Beispiel der Rhizom-Karte ebenfalls zu jeder Zeit in der Lage, Veränderungen aufzunehmen – vermutlich genau deshalb ufert das Projekt über die Jahre so dermaßen aus. Aus diesem Grund kann man ihn zerreißen, zerlegen und wieder zusammenfügen. Mehr noch: In einer Beschreibung, die direkt auf den Messingkauf übertragen werden kann, schreibt Fricke in Anlehnung an Wolfgang Iser und als kennzeichnend für den Aphorismus von der „poetischen Leerstelle“, „die der Leser durch eigene geistige Tätigkeit zu füllen hat.“143 Ausschlaggebend für die poetische Leerstelle ist, dass jeder Leser „sie zwangsläufig zu seiner eigenen Erfahrungswelt [. . . ] in Beziehung setzt. Ja, auch derselbe Leser wird beim späteren Widerlesen vieles anders auffassen: man steigt [. . . ] nicht zweimal in dasselbe Aphorismenbuch.“144 Der Messingkauf fordert daher wie Deleuze und Guattaris Karte die Einbindung eines oder mehrerer Rezipienten, um Bedeutung(en) zu entfalten. Man könnte an dieser Stelle die Einschränkung machen, dass alles, was Schrift ist, die Beteiligung einer Leser*in fordert. Allerdings besteht ein Unterschied darin, ob die Beteiligung der Leser*in Strukturprinzip einer Schrift oder gewöhnliche Bedingung ist. In manchen Texten wird der Versuch unternommen, den Sinn vorzugeben, werden die Lücken soweit wie möglich geschlossen, damit 141

Ebd., S. 5. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullie. Berlin: Merve 1992, S. 23 f. 143 Fricke: Aphorismus 1984, S. 9; vgl. auch zum Begriff der Leerstelle: Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitäts-Verlag 1970, S. 15 f. 144 Fricke: Aphorisms 1984, S. 9. 142

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dieser Sinn wie intendiert in Erscheinung tritt, aber wie beim Aphorismus klaffen im Messingkauf diese Lücken als poetische Leerstelle weit auseinander. Die Gesprächsstruktur des Messingkaufs ist, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, alles andere als zielführend im Sinne eines klassischen philosophischen Dialogs und läuft selten auf die Verständigung der Figuren oder das Ausgleichen der Wissensunterschiede hinaus. Das Sprechen ist unzusammenhängend und zerstückelt – fragmentarisch. White beschreibt die Entstehung einer „new multi-genre fragmentariness and (often unintentional) discontinuity“ im Laufe von Brechts Arbeit am Text.145 Das Sprechen der Figuren verhindert die Errichtung eines lückenlosen Theoriegebäudes oder einer linearen Argumentation und fußt vielmehr auf Diskontinuität und Brüchigkeit. Es ist daher tatsächlich schwierig, den Messingkauf in seiner BFA-Darstellung, aber auch in seinen anderen Darstellungen direkt zu lesen. Die Theorie des Theaters, die im Messingkauf verhandelt wird, wird nicht einfach vom Philosophen oder den unzufriedenen Theaterleuten linear gesetzt, sondern manifestiert sich im und um das Sprechen herum im Akt des Lesens. Das – teilweise aphoristische – Sprechen der Figuren fragmentiert den Text zusätzlich zum Faktum dessen realer Fragmentierung. Giles fragt daher, „whether Buying Brass can actually be construed as a ‚work‘ at all [. . . ] – or is it rather ‚a loose baggy monster‘, a Brechtian pot-pourri, to be used or appropriated in any way its readers choose?“146 Und die Antwort auf seine Frage lautet: Ja. Der Messingkauf ist ein „loose baggy monster“, das aufgrund seiner „poetischen Leerstelle“ jede*r Leser*in zusammenbauen, mitdenken und sich aneignen muss. Weder rechtfertigt diese These jedoch jede beliebige Lesart, noch widerspricht sie die in dieser Arbeit bereits geübte Kritik an denjenigen, die den Messingkauf zu schließen versuchen und somit allen anderen die Offenheit des Messingkaufs vorenthalten: durch Rekonstruktionen, mittels externer Lektüreanweisungen und letztendlich durch die Editionen, die den Messingkauf zu einem Werk zusammenstellten, das den Eindruck der Geschlossenheit mindestens erweckte, wenn nicht gar provozierte. Im poetisch-diskursiven Text gibt es ein Wechselspiel zwischen den brüchigen Tendenzen zur These, die auf einer mehr oder minder inhaltlichen Ebene bestehen, und den ebenso brüchigen Elementen seiner sprachlichen Konstitution. Das Sprechen des Messingkaufs vollzieht sich bei jeder Lektüre aufs Neue, je nachdem, wo und wie man ihn betritt – der Messingkauf ist immer ein anderer.

145

White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 245. Giles: Messingkauf, or Buying Brass 2015, S. 4. Giles zitiert mit „loose baggy monster“ Henry James und merkt an, dass James diesen Begriff im 1908 entstandenen Vorwort zu seinem Roman The Tragic Muse von 1891 verwendet (vgl. ebd., Fußnote 2).

146

5.3 (Theater ohne) Zuschauer

5.3

137

(Theater ohne) Zuschauer

DRAMATURG [. . . ] Andrerseits siehst du als Philosoph ja ganz gern hinter die Kulissen, und du als Schauspieler hast, wenn schon kein Publikum, so doch wenigstens seine Stühle im Rücken. Während wir über das Theater sprechen, können wir hier das Gefühl haben, dieses Gespräch vor einem Publikum zu führen, also selber ein kleines Stück aufzuführen.147

Auf der fiktionalen Ebene ist das Theater als Schauplatz des Messingkaufs als ein Theater ohne Publikum konzipiert. Im Fall seiner Aufführung – wie diejenige durch das Berliner Ensemble – gibt es daher zwangsläufig eine Diskrepanz zwischen den leeren Rängen der „dargestellten Welt“ des Theaters und dem real anwesenden Publikum der „darstellenden Welt“.148 Der Zuschauer nimmt bei der Aufführung einen Platz ein, „der in der Anlage des Stückes gerade als Leerstelle hervorgehoben ist“ und wird zum „Zuschauer eines Stückes, das keinen Zuschauer hat.“149 Unklar bleibt zudem, ob Brecht je vorhatte, den Messingkauf tatsächlich zu inszenieren – das einzige, das uns vorliegt, ist der Text. Die Leser*in rückt somit in eine interessante Rezeptionssituation: Sie ist sozusagen die einzige Zuschauer*in, allerdings keine in der dargestellten Welt anwesende. Die Stühle, die der Schauspieler im Rücken hat, bleiben weiterhin leer. Müller-Schöll zufolge stellt der Messingkauf eine Anknüpfung an „die produktivste Phase [von Brechts] Arbeit“ dar150 – nämlich die Phase, die weitgehend von den Forscher*innen des „anderen Brechts“ wiederentdeckt und behandelt worden ist: die der Lehrstücke und des Fatzer-Fragments in der Zeit von ca. 1926 bis 1933. Der Messingkauf und das Fatzer-Fragment stellen, wie Müller-Schöll konstatiert, „über Brechts spezifischen Einsatz hinaus radikal ein Fundament des modernen bürgerlichen Theaters in Frage, die epistemologische Figur des Zuschauers.“151 Mit der Wendung „Theater ohne Zuschauer“152 weist Müller-Schöll auf ein Element sowohl des Fatzer-Fragments als auch des Messingkaufs hin, das ihm zufolge beide Fragmente miteinander verbindet. Um besser verstehen zu können, was Müller-Schöll hiermit meint, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf Brechts erstes „Theater ohne Zuschauer“ zu werfen: das Pädagogium. In einem Bruchstück des Fatzer-Fragments mit der Überschrift „Theorie der Pädagogien“ stellt der Schreibende folgendes Verhältnis zwischen Politik und Philosophie bzw. Politikern und Philosophen fest:

147

BFA 22.2, S. 773. Vgl. Michail Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 191. Diese beiden Begriffe verwendet Bachtin, um zwischen der fiktionalen Welt des Textes und der historischen Wirklichkeit des Autors/Künstlers/Rezipienten/Zuhörers/Lesers/Zuschauers zu unterscheiden, wobei diese Welten nicht streng voneinander getrennt sein müssen. 149 Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 329. 150 Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 34. 151 Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 35. 152 Ebd., S. 40. 148

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Konfiguration

Die bürgerlichen Philosophen machen einen großen Unterschied zwischen den Tätigen und den Betrachtenden. Diesen Unterschied macht der Denkende nicht. Wenn man diesen Unterschied macht, dann überläßt man die Politik dem Tätigen und die Philosophie dem Betrachtenden, während doch in Wirklichkeit die Politiker Philosophen und die Philosophen Politiker sein müssen. Zwischen der wahren Philosophie und der wahren Politik ist kein Unterschied.153

Ausgehend von dieser Überlegung kommt er zur Aufgabe des Pädagogiums: „die jungen Leute durch Theaterspielen zu erziehen, d. h. sie zugleich zu Tätigen und Betrachtenden zu machen, wie es in den Vorschriften für die Pädagogien vorgeschlagen ist.“154 Es sei wichtig, dass die jungen Leute sowohl das eine als auch das andere lernen, denn „[d]ie Lust am Betrachten allein ist für den Staat schädlich; ebenso aber die Lust an der Tat allein.“155 In dieser Konstellation ist der Tätige mit dem Schauspieler gleichzusetzen, der Betrachtende mit dem Zuschauer. Der Mensch, der sich ins Pädagogium begibt, muss sowohl Betrachtender als auch Tätiger sein, muss lernen, dass es nichts nützt, die eine Rolle ohne die andere zu beherrschen. Ohne Tat ist jegliche Betrachtung wertlos und ohne Betrachtung jede Tat. Der „Denkende“ ist derjenige, der keinen solchen Unterschied zwischen Tätigen und Betrachtenden macht und deshalb auch nicht zwischen Philosophie und Politik. Denken ist folglich Betrachtung und Handeln zugleich. Der „Denkende“, wie Müller-Schöll im 2019 erschienenen Band Das Denken der Bühne schreibt,156 tritt ebenfalls in dem 1929/1930 entstandenen und Fragment gebliebenen Stückprojekt Aus nichts wird nichts auf.157 Im Fatzer-Fragment erscheint der „Denkende“ auch in Gestalt von Herrn Keuner, der später eine von Brechts bekanntesten Figuren wird.158 „Vor allem aber,“ so Müller-Schöll, „wird er in der Gestalt des ‚Philosophen‘ wiederkehren, der [. . . ] als neue Variante des Denkenden [. . . ], mit ähnlicher Intention wie er, doch mit deutlich größerer Rolle 153 BFA 10.1, S. 524; vgl. die Schreibweise dieser Passage in Kapitel 3, Fußnote 105 der vorliegenden Arbeit. 154 Ebd. Wobei sich die Frage stellt, welche Vorschriften Brecht hier meint bzw. ob sie zu Brechts Zeit allgemein bekannt waren. Das Pädagogium war eine deutsche Schulart für die Schüler reicher und elitärer Familien. Die Vorschriften hatten wenig mit der Erziehung von sowohl tätigen als auch betrachtenden Bürgern zu tun und waren vielmehr extrem disziplinär. Vgl. beispielsweise Werner Lochs Kapitel zur „Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes“. In: Hartmut Lehmann: Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Bd. 4. Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 264–308, vor allem das Unterkapitel „Die Disziplin im Pädagogium Regium“, S. 293 ff., das die Disziplin in August Hermann Franckes „Vorzeigeerziehungsanstalt“, dem Pädagogium Regium, detailliert darstellt. 155 BFA 10.1, S. 524. Wie die Herausgeber*innen der BFA anmerken, geht die zitierte Passage vermutlich auf die 11. Feuerbach-These von Karl Marx zurück: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Marx: Thesen über Feuerbach 1962, S. 535; vgl. Gläser: Kommentar 1997, BFA 10.2, S. 1150. 156 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Der Denkende auf der Bühne. In: Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie. Bielefeld: transcript 2019, S. 7–13, hier: S. 7. 157 Vgl. Aus nichts wird nichts. In: BFA 10.1, S. 679–718. 158 Vgl. Müller-Schöll: Der Denkende auf der Bühne 2019, S. 10.

5.3 (Theater ohne) Zuschauer

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im Theater- und Theoriefragment Der Messingkauf erscheint.“159 Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass die „Begrüßung des Philosophen“ im Messingkauf an einer Stelle die „Begrüßung des Denkenden im Theater“ heißt.160 Auf diesen Punkt kommen wir später zurück. Beispielanweisungen für die Verwendung des Pädagogiums werden im „FatzerKommentar“ gegeben: THEATER Um seine Gedanken zu ordnen, liest der Denkende ein Buch, das ihm bekannt ist. In der Schreibweise des Buches denkt er. Wenn einer am Abend eine Rede zu halten hat, geht er am Morgen in das Pädagogium und redet die drei Reden des Johann Fatzer. Dadurch ordnet er seine Bewegungen, seine Gedanken und seine Wünsche. Weiter: wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird.161

In dieser etwas rätselhaften Passage gehe es nicht wirklich, wie Lehmann anmerkt, bloß darum, morgens einen realen Verrat als Spiel zu üben, sondern um ein „AusÜben“ der Handlung mit anderen, um eine „szenische Wiederholung [. . . , die] gar nicht mehr klar vom singulären ‚Akt‘ zu trennen ist.“162 Es ist kein eine Theorie verdeutlichendes Spiel, das dem Spielenden oder dem Zuschauer eine Lehre über den auszuführenden Akt vermittelt, sondern „eine Art von Übersetzung des Mentalen ins Gestische [. . . ]. Theorie ist weder der Kern noch das eigentliche nachträgliche Resultat, sie ist durch und durch in den Gestus, die Szene verwickelt und davon überhaupt nicht als Wissen, Denken, These abzulösen.“163 Für das Verhältnis zwischen Betrachtenden/Zuschauer*innen und Tätigen/Spielenden ist überdies folgende Beschreibung Lehmanns von der im Pädagogium durchzuführenden Handlung und der daraus resultierenden Publikumssituation interessant. Es handelt sich nämlich, Lehmann zufolge, um ein 159

Ebd. BFA 22.2, S. 697. 161 BFA 10.1, S. 517; vgl. die Fassung im Archiv: 160

THEATER um seine gedanken zu ordnen, liest der denkende ein buch, das ihm bekannt ist. in der schreibweise des buches denkt er. wenn einer am abend eine rede zu halten hat, geht er am morgen in das pädagogium und redet die 3 reden des johann fatzer. dadurch ordnet er seine bewegungen, seine gedanken und seine wünsche. weiter: wenn einer am morgen einen verrat ausüben will, dann geht er am morgen in das pädagogium und spielt die szene durch, in der ein verrat ausgeübt wird. wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das pädagogium und spielt die szene durch, in der gegessen wird. (AdK, BBA 520/07; zitiert nach Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke 1976, S. 54.) 162 163

Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer 2008, S. 269. Ebd.

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Konfiguration

Denken, das durch Spielen nicht repräsentiert wird, sondern sich allein im Spielen konstituiert; ein Theater, das so sehr sich vom Vorführen einer Fabel oder einer Allegorie, so sehr von der Präsentation von Gedachtem entfernt, dass es nurmehr als Spiel existiert zwischen Zuschauern und Spielern, genauer: in einer Situation, in der beide fortwährend in die Position des anderen geraten, der eben noch Zuschauende jetzt spielt, der eben noch Spielende zuschaut.164

Es gibt folglich kein getrenntes Publikum, keine untätige Masse. Der gerade Zuschauer Gewesene ist im nächsten Augenblick oder vielleicht sogar während des eigenen Betrachtens Spielender geworden; der gerade Spielende betrachtet die anderen Spielenden-Betrachtenden. Es ist also ein Theater ohne Zuschauer, insofern dass die Anwesenden ihre Rollen stets annehmen und wieder aufgeben, nie ganz oder nie nur oder nie nicht Zuschauer oder Spielende sind, sondern allesamt stets am Prozess des Denkens Beteiligte.165 Die Gespräche zwischen den Theaterleuten und dem Philosophen scheinen sich auf den ersten Blick von der Radikalität des Pädagogiums und von einem Theater ohne Zuschauer zu entfernen. Das Theater, über das die Figuren sich unterhalten, ist eins mit einer scheinbar aufrechterhaltenen Trennung zwischen Zuschauenden und Spielenden, wie folgendermaßen vom Dramaturgen und Philosophen beschrieben: DRAMATURG So soll sich also der Zuschauer nicht mehr im Geist auf unserer Bühne bewegen? Er sitzt unten und schaut? PHILOSOPH Er sitzt unten und schaut, aber er bewegt sich im Geist auf der Welt, die ihr darstellt.166

Bühne – oben – Spielende; Parterre – unten – Zuschauende. Das Publikum wird zudem an seinem Platz gehalten durch Ansagen wie: „Ihr müßt das Ganze im Auge haben und sorgen, daß es den Zuschauer im Auge bleibt.“167 Auch wenn der Messingkauf ein Gespräch im Theater mit leerem Zuschauerraum darstellt, wird das gewöhnliche Verhältnis zwischen den oben auf der Bühne agierenden Spielenden und den im Zuschauerraum sitzenden Zuschauenden in solchen Passagen zumindest teilweise diskursiv erhalten. Wenn anderswo über den Zuschauer gesprochen wird, dreht es sich meistens um seine Position im theaterhistorischen Sinne. So lässt beispielsweise der Philosoph verlauten: „Eure Zuschauer erleben sehr komplexe, vielfältige, reiche Vorfälle, die man denen der Hunde des Pawlow vergleichen kann [. . . ]“;168 und der Schauspieler: „[. . . ] Damit der Zuschauer sich in den Helden einleben konnte, mußte er eine ziemlich schematische Figur mit möglichst wenigen Einzelzügen sein, damit er möglichst viele Zuschauer ‚deckte‘.“169 Ansonsten aber gibt es irritierend wenige konkrete Verweise auf die räumliche Situation des Zuschauers im kommenden Theater. Die kommenden Aufgaben des 164

Ebd., S. 270. Vgl. Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 48. 166 BFA 22.2, S. 720. 167 BFA 22.2, S. 826. 168 BFA 22.2, S. 714, meine Hervorhebung. 169 BFA 22.2, S. 770; für eine detaillierte Diskussion dieser Passage siehe Abschnitt 6.3. 165

5.3 (Theater ohne) Zuschauer

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Zuschauers bleiben ohne räumliche Fixierung, zum Beispiel: „SCHAUSPIELER [. . . ] Nun möchte ich gerne wissen, ob es nicht auch für den Zuschauer bei der Aufführung eine erlaubte Form der Einfühlung gibt“;170 oder „PHILOSOPH [. . . ] wenn du fertig bist, sollte dein Zuschauer mehr gesehen haben als selbst ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“171 Es wird viel diskutiert, wie der Zuschauer das Gezeigte aufnehmen bzw. wie das Gezeigte gezeigt werden könnte, es werden allerdings wenige Angaben zur architektonischen Theatersituation bzw. konkreten Rezeptionssituation gemacht. Aus diesem Grund ist das, was sich auf der Ebene des ‚Wie‘ des Textes ereignet, was am Schauplatz getan wird, umso wichtiger. Wie zuvor bemerkt, sitzt der Schauspieler bei dieser räumlich-figürlichen Anordnung auf der Bühne, die Stühle des abwesenden Publikums im Rücken und somit den anderen Figuren gegenüber, die gleichsam zu seinem ‚Publikum‘ werden bzw. zu einem anderen Publikum.172 Dieses Publikum besteht jedoch nicht aus bloß stummen Betrachtenden, sondern ebenfalls aus Tätigen, am Gespräch Teilhabenden. Die Grenze zwischen ‚Publikum‘ und ‚Schauspieler‘ wird somit verwischt und alle Figuren werden zu am Prozess Beteiligten. Der Schauspieler ist zwar wie die anderen Figuren ein ebenfalls am Prozess des Denkens Beteiligter, gleichzeitig jedoch verweist er (den Raum nicht sehend, sondern ihm den Rücken zukehrend) auf den leeren Zuschauerraum als reflexives Zeichen des Zuschauers: Schau, es gibt ihn, er ist jedoch nicht (mehr) da. Und doch ist der Messingkauf trotz der leeren Ränge nicht gänzlich ohne Zuschauer. Es gibt eine einzige Angabe zu einem konkreten Publikumsmitglied im Text, nämlich zum (Bühnen-)Arbeiter, der im Personenverzeichnis noch „Beleuchter“ heißt: „Der Beleuchter gibt das neue Publikum ab. Er ist Arbeiter und mit der Welt unzufrieden.“173 Der Arbeiter ist anfangs als Figur zwar anwesend, er ist aber nicht zum Gespräch eingeladen oder an diesem beteiligt. Obwohl er im Personenregister verzeichnet ist, kommt er überhaupt erst ab der zweiten Arbeitsphase zu Wort – in der ersten längeren und zusammenhängenden Expositionsszene, die in der BFA die Sigel „B115“ trägt: DER DRAMATURG mit einem Blick auf den Buhnenarbeiter: Wir müssen unsern Freund auch bitten, die Kulissen nicht allzu rasch abzubauen, da sonst zuviel Staub aufgewirbelt wird. DER ARBEITER Ich baue ganz gemächlich ab. Aber weg müssen die Dinger, denn morgen wird etwas Neues probiert.174

Hier wird er vom Dramaturgen etwas gönnerhaft als „Freund“ bezeichnet, denn er sitzt nicht mit den anderen auf den Stühlen oder Versatzstücken auf der Bühne. Er baut lediglich die Kulissen der vorangegangenen Vorstellung ab, damit am nächsten 170

BFA 22.2, S. 725. BFA 22.2, S. 795. 172 Vgl. die Ausführungen zur Selbstreferentialität in der Einleitung zu Teil 2 der vorliegenden Arbeit. 173 BFA 22.2, S. 696. 174 BFA 22.2, S. 773. 171

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Tag eine neue Vorstellung geprobt werden kann.175 Inwiefern bildet er also „das neue Publikum“ ab? Thiele schreibt, dass „der Arbeiter die ganze Zeit die Bühne abbaut, während die anderen über Kunst diskutieren.“176 Aber stimmt das? Der gerade zitierte Austausch zwischen Dramaturg und Schauspieler stellt das gesamte Sprechen des Arbeiters bis zur dritten Arbeitsphase dar, in der er erst richtig zu Wort kommt. Davor ist er in der ersten gänzlich und in der zweiten Arbeitsphase ab diesem Austausch für die Leser*in gar nicht sprachlich ‚anwesend‘. Ab der dritten Nacht der dritten Arbeitsphase zeigt er, dass er doch als betrachtender Zuschauer anwesend ist, indem er anscheinend lacht und damit die Aufmerksamkeit des Dramaturgen auf sich zieht: DER SCHAUSPIELER Das ist schön. DER DRAMATURG zum Arbeiter: Warum lachen Sie? DER ARBEITER Weil es schön ist. DER PH1LOSOPH Diese Photographie gab der Kunst einen deutlichen Fingerzeig.177

Der Arbeiter ist am Anfang zum einen „tätig“, da er seine Arbeit durchführt, andererseits aber ist er Betrachtender, der nicht eingeladen und folglich am Haupttheatergeschehen nicht aktiv beteiligt ist. Seine Tätigkeit hat nichts mit einer Betrachtung des Gesprächs zu tun und vice versa. Der Dramaturg wendet sich aber an dieser Stelle dem Arbeiter zu, der bis dahin von den anderen ignoriert worden ist – wie auch das Publikum von bisherigen Theatermachern. Mit seiner vorwurfsvoll anmutenden Frage lädt der Dramaturg den Arbeiter, das „neue Publikum“ abbildend, zum ersten Mal dazu ein, sich am Gespräch zu beteiligen und dadurch im Zusammenhang mit seiner Betrachtung tätig zu werden. Er beteiligt sich ab dieser Stelle nicht oft am Gespräch, aber wenn er sich zu Wort meldet, zwingt er mit seinem ‚gesunden Menschenverstand‘ die Theaterleute dazu, die Absurdität mancher „Arrangements“ ihrer Kunst zu befragen. In der Passage zur vierten Wand tut er dies folgendermaßen: DER PHILOSOPH Ach so, das Publikum nimmt dann stillschweigend an, daß es gar nicht im Theater sitzt, da es anscheinend nicht bemerkt wird. Es hat die Illusion, vor einem Schlüsselloch zu sitzen. Da sollte es aber auch erst in den Garderoben klatschen. DER SCHAUSPIELER Aber durch sein Klatschen bestätigt es doch gerade, daß es den Schauspielern gelungen ist, so aufzutreten, als sei es nicht vorhanden! DER PHILOSOPH Brauchen wir diese verwickelte geheime Abmachung zwischen den Spielern und dir? DER ARBEITER Ich brauche sie nicht. Aber vielleicht brauchen die Künstler sie? DER SCHAUSPIELER Für realistisches Spiel wird sie als nötig angesehen. DER ARBEITER Ich bin für realistisches Spiel.178

Die das Publikum abbildende Funktion des Arbeiters wird hier durch den Philosophen bestätigt, indem er ihn als Publikums-Du und -repräsentant befragt, als hätte 175

Vgl. die Ausführungen zum Abbau der Kulissen und zum Abbau des Theaters in Abschnitt 7.2. Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 329. 177 BFA 22.2, S. 801. 178 BFA 22.2, S. 802; für eine Diskussion dieser Passage in Bezug auf den Realismus-Begriff im Messingkauf siehe Abschnitt 6.3. 176

5.3 (Theater ohne) Zuschauer

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der Arbeiter bis dahin einem Gespräch über sich selbst gelauscht, ohne dass er nach seiner Meinung gefragt worden wäre. Der Schauspieler versucht zu zeigen, dass er selbst der Experte ist, und impliziert, dass der Arbeiter keine Ahnung vom „realistischen Spiel“ habe. Der Arbeiter spielt allerdings auf ein anderes, von der vierten Wand und den Naturalisierungsversuchen des Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters unabhängigen Verständnis von Realismus an und drückt mit seiner Frage – „Aber vielleicht brauchen die Künstler sie?“ – aus, inwiefern das Theater den Bedürfnissen des neuen Publikums – das es längst gibt – gegenüber blind ist, was gegen Ende des Austausches vom Schauspieler bestätigt wird: DER SCHAUSPIELER ausbrechend: [. . . ] Herr, wir spielten hier bisher nicht für Krethi und Plethi, die sich ein Billett kaufen, sondern für die Kunst! DER ARBEITER Wen meint er mit Krethi und Plethi? DER SCHAUSPIELER Für die Kunst, Herr! Und Sie sind schlicht und einfach lediglich Anwesende! Vielleicht bemühen Sie sich ein Haus weiter, wo Sie Etablissements finden, in denen die Mädchen Ihnen auf Wunsch den Hintern zeigen.179

Theater wird dem Schauspieler zufolge nur der Kunst wegen gemacht; die Zuschauer werden von ihm abschätzig als „Krethi und Plethi“, als ‚Pöbel‘ bezeichnet.180 Der Auffassung des Schauspielers nach ist das Theater eindeutig nicht für die Zuschauer gemacht. Letztendlich hat jedoch der Arbeiter in einer Passage der vierten Nacht der dritten Arbeitsphase das ‚letzte (Frage-)Wort‘: DER SCHAUSPIELER [. . . ] Auch ich werde nach dem Satz der Klassiker handeln: Ändert die Welt, sie braucht es! DER ARBEITER Es klingt ein wenig großspurig. Aber warum sollte es nicht so klingen dürfen, da ja eine große Sache dahintersteht?181

Er nimmt den pathetischen Schwung aus der Rede des jetzt scheinbar aufgeklärten und merklich euphorischen Schauspielers, indem er nüchtern und lasziv dessen Jubelgeschrei als „großspurig“ bezeichnet, räumt jedoch die Angemessenheit der großen Wörter des Schauspielers ein mit der Begründung, dass das Ändern der Welt tatsächlich auch eine „große Sache“ sei. Dennoch schien sich der Arbeiter von Anfang an bewusst zu sein, dass es mit der Welt nicht so weitergehen kann, denn – wie es bereits im Personenregister vermerkt ist – „[e]r ist Arbeiter und mit der Welt unzufrieden.“182 Dass die Welt geändert werden muss, scheint dem Arbeiter, d. h.

179

BFA 22.2, S. 803. Die Bedeutung dieses Ausdrucks als „zusammengelaufener Pöbel“ kommt daher, dass die griechischen Übersetzer des Alten Testaments und ihre Nachfolger die biblischen Begriffe „Chereti“ und „Pheleti“ – „Kreter“ und „Philister“ – nicht verstanden und somit die Worte phonetischursprünglich so belassen und überliefert haben (vgl.: Krethi und Plethi. In: Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Zweite Section. H-N. 39. Theil. Köppen (Peter v.) – Kriegk. Hg. v. August Leskien. Leipzig: Brockhaus 1886, S. 340). 181 BFA 22.2, S. 810. 182 BFA 22.2, S. 696. 180

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Konfiguration

dem Publikum, klar zu sein; das Theater muss dieser Erkenntnis nachkommen und ihm zeigen, dass sie änderbar ist.183 Über die Angabe zum Arbeiter schreibt Müller-Schöll: So liegt nahe, das zukünftige Publikum als ein im gegenwärtigen Theater aus dem Zuschauerraum ausgeschlossenes, das Funktionieren der Bühne durch seine Arbeit sicherndes Proletariat zu begreifen. [. . . ] Vor allem aber weist diese Angabe, wenngleich unscheinbar, darauf hin, dass der Messingkauf auf ein Theater abzielt, in dem es nur am Prozess beteiligte [sic!] geben wird, auf ein Theater ohne Zuschauer.184

Nicht nur die Personenangabe weist darauf hin, dass ein Theater, in dem es nur am Prozess Beteiligte gibt, im Kommen ist. Auch die Verwandlung des Arbeiters vom untätigen Betrachtenden zum am Gespräch und demnach wirklich diskursiv am Prozess Beteiligten weist darauf hin. Dass der Messingkauf auf das Pädagogium des Fatzer-Fragments zurückgreift, kann man konkret an zwei winzigen, fast übersehbaren Passagen explizit festmachen: in einem der Metatexte der zweiten Arbeitsphase, in der die sogenannte „Tummelstätte der Untätigen“ als eines der Themen der ersten Nacht aufgelistet wird.185 So wird das Theater beschrieben, in das die Zuschauer „auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ hineinkommen. Diese Skizze entsteht in der zweiten Arbeitsphase um 1942/1943 und scheint auf folgende schon in der ersten Arbeitsphase geschriebene Passage zurückzugreifen: TUMMELSTÄTTE DER UNTÄTIGEN DRAMATURG Gewissen hat nur der Betrachtende. Unser Auditorium besteht nicht aus Handelnden. Angesichts der Handlungen, die verübt werden, wohin man blickt, erfüllt uns das mit einem gewissen Stolz. Wir arbeiten mehr für Leute deines Schlages.186

Hier wird auf eine der Maximen und Reflektionen von Goethe angespielt: „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“187 Diese Worte im Mund des Dramaturgen lassen ihn zu einer Art Sprachrohr der Klassik werden und in diesem Fall dezidiert zu einem in der Sache des bürgerlichen Theaters Sprechenden. Der Dramaturg spricht hier definitiv nicht zum Arbeiter oder zum Schauspieler, es bleibt also nur der Philosoph als möglicher Ansprechpartner dieser Passage: „Wir arbeiten mehr für Leute deines Schlages“, d. h. für die mit Gewissen, also für die Betrachtenden – und mithin ist der Bogen geschlossen: Philosoph = Betrachtender. Der Umkehrschluss dieser Aussage des Dramaturgen ist: Politiker = Tätiger. Das bisherige Theater ist eines, dessen Auditorium voller gewissenvoller Betrachtender ist, denn draußen wird zu viel und zu übel und zu politisch gehandelt; es ist eine Wirklichkeit, vor der es zu flüchten gilt. Erneut wird auf das Oppositionspaar aus dem Fatzer-Fragment: „Tätige“/„Betrachtende“ rekurriert, 183

Siehe Abschnitt 6.2 für eine Diskussion der Verhandlungen des Schicksals im Messingkauf. Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 48. 185 BFA 22.2, S. 768. 186 BFA 22.2, S. 707. 187 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflektionen. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 6. Vermischte Schriften. Frankfurt a. M.: Insel 1977, S. 502; vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1125. 184

5.3 (Theater ohne) Zuschauer

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und dass Brecht ein paar Jahre später in seiner späteren Konzeptionsskizze auf diese Passage wieder Bezug nehmen wird, verdeutlicht ihre Signifikanz. Es wird überdies in einem Metatext festgehalten, dass der Philosoph gekommen ist, „zu ändern, nicht nur zu interpretieren“188 – zu tun, nicht nur zu betrachten. Die Verwandlung des Arbeiters von einem Betrachtenden zu einem sowohl Tätigen als auch Betrachtenden in einem Theater ohne Zuschauer zusammen mit der Beschreibung der Tummelstätte der Untätigen zeigt auf, dass die bereits im FatzerFragment angelegte Aufgabe eines kommenden Theaters, eines Pädagogiums dem Messingkauf zugrunde liegt. Dies wird nicht zuletzt durch die Beschreibung dieses kommenden Theaters in der gerade zitierten Partie des Schauspielers unterstrichen: Was für ein Publikum werde ich haben! Vor ihre Richterstühle werde ich, was auf der Welt vorgeht, bringen. Und was für ein erlauchter, nützlicher und gefeierter Platz wird mein Theater sein, wenn es dieser vielen, arbeitenden Menschen Laboratorium sein wird!189

Die Richter sind keine gelähmten Untätigen, sondern bewusst am Prozess Beteiligte. Ebenso wenig ist etwa ein Laboratorium ein Operationssaal, oder, wie es im Englischen heißt: operating theatre, wo es historisch eine strikte Trennung zwischen dem die Operationen ausführenden Personal und den im Zuschauerraum sitzenden Studierenden und anderen Zuschauern gab. Vielmehr ist es ein Ort, an dem Tätige Experimente durchführen und die Prozesse dieser Experimente betrachten oder beobachten – ein Ort also, an dem es zwischen den Tätigen und den Betrachtenden keinen Unterschied mehr gibt. Dies wäre ein dem wissenschaftlichen Zeitalter angemessenes Theater. Dass wir es weiterhin mit einer Art „Aus-Üben“190 wie im Pädagogium des Fatzer-Fragments zu tun haben, wird in folgender Passage erneut bestätigt: PHILOSOPH Es ist auch deswegen wichtig, daß der Schauspieler sein Wissen um das Betrachtetwerden zum Ausdruck bringt, weil der Zuschauer dadurch lernen kann, im gewöhnlichen Leben sich wie einer zu benehmen, der betrachtet wird.191

Der Zuschauer geht ins Theater, um gewisse Verhaltensweisen aus-zu-üben, die er im sonstigen Leben ausüben – probieren – möchte aber (noch) nicht kann.192 Das „Theater ohne Zuschauer“ wird nicht mehr ganz so radikal oder explizit zum Ausdruck gebracht wie beim im Fatzer-Fragment beschriebenen Pädagogium, Letzteres scheint aber diesem Theater immer noch zugrunde zu liegen und es zu prägen. Die Aufhebung der Differenz zwischen Tätigen und Betrachtenden als Denkende wäre dann die Aufgabe des kommenden Theaters. Aber bevor dieses unmögliche Theater ankommen kann, müssten die Denkenden Platz machen. 188

BFA 22.2, S. 768. BFA 22.2, S. 810. 190 Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer 2008, S. 269. 191 BFA 22.2, S. 728. 192 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Ankündigung des Bühnenarbeiters, dass „morgen [. . . ] etwas Neues probiert [wird].“ (BFA 22.2, S. 773, meine Hervorhebung; vgl. auch Abschnitt 7.2.) 189

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Konfiguration

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing In einem Vortrag mit dem Titel „TITLE (to be specified)“ schreibt Jacques Derrida: A title is always an economy awaiting its determination, its specificity, its Bestimmtheit, what it determines and what determines it. Determining and determined, determination always returns to it. It returns in the direction whence it is responsible and in the direction that has always promised return from elsewhere [. . . ].193

Damit verweist er auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Titel und Text, wobei Ersterer weder außerhalb noch innerhalb des Textes steht. Bestimmend sagt der Titel als Versprechen etwas über den Text aus, der den Titel bestimmend und verantwortend ebenfalls verantwortet wird und dabei das Versprechen des Titels immer wieder aber nie restlos einlöst. Der Titel steht mithin niemals still und verrät auf diese Weise über den Text wenig und viel zugleich. Schlägt man zum ersten Mal Band 22.2 der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe von Brechts Werken auf, sorgt es für Irritation, dass der Text erst in seiner editorischen Mitte auf die rätselhafte namensgebende Metapher des Titels namentlich antwortet, und dann auch nicht unbedingt auf unmittelbar sich erschließende Weise. Was bedeutet es denn, Messing zu kaufen? Wer kauft welches Messing? Was hat dieses Messing mit dem Theater zu tun? Und tatsächlich: Obwohl Brecht die Exposition, das Personenverzeichnis und die „Nachträge“ in der ersten Arbeitsphase allesamt mit „Messingkauf“ betitelt, als wäre es völlig selbstverständlich, was er damit meint, scheint er erst in der zweiten, um 1942/1943 entstandenen Arbeitsphase – und deshalb erst in der Mitte der BFA-Ausgabe – auszuformulieren, was es mit dem „Messingkauf“ auf sich hat. Im Folgenden gilt es, herauszuarbeiten, was die Metapher des Messingkaufs bedeuten könnte und inwiefern das Denkverfahren des Philosophen weitrechende Implikationen für die entstehungsgeschichtliche Meta-Ebene des Messingkaufs hat. In der längeren Expositionsszene, die in der BFA als B115 verzeichnet ist, beschreibt der Philosoph seine Rolle im Theater als die eines Messinghändlers, der zu einer Musikkapelle kommt und nicht etwa eine Trompete, sondern bloß Messing kaufen möchte. Die Trompete des Trompeters besteht aus Messing, aber er wird sie kaum als Messing verkaufen wollen, nach dem Wert des Messings, als soundso viele Pfund Messing.194

Wie der Messinghändler an dem Material interessiert ist, aus dem die Trompete besteht, interessiert sich der Philosoph für das, woraus das Theater besteht. Das hier beschriebene Verfahren des Philosophen erinnert stark an die vor allem in der DDR-Brecht-Forschung rege diskutierte „Materialwert-Theorie“,195 und die Gründe hierfür sollen im Folgenden erläutert werden. 193

Jacques Derrida: TITLE (To Be Specified). In: SubStance 10:2:31 (1981), S. 5–22, hier: S. 12. BFA 22.2, S. 778. 195 In seiner Monographie zum Messingkauf und Kleinen Organon schreibt Kim kursorisch bezüglich des Messingkaufs: „Im ‚Messingkauf‘ prüft [Brecht] die Theaterkunst vor allem auf ihren Materialwert, und dieses ‚Material‘ soll auf seine Verwertbarkeit für eine umfunktionierte und damit neu bestimmte Kunst überprüft werden.“ (Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, 194

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

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Im ersten Band der Schriften zum Theater wird ein Textkomplex mit der Überschrift [Materialwert] abgedruckt, bestehend aus den folgenden Abschnitten „1. Stirbt das Drama?“, „2. Zufriedenheit“, „3. Der Materialwert“ und „4.“196 Zum „[Materialwert]“ steht im Sachkommentar, dass die Vossische Zeitschrift unter der Überschrift „Stirbt das Drama“ die Ergebnisse einer Umfrage vom 4. April 1926 veröffentlichte, an der viele bekannte Persönlichkeiten teilnahmen, auch Brecht. Die einzige andere Angabe im Kommentar lautet: „Die Abschnitte des Komplexes Materialwert wurden vom Herausgeber in dieser Form zusammengestellt.“197 Im Band 15 der Gesammelten Werke werden aus dem Komplex einen alleinstehender Text und ein neuer Materialwert-Komplex gemacht: „[Stirbt das Drama]“ wird nun mit der Unterschrift „[Antwort auf eine Rundfrage]“ als separater, eigenständiger Text dem „[Materialwert]“-Komplex vorangestellt,198 während „[Materialwert]“ folgendermaßen zusammengestellt wird: „1. Zufriedenheit“, „2. Der Materialwert“ und „3“.199 Die Informationen im Sachkommentar haben sich nicht geändert, außer dass die Angabe zur Vossischen Zeitung nun als eigener Kommentar zu „[Stirbt das Drama?]“ erfolgt.200 Weder in den Schriften zum Theater noch in den Gesammelten Werken werden Informationen zur historischen Entstehung der Texte zur Verfügung gestellt. Erst in der BFA wird offenbar, dass Brechts Antwort auf die Umfrage der Vossischen Zeitung doch bereits 1926 erfolgt ist, während die anderen der „[Materialwert]“-Sammlung zugeordneten Texten erst 1929 entstanden sind (ihre Datierung ist jedoch unsicher).201 Der vermeintliche Komplex wird wieder auseinandergenommen und die Texte ihrer chronologischen Entstehung nach geordnet, sodass die Texte nun als eigenständige, separate Texte erscheinen. Des Weiteren wird der Text, der in den Schriften zum Theater und den Gesammelten Werken als „4“ bzw. „3“ erscheint, unter seinem tatsächlichen Titel „Materialwert“ dem Text „Der Materialwert“ vorangestellt. In seinem Aufsatz „Der entstellte Brecht“ diskutiert Knopf solcherlei vermeintlicher Textkomplexe wie die „Marxistischen Studien. 1926–1939“ sowie die entsprechende Kritik an der BFA. Solche Kritik „behauptet, die Edition der Schriften sei ‚zusammengewürfelt‘, reiße Zusammengehöriges auseinander und lasse Texte regelrecht ‚verschwinden‘.“202 Doch habe, so schreibt Knopf, die an kritischhistorischen Editionsprinzipien orientierte, chronologische Präsentation der Texte „zwangsläufig“ dazu geführt, „dass früher vorgenommene Zuordnungen der HerS. 55.) Er geht aber nicht ausführlicher darauf ein, um seine These zu verfolgen, der Messingkauf sei ein „konkretes Beispiel des Lehrstücks“ (S. 115). 196 Vgl. Bertolt Brecht: [Materialwert]. In: Ders.: Schriften zum Theater. Bd. 1, S. 79–83. 197 Werner Hecht: Zur Ausgabe „Schriften zum Theater“. In: Brecht: Schriften zu Theater. Bd. 1, S. 269–270, hier: S. 270. 198 Bertolt Brecht: [Stirbt das Drama?]. In: Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 15, S. 104. 199 Bertolt Brecht: [Materialwert]. In: Gesammelte Werke. Bd. 15, S. 105–108. 200 Vgl. Hecht: Der Messingkauf 1967, S. 3*f. 201 Vgl. Werner Hecht: Kommentar 1992. In: BFA 21, S. 591–810, hier: S. 714, 716. „Materialwert“ steht im Archiv mit einem Text namens „Junge Bühne – Sozialrevolutionäre“ (BFA 21, S. 286) auf einem Blatt; „Zufriedenheit“ und „Der Materialwert“ stehen auf dem selben Blatt. 202 Knopf: Der entstellte Brecht 2006, S. 16.

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ausgeber entfielen, dass einzelne Texte anderen Konvoluten oder auch anderen Gattungen als bisher zugeordnet wurden“, und „dass ‚Komplexe‘, welche die Herausgeber zusammengestellt hatten, aufgelöst werden mussten [. . . ].“203 Der „Materialwert“-Komplex ist ein ebensolcher. Von 1960 bis 1992 erfolgte also die Forschung zur Materialwert-Theorie auf Basis eines eigentlich in der Form nicht existierenden Textkomplexes. Das, was lange Zeit selbstverständlich für ‚die‘ MaterialwertTheorie gehalten wurde, entstand erst nach der Zusammenstellung mehrerer Texte durch Hecht und wurde während deren wissenschaftlicher Diskussion zur Einheit „Materialwert-Theorie“ erhoben. Von ‚der‘ Materialwert-Theorie Brechts wird deshalb hier nicht die Rede sein, und für unsere Zwecke sind „Zufriedenheit“ und „Stirbt das Drama?“ nicht besonders relevant. Es lohnt sich jedoch, einen genaueren Blick auf die zwei Texte zum Konzept des Materialwerts selbst zu werfen, um herauszufinden, wie Brecht das Verfahren der „Materialwertuntersuchung“ gedacht hat. In „Materialwert“ bespricht Brecht die Arbeitsweise des Theaterregisseurs Leopold Jessners, seine „wohlüberlegte Amputationen und effektvolle Kombinationen mehrerer Szenen“, mit denen er „klassischen Werken oder wenigsten ihren Teilen, deren alten Sinn das Theater nicht mehr herausbringt, einen neuen Sinn“ gibt: „So wird Goethes ‚Faust‘ zu Jessners ‚Faust‘ [. . . ].“204 Diese Art von Arbeitsweise beschreibt Brecht als eine Praxis des „Vandalentum[s]“.205 Er diskutiert im weiteren Verlauf des Textes Fragen des geistigen Eigentums inklusive der „Besitzfrage, die in der Bourgeoisie, sogar was geistige Dinge betrifft, eine (überaus komische) Rolle spielt“ – eine Frage, die Brecht zufolge gerade dabei ist, zum „neuen kollektivistischen Besitzbegriff“ überzugehen, „einer der wenigen, aber entscheidenden Vorzüge, die das bürgerliche Theater seiner Literatur voraushat.“206 Auf den Begriff des Vandalentums greift Brecht in „Der Materialwert“ wieder zurück, in dem er schreibt, dass er der Meinung ist, dass die Vandalen der Kunst nicht feindselig gegenüber standen, sondern „die alten Dinger hauptsächlich als Material [nahmen].“207 Das „Vandalentum“ fungiert hier als Metapher für die Suche nach dem „Materialwert“ des literarischen Erbes. Im Rahmen einer solchen Suche solle man klassische Stücke – „diese für andere Theater geschriebenen und mit uns unbekannten Argumenten verteidigbaren, aber sicher talentvollen Monumente vergangener Kunstanschauungen“ – sowie gegenwärtige Stücke weder „einfach wie Katzen in Säcken“ übernehmen noch „durch Argumente [zerstören] und als Ganzes [ablehnen]“, wenn sie noch „zunutze“ gemacht werden können:208

203

Ebd. Materialwert. In: BFA 21, S. 285–286, hier: S. 285. 205 Ebd. 206 Ebd. Brecht beendet diesen Text mit der amüsanten, von Klammern umrahmten Anmerkung: „Über die unbestreitbaren Verdienste auf dem Gebiet des Plagiats einiger Schriftsteller möchte ich erst reden, wenn meine eigenen etwas bedeutender geworden sein werden.“ (BFA 21, S. 285 f.) 207 Der Materialwert. In: BFA 21, S. 288–289, hier: S. 288. 208 Ebd., S. 289. 204

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

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Das Stück „Wallenstein“ zum Beispiel, um auch an einigen bisher unberührten Lesern nicht spurlos vorüberzugehen, enthält neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert; die historische Handlung ist nicht übel eingeteilt, der Text auf ganze Strecken hinaus, richtig zusammengestrichen und mit anderem Sinn versehen, schließlich verwendbar.209

Aufklärung über die Bedeutung der hier erwähnten „Museumszwecke“ bietet an einer Stelle der Dramaturg des Messingkaufs: Als Stanislawski im besten Alter stand, kam die Revolution. Sein Theater wurde mit größtem Respekt behandelt. 20 Jahre nach der Revolution konnte man auf diesem Theater wie in einem Museum noch die Lebeweise inzwischen von der Bildfläche verschwundener Gesellschaftsschichten studieren.210

Die Darstellungen „verschwundener Gesellschaftsschichten“ und der „sicher talentvollen Monumente vergangener Kunstanschauungen“ mögen durchaus zum historischen Erkenntnisgewinn beitragen, über das Heute sagen sie allerdings nichts Wertvolles aus. Es wird deshalb für einen Umgang mit Texten plädiert, im Zuge dessen jeder Text, jedes Stück von seinem vom Autor beabsichtigten Zweck entfernt und auf seine Brauchbarkeit für den heutigen Zweck des Untersuchenden hin überprüft wird. Es zeigt sich hier eine Einstellung gegenüber dem literarischen Erbe und der Tradition, wonach Texte auf ihre Komponenten runtergebrochen und als „Rohmaterial“ betrachtet werden, aus denen oder mit denen man etwas Neues aufbauen kann – sie einfach wegzuwerfen wäre verschwenderisch. Es geht hier anscheinend um eine Art literarisches ‚Recycling‘.211 Dieses Verfahren – das an späterer Stelle dieses Kapitel noch im Detail zu diskutieren sein wird – wird zum heikel umstrittenen Schauplatz der vor allem ostdeutschen Brecht-Forschung, da sie für einige Wissenschaftler*innen als bedeutender Aspekt von Brechts Verhältnis zur deutschen Klassik im Widerspruch zum leninschen Primat des kulturellen Erbes steht.212 Dieses Primat ist aus „Auseinandersetzungen über die Frage wie, oder ob die bürgerliche Literatur überhaupt zu rezipieren sei“,213 entstanden und ist in Lenins marxistischem Entwicklungs- und Fortschrittsdenken zutiefst verwurzelt:

209

Ebd.; vgl. auch Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Jahnn, Bataille, Brecht, Benjamin, Müller, Schleef. Berlin: Theater der Zeit 2002, S. 219. 210 BFA 22.2, S. 704. 211 Vgl. das International Brecht Society Symposium „Recycling Brecht“, das im Juni 2016 in Oxford stattfand. 212 Für eine detaillierte Darstellung des literarischen Erbes in der frühen Sowjetunion siehe: Deborah Vietor-Engländer: Faust in der DDR. Frankfurt a. M.: Lang 1987, S. 1–17; vgl. auch Guido Böhm: Vorwärts zu Goethe? Faust-Aufführungen im DDR-Theater. Berlin: Theater der Zeit 2015. 213 Vietor-Engländer: Faust in der DDR 1987, S. 2.

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Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete.214

Deshalb heißt es im Vorwort zu Band 14 von Lenins Werken: „[D]as Proletariat, [. . . ] das legitimiert ist, das gesamte kulturelle Erbe der Menschheit, auch das von der bürgerlichen Gesellschaft geschaffene, zu übernehmen, [kann] nicht auskommen, ohne sich die Kultur der Vergangenheit anzueignen.“215 Überraschenderweise ist mit „Kultur der Vergangenheit“ die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts und nicht die „revolutionäre“ avantgardistische Kultur des frühen 20. Jahrhunderts gemeint.216 Das leninsche Primat wird dann im Zeitalter des Stalinismus verbindlich beibehalten.217 Bei anfänglicher Betrachtung scheint es eine große Ähnlichkeit zwischen dieser sowjetischen Position und der Position Brechts zu geben; der Verdacht liegt nahe, dass das Materialwertverfahren zumindest tendenziell eine Art brechtsche Interpretation der ‚Parteilinie‘ ist. Auf dem Allunionskongress der Sowjetschriftsteller im Jahr 1934 sagte Andrej Schdanow beispielsweise: „Die Bourgeoisie ließ das literarische Erbe zerflattern; wir sind verpflichtet, es sorgfältig zu sammeln, zu studieren und nach kritischer Aneignung weiterzuentwickeln.“218 Das Problem nicht nur für Brecht, sondern auch für andere wie Ernst Bloch und Hanns Eisler, ist jedoch in diesem Zusammenhang Georg Lukács. Da Brecht sich zu seinen Lebzeiten in dieser Hinsicht nicht öffentlich äußert, ist Lukács’ Kritik nicht explizit an Brechts Positionen diesbezüglich gerichtet (obwohl Brechts theatertheoretische Ausführungen usw. durchaus Gegenstand von Lukács’ Kritik waren).219 Bloch und Eisler, die in

214 Wladimir Iljitsch Lenin: Über proletarische Kultur. In: Hans Christoph Buch: Parteilichkeit der Literatur oder Parteiliteratur? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, S. 107; zitiert nach VietorEngländer: Faust in der DDR 1987, S. 3. 215 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der XPäSU: Vorwort. In: Wladimir Iljitsch Lenin: Werke. Bd. 14. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Berlin: Dietz 1975, S. VII–XXII, hier: S. XIX. 216 Vgl. Vietor-Engländer: „Doch hatte Lenin gute Gründe, gerade in der Literatur das revolutionäre Element einzudämmen: er sah die Gefahr, daß der Proletkult als eigenständige Massenorganisation zu mächtig werdfen [sic!] könnte und war deshalb bemüht, ihn rechtzeitig unterzuordnen. Ähnliches geschah mit den Futuristen, die sich gegen die Übernahme der bisherigen Kultur erklärt hatten.“ (Vietor-Engländer: Faust in der DDR 1987, S. 4.) Es gab also pragmatische Gründe für die Wahl der bürgerlichen Kultur als erhaltenswerte. 217 Vgl. Vietor-Engländer: Faust in der DDR 1987, S. 6. 218 Andrej Shdanow: 1934. 1. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller. In: Fritz J. Raddatz (Hg.): Marxismus und Literatur. Bd. I. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 352; zitiert nach VietorEngländer: Faust in der DDR 1987, S. 6. 219 Brecht war zwar Mitherausgeber von Das Wort, hat aber keinen Beitrag zum Realismus-Streit in dieser Publikation veröffentlicht. Einen Aufsatz zum Thema hatte er an Alfred Kurella zum Lesen gegeben, hat jedoch keine Antwort erhalten. Zudem glaubte Brecht, er würde dadurch womöglich Probleme in Moskau bekommen, hat dabei allerdings Lukács’ Position und Macht überschätzt (vgl. Vietor-Engländer: Faust in der DDR 1987, S. 14).

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

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Sachen Erbe Brecht sehr nah standen, macht er jedoch beispielsweise folgende Vorwürfe: Blättert man in den Schriften von Bloch, so wird von Erbe und Erben nur in solchen Ausdrücken gesprochen: „Brauchbare Erbstücke“, „plündern“ usw. [. . . ] Das Erbe ist für ihn [Bloch] eine tote Masse, in welcher man beliebig herumwühlen, aus welcher man beliebige, momentan brauchbare Stücke herausreißen, und welche man nach momentanem Bedürfnis beliebig zusammenmontieren kann. Diese Gesinnung hat Hanns Eisler in einem mit Bloch zusammen geschriebenen Artikel sehr prägnant ausgedrückt. [. . . ] Eisler schlägt [. . . ] vor, die Klassiker zu einem Antifaschisten „Büchmann“ zu zerpflücken und dann die „geeigneten Stücke“ zusammenzumontieren. Fremder, hochmütiger, ablehnender kann man sich zu der glorreichen literarischen Vergangenheit des deutschen Volkes nicht verhalten. [. . . ]. Es kommt also alles darauf an klar zu erkennen, wo dieses wirklich Wertvolle zu suchen ist.220

Der Mensch, dem Lukács diese Erkenntnisfähigkeit zurechnet, ist natürlich Lukács selbst, der als verbindliches literarisches Erbe den deutschen bürgerlichen Realismus, z. B. Fontane, Keller, Meyer, Storm, und das „realistisch[e], gestaltend[e] Erb[e]“,221 z. B. Fielding, Goethe, Diderot, Balzac,222 vorgibt. Es ist von Lukács nicht gestattet, wie Brecht einzelne Teile, Aspekte oder Komponenten der Werke des literarischen Erbes auseinanderzunehmen – die Werke müssen als Gesamtwerk angeeignet werden: „Denn nur dann, wenn man die Meisterwerke des Realismus aus der Vergangenheit und Gegenwart als Ganzes betrachtet [. . . ] kommt der aktuelle, kulturelle und politische Wert der großen realistischen Gestaltung zum Ausdruck.“223 Beziehungsweise, wie Brecht es höhnisch formuliert, man soll „die vorgeschriebene pietätvolle Rührung“ zeigen und „alles in Besitz“ nehmen.224 Der auf der Fahne geschriebene kritische Umgang mit dem literarischen Erbe erweist sich somit als Übernahme und Umdeutung, was jedoch nicht zuletzt dem Bedürfnis geschuldet ist, „sich mit den bürgerlichen Humanisten zur Reinigung des Erbes von der faschistischen Beschmutzung zu verbinden“,225 wie Deborah Vietor-Engländer schreibt. Die Hochschätzung des Realismus ist zudem eine Frage des Inhalts statt der Form, und alles „Formalistische“ wird als das Erbe der „dekadenten Bourgeoi220 Georg Lukács: Es geht um den Realismus. In: Das Wort 6 (Juni 1938), S. 112–138, hier: S. 134 f. In dem Aufsatz „Aus der Not einer Tugend“ wirft Lukács auch Ernst Ottwalt vor, das Erbe als eine „tote ‚Erbmasse‘“ zu betrachten (Georg Lukács: Aus der Not eine Tugend. In: Die Linkskurve 4:11/12 (1932), S. 15–24, hier: S. 19). 221 Lukács: Aus der Not eine Tugend 1932, S. 20; vgl. Vietor-Engländer, S. 11. 222 Vgl. Vietor-Engländer, S. 11. 223 Lukács: Es geht um den Realismus 1938, S. 136. 224 Diese Beschreibung entstammt einer Reaktion Brechts auf Lukács Vorwurf. Die gesamte Antwort lautet: „Mit meinem Freund Eisler, der wenigen als blasser Ästhet vorkommen wird, hat Lukács gleichsam den Ofen geputzt, weil er bei der Testamentsvollstreckung angesichts des Erbes nicht die vorgeschriebene pietätvolle Rührung gezeigt haben soll. Er kramte sozusagen darin herum und weigerte sich alles in Besitz zu nehmen. Nun, vielleicht ist er als Exilierter nicht in der Lage, soviel mit sich herumzuschleppen.“ (Kleine Berichtigung. In: BFA 22.1, S. 402–403, hier: S. 402.) 225 Vietor-Engländer 1987, S. 9.

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sie der imperialistischen Epoche“ verworfen.226 Die Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe ist deshalb ein wichtiger Bestandteil der Expressionismus-, Formalismus- und Realismus-Debatten, die Brecht von den 1930er Jahren an bis zu seinem Tod und sein literarisches Erbe betreffend gar darüber hinaus verfolgen werden.227 Das Problem, das Brecht für die ostdeutsche Wissenschaft darstellt, sind die Willkür, der Widerspruch und die Inkonsequenz, mit denen er scheinbar und tatsächlich an das literarische Erbe herangeht, sowie seine Weigerung, die bürgerliche literarische Tradition holistisch in Besitz zu nehmen. Einige DDR-Stimmen lehnen die Behauptung einer Übereinstimmung zwischen Brechts Materialwert-Theorie und Lenins Primat deshalb als unvereinbar und unhaltbar ab: Für manche ist Brechts Verfahren ein Zeichen seiner Verachtung für die deutsche Klassik,228 andere sind der gemäßigteren Ansicht, dass Brecht zwar die deutsche Klassik nicht verachtet, sich aber in seiner Methode nicht konsequent genug und ihr an vielen Stellen zu kritisch gegenüber zeigt.229 Aus diesem Grund versuchen in der DDR andere Wissenschaftler*innen, die „Materialwert-Theorie“ dem Primat des kulturellen Erbes nach gewissermaßen apologetisch zurechtzubiegen. Dies tut am prominentesten Werner Mittenzwei, indem er beispielsweise den Vandalen in Brechts Behandlung ein Klassenbewusstsein zuschreibt: Brecht [umgab] seine Materialwert-Theorie selbst mit dem Fluidum der Anrüchigkeit, indem er sie ganz offen mit den Praktiken der Vandalen verglich, die von der Kunst ihrer Vorgänger nur den Materialwert schätzten. Denn dafür wußten sie noch eine Verwendung, während der inhaltlich-ideologische Aussagewert ihnen nutzlos erschien, weil er sich nicht mit ihren gesellschaftlichen Interessen deckte.230

Brecht versucht er gegen Vorwürfe der „Barbarei gegenüber dem weltliterarischen Erbe“ zu verteidigen mit der Begründung, Brechts Materialwert-Theorie sei „eine Reaktion auf die Barbarei, in die der spätbürgerliche Kunstbetrieb die Klassikerdarstellung und -interpretation geführt hatte.“231 Zudem reduziert er den Begriff des Materialwerts auf die Fabel, um das Bild der Zerstörung der Klassiker durch Brecht zu minimieren: Was verstand er nun unter Materialwert? Zunächst den stofflichen Vorgang, die Geschichte. Was Brecht schätzte, waren die großen Fabeln der alten Stücke. Dabei liebte er vor allem die Fabel pur, das heißt, so wie sie mit wenigen Worten erzählt werden konnte.232 226

Lukács: Aus der Not eine Tugend 1932, S. 21. Für weitere Ausführungen zum Thema Brecht und Realismus vgl. Abschnitt 6.3. 228 Vgl. Helmut Holtzhauer: Von Sieben, die auszogen, die Klassik zu erlegen. In: Werner Mittenzwei (Hg.): Wer war Brecht? Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht. Sinn und Form. Westberlin: verlag das europäische buch 1977, S. 519–538; ursprünglich abgedruckt in: Sinn und Form 25:1 (1973), S. 169–188. 229 Vgl. Hans-Dietrich Dahnke: Sozialismus und deutsche Klassik. In: Werner Mittenzwei (Hg.): Wer war Brecht? 1977, S. 555–579; ursprünglich abgedruckt in: Sinn und Form 25:5 (1973), S. 1083–1107. 230 Werner Mittenzwei: Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin: Akademie-Verlag 1973, S. 23. 231 Mittenzwei: Brechts Verhältnis zur Tradition 1973, S. 37. 232 Ebd., S. 31. 227

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

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Fast verzweifelt anmutend versucht Mittenzwei letztendlich eine Geschichte der Kontinuität hinter Brechts Materialwert-Untersuchungen herzustellen: Diese Lesarten der Fabel, wie sie der frühe Brecht vorstellte, entbehrten nicht der Provokation. Sie waren aber nicht Provokation um der Provokation willen. Und schon gar nicht waren sie eine Provokation gegen das weltliterarische Erbe. Ihre Funktion sah Brecht vor allem in der Zerstörung eines bestimmten Heldenklischees. Er benutzte die alten Stücke und Figuren nicht, um ihre historische Bedeutung für den gegenwärtigen politischen Kampf aufzuhellen, sondern nutzte sie zur Ideologiekritik. All diese Lesarten, die Brecht über die klassischen Werke vortrug, müssen als Ideologiekritik verstanden werden. Es ging ihm um die Zerstörung bürgerlicher Mythen, nationalistischer Leitbilder und falscher Ideale. Insbesondere sollte die idealistische Weltanschauung der bürgerlichen Klasse getroffen werden. Er war darum bemüht, zu verhindern, daß die bürgerliche Klasse das weltliterarische Erbe zur Festigung ihrer Herrschaft benutzte.233

Diese Erklärung setzt bei Brecht ein bereits in seinen jungen Jahren stark marxistisch ausgeprägtes Bewusstsein sowie ein bereits zu dem Zeitpunkt vollständig konzeptualisiertes Untersuchungsverfahren voraus, das jedoch nicht zu beweisen ist. Solcherlei Versuche zeugen vielmehr von dem Bedürfnis, Brecht zu verherrlichen, ihn zu beschönigen und zurechtzubiegen, um ihn für eine marxistische Literaturwissenschaft und gar Weltanschauung gänzlich schmackhaft zu machen.234 Doch es liegt viel näher, dass sich Brecht einfach aus Leidenschaft für das „weltliterarische Erbe“ interessierte und sich ihm aus seiner „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ heraus bediente,235 statt sich für die „Besitzfrage“ der Bourgeoisie zu interessieren.236 Folglich scheint seine Theorie des Materialwerts als Anleitung für ein bereits vorhandenes und von ihm verwendetes Verfahren entwickelt worden zu sein. Denn von seinem ersten Stück Die Bibel bis hin zu seinen letzten Arbeiten

233

Ebd., S. 35. „[E]s gibt [. . . ], was Brecht angeht, eine Tendenz des Beschönigens und Zurechtbiegens, die Brecht nicht nötig hat und die der literarischen Entwicklung nicht zuträglich ist.“ (In: Dahnke: Sozialismus und deutsche Klassik 1977, S. 571.) In dem Band Wer war Brecht veröffentlicht Mittenzwei neben drei seiner eigenen Beiträge zum Thema „Klassik-Debatte“ acht weitere Texte, in denen Brechts Verhältnis zur Klassik und die Materialwert-Theorie diskutiert werden, inklusive einiger Positionen, die im vehementen Gegensatz zu Mittenzweis eigener stehen. Man kann also einer anderen Meinung als Mittenzwei sein, man darf ihm aber auf keinen Fall Deutungshoheit vorwerfen. 235 Am 3. Mai 1929 wirft Kerr Brecht im Berliner Tageblatt vor, Plagiat in der Dreigroschenoper und den Songs der Dreigroschenoper plagiiert zu haben, da er glaubt, dass Brecht die Texte anderer übernommen habe, ohne diese kenntlich zu machen. Auf Kerrs Vorwurf hin antwortet Brecht im Berliner Börsen-Courier am 6. Mai 1929: „Eine Berliner Zeitung hat spät, aber doch noch gemerkt, daß in der Kiepenheuerschen Ausgabe der Songs zur Dreigroschenoper neben dem Namen Villon der Name des deutschen Übersetzers Ammer fehlt, obwohl von meinen 625 Versen tatsächlich 25 mit der ausgezeichneten Übertragung Ammers identisch sind. Es wird eine Erklärung verlangt. Ich erkläre also wahrheitsgemäß, daß ich die Erwähnung des Namen Ammer leider vergessen habe. Das wiederum erkläre ich mit meiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums.“ ([Eine Erklärung Brechts]. In: BFA 21, S. 315–316, hier: S. 315 f.; vgl. Hecht: Kommentar 1992, BFA 21, S. 726 f.) 236 BFA 21, S. 285. 234

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hat Brecht gerne und sorglos zu den Texten anderer als Vorlagen für seine eigenen Texte gegriffen.237 Es gibt einige Stellen im Messingkauf, an denen das Materialwertverfahren für Texte zum diskursiven Gegenstand des Gesprächs wird: In einem Gespräch mit dem Schauspieler und dem Dramaturgen plädiert der Philosoph beispielsweise dafür, Texte in der Theaterpraxis einer Materialwertuntersuchung zu unterziehen: PHILOSOPH [. . . ] Alles was ihr tun solltet, ist nur: die Vorfälle möglichst ernst nehmen und ihre Verwertung durch den Stückeschreiber möglichst leicht. Ihr könnt seine Interpretationen ja zum Teil wegstreichen, Neues einfügen, kurz, die Stücke als Rohmaterial verwenden. Und ich nehme von vornherein an, daß ihr nur Stücke wählt mit Vorfällen, die genügend öffentliches Interesse bieten.238

Der Schauspieler erwidert mit einer Verteidigung des klassischen Vermächtnisses: SCHAUSPIELER Und der Sinn der Dichtung, das geheiligte Wort des Dichters, der Stil, die Atmosphäre? PHILOSOPH Oh, die Absicht des Dichters scheint mir nur soweit von öffentlichem Interesse, als sie dem öffentlichen Interesse dient. Sein Wort sei geheiligt, wo es die richtige Antwort auf die Frage des Volkes ist, der Stil hängt sowieso von eurem Geschmack ab, und die Atmosphäre soll eine saubere sein, durch oder gegen den Dichter. Hat er sich an die Interessen und die Wahrheit gehalten, so folgt ihm, wenn nicht, so verbessert ihn!239

Hier wird dem „geheiligten Wort des Dichters“ die Betrachtung der Originaltexte als „Rohmaterial“ entgegengesetzt, zuwider der Auffassung des Autors als Genie, der sein Werk als vollständiges, unantastbares und unhinterfragbares Wesen schöpft. Die Wissenschaftler*innen der DDR verlangen von Brecht, dass er sich voll auf die Seite der deutschen Klassik stellt. Es geht jedoch, wie in der zitierten Passage deutlich wird, bei der Materialwertuntersuchung des Philosophen um das Auseinandernehmen und Zerlegen des Textes, um das Auswählen der nutzbaren Teile und das Fallenlassen dessen, was keinem Interesse mehr dient. Das kulturelle Erbe ist Lenins Primat zufolge ganzheitlich aufzubewahren und anzueignen, doch in diesem Beispiel gibt es im Gesamtwerk eines einzelnen Autors sowohl erhaltenswerte als auch vernachlässigbare Teile. Neben ihrem theaterpraktischen Zweck dienen die „Übungsstücke für Schauspieler“ ebenfalls als Beispiele für die Anwendung des Materialwertverfahrens auf Texte, in diesem Fall zum Zweck der Schauspielerausbildung: Sechs klassische Dramentexte – Shakespeares King Lear, Macbeth, Romeo and Juliet und Hamlet sowie Schillers Maria Stuart und das antike Homer und Hesiod – werden von Brecht umgearbeitet, die meisten mit einem Kommentar versehen und in die damalige Zeit transportiert. Brecht schreibt beispielsweise im Kommentar zur Veröffentlichung der Szene „Der Mord im Pförtnerhaus“ (entsprechend Shakespeares „Macbeth“, II,2) 1951: 237

Vgl. Die Bibel. In: BFA 1, S. 9–15; siehe auch die Ausführungen zu Pirandellos Sechs Personen als möglichem Messingkauf -Intertext in Abschnitt 4.1. 238 BFA 22.2, S. 708, meine Hervorhebung. 239 BFA 22.2, S. 708.

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

155

Die folgenden Übertragungen [. . . ] in ein prosaisches Milieu sollen der Verfremdung der klassischen Szenen dienen. Diese Szenen werden auf unsern Theatern längst nicht mehr auf die Vorgänge hin gespielt, sondern nur auf die Temperamentsausbrüche hin, welche die Vorgänge ermöglichen. Die Übertragungen stellen das Interesse an den Vorgängen wieder her und schaffen beim Schauspieler außerdem ein frisches Interesse an der Stilisierung und der Verssprache der Originale, als etwas besonderem, Hinzukommendem.240

Brecht identifiziert also sehr genau die Teile der Ausgangstexte, die er in einem „prosaischen Milieu“ noch für produktiv hält und arbeitet die Texte zu eben diesem Zweck um. Entgegen Mittenzweis Behauptung, es gehe bei der Materialwert-Theorie um die „pure Fabel“, die „unverlierbare Substanz eines Kunstwerks“, kontert Wilke: „Eine derartige Substanz hätte sich [. . . ] durch Verlust und Verwandlung hindurch zu behaupten, wenn die Vorlage, wie Brecht forderte, ‚wieder in den Fluß der Zeit geworfen‘ werden soll.“241 Hinzu kommt, dass sich Mittenzweis Auffassung des Materialwerts in dieser Hinsicht kaum von jeder herkömmlichen Bearbeitung literarischer Stoffe oder Neuanordnung antiker Stoffe unterscheidet, so auch bei Goethes Iphigenie auf Tauris, um nur ein beliebiges Beispiel zu nennen. Wilke schreibt zu Recht, dass es bei der Materialwert-Theorie vielmehr um eine „Verschiebung vom Werkbegriff hin zu einer Materialität der Texte“ gehe, bei der „sich auch die Bedeutung des Lesens entscheidend [erweitert], da es jeweils von neuem den Wert eines Textes zu entdecken und freizusetzen hätte.“242 Marjorie L. Hoover merkt überdies emphatisch an, dass „ein Befürworter der Materialwert-Theorie wie Sergei Tretjakow seine Ästhetik nicht mit dem Leben [hätte] bezahlen müssen,“243 wenn Brechts Theorie wirklich mit dem leninschen Primat des bürgerlichen kulturellen Erbes vereinbar gewesen wäre. Aber was sind die Parallelen zur Metapher des „Messingkaufs“ und inwiefern wird das Verfahren im Text selbst angewendet? Der Begriff des Materialwerts wird erstmalig erwähnt während Brechts Arbeit am Fatzer-Fragment,244 konkret in einem Text mit dem Titel „Kleiner Rat, Dokumente anzufertigen“ aus dem Jahr 1926. Dieser Text wurde in der ursprünglichen Materialwert-Sammlung der Schriften zum Theater und der Gesammelten Werke nicht aufgenommen und bietet eines der nachvollziehbarsten Beispiele für den Materialwert. Im dritten Teil seines „Rats“ schreibt Brecht: 240

BFA 22.2, S. 830. Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998; Wilke zitiert: Gespräch über Klassiker. In: BFA 21, S. 309–315, hier: S. 312. 242 Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998, S. 66. 243 Marjorie L. Hoover: Werner Mittenzwei (Hg.): Wer war Brecht? Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht im Spiegel von Sinn und Form [Rezension]. In: Das Brecht-Jahrbuch 10 (1980), S. 277–279, hier: S. 279. 244 Die Arbeit am Fatzer-Fragment beginnt im Jahr 1926 und dauert bis 1930, bevor Brecht sich entscheidet, „das ganze stück, da ja unmöglich, einfach [zu] zerschmeißen für experiment, ohne realität!“ (AdK, BBA 109/56; zitiert nach Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment 1998, S. 14; vgl. Gläser: Kommentar 1997, BFA 10.2, S. 1120.) Diese Notiz entsteht vermutlich zur Zeit der Veröffentlichung von manchen Teilen des Fragments in den Versuchen. 241

156

5

Konfiguration

Das Theater wird in absehbarer Zeit das verstaubte Repertoire eines Jahrhunderts einfach auf seinen Materialwert hin untersuchen, indem es die guten alten Klassiker wie alte Autos behandelt, die nach dem reinen Alteisen-Wert eingeschätzt werden.245

Die Parallele zwischen dem Messing des Messingkaufs und dem Alteisen des hier beschriebenen Autokaufs ist sehr auffällig – zur Erinnerung und zum Vergleich dient noch einmal die Metapher des Philosophen: Ich [komme] mir wie ein Mensch vor [. . . ], der, sagen wir, als Messinghändler zu einer Musikkapelle kommt und nicht etwa eine Trompete, sondern bloß Messing kaufen möchte. Die Trompete des Trompeters besteht aus Messing, aber er wird sie kaum als Messing verkaufen wollen, nach dem Wert des Messings, als soundso viele Pfund Messing.246

Die Ähnlichkeit zwischen dem „Messingkauf“ und dem Autokauf unterstützt erneut die These Müller-Schölls, dass Brecht mit dem Messingkauf an seine produktivsten Phase – des Fatzer-Fragments und der Lehrstücke – anknüpft.247 Der AlteisenHändler untersucht das Auto nach dem Alteisen-Wert wie der Messingkäufer die Trompete nach seinem Messing-Wert untersucht („nach dem Wert des Messings“). „Alteisen-Wert“ wird bezüglich des Autokaufs synonym für den „Materialwert“ verwendet. An Texte muss man folglich herangehen wie an ein altes Auto und sich fragen, was an ihnen noch funktioniert, was zu anderen Zwecken wiederverwendet werden kann. Überträgt man nun diese Überlegungen auf die Rolle des Philosophen im Theater, ist der Messing-Wert der Trompete deren Materialwert; der Philosoph untersucht also nicht nur das Material des Theaters, sondern dessen Materialwert, d. h. das, was für den heutigen Tag noch verwertbar ist. Es ist ein Prozess des kritischen Verwerfens und Aneignens. Das Theater ist sicherlich kein ‚Text‘ im engen Sinne, es gilt aber, den Materialwert des Theaters wie den des Textes herauszulesen, zu entscheiden, was beibehalten werden sollte und was nicht, und was heute dem „öffentlichen Interesse“248 dienen kann und was nicht. Aber warum der „Messingkauf“ und nicht einfach der „Autokauf“? Warum ausgerechnet die Trompete? Warum das Messing? Zur Entzifferung der „Messingkauf“-Metapher schreibt Barnett, dass der Titel des Textes is derived from the Philosopher’s analogy of going to a brass band not to buy a trumpet but to buy the brass itself. His point is that he is interested in the raw material which, in the case of the band, has only been used for one specific end when it could be used for other ones.249

Barnett hat insofern Recht, als für die Theaterleute am Anfang ihrer Begegnung mit dem Philosophen nur ein Theater infrage kommt, das mit einem ganz bestimmten Zweck verbunden ist, obwohl es auch mit einem anderen Zweck versehen werden 245

Kleiner Rat, Dokumente anzufertigen. In: BFA 21, S. 163–165, hier: S. 164 f. BFA 22.2, S. 778. 247 Vgl. Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 34. 248 BFA 22.2, S. 705, 708. 249 Barnett: Brechtian Theory as Practice 2011, S. 7, Fußnote 7. 246

5.4 Denkverfahren: Materialwert und Messing

157

könnte. Aber dass Brecht im Messingkauf nicht beim Auto-Beispiel des FatzerFragments bleibt, sondern sich für die musische Analogie der Trompete entscheidet und sich somit wieder im Kunstbereich ansiedelt, scheint für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung zu sein. Es ist ein Schritt ‚zurück‘ von einer bloßen Betrachtung der Bestandteile des Theaters hin zu einer gleichzeitigen Betrachtung seiner Mittelbarkeit. So sagt der Philosoph: „Klipp und klar: ich suche ein Mittel, Vorgänge unter Menschen zu bestimmten Zwecken nachgeahmt zu bekommen, höre, ihr verfertigt solche Nachahmungen, und möchte nun feststellen, ob ich diese Art Nachahmungen brauchen kann.“250 Es geht um die Mittelbarkeit und die Verweisungsfähigkeit des Theaters. Müller-Schöll untersucht die Metapher des Messinghändlers und kommt über die Bestimmung des Messings als dasjenige Material, das im Theater als „Theatergold“ bezeichnet wurde, zu dem Schluss, dass es im übertragenen Sinne nicht nur für das Material des Theaters steht, sondern auch für Anderes [. . . ], dass es verweist. Messing kann als Allegorie von Ideologie im beschriebenen Sinne bezeichnet werden: Es ist für die Funktionen, in denen es eingesetzt wird, die Illusion des Goldes etwa, notwendig und doch zugleich eine Form der (Augen-)Täuschung, des Betrugs, kurz: es steht für das Theaterhafte am Theater.251

Brechts Arbeit am Materialwert stirbt also nicht in den 1920er Jahren, sondern wird im Messingkauf zu einem radikaleren Versuch – ‚radikal‘ im wortwörtlichen Sinne von ‚an die Wurzel gehend‘252 – nicht nur einen Text auf seine Brauchbarkeit hin zu lesen, sondern das gesamte Theater als Gewebe von Texten und Diskursen, das Dispositiv des Theaters, der Lektüre zu unterziehen.253 In der Materialwertuntersuchung des Messingkaufs wird im Theater das Theater selbst als bürgerliches Erbe auf den Prüfstand gestellt. Nun gilt es herauszustellen, welche Schauplätze der bürgerlichen Theatergeschichte im Messingkauf einer solchen Untersuchung unterzogen werden.

250

BFA 22.2, S. 778. Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 46. 252 Doerte Bischoff schreibt in Bezug auf Jacques Derridas „radicalism in notions of language and identity“ in seinem Text Monolingualism of the Other, Or, the Prosthesis of Origin: „[R]adicalism here does not mean the assertion of an essential truth in or about language, but rather refers to a process of reading metaphors and discursive patterns centering on ‚roots‘ (Lat. radix: root) that upsets a powerful tradition of ontologizing and naturalizing monolingualism.“ (In: Doerte Bischoff: „Sprachwurzellos“. Reflections on Exile and Rootedness. In: Sabine Sander (Hg.): Language as Bridge and Border. Linguistic, Cultural, and Political Constellations in 18th to 20th Century German-Jewish Thought. Berlin: Hentrich & Hentrich 2015, S. 195–213, hier: S. 201 f.) 253 Vgl. Abschnitt 7.2. 251

6

Schauplätze des Theaters

Bevor der Philosoph überhaupt spricht, wissen wir aus dem Personenverzeichnis und den Metatexten, dass er „gekommen [ist], um sich mit den Theaterleuten zu unterhalten“:1 Er „wünscht das Theater rücksichtslos für seine Zwecke zu verwenden. Es soll getreue Abbilder der Vorgänge unter den Menschen liefern und eine Stellungnahme des Zuschauers ermöglichen.“2 Das „Interessengebiet des Philosophen“ sei „die Nachahmung von Vorfällen aus dem menschlichen Zusammenleben“.3 Zu seinen Absichten selbst sagt der Philosoph in der ersten Arbeitsphase nicht viel mehr, außer dass er sich ein Theater zur Demonstration des Zusammenlebens der Menschen wünscht: PHILOSOPH Die Wissenschaft sucht auf allen Gebieten nach Möglichkeiten zu Experimenten oder plastischen Darstellungen der Probleme. Man macht Modelle, welche die Bewegungen der Gestirne zeigen, mit listigen Apparaturen zeigt man das Verhalten der Gase. Man experimentiert auch an Menschen, jedoch sind hier die Möglichkeiten der Demonstration sehr beschränkt. Mein Gedanke war es nun, eure Kunst der Nachahmung von Menschen für solche Demonstrationen zu verwenden. Man könnte Vorfälle aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen, welche der Erklärung bedürftig sind, nachahmen, so daß man diesen plastischen Vorführungen gegenüber zu gewissen praktisch verwertbaren Kenntnissen kommen könnte.4

Dass es diese Nachahmungen sind, die den Philosophen interessieren, wird in einem weiteren Metatext der zweiten Arbeitsphase erneut festgehalten,5 bevor der Philosoph sein Vorhaben in der langen Expositionsszene B115 zum ersten Mal etwas ausführlicher – aber immer noch ziemlich ungenau – detailliert:

1

BFA 22.2, S. 695. BFA 22.2, S. 696. 3 BFA 22.2, S. 702. 4 BFA 22.2, S. 715. 5 „a | Den Philosophen interessieren die Nachahmungen.“ (BFA 22.2, S. 767.) 2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_6

159

160

6 Schauplätze des Theaters DER PHILOSOPH An eurem Theatermachen interessiert mich, daß ihr mit eurem Apparat und eurer Kunst Vorgänge nachahmt, welche unter den Menschen stattfinden, so daß man sich bei euch dem wirklichen Leben gegenüber glauben kann. Da mich die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen interessiert, interessieren mich auch eure Nachahmungen desselben.6

Es ist nicht nur sein Interesse, das den Nachahmungen von der Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen gilt: „Ich benötige [. . . ] Nachahmungen von Vorfällen aus dem Leben für meine Zwecke“7 – vermutlich dieselben Zwecke, für die er im ersten Metatext der ersten Arbeitsphase das Theater „rücksichtslos“ verwenden möchte: DER DRAMATURG Was sind denn das für geheimnisvolle Zwecke? DER PHILOSOPH lachend: Oh, ich wage es kaum zu sagen. Sie werden euch vielleicht recht banal und prosaisch vorkommen. Ich dachte mir, man könnte die Nachahmungen zu ganz praktischen Zwecken verwenden, einfach, um die beste Art, sich zu benehmen, herauszufinden. Ihr versteht, man könnte aus ihnen so etwas machen, wie die Physik es ist (die es mit mechanischen Körpern zu tun hat), und daraus eine Technik entwickeln.8

Diesen und ähnlichen Passagen entnehmen viele Interpret*innen, dass es dem Philosophen darum geht, ein wissenschaftliches Theater zu gründen. Hecht schreibt beispielsweise, dass der Philosoph „untersucht, inwieweit die Wissenschaft ins Theater eingeführt werden kann“;9 und Mayer behauptet, dass es Brechts Anliegen im Messingkauf sei, die Kunst „in den Dienst der wissenschaftlichen Aufklärung zu stellen“;10 während es für Müller um „die Vermittlung des Theaters mit dem wissenschaftlichen Denken der Neuzeit“11 geht; Martin Puchner vom „scientific theater imagined by the philosopher“12 schreibt; und Luckhurst ausgehend von „[t]he Dramaturg’s conversion to the ‚scientific‘, Marxist laws of epic theatre“ argumentiert.13 Thiele konstatiert jedoch zu Recht, dass „jene krude Vorstellung vom wissenschaftlichen Theater, das Brecht propagiert haben soll“ eins der „hartnäckigsten Mißverständnisse der Forschung“ sei:14 „Wo oberflächliche Kritiker wissenschaftliches Theater sehen, sieht Brecht vielmehr ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters [. . . ].“15 Dieser Unterschied ist ein wichtiger: Wie wir gesehen haben, ist bereits im Personenverzeichnis vermerkt, dass die Theaterleute ebenfalls „an den Bemühungen um ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ teilgenommen haben.16 Die Redewendung „wissenschaftliches Zeitalter“ 6

BFA 22.2, S. 773. BFA 22.2, S. 779. 8 BFA 22.2, S. 779. 9 Hecht: Die Trompete und das Messing 1972, S. 115. 10 Mayer: Dramaturgische Positionen 1979, S. 124. 11 Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 37. 12 Puchner: The Drama of Ideas 2007, S. 109. 13 Luckhurst: Dramaturgy 2006, S. 114. 14 Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 340. 15 Ebd., S. 341. 16 BFA 22.2, S. 695. 7

6 Schauplätze des Theaters

161

beschreibt somit den geschichtlichen Schauplatz des Messingkaufs, nicht das Ziel des Gesprächs. Sie trägt folglich den technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den damit einhergehenden veränderten Lebensverhältnissen und Rezeptionsbedingungen der Zuschauenden dieses Zeitalters Rechnung. Brecht fasst diesen Zustand in seinem Text „Volkstümlichkeit und Realismus“ 1938 zusammen: „Es verändert sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muß die Darstellungsart sich ändern.“17 Dass die Bemühungen der Theaterleute am Theater des wissenschaftlichen Zeitalters gescheitert sind, weist darauf hin, dass das bisherige Theater diesem Zeitalter nicht gewachsen ist. Den Änderungen ist es nicht nachgekommen. Der Philosoph mag sich für die Wissenschaft und für wissenschaftliche Darstellungsverfahren interessieren, dennoch kennzeichnet er mit der Redewendung „Zusammenleben der Menschen“ und seinem Ziel, „die beste Art, sich zu benehmen, herauszufinden“, vielmehr sein Interesse und den Zweck seiner Untersuchungen als gewissermaßen ethische. Der Philosoph wünscht sich ein Theater, mit dem der grundsätzlichsten ethischen Frage nachgegangen werden kann: Was sollen wir tun?18 Diese Frage ist eine „Form des Fragens, die mehr will als bloß erkennendes Erfassen des Wirklichen [. . . ]“,19 was in der dargestellten Welt des Messingkaufs die Aufgabe des naturalistischen Strebens der jüngsten Theatervergangenheit gewesen ist. Das Theater, das er sucht, soll jedoch keine allgemeine Antwort auf diese Frage bieten – es soll keine Institution der Moralphilosophie bilden. Dessen Zweck ist vielmehr ein in dem Sinne ethischer, als er die kritische Prüfung der Richtigkeit von Handlungen und Handlungszwecken ermöglichen,20 d. h. den Prozess des kritischen Fragens selbst in Gang setzen soll. Des Weiteren wird Ethik hier wie im husserlschen Sinne als Ethik der Gemeinschaft verstanden,21 was nicht zuletzt in der wiederholt verwendeten Redewendung „Zusammenleben der Menschen“ im Plural statt des singulären ‚Lebens des Menschen‘, des Protagonisten widergespiegelt wird. Der Philosoph möchte also wissen, wie das Theater unter den veränderten Verhältnissen des wissenschaftlichen Zeitalters als Kunstpraxis zum Zweck der ethischen Untersuchung des gemeinschaftlich-menschlichen Zusammenlebens verwendet werden kann, „um die beste Art, sich zu benehmen, herauszufinden.“22 So soll in den folgenden Kapiteln anhand verschiedener theaterhistorischer und -theoretischer Schauplätze – wie derjenigen der Einfühlung, der vierten Wand, des Schicksals, des Naturalismus, des Realismus und nicht zuletzt des Menschen – demonstriert werden, wie das zuvor diskutierte Denkverfahren des Philosophen als Materialwertuntersuchung des Theaters angewendet wird, um die Aufgaben eines kommenden Theaters Gestalt annehmen zu lassen, das in der Lage wäre, diesen Zweck zu erfüllen. 17

Volkstümlichkeit und Realismus [1]. In: BFA 22.1, S. 405–413, hier: S. 410. Vgl. Nicolai Hartmann: Ethik. Berlin: De Gruyter 1962, S. 1. 19 Ebd. 20 Vgl. Henning Peucker: Einleitung des Herausgebers. In: Edmund Husserl: Einleitung in die Ethik. 2004, S. XXI. 21 Vgl. Husserl: Einleitung in die Ethik 2004, S. 13. 22 BFA 22.2, S. 779. 18

162

6 Schauplätze des Theaters

6.1 Einfühlung und Egologie Indem über das Theater immer wieder anhand des definiten Singularartikels gesprochen wird, wird verdeutlicht, dass es den Figuren des Messingkaufs zumindest anfangs nur um dieses eine Theater geht und gehen kann. Obwohl in der Forschung das in den Diskussionen besprochene und kritisierte Theater als das „bürgerliche Theater“ oder das „aristotelische Theater“ bezeichnet wird – vermutlich, weil es die Aufmachung von Dichotomien wie bürgerlich/radikal oder aristotelisch/nichtaristotelisch bzw. anti-aristotelisch und binäre Argumentationsstränge erleichtert –, ist die Sache ein wenig komplizierter. Das im Messingkauf besprochene Theater ist das alte, bürgerliche, aristotelische und naturalistische Theater zugleich. Diese Attribute werden – wenn sie überhaupt verwendet werden – an verschiedenen Stellen unterschiedlich gewichtet. Vereint werden sie aber als das Theater, das wie eine Art Dachbegriff zur Ausübung von (der oft polemischen) Kritik funktioniert. Darüber hinaus wird das Theater zwar an einer Stelle als „aristotelische[s] Theater“23 beschrieben (und gerne in der Forschung als solches diskutiert), man muss jedoch vorsichtig sein. Denn obwohl Brecht sich mit der aristotelischen Theorie durchaus auseinandersetzt, verweist der Begriff „aristotelisch“ in diesem Fall auf das bürgerliche, im 18. Jahrhundert von Diderot ins Leben gerufene Theater, vor allem in seiner lessingschen Überlieferung, weshalb das Theater teilweise das Attribut „bürgerlich“ erhält.24 Im Text „Über experimentelles Theater“, der zum gleichen Zeitpunkt wie die Erstaufnahme der Arbeit am Messingkauf entsteht,25 bringt Brecht Diderot und Lessing zusammen als die zwei großen Vertreter der „revolutionäre [n] bürgerliche[n] Ästhetik“, die das Theater „als eine Stätte der Unterhaltung und Belehrung“26 definieren. Lessing wird im Messingkauf nicht beim Namen genannt, aber die wiederholten Behandlungen von „Furcht“ und „Mitleid“ – der lessingschen Übersetzungen der aristotelischen Kategorien – weist darauf hin, dass Lessing durchaus implizit im Spiel ist. Die Ausführungen u. a. zur vierten Wand weisen auf Diderots Stellenwert ‚hinter den Kulissen‘,27 der namentlich einmal vorkommt in einer Passage aus der ersten Nacht der ersten Arbeitsphase: „DRAMATURG Diderot, ein großer revolutionärer Dramaturg, hat gesagt, das Theater solle der Unterhaltung und der Belehrung dienen.“28 Einer der wichtigsten im Messingkauf behandelten theoretisch-historischen Schauplätze des bisherigen Theaters ist der Komplex Furcht-Mitleid-Einfühlung, der an vielen verschiedenen Stellen thematisiert wird. In einem Dialog der zweiten Arbeitsphase erklärt der Dramaturg beispielsweise dem Philosophen die aristo23

BFA 22.2, S. 785. BFA 22.2, S. 785. Lessing wird nie namentlich erwähnt, es erfolgt aber ein Verweis auf Nathan der Weise, vgl. BFA 22.2, S. 706. 25 „Über experimentelles Theater“ entsteht den Herausgeber*innen der BFA zufolge im März und April 1939 (vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1069); Brecht beginnt die Arbeit am Messingkauf Anfang 1939. 26 BFA 22.1, S. 546. 27 Vgl. die Ausführungen zur vierten Wand in Abschnitt 6.1. 28 BFA 22.2, S. 706. 24

6.1

Einfühlung und Egologie

163

telische Theatertheorie, die einem bestimmten Zweck folge, nämlich „durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung von [gewissen] Gemütsstimmungen“ zu bewirken:29 DER DRAMATURG [. . . ] Also handelt es sich um Nachahmungen deiner Vorfälle aus dem Leben, und die Nachahmungen sollen bestimmte Wirkungen auf das Gemüt ausüben. Das Theater hat sich, seit Aristoteles dies schrieb, oft gewandelt, aber kaum in diesem Punkt. Man muß annehmen, daß es, wandelte es sich in diesem Punkt, nicht mehr Theater wäre. DER PHILOSOPH Du meinst, man kann eure Nachahmungen nicht gut von den Zwecken trennen, die ihr damit verfolgt? DER DRAMATURG Unmöglich. DER PHILOSOPH Ich benötige aber Nachahmungen von Vorfällen aus dem Leben für meine Zwecke. Was machen wir da? DER DRAMATURG Von ihrem Zweck getrennt ergäben die Nachahmungen eben nicht mehr Theater, weißt du?30

Die Zuweisung dieses Zwecks als derjenige, der das Theater zum Theater macht, verankert das bisherige Theater in einer Tradition, die hier auf Aristoteles zurückgeht, unabhängig seiner ästhetischen Manifestation zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten: Der gemeinsame Nenner aller ästhetischen Bewegungen und Strömungen sei eben der Zweck der Erregung von Furcht und Mitleid und der anschließenden Reinigung. Ohne diesen Zweck sei das Theater nicht mehr Theater; das Theater sei vielmehr fundamental gebunden an diesen Zweck. Genauer betrachtet handelt es sich hier um die Affektökonomie der Tragödie, um eine verkürzte Darstellung des Zwecks ‚des‘ Theaters der letzten 2500 Jahre. Um jedoch nachvollziehen zu können, wie dieser Zweck der Argumentation des Messingkaufs nach im bisherigen Theater erfüllt wird, wenden wir uns jetzt Lessing zu. Für Lessing entspringt die Furcht, aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst [. . . ]; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.31

Der Zuschauer muss demnach befürchten, dass es ihm selbst wie der auf der Bühne dargestellten Figur gehen könnte, denn ohne den Selbstbezug des Zuschauers hätte die Furcht keine Wirkung. Es geht um die Herstellung von Identität auf der Bühne, und die Bedingung hierfür ist die „totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven.“32 Diese Identität oder Indifferenz wird durch den Akt der Einfühlung seitens des Zuschauers mit der vom Schauspieler dargestellten Figur hergestellt. 29

BFA 22.2, S. 778 f. BFA 22.2, S. 779. 31 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Zweiter Band. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 6. Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 443–694, hier: S. 556 f. 32 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. IV. Allgemeine Übersicht 1797–1798. Hg. v. Hans Michael Baumgartner. Stuttgart: Frommann-Holzboog 1988, S. 361 f. 30

164

6 Schauplätze des Theaters

Damit sich der Zuschauer in die vom Schauspieler dargestellte Figur hineinfühlen kann, muss der Schauspieler sich ebenfalls in diese Figur einfühlen und sein Umfeld dabei vergessen. Wenn der Schauspieler (oder der Autor) den Zuschauer überhaupt in Betracht zieht, hat, so Diderot, „der Verfasser seinen Vorwurf verlassen, so ist der Schauspieler aus seiner Rolle gesetzt, und sie steigen beide von der Bühne herab. Ich sehe sie im Parterre, und solange die Tirade dauert, ist die Handlung für mich unterbrochen, und die Bühne bleibt leer.“33 Für Schiller und später auch Stanislawski muss der Schauspieler nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst vergessen, damit sich „die Geschöpfe der Phantasie im Spieler verkörpern.“34 Das Theater stützt sich, wie Roland Barthes schreibt, auf ein 2500-jähriges Credo, das folgendermaßen lautet: „Je tiefer das Publikum gerührt ist, um so mehr identifiziert es sich mit dem Helden, je mehr die Bühne die Handlung nachahmt und je mehr der Schauspieler seine Rolle verkörpert, um so magischer ist das Theater und um so besser die Aufführung.“35 Es geht im Messingkauf also um die Einfühlung, die in einer um 1942/1943 entstandenen, mit „Einfühlung“ betitelten Passage ohne Figurenzuordnung folgendermaßen beschrieben wird: Durch einen besonderen psychischen Akt der Einfühlung in die darzustellende Person bringt es der Schauspieler zu minutiösen Imitationen der Reaktionen lebender Menschen. Dieser psychische Akt besteht aus einer tiefen Selbstversenkung, in welche der Schauspieler sich in die Seele der darzustellenden Person „einlebt“, sich selbst so restlos in diese Person verwandelnd, welcher Akt, richtig ausgeführt, vom Zuschauer dann mitgemacht wird, so daß auch dieser sich restlos in die vorgeführte Person einleben kann.36

Diese Passage thematisiert sowohl die absolute Identität, die zwischen Schauspieler, Zuschauer und Figur entstehen soll, als auch die psychologische Dimension der Darstellungen im bisherigen Theater als den „psychischen Akt der Versenkung“ und durch die Erwähnung der „Seele“ der darzustellenden Figur. Um 1945 wird dieser psychologische Aspekt des Theaters folgendermaßen beschrieben: Als die Stückeschreiber lange, ruhige Akte mit viel Seele bauten und die Optiker gute Gläser lieferten, nahm die Mimik einen heftigen Aufschwung. Jetzt passierte viel in den Gesichtern, sie wurden zu Seelenspiegeln und mußten darum möglichst stillgehalten werden, so daß die Gestik verkümmerte. Es kam auf die Empfindungen an, die Leiber waren nur Gefäße der Seelen.37

33

Denis Diderot: Dorval und ich. In: Ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 1, S. 159–238, hier: S. 182 f. Friedrich Schiller: Über das gegenwärtige teutsche Theater. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. v. Wolfgang Riedel. München: Hanser 2004, S. 811–818, hier: S. 815; vgl. auch Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Übers. v. Ruth Elisabeth Riedt. Berlin: Das europäische Buch 1983. 35 Roland Barthes: Die Brechtsche Revolution. In: Ders.: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Schriften zum Theater. Hg. v. Jean-Loup Rivière. Übers. v. Dieter Hornig. Berlin: Alexander 2002, S. 275–277, hier: S. 275. 36 BFA 22.2, S. 785. 37 BFA 22.2, S. 821. 34

6.1

Einfühlung und Egologie

165

Was in dieser Passage auffällt, ist der Zusammenhang zwischen der Thematisierung der Seele und der Beschreibung des Aufkommens der Optiker. Obwohl die Implikation hier ist, dass die Optiker besonders gute Gläser für die Beobachtung des Bühnengeschehens bzw. der Mimik lieferten, gibt es zusammen mit dem Verweis auf die innere Psychologie der dargestellten Figuren („Seelenspiegel“, „Empfindungen“) auch einen impliziten Verweis auf das Aufkommen des Mikroskops, von denen die ersten ebenfalls von Optikern angefertigt wurden. Mit der Erfindung des Mikroskops im 17. Jahrhundert konnte man endlich ins wortwörtliche Innere des Menschen hineinschauen und den Menschen von seinen inneren Funktionen her bestimmen,38 was sehr vereinfachend gesagt auch der Aufgabe der Psychologie entspricht. Auf der Bühne des oben beschriebenen Theaters wird also das innere Seelenleben, die innere Substanz, die innere psychologische Funktion der Figur durch die Mimik ausgedrückt. In Bezug auf den Begriff des Ausdrucks, der expression, schreibt Samuel Weber: Ausdruck zum höchsten Wert zu erheben, bedeutet mehr oder weniger offen die Priorität des Innerlichen über das Äußerliche, des Selbst über das Andere, des Gleichen über das Unterschiedliche zu bestätigen [. . . ]. Denn die Ermahnung „sich auszudrücken“ [. . . ] läuft letztlich immer auf eine Rechtfertigung und Bestätigung schon bestehender Machtbeziehungen hinaus, welche die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche aufrechterhält.39

Das Theater, das im Messingkauf auf seinen Materialwert hin untersucht wird, ist also ein Theater der Egologie,40 das jegliche Exteriorität und Differenz auslöschen muss, um die erwünschten Wirkungen zu erzielen. Um diese Wirkungen erfolgreich generieren zu können, muss das Selbe das Andere dominieren und das Andere folglich ausgelöscht werden. In der reinen Indifferenz, der Interiorität des Theaters verschmelzen alle – Schauspieler, Figur, Zuschauer – ineinander. Dieser Prozess stellt aus der Masse ein Subjekt – eine Klasse – sei es die bürgerliche oder die proletarische –, eine Masse, eine Menschheit – heraus. Subjektivität kann in diesem Theater immer nur auf sich verweisen, nie auf ein Anderes, und schließt dabei das Andere gewalttätig aus. In diesem Theater muss das, „was das Ich nicht selbst sei, aus dem Ich abgeleitet werden.“41 Die Interiorität des Theaters wird durch die Technik der vierten Wand räumlich bekräftigt, die in folgender Passage thematisiert wird:

38

Vgl. Gunnar Schmidt: Von Tropfen und Spiegeln. Medienlogik und Wissen im 17. und frühem 18. Jahrhundert. In: Marianne Schuller und Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld 2003, S. 33–57, hier: S. 35 f. 39 Samuel Weber: Die denkende Bühne. In: Gabriel und Müller-Schöll (Hg.): Das Denken der Bühne 2019, S. 249–272, hier: S. 262 f. 40 Vgl. Emmanuel Levinas: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen. In: Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Hg. und übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München: Karl Alber 1987, S. 185–208, hier: S. 189. 41 Bernhard H. F. Taureck: Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg: Junius 1997, S. 25.

166

6 Schauplätze des Theaters DER DRAMATURG Wie ist es mit der vierten Wand? DER PHILOSOPH Was ist das? DER DRAMATURG Für gewöhnlich spielt man so, als ob die Bühne nicht nur drei Wände, sondern viere hätte; die vierte da, wo das Publikum sitzt. Es wird ja der Anschein geweckt und aufrechterhalten, daß, was auf der Bühne passiert, ein echter Vorgang aus dem Leben ist, und dort ist natürlich kein Publikum. Mit der vierten Wand spielen heißt also so spielen, als ob kein Publikum da wäre. DER SCHAUSPIELER Du verstehst, das Publikum sieht, selbst ungesehen, ganz intime Vorgänge. Es ist genau, als ob einer durch ein Schlüsselloch eine Szene belauscht unter Leuten, die keine Ahnung haben, daß sie nicht unter sich sind. In Wirklichkeit arrangieren wir natürlich alles so, daß man alles gut sieht. Dieses Arrangement wird nur verborgen.42

Gleichwohl Diderots eigene Theaterkonzeption auf der emotionalen Distanz und somit Nicht-Identität zwischen Schauspieler und Figur beruht – was ihn neben seinem Status als ‚bürgerlicher Theaterrevolutionär‘ für Brecht so interessant machte43 –, beschreibt Diderot in „Von der dramatischen Dichtkunst“ die Technik der vierten Wand zum ersten Mal: Man denke [. . . ], sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebensowenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rand der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.44

Um eine Realität auf der Bühne zu repräsentieren, muss sich demnach das Theater der Illusion bedienen, um den Zuschauer vergessen zu machen, dass das, was er betrachtet, eine Darstellung der Realität und nicht die Realität selbst ist. Die vierte Wand dient mithin der Einheit der als geschlossen dargestellten Welt und ist eine neuzeitliche Interpretation eines aristotelischen Grundsatzes. Obwohl Aristoteles wenig von der Inszenierung der Tragödie hält („sie ist das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun“45 ), ist die Tragödie für ihn „die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung“.46 Bernhard Waldenfels beschreibt den Wandel der Raum-Episteme der Frühen Neuzeit von derjenigen des Kosmos, bei der „jedem Seienden sein eigentümlicher Ort [. . . ] zugewiesen sei“,47 zu derjenigen des homogenen und berechenbaren spatium, „in dem die Dinge eine bestimmte Ausdehnung haben, bestimmte Abstände einhalten und sich in bestimmte Richtungen bewegen.“48 Übertragen auf das Theater ist die logische Konsequenz dieser Wandlung des Denkens im Bereich des Theaters, wie Müller-Schöll schreibt, 42

BFA 22.2, S. 802. Für eine ausführliche und nuancierte Auseinandersetzung mit den Ähnlichkeiten der beiden Theaterdenker Diderot und Brecht siehe: Phoebe von Held: Alienation and Theatricality. Diderot after Brecht. London: Legenda 2011. 44 Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst 1967, S. 284. 45 Aristoteles: Poetik. Hg. und übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 25. 46 Aristoteles: Poetik 1994, S. 25. 47 Bernhard Waldenfels: Topographie der Lebenswelt. In: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 69–84, hier: S. S. 70; vgl. Müller-Schöll: Raum-zeitliche Kippfiguren 2014, S. 232. 48 Waldenfels: Topographie der Lebenswelt 2007, S. S. 70. 43

6.1

Einfühlung und Egologie

167

[d]ie in der Vorstellungswelt der Spieler von einer Mauer, der vierten Wand, abgeschlossene, in der Bühnenarchitektur durch das Proszenium, das Bühnenportal und den Eisernen Vorhang ausgedrückte [. . . ] Guckkastenbühne. Der Eindruck der Realität, ja der Glaube, ihr unvermittelt auf der Bühne begegnen zu können, baut, entsprechend des Paradigmas des Spatiums, darauf auf, dass sich alles, was auf dieser Bühne erscheint, isoliert betrachten lässt, nichts einen eigenen Ort hat, an dem es sich wiederfindet, oder „einen gemeinsamen Ort, den es mit anderen teilt.“49

Es geht also nicht nur darum, den Zuschauer vergessen machen zu lassen, dass das, was er sieht, ‚nur‘ die Darstellung der Realität ist, sondern darum, ihn vergessen machen zu lassen, dass es überhaupt eine Realität außerhalb bzw. außer der fiktionalen Realität hinter der vierten Wand gibt. Damit die Illusion der Wirklichkeit funktioniert, soll die Realität der Theater-Situation verwischt werden – das Publikum soll der Illusion verfallen, es sitze vor einer geschlossenen Welt auf der Bühne, dass die Realität des Theaters seiner eigenen Realität entspricht. Die ununterbrochene Illusion fordert indes die ununterbrochene Aufmerksamkeit,50 was dazu führt, dass das Publikum stundenlang im Dunkeln stillsitzt, um die langen, komplexen Fabeln in ihrer Gesamtheit nachvollziehen zu können. In seiner Kulturgeschichte des Publikums im 19. Jahrhunderts Von der Schaubühne zur Sittenschule demonstriert Roland Dreßler wie die vierte Wand und das Guckkasten-Modell nicht nur der Illusion dienen, sondern auch der Disziplinierung der Gesellschaft: Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts werden die Zuschauer in der „Sittenschule“ des bürgerlichen deutschen Nationaltheaters „zum Schweigen gebracht,“ wörtlich „entmündigt“.51 Die vierte Wand wird mit der Zeit zum illusionistischen „frontale[n] Dispositiv“,52 in dem der Zuschauer, mit den Worten des Philosophen, „gebannt“ nach vorne schaut.53 Die Interiorität und Identität des egologischen Theaters spitzt sich zu in einer, wie Brecht in seinen „Anmerkungen zur ‚Dreigroschenoper‘“ schreibt, „Manier, alles einer Idee unterzuordnen, die Sucht, den Zuschauer in eine einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er nicht nach rechts und links, nach unten und oben schauen kann“.54 In einem der ersten Nacht zugeordneten Metatext aus der zweiten Arbeitsphase steht: Beschreibung aristotelischen Theaters. Unmöglichkeit einer kritischen Haltung. Durch Hineinversetzen in einen Menschen das Getriebe nicht mehr zu überblicken, selbst wenn es nicht der bürgerliche Mensch wäre. Der herrschende Mensch. Das Getriebe zu handhaben von diesem Standpunkt aus unmöglich.55 49 Müller-Schöll: Raum-zeitliche Kippfiguren 2014, S. 232; Müller-Schöll zitiert: Waldenfels: Topographie der Lebenswelt 2007, S. 70. 50 Vgl. Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin: Henschel 1993, S. 169. 51 Szondi: Theorie des modernen Dramas 2011, S. 16. 52 Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy: Dialog über den Dialog. In: Joachim Gerstmeier und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung. Berlin 2006, S. 20–42, hier: S. 37. 53 BFA 22.2, S. 709. 54 BFA 24, S. 58 f. 55 BFA 22.2, S. 768.

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6 Schauplätze des Theaters

Um die oxymoronische ‚realistische Illusion‘ und damit seine Wirkung zu entfalten, muss das Theater in seiner bisherigen Manifestation seine Figuren so darstellen, dass der Zuschauer sich in sie einfühlt, und schließt dabei die Möglichkeit auf das Einnehmen einer kritischen Haltung seitens des Zuschauers aus. Der Zuschauer sieht und denkt nur das, was von ihm gewollt ist, schaut nur dahin, wo sein Blick hingeführt wird, was der Philosoph in einem Streit mit dem Schauspieler als ‚tyrannisch‘ beschreibt: „Auch von der Bühne herab fühle ich mich ständig tyrannisiert. Ich soll immer, wie du willst. Ohne daß ich Zeit habe, mir zu überlegen, ob ich will, wie du willst.“56 Oder, wie es in einem langen mit „Einfühlung“ betitelten essayistischen Text ohne Figurenzuordnung, ebenfalls aus der zweiten Arbeitsphase heißt: [D]urch eine besonders suggestive Nachbildung wird der Zuschauer veranlaßt, sich unmittelbar in die agierende Person einzuleben und damit seine Fragen zu unterlassen [. . . ]. Er gerät selber in Zorn oder Eifersucht, versteht sozusagen gar nicht mehr, wie man nicht in Zorn oder Eifersucht geraten könnte, und wird so desinteressiert am Kausalnexus dieser „natürlichen“ gegebenen, nicht weiter zu untersuchenden Emotionen.57

Hineingesaugt in das Geschehen, gebannt im Theatersaal hat der Zuschauer der Logik des Messingkaufs nach keinen Platz zum eigenständigen Denken. Er fühlt mit der vorgestellten Figur, denn er ist gewissermaßen für den Zeitraum der Vorstellung zu dieser Figur geworden. In den Diskussionen des Messingkaufs werden alle Strömungen des Theaters der vergangenen 200 Jahre – sei es der Klassizismus, der Realismus oder der Naturalismus – im Begriff des Theaters vereint, da sie sich unabhängig von ihren jeweiligen sozio-politischen bzw. literarisch-ästhetischen Programmen zum selben Zweck derselben Darstellungsmittel bedienen, die diese bestimmten Wirkungen auf die Zuschauenden auszuüben. Im Messingkauf reduziert Brecht das Theater auf diese wenigen Attribute – aristotelisch, bürgerlich, alt, naturalistisch –, um eine Art Feindbild oder Strohmann zu konstituieren, anhand dessen die Entwicklungen im Theater der vergangenen 200 Jahre meistens polemisch befragt werden können. Wichtig zu bemerken ist, dass es dieses Theater in einer solchen Form nie konkret gegeben hat – höchstens in theoretischen Abhandlungen, aber auch sie verschmelzen im Messingkauf ineinander. Auffallend ist zudem, dass die Komödie im Gegensatz zur Tragödie, die im Messingkauf von einer bestimmten Gattung zur Stellvertreterin des bürgerlichen Theaters an sich wird, beinahe außer Betracht gelassen wird. Die Komödie kommt jedoch an ein paar wenigen, fast zu übersehenen Stellen in den Metatexten vor als mögliches Thema der vierten Nacht (einmal nach „Chaplin“58 ). Es lässt sich mutmaßen, dass Brecht die Komödie aufgrund der ihr inhärenten Distanzierungsverfahren im Falle einer Bearbeitung für den Messingkauf als Teil eines kommenden Theaters herangezogen hätte. Und tatsächlich heißt es im ersten „Nachtrag“: „der v-effekt ist ein altes kunstmittel, bekannt aus der ko56

BFA 22.2, S. 783. BFA 22.2, S. 786. 58 BFA 22.2, S. 696. 57

6.1

Einfühlung und Egologie

169

mödie, gewissen zweigen der volkskunst und der praxis des asiatischen theaters.“59 Es ist auch wichtig, an dieser Stelle anzumerken, dass oft kein qualitativer Unterschied zwischen den verschiedenen Manifestationen gemacht wird – z. B. zwischen realistischen und naturalistischen Theaterdarstellungen –, d. h., dass es oftmals einen Mangel an begrifflichen Genauigkeiten im Messingkauf gibt (wobei auch die Forschung teilweise Schwierigkeiten damit hat, solche ästhetischen Strömungen auseinanderzuhalten).60 Man könnte einwenden, dass Brecht es sich mit dieser reduktionistischen Argumentationsstrategie zu leicht macht – und vielleicht tut er das tatsächlich. Man würde jedoch dabei den zeithistorischen Bezug verkennen, der sich hinter dieser Argumentationsstrategie verbirgt. In dem bereits erwähnten, aber noch nicht näher diskutierten Dialog „Über die Theatralik des Faschismus“, der drei Monate nach dem Beginn der Arbeit am Messingkauf entstand und dessen Aufnahme in den Messingkauf Brecht zunächst ebenfalls vorsah, werden die theatralen Züge der Auftritte des „Anstreichers“ Adolf Hitler und „das Repräsentative seines Benehmens“ von den Figuren Thomas und Karl ausführlich diskutiert. Für unsere Zwecke von Interesse beschreibt Thomas beispielsweise die Einfühlung beim Publikum, die von Hitler erzeugt wird, folgendermaßen: Du verstehst, wir müssen ihn da betrachten, wo er das Publikum dazu bringen will, sich in ihn einzufühlen und zu sagen: ja, so hätten wir auch gehandelt. Kurz, wo er als Mensch auftritt und das Publikum davon überzeugen möchte, seine Handlungen als einfach menschliche, selbstverständliche aufzufassen und ihm so gefühlsmäßig seinen Beifall zu schenken. Das ist sehr interessantes Theater. [. . . ] Es entsteht da die Einfühlung des Publikums in den Agierenden, die man für gewöhnlich als das wesentlichste Produkt der Kunst ansieht. Da ist dieses Mitreißen, dieses alle Zuschauer in eine einheitliche Masse Verwandeln, das man von der Kunst fordert.61

59

Journaleintrag vom 2. August 1940. In: AJ 1:137. Bernd W. Seiler bietet folgende prägnante Zusammenfassung des Unterschieds zwischen dem Realismus und dem Naturalismus im späten 19. Jahrhundert, indem er schreibt, dass „die Realismusidee zunächst einmal ein Programm, ein Anspruch war und daß sich dieser Anspruch über den ganzen realistischen Zeitraum hin gleichblieb. Im Prinzip sind es immer dieselben beiden Forderungen, die in der Programmatik des Realismus zusammenkommen. Die eine lautet auf Wirklichkeitsnähe, Lebensechtheit, Erfahrungstreue, Widerspiegelung der Alltagswelt usw., mit anderen Worten: sie besteht auf der Wiedergabe der wirklichen Erscheinungen oder doch jedenfalls darauf, daß die Darstellung diesen Erscheinungen nicht widerspricht. Die andere lautet auf Beispielhaftigkeit, Abrundung, Steigerung, Verdichtung, d. h. sie verlangt eine Art poetischen Mehrwert, der das gewöhnliche Bild der Erscheinungen gerade übersteigt und uns ihren höheren Sinn, ihr eigentliches Wesen enthüllt. Geht das eine zu Lasten des anderen, sind also entweder nur die Erscheinungen erfaßt und das Wesen ist nicht getroffen oder zeigt sich zwar etwas vom Wesen, aber die Erscheinungen stimmen nicht, so ist der Bereich des Realismus verlassen. Das gilt auch begrifflich. Die zu überhöhte, zu verwesentlichte Darstellung heißt idealistisch, die zu sehr den Erscheinungen verpflichtete naturalistisch.“ (Bernd W. Seiler: Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Vom Sinn des Realismus-Begriffs und der Geschichte seiner Verundeutlichung. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1989, S. 373–392, hier: S. 375.) Im Messingkauf werden sowohl die Idealisierungen des Realismus als auch die Objektivitätsansprüche des Naturalismus kritisiert. 61 BFA 22.1, S. 565. 60

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6 Schauplätze des Theaters

Dagegen wendet Karl ein: Ich muß dir sagen, daß mich diese Wendung ein wenig erschreckt. Es scheint mir, daß du jetzt das Erzeugen von Einfühlung mit aller Gewalt an die Darbietungen dieses zweifelhaften Menschen knüpfen willst, um sie in Verruf zu bringen. Es ist natürlich richtig, daß er auf solche Einfühlung ausgeht, aber darauf sind doch auch höchst treffliche Leute ausgegangen.62

Woraufhin Thomas erwidert: „Sicher, aber wenn sie in Verruf kommen sollte, so müßte wohl eher er als ich dafür verantwortlich gemacht werden.“63 Es folgt eine detaillierte Diskussion der „theatralische[n] Mittel“64 („allerlei Tricks“65 ), die von Adolf Hitler und den Nationalsozialisten verwendet werden, um das Volk auf ihre Seite zu ziehen. Der Text endet mit folgendem Austausch: Thomas: [. . . ] Wer sich in einen Menschen einfühlt, und zwar restlos, der gibt ihm gegenüber die Kritik auf und auch sich gegenüber. Anstatt zu wachen, schlafwandelt er. Anstatt etwas zu tun, läßt er etwas mit sich tun. Er ist jemand, mit dem andere leben und von dem andere leben, nicht einer, der wirklich lebt. Er hat nur die Illusion, dass er lebt, in Wirklichkeit vegetiert er. Er wird sozusagen gelebt. Darum ist die theatralische Darbietung, wie sie durch den Faschismus gegeben wird, kein gutes Beispiel eines Theaters, wenn man von ihm Darstellungen haben will, die den Zuschauern Schlüssel für die Bewältigung der Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens aushändigen. Karl: Es ist schwierig, zu diesem Schluß ja zu sagen. Er verwirft eine Praxis der Theater, die durch Jahrtausende geübt wurde. Thomas: Meinst du, die Praxis des Anstreichers ist neu?66

In diesem Text scheint Brecht also nicht nur die reduktionistische Argumentationsweise zu bedenken, sondern sehr bewusst einzusetzen. Das bisherige Theater wird hier von Thomas nicht nur dafür angeklagt, dass seine Verfahren auch von den Nationalsozialisten bzw. von Hitler selbst verwendet werden, sondern dafür, dass diese Verfahren ihnen überhaupt zur Macht verholfen haben, da die Einfühlung zwangsläufig aus dem Publikum eine einheitliche, totalisierte Masse herstellt. Die „theatralische Darbietung, wie sie durch den Faschismus gegeben wird,“ wird durch Thomas’ letzte Frage in die Liste „der Theater, die durch Jahrtausende“ gemacht wurden, aufgenommen. Ist für Karl die nationalsozialistische Instrumentalisierung theatraler Verfahren ein Abstecher in der Geschichte des Theaters, scheint sie andererseits für Thomas ihre logische Folge zu sein. Am 25. Juli 1945 schreibt Brecht in seinem Journal: „meinungen, die ich eher nicht teile: [. . . ] daß so etwas wie eine deutsche literatur die hitlerzeit überlebt hat“67 und bezieht sich dabei auf Diskussionen über die Aufgaben deutscher Exilant*innen bezüglich der Bewahrung oder Verteidigung einer für Brecht immer schon fragwürdigen und nun umso fragwürdiger gewordenen deutschen Kultur. In 62

BFA 22.1, S. 565. BFA 22.1, S. 565. 64 BFA 22.1, S. 567. 65 BFA 22.1, S. 566. 66 BFA 22.1, S. 569. 67 Journaleintrag vom 25. Juli 1945. In: AJ 2, S. 746. 63

6.1

Einfühlung und Egologie

171

diesem Sinne ist auch das bisherige Theater nicht nur strittig, sondern durch seine Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten kontaminiert; wer denke, das bisherige Theater sei irgendwie von dieser Kontaminierung zu lösen oder zu retten, liege falsch. Die Kritik am bisherigen Theater ist also nicht nur eine rein theatertheoretische, sondern eine Kritik an dessen Komplizenschaft mit dem Faschismus. Die ‚kämpferische Haltung‘ in der Argumentation des Exilanten Brechts zeugt folglich womöglich von einer (tages-)politischen Notwendigkeit. Im Messingkauf und dort in einem der Metatexte aus der zweiten Arbeitsphase mit dem Titel „BEGRÜSSUNG“ steht als Beispiel für die mannigfaltige Manifestationen des bisherigen Theaters, die alle unter demselben Zweck vereint werden, unter Punkt „c“ lediglich: „Das Theater nicht festgelegt. Viele Stile.“68 Von diesen „vielen Stilen“ berichtet der Dramaturg in folgender Passage, Teil der längeren Expositionsszene aus der zweiten Arbeitsphase (in der BFA B115):69 DER DRAMATURG Aber wir zeigen Banken, Kliniken, Ölfelder, Kriegsschauplätze, Slums, Milliardärvillen, Getreidefelder, Börsen, den Vatikan, Lauben, Schlösser, Fabriken, Konferenzzimmer, kurz, die ganze Wirklichkeit, die es gibt. Es werden bei uns Morde begangen. Kontrakte abgeschlossen Ehebrüche vollzogen, Heldentaten verrichtet, Kriege beschlossen, es wird gestorben, gezeugt, gekauft, gelästert, geschoben. Kurz, es wird das Zusammenleben der Menschen von allen Richtungen aus vorgeführt. Wir greifen nach jeder starken Wirkung, wir scheuen vor keiner Neuerung zurück, alle ästhetischen Gesetze sind längst über Bord geworfen. Die Stücke haben bald fünf Akte, bald fünfzig, mitunter sind auf einer Bühne gleichzeitig fünf Schauplätze aufgebaut, das Ende ist glücklich oder unglücklich, wir hatten Stücke, wo das Publikum das Ende wählen konnte. Außerdem spielen wir einen Abend stilisiert, den andern ganz natürlich. Unsere Schauspieler sprechen Jamben so geschickt wie den Jargon der Gosse. Die Operetten sind häufig tragisch, die Tragödien enthalten Songs. Den einen Abend steht auf der Bühne ein Haus, das in jeder Kleinigkeit, bis auf die letzte Ofenröhre, einem echten Haus nachgebildet ist, am nächsten deuten ein paar bunte Balken eine Weizenbörse an. Über unsere Clowns werden Tränen vergossen, vor unsern Tragöden hält man sich den Bauch. Kurz, bei uns ist alles möglich, ich möchte sagen: leider.70

Hier erstellt der Dramaturg eine gründliche Liste der Schauplätze, Handlungen, Stückzusammensetzungen, Darstellungsstile und Publikumsreaktionen, die im bisherigen Theater möglich sind. Er zeigt damit auf, dass abgesehen von diesen verschiedenen Faktoren das Ergebnis immer auf den gleichen Zweck hinausläuft. Diese verschiedenen Manifestationen scheinen alle vom ähnlichen Versuch zu zeugen, eine neue Art des Theaters – eines vielleicht, das dem wissenschaftlichen Zeitalter gewachsen ist – in Gang zu bringen. Diese Bemühungen aber werden alle scheitern, solange die Theaterleute verkennen, dass es eben dieser Zweck ist, der ihnen im Wege steht.

68

BFA 22.2, S. 767. BFA 22.2, S. 773 ff., B115. 70 BFA 22.2, S. 774 f. 69

172

6 Schauplätze des Theaters

6.2 Schicksal und Naturalisierung Bereits in Diderots Dramentheorie ist die Aufgabe des Dramatikers die realistische Wiedergabe der sozialen Umwelt.71 Einen Schlüsselbegriff dieser Theorie bildet das tableau, „[e]ine Stellung dieser Personen auf der Bühne, die so natürlich und so wahr ist, daß sie mir in einer getreuen Nachahmung des Malers auf der Leinwand gefallen würde.“72 Diderot geht folglich vom Vermögen der Kunst aus, die Realität genau abzubilden, und auch im späten 19. Jahrhundert sieht der Naturalismus seine Aufgabe darin – sehr verallgemeinert gesagt –, die Welt, genau so wiederzugeben, wie sie ist. An den „Bemühungen um ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“,73 wie es in der Exposition des Messingkaufs heißt, haben die Theaterleute teilgenommen, und eben diese Bemühungen erweisen sich im Verlauf des Messingkaufs als solche um eine naturalistische Darstellung. In einigen zur gleichen Zeit entstandenen Texten aus der ersten Arbeitsphase schildern die Theaterleute ihre Versuche, Kritik an den herrschenden Verhältnissen anhand der Mittel des naturalistischen Theaters zu üben, um, wie der Dramaturg sagt, „dem Leben den Spiegel vorzuhalten.“74 Dennoch erweisen sich in ihren Berichten diese Mittel allmählich als gänzlich ungeeignet für ihren vermeintlich kritischen Zweck. In einer alleinstehenden Rede des Dramaturgen, die offenbar der in den ursprünglichen Metatexten vorgesehenen „Begrüßung des Philosophen auf dem Theater“75 entspricht, begrüßt der Dramaturg den Philosophen im Theater folgendermaßen: DRAMATURG Willkommen in den Häusern der fabrizierten Träume! Sieh hier die alte und neue Maschinerie, mittels der Täuschung bewirkt wird. Jedes Zeitalter steuerte einige Tricks bei. Seit die starken Lampen erfunden sind, können wir hier auch die Nacht darstellen. Die Technik der Perspektive, etwas älter, hat viel geholfen. Und in letzter Zeit die Projektion! Ja, mit all dem ist unsere Fähigkeit, Illusionen hervorzubringen, immerzu gewachsen. Diese Kulissen hier, so jämmerlich im kastrierten Probenlicht, erscheinen während des Spiels prächtiger als die wirklichen Säulen, deren Abbilder sie sind. Wir bauen unsere Theater fensterlos wie die Brauer ihre Lagerkeller, aber nur, um desto vollkommener den Tag und die Nacht ins Licht zu rücken.76 71

Vgl. Peter Szondi: Tableau und coup de théâtre. Zur Sozialpsychologie des bürgerlichen Trauerspiels bei Diderot. Mit einem Exkurs über Lessing. In: Ders.: Schriften. Bd. 2, S. 205–232, hier: S. 208. 72 Diderot: Dorval und ich 1967, S. 172. 73 BFA 22.2, S. 695. 74 BFA 22.2, S. 774. 75 Vgl. z. B. BFA 22.2, S. 695, 696, 697, 767. 76 BFA 22.2, S. 703; vgl. die Szene bei Shakespeare: QUINCE: Well, it shall be so. But there is two hard things: that is, to bring the moonlight into a chamber; for you know, Pyramus and Thisby meet by moonlight. SNOUT: Doth the moon shine that night we play our play? BOTTOM: A calendar, a calendar! Look in the almanac. Find out moonshine, find out moonshine. QUINCE: Yes, it doth shine that night. BOTTOM: Why, then may you leave a casement of the great chamber window, where we play, open, and the moon may shine in at the casement.

6.2 Schicksal und Naturalisierung

173

Die nahtlose naturalistische Illusion bedarf einer perfektionierten Technik. Der Dramaturg erzählt hier in seiner Begrüßungsrede eine Art technische Fortschrittsgeschichte, zu der „jedes Zeitalter einige Tricks“ beigetragen hat, inklusive den der Perspektive. Die wiederholte Erwähnung des technischen Vermögens, die Nacht darzustellen, könnte ein Verweis auf Shakespeares A Midsummer Night’s Dream sein, in dem Bottom und seine Komplizen versuchen, für ihre Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Thisby und Pyramus den Mond darzustellen, was im Stück als eins von „two hard things“ beschrieben wird. Dass es jetzt möglich ist, Tag und Nacht sogar vollkommener darzustellen als sie in Wirklichkeit sind, wird hier vom Dramaturgen als der Höhepunkt der technischen Errungenschaften des naturalistischen Illusionstheaters dargestellt. Die Rede über die Leistungen des Theaters zeigt, inwiefern das Theater am Anfang des Messingkaufs von den Theaterleuten als das teleologische Resultat einer langwährenden und linearen Fortschrittsgeschichte wahrgenommen wird. Ein wenig später jedoch in derselben Szene scheint der Dramaturg über die ‚Errungenschaften‘ des Theaters etwas kritischer reflektieren zu können: DRAMATURG [. . . ] Das Theater hat in den letzten Jahrzehnten alles getan, um dem Leben den Spiegel vorzuhalten. Es hat für seinen Ehrgeiz, zur Lösung der sozialen Fragen beizutragen, die größten Opfer gebracht. Es hat gezeigt, wie falsch es ist, daß die Frauen nur als Spielpuppen benutzt werden, daß die Kämpfe der einzelnen auf den Märkten bis in die Wohnungen gedrungen sind und die Ehen zu Kriegsschauplätzen gemacht haben, daß das Geld, mit dem die Reichen ihre Kinder zu Kulturmenschen erziehen lassen, davon stammt, daß anderer Eltern Kinder an das Laster verkauft werden und vieles mehr. Und es hat für diese Dienste, die es der Gesellschaft geleistet hat, damit bezahlt, daß es beinahe alle Poesie eingebüßt hat. Es hat darauf verzichtet, auch nur eine einzige große Fabel hervorzubringen, die denen der Alten verglichen werden könnte.77

Hier wird hoffnungsloser als in der ersten Rede von den Fortschritten des Theaters berichtet, die nun nicht nur die Technik, sondern auch den Inhalt betreffen: Das Theater habe ein Gewissen, habe versucht zu zeigen, wie es wirklich zugeht auf der Welt, habe allerdings dafür seine Poesie verloren. Der Dramaturg ist unzufrieden. Ebenso unzufrieden sind der Schauspieler und die Schauspielerin, wenn sie von ihren eigenen misslungenen Versuchen erzählen: SCHAUSPIELERIN 50mal spielte ich die Frau eines Bankdirektors, die von diesem als Spielzeug mißbraucht wurde. Ich trat dafür ein, daß auch die Frauen Berufe haben dürften und an der allgemeinen Jagd teilnehmen könnten, als Jäger oder Gejagte oder beides. Bei den letzten Vorstellungen mußte ich mich betrinken, um das Zeug noch sprechen zu können. SCHAUSPIELER In einem andern Stück pumpte ich von meinem Chauffeur die Hosen seines arbeitslosen Bruders und hielt markige Reden an das Proletariat. Nicht einmal im Kaftan Nathans des Weisen war ich so edel gewesen wie in diesen Hosen. Ich wies darauf hin, daß alle Räder stillstünden, wenn der starke Arm des Proletariats das wolle. In diesem

(William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. In: The Complete Pelican Shakespeare. The Comedies and the Romances. Hg. v. Alfred Harbage. London: Pelican 1981, 106–130, hier: S. 115.) 77 BFA 22.2, S. 774.

174

6 Schauplätze des Theaters Augenblick gingen Millionen von Arbeitern ohne Arbeit herum. Die Räder standen still, obwohl ihr starker Arm das gar nicht wollte.78

In beiden Fällen berichten die Schauspieler*innen davon, wie sie lange Reden hielten, in denen vermeintlich Kritisches, u. a. gegen die Ausbeutung von Frauen sowie Arbeitern, zum Ausdruck gebracht wurde, es änderte sich aber nichts an den Verhältnissen – lediglich die Worte wurden schal beim Sprechen. „Und doch sind von Werken des Naturalismus gesellschaftliche Impulse ausgegangen“, konstatiert der Dramaturg: Das Publikum wurde dazu gebracht, eine ganze Menge unhaltbarer Zustände, nun, zu fühlen, daß sie eben unhaltbar waren. Die Pädagogik in den öffentlichen Schulen, die Art, wie die Frauen verhindert wurden, sich selbständig zu machen, die Heuchelei in sexuellen Dingen und vieles mehr wurde gegeißelt.79

Der Redner beginnt also erneut mit einer Verteidigung des Naturalismus als Impulsgeber für gesellschaftliche Veränderung: Menschen haben bei der Betrachtung naturalistischer Stücke die Unhaltbarkeit gewisser Missstände gefühlt. Dennoch führt er fort: Merkwürdigerweise gewann das Theater nicht viel durch seine aufopfernde Tätigkeit. Einige der Mißstände wurden beseitigt oder, häufiger, durch größere überschattet. Der Verschleiß der jeweiligen Substanz der Stücke war rapid, und es wurde oft nachgewiesen, daß die Darstellung der Theater sehr oberflächlich war. Und das Theater hatte so viel geopfert. Alle Poesie, viel von seiner Leichtigkeit. Seine Figuren blieben nicht weniger flach, als seine Handlung banal blieb. Der künstlerische Tiefgang war nicht größer als der soziale.80

Die unhaltbaren Zustände haben sich zum Teil geändert, wurden jedoch öfter von größeren „überschattet“ und letztendlich – und dies scheint ihn am meisten zu betrüben – haben diese Abbildungen das Künstlerische des Theaters nicht gerade gefördert, ja, das Theater hat im Rahmen seiner naturalistischen Versuche künstlerische Opfer bringen müssen. Trotz des am Anfang positiven Tons des Dramaturgen konnte der Naturalismus am Ende weder das eine noch das andere – weder eine wirksame Kritik noch eine beachtenswerte Kunst hervorbringen. Die zweite, verzweifeltere Rede des Dramaturgen situiert das Gespräch in einer Ausweglosigkeit des Theaters: Das Theater kann nicht weiter; allen politischen Intentionen zum Trotz ist es wohl an der Grenze seines Vermögens angekommen und kann in seiner bestehenden Ordnung nichts bewirken. Wie Rainer Nägele anmerkt, ist gerade eine solche Aporie im wörtlichen Sinne, eine Weg- und Ausweglosigkeit [. . . ] der Anfang: wir müssen weiter, aber wir können nicht weiter. Es ist ein wiederkehrendes Motiv der brechtschen Stücke, dass ein neuer und anderer Anfang nur möglich ist in der radikalen Ausweglosigkeit [. . . ].81 78

BFA 22.2, S. 706. BFA 22.2, S. 705. 80 Ebd. 81 Nägele: Der andere Schauplatz 2014, S. 58. 79

6.2 Schicksal und Naturalisierung

175

Wie noch zu sehen sein wird, werden die Theaterleute zusammen mit dem Philosophen am Höhepunkt dieser Ausweglosigkeit diesen Anfang finden: Im Laufe des Textes wird nach und nach das Theater „eurem Theater“, „deinem Theater“, „unserem Theater“, „einem Theater“, „dem Theater des Piscator“, „dem Theater des Augsburgers“ usw. weichen und dabei die Möglichkeit auf ein anderes bzw. viele andere Theater eröffnen. An den naturalistischen Bemühungen der Theaterleute stört den Philosophen des Messingkaufs, dass keine richtige Kritik ermöglicht wird: DRAMATURG Wir hatten Abbildungen. Die Abbildungen des Naturalismus führten zu einer Kritik der Wirklichkeit. PHILOSOPH Zu einer ohnmächtigen. DRAMATURG Wie sollten wir eine mächtige erzeugen? PHILOSOPH Eure naturalistischen Abbildungen waren schlecht gemacht. Darstellend wähltet ihr einen Standpunkt, der keine echte Kritik ermöglicht. In euch fühlte man sich ein, und in die Welt richtete man sich ein. Ihr wart, wie ihr wart, und die Welt blieb, wie sie war.82

Bemerkenswert ist die konstative, erhaltende Funktion, die solchen Darstellungen beigemessen wird, d. h. das kausale Verhältnis zwischen dem Standpunkt der Darstellenden, deren Abbildungen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst, das wieder auf die Nähe zwischen Darsteller und Zuschauer verweist und daher auf den Mangel, eine einer kritischen Haltung nötigen Distanz einzunehmen. Wichtig in dieser Passage ist zudem der Unterschied, der zwischen der naturalistischen Kritik ohne Wirkung und der „echten Kritik“ gemacht wird: Trotz der naturalistischen Versuche, die Wirklichkeit zu kritisieren, blieb sie so, wie sie war. Denkfiguren des „so“ kommen im Messingkauf häufig vor: DER SCHAUSPIELER Ganz offen heraus, ich habe nicht mehr den Eindruck, daß er ein Philosoph ist. DER DRAMATURG Das mußt du aber begründen. DER SCHAUSPIELER Ein Philosoph denkt über das nach, was ist. Da ist die Kunst. Darüber denkt er also nach. Sie ist so und so, und er erklärt unter Umständen, wenn er genug Grütze hat, warum. Dann ist er ein Philosoph. DER PHILOSOPH Du hast vollkommen recht. Solche Philosophen gibt es. Und auch solche Kunst. DER SCHAUSPIELER Was für Kunst? DER PHILOSOPH Die so und so ist, und damit fertig.83

Hier entlarvt der Schauspieler sein Laienverständnis von der Aufgabe eines Philosophen, der über etwas nachdenkt und anschließend das Wesen der Sache bestimmt. Die Philosophie, die „so und so [. . . ], und damit fertig ist“, bietet Darstellungen von einer putativ prästabilierten und daher erfassbaren Wirklichkeit, die erschlossen und nachvollzogen werden kann. Oder, wie Lukács, für den die Aufgabe der Literatur die „Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit“ war, formuliert: „[S]o kommt es 82 83

BFA 22.2, S. 769. BFA 22.2, S. 783, meine Hervorhebungen.

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6 Schauplätze des Theaters

für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist [. . . ].“84 Diese Auffassung basiert auf der Überzeugung von der positiven Beschreibbarkeit der Dinge, die in der gegebenen Ordnung – im „Gesamtzusammenhan[g]“ der Wirklichkeit85 – tatsächlich auch dargestellt werden können. Dem Philosophen zufolge gibt es jedoch ebenfalls eine Kunst, die „so und so [. . . ] und damit fertig“ ist. Das Prädikat des „so und so“-Seins ließe sich demnach auf jede Darstellungsform übertragen. Das „so und so“ der Darstellung entspricht vermeintlich identisch dem „so und so“ der Wirklichkeit, wodurch mittels dieser Darstellung die Wirklichkeit philosophisch, metaphysisch, wissenschaftlich oder auch historiographisch abgesichert werden kann.86 Der Philosoph des „so und so“ empfängt die Wirklichkeit und gibt sie wieder, wie sie ist, ebenso wie die Künstler des „so und so“. Der Leser oder Zuschauer rezipiert philosophische oder künstlerische Darstellungen der Wirklichkeit und richtet sich der vermeintlichen Korrespondenz wegen daraufhin ein. Aber, wie Benjamin 1938 schreibt: „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“87 In einer alleinstehenden Passage aus der ersten Arbeitsphase führt der Philosoph anhand des Beispiels von Gerhard Hauptmanns Die Weber aus, zu welchem Grad die naturalistischen Abbildungen die „Missstände“, die sie durch ihre vermeintliche Kritik zu beseitigen dachte, doch letztendlich naturalisierten: PHILOSOPH Andrerseits, wenn schon die Gegner auf der Bühne plaziert [sic!] werden, entsteht doch oft ein falsches Bild, z. B. wenn die Gegnerschaft als eine naturnotwendige scheint. In einem Stück „Die Weber“, [. . . ] erschien der Fabrikant einfach als geiziger Mensch, und man konnte glauben, das Elend der Weber könne nur behoben werden, wenn man mit diesem Geiz fertig würde. Die Feindschaft zwischen dem Mann, der das Kapital hatte, und den Menschen, die die Arbeit machten, schien eine natürliche, so natürlich wie die zwischen Löwe und Lamm.88

Die Zuschauer mögen zwar Mitleid mit den armen Webern in Hauptmanns Stück haben, deren Mitleid ändere aber nichts. Der Naturalismus gehe von Gesetzmäßigkeiten aus, denen das menschliche Handeln unterworfen sei und stelle das Verhältnis, in diesem Fall dasjenige zwischen Arbeitern und Fabrikanten als eine Gegnerschaft dar, die so organisch, so natürlich wirke wie die Feindschaft zwischen Löwe und Lamm – die ja ihrem natürlichen Wesen nach, d. h. unveränderlich Feinde seien. Der Philosoph argumentiert, dass die intendierte Mitteilung des Stückes diejenige 84

Lukács: Es geht um den Realismus 1938, S. 116. Ebd., S. 117. 86 Vgl. beispielsweise Rankes Beschreibung des Wunsches des Historikers: „er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“ (Leopold von Ranke: Vorrede. Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535. Leipzig und Berlin: bey G. Reimer 1824, S. VI; vgl. hierzu auch Rudolf Vierhaus: Rankes Begriff der historischen Objektivität. In: Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München: dtv 1977, S. 63–76.) 87 Walter Benjamin: Zentralpark. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.1. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 655–690, hier: S. 683, meine Hervorhebung. 88 BFA 22.2, S. 723. 85

6.2 Schicksal und Naturalisierung

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sei, dass eine Verbesserung der Lage der Weber durch die Absetzung des Fabrikanten herbeigeführt werden könne. Diese Mitteilung verschleiere allerdings, dass sich dabei nichts an der viel ursprünglicheren und tiefergehenden Ungerechtigkeit des Ausbeutungsverhältnisses ändere, die im Stück lediglich mit der natürlichen Feindschaft erklärt werde. Solcherlei Auffassung von Kritik verfehle die Tatsache, dass diese Feindschaft eine von Menschen in Gang gesetzte sei. Der Zuschauer habe zwar kurzweilig Mitleid mit den Webern, deren außerordentliche Elend dem Stück zufolge auf diesen auf den ausbeuterischen Geiz eines Einzelnen zurückzuführen sei. Die Darstellung suggeriere allerdings, dass an der Ausgangssituation, an dem grundsätzlichen Elend nichts zu ändern sei, da diese Feindschaft genauso natürlich sei wie die Schwerkraft – und wer kann die Schwerkraft außer Kraft setzen? Im folgenden Auszug aus einem längeren Text mit dem bemerkenswerten Titel „Rede über die Zeit“ geht der Philosoph auf die Naturalisierung menschlichen Leidens ausführlicher ein: Bedenkt, daß wir in einer finsteren Zeit zusammenkommen, wo das Verhalten der Menschen zueinander besonders abscheulich ist und über die tödliche Wirksamkeit gewisser Menschengruppen ein fast undurchdringliches Dunkel gelegt ist, so daß es vielen Nachdenkens und vieler Veranstaltungen bedarf, wenn das Verhalten gesellschaftlicher Art ins helle Licht gezogen werden soll. Die ungeheure Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen, die kriegerischen Schlächtereien und friedlichen Entwürdigungen aller Art über den ganzen Planeten hin haben schon beinahe etwas Natürliches bekommen. Die Ausbeutung etwa, die mit Menschen getrieben wird, scheint vielen so natürlich wie die, der wir die Natur unterwerfen, Menschen werden da wie Äcker betrachtet oder wie Rinder. Die großen Kriege scheinen unzähligen wie Erdbeben, als ob gar keine Menschen dahintersteckten, sondern nur Naturgewalten, denen gegenüber das Menschengeschlecht ohnmächtig ist.89

Die Ausbeutungen und Kriege, so meint er, werden dargestellt und somit hingenommen als „Naturgewalten“, als nicht vom Menschen Gemachtes, indem der Zuschauer, wie es Brecht in einem seiner „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ formuliert, „‚in bann gezogen‘, seelisch [. . . ] gleichgeschaltet, [. . . ] in eine fatalistische stimmung dem vorgeführten schicksal gegenüber gebracht“ wird.90 Die Naturalisierung der Missverhältnisse ist also keine rein naturalistische Wirkung. Denn dieses Schicksal beruht auf dem klassischen Begriff, dem zufolge das Schicksal des Menschen von einer Ur- oder Erbsünde, dem Ärger einer göttlichen Instanz oder wegen der „unaufhaltsam tragischen Folgen aus einer falschen und zuerst [. . . ] eigentlich harmlos aussehenden Anfangsentscheidung“91 prädeterminiert ist, wogegen der Einzelne machtlos ist. Diese Determiniertheit ist im Naturalismus keine göttliche mehr, vielmehr gehen seine Vertreter*innen von der wissenschaftlich beweisbaren Evolution und Heredität aus – es kommt aber auf das Gleiche hinaus. Die Wirklichkeit des „so und so“ und deren Darstellung basieren deshalb zwangsläufig auf einer Auffassung vom Menschen, der ebenfalls „so und so“ 89

BFA 22.2, S. 733. Journaleintrag vom 3. August 1940. In: AJ 1, S. 140; vgl. BFA 22.2, S. 701. 91 Fricke: Aphorismus 1984, S. VII. 90

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6 Schauplätze des Theaters

ist. Das im Messingkauf auf den Prüfstand stehende Theater ist das egologische Theater eines Humanismus, der, so schreibt Müller-Schöll, „von einer prästabilierten Identität des Menschen ausgeht, die [es] in jedem Einzelnen ‚reproduziert‘ sehen will. Dieser Humanismus muß zerstören, was immer sich dem Ideal der vorausgesetzten ‚Menschheit‘ widersetzen könnte.“92 Der Mensch, den es in diesem Theater darzustellen gilt, ist ein kennbares und erschließbares, der sich nach den Gesetzen eines Menschheitsideals verhält. Die Kritik eines solchen Theaters ist eine ohnmächtige, weil sie die Dinge als unveränderlich präsentiert und sie dabei naturalisiert: Ohnmächtig nimmt der Mensch sein Schicksal und das seiner Mitmenschen an, als stünde er vor der Wasserwand eines Tsunami, der nicht mehr auszuweichen ist. In „Über die Theatralik des Faschismus“ kommt ein ähnliches Denken vor, wenn Thomas ausführt, wie Hitler es erreicht, „daß sein Verhalten als ein sozusagen naturgesetzliches Verhalten erscheint. Er ist so, wie er ist – und alle (sich in ihn einfühlend) sind so wie er. Er kann nicht anders, als er muß – und alle können nicht anders und müssen so.“93 Die gesellschaftlichen Zustände der Moderne werden wie Tragödien dargestellt, einem Schicksal geschuldet, das es nicht zu hinterfragen gilt (denn sonst gäbe es noch weitere Katastrophen). Der Mensch ist diesem Modell nach handlungsunfähig und seinem Schicksal ausgeliefert, denn in der Furcht oder Angst (phóbos) der aristotelischen Dramenkonzeption, so schreibt Werner Hamacher, sind die Akteure ihrem Handlungsunvermögen und ihrer Vernichtung ausgesetzt; im Mitleid [phóbos] generalisiert sich die Angst zur Mitangst und das Leiden, nicht das Handeln, die Passion, nicht die Praxis wird zum Element der Verallgemeinerung durch die passive Synthesis des Geschehens.94

Leiden und Passion lähmen Handeln und Praxis. Der Vorwurf am Theater im Messingkauf ist, dass das Theater den Menschen bislang konditioniert, sein Ausgeliefertsein zu akzeptieren und sich „einzurichten“,95 indem ihm propagiert wird, die Ursache seines Schicksals sei eine natürliche. Der Philosoph beschreibt in seiner Kritik eine Philosophie und eine Kunst des „so und so“, die die Zustände nicht unbedingt herbeiführen, aber durchaus zu deren Erhalt beitragen. Seine Kritik richtet sich somit an die Naturalisierungen des Theaters, seine Komplizenschaft mit dem Bestehenden und seine Unfähigkeit, etwas an ihm zu bewirken. Die vermeintliche Gegebenheit der Missstände stellt der Philosoph folgendermaßen infrage: „Du hast vollkommen recht. Solche Philosophen gibt es. Und auch solche Kunst“,96 was der Schauspieler ebenfalls bemerkt: „Ach so, es gibt noch eine andere Kunst? Eine, die nicht so und so ist, die es also 92

Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, S. 190. BFA 22.1, S. 567. 94 Werner Hamacher: Das eine Kriterium für das, was geschieht. Aristoteles: Poetik. Brecht: „Kleines Organon“. In: Olivia Ebert et al. (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld: transcript 2018, S. 19–36, hier: S. 22. 95 BFA 22.2, S. 711. 96 BFA 22.2, S. 783. 93

6.2 Schicksal und Naturalisierung

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nicht gibt?“97 Er impliziert hier demnach, dass eine andere Philosophie, eine andere Kunst, ein anderes Theater kommen könnten, die nicht nur „so und so [. . . ] und damit fertig“, sondern vielleicht niemals fertig und also nicht beschränkt sind. „‚Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen‘ – das ist die Grundhaltung dessen, der für das epische Theater schreibt.“98 Dieser bekannte Satz von Benjamins erstem Aufsatz zum epischen Theater fungiert als Gegenpol zum „so und so [. . . ] und damit fertig“ des Messingkaufs, als das andere Ende des Spektrums zwischen Ausgesetzt-Sein und Verändern-Können. Dies scheint umso plausibler, betrachtet man die Anführungszeichen, die darauf verweisen, dass das Zitat auf Brecht zurückzuführen ist. Folgender Journaleintrag zum Caesar-Fragment,99 das zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie der Messingkauf entstanden ist, weist eine bestechende Nähe zu diesem Zitat auf: „den CAESAR schreibend, das entdecke ich jetzt, darf ich keinen augenblick glauben, daß es so kommen mußte, wie es kam.“100 Die Haltung desjenigen, der weiß, dass es auch ganz anders kommen kann, muss der Stückeschreiber im Schreiben einnehmen, und diese Haltung gilt es auch beim Zuschauer zu erzeugen. Für den Philosophen ist die wichtigste Erkenntnis in dieser Hinsicht diejenige, dass „[d]as Schicksal des Menschen [. . . ] der Mensch geworden“ ist.101 Es wäre ein gutes Ziel, wenn bloß unter Furcht Furcht vor den Menschen und unter Mitleid Mitleid mit Menschen verstanden würde und wenn also das ernste Theater mithülfe, jene Zustande unter den Menschen zu beseitigen, wo sie voreinander Furcht und miteinander Mitleid haben müssen.102

Das Einzige, was der Mensch zu befürchten hat, sind die Handlungen des Menschen, denn der Ursprung allen menschlichen Leidens ist zuallererst der Mensch, so der Philosoph. Es muss gezeigt werden, dass die Ursache dieses Schicksals eine menschliche ist: PHILOSOPH Die Ursachen sehr vieler Tragödien liegen außerhalb des Machtbereichs derer, die sie erleiden, wie es scheint. DRAMATURG Wie es scheint? PHILOSOPH Natürlich nur wie es scheint. Menschliches kann nicht außerhalb des Machtbereichs der Menschen liegen, und die Ursachen dieser Tragödien sind menschliche.103

Es ginge demnach nicht lediglich darum, in zukünftigen Aufführungen zu zeigen, dass die Ursache menschlichen Leidens der Mensch ist, sondern auch darum, die Geschichte dieser Konditionierung sichtbar zu machen, indem vermeintlich unvermeidbare Schicksale auch in alten oder klassischen Stücken als menschlich verur97

Ebd. Benjamin: Was ist das Epische Theater? (1) 1977, S. 525. 99 Vgl. Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. In: BFA 10.2, S. 790–823. 100 Journaleintrag vom 23. Juli 1938. In: AJ 1, S. 11, meine Hervorhebung; vgl. Bettina Englmann: Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 156. 101 BFA 22.2, S. 710. 102 BFA 22.2, S. 710. 103 BFA 22.2, S. 711. 98

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6 Schauplätze des Theaters

sacht enttarnt werden.104 Der Philosoph behauptet also ein explizit menschliches Schicksal, das aufgrund seiner Menschlichkeit fehl- und änderbar ist. Damit negiert er nicht nur die Existenz eines göttlichen Schicksals oder einer allgemeinen Determiniertheit – die unvermeidbare Fügung dessen, was noch dem Widerständigsten widerfährt –, sondern die Existenz des Schicksals selbst. In Ermangelung eines Schicksals wird dem Menschen dadurch die Fähigkeit eingeräumt, überhaupt etwas zu ver-/ändern und selbst anders zu werden. Im zuvor erwähnten Aufsatz zum epischen Theater weist Benjamin Brecht ein Zitat zu, in dem der Mensch als „nicht ganz, noch endgültig zu erkennen“ beschrieben wird, als ein „nicht so leicht Erschöpfliches, viele Möglichkeiten in sich Bergendes und Verbergendes.“105 Dieser Beschreibung zufolge, so Müller-Schöll, kann man den Menschen „nicht in Gänze nach den Gesetzen der Kausalität erfassen, seine Handlungen nicht vollkommen vorhersehen.“106 Der Mensch kann so, aber er kann eben auch ganz anders. Eine ähnliche Auffassung vom Menschen kommt im Messingkauf zur Darstellung, beispielsweise in folgender, um 1945 geschriebenen Passage ohne Figurenzuordnung: Viele gehen davon aus, daß der Mensch eine fertige Sache ist, so und so aussehend in diesem Licht, so und so in jenem, dies und das sagend in dieser Lage, dies und das in jener, und so versuchen sie von Anfang an diese Figur zu erfassen und ganz zu werden. Es ist aber besser, den Menschen als eine unfertige Sache zu betrachten und ihn langsam entstehen zu lassen, von Aussage zu Aussage und von Handlung zu Handlung.107

Die Vorstellung vom Menschen als einer „fertige[n] Sache“ fußt auf der Überzeugung, es sei möglich, den Menschen, so wie er ist, zu erschließen und darzustellen, seine Handlungen zu begründen und sein Wesen ontologisch zu bestimmen. Der Mensch, wie er im Messingkauf beschrieben ist, ist aber etwas Prozessuales: Ihn „langsam entstehen zu lassen“ impliziert ein Werden, das zusammen mit dem Verweis darauf, dass der Mensch am Ende seiner Handlungen zu (er)kennen sei, sehr an das hegelianische Modell erinnert: „Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur.“108 Erst wenn das Leben des Menschen in seinen ganzen Handlungen vollzogen ist, wird der Mensch sein absolutes Wesen geworden und als solcher zu erkennen sein – bis dahin ist er nicht zu erkennen, und unerkannt muss er auch dargestellt werden. In einer weiteren Passage ohne Figurenordnung heißt es: „[Leute in der Wirklichkeit] sollen nicht Figuren sehen, die nur Täter ihrer Tat sind, d. h. eben noch ihre 104

Dies hat Brecht beispielsweise auch in seiner Antigone-Bearbeitung tatsächlich umzusetzen versucht, indem er Kreon als Hitler-ähnliche Figur neuinterpretierte (vgl. Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet. In: BFA 8, S. 193–242). 105 Benjamin zitiert Brecht in: Benjamin: Was ist das Epische Theater? (1) 1977, S. 531. 106 Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, S. 198, meine Hervorhebung. 107 BFA 22.2, S. 812. 108 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 3. Phänomenologie des Geistes. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 24.

6.2 Schicksal und Naturalisierung

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Auftritte ermöglichen, sondern Menschen: wandelnde Rohstoffe, unausgeformt und unausdefiniert, die überraschen können.“109 Die Figuren sollen folglich weder lediglich als Handlungsträger fungieren, als Personen, die einzig zum Vollzug eines plot points auf der Bühne stehen, noch sollen sie völlig durchkonzipierte psychologische Instanzen darstellen. Die Figuren sollen ebenso viel Potential besitzen und genauso unberechenbar sein wie der Mensch selbst. Dazu gehört die Widersprüchlichkeit des Menschen, wie im Messingkauf wiederholt betont wird: Der Philosoph gibt in dieser Hinsicht in der ersten Arbeitsphase das Beispiel des Ehemanns, der nach Hause kehrend, das Tier mit den zwei Rücken erblickt, [und] eine Vielfalt von Empfindungen [verspürt und zeigt], welche einheitlich und nicht einheitlich sind. Den Triumph des Entdeckers („Da bin ich ja zur rechten Zeit gekommen“); den Unwillen, etwas zu entdecken, das ihm nicht gefällt („Kann ich mich da noch irren?“); den Abscheu vor der Fleischeslust („Wie animalisch!“); das wehmutige Verständnis für die Notdürfte („Sie muß das haben“); das Gefühl der verächtlichen Entsagung („Was verliere ich da schon, wenn das so ist!“); den Durst nach Rache („Das soll ihr was kosten“ usw. usw.).110

Dennoch geht das Menschenbild des Messingkaufs über diese Auffassung des Menschen als widersprüchliches Wesen hinaus, indem auch die Singularität des „Einzelmenschen“, der „Einzelperson“, des „besonderen Menschen“ immer wieder betont wird: DRAMATURG [. . . ] Ein Bauer, der auftritt ist nicht der Bauer, d. h. der Inbegriff aller Bauern, etwas Schematisches, Mittleres, sondern ein Bauer, ein besonderer Bauer mit Privateigenschaften und Sonderschicksal. Gegenüber einem städtischen Arbeiter oder einem Beamten ist er aber allerdings der Bauer. Er vertritt da den besonderen Standpunkt der Bauernklasse.111

Wenn man von den besonderen Eigenschaften eines besonderen Bauern absieht, verhält er sich im Vergleich zu einem „Arbeiter“ oder einem „Beamten“ tendenziell auf eine bestimmte Art und Weise, aber die Klasse an sich besteht aus Einzelpersonen, die sich nicht nach den logischen Bestimmungen des Klassengesetzes verhalten. Denn, wie der Philosoph ausführt, muss die Klasse verallgemeinern und den Menschen schematisieren: PHILOSOPH [. . . ] Der Begriff Klasse z. B. ist ein Begriff, in dem viele Einzelpersonen begriffen, also als Einzelpersonen ausgelöscht sind. Für die Klasse gelten gewisse Gesetzlichkeiten. Sie gelten für die Einzelperson so weit, als sie mit der Klasse identisch ist, also nicht absolut; denn man ist ja zu dem Begriff Klasse gekommen, indem man von bestimmten Eigenheiten der Einzelperson absah.112

Hier verweist der Philosoph auf die Einschränkungen eines der Hauptbegriffe des Marxismus.113 Ein Gesetz kann immer nur verallgemeinern und daher der „Eigenheit“ oder Singularität der Handlungen dieser Einzelperson nie Rechnung tragen. 109

BFA 22.2, S. 725. BFA 22.2, S. 746 f. 111 BFA 22.2, S. 751 f. 112 BFA 22.2, S. 744. 113 Für eine detailliertere Diskussion zum „Marxismus“ des Philosophen siehe Abschnitt 5.1. 110

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6 Schauplätze des Theaters

Das Paradox besteht darin, dass das Gesetz die Einzelperson gleichzeitig „begreift“ und „auslöscht“: Im Akt der Erschließung wird die Einzelperson zur allgemeinen Person und verschwindet somit als Einzelperson, da das Gesetz keine Ausnahme erlaubt. Der Verweis auf die „Auslöschung“ des Menschen unter dem Gesetz erinnert sehr stark an den jungen Genossen in der Maßnahme, der ohne Maske und zur Einzelperson geworden in der Kalkgrube wortwörtlich „ausgelöscht“ wird, da er seine Singularität dem Gesetz „Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: daß er für den Kommunismus kämpft“114 nicht opfern kann. Lehmann und Lethen diskutieren ausführlich die Singularität in der brechtschen Lehrstücktheorie in ihrem 1978 erschienen Aufsatz „Ein Vorschlag zur Güte. Zur doppelten Polarität des Lehrstücks.“115 Die Singularität des Menschen geht ihnen zufolge nicht in der vermeintlichen Dialektik der brechtschen Lehrstücke auf. Es bleibt immer ein Rest, der sich der Widersprüche vereinigenden Dialektik verweigert und entzieht; es gibt eben „keine restlose Überführung“ des Singulären in das Gesetz.116 In Bezug auf die Maßnahme schreiben sie von einem „undialektischen Element in der Dialektik“: Die provozierende Gewalttätigkeit der ‚Maßnahme‘, die Überspitzung des Konflikts, die allzu offenkundige Unsinnigkeit der politischen Ansicht des jungen Genossen, all diese Elemente blockieren ‚dialektische Vermittlung‘, reißen sie auseinander, weisen auf unversöhnliche Spaltung, auf Statik und nicht Fluß.117

Es gibt daher eine „radikale Heterogenität im Subjekt dem Begriff gegenüber, die von keiner Dialektik verschlungen werden kann, sondern immer von neuem jede begriffliche ‚Position‘ aufs Spiel setzt.“118 Obwohl der Messingkauf entgegen den Behauptungen Kims nicht als Lehrstück beschrieben werden kann,119 wird sowohl in den Lehrstücken als auch im Messingkauf immer wieder die Unzulänglichkeit des Gesetzes und des Maßes aufgezeigt und demonstriert, inwieweit der Mensch als eine im Gesetz nicht aufgehende Ausnahme handelt und demnach auch als solche begriffen werden muss, die kein „philosophisches, wissenschaftliches oder politisches System [. . . ] erkennen, begreifen oder beherrschen [kann].“120 Das wiederholte Plädoyer des Philosophen dafür, das Schicksal als ein vom Menschen Gemachtes und die Klasse als eine Sammlung verschiedener singulärer Einzelpersonen zu begreifen, zeigt, dass es bei den von ihm erwünschten Dar114

BFA 3, S. 78. Vgl. Hans-Thies Lehmann und Helmut Lethen: Ein Vorschlag zur Güte. Zur doppelten Polarität des Lehrstücks. In: Reiner Steinweg (Hg.): Auf Anregung Bertolt Brechts. Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 302–318. 116 Lehmann und Lethen: Ein Vorschlag zur Güte 1978, S. 310. 117 Ebd., S. 308. 118 Ebd., S. 309. 119 Vgl. Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, u. a. S. 114 ff., 123, 129 f., 182. Kim behauptet schlichtweg, dass der Messingkauf seines Erachtens „von vornherein von Brecht als ein Theaterstück – und zwar als ein ‚Lehrstück‘ – zur Realisierung auf der Bühne geplant worden [ist].“ (S. 129.) 120 Nikolaus Müller-Schöll: Theater der Potentialität. In: Jahrbuch der koreanischen BrechtGesellschaft 29 (2013), S. 25–51, hier: S. 33. 115

6.2 Schicksal und Naturalisierung

183

stellungen vom „Zusammenleben des Menschen“ nicht nur um den Menschen, sondern eben dessen Zusammenleben mit anderen Menschen geht. Zimmermann führt in einem unveröffentlichten Vortrag zu Levinas’ Denken des Anderen und dem Messingkauf sowohl die Denkfiguren Levinas’ als auch Brechts Theater eng „als Versuch[e] einer Antwort auf die Totalisierungen der Politik [. . . ], in deren Kern eine Neubestimmung des Menschen in seiner sozialen Verfasstheit steht“:121 Beide, Brecht und Levinas, die die Schrecken des frühen 20. Jahrhunderts hautnah erleben mussten, „[reagieren] auf die im Namen von Faschismus und Kommunismus verübte Gewalt mit dem Versuch eines anderen Denkens.“122 Der im Messingkauf verhandelte Begriff des Menschen berücksichtigt wie Levinas und doch auf andere Weise die grundlegende Alterität des Anderen, auf welche die wiederholten Verwendungen von Begriffen wie „Eigenheit“ und „Einzelperson“ hinweisen. Es geht um das – in den Worten Nancys – Mit-Sein des Menschen mit den Anderen,123 denn es gibt kein Leben ohne die Anderen: „Ein reiner Individualist wäre schweigsam.“124 Das Begreifen des Schicksals als ein menschlich Gemachtes und des Seins als ein Zusammenleben oder Mit-Seins räumt zwangsläufig die Möglichkeit der Änderung ein: Der Mensch kann als unberechenbare Singularität zwangsläufig ändern und geändert werden. Nichts drückt dieser Auffassung des Menschen besser – oder dringlicher – aus als die „Rede über die Darstellung eines kleinen Nazis“ des Schauspielers, in der er seine Aufgabe beschreibt, die „Änderbarkeit [des kleinen Nazis] unter gegebenen Umständen“ auf der Bühne zu realisieren: Auf keinen Fall jedoch durfte ich so etwas wie „den geborenen Nazi“ gestalten. Vor mir hatte ich etwas Widersprüchliches, eine Art Atom des volksfeindlichen Volks, den kleinen Nazi, der in Masse den Interessen der Masse zuwiderhandelt, ein Vieh vielleicht, wenn unter Nazis, oder ein größeres Vieh, wenn unter den Nazis, zugleich ein gewöhnlicher Mensch, d. h. also ein Mensch. Schon durch seine Massenhaftigkeit genoß er eine gewisse Anonymität, zeigte nur die Charaktereigentümlichkeiten einer Gruppe und diese neben durchaus individuellen. Da ist ja eine Familie wie die andere, und da ist keine Familie wie die andere. Jeden seiner Schritte hatte ich zu machen wie einen erklärlichen, und zugleich hatte ich auch einen andern Schritt ahnen zu lassen, der ebenfalls erklärlich wäre. Die Menschen dürfen nicht so behandelt werden als könnten sie nur ‚so‘; sie können auch anders. Die Häuser sind gefallen, sie könnten auch stehen.125

Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Messingkauf -Fragmente hatte der Kampf zwischen dem „so und so“ und dem des „so aber auch ganz anders“ etwas dringend 121

Mayte Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas. Spuren des Theaters und Theater der Spur. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf der Nachwuchstagung „AUSSICHTEN. Neuere Ansätze und Perspektiven für die Auseinandersetzung mit dem Werk Bertolt Brechts“ im Rahmen der „Brecht Tage“. Berlin 2012, S. 4. 122 Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas 2012, S. 2. 123 Vgl. Jean-Luc Nancy: singulär plural sein. Übers. v. Ulrich Müller-Schöll. Berlin: Diaphenes 2012. 124 Sozialisierung der Kunst. In: BFA 21, S. 179–180, hier: S. 180; vgl. Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, S. 192. 125 BFA 22.2, S. 818.

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6 Schauplätze des Theaters

Tagespolitisches. In dieser um 1945 entstandenen Rede geht es um den Versuch, den Aufstieg des Nationalsozialismus als keineswegs unausweichliches Resultat eines deutschen „Sonderwegs“126 darzustellen, der als Deutungsmuster deutscher Geschichte in der Geschichtswissenschaft von Historikern des 19. Jahrhunderts wie Leopold von Ranke wurzelte.127 In der Zwischenkriegszeit wird der Sonderweg instrumentalisiert, um die vermeintliche Unzulänglichkeit der Weimarer Demokratie aufzuweisen, diese zu vernichten und den Weg für die Nationalsozialisten zu bahnen, während die Sonderwegthese in der BRD zum Erklärungsversuch wird, sich von den Verbrechen des Nationalsozialismus zu distanzieren – denn: Es hätte ja nicht anders kommen können.128 Es hätten aber, wie der Schauspieler in seiner Rede aufzeigt, die Schrecken des Zweiten Weltkrieges auch nicht passieren können. Die Katastrophe bestand letztendlich darin, dass alles so weiterging, auch wenn es immer ganz anders hätte kommen können, dass alle so weitergegangen sind, auch wenn sie ganz anders hätten handeln können. Wird im bisherigen Theater die Indifferenz zwischen den verschiedenen Akteuren der Theatersituation im Akt der Einfühlung und durch die Betonung der gemeinsamen Interiorität generiert, gilt es im Messingkauf, diese Verschmelzung zu unterbrechen, die Akteure im Theater wieder zu Einzelpersonen zu machen und sie dazu zu bringen, ihr Verhältnis zueinander als ein ‚Zusammen‘ aber ‚Getrennt‘, ein Singular Plural – kurz: als ein 126 Zu Sonderweg-Debatte bzw. Historiker-Streit in den Geschichtswissenschaften der 1980er siehe u. a.: Horst Möller: Einführung. In: Karl Dieter Bracher (Hg.): Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte. München/Wien: Oldenbourg 1982, S. 9–15; Helga Grebing: Der „deutsche Sonderweg“ in Europa 1806–1945. Eine Kritik. Stuttgart: Kohlhamer u. a. 1986; Dirk Hoeges: Die Menschenrechte und ihre Feinde. Deutsche Profile zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Thomas Mann, Ernst Jünger, Martin Heidegger. Köln: Machiavelli Ed 2013, S. 24–32, 110–152; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M.: Insel 1994, S. 289–312. 127 Diese Auffassung von deutscher Geschichte dominierte die deutschen Geschichtswissenschaften der Kaiserzeit und der Weimarer Republik und hat „vielmehr noch den Nachkriegshistorikern in der BRD als Interpretationsmuster zur Erklärung des Nationalsozialismus gedient.“ (Greiert: Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. Grundlagen des Geschichtsdenkens bei Walter Benjamin 1915–1925. München: Fink 2011, S. 438.) Vgl. dazu auch: „Aus der vermeintlichen Einzigartigkeit eines deutschen Nationalcharakters, der bereits im Deutschen Idealismus und in der Romantik ansatzweise hervorgebracht, aber erst durch seine Anwendung auf die Geschichte bei Ranke und der Historischen Schule wesentlich zu sich selbst in all seiner vollen Größe befördert worden sei, wurde ein Gegensatz zwischen deutschem Geist und Westeuropa zurechtkonstruiert.“ (Ebd., S. 437.) Vgl. das Ranke-Zitat in These VI von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.1. Hg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 693–704, hier: S. 695); vgl. auch das Ranke-Zitat in Kapitel 6, Fußnote 86 der vorliegenden Arbeit. 128 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1919. München: C. H. Beck 2008, insbesondere seine Diskussion der Frage „Gab es Alternativen zum NS-Regime?“ (ebd., S. 585 ff.), die er – um es ganz deutlich zu sagen – mit einem lauten „Nein“ beantwortet. Diese Diskussion wird von ihm sogar mit den Wörtern beendet: „Hitler, endlich Sieger im Machtkampf – er sollte nicht nur Deutschlands Schicksal sein.“ (Ebd., S. 587, meine Hervorhebung.)

6.3

Realismus

185

Mit-Sein zu betrachten. So wie der Schauspieler es sagt: „Die Häuser sind gefallen, sie könnten auch stehen.“129

6.3

Realismus

„Kritische, kämpferische Haltung des Realismus“ steht auf einem handgeschriebenen Zettel, der sich im Material zur Vorrede des Kleinen Organons befindet.130 Diese Äußerung wirkt etwas rätselhaft angesichts der Tatsache, dass sich Brecht sowohl während der Expressionismus-, Formalismus- und Realismus-Debatten der 1930er und 1950er Jahre gegen Lukács und seine Anhänger positionierte, jene Fraktion also, die um Engels Auffassung der Aufgabe der Kunst rang. Für Engels war die politische Kunst der Sozialistische Realismus, bekanntlich die „getreue Wiedergabe typischer Charaktere in typischen Umständen“.131 Sein ästhetischer Vorrang wurde von der Sowjetunion propagiert, verbreitete sich durch den gesamten Ostblock und gab bis zur sogenannten Wende den offiziellen Ton an. Die Einzelheiten des Verlaufs der Debatten der 1930er und 1950er Jahre können hier nicht verfolgt werden.132 Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass, Krabiel folgend, die Expressionismus-Debatte in den 1930er Jahren den „Anstoß“ für Brechts Arbeit am Messingkauf gab.133 Zudem wird in einer Lektüre des Messingkaufs schnell klar, dass der Realismus einen der wichtigsten Diskussionsschauplätze des Textes bildet. Es gilt daher, einen genaueren Blick auf seine Verhandlung im Text zu werfen. Im ersten Nachtrag zur Theorie des Messingkaufs im Journaleintrag vom 2. August 1940 schreibt Brecht: „Unter den Elementen, aus denen sich das Theatererlebnis [. . . ] zusammensetzt, kann sich Kritizismus nicht befinden, je weniger, desto 129

BFA 22.2, S. 818. Vgl. Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1121. 131 Brief Friedrich Engels an Margaret Harkness, April 1888, in Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Bd. 37. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz, 1967, S. 42; zitiert nach Anna Czajka: Rettung Brechts durch Bloch? In: Das Brecht-Jahrbuch 18 (1993), S. 121–138, hier: S. 127. 132 Zur Expressionismus-Debatte bzw. zum Realismus-Streit siehe beispielsweise: Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993; Alfred Kantorowicz: Expressionismusstreit und Realismusdebatte im Zeichen der Volksfront. In: Ders.: Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Hamburg: Hans Christians 1978, S. 230–256; Werner Mittenzwei: Marxismus und Realismus. Die Brecht-Lukács-Debatte. In Das Argument 36 (1968), S. 12–43; Werner Mittenzwei: Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR 1945–1975. Berlin: Aufbau 1978; Manfred Nössig, Johanna Rosenberg und Bärbel Schrader: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918–1933. Berlin: Aufbau 1980; Paul Raabe (Hg.): Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung. Zürich: Arche 1987; Dieter Schiller: Die Expressionismus-Debatte 1937–1939. Aus dem redaktionellen Briefwechsel der Zeitschrift „Das Wort“. Berlin: Helle Panke 2002; Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Expressionismus-Debatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. 133 Krabiel: Der Messingkauf 2006, S. 64. 130

186

6 Schauplätze des Theaters

besser die Einfühlung funktioniert [. . . ].“134 Die Kunst ist, wie er im selben Eintrag fortführt, nur an ganz bestimmten Abbildern, d. h. Abbildern mit bestimmter Wirkung, interessiert. Der Einfühlungsakt, den sie produziert, würde durch ein kritisches Eingehen des Zuschauers auf die Vorgänge selbst lediglich gestört. Die Frage ist nun, ob es überhaupt unmöglich ist, die Abbildung der wirklichen Vorgänge zur Aufgabe der Kunst zu machen und damit die kritische Haltung des Zuschauers zu den wirklichen Vorgängen zu einer kunstgemäßen Haltung.135

Die Aufgabe, der sich Brecht somit für die Arbeit am Messingkauf stellt, muss in zwei Schritten erfolgen: Zunächst muss geprüft werden, ob die „wirklichen Vorgänge“ von der Kunst dargestellt werden können, was impliziert, dass deren Darstellung noch nicht „Aufgabe der Kunst“ ist. Lautet die Antwort auf diese Frage „ja“, muss im zweiten Schritt ein Weg gefunden werden, der es dem Zuschauer ermöglicht, eine kritische Haltung in Bezug auf eben diese Darstellungen der wirklichen Vorgänge als Teil einer Kunsterfahrung einzunehmen. Demgemäß steht im Personenverzeichnis, dass der Philosoph sich ein Theater wünsche, das „getreue Abbilder der Vorgänge unter den Menschen liefer[t] und eine Stellungnahme des Zuschauers ermöglich[t].“136 Wie in der oben angeführten brechtschen Aufgabestellung werden die „wirklichen Vorgänge“ – dieses Mal die „getreuen Abbilder der Vorgänge unter den Menschen“ – in einen kausalen Zusammenhang mit der kritischen „Stellungnahme des Zuschauers“ gebracht: Man braucht das eine um das andere zu erzeugen. Doch was ist mit „getreuen Abbildern“ gemeint? Mit der Darstellung von wirklichen Vorgängen bzw. getreuen Abbildern scheint sich Brecht auf den Realismus zu beziehen, aber in welchem Sinne versteht er diesen Realismus? Wendet sich Brecht im Messingkauf dem Sozialistischen Realismus zu? Wie ist der singuläre Mensch des Messingkaufs realistisch darzustellen, wenn er weder restlos zu erkennen und darzustellen noch verständlich und erschließbar ist? Es gibt einige Stellen, an denen der Realismus zum Gegenstand des Gesprächs gemacht wird. Dies geschieht auf eine Art und Weise, die sich explizit auf den bereits erwähnten Realismus-Streit Bezug zu nehmen scheint. Beispielsweise äußert sich der Schauspieler in einer um 1942/1943 geschriebenen Passage zu diesem Punkt folgendermaßen: Damit der Zuschauer sich in den Helden einleben konnte, mußte er eine ziemlich schematische Figur mit möglichst wenigen Einzelzügen sein, damit er möglichst viele Zuschauer „deckte“. Er mußte also unrealistisch sein. Stücke mit solchen Helden nannte man dann realistische, da man von diesen Helden etwas über die Realität erfuhr, aber nur auf unnaturalistische Weise.137

Um eine realistische Wirkung zu erzeugen, muss die Figur also glatt genug gemacht werden und so wenige Kanten haben, dass möglichst viele Zuschauer sich nahtlos 134

BFA 22.2, S. 697. BFA 22.2, S. 698. 136 BFA 22.2, S. 696. 137 BFA 22.2, S. 770. 135

6.3

Realismus

187

in sie hineinfühlen können. Dies bedeutet wiederum, dass sie mit der Singularität des Menschen, die es im vorherigen Abschnitt zu untersuchen galt, nur noch wenig zu tun hat. In einem langen Austausch mit dem Schauspieler und dem Dramaturgen in derselben Arbeitsphase geht der Philosoph auf ähnliche Weise auf den Realismus ein: PHILOSOPH [. . . ] Die Figur, welche für die Einfühlung bereitgestellt wird (der Held), kann nicht realistisch geschildert werden, ohne für die Einfühlung des Zuschauers verdorben zu werden. Realistisch geschildert, muß sie sich mit den Geschehnissen ändern, was sie für die Einfühlung zu unstet macht, und sie muß mit begrenzter Blickweite ausgestattet sein, was zur Folge haben muß, daß ihr Standpunkt auch dem Zuschauer zu wenig Rundblick gewährt.138

Es wird folglich in beiden Fällen ein vermeintlicher Realismus kritisiert, dessen Darstellungen zu überhöht, zu „verwesentlicht“ sind.139 Der vermeintliche Realismus des bisherigen Theaters wäre demnach überdies nicht nur wegen seiner zu glatten Darstellungen des Menschen ohne Einzelzüge unrealistisch, sondern auch weil er es dem dargestellten Menschen nicht gestattet, sich im Laufe der Darstellung zu ändern. Eine Figur, die widersprüchlich wäre wie der Mensch und sich änderte, würde nicht mehr zur Entfaltung der Wirkung beitragen, die im bisherigen Theater erzeugt werden muss, sodass das Theater seinen Zweck erfüllt. Der „glatte“ Mensch ohne Einzelzüge wird mithin zum Prinzip der idealistisch-realistischen Darstellung im bisherigen Theater. Aber, wie der Philosoph sagt: „Ihr stellt nicht Prinzipien dar, sondern Menschen“,140 und setzt den Mensch dabei in einen Gegensatz zum Prinzipiendenken, als das, was im Prinzip nicht aufgeht. Der Realismus im bisherigen Theater benötigt zur Entfaltung seiner Wirkung zudem einen Theaterapparat, der – wie bereits in den Ausführungen zur vierten Wand und zur Guckkastenbühne erörtert – die Illusion der Wirklichkeit fördert, indem er diese eben verbirgt. Die architektonische Seite der Illusion wird in einer ausführlichen Behandlung der vierten Wand thematisiert, die ich hier zum Verständnis in ihrer Länge wiedergebe: DER DRAMATURG Wie ist es mit der vierten Wand? DER PHILOSOPH Was ist das? DER DRAMATURG Für gewöhnlich spielt man so, als ob die Bühne nicht nur drei Wände, sondern viere hätte; die vierte da, wo das Publikum sitzt. Es wird ja der Anschein geweckt und aufrechterhalten, daß, was auf der Bühne passiert, ein echter Vorgang aus dem Leben ist, und dort ist natürlich kein Publikum. Mit der vierten Wand spielen heißt also so spielen, als ob kein Publikum da wäre. DER SCHAUSPIELER Du verstehst, das Publikum sieht, selber ungesehen, ganz intime Vorgänge. Es ist genau, als ob einer durch ein Schlüsselloch eine Szene belauscht unter Leuten, die keine Ahnung haben, daß sie nicht unter sich sind. In Wirklichkeit arrangieren wir natürlich alles so, daß man alles gut sieht. Dieses Arrangement wird nur verborgen.

138

BFA 22.2, S. 792. Seiler: Das Wahrscheinliche und das Wesentliche 1989, S. 375. 140 BFA 22.2, S. 744. 139

188

6 Schauplätze des Theaters DER PHILOSOPH Ach so, das Publikum nimmt dann stillschweigend an, daß es gar nicht im Theater sitzt, da es anscheinend nicht bemerkt wird. Es hat die Illusion, vor einem Schlüsselloch zu sitzen. Da sollte es aber auch in den Garderoben klatschen. DER SCHAUSPIELER Aber durch sein Klatschen bestätigt es doch gerade, daß es den Schauspielern gelungen ist; so aufzutreten, als sei es nicht vorhanden! DER PHILOSOPH Brauchen wir diese verwickelte geheime Abmachung zwischen den Spielern und dir? DER ARBEITER Ich brauche sie nicht. Aber vielleicht brauchen die Künstler sie? DER SCHAUSPIELER Für realistisches Spiel wird sie als nötig angesehen. DER ARBEITER Ich bin für realistisches Spiel. DER PHILOSOPH Aber daß man im Theater sitzt und nicht vor einem Schlüsselloch, ist doch auch eine Realität! Wie kann es da realistisch sein, das wegzuschminken? Nein, die vierte Wand wollen wir niederlegen. Das Abkommen ist hiemit [sic!] gekündigt. Zeigt in Zukunft ganz ohne Scheu, daß ihr alles so arrangiert, wie es für unsere Einsicht am besten ist.141

Mit „Arrangement“ und „geheime[r] Abmachung“ verweist der Philosoph auf so etwas wie den theatralischen Pakt zwischen den im Theater Anwesenden – Schauspielern und Zuschauern –, die Konvention, im Rahmen derer Zuschauer*innen sowie Darsteller*innen „agree that what takes place on the stage is always referring to what takes place in the story world, and that the corresponding real and mental spaces must not be confused one with the other even though they look very much alike.“142 Der Schauspieler beharrt darauf, dass die vierte Wand zur Ausführung einer realistischen Darstellungsweise unbedingt von Nöten ist, während der Arbeiter – sich hier als der ‚Realist‘ unter den Figuren entlarvend – sich auf die Seite des „realistischen Spiel[s]“ stellt und dabei durch sein Bekenntnis behauptet, dass die vierte Wand und solche „geheime[n] Abmachungen“ für realistisches Spiel nicht nötig wären. Er macht daher auf die Möglichkeit eines anderen Verständnisses von Realismus aufmerksam. Der Philosoph erweitert im nächsten Schritt den Begriff des Realismus, indem er zumindest eine der Realitäten, auf die sich der Realismus bezieht, auf der Bühne situiert, und fordert, dass auch der Realität der Theatersituation Rechnung getragen wird, ja, dass eine realistische Darstellung, die diese Realität „wegschminkt“, gar keine realistische Darstellung sein könne. Des Weiteren wird in einem Austausch aus der ersten Arbeitsphase der Anspruch des Naturalismus auf Objektivität thematisiert: DRAMATURG Die naturalistischen Aufführungen erweckten die Illusion, man befinde sich an einem realen Ort. SCHAUSPIELER In ein Zimmer blickend, vermeinten die Zuschauer, den Geruch der Kirschgärten hinter dem Haus zu riechen, in das Innere eines Schiffs blickend, den Druck des Sturms zu spüren.143

Der Dramaturg führt mit einer Darstellung des Prozesses des naturalistischen Schreibens fort und konstatiert, dass die naturalistischen Stückeschreiber sich ge141

BFA 22.2, S. 802 f. Jean Alter: A Sociosemiotic Theory of Theatre. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1990, S. 97. 143 BFA 22.2, S. 718. 142

6.3

Realismus

189

nauso Techniken des Zusammenstellens, Vergröberns und Verfeinerns bedienten wie die „nichtnaturalistischen“ Stückeschreiber. Die Naturalisten machten jedoch überall „Halt“, „wo die Illusion, man habe es zu tun mit der Realität, Gefahr lief, verletzt zu werden.“144 Nach einem kurzen Austausch mit dem Schauspieler sagt er, dass er es für „ergiebiger“ halte, „diese Illusion zu opfern, wenn man dafür eine Darstellung eintauschen kann, die mehr von der Realität selber gibt.“145 Der Schauspieler, anscheinend empört, erwidert mit dem Einwand, dass man in dem Fall „nur noch mit den Meinungen der Stückeschreiber über die Natur zu tun hat und nicht mehr mit der Natur“, woraufhin der Dramaturg entgegnet: DRAMATURG Es ist dir wohl klar, daß man es bei den naturalistischen Stücken auch nur mit den Meinungen der Stückeschreiber zu tun hatte? Die erste naturalistische Dramatik (der Hauptmann, Ibsen, Tolstoi, Strindberg) wurde mit Recht geradezu eine Tendenzkunst geschimpft.146

Mit „Tendenzkunst“ verweist der Dramaturg auf die sogenannte TendenzkunstDebatte der Sozialdemokraten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer „sozialistischen Gegenwartskunst und deren Förderung durch die Arbeiterorganisation“.147 Für den Anstifter der Debatte, Heinz Sperber, bedeutete „Tendenz“ der Einbezug „proletarischer Weltanschauung“ in die Kunst, d. h. Kunst, die von einem proletarischen Standpunkt aus gemacht wurde.148 In diesem Zusammenhang kann man „Tendenz“ daher mit so etwas wie „Parteilichkeit“ übersetzen.149 Das „mit Recht“ des Dramaturgen bezieht sich folglich nicht auf die Berechtigung des Vorwurfs, sondern auf seinen Inhalt bezüglich des Standpunkts der „ersten naturalistischen Dramatik“ als derjenige einer proletarischen Tendenzkunst, etwa in Die Weber von Gerhard Hauptmann. Der Dramaturg weist allerdings darauf hin, dass die naturalistischen Darbietungen trotz ihres Anspruchs auf die Formel „Kunst = Natur  x“ oder auf Objektivität wie alle anderen künstlerischen Darbietungen ebenfalls von Künstlern bzw. Autoren konstruiert seien – diese Konstruiertheit wird allerdings als Teil der Theatersituation, die es „wegzuschminken“ gilt, ebenfalls verleugnet. Der Philosoph behauptet schlichtweg: „Es scheint [. . . ] das, was ihr Realismus nanntet, kein Realismus gewesen zu sein.“150 Der vermeintliche Realismus des bisherigen Theaters ist für ihn ein unrealistischer, was die Frage aufwirft, wie ein realistischer Realismus im Sinne des Philosophen (oder des Arbeiters) aussehen 144

BFA 22.2, S. 718. BFA 22.2, S. 718. 146 BFA 22.2, S. 719. 147 Tanja Bürgel: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Tendenzkunst-Debatte 1910–1912. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Berlin: Akademie-Verlag 1987, S. IX. 148 Ebd., S. XVII. 149 Vgl. Hans-Joachim Hahn: Realistische Moderne? In: Tim Lörke, Gregor Streim und RobertWalter Jochum (Hg.): Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Festschrift für Peter Sprengel zum 65. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 417–430, hier: 418. 150 BFA 22.2, S. 792. 145

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6 Schauplätze des Theaters

könnte. Er führt allerdings fort mit einer merkwürdigen Qualifizierung – und der einzigen Stelle im Messingkauf, an der ein qualitativer Unterschied zwischen dem Realismus und dem Naturalismus gemacht wird –: „Man hat einfach als realistisch erklärt, was bloße Wiedergabe photographischer Art der Realität war. Nach dieser Definition war der Naturalismus realistischer als der sogenannte Realismus.“151 Am Ende des Dialogs bietet der Philosoph eine Erläuterung an: Die Schwierigkeit liegt darin: daß die Realität auf dem Theater wiedererkannt wird, ist nur eine der Aufgaben des echten Realismus. Sie muß aber auch noch durchschaut werden. Es müssen die Gesetze sichtbar werden, welche den Ablauf der Prozesse des Lebens beherrschen. Diese Gesetze sind nicht auf Photographien sichtbar. Sie sind aber auch nicht sichtbar, wenn der Zuschauer nur das Auge oder das Herz einer in diese Prozesse verwickelten Person borgt.152

Es gibt ein berühmtes Zitat von Brecht aus dem Dreigroschenprozeß,153 das dieser Passage sehr ähnelt, nämlich jene, in der Brecht behauptet, „daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagst. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“154 Es geht also um die Darstellung einer funktionalen Realität und folglich um das Funktionieren der Realität, d. h. der Gesetze, die die Realität beherrschen. Ihre Darstellung würde Brecht zufolge und im Fall der Kruppwerke oder der AEG die „Verdinglichung der menschlichen Beziehung“ zeigen.155 Der Naturalismus, von dem der Philosoph spricht, war also vermutlich aus dem Grund „realistischer“ als der vermeintliche Realismus, dass er zumindest den Anspruch erhob, mit seinen Darstellungen der wissenschaftlich prädeterminierten Welt die Gesetze zu zeigen, auch wenn er an seinem Anspruch scheiterte. Es wäre jedoch ein Fehlschluss anzunehmen, dass es hier um die bloße Präsentation des Gesetzes auf der Bühne ginge, denn, wie der Philosoph sagt: „Es genügt zur Belehrung der Zuschauer nicht, daß ein Vorfall nur eben vorfällt. Er ist nicht verstanden, wenn er gesehen ist.“156 Außerdem dürfen die Gesetze vom Zuschauer nicht nur „wiedererkannt“ werden: Das Pendant zum „Wieder-erkennen“, Re-kognoszieren ist in dieser Hinsicht das „Wieder-geben“ bzw. „Re-präsentieren“ dessen, was putativ ist: dem „so und so“. Die Repräsentation läuft darauf hinaus, dass der Zuschauer erkennen soll, was bereits erkannt worden ist und in der Darstellung verborgen als eindeutiger Sinn vorliegt. In Anbetracht einer realistischen Darstellung müsste hingegen der Zuschauer die Realität und die sie beherrschenden Gesetze selbst erkennen, weshalb die Möglichkeit durchaus eingeräumt wird, dass die Erkenntnis eine andere sein wird als die vom Stückeschreiber intendierte oder bereits erkannte. 151

BFA 22.2, S. 792. BFA 22.2, S. 792. 153 Der Dreigroschenprozeß. In: BFA 21, S. 448–514. 154 BFA 21, S. 469. 155 BFA 21, S. 469. 156 BFA 22.2, S. 712. 152

6.3

Realismus

191

Der in den Schriften zum Realismus wiederkehrende Begriff, den Brecht für diesen Erkenntnisprozess wählt, ist derjenige der Meisterung. Im Journaleintrag vom 4. August 1940, der direkt an die „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ anschließt, schreibt Brecht: zur frage des realismus: die gewöhnliche anschauung ist, daß ein kunstwerk desto realistischer ist, je leichter die realität in ihm zu erkennen ist. dem stelle ich die definition entgegen, daß ein kunstwerk desto realistischer ist, je erkennbarer in ihm die realität gemeistert wird.157

Der Begriff kommt des Weiteren im Messingkauf in folgender Passage zum Vorschein: „DER PHILOSOPH Aber selbst wenn der Zuschauer sich eindenken oder einfühlen kann in solche Helden, wird er doch noch nicht instand gesetzt, die Realität zu meistern. Ich werde doch kein Napoleon, indem ich mich in ihn einlebe!“158 Der Philosoph fordert hier keine Darstellung, die es ihm ermöglicht, sich die Figur Napoleon durch einen Prozess der Einfühlung anzueignen und somit Napoleon zu werden, sondern verwendet Napoleon als Beispiel eines Meisters der Realität. Es geht hier nicht um die Darstellung von Figuren als Triumphierende ihrer Schicksale – als Helden –, sondern darum, wie es in einem in diesem Zusammenhang häufig zitierten Text aus dem Jahr 1938, „Volkstümlichkeit und Realismus [1]“ heißt, „die Realität den Menschen meisterbar in die Hand zu geben.“159 Die Meisterung der Realität hat keinesfalls mit der Meisterung des oder der Anderen zu tun, sondern mit „Meisterung“ ist gemeint, dass, bevor der Zuschauer überhaupt etwas über die Gesetze der Realität erkennt, er erkennen muss, dass er in die Realität eingreifen kann – und dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das „Schicksal“, seine Realität, von ihm und anderen Menschen gemacht wird. Im Anbetracht von Brechts Forderungen eines Realismus, der es ermöglichen soll, die Realität als meisterbar darzustellen, schreibt Hans-Joachim Hahn in seinem Text zu Brechts Verhältnis zum Realismus, dass der Dramatiker mit den „programmatischen Bürgerlichen Realisten“ des 19. Jahrhundert „teilt [. . . ], dass seine Literatur auf gesellschaftliche Wirkungen setzt und gerade darin ihren Realitätsgehalt bezeichnet. Diese Literatur will auf eine historisch gegebene gesellschaftliche und politische Realität einwirken.“160 Ebenfalls schreibt Müller 1972 von einem brechtschen Realismus-Konzept, „nach dem die Kunst nicht Abbildung wirklicher Vorgänge, sondern ein Wirklichkeitsfaktor ist, ein wirkendes Moment im dialektischen Prozeß.“161 Aber welche selbstbekennende, ‚politische‘ Künstler*in will nicht auf die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit einwirken mittels ihrer Kunst? Peter Brooker behauptet, dass sich Brecht in späteren Jahren die Konventionen des Realismus und die Realitäten der emotionalen Erfahrung aneignet, die

157

Journaleintrag vom 4. August 1940: AJ 1, S. 142. BFA 22.2, S. 791. 159 BFA 22.1, S. 408, meine Hervorhebung. 160 Hahn: Realistische Moderne? 2014, S. 420. 161 Müller: Der Philosoph auf dem Theater 1972, S. 65. 158

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6 Schauplätze des Theaters

er im ‚Intellektualismus‘ seiner jüngeren Jahre unterdrückte.162 Hingegen vertritt Trencsényi die Position, dass Brecht im Messingkauf und im Allgemeinen realistisch-naturalistisches Theater kondemniert.163 Solche Positionen verkennen allerdings, dass es Brecht wohl nicht darum ging, sich dem Realismus anzuschließen oder ihn abzulehnen. Vielmehr ging es ihm in den 1930er und 1940er Jahren sowie im Messingkauf augenscheinlich darum, den bestehenden Realismus-Begriff ebenso wie das Theater neu zu denken.164 Hahn hat zum Teil Recht, wenn er sagt, dass Brecht dabei den Realitätsgehalt auf die Wirkung der Darstellung auf die Realität setzt. Dennoch liegt der Realitätsgehalt von Brechts Realismus-Begriff, wie er im Messingkauf entfaltet wird, ebenfalls auf der Realität des Darstellens, des Aufführungsorts und des Zusammenseins im Theater. Der Realitätsgehalt von Brechts Realismus-Begriff bezieht sich somit auf die funktionale Realität des Theaters, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Brechts Antwort auf das Glätten und die Idealisierungen des Menschen in den Darstellungen des bisherigen Theaters besteht nicht aus einem Hyper-Realismus oder durchpsychologisierten Figuren. Wie wir am Anfang dieses Kapitels anhand von Brechts Aufgabenstellung gesehen haben, kommt es darauf an, die Darstellungen der „wirklichen Vorgänge“ auf solcherlei Art zu verwenden, dass der Zuschauer eine kritische Haltung einnehmen kann. Nur mittels dieser kritischen Haltung wird der Zuschauer in der Lage sein, die Wirklichkeit als meisterbar d. h. änderbar zu erkennen, und folglich auf die Realität einzuwirken. Denn: Nur im „Mißtrauen dagegen, daß alles bleiben muß, wie es ist“, wie der Philosoph es formuliert, können wir eine „kritische Haltung“ einnehmen.165 Es kann jedoch kein Kritizismus in Bezug auf die Realität zustande kommen, wenn die eigene Realität ausgeblendet oder „weggeschminkt“ wird. Deshalb kann Kritizismus nur „in bezug auf das Zustandekommen der Einfühlung erzeugt“ werden, wie Brecht im „Ersten Nachtrag zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“ schreibt, „niemals in bezug auf die vorgänge, die der zuschauer auf der bühne abgebildet sieht“166 – d. h. nur in Bezug auf das Wie der Darstellung, nicht das Was. Im Jahr 1935 schreibt Brecht ein Gedicht namens „Über alltägliches Theater“, das von einem „aus dem Zusammenleben | Der Menschen gespeiste[n] Theater, das auf der Straße sich abspielt“,167 handelt. Es wird 1952 in Theaterarbeit ohne Zugehörigkeit zu den anderen Messingkauf -Gedichten und dann 1955 als Teil der „Gedichte aus dem ‚Messingkauf‘“ im Heft 14 der Versuche veröffentlicht.168 Unter

162 Vgl. Peter Brooker: Key words in Brecht’s theory and practice of theatre. In: Peter Thomson und Glendyr Sacks (Hg.): The Cambridge Companion to Brecht 2006, S. 209–224, hier: S. 209. 163 Vgl. Trencsényi: Dramaturgy in the Making 2015, S. 117. 164 Vgl. die Diskussion von Brechts paläonymischer Verwendung von Begriffen wie „Realismus“ in Abschnitt 7.2. 165 BFA 22.2, S. 737. 166 Journaleintrag vom 2. August 1940. In: AJ 1, S. 138; vgl. BFA 22.2, S. 697. 167 BFA 22.2, S. 857. 168 Vgl. die Darstellung der frühen Publikationsgeschichte des Messingkaufs in Abschnitt 2.1.4 sowie Abschnitt 3.2.

6.3

Realismus

193

anderem geht es in diesem Gedicht um einen Mann, der an der Straßenecke anderen Passanten einen von ihm bezeugten Verkehrsunfall demonstriert: [. . . ] Er zeigt wie Der Unfall vor sich ging. Gerade Überliefert er den Fahrer dem Urteil der Menge. Wie der Hinter der Steuerung saß, und jetzt Ahmt er den Überfahrenen nach, anscheinend Einen alten Mann.169

Den Topos der Straßenecke greift Brecht im Juni 1938 in einem langen, anscheinend auf dem Gedicht basierenden Essay „Die Straßenszene“170 wieder auf, der den frühen Metatexten nach für die Aufnahme im Messingkauf vorgesehen war und auch Teil der ersten Editionen bildete.171 Zwei weitere Stellen in den ersten zwei Arbeitsphasen des Messingkaufs handeln ebenfalls von einer Darstellung an der Straßenecke: ein Text namens „Einfühlung“ und ein weiterer kurzer Austausch zwischen Philosoph und Schauspieler.172 Der Demonstrierende an der Straßenecke kann im Gegensatz zum Schauspieler in den Darstellungen des bisherigen Theaters die Fragen der Zuschauer, die ihn unterbrechen, um ihre Fragen zu stellen, beantworten. Übertragen auf das Theater, das sich die Straßenszene zum Modell nimmt, heißt das nicht, dass die Zuschauenden im Publikum die Spielenden wortwörtlich unterbrechen sollen. Im Gegensatz zur Situation im bisherigen Theater, in dem sehr bestimmte Gefühle und Erkenntnisse vom Zuschauer gefordert werden, soll der Zuschauer jedoch für sich kritische Fragen an das Geschehen richten können. In der Straßenszene heißt es, dass die Darstellung an der Straßenecke Kritik ermöglicht, sowohl „positive“ als auch „negative“: „Und zwar in ein und demselben Verlauf. Man muß verstehen, was es heißt, wenn die Zustimmung des Publikums aufgrund von Kritik zu erlangen ist.“173 Der Demonstrierende kann verschiedene Aspekte des Verhaltens des zu Demonstrierenden dadurch zur Darstellung bringen, dass er sie der „Begutachtung“ empfiehlt.174 Dazu benötigt er jedoch Kommentare zur Änderung des Standpunktes seiner Darstellung. Hierin liegen Brecht zufolge „Schwierigkeiten für die Theaterszene.“175 Es sind aber eben solche Kommentare, für die der Philosoph in der ersten Arbeitsphase plädiert: „Oder irgendein kommentarisches Element in der Darstellung, ja.“176 In einem weiteren Text derselben Arbeitsphase, führt er aus, wie die Schauspieler, um dieses kommentarische Element in die Darstellung einzuschieben, bei der Darstellung ihrer Figuren wie ein „großzügiger Ingenieur“ verfahren sollen, „der mehr Erfahrungen hat, die Zeichnungen seines Vorgängers korrigiert, neue Li169

BFA 22.2, S. 858. BFA 22.1, S. 370 ff. 171 Vgl. BFA 22.2, S. 695, 697. 172 Vgl. BFA 22.2, S. 784 ff., 731 f. 173 BFA 22.1, S. 374. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 BFA 22.2, S. 713. 170

194

6 Schauplätze des Theaters

nien über die alten legt, Zahlen durchstreicht und durch andere ersetzt, kritische Bemerkungen und Kommentare einschreibt.“177 Auf diese Weise können sie ihre „Figuren so darstellen, daß man sie sich auch anders handelnd vorstellen kann, als sie handeln, selbst wenn genügend Gründe vorliegen, daß sie eben so handeln.“178 Die Darstellung muss also beim Zuschauer zu der Erkenntnis führen, dass die Menschen so können, aber auch ganz anders. Kommentarische Elemente in der Darstellung sollen den für diese Erkenntnis nötigen Abstand schaffen,179 Platz machen. In der Straßenszene wird nichts entschieden und es geht nicht in erster Linie um das Urteil oder den Prozess der Urteilsfindung, sondern um den Vorgang des Demonstrierens (und an einigen Stellen um die Interaktion zwischen Demonstrierendem und Zuschauenden), der den Prozess der Urteilsfindung unter den Zuschauern überhaupt voraussetzt.180 Der Text ist von einem gefühlt endlosen Auflisten von Kontingenzen geprägt, z. B.: „Die Umstehenden können den Vorgang nicht gesehen haben oder nur nicht seiner Meinung sein, ihn ‚anders sehen‘ [. . . ]“;181 „ob unser Straßendemonstrant nun zeigen will, daß bei dem und dem Verhalten eines Passanten oder des Fahrers ein Unfall unvermeidlich, bei einem andern vermeidlich ist, oder ob er zur Klärung der Schuldfrage demonstriert [. . . ]“;182 „[d]er Überfahrene kann einen Begleiter gehabt haben, neben dem Chauffeur kann sein Mädchen gesessen haben“;183 usw. Insofern Brechts Text von den konkreten Akteuren absieht, überschreitet die Undeterminiertheit der Akteure und der Möglichkeiten jeglichen Verallgemeinerungsanspruch und unterstreicht die Funktion der Straßenszene und der „Straßenszene“ als Modell des Theaters, das, wie Müller-Schöll bemerkt, „gleichsam Teil einer epischen Darstellung der Darstellung“ ist.184 Mit dem Topos der Straßenecke und dem Modell der „Straßenszene“ weist Brecht zudem darauf hin, dass der Demonstrierende in seinem „alltäglichen Theater“ eine Darstellung durchführt, die der Singularität und der Differenz des Anderen gerechter wird als diejenigen Darstellungen des bisherigen Theaters, die diese Andersartigkeit auszulöschen suchten. Eins der zentralen Momente der Darstellung an der Straßenecke scheint dasjenige des Unverständnisses zu sein. In „Einfühlung“ heißt es zur ‚realistischen‘ Darstellungsmethode von Stanislawski:

177

BFA 22.2, S. 737 f. BFA 22.2, S. 737. 179 Vgl. BFA 22.2, S. 713. 180 Müller-Schöll diskutiert einen Tagebucheintrag Kafkas, der ebenfalls eine Straßenszene schildert und den Müller-Schöll als einen „Nachtrag“ zu Brechts „Straßenszene“ beschreibt in: Nikolaus Müller-Schöll: Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Frank Kafkas. In: Christopher Balme et al. (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen: Francke 2003, S. 189–201. 181 BFA 22.1, S. 371. 182 BFA 22.1, S. 373. 183 BFA 22.1, S. 375. 184 Müller-Schöll: Theater im Text der Theorie 1999, S. 270. 178

6.3

Realismus

195

Es ist [. . . ] nicht schwer, einzusehen, daß eine solche Wahrheit nicht schon ohne weiteres alle Fragen beantwortet, die gestellt werden können. Auf solche Weise ist jeder beliebige Vorgang zwischen Menschen an einer wirklichen Straßenecke „wahr“ und zugleich unverständlich.185

Die Darstellung an der Straßenecke ist aus dem Grund „wahr“, dass sie nie den Anspruch darauf erhebt, alle Fragen durch die vollständige Wiedergabe der Realität zu beantworten, sondern eher darauf hinausläuft, dass sie die Fragen des Zuschauers erregt. Der Demonstrierende würde auf die Idee gar nicht kommen, eine allesumfassende Darstellung zu präsentieren, denn: [. . . ] Immer Bleibt er der Zeigende, selbst nicht Verwickelte. Jener Hat ihn nicht eingeweiht, er Teilt nicht seine Gefühle Noch seine Anschauungen. Er weiß von ihm Nur wenig. [. . . ]186

Der Vorgang, der an der Straßenecke nachgeahmt wird, bleibt unverständlich, da auch der Demonstrierende nicht alles versteht. Denn, wie es in der „Straßenszene“ heißt, der Demonstrant [leitet] seine Charaktere ganz und gar aus ihren Handlungen [ab]. Er imitiert ihre Handlungen und gestattet dadurch Schlüsse auf sie. [. . . ] Für unseren Straßendemonstranten bleibt der Charakter des zu Demonstrierenden eine Größe, die er nicht völlig auszubestimmen hat.187

Der Anspruch hier ist im Gegensatz zum ontologischen des bisherigen Theaters ein phänomenologischer, da der Demonstrierende ‚nur‘ beanspruchen kann, das nachzuahmen, was er wahrnimmt. Den Anderen kann er außerdem nicht restlos ‚ausbestimmen‘: Er kann „ihn“, seinen „Charakter“, seine ‚Substanz‘ in seiner Darstellung nicht erfassen, er eignet ihn nicht an, der Andere bleibt ein Fremder: „Unser Demonstrant braucht nicht alles, nur einiges von dem Verhalten seiner Personen zu imitieren, ebenso viel, daß man ein Bild bekommen kann.“188 Dieses Bild ist allerdings ein flüchtiges und kann ebenfalls nur ein Ausschnitt, eine Andeutung sein. Obwohl die „Theaterszene [. . . ] weit vollständigere Bilder“ gibt, „gemäß ihres weiter gesteckten Interessenkreises“,189 ist es wichtig, dass auch hier keine vollständigen Bilder gegeben werden. Ein Theater, das die Straßenszene als Grundmodell annimmt und mit der „Gewohnheit des üblichen Theaters“ bricht, „aus den Charakteren die Handlungen zu begründen, die Handlungen dadurch der Kritik zu entziehen, daß sie als aus den Charakteren, die sie vollziehen, unhinderbar, 185

BFA 22.2, S. 786. BFA 22.2, S. 858 f. 187 BFA 22.1, S. 374 f., meine Hervorhebung. 188 BFA 22.1, S. 373. 189 Ebd., meine Hervorhebung. 186

196

6 Schauplätze des Theaters

mit Naturgesetzlichkeit hervorgehend dargestellt werden“,190 präsentiert einen Vorgang, „der offenbar keineswegs das [ist], was wir unter einem Kunstvorgang verstehen.“191 Denn der Vorgang des Demonstrierens, der hier vom Demonstranten vorgeführt wird, ist ein Vorgang unter Menschen: „wandelnde Rohstoffe, unausgeformt und unausdefiniert, die überraschen können.“192 Der vom Demonstrierenden dargestellte Andere ist nicht gänzlich zu begreifen oder anzueignen; der Demonstrant „muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben, er darf bei seiner Darstellung nicht das ‚er tat das, er sagte das‘ auslöschen. Er darf es nicht zur restlosen Verwandlung in die demonstrierte Person kommen lassen“:193 Er vergißt nie und gestattet nie, zu vergessen, daß er nicht der Demonstrierte, sondern der Demonstrant ist. Das heißt: was das Publikum sieht, ist nicht eine Fusion zwischen Demonstrant und Demonstriertem, nicht ein selbstständiges, widerspruchsloses Drittes mit auflösten Konturen von 1 (Demonstrant) und 2 (Demonstriertem), wie das uns gewohnte Theater es uns in seinen Produktionen darbietet.194

Der Darsteller soll deshalb, wie es an anderer Stelle im Messingkauf heißt, „ein fremdes Gesicht schneidend,“ sein eigenes Gesicht nie „völlig verwisch[en]. Was er tun soll, ist: das Sichüberschneiden der beiden Gesichter zeigen.“195 Im janusartigen „Sichüberschneiden“ der Gesichter des Darstellers und der Figur behält Ersterer seine Distanz zu Letzterem: Und mit Staunen Mögt ihr eines betrachten: daß dieser Nachahmende Nie sich in einer Nachahmung verliert. Er verwandelt sich Nie zur Gänze in den, den er nachahmt. Immer Bleibt er der Zeigende, selbst nicht Verwickelte [. . . ].196

Die Einfühlung des Darstellers in seine Figur soll nie zu seiner restlosen Verwandlung in sie führen, er muss immer sowohl sich als auch die Figur zeigen, die er gerade darstellt. Überdies muss er „sein Wissen um das Betrachtetwerden zum Ausdruck bringen“,197 zeigen, dass sein Zeigen gesehen wird, und folglich auf den Überschuss zwischen ihm und der von ihm dargestellten Figur hinweisen. Dieser Überschuss ist der Rest, der sich einer Darstellungspraxis widersetzt, die den Menschen als einen sich selbst mächtigen Souverän inszeniert und diesen zur Maßgabe eines Verständnisses von sozialer und politischer Gemeinschaft macht, die sich insofern im Besitz ihrer Substanz wähnt, als sie sie abbilden kann.198 190

BFA 22.1, S. 375. BFA 22.1, S. 372. 192 BFA 22.2, S. 725. 193 BFA 22.1, S. 376. 194 BFA 22.1, S. 377. 195 BFA 22.2, S. 740. 196 BFA 22.2, S. 857. 197 BFA 22.2, S. 728. 198 Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas 2012, S. 3. 191

6.3

Realismus

197

Der Darsteller – und auf einem zum Messingkauf zugehörigen handgeschriebenen Zettel steht von Brecht geschrieben nichts anderes als „Begriff des Darstellers“199 –, derjenige, der den Anderen dar-stellt, räumt somit ein, dass der Andere uns „nicht unmittelbar, auf Augenhöhe, als verständliches Zeichen“ begegnet, „sondern als Spur“.200 Der Darsteller darf den Prozess der Verkörperung deshalb nicht verunsichtbaren, er muss immer als eine Figur darstellender Darsteller sichtbar sein. Das einzige, was der Demonstrierende an der Straßenecke und folglich der Darsteller im Theater, dem dieses „Modell“ zugrunde liegt, darstellen kann, ist, dass er darstellt – die Realität seines Darstellens. Der Rest entzieht sich der Repräsentation und deutet als Spur auf die konkrete Wirklichkeit der Theatersituation als die eines Mit-Seins hin. Die Differenz zwischen der „Straßenszene“ als Modell und der Theaterszene muss überdies, wie es im Messingkauf heißt, regelrecht ausgestellt werden: SCHAUSPIELER Aber ist es nicht nötig, das Theater herauszuheben aus der Straße, dem Spielen einen besonderen Charakter zu verleihen – da es ja eben nicht auf der Straße und nicht zufällig und nicht durch Laien und nicht angeregt durch einen Vorfall stattfindet? PHILOSOPH All diese Umstände heben es genügend heraus, denke ich. Alle diese Unterschiede, die zwischen Theater und Straße bestehen, sollen ja auch besonders herausgehoben werden. Da soll beileibe nichts weggeschminkt werden! Aber wenn man die beiden Demonstrationen noch so sehr unterscheidet, so muß doch der theatralischen wenigstens etwas von der ursprünglichen Funktion der alltäglichen bleiben. Gerade durch das Unterstreichen der Verschiedenheit, des Professionellen, Vorbereiteten usw. erhalt man diese Funktion frisch.201

Im Gegensatz zum bisherigen Theater und seinen die Singularität der Einzelperson auslöschenden Techniken wird im Messingkauf eine realistische Darstellung propagiert, ein realistisches Darstellen, deren Attribut auf der Realität des Darstellens selbst basiert. Im Messingkauf ist also eine Darstellungspraxis dabei Gestalt anzunehmen, die weniger eine Praxis des Realismus als eine realistische Praxis im zweifachen Sinne ist: zum einen, weil sie auf Nachahmungen von Vorfällen aus dem menschlichen Zusammenleben basiert, die genauso unverständlich sind wie das menschliche Zusammenleben selbst; und zum anderen, weil sie auf ihre eigene Theaterrealität, sprich: Theatralität verweist, auf die Tatsache, dass sich Menschen in einer temporären Gemeinschaft versammeln und miteinander sind, beobachten und beobachtet werden. Diese Praxis des Realistisch-Darstellens deutet auf die Realität der Bühne und gleichzeitig die Realität des Auf-der-Bühne-Seins, Im-Theater-Seins und demnach des Mit-Seins hin. Während im Messingkauf das bisherige Theater noch behauptete, die Realität restlos wiederzugeben zu können, indem es seine eigene Realität ‚wegschminkte‘, verweist die hier angedeutete Praxis des Darstellens immer auf einen Rest, der der Andersartigkeit des Anderen Rechnung trägt.

199

BFA 22.2, S. 719. Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas 2012, S. 4. 201 BFA 22.2, S. 731 f. 200

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

7.1 Thaeter i. Das Thaeter. Philosoph hatte also Hintergedanken.1

Es wird in der Forschung häufig behauptet, dass der Philosoph das alte Theater durch sein neues „Thaeter“ schlicht und einfach zu ersetzen versucht, als wäre die Gründung des Thaeters das absolute Ziel des Gesprächs und das Thaeter das brechtsche Theater par excellence.2 Es ist jedoch bereits den allerersten Metatexten zu entnehmen, dass es weder um die endgültige Verwandlung des Theaters in ein Thaeter noch um die Abschaffung des Theaters und einer damit einhergehenden Gründung eines Thaeters geht. In den ersten beiden Metatexten ist in der zweiten Nacht die Verwandlung des Theaters in ein Thaeter vorgesehen, gefolgt in der vierten Nacht von der „Rückverwandlung des Thaeters in ein Theater.“3 Die Verund Rückwandlung des Theaters über das Thaeter erneut zum Theater ist folglich das anfängliche und gewissermaßen einzige ‚Handlungsprinzip‘ des Messingkaufs. Was passiert also eigentlich in den vier Nächten, wenn Theater sich letztendlich doch wieder als Theater herausstellt? Was war der Sinn des Unterfangens? Man kann die Interpretation vom Thaeter als philosophische Antithese (‚Antitheater‘) zum bisherigen Theater insofern verstehen, als die Figuren teilweise tatsächlich so tun, als wäre es das hohe Ziel oder der absolute und somit erstrebenswerte Gegensatz zum bisherigen Theater. Deutlich wird das zum Beispiel in folgenden drei, voneinander im Text unabhängigen Redesegmenten: DRAMATURG Meines Wissens hat unser Freund bisher nichts geäußert, was darauf schließen ließe, daß in seinem Thaeter eines der vier von euch genannten Themen nicht vorkommen könnte. [. . . ].4 1

BFA 22.2, S. 768. Vgl. beispielsweise Kim: Eine vergleichende Untersuchung 1992, S. 119. 3 BFA 22.2, S. 697; vgl. auch BFA 22.2, S. 696. 4 BFA 22.2, S. 726. 2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L.J. White, Theater des Exils: Bertolt Brechts „Der Messingkauf“, Exil-Kulturen Band 4, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04989-6_7

199

200

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

PHILOSOPH [. . . ] Die klar bestimmten, beherrschbaren Elemente haben wir vorzuführen in ihrer Beziehung zu den unklaren, unbeherrschbaren, so daß also auch diese in unserm Theater vorkommen. [. . . ].5 DRAMATURG [. . . ] Du hattest uns eingeladen, uns in deinem Thaeter zu betätigen, das ein wissenschaftliches Institut sein sollte. [. . . ].6

Dennoch wird in der zweiten Arbeitsphase, in der bereits oft zitierten Expositionspassage B115 der BFA die Motivation des Philosophen hinter der Wahl des Begriffs des Thaeters offenbart. Nach seinem Vortrag zu den vom Theater geübten Auswirkungen auf das Gemüt des Zuschauers sagt der Dramaturg: DRAMATURG [. . . ] Das Theater hat sich, seit Aristoteles dies schrieb, oft gewandelt, aber kaum in diesem Punkt. Man muß annehmen, daß es, wandelte es sich in diesem Punkt, nicht mehr Theater wäre. DER PHILOSOPH Du meinst, man kann eure Nachahmungen nicht gut von den Zwecken trennen, die ihr damit verfolgt? DER DRAMATURG Unmöglich. DER PHILOSOPH Ich benötige aber Nachahmungen von Vorfällen aus dem Leben für meine Zwecke. Was machen wir da? DER DRAMATURG Von ihrem Zweck getrennt, ergäben die Nachahmungen eben nicht mehr Theater, weißt du. DER PHILOSOPH Das wäre mir unter Umständen dann weniger wichtig. Wir könnten ja, was dann entstünde, anders nennen, sagen wir: Thaeter. Alle lachen [. . . ].7

Der Begriff des Thaeters scheint also weniger absolutes Ziel als vielmehr eine Art spontaner Arbeitsbegriff zu sein, der aus einem Versuch seitens des Philosophen entsteht, die Theaterleute zu beruhigen: Der Philosoph bietet den Begriff des „Thaeters“ an, so Müller, „um den Konflikt mit den Kunstansprüchen des Theaters zu vermeiden.“8 Würde das Theater von seinem Zweck entfernt, wüsste der Dramaturg nicht mehr, inwiefern es überhaupt noch „Theater“ heißen könnte; es gäbe somit gar keine Gesprächsbasis. Der Dramaturg kann sich einfach nicht vorstellen, dass das, was er „Theater“ nennt, dessen teleologische Evolution im Messingkauf auf Aristoteles zurückgeht, jemals vom beschriebenen „Zweck“ entbunden werden könnte. Dem Philosophen ist es nicht so wichtig, was für eine Designation das Untersuchte trägt, daher bietet er den Kompromiss an, es – getrennt von seinem Zweck – schlicht anders zu benennen. Nach einer weiteren Diskussion der vom Philosophen beabsichtigten Zwecke, ruft der Dramaturg aus: DER DRAMATURG Also wissenschaftliche Zwecke verfolgst du! Das hat allerdings mit Kunst nichts zu tun. DER PHILOSOPH hastig: Äh, natürlich nicht. Darum hieße ich es ja auch nur Thaeter.9

Das „hastig“ in der Spielanweisung zusammen mit dem ambivalenten „Äh“ des Philosophen weist darauf hin, dass die Einführung des Begriffs des „Thaeters“ sei5

BFA 22.2, S. 727. BFA 22.2, S. 752. 7 BFA 22.2, S. 779. 8 Müller: Die ‚dialektische Wendung‘ 2006, S. 37. 9 BFA 22.2, S. 779. 6

7.1

Thaeter

201

ne List, ein Trick ist: Der Philosoph weiß von Anfang an, dass er im Theater die Mittel finden wird, mit denen er seinen Zielen wird nachgehen können. Er gibt sich nur mit den Theaterleuten einig, dass es kein Theater wäre, wenn es von seinem Zweck entfremdet würde: „Während der Philosoph um die gemeinsamen Interessen weiß, gehen die Theaterleute von anderen Voraussetzungen aus [. . . ].“10 Es geht ihm aber nicht darum, das bisherige Theater, die „alte Kunst“11 gänzlich abzuschaffen und etwas Neues einzuführen, sondern darum, diese alte Kunst, das vorhandene Material einer Materialwertuntersuchung zu unterziehen.12 Mayer geht zu weit, wenn er sagt, dass der Philosoph sich als „ein Künstler oder als Repräsentant einer Kunstphilosophie“ entpuppt, hat aber recht, wenn er in Bezug auf die Metapher des „Messingkaufs“ darauf hinweist, dass das Interesse des Philosophen nicht dem Messing als bloßem Material gilt, sondern als „dem Material, woraus eine Trompete geformt wurde: das Interesse wurde mithin durch eine bereits vorgefundene Form vermittelt“; daher setzt „das besondere Interesse des Philosophen an den Praktiken des Theaters [. . . ] Interesse am Theater voraus.“13 Obwohl es methodologisch schwierig ist, von einem ‚Ende‘ oder einem ‚Später‘ des Messingkaufs zu sprechen, kommt der Dramaturg in der vierten Nacht der ersten Arbeitsphase, und deshalb den Metatexten zufolge nach der Gründung des Thaeters und der Zurückwandlung in ein Theater, zu folgender Erkenntnis: DRAMATURG Wir haben jetzt nach bestem Vermögen die mannigfaltigen Anweisungen studiert, durch welche du die Theaterkunst ebenso belehrend machen willst, wie es die Wissenschaft ist. Du hattest uns eingeladen, uns in deinem Thaeter zu betätigen, das ein wissenschaftliches Institut sein sollte. Kunst zu machen sollte nicht unser Ziel sein. In der Tat aber haben wir, um deine Wünsche zu erfüllen, unsere ganze Kunst aufbieten müssen. Offen gestanden, spielend wie du es willst und zu dem Zweck, den du willst, machen wir doch Kunst. PHILOSOPH Das ist auch mir aufgefallen.14

An diesem Punkt stellt sich also ebenfalls für den Dramaturgen heraus, dass es doch ein Theater mit einem anderen Zweck geben kann, dass die Mittel für dieses Theater tatsächlich die ganze Zeit vorhanden waren, und dass das Theater, das die Theaterleute zu kennen dachten, durch das Gespräch hindurch das Vermögen besaß, ganz anders zu kommen. Dass die Gründung eines „Thaeters“ nie das ernsthafte Bestreben des Philosophen war, wird überdies in folgender Passage am Ende der längeren Expositionspassage der ersten Nacht deutlich: DER DRAMATURG Vielleicht stellst du dabei sogar fest, daß unsere Nachahmungen gar nicht so ungeeignet sind für deine Zwecke, selbst wenn wir sie auf die alte Art „anfertigen“. In der Tat, ich sehe absolut nicht ein, warum man in unsern Theatern nicht auch praktische Lehren bekommen können soll.

10

Thiele: Bertolt Brecht 1981, S. 334. BFA 22.2, S. 748, 749. 12 Vgl. Abschnitt 5.4. 13 Mayer: Dramaturgische Positionen 1979, S. 124. 14 BFA 22.2, S. 752. 11

202

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

DER PHILOSOPH Untersuchen wir es! An sich hätte ich ganz gern ein Theater, da die Leute daran gewohnt sind und große Vorteile von meinen Darbietungen hätten. Nur im äußersten Notfall würde ich zur Gründung eines Thaeters schreiten.15

Diese Passage ist zum einen interessant, weil der Philosoph bereits hier preisgibt, dass die endgültige Gründung eines Thaeters nicht seine erste Priorität ist. Dies erinnert an die Versuchsanordnung Galileis, der in Brechts gleichnamigen Stück „an die Beobachtung der Sonne [herangeht] mit dem unerbittlichen Entschluß, den Stillstand der Erde nachzuweisen,“ und erst, wenn er gescheitert ist, „vollständig und hoffnungslos geschlagen [. . . ] zu fragen anfangen [wird], ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht!“16 Die oben angeführte Passage bestätigt mithin das Denkverfahren des Philosophen als dasjenige eines Messingkäufers, der, bevor er Nutzbares und Wertvolles verschwendet, schauen möchte, was vom Alten noch zu behalten und umzufunktionieren wäre. Darüber hinaus wird jedoch in dieser Passage die Dringlichkeit eines solchen Versuchs unterstrichen, denn ein Thaeter würde der Philosoph nur „im äußersten Notfall“ gründen – er würde es nur gründen, wenn alle Versuche scheiterten. Figuren der Dringlichkeit und der Not kommen in weiteren Passagen vor, wie an folgender Stelle, an der der Philosoph die vermeintlichen Worte des „Augsburgers“ über seinen Zuschauer in Gedichtform wiedergibt: Neulich habe ich einen Zuschauer getroffen. Auf staubiger Straße Hielt er in den Fäusten eine Bohrmaschine. Für eine Sekunde Blickte er auf. Da schlug ich schnell mein Theater Zwischen den Häusern auf. Er Blickte erwartungsvoll. In der Schenke Traf ich ihn wieder. Er stand an der Theke. Schweißüberronnen trank er, in der Faust Einen Ranken Brot. Ich schlug schnell mein Theater auf. Er Blickte verwundert. Heute Glückte es mir von neuem. Vor dem Bahnhof Sah ich ihn getrieben mit Gewehrkolben Unter Trommelgeräuschen in den Krieg. Mitten in der Menge Schlug ich mein Theater auf. Über die Schulter Blickte er her: Er nickte.17

Wie in Abschnitt 2.2 und den Ausführungen zum Exil bereits angemerkt, sind wenige konkrete Verweise auf die Zeit der Entstehung des Messingkaufs und das Faktum des Exils im Text zu finden. Trotz des etwas pathetischen, idealisierten Bildes des 15

BFA 22.2, S. 780. Leben des Galilei (1938/39). In: BFA 5, S. 7–109, hier: S. 78 (Hervorhebung im Original gesperrt). 17 BFA 22.2, S. 755 f. 16

7.1

Thaeter

203

heroischen, männlichen, wortkargen Arbeiters jedoch ist die zeitgeschichtliche Relevanz dieses Gedichts nicht zu übersehen: Es entsteht irgendwann in der ersten Arbeitsphase zwischen 1939 und 1941, also genau in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges, in der die Arbeiter zu Soldaten werden. Der Zuschauer ist der einzige Zuschauer des Theaters des Augsburgers – auch noch als Teil der in den Krieg marschierenden Masse. Es geht folglich nicht um die Vermittlung von allgemeinen Lehrsätzen, die auf die breite Masse zutreffen: Der Arbeiter-Soldat ist ein Einzelner, der mit den anderen Einzelnen die Masse konstituiert.18 Vor allem aber wichtig in unserem Zusammenhang ist das Bild des Schnell-Aufschlagens des Theater(zelte)s, das wieder eines der Dringlichkeit ist: Das Theater entsteht dort, wo es dringend gebraucht wird, und muss die aktuelle Situation verantworten. Das Geschehen mit dem Blick des Theaters sehen heißt, es tatsächlich zu sehen und in diesem Sehen auch gesehen, angesehen zu werden: „Über die Schulter | Blickte er her [. . . ].“ Das hier zur Darstellung gebrachte Theater entsteht nur in Bezug auf die Erfahrung dieser Zeit, dieses Augen-Blicks. In einem zweiten Beispiel begegnen wir einem Bild der Not in einer Einzelpartie des Philosophen aus der ersten Arbeitsphase mit dem schlichten Titel „Das Thaeter“: DER PHILOSOPH Unser Thaeter wird sich vom Theater, diesem allgemeinen, alterprobten, berühmten und unentbehrlichen Institut, außerordentlich unterscheiden, wie wir gesehen haben. Ein wichtiger Unterschied, einer, der euch beruhigen dürfte, wird der sein, daß es nicht für ewige Zeiten eröffnet werden soll. Nur der Not des Tages, gerade unseres Tages, eines düsteren zweifellos, soll es dienen.19

Aus dieser Passage ist ebenfalls zu entnehmen, dass es im Messingkauf nicht um Ansprüche auf Allgemeingültigkeit oder Ewigkeit geht: Der Messingkauf ist ein „Versuch, Theater nicht mehr als Stätte des Ewiggültigen zu betrachten“, das Zurückweisen „einer literarischen Zeitlosigkeit [. . . ], deren Ewigkeitsanspruch Kritik oder Distanz unmöglich macht.“20 Und wiederholt wird Bezug genommen auf die aktuelle historische Situation – einen zweifellos düstereren Tag. Aber: Wenn a) die Verwandlung des Theaters in ein Thaeter und zurück in ein Theater bereits ab den allerersten Metatexten geplant ist, b) der Philosoph bereits am Anfang weiß, dass es am Ende noch und wieder Theater geben wird, und c) das Thaeter an die Dringlichkeit gebunden ist und „nicht für ewige Zeiten eröffnet werden soll“, dann kann das Thaeter nicht als konkreter Gründungsversuch verstanden, sondern muss in einem ganz anderen Sinne begriffen werden, und zwar als der Prozess, die Bewegung des Gesprächs, das im Theater des Messingkaufs stattfindet. Denn zu keinem Zeitpunkt ist das Thaeter des Philosophen; es ersetzt das Theater nicht und wird es am Ende nicht ersetzt haben. 18

Vgl. in dieser Hinsicht Müller-Schölls Ausführungen zu den brechtschen Begriffen des „Massemenschen“ und des „Dividuums“ in: Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, insbesondere das Kapitel „Mythos Massemensch“, S. 187–199. 19 BFA 22.2, S. 761. 20 Englmann: Poetik des Exils 2001, S. 153.

204

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

Zwischen der brechtschen Geschichtsauffassung und derjenigen Benjamins bestehen viele Reminiszenzen und Konvergenzen.21 Ein detaillierter Vergleich der geschichtsphilosophischen Ansichten der zwei Freunde und Zeitgenossen steht in der Forschung bisher noch aus und kann von dieser Arbeit zum Messingkauf nicht geleistet werden. Man kann aber festhalten, dass der Begriff der Katastrophe, der mit dem in Abschnitt 6.2 herausgearbeitete „so und so“ bzw. „so weiter“ einhergeht, sowohl Brechts als auch Benjamins Denken der Geschichte und dadurch der Gegenwart begründet.22 Was sie ebenfalls verbindet, ist eine Bewegung oder besser: das Aussetzen der Bewegung, das sich in ihrem Denken vollzieht. Es geht ihnen mit Notwendigkeit und im Hinblick auf die Katastrophe um eine andere Betrachtung und Darstellung der Geschichte und somit des Jetzt, darum, den Verlauf der Geschichte der Sieger und der Katastrophe zu unterbrechen, um zu einem Begriff der Geschichte und zu einer Darstellung der unterdrückten Anderen zu kommen. Bei Brecht und Benjamin gilt es, das „so und so“ bzw. das „so weiter“ der katastrophalen Gegenwart durch die Erkenntnis der Möglichkeit des „auch ganz anders“ umzukehren und damit außer Kraft zu setzen.23 Denn die Naturalisierung und Endgültigmachung der Katastrophe, des zur Regel gewordenen Ausnahmezustands lassen keinen Platz für Kritik und somit auch keinen für Ver-/Änderung.24 Es geht bei Brecht und Benjamin um eine Bewegung der Umkehrung, die auch eine Entlarvung ist. Um die Bewegung der Umkehrung zu vollziehen, ist allerdings zunächst eine andere Bewegung vonnöten, die in einer Szene in Benjamins erstem Aufsatz zum epischen Theater zu finden ist: Ein längeres Brecht-Zitat endet mit Überlegungen zu einem „Staunen, welches [. . . ] in die aristotelische Formel von der Wirkung der Tragödie eingesetzt werden muß“:25 Es ist das Staunen des Menschen, der das ihm innewohnende Vermögen erkennt, „seine Umwelt verändern lassen und selbst seine Umwelt verändern“ zu können. Dieses Staunen entspringt einer „Stauung im realen Lebensfluß“, die sich „als Rückflut fühlbar [macht]: das Staunen ist diese Rückflut.“26 Benjamins Begriffe des Staunens und der Stauung basieren Burkhardt Lindner zufolge auf Brechts Bild des Fußes, „an dem sich die Welle bricht“, aus

21

Vgl. ebd., S. 156 ff. Vgl. Marian Nebelin: Walter Benjamin und die Besiegten. Theologie – Verlust – Geschichte. Hamburg: Kovaˇc 2007; Peter Garloff: Philologie der Geschichte. Literaturkritik und Historiographie nach Walter Benjamin. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 23 Vgl. Abschnitt 6.2. 24 So Wisizla: „Benjamin und Brecht lehnten Fortschrittsoptimismus ab. In einer um 1931 entstandenen Notiz kritisierte Brecht am ‚schneidigen Fortschrittsbegriff‘ der Sozialisten, er habe ‚für den Begriff Dialektik [. . . ] Nachteilige Folgen gehabt‘. In den Thesen Über den Begriff der Geschichte verwarf Benjamin den Fortschrittsbegriff der Sozialdemokratie. Mit ihrer Ablehnung der Vorstellung von einem Fortschritt im Selbstlauf und mit der Befürchtung, der Faschismus könne siegen, auf daß Fortschritt und Katastrophe identisch werden würden, begaben sie sich in Widerspruch zur Siegesgewißheit der kommunistischen Bewegung.“ (Erdmut Wizisla: Brecht und Benjamin 2004, S. 268. Wizisla zitiert: Dialektik. In: BFA 21, S. 519.) 25 Benjamin: Was ist das epische Theater (1)? 1977, S. 531. 26 Ebd., S. 530 f. 22

7.1

Thaeter

205

dem Lied der Witwe Begbick in Mann ist Mann.27 Das Staunen entsteht aus einer Stauung, in der augenblicklich der Zeitverlauf unterbrochen und umgekehrt wird: „Sie ereignet sich“, wie Lindner schreibt, „in der winzigen Sekunde, wo Aufprall, Stauung und Rückflut ununterscheidbar sind [. . . ]. In dem Moment von Aufprall und Rückflut bricht sich die trügerische Ideologie, dass das Leben immer ‚so weiter‘ geht.“28 Und wie wir bereits gesehen haben, ist es dem Philosophen des Messingkaufs zufolge nur möglich, eine kritische Haltung einzunehmen, wenn auch wir mit dieser „trügerischen Ideologie“ gebrochen haben: im Misstrauen dagegen, dass alles so bleiben muss, wie es ist.29 Im Augenblick der Umkehrung dieser Ideologie wird das ‚so weiter‘ als solches entlarvt, wobei die Unsichtbarkeit einer Geschichte sichtbar wird, die durch das Fortschreiten des „so“ unterdrückt wurde. Im Messingkauf, in der wortwörtlichen Unterbrechung des Theaterbetriebs nach der Vorstellung staut sich der Geschichtsverlauf des Theaters, um das, was als Theater gehalten wird – das vermeintlich nicht von seinem Zweck zu entbindende Theater – gegen sich selbst zu kehren. Im Stauen der Theatergeschichte und in der Unterbrechung des Theaterverlaufs wird folglich dasjenige sichtbar, was im Konstruieren einer teleologischen Geschichte der Errungenschaften des Theaters ins Vergessene geraten und doch dem Theater immer schon vorausgegangen ist: das, was in den Überlieferungen, der Tradition, den Siegeszügen und „geheimen Abmachungen“ des bisherigen Theaters unsichtbar gemacht wurde. Im Messingkauf wird mittels des Theaters das Theater aufgehalten, um es dem kritischen Eingreifen der Denkenden zu exponieren. In einer Diskussion des Marxismus beschreibt der Philosoph die Aufgabe des kommenden Theaters: PHILOSOPH [. . . ] Wir aber hätten bei unseren Demonstrationen es mehr mit dem Verhalten der einzelnen untereinander zu tun. Immerhin geben die Hauptsätze dieser Lehre auch für die Beurteilung des einzelnen sehr viel her, so der Satz, daß das Bewußtsein der Menschen von ihrem gesellschaftlichen Sein abhängt, wobei es für ausgemacht gilt, daß dieses gesellschaftliche Sein in ständiger Entwicklung begriffen ist und so auch das Bewußtsein ständig verändert. Eine große Menge handfester Sätze werden außer Kurs gesetzt, so die Sätze „Geld regiert die Welt“ und „Die großen Männer machen die Geschichte“ und „Eins = eins“. Sie werden keineswegs durch entgegengesetzte, ebenso handfeste Sätze ersetzt.30

27

In Mann ist Mann lautet die Strophe folgendermaßen: „Beharre nicht auf der Welle / Die sich an deinem Fuß bricht, solange er / Im Wasser steht, werden sich / Neue Wellen an ihm brechen.“ (Mann ist Mann (1938). In: BFA 2, S. 169–227, hier: S. 210.) Diese Strophe entstammt dem Gedicht „Lied vom Fluß der Dinge“ (BFA 14:64–65), das 1930 entstanden ist, als Brecht an einer Umarbeitung des ursprünglich 1926 geschriebenen Stückes Mann ist Mann arbeitete. Die BFA enthält nur die Fassungen von Mann ist Mann aus den Jahren 1926 und 1938; das Gedicht wurde jedoch in der dritten Fassung um 1930/1931 in das Stück integriert, weshalb die hier zitierte Strophe aus der BFA-Edition der Fassung von 1938 entstammt (vgl. Jürgen Schebera: Kommentar 1988. In: BFA 2, S. 392–472, hier: S. 412 f.; und Brigitte Bergheim und Jan Knopf: Kommentar 1993. In: BFA 14, S. 465–689, hier: S. 495). 28 Burkhardt Lindner: Die Entdeckung der Geste. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Bertolt Brecht I. Text + Kritik. München: edition text + kritik 2006, S. 21–32, hier: S. 30 f. 29 Vgl. BFA 22.2, S. 737; vgl. auch Abschnitt 6.2. 30 BFA 22.2, S. 716, meine Hervorhebung; siehe auch Abbildung 3.1 (AdK, BBA 124/33). Vgl. auch die editionswissenschaftlichen Ausführungen zu dieser Passage in Abschnitt 3.3.

206

7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

Im Messingkauf, in dem selbst eine solche Demonstration dargestellt bzw. ähnlich wie im Pädagogium aus-geübt wird,31 ist es der handfeste Satz „Theater = Theater“, der außer Kurs und damit außer Kraft gesetzt und keineswegs durch einen entgegengesetzten, ebenso handfesten Satz ersetzt wird. Der Prozess dieser Außerkraftsetzung der Geschichte wird nominal und graphisch symbolisiert in der Verschiebung eines einzelnen, singulären Buchstaben: von Theater zum Thaeter.

7.2 Theater In einer Einzelpartie sagt der Philosoph: „Der Schauspieler beseitigt die Spuren des Theaters, wenn er den Zuschauer vergessen macht, daß er schon vorher gespielt hat, was er nun spielt, daß er den Text nur gelernt hat, kurz, wenn er glauben macht, er erlebe alles gerade jetzt.“32 Die „Spuren“, die beseitigt werden, sind Zimmermann zufolge die Spuren jener Arbeit, „die der Schauspieler tätigen muss, um in seine Figur ‚hineinzutreten‘ [. . . ].“33 In seinen Abhandlungen zu den Darstellungen an der Straßenecke schreibt Brecht, dass das Theater diese Spuren zum Vorschein bringen muss – zeigen muss, dass es Theater ist, dass jedes Darstellen wie beim Demonstranten nur die ‚Wiederholung‘ eines Vorgangs ist, kein erlebtes ‚Ereignis‘: Folgt die Theaterszene hierin der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, daß es Theater ist, so wie die Demonstration an der Straßenecke nicht verbirgt, daß sie Demonstration [. . . ] ist. Das Geprobte am Spiel tritt voll in Erscheinung, das auswendig Gelernte am Text, der ganze Apparat und die ganze Vorbereitung.34

Bemerkenswert sowohl hier als auch an einigen weiteren Stellen im Messingkauf ist die Verwendung des Wortes „Apparat“. In einem Dialog der ersten Arbeitsphase sagt der Dramaturg beispielsweise: „Ihr ganzer Apparat [d. h. der Apparat der Kunst, LJW] diente dem Geschäft, die Menschen mit dem Schicksal abzufinden.“35 Und der Philosoph, in der längeren Expositionsszene der zweiten Arbeitsphase, sagt ebenfalls, dass ihn interessiere, „daß ihr mit eurem Apparat und eurer Kunst Vorgänge nachahmt, welche unter den Menschen stattfinden, so daß man sich bei euch dem wirklichen Leben gegenüber glauben kann.“36 Die Verwendung des Wortes „Apparat“ ist in allen drei Beispielen auffällig, da es auf den Apparat im weitesten 31

Vgl. zum Begriff des Aus-Übens Abschnitt 5.3. BFA 22.2, S. 761. 33 Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas 2012, S. 3. 34 BFA 22.1, S. 373, meine Hervorhebung. 35 BFA 22.2, S. 748. 36 BFA 22.2, S. 773. Der Begriff des Apparats kommt auch in den „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“ wiederholt vor, z. B.: „[I]n der Meinung, sie seien im Besitz eines Apparates, der in Wirklichkeit sie besitzt, verteidigen sie einen Apparat, über den sie keine Kontrolle mehr haben, der nicht mehr, wie sie noch glauben, Mittel für die Produzenten ist, sondern Mittel gegen die Produzenten wurde, also gegen ihre eigene Produktion (wo nämlich dieselbe eigene, neue, dem Apparat nicht gemäße oder ihm entgegengesetzte Tendenzen verfolgt).“ (BFA 24, S. 75). Vgl. auch Müller-Schölls Diskussion der Verwendung des Begriffs in Der Flug der Lindberghs (vgl. Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“ 2002, S. 328; 32

7.2 Theater

207

Sinne zu verweisen scheint: auf den technischen als auch den architektonischen, physischen Apparat des Theaters, der zur Aufführung von Theatervorstellungen vonnöten ist, als auch auf den Apparat des Theaters als Dispositiv des Theaters,37 eine „heterogene[n] Gesamtheit,“ wie Michel Foucault schreibt, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen.38

Das Theater, in dem sich die Figuren versammeln, ist also nicht nur der spezifische raumzeitliche Schauplatz des Sprechens, sondern der Schauplatz des Theaters als Dispositiv des Theaters, das zugleich das Dispositiv der Guckkastenbühne ist, „die ihren Darstellungsmechanismus“ – ihre Spuren – „säuberlich verbirgt.“39 Im kommenden Theater sollen eben dieser Darstellungsmechanismus, dieser Apparat und seine Spuren zum Vorschein gebracht werden. Im Messingkauf befinden sich die Figuren in einem Theater und zwar nach einer Vorstellung auf einer Bühne, deren Kulissen während oder zumindest am Anfang des Gesprächs abgebaut werden. Die Figur des Abbaus kommt in der ersten, um 1942/1943 entstandenen und einzigen längeren wie konkreten Exposition des Schauplatzes drei Mal vor.40 Zum einen wird der spezifische Schauplatz bestimmt: Die Figuren sitzen „[a]uf einer Bühne, deren Dekoration von einem Bühnenarbeiter langsam abgebaut wird.“41 Zum anderen bittet der Dramaturg den Bühnenarbeiter im darauffolgenden Dialog „nicht allzu rasch abzubauen, da sonst zu viel Staub aufgewirbelt wird.“42 Diese Bitte wird vom Bühnenarbeiter drittens erwidert mit: „Ich baue ganz gemächlich ab. Aber weg müssen die Dinger, denn morgen wird etwas Neues probiert.“43 Neben der räumlichen Ebene der Bühne entsteht demnach eine weitere, eine zeitliche Ebene: Das Gespräch wird situiert nach der heutigen Vorstellung und vor dem Anfang von etwas anderem, das morgen „probiert“ wird. Es ist eine doppeldeutige Angabe: Oberflächlich interpretiert geht es hier um das Ende einer Vorstellung und das Wegtragen ihrer Kulissen, um Platz und Raum für eine neue Inszenierung und deren Proben zu schaffen. Im übertragenen Sinne aber geht es offensichtlich um mehr als das: Es geht um den Abbau eines bestimmten Theaters und um die Wegbereitung für ein Kommendes. Brecht entscheidet sich vgl. auch Der Flug der Lindberghs. Ein Radio Lehrstück für Mädchen und Knaben. In: BFA 3, S. 7–24). 37 „Apparatus“ ist auch eine der englischsprachigen Übersetzungen von Foucaults Begriff des dispositif, sowie die titelgebende Übersetzung von Giorgio Agambens What is an Apparatus? (Vgl. Giorgio Agamben: What is an Apparatus? and Other Essays. Übers. v. David Kishik und Stefan Pedatella. Stanford: Stanford University Press 2009.) 38 Michel Foucault: Dits et Écrits. Schriften. Bd. 3. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Übers. v. Michael Bischoff et al. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 392; zitiert nach MüllerSchöll: Bruchstücke 2014, S. 43. 39 Müller-Schöll: Theater der Potentialität 2013, S. 33. 40 Vgl. Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 44. 41 BFA 22.2, S. 773. 42 BFA 22.2, S. 773. 43 BFA 22.2, S. 773.

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Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

bei der Beschreibung des neuen Theaters, das da kommen möge, dafür, „probiert“ statt „geprobt“ zu verwenden, und obwohl es eine etymologische Verwandtschaft zwischen den beiden Wörtern gibt, untermauert die Wahl des Verbs „probieren“ zusätzlich den experimentellen Charakter dieser Suche auf der Bühne. Als hätte er den Satz explizit auf den Messingkauf bezogen, schreibt MüllerSchöll in einem 1999 erschienen Aufsatz zum „Theater der Potentialität“, also vor seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Messingkauf : „Das eigene Dispositiv infragestellen kann das Theater paradox gesprochen nur im jeweiligen Apparat und mit dessen Mitteln. Umgekehrt ist das Politische solchen Theaters eben jene Ausstellung und Befragung des eigenen Dispositivs.“44 Dass Brecht im Messingkauf das Gespräch gerade auf dem Theater und zudem auf einer Guckkastenbühne stattfinden lässt, die abgebaut wird, legt nahe, dass ihm wohl bewusst war, dass die Arbeit am Theater im Theater, auf dem Theater, auf der Guckkastenbühne nicht nur stattfinden kann sondern konsequenterweise stattfinden muss. Im Messingkauf entscheidet sich Brecht dann dafür, den Abbau, die Dekonstruktion dieses Schauplatzes an demselben Schauplatz zu beginnen. Müller-Schöll schreibt, dass die „in Brechts Arbeit der späten 20er- und frühen 30er-Jahre [sic!] erprobten Praxis des Theaters [. . . ] der Funktion einer dekonstruktiven Lektürepraxis in Philosophie und Literatur“ gleicht.45 Aber auch die schriftliche Theater-Praxis der Exiljahre scheint einer solchen Lektürepraxis zu gleichen: Die Bühne des Theaters bildet die fiktiv dargestellte Welt des Messingkaufs, und die Verortung der Sprechenden im Inneren des untersuchten Gegenstandes spiegelt den immanent dekonstruierenden, diskursiven Vorgang des Sprechens im Theater über das Theater wider. Spätestens hier werden ganz konkrete Parallelen mit der derridaschen Dekonstruktion erkenntlich, wie diese Passage aus der Grammatologie verdeutlicht: Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und wirksam, können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohnen; sie in bestimmter Weise bewohnen, denn man wohne beständig und um so sicherer, je weniger Zweifel aufkommen. Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, sich ihrer strukturell zu bedienen, daß heißt, ohne Atome und Elemente von ihr absondern zu können.46

Die Figuren des Messingkaufs bewohnen dieses von ihnen angezweifelte Theater auf Zeit, das der Not ihres Tages dient. Sie beteiligen sich an einer immanenten, kreativen Durchquerung des bestehenden Theaters, einer Transzendierung seiner herrschenden Strukturen und überlieferten Traditionen.47 Der Bühnenarbeiter baut die Kulissen des Theaters im Inneren des Theaters ab; es ist keine Niederreißung des Theatergebäudes von außen, denn das Gehäuse bleibt bestehen. Der Abbau durch 44

Müller-Schöll: Theater der Potentialität 2013, S. 45. Ebd. 46 Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 45. 47 Vgl. Sascha Bischof: Gerechtigkeit – Verantwortung – Gastfreundschaft. Ethik-Ansätze nach Jacques Derrida. Freiburg/Wien: Herder 2005, S. 95. 45

7.2 Theater

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den Bühnenarbeiter ist somit die szenische Allegorie des im Inneren des Theaters stattfindenden Gesprächs. Das also ist der sowohl raumzeitliche als auch diskursive Schauplatz des Messingkaufs, an dem sich alles Folgende ereignet. Forrer zufolge sind Schauplätze grundsätzlich als „Nicht-Orte zu begreifen [. . . ], welche die Möglichkeit der Auseinandersetzung von Gedächtnis und Genese sowie von Theater und Schrift gewähren.“48 Sie ergeben sich aus der Einstellung „eines forschenden Blicks“ – einer kritischen Haltung – „der sich auf die Personen, Gegenstände, Narrative und Begriffe sowie die Techniken, durch welche sie hervorgebracht werden, konzentriert [. . . ].“49 Dabei lenken sie den Fokus auf das, „was der Szene vorausgegangen ist und was in den Kulissen bleibt [. . . ].“50 Das macht sie zu Orten sowohl der Entstehung als auch der Herkunft.51 Der Schauplatz ist folglich genau der Ort, um das von Derrida beschriebene Verfahren in Szene und somit in Gang zu setzen. Im Falle des Messingkaufs haben wir es mit einem schriftlich-theatralen Schauplatz zu tun, der sowohl das Gedächtnis als auch die Genese in sich trägt: Die Spuren des vorangegangenen Theaters sind in den Kulissen enthalten und gehen der Szene, die wir lesen, voraus, während in Zukunft etwas Neues auf der Szene gezeitigt werden wird. Als sowohl raumzeitlicher als auch diskursiver Schauplatz des Textes ist das Theater der Schauplatz seiner eigenen Geschichte und Geschichtlichkeit, an dem Herkunft und Zukunft zusammentreffen. Folglich lässt sich der Text „als kritische Genealogie, als Durch-Denken der Theatergeschichte verstehen.“52 Brecht entscheidet sich am Beginn der Arbeit dafür, das Ende seines großen Versuchs paläonymisch mit dem und im Theater zu beenden.53 Es geht folglich nicht darum, „von einem Begriff zum anderen zu übergehen, sondern eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an die sie geknüpft ist, umzukehren und zu verschieben.“54 Im Zuge dieser Verschiebung wird „provisorisch und strategisch“ der alte Name beibehalten.55 Das Wesentliche daran ist, „dass die paläonymische Logik der doppelten Geste den Gegensatz zwischen immanenter Auseinandersetzung und radikalem Bruch infrage stellt“,56 so Sascha Bischof. Bei genauer Betrachtung erweist sich somit dieses paläonymische Verfahren als das brechtsche Verfahren par excellence, wie in Abschnitt 5.4 bereits angedeutet. So schreibt Brecht 1938 bezüglich des realistischen Politikums: „Und jetzt kommen wir zu dem Begriff Realismus. Und auch diesen Begriff werden wir als einen 48

Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 40. Ebd. 50 Weigel: Literatur als Voraussetzung 2004, S. 7. 51 Vgl. Forrer: Schauplatz/Landschaft 2013, S. 40. 52 Zimmermann: Von der Darstellbarkeit des Anderen 2017, S. 18. 53 Zum Begriff der Paläonymie vgl. Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Übers. v. Dorothea Schmidt. Graz; Wien: Böhlau 1986; Jacques Derrida: Dissemination. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen 1995; und Jacques Derrida.: Signatur Ereignis Kontext. Übers. v. Werner Rappl. In: Ders.: Die différance. Ausgewählte Texte. Hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 2004, S. 68–109. 54 Derrida: Signatur Ereignis Kontext 2004, S. 105. 55 Ebd. 56 Bischof: Gerechtigkeit – Verantwortung – Gastfreundschaft 2004, S. 97. 49

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Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

alten, viel und von vielen und zu vielen Zwecken gebrauchten Begriff vor der Verwendung erst reinigen müssen.“57 Der Begriff muss von seiner dogmatischen Verwendung durch orthodoxe Denker wie Lukács und andere Verfechter des Sozialistischen Realismus entstaubt werden, die nichts anderes vertreten „als eine von Störungen freie Illusion der (klein-)bürgerlichen Wirklichkeit auf der Bühne“,58 so Müller-Schöll. Die ‚Reinigung‘ des Begriffs ist somit Brechts Versuch, „seine Gegner mit ihren eigenen Mitteln zu bezwingen.“59 Und auch das Pendant zum Realismus-Begriff während der Expressionismus-Debatte, den Begriff des Formalismus, entleert Brecht in einer doppelten paläonymischen Geste, um ihn auf seine Gegner wiederum anzuwenden: „solange man unter realismus einen stil und nicht eine haltung versteht, ist man formalist, nichts anderes.“60 „[A]lle Mittel“ müssen demnach Brecht zufolge verwendet werden, „alte und neue, erprobte und unerprobte, aus der Kunst stammende und anderswoher stammende, um die Realität den Menschen meisterbar in die Hand zu geben.“61 Brechts Argumentation nach entlarven sich die vermeintlichen Realisten durch ihre Beschränkung auf eine ästhetische Richtung als nichts anderes als dogmatische Formalisten: „Der Kampf gegen den Formalismus“, wie Brecht noch 1951 festhält, „muß sich also richten sowohl gegen die Vorherrschaft der Form [. . . ] als auch gegen ihre Liquidierung.“62 Zu Brechts Verwendung des Formalismus-Begriffs schreibt Hahn: Das Verwirrende seiner Argumentation hat genau damit zu tun: dass Brecht tatsächlich völlig unironisch, ganz politisch, am Formalismus-Vorwurf festhält und ihn keineswegs vollständig zu dekonstruieren, sondern vielmehr im Benjamin’schen Sinne zu „retten“ beabsichtigt. Das allerdings heißt, ihm eine andere, nicht-pejorative Bedeutung zu verleihen.63

Hahn liegt jedoch falsch, wenn er Dekonstruktion mit Destruktion gleichsetzt („vollständig zu dekonstruieren“), denn hier im Messingkauf, in Bezug auf den Realismus und auch anderswo im Œuvre Brechts ist das Merkmal des brechtschen Dekonstruktionsverfahrens, das in der namensgebenden Metapher des „Messingkaufs“ versinnbildlicht wird und an anderer Stelle den Namen „Materialwertuntersuchung“ erhält, sein Affirmationscharakter: von der Bibel über die Umarbeitung von traditionellen lyrischen Formen wie die der Ballade bis hin zur Hauspostille, von seinem Festhalten am Begriff der Oper bis hin zu seinen Bearbeitungen der Texte Anderer. Genauso wie es Derrida nie darum ging, die Schrift abzuschaffen, sondern einen neuen, generalisierteren Schriftbegriff zu erarbeiten,64 57

BFA 22.1, S. 408. Nikolaus Müller-Schöll: Der kastrierte Lehrmeister. Brecht, der Hofmeister und Lenz. In: Nikola Roßbach, Ariane Martin und Georg-Michael Schulz (Hg.): Lenz-Jahrbuch 23 (2016), S. 7–32, hier: S. 19. 59 Ebd. 60 Journaleintrag vom 26. November 1948. In: AJ 2, S. 863. 61 BFA 22.1, S. 408, meine Hervorhebung. 62 Formalismus – Realismus. In: BFA 23, S. 148. 63 Hahn: Realistische Moderne? 2014, S. 427. 64 Vgl. Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. London: Routledge 1998, S. 140. 58

7.2 Theater

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ist es, so Müller-Schöll, „nicht Brechts kleinstes Verdienst, [. . . ] dass die Aufkündigung des bürgerlichen Theaterdispositivs nicht mit der Aufkündigung von Theater überhaupt gleichzusetzen ist.“65 Es geht um Affirmation, nicht um Abschaffung. Im Messingkauf stellt Brecht dem Begriff des bisherigen – alten, aristotelischen, bürgerlichen, naturalistischen – Theaters ein Theater überhaupt gegenüber, das auch dasjenige umfasst, was sich der alten Kräfteorganisation immer widersetzt [. . . ] hat, was immer den Rest bildete, nicht auf die dominierende Kraft [. . . ] reduziert werden konnte. Diesem neuen Begriff den alten Namen [. . . ] zu überlassen heißt, die Struktur der Pfropfung zu bewahren, den Übergang und das Festhalten, die für eine wirksame Intervention auf dem konstituierten historischen Feld unerläßlich sind.66

Trotz des affirmativen Charakters des Versuchs auf der Bühne – der Bejahung von Theater überhaupt – hat er wenig mit ‚Reform‘ zu tun: Es geht weder lediglich darum, die Probleme des Bestehenden (in diesem Fall des bisherigen, bürgerlichen Theaters) ‚auszubügeln‘, noch darum, es auf irgendeine Art zu ‚optimieren‘. Reformieren lässt sich zudem das Theater überhaupt schlicht nicht, denn als das, was jedem Theater vorausgeht und immer vorausgegangen sein wird, besteht es nicht und kann kein Gegenstand reformistischen Absichten werden. Genauso wenig bedeutet Messing kaufen zu gehen, das Bestehende zu revolutionieren und eine neue theatrale Utopie auszumalen, denn, so schreibt Müller-Schöll, Brecht lehnte „einen Idealismus ab, der der Realität der Gesellschaft eine Utopie entgegenstellt. Aufgrund ihrer Herkunft aus der in ihr negierte Gesellschaft würde sie deren Verlängerung bedeuten.“67 Wenn der Messingkauf überhaupt als revolutionärer Versuch zu verstehen ist, dann eher im blochschen Sinne als Antizipation dessen, „was in der Wirklichkeit als reale Möglichkeit noch schlummert.“68 Der Abbau im Anhalten des Theaters bedeutet die immanente Zerlegung des Theaters in seine einzelnen Bestandteile und das Freilegen dessen, was von diesem alten, tradierten, bürgerlichen Theater unterdrückt worden ist. Ein solches Theater muss als Theater im Übergang verstanden werden, das der Not des Tages dient und das Platz für ein noch nicht auszubestimmendes, kommendes Theater machen wird: Am abbauenden Bühnenarbeiter wird ersichtlich, dass der Abbau des Schauplatzes, des Dispositivs ‚Theater‘, 65

Müller-Schöll: Bruchstücke 2014, S. 49. Derrida: Signatur Ereignis Kontext 2004, S. 106. 67 Nikolaus Müller-Schöll: Theatrokratia. Zum gesetzlosen Gesetz der Über-setzung in Walter Benjamins Brecht-Lektüre. In: Andreas Kotte (Hg.): Theater der Region – Theater Europas. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Basel: Edition Theaterkultur 1995, S. 275–301, hier: S. 279. Für ausführlichere Diskussionen des Utopie-Begriffs bei Brecht siehe Barbara Buhl: Bilder der Zukunft. Traum und Plan. Utopie im Werk Bertolt Brechts. Bielefeld: Aisthesis 1988; Friedrich Dieckmann: Brechts Utopia. Exkurs über das Saturnische. In: Sinn und Form 5 (1987), S. 1055–1085; Klaus-Detlef Müller: Utopische Intention und Kritik der Utopien bei Brecht. In: Gert Ueding (Hg.): Literatur als Utopie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 335–366; und Marc Silberman: Brecht Today. In: Logos. A Journal of Modern Society and Culture 5:3 (2006), http://www.logosjournal.com/issue_5.3/silberman.htm (abgerufen am 30. Juli 2014). 68 Klaus L. Berghahn: Zukunft in der Vergangenheit. Auf Ernst Blochs Spuren. Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 29. 66

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Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

zwangsläufig einen ‚Bau‘ beinhaltet, einen Auf-Bau im Beibehalten des alten Namens: „Aber weg müssen die Dinger, denn morgen wird etwas Neues probiert.“69 Auch wenn der Messingkauf einen solchen Aufbau nur andeutet, ist er in seinem Anfang bereits benannt, alles Weitere gründet auf diesem Schauplatz: Entleert, die Kulissen weggetragen, entblößt stellt die Bühne einen Raum der Potentialität dar, denn: „Essentially, space is potential.“70

7.3

Theater ohne Ende

Der erste Teil der vorliegenden Arbeit setzte sich mit der Entstehung und Überlieferung des Messingkaufs auseinander. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde ersichtlich, wie bereits Brechts Arbeitsweise der Vorstellung eines aus einem Ideenkeim entstehenden Werkes widersprach: Brecht begann sein Projekt – „viel theorie in dialogform der MESSINGKAUF“ – in Dänemark, ließ es jedoch in den nächsten Jahren immer wieder liegen, bis auch er nicht mehr zu wissen schien, worum es ursprünglich ging. Denn dieses monströse Theoriegebilde hat sich ab der ersten Arbeitsphase – in der es noch eine einigermaßen klar erkennbare Nacht-Struktur gab – über die Jahre in alle möglichen Richtungen ausgeweitet, sodass bis zur dritten Arbeitsphase verhältnismäßig wenige Dialoge geschrieben und die NachtStruktur beinahe fallen gelassen wurde. In der vierten Arbeitsphase, die von den BFA-Herausgeber*innen des Messingkaufs als die Jahre 1948–1955 irreführend ungenau bestimmt wurde, war die Arbeit an den Dialogen tatsächlich schon vorbei, und bis zum Ende der konkreten Arbeit an den Messingkauf -Texten im Jahr 1952 sind nur noch ein paar wenige Texte entstanden. Nichtsdestotrotz wurde im Verlauf dieser Arbeit ebenfalls deutlich, dass der Messingkauf so klare thematische Umrisse und chronologische Trennlinien gar nicht hat. Denn bereits ab den frühesten Metatexten war die Einbeziehung anderer, bereits geschriebener Texte vorgesehen. Aufgrund seiner anfänglichen Offenheit für die Aufnahme anderer Texte können bzw. müssen wir, wenn wir vom Messingkauf sprechen, uns jedes Mal erneut dafür entscheiden, was genau wir damit meinen: Es gibt gute Argumente dafür, Texte wie „Die Straßenszene“ und „Über die Theatralik des Faschismus“ zum Messingkauf zu zählen. Man kann, wenn man „Messingkauf“ sagt, genauso gut aber auch ausschließlich die Dialoge oder die hier als solche nicht behandelten „Gedichte“ meinen. Außerdem gibt es die „Übungsstücke für Schauspieler“, die ein weiteres, theaterpraxisbezogenes Element des Messingkaufs darstellen. Der Messingkauf hat auf diese Weise keinen klaren Anfang und kein klares Ende – weder konzeptuell noch thematisch. Darüber hinaus sind die Themen des Messingkaufs keine, die ausschließlich der Messingkauf zum Thema hat. An verschiedenen Stationen der vorliegenden Arbeit wurden deshalb weitere brechtsche Schauplätze, wie beispielsweise diejenigen des Materialwerts und des Pädagogiums 69

BFA 22.2, S. 773. Bruce A. Bergner: The Poetics of Stage Space. The Theory and Process of Theatre Scene Design. Jefferson, NC/London: McFarland 2013, S. 9.

70

7.3 Theater ohne Ende

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diskutiert, deren Anfänge auf die 1920er Jahre zurückgehen. Wenn man Brechts Schaffen als Ganzes betrachtet, lässt sich sogar feststellen, dass das Verfahren der Materialwertuntersuchung, die sich in dieser Arbeit als inhärent dekonstruktivistisches Verfahren herausgestellt hat, tatsächlich bereits in Brechts frühesten Arbeiten angelegt war. Auf diese Weise konnte – wie in der Darstellung seines wissenschaftlichen Ideals71 – Neudazugeschriebenes neben Altem stehen bleiben, ohne das Alte gänzlich auszulöschen. Das Strukturprinzip des Messingkaufs und die Vielfalt der Themen des Gesprächs über das Theater ermöglichten es Brecht, sich über einen Zeitraum von mindestens 13 Jahren immer wieder an sein Typoskripten-Theater setzen zu können. Historisch und in Bezug auf seine Entstehung betrachtet besitzt der Messingkauf aus diesem Grund eine gewissermaßen heterotopische, rhizomatische Struktur: Seine Wurzeln weiten sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft von Brechts Arbeiten aus. Auch die Gegenwart des Messingkaufs entfaltet sich emphatisch. Denn der Messingkauf hat, wie in den Abschnitten 2.2 und 7.1 ausgeführt, einen sehr klaren, dringlichen und zeithistorischen Bezug sowohl auf die historischen Erfahrungen Brechts als auch die Theaterentwicklungen seiner Zeit. Letzteres wurde in Abschnitt 4.1 ausführlich diskutiert mit Blick auf die mögliche Relevanz für die Entwicklung des raumzeitlichen Schauplatzes des Messingkaufs, bedingt sowohl durch Brechts Nähe zur Pirandello-Mode der 1920er Jahre als auch durch seine Arbeit am Deutschen Theater bei Reinhardt. Die Erfahrungen aus der Zeit des Exils schreiben sich ebenfalls an vielen verschiedenen Stellen im Messingkauf ein: u. a. in den im Präteritum erzählten Passagen zu den historischen Figuren des Theaters am Schiffbauerdamm und in den Bestimmungen des Schauplatzes als Exil-Ort. Das Exil ist nicht zuletzt der Ort, an dem das Arbeiten über das Theater, das schriftlichtheoretische Arbeiten den Platz des Arbeitens am bzw. im Theater einnimmt: Ohne die Möglichkeit, an einem realen Theater zu praktizieren, übt Brecht gewissermaßen am Exil-Theater des Messingkaufs: an einem Typoskripten-Theater ohne Zuschauer. Dass die Arbeit am Messingkauf in dem Moment aufzuhören scheint, in dem ein reales Theater wieder verfügbar wird, kann kein Zufall gewesen sein. Mayer zufolge war Brecht im Exil ein „Lehrer ohne Schüler“, ein „Theatermann, der Theoretisches über die Schaubühne schrieb, ohne seine Theorie an der Praxis zu bewähren.“72 In seinem Text zu Brechts Versuchen, nach seiner Rückkehr nach Deutschland eine neue „Zuschaukunst“ zu etablieren, sowie zum Messingkauf behauptet Mayer, Brecht habe sich nach dem Exil um „die neue Dramaturgie [. . . ] kaum mehr Sorgen“ machen müssen, denn sie war „in den Jahren des Gejagtseins und der praxislosen Ohnmacht reflektiert und formuliert worden“73 – d. h. im Messingkauf. Dabei ist die Implikation, dass Brecht nicht weiter am Messingkauf arbeiten musste, da in diesem bereits eine vollständige Dramaturgie-Theorie ausgearbeitet wurde, die es nur noch in der Praxis an einem Theater umzusetzen galt. Es mag durchaus sein, dass Brecht bis zu seiner Rückkehr, vielleicht auch im 71

Vgl. Abschnitt 5.2. Mayer: Dramaturgische Positionen 1979, S. 113. 73 Ebd., S. 114. 72

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7

Der Abbau des Theaters/das Theater des Abbaus

Zuge des Ausarbeitens des Messingkaufs, ein konkretes Dramaturgie-Konzept für sich entworfen hat – diese Konkretheit ist aber im Messingkauf keinesfalls überliefert worden. Wir werden nie endgültig wissen können, warum Brecht aufgehört hat, an seinem schier unüberblickbaren Versuch zu arbeiten. Vielleicht war der Text so dermaßen ausgeufert, dass er ihn nicht mehr einholen konnte. Keine Arbeit – und auch nicht diese Arbeit – ist in der Lage, die Frage nach dem historischen Ende der Arbeit am Messingkauf endgültig zu beantworten. Die Suche nach einer Antwort auf die eingangs gestellten Fragen muss sich also weg vom historischen hin zum inhaltlichen bzw. formellen Bereich bewegen. Wir gelangen somit wieder zu der Frage der Darstellung. Es wurde bereits anfangs erwähnt, dass Brecht im Exil eine Unmenge an theoretischen ‚Schriften‘ produzierte. Diese entstanden allerdings fast ausschließlich in prosaischer Form. Neben denjenigen des Messingkaufs entstanden im Exil nur eine Handvoll weitere Theorie-Dialoge, die alle in zeitlicher Nähe zur Aufnahme der Arbeit am Messingkauf stehen.74 Einer dieser Dialoge, „Über die Theatralik des Faschismus“, entstanden im Mai 1939, war von Brecht sogar für die Inklusion im Messingkauf vorgesehen, wie aus einem der ersten Metatexte zu entnehmen ist. Wie von den Herausgeber*innen der BFA angemerkt, kann er sogar zusammen mit den Texten „V-Effekte, Dreigespräch“ und „Gespräch über blaue Pferde“, in denen ebenfalls die Figurennamen Thomas und Karl verwendet werden, als „ein[en] Vorläufer des späteren ‚Viergesprächs‘ in Der Messingkauf “ gesehen werden.75 Er wurde jedoch für den Messingkauf letztendlich nicht mehr bearbeitet.76 Angesichts der Tatsache, dass diese insgesamt fünf theoretischen Dialoge allesamt im Band 22 der BFA abgedruckt sind,77 der neben dem Messingkauf weitere 483 Texte enthält, lässt sich ohne Zweifel festhalten, dass es für Brecht eher unüblich war, ‚Theoretisches‘ auf diese Art und Weise ‚festzuhalten‘. Des Weiteren betrachteten die Herausgeber*innen des Bandes die Dialogform als ein so ungewöhnliches und deshalb klar identifizierbares brechtsches Stilmittel zu diesem Zeitpunkt, dass sie diese 74

Dadurch weisen sie zudem eine Nähe zur Arbeit am Galilei auf, der tatsächlich den Anstoß zu einem Arbeiten in dieser Form gegeben zu haben scheint. 75 Gellert und Hecht: Kommentar 1993. In: BFA 22.2, S. 1026. 76 Vgl. ebd., S. 1075. 77 Diese sind: Dialog über eine Schauspielerin des epischen Theaters [Februar 1938]. In: BFA 22.1, S. 353–355 (zwischen „Der Schauspieler“ und „Ich“); V-Effekte, Dreigespräch [1938]. In: BFA 22.1, S. 398–401 (zwischen drei Figuren namens „Karl“, „Thomas“ und „Lukas“); Über die Theatralik des Faschismus [Mai 1939]. In: BFA 22.1, S. 561–569 (zwischen „Karl“ und „Thomas“); Konst för Folket [1939]. In: BFA 22.1, S. 579–583 (zwischen „Der Lyriker“ und „Der Maler“); und Über die epische Spielweise [1940]. In: BFA 670:672 (zwischen „Schauspieler“ und „Zuschauer“). Andere nicht im Exil entstandene dialogische Schriften sind: Dialog über Schauspielkunst [Februar 1929]. In: BFA 21, S. 279–282 (zwischen Figuren ohne Bezeichnung); Die Dialektik auf dem Theater [1951–1956]. In: BFA 23, S. 386–413 (zwischen „B“, „R“, „P“ und „W“); und Einige Irrtümer über die Spielweise des Berliner Ensembles [1955]. In: BFA 23, S. 323–338 (ebenfalls zwischen „B“, „R“, „P“ und „W“, oder, wie Knopf konstatiert, ein fiktives Gespräch zwischen Brecht, seinen Dramaturgen und Regieassistenten (vgl. Jan Knopf: Gespräche. In: Ders. (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 4. Schriften, Journale, Briefe. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 455–469, hier: S. S. 457)).

7.3 Theater ohne Ende

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verwendeten, um den nur auf Schwedisch erschienenen Dialog „Konst för Folket“ zu datieren: „Die Dialogform [. . . ] weist auf eine Entstehungszeit zu Beginn des schwedischen Exils hin.“78 Bis auf Letzteren, der vorwiegend die bildende Kunst und die Lyrik thematisiert, handeln diese fiktiven Dialoge überwiegend vom Theater selbst.79 Es wurde in Abschnitt 2.2 die These angeführt, dass Brecht mit dem Messingkauf ein Theater, ein Gespräch mit anderen auf dem Theater geschrieben hat, das das Fehlen seiner Mitarbeiter*innen und die Zusammenarbeit im Theater kompensierte. Wie Knopf behauptet, erlaube es aber die Verwendung der Gesprächsform Brecht generell, gemäß der bekannten brechtschen Maxime, in „anderen Köpfen“ zu denken: „Er dachte in anderen Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere. Das ist das richtige Denken.“80 Diese Auffassung vom Denken steht im krassen Gegensatz zu Platons Auffassung vom philosophischen Dialog als einem „Gespräch im Innern der Seele mit sich selbst“.81 Lehnt man die literaturwissenschaftlichen Gleichsetzungen des Philosophen mit der Person Brecht ab, sieht man deutlich, dass der Messingkauf es Brecht tatsächlich ermöglicht hat, in „anderen Köpfen“ zu denken, oder zumindest verschiedene Positionen darzustellen: Die Schauspielerin ist politisch und sehnt in diesem Sinne eine Änderung des Theaters herbei; der Philosoph hat ein leicht marxistisch und auf jeden Fall ethisch geprägtes Interesse am Potential des Theaters und wünscht sich ein Theater, das Kritizismus erfordert und fördert; der Dramaturg ist der Theaterexperte, der angesichts der gescheiterten Bemühungen des vermeintlichen Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters müde geworden ist; und der Schauspieler mag das Theater schlicht und einfach, hat Spaß am Spielen und möchte das Theater nicht zur „Dienerin der Gesellschaft“ degradiert sehen. Auch wenn der Schauspieler dem Philosophen am antagonistischsten gegenübersteht, sind auch seine Positionen gültige und zudem nachvollziehbare. Auslegungen des Messingkaufs, die im Philosophen einen sokratischen Brecht-Avatar zu finden meinen, verkennen die Wichtigkeit und Gültigkeit aller Positionen, die oft in einem Widerspruch zueinanderstehen, der aufgrund der Notwendigkeit menschlichen Miteinanders nicht aufgehoben wird. In diesem Sinne konstatiert Knopf, dass die Gesprächsform das formell realisierte, worum es Brecht allgemein ging: „um ‚Abbildungen‘ von Geschehnissen und Auseinandersetzungen zwischen Menschen.“82 Und: Abgesehen vom diskursiven Gegenstand des Gesprächs – dem Theater –, worum geht es im Messingkauf, wenn nicht um das Zusammenleben zwischen Menschen – das Zusammenleben überhaupt? Die Figuren des Messingkaufs sind keine durchpsychologisierten Figuren. Anders als in anderen dialogischen Versuchen der Exiljahre, in denen die Figuren beispielsweise Namen wie Thomas und Karl tragen, haben die Figuren im Messing78

Gellert und Hecht: Kommentar 1993, BFA 22.2, S. 1078. Vgl. auch: Knopf: Gespräche 2003, S. 457. 80 [Richtiges Denken]. In: BFA 21, S. 420. 81 Platon: Der Sophist [263 e 3–5]. In: Ders.: Spätdialoge. Übers. v. Rudolf Rufener. Zürich/München: Artemis 1974, S. 125–221, hier: 212. 82 Knopf: Gespräche 2003, S. 458. 79

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kauf nicht einmal individuelle Namen, an denen wir Persönlichkeit oder bestimmte Eigenschaften festmachen könnten. Dennoch sind sie ebenfalls keine repräsentativen oder verallgemeinerten Typen, die beispielsweise für alle Mitglieder ihrer Berufsgruppe stehen. Es gibt kaum etwas an ihnen, das uns beispielsweise dazu bewegen könnte, zu behaupten, der Philosoph wäre ein typischer Philosoph, der Dramaturg ein typischer Dramaturg usw. Den jeweiligen Figuren können zudem keine erkennbaren diskursiven Positionen zugeordnet werden, da ihre Positionen ebenfalls changieren, und das nicht nur einer argumentativen Entwicklung entlang: Wie wir bereits gesehen haben, kann der Dramaturg sich kein Theater ohne einen aristotelischen Zweck vorstellen und doch kennt er sich mit dem Lebenslauf des Augsburgers und dem Piscator-Theater aus. Des Weiteren scheint der Philosoph an manchen Stellen wenig Ahnung vom Theater zu haben, ist aber ebenfalls an der einen oder anderen Stelle mit Piscator vertraut oder rezitiert ein Gedicht des Augsburgers. Dieses Changieren, diese Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz in den figürlichen Positionen ist zum einen wohl der unterbrochenen und sporadischen Entstehungsgeschichte des Textes, zum anderen ebenfalls einem Mangel an diskursiver Stringenz geschuldet – die jedoch nie das Ziel gewesen zu sein scheint. In Abschnitt 5.2 haben wir gesehen, inwiefern das Gespräch zwischen den Figuren oft auf das ‚Scheitern‘ desselben hinausläuft und deshalb inwiefern es sich vom ideal-philosophischen Dialog distanziert, vor allem in dem Sinne, dass das Gespräch selten auf eine einzige, vom Autor intendierte und klar erkennbare Lehre hinausläuft. Genauso wie die Figuren sich keine Position endgültig aneignen, nicht für etwas stehen, können wir sie uns trotz der Tendenz zur Illusionsbildung wie beispielsweise in der ausführlichen Expositionsszene (B115 in der BFA) nicht aneignen, noch können wir uns in sie restlos einfühlen – dafür gibt uns der Messingkauf nicht genug figürlichen Stoff. Durch die fragmentarische, aphoristische Form scheinen die Figuren immer wieder zu verschwinden. Sie oszillieren deshalb genau an der Schwelle zwischen Figur und Sprechinstanz, nie ganz begreifbar und immer schon jenseits der Verbegrifflichung im Sinne einer philosophisch-dialektischen Dialogstruktur. Sie werden von der Darstellung nicht erfasst und tragen zur Bildung einer glatten Darstellung nicht bei. Spannend in dieser Hinsicht ist, inwiefern die Figuren somit auf eine Art und Weise inszeniert werden, die die Aufgabe der realistischen Darstellung, wie sie in Abschnitt 6.3 diskutiert wurde, selbst erfüllt: Wir können nur von ihrem Sprechen an einzelnen Stellen berichten – und genau so wurde in der vorliegenden Arbeit verfahren. Alle verhandelte Theorie ist trotz ihrer ‚Wahrheit‘ (nachvollziehbare Positionen und Aussagen, nicht eindeutig einem theaterhistorischen Figurenensemble zuordenbare Figuren) Theorie, die unverständlich ist im Sinne von nicht ganz und gar begreif- oder erfassbar. Sie erfordert zudem zwangsläufig die Einbindung der Leser*in, um zur Theorie erst montiert zu werden. Dieses Sprechen an der Schnittstelle zwischen Theorie und Theater erlaubt es uns folglich nicht, eine lineare brechtsche Theorie des Messingkaufs restlos – in den Worten der „Straßenszene“ – auszubestimmen. In einem Bruchstück aus dem Jahr 1953 namens „Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt?“ fragt sich Brecht, ob es „erlaubt“ sei, die Urform eines vollendeten Stücks, in diesem Falle den Urfaust, aufzuführen, und reiht Goethes „Skiz-

7.3 Theater ohne Ende

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ze“ in eine Gruppe anderer Texte ein, die ein „durchaus eigenes Leben“ hätten, inklusive Heinrich von Kleists Guiskard und Georg Büchners Woyzeck. Zusammen gehören sie Brecht zufolge „zu einer eigentümlichen Gattung von Fragmenten, die nicht unvollkommen, sondern Meisterwerke sind [. . . ].“83 Das Unfertige, das sich der Totalität des Werks Entziehende wird hier ein „Meisterwerk“ genannt, eine Gleichstellung, die noch den Status des Meisterwerks an sich infrage stellt. Ausgehend von der Fragmentierung, die durch Wörter wie „Stück“ oder „pièce“ impliziert wird, schreibt Weber: „As a place of possibility and experimentation, epic theatre knows pieces – but not works.“84 Der Messingkauf existiert nur als Fragment, als Ansammlung von Schriftstücken. Jenseits des Faktums des Fragment-Zustands aber weist das Strukturprinzip zudem eine inhärente Fragmentarizität auf: Das Fragmentarische ist Teil der Inszenierung der Theorie, die die Bildung einer linearen, totalen Theatertheorie unterbricht. Auf diese Weise, wie argumentiert wurde, scheint das Aphoristische und nicht die Montage, das Strukturprinzip des Messingkaufs zu sein.85 Die aphoristische, dialogische, figurale, lyrische, prosaische und theatrale Darstellung der Theorie im Messingkauf führt zu ihrer fundamentalen Verräumlichung. Diese Verräumlichung wäre bereits im Messingkauf im Gang gewesen, hätte Brecht keine näheren Angaben zur räumlichen Situierung des Gesprächs gemacht. Doch die Tatsache, dass das Gespräch sowohl raumzeitlich als auch diskursiv auch noch am Schauplatz des Theaters stattfindet, stellt eine Potenzierung dieser Verräumlichung dar. Die textuelle Inszenierung der Theorie auf der Bühne des Theaters weist metatheatralisch und selbstreferentiell auf den Prozess des Inszenierens hin und dabei stets darauf, dass sie kein Gegebenes, sondern von einer schreibenden Instanz verfasst ist. Der Realitätsgehalt des Messingkaufs bezieht sich dabei sowohl auf die Realität des Textes als konstruiertes historisches Dokument – was durch das ständige Verweisen auf das eigene Darstellen immer wieder betont wird – als auch auf die Realität der Rezeptionssituation: auf die vom Messingkauf ausgeübte Wirkung auf die dem Messingkauf äußerliche Realität. Die Verräumlichung stellt die Theatralität der Darstellung des Theaters aus und verweist dabei immer auf sich selbst. Dieses Theater weist folglich Parallelen auf mit dem von Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe diskutierten Archi-Theater, das „jeden reservierten Ort oder Raum [benennt], wo sich Verräumlichung zeigt und wo es [. . . ] möglich ist, zu sehen und zu hören [. . . ].“86 Auf einer rezeptionsästhetischen Ebene ist in dieser Hinsicht vor allem entscheidend, dass die Verräumlichung uns dazu zwingt, eine kritische Distanz zum Text einzunehmen. Das Geflecht des Messingkaufs ist somit das Gegenteil der dogmatischen Vermittlung von Lehrsätzen oder Thesen. In seiner Poetik schreibt Aristoteles, dass die Dichtung philosophischer sei als die Geschichtsschreibung, denn Letztere bilde nur

83

BFA 24, S. 431 f. Samuel Weber: Theatricality as Medium. New York: Fordham University Press 2004, S. 46. 85 Vgl. Abschnitt 5.2. 86 Lacoue-Labarthe und Nancy: Dialog über den Dialog 2006, S. 34. 84

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das ab, was geschehen ist, während die Dichtung mitteile, was geschehen könnte87 – „was nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit stets oder in der Regel geschehe, Tragödie zeigt also nicht bloße Empirie, sondern eine logische Ordnung.“88 Die Tragödie birgt in sich eine Ordnung der Dinge, die im tragischen Spiel zum Vorschein kommt, und im Moment des Wiedererkennens der verborgenen Moral oder Ordnung durch den Zuschauer findet ein Lernen – ein mathesis89 – statt. Theorie soll im aristotelischen Ideal nicht direkt zum Vorschein kommen, sondern soll als Kern des Theaters „stets [. . . ] wieder in den Begriff rückübersetzbar“ sein, „den es ja am Ende mit seinem schönen Schein illustriert.“90 Und obwohl das Schöne im Kern theoretisch ist, soll die Kunst dennoch den Anschein des Denkens vermeiden und fördert dieses Vermeiden mittels Distanzierungsverfahren wie der Symbolik und der Metapher.91 Die Theorie wird als „verbotenes Land“ betrachtet, welches das Theater „nicht betreten darf, ohne seine Reinheit als Kunst zu verlieren und sich den Vorwurf der platten Didaxe, oder der künstlerischen Schwäche zuzuziehen.“92 Das theatrale Spiel der Theorie, das im bisherigen Theater entweder als den Wahrheitsgehalt der Theorie oder die Reinheit der Kunst reduzierend gilt, rückt im Messingkauf in den Vordergrund. Es gilt hier nicht, dieses Spiel in Begriffe rückzuübersetzen, vielmehr behauptet sich die Theorie als Praxis. Daher ist der Umgang der Leser*in mit dem Messingkauf kein „Lernen aus dem Erleben“, sondern ein „Selbstmachen“.93 Für die Forschung am „anderen Brecht“ gilt der Dramatiker als einer der radikalsten Befrager der tradierten Auffassung von dem Verhältnis zwischen Theater und Theorie, bzw. zwischen Theorie und Praxis. Lehmann zufolge ist Brecht so radikal, „dass er an einem bestimmten Punkt auf eine Art von Grenzauflösung zwischen beiden Diskursformen [zusteuert],“94 die es ihm beispielsweise auch nicht erlaubte, das Fatzer-Projekt zu vollenden: „Radikal durchgeführt, tendiert dieser Sog zur Unmöglichkeit einer ästhetischen Abschließung des Theaters und verlangt, das Theater als eine Praxis zu denken [. . . ].“95 Letztlich jedenfalls gilt: Brecht musste am Messingkauf scheitern. Das Gespräch auf der Bühne ließe sich nicht zu Ende schreiben, die Lücken zwischen den Bruchstücken ließen sich nicht schließen, um ein Theater der Zukunft tatsächlich entstehen zu lassen. Denn von vorne herein würde eine geschlossene, kohärente und lineare Darstellung der Theorie, die eine konsequent unabgeschlossene, rhizomatische und fragmentarische ist, widersprechen. Die Darstellung widersteht eben den althergebrachten Parametern und gibt der Leser*in den nötigen Raum, sich selbst zu positionieren, lässt ihr die Distanz, um zu kritisieren. Der Messingkauf unterbricht seine eigene Darstellung in der und 87

Vgl. Aristoteles: Poetik 1994, S. 29. Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer 2008, S. 263. 89 Vgl. ebd. 90 Ebd., S. 264. 91 Vgl. ebd. 92 Ebd., S. 266. 93 BFA 22.2, S. 713. 94 Lehmann: Theater/Theorie/Fatzer 2008, S. 268. 95 Ebd. 88

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als Darstellung und verhindert somit die Errichtung eines totalitären Theoriegebäudes. Insofern ist der Messingkauf genau der Ort, an dem man Brecht im Sinne des Diktums Müllers gebrauchen und dabei kritisieren kann96 – ganz im Sinne des Messingkaufs. 1948 berichtete Weigel in einem Interview mit Hecht über den Anfang der Arbeit am Kleinen Organon: WEIGEL: Die Schweiz, das war unsere Vorbereitung auf Berlin. Ich habe den Brecht gedrängt, daß er seine theoretischen Schriften ordnet. Da gab es so viel Angefangenes. Du brauchst ein Programm, hab ich gesagt, daß sie sehen, was du willst. Er war davon nicht begeistert, aber er hat eingesehen und das Organon geschrieben. HECHT: Ach, das haben Sie angeregt? WEIGEL: Ich bin froh, daß er es gemacht hat. Er war wirklich am Anfang verärgert von dem Vorschlag. Immer schleppte er viele Seiten Theorie mit herum und wollte sie ordnen. Aber er kam nie dazu, er hat sich davor auch etwas gedrückt, weil die Notizen tatsächlich sehr unübersehbar waren. Dennoch wußte er immer ganz genau, was er wollte.97

Es lässt sich nur spekulieren, aber der Gedanke, dass die unübersehbaren Notizen, die Brecht mit sich herumschleppte, der Messingkauf gewesen sein könnten, ist ein verführerischer. In diesem Exzerpt geht aus Weigels Betonungen Brechts Widerwillen mehrfach hervor, dass sie Brecht „gedrängt“ habe, seine Theorie zu systematisieren, er aber „nicht begeistert“, sogar „verärgert“ von dem Vorschlag gewesen sei. Im Messingkauf wird die spielerisch verhandelte Theorie gegen jedwede Systematisierung praktisch dadurch umgesetzt, dass ihre Verhandlung immer Verhandlung bleiben wird. Gerade weil Brecht mit vielen verschiedenen Texten bereits gezeigt hat, dass er durchaus in der Lage war, eine Theatertheorie auszuverschriftlichen, liegt die Vermutung nahe, dass das Fragmentarische des Messingkaufs intendiert war und dass er nie etwas anderes hätte sein können als das Textkonvolut, das er ist. Vielleicht ist es hier, in der fragmentarischen Form des Messingkaufs, in der Weigerung eines geschlossenen Theoriegebäudes, in der sich Brechts Exilzeit am deutlichsten spüren lässt. Das Fragment, die aphoristische Fragmentierung der Theorie wird zur Intervention in und zum Widerstand gegen die durchdringenden Totalitarismen der Zeit. „Da gab es so viel Angefangenes“: Mayer schreibt, dass Brecht sich mit dem Messingkauf deshalb „nur einen Ausblick gestattete in das Mögliche und Zukünftige. Es zu gestalten, im Spiel die Vorwegnahme zu probieren – das hat er sich versagt.“98 Dennoch wäre jeglicher Versuch, das kommende Theater konkret auszumalen, nur die Fortsetzung des Bisherigen gewesen. Zimmermann verweist in diesem Zusammenhang auf den Untertitel, den Brecht dem Messingkauf 1955 für die Publikation in den Versuchen gab – „Neue Aufgaben“ –, und behauptet, dass er „ein Denken der Verantwortlichkeit des Theaters auf seine Zukunft hin“ impliziert, das „zugleich das Aufgeben einer abschließenden Grundierung dieses Theaters“ „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“ Müller: Fatzer ˙ Keuner 2005, S. 231. Hecht: Interview mit Helene Weigel 2000, S. 68; zitiert nach White: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory 2004, S. 181 f. 98 Mayer: Dramaturgische Positionen 1979, S. 126. 96 97

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beinhaltet und ein Theater beschreibt, „das sich immer wieder aufgeben muss, um Theater zu bleiben.“99 Es bleibt „auf halbem Wege zwischen Not-Fall und Regel, also zwischen Abgrund und Begründung stecken.“100 Brechts Scheitern ist folglich ein notwendiges Scheitern, das dem Messingkauf die Möglichkeit überhaupt erst einräumt, sich immer wieder neu aufzugeben, um sich weiterhin immer wieder und immer wieder neu behaupten zu können. Der Messingkauf, das Gespräch auf der Bühne bleibt ohne Ende und ohne endgültiges Ergebnis. Er räumt jedoch den Weg und den Platz frei für die An- und Zukunft eines anderen, kommenden Theaters. Der Messingkauf verweigert uns, verweigert sich einem abschließenden Schluss, der ihn ein einheitliches, heiles und letztlich totalitäres Ganzes sein ließe. Unabgeschlossen und in seiner Selbstreferentialität sich ständig wiederholend verspricht er kein Heil, sondern verantwortet (sich) stumm dem, was auch immer da kommen möge. Und so wird es letztlich nicht darum gegangen sein, den Messinglauf ‚fertig‘ zu lesen und ebenso wenig darum, mit ihm fertig zu sein oder zu werden, sondern mit eben derselben Verantwortung verantwortungsvoll zu antworten oder zumindest sich auseinanderzusetzen, sich ausgesetzt zu haben. Der Messingkauf ist nicht fertig geworden und wird nie fertig sein, weil er uns keine Möglichkeit gibt – geben will oder geben kann – mit ihm fertig zu werden.

99

Zimmermann: Bertolt Brecht und Emmanuel Levinas 2012, S. 6. Ebd.

100

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Register

A Abbau, 48, 57, 105, 109, 207, 208, 211, siehe Dekonstruktion Abbild, 21, 114, 159, 172, 186 Adorno, Theodor W., 44 Allegorie, 109, 140, 157, 209 Alteisen, 156 Alterität, 66, 183 Amerika, siehe USA Andere, der/die/das, 109, 165, 183, 194–197 Anfang des Messingkaufs, 89, 212 Anstreicher, 48–50, 169, 170, siehe Hitler, Adolf Antithese, antithetisch, 111, 114, 118–122, 199 Aphorismus, aphoristisch, 24, 81, 131–136, 219 das Aphoristische, 111, 130–136, 217 Apparat, 85, 160, 206–208, siehe auch Dispositiv Arbeitsweise, Arbeitsprozess, 17, 31, 43, 86, 88, 97, 148, 212 Architektur, architektonisch, 106, 141, 207 Archi-Theater, 217 Aristoteles, aristotelisch, 22, 121, 125, 162, 163, 166, 167, 200, 204, 211, 216–218 aristotelisches Theater, 125, 162, 163, 168 asiatisches Theater, 169 Ästhetik, ästhetisch, 12, 14, 16, 24, 54, 67, 78, 81, 121, 155, 162, 163, 168, 169, 171, 185, 210, 218 Aufführung, 39, 44, 53, 56, 58, 99, 100, 179, 188, 207 Aufführungen des Berliner Ensembles, 53, 57, 68, 112 Augsburg, 45, 49, 112

Ausnahme, 76, 128, 182 Ausnahmezustand, 204 Aus-Üben, 139, 145 Autobiographie, autobiographisch, 43, 47, 50, 113, siehe auch Biographie, biographisch Autokauf, 156 Avatar, 111, 127, 215

B Bacon, Francis, 131 Balzac, Honoré de, 151 Barbarei, 96, 152 Barnett, David, 112, 156 Barthes, Roland, 164 Belehrung, 87, 130, 162, 190, 217 Benjamin, Walter, 21, 44, 45, 51, 85, 106, 107, 176, 179, 180, 204, 210 Passagenwerk, 21 Was ist das epische Theater?, 107, 179, 180, 204 Berlau, Ruth, 43, 44, 46, 85 Berlin, 2–4, 34, 55, 58, 83, 219 Berliner Ensemble, 3, 6, 9, 31, 39, 53–57, 59–65, 67–71, 88, 103, 112, 137 Berliner Ensemble Brigade, 69 Bertolt Brecht Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, 8 Bertolt-Brecht-Archiv, 3, 23, 34, 55, 76, 81, 83, 130, 133 Betrachtende, 20, 138–142, 144, 145 Biographie, biographisch, 31, 50, 52, 95, 113 Bloch, Ernst, 150, 151, 211 Bourgeoisie, 148, 150, 152, 153 BRD, Westdeutschland, 6, 12, 184 233

234 Brecht, Bertolt 1940, 44 Abstieg der Weigel in den Ruhm, 33, 50, 129 Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, 15, 61, 206 Anmerkungen zur „Dreigroschenoper“, 167 Arbeitsjournal, siehe Journal Aus nichts wird nichts, 138 Buying Brass, 7, 12, 99, 113, 114, 136 Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, 57 Der Brotladen, 74 Der gute Mensch von Sezuan, 35, 45 Der Wettkampf des Homer und Hesiod, 40, 154 Dialoge aus dem Messingkauf, 3 Die Antigone des Sophokles nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Brecht, 51, 180 Die Bibel, 153, 210 Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, 25, 35, 37, 45, 179 Die Gesichte der Simone Machard, 36 Die Gewehre der Frau Carrar, 46 Die Maßnahme, 17, 50, 182 Die Mutter, 34, 57 Die Straßenszene, 33, 72, 86, 193–195, 197, 206, 212, 216 Dreigroschenoper, 153 Dreigroschenprozeß, 190 Fatzer-Fragment, 25, 41, 74, 85, 91, 111, 137–139, 144, 145, 155–157, 218 Furcht und Elend des Dritten Reiches, 33, 48, 49 Galgai, siehe Mann ist Mann Gedichte aus dem Messingkauf, 7, 9, 16, 24, 37, 39, 40, 42, 53, 73, 74, 192 Gesammelte Werke, 9, 10, 53, 73–75, 85–87, 147, 155 Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, 3, 9–11, 14, 16, 23, 32–34, 36, 40, 46, 47, 53, 54, 62, 74–78, 81, 83–91, 95, 98, 102, 103, 128, 136, 141, 146, 147, 171, 200, 212, 214 Hauspostille, 210 Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt?, 216 Journal, 1, 3, 15, 16, 32, 35, 36, 38, 45, 46, 48, 73, 87, 88, 90, 91, 120, 121, 131, 179, 185, 191

Register Kleines Organon für das Theater, 8, 15, 16, 38, 87, 134, 185, 219 Konst för Folket, 215 K-Typus und P-Typus in der Dramatik, 33, 72, 75, 86 Leben des Galilei, 32, 37, 46, 70, 202 Mann ist Mann, 98, 205 Messingkauf Dialogues, 21 Mutter Courage und ihre Kinder, 57 Nachträge zur Theorie des Messingkaufs, 16, 35, 75, 86–88, 146, 177, 191 Notizbücher, 85 Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung, 39 Schriften zum Theater, 9, 10, 17, 53, 56, 58, 61, 68, 70–75, 87, 147, 155 Steffinschen Sammlung, 44 Suche nach dem Neuen und Alten, 39 Szenen aus dem Alltagsleben, 34, 38, 83 The Messingkauf Dialogues, 72, 118, 119, 127 Theaterarbeit, 3, 31, 39, 70, 192 Trommeln in der Nacht, 34 Tui-Roman, 37 Über alltägliches Theater, 39, 192 Über die Theatralik des Faschismus, 33, 57, 169, 178, 212, 214 Über experimentelles Theater, 17, 162 Übungen für Schauspielschulen, 34, 35, 72, 83 Übungsstücke für Schauspieler, 3, 9, 24, 25, 34, 35, 38, 40, 41, 53, 57, 71–75, 83, 86, 154, 212 Versuche, 3, 11, 15, 17, 25, 31, 38–41, 70, 192, 219 Volkstümlichkeit und Realismus, 161 Wettkampf des Homer und Hesiod, 38, 57, 70 Brecht, Stefan, 36 Brecht-Abende, 56 Brecht-Erben, 54 Brecht-Schall, Barbara, 54, 58, 112 Brooker, Peter, 191 Buber, Martin, 127 Büchner, Georg, 49, 217 Woyzeck, 49, 217 Buckwitz, Harry, 69 Buehler, George, 112, 118 Bühne, 2, 4, 18–20, 22, 39, 46–48, 50, 51, 56, 57, 60, 63, 67, 69, 70, 90, 96–98, 100–106, 108, 111, 123, 133, 140, 141, 144, 163, 165–168, 171, 172, 176,

Register 181–183, 187, 188, 190, 197, 207, 208, 210, 212, 217, 218, 220 Bühnenfassung des Messingkaufs, 3, 9, 31, 53, 55–57, 59–68, 71, 88, 103, 105 Bundeslied, 125 Bunge, Hans, 17, 85 bürgerlich, 21, 58, 78, 96, 105, 125, 134, 137, 138, 144, 148–153, 155, 162, 165, 167, 168, 210, 211 bürgerliches Theater, 21, 58, 105, 137, 144, 148, 157, 162, 168, 211 Busch, Ernst, 50

C Celan, Paul, 40 Chaplin, Charlie, 168 Chur, 51 Combes, André, 122

D Dänemark, 33, 43, 44, 104, 212 Darstellung, 2, 4, 9, 15, 18, 21, 24, 26, 27, 32, 38, 61, 72, 76, 78, 84, 87, 88, 91, 95, 96, 100, 104–108, 127, 128, 131, 166, 167, 169, 172, 174, 176, 177, 180, 183, 186–188, 190–197, 204, 214, 216–218 DDR, Ostdeutschland, 6, 12, 13, 38, 67, 146, 149, 152, 154 Dekonstruktion, 105, 109, 208, 210, 213, siehe Abbau Deleuze, Giles, 135 Denken, 13, 47, 65–67, 70, 88, 106, 115, 117, 123, 126, 131, 138–141, 150, 166, 168, 183, 204, 209, 215, 218, 219 Denkverfahren, 108, 111, 146, 161, 202 Derrida, Jacques, 146, 208–210 Descartes, René, 119 deutsche Klassik, 149, 152, 154 Deutsches Theater, Berlin, 98, 102, 213 Deutschland, deutsch, deutschsprachig, 7, 12, 19, 38, 45–47, 49, 67, 86, 100, 114, 151, 153, 154, 167, 170, 184, 213 Dialektik, dialektisch, 8, 13, 14, 57, 59, 89, 106, 118, 120–122, 127, 182, 191, 204, 216 Dialektik im Stillstand, 106 dialektische Wendung, 36, 89, 120 Dialog, dialogisch, 2, 3, 6, 9, 16–18, 24, 32, 33, 36–39, 41–43, 48, 49, 52, 56, 62, 68, 70–75, 78, 89, 90, 111, 119, 122,

235 123, 127–129, 131, 132, 162, 190, 206, 207, 212, 214, 215, 217 philosophischer Dialog, 118, 119, 123, 136, 215, 216 platonischer Dialog, 118, 119, 123, 215, 216 sokratischer Dialog, siehe Dialog, dialogisch:platonischer Dialog Dichtung, 107, 154, 217 Diderot, Denis, 59, 69, 104, 151, 162, 164, 166, 172 Von der dramatischen Dichtkunst, 104, 166 Differenz, 60, 145, 165, 194, 197 Digitalisierung, digital, 4, 91 Dispositiv, 55, 105, 106, 157, 167, 207, 208, 211 Distanz, 10, 71, 113, 166, 175, 196, 203, 217, 218 Dokument, 71, 217 Drama, dramatisch, 22, 49, 50, 98, 100, 127, 147, 148, 166 Dramatik, 33, 98, 189 dramatischer Modus, 50 Dramaturgie, 18, 54, 213 Dreßler, Roland, 167 Dringlichkeit, dringlich, 4, 183, 202, 203, 213

E Edition, 1, 3, 6, 8–11, 14, 17, 23, 31, 42, 43, 53–56, 61, 68, 70–76, 81, 83–91, 95, 99, 103, 132, 136, 147, 193, 205 Editionswissenschaft, editionswissenschaftlich, 10 Egologie, egologisch, 162, 165, 167, 178 Einfühlung, 14, 21, 24, 57, 66, 108, 141, 161–164, 168–170, 184, 186, 187, 191–194, 196, 216 eingreifendes Denken, 14, 115, 205 Einzelmensch, Einzelner, Einzelperson, 66, 67, 181–184, 197, 203 Eisler, Hanns, 50, 150, 151 Ende des Messingkaufs, 88, 89, 121, 201, 203, 212, 220 Engels, Friedrich, 117, 185 episch, 3, 14, 98 episches Theater, 14, 49, 59, 64, 65, 121, 179 Essay, 2, 24, 42, 95, 129, 130, 193 Ethik, ethisch, 24, 161, 215 Exil, 2–4, 12, 23, 31, 36, 41–52, 56, 69, 85, 102, 104, 202, 208, 213–215, 219 Exilliteratur, 43, 46 Experiment, 17, 23, 27, 56, 145

236 Exposition, 88, 89, 100, 103, 105, 118, 141, 146, 159, 171, 172, 206, 207 Expressionismus, Expressionismus-Debatte, 152, 185, 210 Exteriorität, 165

F Fabel, 61, 140, 152, 153, 155, 167, 173 Faschismus, faschistisch, 33, 151, 170, 183, 204 Fedler, Stephan, 132 Fielding, Henry, 151 Figuren des Messingkaufs der Arbeiter, 2, 22, 100, 101, 103, 109, 111, 141–145, 181, 188, 189, 203, 207–209, 211 der Augsburger, 47, 49–51, 75, 112, 113, 125, 126, 175, 202, 203, 216 der Beleuchter, siehe der Arbeiter der Bühnenarbeiter, siehe der Arbeiter der Dramaturg, 5, 9, 19, 48, 50, 56–61, 66, 72, 78, 81, 90, 103, 104, 106, 107, 111–114, 117, 118, 120, 121, 123, 125–128, 132, 142, 144, 149, 154, 160, 162, 171–174, 187–189, 200, 201, 206, 207, 215, 216 der Philosoph, 1, 12, 14, 15, 17, 18, 32, 42, 48, 51, 57–64, 66, 67, 73, 76, 78, 81, 84, 88, 89, 102–106, 111–128, 132–134, 137, 139, 140, 144–146, 154, 156, 157, 159–162, 167, 168, 172, 175–182, 186–193, 199–203, 205, 206, 215, 216 der Schauspieler, 60, 61, 81, 88, 89, 101, 103, 106–108, 111, 113, 115, 118, 120, 121, 123–126, 137, 138, 140, 141, 143, 145, 154, 164, 168, 173, 175, 178, 183–187, 189, 206, 215 der Stückeschreiber, 51, siehe Der Augsburger die Schauspielerin, 2, 25, 50, 57–59, 63, 102, 104, 114, 118, 120, 122, 123, 125, 126, 173, 215 Finnland, 33, 36, 44–46 Fontane, Theodor, 151 Formalismus, Formalismus-Debatte, 152, 185, 210 Forrer, Thomas, 20, 22, 209 Fortschritt, 149, 173, 204, 205 Fragment, fragmentarisch, 3, 8–11, 23, 24, 26, 31, 41, 49, 51, 53, 55, 57, 59–68, 72–74, 76, 78, 83, 85, 86, 89–91, 95,

Register 103, 111, 114, 123, 137, 144, 145, 155–157, 216, 217, 219 das Fragmentarische, 2, 10, 11, 42, 70, 75, 76, 218 Fragmentarizität, 114, 134, 136, 217 Fragmentierung, 22, 136, 217, 219 Fricke, Harald, 131, 132, 135 Furcht, 33, 48, 49, 162, 163, 178, 179

G Galilei, Galileo, 17, 32, 118, 202 Gedächtnis, 209 Gedicht, 3, 7, 9, 33, 39–42, 70–75, 86, 133, 192, 212 Gellert, Inge, 10, 31, 74 Gemeinschaft, 161, 196, 197 Gender, 25, 26 Genese, 96, 102, 209 Geschichte, 19, 22, 38, 76, 98, 117, 152, 153, 169, 179, 184, 204–206, 209 Gesetz, 65–67, 81, 117, 171, 178, 180–182, 190, 191 Geste, 26, 60, 123, 209 Giles, Steve, 2, 99, 113, 129, 134–136 Goethe, Johann Wolfgang von, 91, 132, 144, 148, 151, 155, 216 Faust, 91, 148 Iphigenie in Tauris, 155 Maximen und Reflektionen, 144 Urfaust, 216 Gradziel-Wójcik, ˛ Joanna, 107 Großschreibung, 77 Guattari, Félix, 135 Guckkastenbühne, Guckkastentheater, 106, 167, 187, 207, 208

H Hahn, Hans-Joachim, 191, 192, 210 Hamacher, Werner, 178 Handlung, 36, 73, 100, 104, 107–109, 118, 139, 149, 164, 166, 174 Haug, Wolfgang Fritz, 112 Hauptmann, Elisabeth, 43, 53, 54, 58, 68, 74, 189 Hauptmann, Gerhard, 176, 189 Die Weber, 176, 177, 189 Hecht, Werner, 9, 10, 15, 16, 31, 37, 53–56, 68, 70–74, 89, 112, 114, 115, 125, 148, 160, 219 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 180 Heidegger, Martin, 127

Register Held, 140, 153, 164, 186, 191 Heterogenität, heterogen, 20, 117, 182, 207 Heterotopie, heterotopisch, 19, 21, 213 historisch-kritisch, 75, 85, 91 Historisierung, 50 Hitler, Adolf, 169, 170, 178, 180, 184 Holländer, Felix, 98 Homolka, Oskar, 50 Hoover, Marjorie L., 155 Hosalle, Hans-Dieter, 56 Humanismus, Humanisten, 151, 178 Husserl, Edmund, 161

237

J Jessner, Leopold, 148 Jetztzeit, 21 Journal, 170

Kiermeier-Debre, Joseph, 89, 112, 116, 119–122 Kim, Hyung-Ki, 5, 18, 91, 118, 120, 124, 182 Kippfigur, Kippfigurhaftigkeit, 106, 107, 109 Klasse, 117, 153, 165, 181, 182 Klassenkampf, 117 Klassik, Klassiker, Klassizismus, klassisch, 47, 58, 59, 118, 136, 144, 148, 149, 152–155, 168, 177, 179 Kleinschreibung, 1, 32, 40, 76, 77, 85, 86 Kleist, Heinrich von, 217 Guiskard, 217 Knopf, Jan, 1, 8, 12, 13, 23, 72, 74, 147, 215 Kobel, Jan, 12 kollektive Arbeitsweise, 43, 45, 51 Kommentar, kommentarisch, 75, 193, 194 Kommunismus, 182, 183 Komödie, 168, 169 Korsch, Karl, 130 Krabiel, Klaus-Dieter, 12, 90, 185 Krethi und Plethi, 128, 143 Krieg, 171, 177 Kritik, kritisch, 14, 26, 55, 63, 65, 66, 97–99, 107, 116, 121, 126, 136, 150–152, 156, 161, 162, 170–178, 185, 186, 193–195, 203, 204, 209, 217 kritische Haltung, 167, 168, 175, 185, 186, 192, 205, 209, 215 Kritizismus, siehe kritische Haltung Kuhn, Tom, 7 kulinarisch, 61 Kulisse, 2, 22, 48, 100, 103, 106, 137, 141, 162, 172, 207–209, 212 kulturelles Erbe, 70, 71, 149–155, 157 Kunst, 18, 26, 39, 61–63, 65, 81, 96, 99, 101, 118, 120, 124, 125, 128–130, 142, 143, 146, 148, 152, 159, 160, 169, 172, 174–176, 178, 185, 186, 189, 191, 200, 201, 206, 210, 215, 218

K Kafka, Franz, 73, 194 Der Prozeß, 73 Kalter Krieg, 12 Kant, Immanuel, 11 Karge, Manfred, 56 Katastrophe, katastrophal, 176, 184, 204 Katharsis, siehe Reinigung Kausalität, 14, 180 Keller, Gottfried, 151 Kerkhoven, Marianne van, 2 Kerr, Alfred, 99

L Lacoue-Labarthe, Philippe, 26, 217 Langhoff, Matthias, 56 Laughton, Charles, 37 Lehmann, Hans-Thies, 23, 47, 114, 139, 182, 218 Lehrstück, 137, 156, 182 Lenin, Wladimir Iljitsch, 149, 150, 152, 154, 155 Lenja, Lotte, 50 Lessing, Gotthold Ephraim, 126, 162, 163 Nathan der Weise, 173

I Idealisierung, 169, 192 Idealismus, idealistisch, 11, 128, 153, 169, 184, 187, 211 Identität, 163, 164, 166, 167, 178 Illusion, 57, 129, 142, 157, 166–168, 173, 187–189, 210 Illusionstheater, 173 Inszenierung, 6, 9, 54, 57–59, 61, 67, 69, 73, 98, 100, 106, 112, 113, 133, 166, 207, 217 Interiorität, 104, 165, 167, 184 Intertext, Intertextualität, intertextuell, 4, 17, 96, 97, 102 Inzwischenraum, 48, 52 Inzwischenzeit, 48, 52 Irmer, Hans-Jochen, 69 Isolierung, 44–46

238 Lethen, Helmut, 23, 182 Levinas, Emmanuel, 127, 183 Lindner, Burkhardt, 204, 205 Lingen, Theo, 50 literarisches Erbe, 148–153 Literaturforum im Brecht-Haus, 54, 74 Literaturwissenschaft, literaturwissenschaftlich, 10, 12, 46, 95, 153, 215 London, 68 Lorch, Jennifer, 97 Lorre, Peter, 50 Luckhurst, Mary, 5, 8, 13, 115, 118, 126, 160 Lukács, Georg, 13, 150, 151, 175, 185, 210 Lyon, James K., 43, 46

M Mann, Klaus, 60 Mephisto, 60 Manuskript, 75, 76, 78, 81, 83, 130 Martinec, Jan, 61 Marx, Karl, 16, 116, 117 Thesen über Feuerbach, 116 Marxismus, marxistisch, 12, 13, 16, 66, 67, 96, 111, 114–118, 122, 126, 149, 150, 153, 160, 181, 205, 215 Maß, 182 Masse, 66, 117, 140, 151, 165, 169, 170, 183, 203 Massemensch, 134 materialistisch, 13 Materialität, 86, 155 Materialwert, Materialwertuntersuchung, 24, 67, 108, 111, 146–149, 152–157, 161, 165, 201, 210, 212, 213 Mayer, Hans, 12, 18, 160, 201, 213, 219 Mensch, 24, 32, 49, 65, 66, 77, 81, 101, 104, 108, 117, 123, 130, 138, 145, 161, 177–179, 181, 183, 186, 187 Menschheit, 81, 117, 150, 165, 178 menschliches Zusammenleben, 24, 51, 66, 108, 117, 127, 159–161, 171, 183, 192, 197, 215 Messing, 146, 156, 157, 201 Messingkauf-Metapher, 156, 157, 201, 202, 210, 212 Metafiktion, 107 Metaliteratur, 107 Metapher, 37, 38, 146, 148, 155, 156, 201, 210, 218 Metatext, 32–34, 62, 72, 75, 83, 86, 90, 102, 103, 108, 124, 132, 134, 144, 145, 159,

Register 160, 167, 168, 171, 172, 193, 199, 201, 203, 212, 214 Metatheater, 107 Meyer, Conrad Ferdinand, 151 Mitleid, 162, 163, 176, 178, 179 Mit-Sein, 183, 185, 197 Mittenzwei, Werner, 13, 74, 152, 153, 155 Modell, 101, 131, 167, 178, 180, 193–195, 197 Monolog, monologisch, 95, 128 Montage, 134, 135, 217 Moskau, 46, 150 Müller, Heiner, 86, 219 Müller, Klaus-Detlef, 8, 10, 13, 15, 85, 115, 120, 191 Müller-Schöll, Nikolaus, 7, 8, 23, 47, 106, 114, 137, 144, 156, 157, 166, 178, 180, 194, 208, 210, 211 Musil, Robert, 73 Mann ohne Eigenschaften, 73

N Nachahmung, 51, 66, 100, 125, 127, 157, 159, 160, 163, 166, 172, 196, 197, 200, 201 Nägele, Rainer, 23, 174 Nancy, Jean-Luc, 26, 217 Napoleon, 191 Nationalsozialismus, Nazi, nationalsozialistisch, 38, 44, 170, 171, 183, 184 Nationaltheater, 167 Natur, natürlich, 59, 65, 130, 168, 171, 172, 176–178, 180, 189 Naturalisierung, naturalisiert, 143, 172, 176–178, 204 Naturalismus, naturalistisch, 14, 21, 99, 107, 113, 114, 161, 162, 168, 169, 172–177, 188–190, 211 naturalistisches Theater, 192 Neher, Carola, 45, 50 Neher, Caspar, 50, 51, 77, 98 Neuerung, 60, 171 Niccodemi, Dario, 97 Not, 4, 151, 152 Not, Notfall, 202, 203, 208, 211, 220 Novalis, 42 Heinrich von Ofterdingen, 42

O Objektivität, objektiv, 95, 163, 175, 188, 189 Ostermann, Eberhard, 11

Register P Pädagogium, 25, 91, 111, 116, 137–140, 144, 145, 206, 212 Paläonymie, paläonymisch, 108, 209, 210 Papier, 37, 78, 91 Pawlow, Iwan Petrowitsch, 140 Perspektive, 118, 172, 173 Philosophie, 18, 26, 100, 106, 115, 133, 137, 138, 175, 178, 208 philosophischer Dialog, 118, 119, 123, 136, 215, 216 Physik, 114, 160 Pirandello, Luigi, 4, 96–102, 126, 213 Maschere nude, 102 Sechs Personen suchen einen Autor, 4, 96–102, 126 Sei personaggi in cerca d’autore, siehe Sechs Personen suchen einen Autor Piscator, Erwin, 13, 19, 49, 50, 125, 175, 216 Plachta, Bodo, 78 Plagiat, 96, 153 Platon, 18, 22, 118, 119, 215 Politik, politisch, 33, 49, 75, 114, 115, 119, 122, 123, 125, 126, 137, 138, 144, 151, 153, 168, 174, 182, 183, 185, 191, 196, 210, 215 Präsens, 49, 51, 100 Präteritum, 47, 49, 50, 100, 113, 122, 213 Praxis, 3, 18, 63, 69, 96, 105, 115, 116, 127, 148, 178, 197, 208, 213, 218 Prinzip, 17, 74, 75, 85, 90, 169, 187 Proletariat, proletarisch, 125, 144, 150, 165, 173, 189 Proszenium, 167, siehe Guckkastenbühne, Guckkastentheater Psychologie, psychologisch, psychologisiert, 31, 123, 164, 165, 181, 192, 215 Publikum, 41, 47, 50, 56, 57, 62, 69, 91, 97, 104, 106–108, 111, 112, 128, 130, 133, 137, 140–145, 164, 166, 167, 169, 171, 174, 187, 188, 193, 196 Puchner, Martin, 160

R Ranke, Leopold von, 184 Räsoneur, 113, 114 Raum, 20, 25, 104, 106, 107, 114, 141, 166, 207, 212, 217, 218 Räumlichkeit, 86 raumzeitlich, 19, 96, 98, 102, 103, 106, 107, 207, 209

239 Realismus, realistisch, 13, 21, 24, 59, 104, 105, 108, 142, 143, 151, 161, 168, 169, 172, 185–192, 194, 197, 209, 210 das Realistische, 108, 216 Realismus-Streit, 67, 150, 152, 185, 186 Sozialistischer Realismus, 67, 185, 186, 210 Realität, 65, 99, 100, 166, 167, 172, 186, 188–192, 195, 197, 210, 211, 217 Rechtschreibung, 40, 76, 78, 86 Reform, 211 Reinhardt, Max, 98, 99, 101, 102, 213 Reinigung, 78, 151, 163, 210 Repräsentation, 99, 109, 135, 190, 197 Rest, 3, 26, 41, 51, 57, 182, 196, 197, 211 Reuß, Roland, 55 Revolution, 211 Revolution, revolutionär, 5, 149, 150, 162 Rezeptionsästhetik, 76, 217 Rhizom, rhizomatisch, 135, 213, 218 Riccoboni, Marie Jeanne, 104 Rokem, Freddie, 7, 21, 23 Royal National Theatre, London, 68 Rückkehr, 42, 45, 48, 50, 52, 213

S Sandauer, Artur, 107, 108 Schall, Ekkehard, 58, 59, 102, 112 Schauplatz, 4, 13, 17–22, 24, 48–50, 95, 96, 98, 100, 102–104, 106, 108, 134, 137, 141, 149, 161, 162, 171, 207–209, 211–213, 217 Schauspielhaus Zürich, 69 Schdanow, Andrei Alexandrowitsch, 150 Scheitern, 3, 121, 127, 128, 216, 220 Schicksal, 24, 100, 130, 161, 172, 177–180, 182–184, 191, 206 Schiller, Friedrich, 34, 67, 154, 164 Maria Stuart, 57, 154 Wallenstein, 67, 149 Schoeps, Karl-Heinz, 13 Schweden, 33, 34, 40, 44 Schweiz, 38, 219 Selbstreferentialität, selbstreferentiell, 107, 108, 217, 220 Shakespeare, William, 19, 34, 38, 83, 105, 154, 173 A Midsummer Night’s Dream, 173 Hamlet, 34, 56, 57, 105, 129, 154 King Lear, 105, 154 Macbeth, 34, 154 Romeo and Juliet, 34

240 Sichtbarkeit, sichtbar, 11, 20–22, 68, 71–73, 106, 107, 109, 179, 190, 197, 205 Sichüberschneiden der Gesichter, 196 Simon, Ralf, 10, 134 Singulärität, singulär, 65, 67, 81, 117, 139, 161, 181–183, 186, 187, 194, 197, 206 Skandinavien, 46, 49 Smiley, Timothy, 119 Sokrates, 59, 111, 118, 119, 121, 123, 215 Sonderweg, 184 Spatium, 166, 167 Spätwerk, 13 Sperber, Heinz, 189 Spiel, spielen, 102, 124, 139, 140, 142, 143, 162, 166, 182, 188, 197, 206, 215, 218, 219 Spinoza, Baruch, 119 Spur, 21, 22, 43, 49, 53, 54, 206, 207, 209 Stalinismus, 150 Stanislawski, Konstantin, 59, 149, 164, 194 stauen, Stauung, 204, 205 staunen, 204 Steffin, Margarete, 43, 44, 46 Storm, Theodor, 151 Subjekt, 165, 182 Subjektivität, 11, 165 Suhrkamp, Peter, 38, 39 Svendborg, 46 Synthese, synthetisch, 60, 62, 73, 119–122, 178 szenisches Denken, 47 Szondi, Peter, 98

T Tableau, 104, 172 Tätige, 20, 138, 139, 141, 144, 145 Teatro Valle, Rom, 97 teleologisch, 90, 127, 173, 200, 205 Tendenzkunst, Tendenzkunst-Debatte, 189 Tenschert, Joachim, 68, 69 Thaeter, 32, 33, 36, 61–63, 108, 114, 118, 121, 125, 132, 199–203, 206 Theater am Schiffbauerdamm, Berlin, 6, 49, 50, 213 Theater des wissenschaftlichen Zeitalters, 102, 124, 143, 145, 160, 172, 215 Theater ohne Zuschauer, 24, 137, 140, 144, 145, 213 Theater überhaupt, 22, 109, 211 Theaterdispositiv, 101, 105, 207 Theaterwissenschaft, theaterwissenschaftlich, 10

Register Theatralität, 197, 217 Theorie, theoretisch, 2, 3, 7–10, 13–19, 22, 24, 26, 27, 32, 33, 35, 39, 47, 49, 53, 57, 58, 63–65, 69, 71, 75, 78, 81, 86–88, 91, 95, 100, 105, 108, 117, 118, 121, 131, 133, 136, 137, 139, 153, 155, 161, 162, 168, 172, 177, 185, 191, 192, 213, 214, 216–219 Thiele, Dieter, 5, 18, 89, 122, 142, 160 Titel, 146, 156, 219 Totalisierung, 26, 170, 183 totalitär, 219, 220 Totalität, 22, 217 Tradition, 78, 149, 152, 163, 205, 208 Tragödie, 97, 163, 166, 168, 171, 177–179, 204, 218 Trencsényi, Katalin, 119, 192 Tretjakow, Sergei, 155 Trompete, 146, 156, 157, 201 Tummelstätte der Untätigen, 144, 145 Tynan, Kenneth, 68 Typoskript, 32, 75, 76, 78, 81, 83

U Überlieferung, 32, 53, 55, 68, 74, 87, 91, 95, 134, 162, 212 Übersetzung, 2, 7, 71, 72, 88, 100, 101, 135, 139, 207 Unsichtbarkeit, unsichtbar, 20, 26, 205 Unterbrechung, 22, 105, 123, 205 Unterdrückung, 26, 177 Unterhaltung, 24, 42, 162 Uraufführung des Messingkaufs, 17, 56, 68, 69, 97 USA, 36, 38, 45, 46, 50 Utopie, 127, 211

V Valentin, Karl, 49, 75 Vandalentum, 148, 152 V-Effekt, 32, 36, 59, 63, 64, 84, 119, 168 Verfremdung, verfremdet, 14, 50, 60, 63–65, 155 Verräumlichung, 21, 96, 217 Versöhnung, 11, 89 Verwerklichung, 11 Vexierbild, 106, siehe Kippfigur vierte Wand, 21, 24, 59, 96, 101, 104, 106–108, 128, 142, 143, 161, 162, 165–167, 187, 188 Vietor-Engländer, Deborah, 151

Register Villwock, Peter, 85 Voges, Michael, 8, 14, 90, 115, 120 Vorfälle aus dem menschlichen Zusammenleben, 66, 116, 159, 160, 163, 197, 200 Vorgänge unter Menschen, 84, 114, 157, 159, 186

W Weber, Samuel, 165, 176, 217 Wedekind, Frank, 49 Weigel, Helene, 33, 34, 38, 39, 44, 50, 54, 58, 59, 69, 129, 219 Weigel, Sigrid, 20–22 Weill, Kurt, 50 Weimarer Republik, 12, 50 Weltanschauung, 1, 116, 153, 189 Wendt, Ernst, 6, 58, 70, 71 White, John L., 5, 15, 16, 18, 87, 118, 122, 133, 136 Widersprüchlichkeit, widersprüchlich, 123, 181, 187, 216 Wilke, Judith, 23, 41, 47, 85, 86, 155

241 Willett, John, 71 Wirth, Uwe, 23, 54, 55 Wissenschaft, wissenschaftlich, 4, 6, 7, 16–18, 23–26, 33, 61, 62, 66, 102, 114, 115, 117, 118, 124, 131, 143, 145, 159–161, 171, 172, 200, 201, 207, 213, 215 wissenschaftliches Theater, 160 Wizisla, Erdmut, 85, 86

Z Zampa, Giorgio, 58 Zoff-Brecht, Marianne, 98 Zuckermayer, Carl, 98 Zuschauer*in, 14, 19, 40, 57, 58, 65, 66, 97, 101, 112–114, 125, 133, 137–145, 159, 163–168, 175–177, 179, 186–188, 190–195, 200, 202, 203, 206, 218 Zweck, 18, 22, 53, 62, 65, 67, 68, 114, 125, 127, 131, 148, 149, 154–157, 159–161, 163, 168, 171, 172, 187, 200, 201, 205, 210, 216 Zweig, Arnold, 45 Zweiter Weltkrieg, 51, 184, 203